Bubbles & Bodies - Neue Öffentlichkeiten zwischen sozialen Medien und Straßenprotesten: Interdisziplinäre Erkundungen 9783839450208

»Öffentlichkeit« ist umstritten und umkämpft und sie scheint einem beschleunigten Wandel zu unterliegen. Soziale Medien

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German Pages 276 Year 2021

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Überlegungen zu einem zeitgemäßen Öffentlichkeitsverständnis
Performativität, Differenz und Kritik
Welche Öffentlichkeit? Wessen Forum?
Bubbles – Bedingungen digitaler Öffentlichkeit
Politische Allmende
CROWD and ART
Filterblasen als postmodern modelliertes Öffentlichkeitsphänomen
Bodies – Körper im Raum
Sakramentale Körper
Under Construction
Wer erscheint in der Öffentlichkeit?
Öffentlichkeit und Praktiken
Zur Legitimität zivilen Ungehorsams
Digitaler ziviler Ungehorsam und transnationale Öffentlichkeiten
Bubbles müssen nicht digital sein
Zu den Autor*innen
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Lukas Kaelin, Andreas Telser, Ilaria Hoppe (Hg.) Bubbles & Bodies – Neue Öffentlichkeiten zwischen sozialen Medien und Straßenprotesten

Edition Kulturwissenschaft  | Band 218

Lukas Kaelin, geb. 1974, ist Philosoph und Medizinethiker an der Katholischen Privat-Universität Linz. Er studierte in München und London und promovierte zu Theodor W. Adornos Gesellschaftstheorie. Sein Habilitationsprojekt befasst sich mit dem medialen Wandel gegenwärtiger Öffentlichkeit. Andreas Telser, geb. 1966, ist Systematischer Theologe an der Katholischen Privat-Universität Linz. Er studierte in den USA und promovierte zu David Tracys Öffentlicher Theologie. Ilaria Hoppe, geb. 1968, ist Professorin für Kunst in gegenwärtigen Kontexten und Medien an der Katholischen Privat-Universität Linz. Sie forscht und lehrt insbesondere zu Kunst im öffentlichen Raum und Urban Art. Sie studierte und promovierte in Düsseldorf, Florenz und Berlin zum Verhältnis von Geschlecht und Raum in der Frühen Neuzeit.

Lukas Kaelin, Andreas Telser, Ilaria Hoppe (Hg.)

Bubbles & Bodies – Neue Öffentlichkeiten zwischen sozialen Medien und Straßenprotesten Interdisziplinäre Erkundungen

Gefördert durch den Bischöflichen Fonds zur Förderung der Katholischen PrivatUniversität Linz und die Günter-Rombold-Privatstiftung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Henning Hoppe Umschlagabbildung: Mandarina Brausewetter Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5020-4 PDF-ISBN 978-3-8394-5020-8 https://doi.org/10.14361/9783839450208 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Vorwort ........................................................................... 7 Einleitung Lukas Kaelin, Andreas Telser, Ilaria Hoppe ........................................... 9

Überlegungen zu einem zeitgemäßen Öffentlichkeitsverständnis Performativität, Differenz und Kritik Für einen neuen Begriff der (politischen) Öffentlichkeit Michael Reder ....................................................................... 19

Welche Öffentlichkeit? Wessen Forum? Theologische, sozialphilosophische und medientheoretische Reflexionen zur Öffentlichkeit Öffentlicher Theologie Florian Höhne ...................................................................... 39

Bubbles – Bedingungen digitaler Öffentlichkeit Politische Allmende Aspekte der gegenwärtigen Öffentlichkeit Lukas Kaelin ........................................................................ 61

CROWD and ART Über die Logik vernetzter Beteiligungsmodelle Manuela Naveau.................................................................... 79

Filterblasen als postmodern modelliertes Öffentlichkeitsphänomen Eine Analyse mithilfe der Theorien Jean-François Lyotards und Friedrich Kittlers Calvin Kiesel ....................................................................... 99

Bodies – Körper im Raum Sakramentale Körper Vom christlichen Beitrag zu einer kritischen theoria der Kultur Mirja Kutzer ....................................................................... 123

Under Construction Fragile Räume Romana Hagyo ..................................................................... 151

Wer erscheint in der Öffentlichkeit? Ein mikropolitischer Ansatz im Kontext der Migrationsdebatte Maria Robaszkiewicz .............................................................. 169

Öffentlichkeit und Praktiken Zur Legitimität zivilen Ungehorsams Das Aufbegehren gegen prekäre Lebensbedingungen aus rechtsphilosophischer Sicht Dominik Harrer.................................................................... 193

Digitaler ziviler Ungehorsam und transnationale Öffentlichkeiten Wulf Loh ........................................................................... 217

Bubbles müssen nicht digital sein Kollektive Räume zwischen Safe Space, Insel und Öffentlichkeit Xenia Kopf ........................................................................ 251

Zu den Autor*innen ...........................................................271

Vorwort

Der vorliegende Sammelband geht auf eine interdisziplinäre Tagung zurück, die unter dem Titel »Bubbles & Bodies. Zur materiellen Basis der Öffentlichkeit« von 7. bis 9. November 2018 an der Katholischen Privat-Universität Linz (KU Linz) in Kooperation mit der Justus-Liebig-Universität Gießen stattgefunden hat. Diese Tagung nahm ihren Ausgang in zahlreichen informellen Gesprächen, die der Praktische Philosoph Lukas Kaelin mit dem Theologen Andreas Telser geführt hatte und in denen immer wieder ein geteiltes, disziplinübergreifendes Interesse an der Öffentlichkeit thematisch wurde. An diesen Gesprächen haben sich schon sehr bald, dem Spezifikum der KU Linz mit ihren drei Fachbereichen von Theologie, Philosophie und Kunstwissenschaft entsprechend, die Kunstwissenschaftlerin Ilaria Hoppe sowie der Theologe und Soziologe Ansgar Kreutzer beteiligt. Letztgenannter ist mittlerweile am Institut für Katholische Theologie der Universität Gießen tätig. Tagung und Sammelband wären ohne eine breite institutionelle und personelle Unterstützung nicht zustande gekommen. Der Bischöfliche Fonds zur Förderung der KU Linz, die Günter-Rombold-Privatstiftung und die JustusLiebig-Universität Gießen zeichnen für die finanzielle Unterstützung verantwortlich. Personell haben Noémi E. Parraghy sowie Ivan Brkič, Günther Hochhauser und Estelle Höllhumer maßgeblich mitgewirkt – die drei letztgenannten auch im Vorfeld der Drucklegung. Die Verwaltung der KU Linz hat getan, was meist unsichtbar und vielfach unbedankt bleibt und was doch einen Aspekt der materiellen Basis von Öffentlichkeit darstellt, damit Wissenschaftler*innen bei einer Tagung öffentlich reden und in Büchern publizieren können. Henning Hoppe hat für den Band ein überaus passendes Cover gestaltet. Das Motiv geht auf ein Wandbild der Künstlerin Mandarina Brausewetter zurück, das sie für das flash Mädchencafé in Wien gestaltet hat. Die Bildrechte stellte sie uns kostenfrei zur Verfügung. Julia Wieczorek und die Mitarbei-

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Bubbles & Bodies

ter*innen vom transcript Verlag haben für einen reibungslosen Publikationsprozess gesorgt. Allen genannten Förderern und unterstützenden Personen, ob namentlich genannt oder nicht, sei an dieser Stelle aufs Herzlichste gedankt!

Einleitung Lukas Kaelin, Andreas Telser, Ilaria Hoppe

Öffentlichkeit ist verstärkt umstritten und umkämpft. Die gesellschaftspolitischen Veränderungen widerspiegelnd wird sie in unterschiedlicher Rücksicht im wörtlichen Sinn fragwürdig, da sich Träger und Regeln des öffentlichen Diskurses verändern. Dieses Fragwürdig-Werden geht ins Grundsätzliche: Was ist überhaupt Thema und Gegenstand der Öffentlichkeit und was findet in der öffentlichen Auseinandersetzung statt? Öffentlichkeit ist stets gebunden an materielle, d.h., mediale, soziale, politische und ökonomische Voraussetzungen. Durch die immense Erweiterung technischer Möglichkeiten (Digitalisierung, Beschleunigung, Mobilisierung, Multimedialisierung), das Schwinden gesellschaftlicher Kohäsion (Heterogenisierung der Bevölkerung), die Ausdehnung politischer Entscheidungsstrukturen (Europäisierung und Globalisierung) und ökonomischer Deregulierungen (Neoliberalismus) hat sich das, was unter Öffentlichkeit verstanden wird, in den letzten Jahren stark gewandelt. Es sind vor allem zwei sich wechselseitig bedingende und teilweise verstärkende Phänomene, die im letzten Jahrzehnt die Öffentlichkeit geprägt haben und für diesen Band titelgebend sind: Mit den Bubbles sind die Veränderungen der Öffentlichkeit durch social media angezeigt, mit den Bodies die Wiederkehr von verkörperten Versammlungen in Form von Demonstrationen, die zunehmend transnational und global in Erscheinung treten. In den politischen Umbrüchen, mit denen sich globalisierte Gesellschaften konfrontiert sehen, spielen soziale Medien und verkörperte Versammlungen eine zentrale Rolle. Das reicht von über die sozialen Medien organisierten Demonstrationen wie beim ›arabischen Frühling‹ (2010f.) bis zu den weltweiten Straßenprotesten gegen Rassismus im Zuge der Ermordung von George Floyd (2020). Aber auch in der klassischen Öffentlichkeit und Öffentlichkeitstheorie marginalisierte Phänomene, wie Menschen auf der Flucht vor Krieg

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und Hunger, sind beispielhaft für das Zusammenspiel von gemeinschaftlicher körperlicher Präsenz und Organisation über soziale Medien. Die neuen digitalen Kommunikationsformen wirken dabei unterschiedlich auf die traditionelle durch die Massenmedien vermittelte Öffentlichkeit ein. Einige Merkmale sollen an dieser Stelle genügen, um die Veränderung der Öffentlichkeit kenntlich zu machen. Soziale Medien sind, erstens, nicht mehr in gleicher Form an nationalstaatliche Grenzen gebunden; damit können lokale Ereignisse schnell verbreitet werden und globale Bedeutung gewinnen. Dies haben nicht zuletzt die bereits genannten Beispiele gezeigt. Zweitens ermöglichen soziale Medien eine hybride Bearbeitung und Vermischung unterschiedlicher Inhalte, die ohne traditionelle Gatekeeper beschleunigt geteilt werden können. Dies führt, drittens, häufig zu einer raschen Emotionalisierung der Beteiligten in Form von Betroffenheit und Empörung. Damit einher gehen hinreichend bekannte Phänomene wie ›Shitstorms‹ oder ›Hass im Netz‹. Die sozialen Medien öffnen allerdings auch neue Möglichkeiten für den politischen Protest und seine Mobilisierung. Das zweite Phänomen, das auf die Öffentlichkeit und ihre theoretischen Konzeptualisierungen wirkt, ist die verstärkte Aufmerksamkeit gegenüber den verkörperten Formen der Versammlung. Stets sind es Anordnungen körperlicher Proteste, die Missstände anklagen, Veränderungen fordern und selber ein Agens demokratischer Organisation darstellen. Performative Proteste tendieren dazu, grenzüberschreitend zu sein und weitere zu initiieren, so dass schnell regionale oder gar globale Phänomene entstehen. Schließlich stellt auch die Flucht nach Europa vor Bürgerkrieg und politischer Instabilität (»Flüchtlingskrise«) von 2015 ein öffentliches Phänomen im Sinne einer grenzüberschreitenden transnationalen körperlichen Demonstration dar. Öffentlichkeit konstituiert sich so oft in einem Wechselspiel von Bubbles und Bodies: Die sozialen Medien spielen eine wichtige Rolle in der Verbreitung von Informationen und Emotionen, aber erst im Zusammenspiel mit den verkörperten Formen des Protests gewinnen sie politisches Gewicht, das Veränderungen anstößt, die letztendlich Geschichte schreiben. Zugleich sind die sozialen Medien von Demonstrationen als Mittel der Verbreitung, Inszenierung und Organisation nicht mehr wegzudenken. So gehören beide Elemente notwendigerweise zur Art und Weise dazu, wie sich Öffentlichkeit konstituiert. Die interdisziplinär-wissenschaftliche Reflexion dieser Aspekte für ein erweitertes Verständnis von Öffentlichkeit und Öffentlichkeitstheorien fruchtbar zu machen, ist das Anliegen dieses Bandes.

Einleitung

Ausgangspunkt für diese Reflexion ist der diskurstheoretische Rahmen, in dem die Öffentlichkeitstheorie vielfach konzipiert wird. Der von Jürgen Habermas im Strukturwandel der Öffentlichkeit 1 paradigmatisch entwickelte und später in Faktizität und Geltung2 wesentlich modifizierte Begriff der Öffentlichkeit bildet nach wie vor den Hintergrund eines Großteils der wissenschaftlichen Diskussion. Im Strukturwandel wird Öffentlichkeit ideengeschichtlich unter Rückgriff auf Kant, Hegel und Marx als bürgerliche Kategorie entwickelt, die das Versprechen der Aufklärung politisch insofern einlösen soll, als die Herrschaft von gottgegebener Autorität durch jene der Vernunft abgelöst wird. Im Erstreiten von Öffentlichkeit gegenüber bis dahin im Geheimen stattgefundenen feudalstaatlichen Prozessen vollzieht sich die bürgerliche Emanzipation. Im Strukturwandel wird dieser Anspruch als umfassende Form der politischen Selbstbestimmung konzeptualisiert; im späteren Werk von Habermas wird unter dem Einfluss der Luhmannʼschen Systemtheorie die Rolle der Öffentlichkeit in eine funktional differenzierte Gesellschaft eingebettet und damit eingegrenzt. Hier ist die Aufgabe der durch zivilgesellschaftliche Akteure verstärkten Öffentlichkeit, lebensweltliche Probleme zu artikulieren und dem politischen System zuzuführen. Es ist die Aufgabe des politischen Systems eine Lösung zu finden. Dadurch nimmt Habermas Abstand vom radikaldemokratischen Anspruch der Öffentlichkeit. Dieser Zugang bildet die häufig implizite Hintergrundfolie, die in diesem Band in verschiedenen Beiträgen beleuchtet, modifiziert und kritisiert wird. Tatsächlich wird in dieser Perspektive die lange Vorgeschichte des Begriffs der Öffentlichkeit ausgeblendet, die an dieser Stelle nicht umfassend dargestellt werden kann. Es sei schon wegen den hier versammelten Beiträgen an John Dewey und Hannah Arendt erinnert. Anstatt wie Habermas die Öffentlichkeit vis-à-vis dem Staat zu verstehen, ist für Dewey Öffentlichkeit mit dem Staat identisch bzw. bilden die Öffentlichkeit und die gewählten Vertreter*innen den Staat.3 Aus dem kooperativen Handeln und den daraus unweigerlich resultierenden Problemen entsteht die Öffentlichkeit, deren Aufgabe darin

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Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt: Suhrkamp, 1990. Erstmalig veröffentlicht 1962 im Luchterhand Verlag, Neuwied. Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung, Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt: Suhrkamp, 1992. Dewey, John: Die Öffentlichkeit und ihre Probleme. Aus dem Amerikanischen von Wolf-Dieterich Junghanns, Bodenheim: Philo, 1996.

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besteht, diese Kooperationsprobleme einer befriedigenden Lösung zuzuführen. Die primäre Frage der Öffentlichkeit entsteht für Dewey am Übergang von einer kleinräumigen Gemeinschaft zu einer großen Gesellschaft mit der damit einhergehenden Vergrößerung des Machtgefälles, der gestiegenen Bedeutung der Informationsbeschaffung und der Erosion des Gemeinschaftssinnes. Öffentlichkeit ist dann primär ein intellektuelles Problem, weil es mit komplexer werdenden politischen Gemeinschaften schwieriger wird, die Folgen von kooperativem Handeln abzusehen und den Verursachern zuzuschreiben. Während mit Dewey die Öffentlichkeit pragmatisch als grundsätzliches Phänomen politischer Gemeinschaften nicht bloß als funktionaler Gegenspieler zu politischen Entscheidungsträgern verstanden wird, betrachtet Hannah Arendt Öffentlichkeit in anthropologischer Hinsicht. Mit Hannah Arendt (und auch später mit Volker Gerhardt) ist Öffentlichkeit ein soziales Phänomen, das zumindest bis ins antike Griechenland zurückreicht – und keineswegs bloß eine Kategorie der neuzeitlichen bürgerlichen Gesellschaft.4 Öffentlichkeit wird zu einem wesentlichen Aspekt menschlicher Existenz; sie konstituiert sich aus der Polarität zwischen privater und öffentlicher Sphäre. Öffentlichkeit hat mit einem Sich-zeigen und Sich-aussetzen im gemeinsamen Raum der Bürger*innen zu tun; sie lebt von der Anerkennung der Bürger*innen als Freie und Gleiche und ist verbunden mit der republikanischen Bereitschaft, diesen gemeinsamen Raum zu gestalten. Damit erfüllt die Öffentlichkeit mehr als eine kritische Funktion gegenüber politischen Strukturen, es geht bei ihr um eine bestimmte menschliche Lebensform. Schließlich betont ein bedeutender Strang in der gegenwärtigen Öffentlichkeitstheorie – in kritischer Absetzung zu den liberalen Theorien von John Rawls und Jürgen Habermas – den antagonistischen bzw. agonistischen Charakter der Öffentlichkeit. Chantal Mouffe, die in der gegenwärtigen Diskussion diese Position prominent vertritt, hebt die hegemoniale Konfiguration des Politischen hervor, die stets das Resultat von (vergangenen) Auseinandersetzungen ist und immer Merkmale von Exklusion, Konflikt und Gegnerschaft aufweist.5 In der Öffentlichkeit geht es daher nicht um kontrafaktische Herrschaftsfreiheit und zu erzielenden Konsens, sondern um ein radikales Streiten um die Bedeutung und politische Umsetzung von Freiheit und 4 5

Arendt, Hannah: Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper, 1981. Vgl. zum Beispiel Mouffe, Chantal: Agonistik. Die Welt politisch denken. Aus dem Amerikanischen von Richard Barth, Berlin: Suhrkamp, 2014.

Einleitung

Gleichheit als den zentralen Grundwerten moderner Gesellschaften. Rationale Argumente sind dann nicht der Kern der Öffentlichkeit, sondern ebenso bedeutsam sind (Gruppen-)Identifikationen, Leidenschaften und Gegnerschaft. Die Rede von einem kontrafaktischen herrschaftsfreien Diskurs, in dem einzig rationale Argumente zählen und der auf Konsens abzielt, verschleiere die tatsächlichen sozialen Ausschlussmechanismen und die Irreduzibilität unterschiedlicher weltanschaulicher Überzeugungen. Die agonistische Öffentlichkeitskonzeption betont daher stets die umstrittene und machthaltige Form des öffentlichen Diskurses. Öffentlichkeit dient also maximal als die Art und Weise, wie Bürger*innen über sich selbst politisch bestimmen – etwa im republikanischen Modell, wie es von Hannah Arendt entwickelt wurde, oder wie es sich bei John Deweys Herleitung der Öffentlichkeit aus dem Bedürfnis der Regulierung indirekter Handlungsfolgen zeigt; oder sie wird in funktional-prozeduralistischer Form verstanden, um lebensweltliche Probleme in das politische System einspeisen zu können. Somit besteht Uneinigkeit über die normativen Erwartungen und die demokratiepolitische Bedeutung der Öffentlichkeit. Während Öffentlichkeit also stets eine deskriptive und eine normative Ebene hat, so ist strittig, welche Werte – Konsens oder Dissens, rationaler Diskurs oder leidenschaftliche Auseinandersetzung, Inklusion oder hegemoniale Konfiguration – idealerweise die Öffentlichkeit prägen sollen. Ebenso sind die Entstehungsbedingungen der Öffentlichkeit umstritten; während Jürgen Habermas Öffentlichkeit explizit als bürgerliche Kategorie und damit als Produkt der Aufklärung versteht, konzeptualisiert sie Volker Gerhardt als anthropologische Grundkategorie.6 Somit wird an der Schnittstelle von Philosophie und Soziologie, von Politik- und Medienwissenschaft verstärkt nach dem Wandel der Öffentlichkeit gefragt. Vor diesem theoretischen Hintergrund wird Öffentlichkeit im Kontext unseres Bandes zum Thema. Die titelgebenden Begriffe Bubbles und Bodies leiten dabei die kritische Auseinandersetzung, denn sowohl mit Blick auf die Medien der analogen und digitalen Kommunikation wie auch auf die embodied forms von Öffentlichkeit bleiben deren – in mehrfachem Sinn – materiellen Bedingungen häufig nicht hinreichend reflektiert. Ausgangspunkt unserer Überlegungen über die virtuellen wie verkörperten Formen von Öffentlichkeit ist das Zusammenspiel von mindestens drei wissenschaftlichen Feldern mit 6

Gerhardt, Volker: Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins, München: Beck, 2012.

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ihren je historischen Dimensionen: Im Ringen um das, was für alle gelten soll, eröffnet die Philosophie das Gespräch. Dem, was in der Sprache zu kurz kommt oder nicht sagbar ist, verschafft die Kunstwissenschaft ›Sichtbarkeit‹. Der Religion, die auf Quellen von öffentlicher Relevanz rekurrieren kann, verleiht die Theologie eine Stimme. Die hier versammelten Beiträge zeugen vom Dialog über die Öffentlichkeit in interdisziplinärer Perspektive. Dabei eint sie die Befragung der Grenzen des diskurstheoretischen Öffentlichkeitsbegriffs sowie der Versuch, seine materiellen und medialen Implikationen zu berücksichtigen. Dies zeigt sich an den einleitenden Beiträgen von Michael Reder und Florian Höhne. Michael Reder stellt in seinem Beitrag in Anlehnung an Judith Butler Performativität ins Zentrum. Damit wird der Emotionalität öffentlicher Auseinandersetzung wie auch der Verkörperlichung in Protesten Rechnung getragen und gegen eine Engführung des Öffentlichen auf ein rationales Deliberationsverfahren argumentiert. Diese ins Soziale hineinreichende Weitung des Öffentlichkeitsverständnisses kann damit die Dynamik von gegenwärtigen politischen Bewegungen besser konzeptionell fassen. Florian Höhnes Beitrag schließt daran insofern an, als er die medialen blinden Flecken von Öffentlichkeitstheorien hervorstreicht und mit Bezug auf praxistheoretische Reflexionen die gegenwärtige Transformation der Öffentlichkeit in den Blick nimmt. Der Rückbezug auf stets materiell gebundene Praktiken deutet die Öffentlichkeit nicht primär als Kommunikationszusammenhang, sondern als Abfolge von materiell und medial vermittelten Praktiken. Aus Sicht der Theologie (jedoch nicht auf sie beschränkt) lässt sich daraus der Appell ableiten, nicht blind einem kontextenthobenen idealisierten Öffentlichkeitsverständnis anzuhängen, sondern Öffentlichkeit durch konkrete Praktiken jeweils herzustellen. Den Bedingungen der digitalen Öffentlichkeit gehen Manuela Naveau, Calvin Kiesel, und Lukas Kaelin nach. Dabei zeigen sich die von Naveau vorgestellten künstlerischen Positionen als Vorreiter der immer noch virulenten Diskussion um Partizipation als politischer Teilhabe, die das Internet in seiner Anfangszeit neu und scheinbar unbegrenzt zur Verfügung stellte. Calvin Kiesel stellt das viel diskutierte Phänomen der Filterblase dezidiert in den Kontext der Postmoderne. Filterblasen gehorchen der von Lyotard und Kittler beschriebenen Logik postmoderner Informationsflüsse, die nicht mehr in einem emphatischen Begriff der Öffentlichkeit aufgehoben sind; vielmehr sind unauflösbare Pluralität, Selbstreferentialität und Fragmentierung wesentliche Merkmale postmoderner Öffentlichkeiten. Lukas Kaelin fragt nach der

Einleitung

gegenwärtigen medialen Transformation der Öffentlichkeit unter Verwendung des theoretischen Konzepts der Allmende, also eines gemeinsam zu bewirtschaftenden und kultivierenden Allgemeingutes. Wie eine Allmende der Kooperation und Kultivierung bedarf, so ist auch die politische Öffentlichkeit nicht bloß als distanziertes Verfahren zur Meinungsbildung im Vorfeld parlamentarisch legitimierter Entscheidungen zu verstehen, sondern hängt von der konkreten Art und Weise der gemeinschaftlichen ›Bestellung‹ ab. Der Abschnitt zu den Bodies bzw. den verkörperten Formen von Öffentlichkeit führt die Bedeutung ihrer Anwesenheit wie auch die Problematik ihrer Abwesenheit ganz grundsätzlich und besonders im Kontext von Migration vor Augen. Diese in mehrfacher Hinsicht grenzüberschreitenden Bewegungen und deren Problematik tritt in den von Romana Hagyo vorgestellten künstlerischen Performanzen deutlich hervor. Im Kontext von Krieg, Flucht und Vertreibung wird das verlorene Private zum öffentlichen Thema. Damit wird die oft mit Geschlechternormen einhergehende Grenze zwischen öffentlich und privat zum Verschwimmen gebracht und zugleich Privatheit als Qualität postuliert. Auch Mirja Kutzer und Maria Robaszkiewicz machen sich auf die Suche nach Humanität im Kontext von Migration und digitaler Inszenierung von Körpern. Dem Christentum sind bei aller Ambivalenz gegenüber Leiblichkeit die Diskurse über den Körper tief eingeschrieben. Mirja Kutzer gewinnt aus einer kritischen Relektüre der Vielschichtigkeit dieser Tradition Ressourcen, um dem fetischisierten, digital geschönten Bild die Berührbarkeit und Verletzlichkeit des Leibs entgegenzustellen. Nicht zuletzt sind es gebrochene, geschundene Körper, an und in denen Heil vermittelt wurde und wird. Maria Robaszkiewicz wirft mit einer Arendtʼschen Konzeptualisierung der Öffentlichkeit die Frage auf, wer darin überhaupt vorkommen kann, vor allem in Bezug auf Menschen in der Migration. So wird deren Machtlosigkeit durch die Verunmöglichung des Erscheinens in der Öffentlichkeit verstärkt. Dem stellt Robaszkiewicz mit Bezugnahme auf Jeffrey Goldfarb die Bedeutung der ›kleinen Dinge‹ entgegen, die einerseits in alle politische Großereignisse hineinverwoben und an denen andererseits gerade auch Migrant*innen beteiligt sind. Dabei bleibt die Rolle des Körpers essentiell und die Möglichkeit eines rein virtuellen, körperlosen Handelns beschränkt und ambivalent. Daran schließen die Beiträge von Dominik Harrer, Wulf Loh und Xenia Kopf an, welche die Möglichkeiten resilienter Praktiken ausloten. Kopf zeigt am Beispiel sogenannter ›autonomer Zentren‹ die Konstituierung von Grup-

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pen, welche sich vom Staat und der öffentlichen Meinung sowohl politisch als auch konkret räumlich distanziert haben. In diesen zumeist temporären Gemeinschaften werden Fragen von Beteiligung und Ausschluss, Gender und Machtverhältnissen verhandelt und erstritten – langfristig wirken diese Prozesse auf die Öffentlichkeit im Großen und verändern sie. Wulf Loh widmet sich in seinem Beitrag dem digitalen zivilen Ungehorsam und fragt nach dessen Funktion speziell für transnationale Öffentlichkeiten. Entscheidend für die Argumentation ist dabei ein an Kriterien orientierter Vergleich von traditionellen Formen zivilen Ungehorsams mit seinem digitalen Äquivalent. Angesichts der wachsenden Bedeutung transnationaler Öffentlichkeiten zur Kontrolle politischer Prozesse wird dem digitalen zivilen Ungehorsam – Leaking als ein prominentes Beispiel – eine wichtige Rolle zugesprochen und für seine Entkriminalisierung argumentiert. Während Loh den zivilen Ungehorsam aus der liberalen Perspektive von John Rawls analysiert, widmet sich Dominik Harrers Beitrag dem Aufbegehren gegenüber prekären Lebensbedingungen aus radikaldemokratischer Sicht. Dezidiert aus einer Perspektive der Vulnerabilität, der Prekarisierung und des Ausgeschlossen-Seins argumentierend, zeigt sich für Harrer im zivilen Ungehorsam eine wichtige emanzipative Kraft. Jene, die zivil ungehorsam sind, um dadurch Ausgeschlossenen zu ihrem Recht zu verhelfen, können sich auf Hegels Rechtsphilosophie und eine Weltordnung in Freiheit berufen. In allen Beiträgen spiegelt sich ein zentrales Anliegen der Herausgeber*innen wider, nämlich den vor unser aller Augen statthabenden Strukturwandel der Öffentlichkeit aus interdisziplinärer Perspektive darzustellen und kritisch zu diskutieren. Dabei ist uns bewusst, dass Öffentlichkeit als Diskurs, Theorie und manifester Raum steten Veränderungen unterliegt. Während der Redaktion des Bandes hat uns der Lockdown in die Privatheit des Homeoffice getrieben, wo wir umso stärker unserer digitalen Vernetztheit mit ihren Möglichkeiten und Grenzen ausgeliefert waren. In Zeiten, in denen körperliche Versammlungen als bedrohlich gelten, zeigt sich zugleich ihre unverzichtbare Bedeutung. So versteht sich dieser Band als Ergebnis von interdisziplinären Diskussionen, die auf der Tagung »Bubbles & Bodies. Zur materiellen Basis der Öffentlichkeit« 2018 begonnen haben, und die mit dem veränderten Untertitel »Neue Öffentlichkeiten zwischen sozialen Medien und Straßenprotesten« eine Richtung zukünftiger Forschung eingeschlagen hat, bei der die materiellen Bedingungen der Öffentlichkeit mehr Relevanz bekommen.

Überlegungen zu einem zeitgemäßen Öffentlichkeitsverständnis

Performativität, Differenz und Kritik Für einen neuen Begriff der (politischen) Öffentlichkeit Michael Reder

1.

Die gegenwärtigen Transformationen der Öffentlichkeit

In vielen Demokratiemodellen spielt die Öffentlichkeit eine wichtige Rolle. Sie wird meist als der Ort verstanden, an dem Menschen gesellschaftlich relevante Themen hörbar machen und in den politischen Diskurs einspeisen. Öffentlichkeit wird dabei unterschiedlich konzeptualisiert: Sie ist entweder Teil des politischen Raums jenseits des Privaten, das Korrektiv zu Staat und Wirtschaft oder aber der virale Motor des Politischen selbst. In vielen Modellen wird Öffentlichkeit als ein sprachliches Geschehen gefasst. Ja, mehr noch: Öffentlichkeit wird als ein rationaler Diskurs verstanden, in dem Argumente ausgetauscht, politische Lösungen für gesellschaftliche Probleme gesucht und dann an das politische System weitergegeben werden. Der politische Alltag der vergangenen Jahre hat vor Augen geführt, dass der Öffentlichkeit in der Tat eine zentrale Rolle im Feld des Politischen zukommt. Allerdings werden traditionelle Öffentlichkeitstheorien von den aktuellen Entwicklungen mehr und mehr in Frage gestellt, und dies in mehrfacher Hinsicht: Öffentlichkeit besteht, erstens, nicht (mehr) nur aus dem Austausch rationaler Argumente, sondern nimmt komplexe Mischformen reflexiver und emotionaler Äußerungen und Verhaltensweisen an. Zweitens wird deutlich, dass die Öffentlichkeit kein abstrakter Diskurs ist, sondern immer auch konkrete körperliche Formen annimmt, die eine enorme politische Wirkung entfalten können – angefangen von Occupy über den Arabischen Frühling bis hin zu Fridays for Future. Drittens steigt in postmodernen Gesellschaften die Proliferation von Akteuren und Orten der Öffentlichkeit massiv an. Dies hat sowohl mit der Digitalisierung zu tun, die eine Vielzahl an hybriden Formen des Öffentlichen hervorbringt, als auch mit der Globalisierung, durch die vielfältige transnationale und transkulturelle Formen des Öffentlichen entstehen.

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Michael Reder

Vor diesem Hintergrund gilt es zu fragen, welche Modelle jenseits traditioneller Konzepte von Öffentlichkeit geeignet sind, diese jüngeren Entwicklungen begrifflich zu erfassen und zu reflektieren. Hierzu ist zuerst eine Analyse der traditionellen Öffentlichkeitskonzepte und ihrer (teils problematischen) Implikationen wichtig (2). Im Anschluss daran werden poststrukturalistische Modelle von Öffentlichkeit untersucht. Die Leitfrage dabei ist, inwiefern diese Ansätze die aufgezeigten Probleme übersteigen und alternative Perspektiven auf die aktuellen Transformationen des Öffentlichen eröffnen können. Als zentrale Referenzautorin wird Judith Butler herangezogen, die gerade in der Verschränkung sozial- und politisch-philosophischer Argumente in den vergangenen fünfzehn Jahren wichtige Beitrage zu dieser Diskussion geliefert hat (3). Ein abschließendes Fazit beendet den Beitrag (4).

2.

Merkmale traditioneller Modelle von Öffentlichkeit und ihre Probleme

Der Begriff der Öffentlichkeit ist insbesondere seit der Aufklärung verstärkt in philosophische Debatten aufgenommen wurden. Autoren wie Immanuel Kant haben das Konzept der Öffentlichkeit als Ort des vernünftigen Austausches von Meinungen für moderne Gesellschaften in philosophischer Hinsicht Grund gelegt.1 Zu einem Kernbegriff philosophischer Gesellschafts- und Demokratietheorie ist er allerdings erst im 20. Jahrhundert geworden. Dies ist ganz unterschiedlichen Autor*innen zu verdanken, beispielsweise den Arbeiten von John Dewey, Hannah Arendt oder Jürgen Habermas.2 Wichtige Bausteine dieser philosophiegeschichtlichen Debatten sind, erstens, die Betonung des wechselseitigen Verhältnisses von Öffentlichkeit und Demokratie. Damit wird von verschiedenen philosophischen Theorien betont, dass Demokratie notwendig auf eine politische Öffentlichkeit ange-

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Vgl. Kant, Immanuel: Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleine Schriften, Hamburg: Meiner 1999. Vgl. Dewey, John: Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik, Braunschweig u.a.: Westermann 3 1964; Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München/Zürich: Piper 2002; Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied: Luchterhand 1962.

Performativität, Differenz und Kritik

wiesen ist.3 Wenn Öffentlichkeit an Vitalität verliert oder stark reglementiert wird, droht die Demokratie als Ganze pathologische Züge anzunehmen, so die implizite Annahme. Zweitens wurde in einer historischen Perspektive der Strukturwandel von Öffentlichkeit, insbesondere von Habermas, in seinen verschiedenen Facetten philosophisch rekonstruiert – angefangen von den Frühformen bürgerlicher Gesellschaften in der Aufklärung, über pathologische Verzerrungen moderner Öffentlichkeit durch Ökonomisierung und Kommerzialisierung bis hin zu den normativen Potenzialen und politischen Funktionen ausdifferenzierter Öffentlichkeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Öffentlichkeit als philosophisches Konzept lässt sich vor dem Hintergrund dieser Debatten des 20. Jahrhunderts unterschiedlich konzeptualisieren. Entweder wird ein soziologisch bzw. politikwissenschaftlich orientierter Zugang zur Konzeptualisierung von Öffentlichkeit gewählt. Dann ist die Öffentlichkeit vor allem der Ort des Austausches von nicht-privaten Äußerungen, der demokratisch-rechtsstaatlich gerahmt wird. Als öffentlicher Raum wird er meist als ein Gegenüber zu den offiziellen politischen Institutionen verstanden, teilweise auch als ein Gegenüber zur ökonomischen Sphäre. Ein zweiter Zugang geht stärker von den Inhalten öffentlicher Debatten aus und versteht Öffentlichkeit als die Gesamtheit der Meinungen der Bürger*innen, die in gesellschaftliche Debatten eingebracht werden und die gleichzeitig auf der Hörer*innenseite von allen Bürger*innen als Diskursbeiträge wahrgenommen werden können. Dabei wird Öffentlichkeit meist als ein kommunikatives Geschehen verstanden. Besonders in der von Habermas geprägten Interpretation wird das Konzept von Öffentlichkeit zudem oftmals aus einer normativen Perspektive heraus erklärt.4 Die öffentlichen Diskurse, so das implizite Argument, sind im Kern erst dann der Öffentlichkeit zuzurechnen, wenn sie einem bestimmten Ziel genügen, nämlich der Orientierung hin auf ein humanes Zusammenleben der Menschen. Mit Begriffen wie Gemeinwohlorientierung oder Ausrichtung an Gerechtigkeit werden dann die Akteure beschrieben, die diese normativen Ziele der Öffentlichkeit verfolgen. 3

4

Vgl. im Folgenden: Reder, Michael: »Öffentlichkeit und Liberalismus. Eine pragmatistische Neubestimmung anhand des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Religion«, in: Judith Könemann/Saskia Wendel (Hg.): Religion, Öffentlichkeit, Moderne. Transdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld: transcript 2016, S. 227-256. Vgl. Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992.

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Michael Reder

In einigen Debatten fällt diese normative Orientierung besonders auf, vor allem wenn als Akteure der Öffentlichkeit fast nur noch (bestimmte) Nichtregierungsorganisationen genannt werden (z.B. Amnesty International, Greenpeace usw.), die genau diesen normativen Zielen dienen. Damit verbunden ist bei an Habermas orientierten Ansätzen ein Rekurs auf das Konzept der kommunikativen Vernunft. Damit finden nur die Akteure der Öffentlichkeit in den philosophischen Überlegungen Beachtung, die im Sinne der kommunikativen Vernunft auf das bessere Argument unter Beteiligung aller betroffenen Bürger*innen und damit eine konsensual orientierte Konfliktlösung gesellschaftlicher Themen abzielen. In der aktuellen Debatte erweitert Volker Gerhardt5 diese Perspektive, insofern Öffentlichkeit als gesellschaftliches Bewusstsein interpretiert wird. Menschliches Bewusstsein, so Gerhardt, ist niemals nur individuell, sondern immer auch sozial und politisch, wenn es sich äußert. Der Mensch wird in dieser anthropologisch fundierten Deutung von Öffentlichkeit zum homo publicus. Die Öffentlichkeit wird räumlich wie sprachlich als der Ort gedeutet, an dem eine Gesellschaft ihren politischen Willen findet – auf der Basis der freien Meinungsäußerung aller Bürger*innen. In den meisten skizzierten Ansätzen wird (im weitesten Sinne) Öffentlichkeit aus der Perspektive eines politischen Liberalismus interpretiert. Die Freiheit der Meinung und Handlungen der Bürger*innen fungiert dabei als philosophischer Ausgangspunkt. Damit verbunden ist zudem oft eine akteurszentrierte Perspektive, welche den Fokus auf bestimmte Akteure legt, welche die Öffentlichkeit prägen. In der komplementären Diskursperspektive geht es in der Öffentlichkeit um die Meinungsäußerungen eben dieser Akteure, wobei Meinungen als Teil eines (vernünftigen) politischen Prozesses verstanden werden. Diese Modelle von Öffentlichkeit implizieren teils grundlegende Schwierigkeiten, von denen einige im Folgenden skizziert werden: Erstens wird von soziologischer, aber auch philosophischer Perspektive die Trennung von privat und öffentlich kritisiert, die vielen traditionellen Modellen von Öffentlichkeit zu Grunde liegt. Neue Kommunikations- und Informationstechnologien ermöglichen jedoch vielfältige Hybridformen, welche diese Grenze porös werden lassen, wenn nicht sogar auflösen. Die Beschreibung der Öffentlichkeit

5

Vgl. Gerhardt, Volker: Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins, München: C.H. Beck 2012.

Performativität, Differenz und Kritik

muss daher an anderen Stellen ansetzen, als dies bislang der Fall gewesen ist, so der Vorwurf.6 Zweitens zeigt sich im öffentlichen Raum, der mehr und mehr in den traditionell privaten Bereich hineinreicht, eine enorme Heterogenität von Akteuren, Kontexten und Diskursformen. Eine solche plurale Differenzierung, die moderne Gesellschaften insgesamt, aber eben auch in hohem Maße die Öffentlichkeit betrifft, »umfasst alle Formen der Ausbildung unterschiedlicher sozialer Sinnwelten, die nicht auf der Ausdifferenzierung funktional spezialisierter Handlungssphären beruhen, sondern relativ unspezifisch Überzeugungen, Einstellungen und Erlebniswelten umfassen.«7 Die bisherigen Modelle von Öffentlichkeit suggerieren bei aller Betonung der Pluralität von Akteuren und Meinungen jedoch eine gewisse Homogenität, was sich insbesondere an den Analysen zu NGOs als Hauptakteure der Öffentlichkeit ablesen lässt. Diese Homogenität löst sich heute mehr und mehr auf. Dabei trifft, drittens, die von Nancy Fracer schon vor 20 Jahren formulierte Kritik an vielen traditionellen Öffentlichkeitskonzepten nach wie vor zu.8 Der Öffentlichkeitsbegriff suggeriert nämlich, so ihr Argument, dass alle Bürger*innen gewissermaßen automatisch eine Möglichkeit zur Partizipation in diesem Bereich haben, was jedoch ein Trugschluss sei. Denn viele Menschen werden aus unterschiedlichen Gründen (z.B. Bildungsniveau, technisches Knowhow, finanzielle Möglichkeiten) von den öffentlichen Diskursen abgeschnitten. Dies gilt auch für den gegenwärtigen heterogenen Raum der Öffentlichkeit, auch wenn die Zugangsmöglichkeiten insgesamt sicherlich vielfältiger geworden sind. Viertens zeigen gerade die Demonstrationen der letzten Jahre – angefangen von Pegida bis hin zu Fridays for Future –, dass die körperliche Präsenz nach wie vor eine zentrale Rolle für das Verständnis von Öffentlichkeit spielt. Dies zeigt sich gerade in Zeiten der COVID-19-Pandemie, in der körperliche Präsenz im öffentlichen Raum von vielen Menschen schmerzlich vermisst wurde. Genau dieser performative Vollzug der Meinungsäußerung in seiner körperlichen Verfasstheit wird aber von vielen traditionellen Konzeptionen, die auf den Austausch von Argumenten abzielen, oftmals vernachlässigt. Öffentlichkeit ist weniger die Summe rational sprechende Akteure, sondern die

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Vgl. Phillips, Anne: Geschlecht und Demokratie, Hamburg: Rotbuch 1995. Peters, Bernhard: Der Sinn von Öffentlichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 95. Vgl. Fracer, Nancy: Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Nationalstaates, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 107-150.

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sich performativ-körperlich manifestierende Versammlung, so das Gegenargument. Dabei kommt dieser performativen Konstitution des Demos eine zentrale Rolle zu, jedoch nicht (nur) im Sinne einer partizipativen Versammlung der Bürger*innen, sondern im Sinne eines Hörbarmachens derer, die ausgeschlossen (oder eben nicht hörbar) sind. Diese nicht anwesenden Menschen sollen durch den performativen Vollzug präsentisch gemacht werden – beispielsweise zukünftige Generationen durch die Präsenz von Schüler*innen auf der Straße. Diese Performativität konstituiert politische Bewegung erst und verändert sie in einem ständig fortwährenden Prozess. Öffentlichkeit schafft erst das Politische, aber nicht in einem einmaligen Schöpfungsakt oder durch einen rationalen Vertragsschluss, sondern durch einen fortlaufenden performativen Prozess der Differenz und Kritik.9 Schlussendlich ist eine Ausrichtung von Öffentlichkeit auf ein vorab bestimmtes normatives Ziel zu kritisieren. Im öffentlichen Raum proliferiert mit den Akteuren nämlich auch die normative Zielrichtung der Akteure selbst. Dies war in gewisser Weise schon immer ein Kennzeichen moderner Gesellschaften, aber zeigt sich gegenwärtig in einer neuen Qualität und Form. Die Pluralität normativer Ziele und Motivationen vervielfältigt sich in global verflochtenen und interkulturell verfassten Gesellschaften zunehmend, weshalb keine einheitliche normative Ausrichtung als Kernmerkmal der Öffentlichkeit mehr angenommen werden kann. Deshalb kann das Ziel der Öffentlichkeit auch nicht automatisch sein, eine konsensuale Aushandlung politischer Themen zu leisten. Bei der Konzeptualisierung von Öffentlichkeit sollte deshalb »nicht ihre Kapazität zur Konfliktlösung durch aktuelle Konsensbildung oder zur Legitimation einzelner politischer Entscheidungen im Vordergrund stehen. Das ›Agora-Modell‹ politischer Entscheidungsfindung durch öffentliche Beratung ist irreführend, wenn es um größere Öffentlichkeiten geht.«10 Wenn dies z.B. mit dem Hinweis auf die kommunikative Vernunft dennoch getan wird, dann werden viele Äußerungen ausgeklammert und die Struktur und auch das Potenzial der Öffentlichkeit selbst nicht ernst genommen. Öffentliche Diskurse sind aber vielmehr durch ganz unterschiedliche Formen von Vernünftigkeit ausgezeichnet und damit auch durch sich stark unterscheidende normative Zielvorstellungen. Dies ist jedoch nicht per se ein Defizit, sondern kann eine Stärke der Öffentlichkeit sein, worauf beispielsweise radikale Demokratietheorien 9 10

Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Performativität. Eine Einführung, Bielefeld: transcript 2012. B. Peters: Der Sinn von Öffentlichkeit, S. 202.

Performativität, Differenz und Kritik

in Absetzung vom Habermasʼschen Konzept von Öffentlichkeit verweisen.11 Wie diese neuen Formen von Öffentlichkeit philosophisch kritisiert werden können, steht auf einem anderen Blatt und muss deshalb neu diskutiert werden. Judith Butler entwickelt im Anschluss an die Kritische Theorie hierfür ein spezifisches Konzept von Kritik.12 Dieses Konzept soll im Folgenden eingehender untersucht und auf seine Impulse für eine Weiterentwicklung des Öffentlichkeitskonzepts hin reflektiert werden.

3.

Butlers Impulse für eine performative Theorie der Öffentlichkeit

Butler ist nicht nur eine Theoretikerin des Geschlechterverhältnisses, sondern auch des Gesellschaftlichen und Politischen ganz allgemein.13 In den vergangenen Jahren haben gerade die beiden zuletzt genannten Themenfelder einen wichtigen Stellenwert in ihren Arbeiten eingenommen. Ihr an Hegels Philosophie angelehnter Fokus liegt dabei auf einem Wechselverhältnis des Einzelnen und der Konstitution des Politischen. Daraus ergibt sich eine Konzeption von Öffentlichkeit, die sich absetzt vom (liberalen und deliberativen) Mainstream und die – bei aller berechtigten Kritik – neue Impulse für den Diskurs über eine angemessene Konzeptualisierung der (politischen) Öffentlichkeit liefern kann. Hintergrund ihrer Theorie des Politischen im Allgemeinen und des Öffentlichen im Besonderen ist Foucaults Diskurstheorie. Dieser hatte als Ziel der philosophischen Diskurstheorie ausgemacht, eingefahrene Denkweisen immer wieder neu kritisch zu hinterfragen.14 Mit Diskurs ist dabei ein umfassendes (meist sprachlich verfasstes) Geschehen gemeint. Mit dem Begriff ist also nicht an eine in sich geschlossene Diskussion zwischen zwei Menschen gedacht, sondern er bringt vielmehr zum Ausdruck, dass Gesellschaften durch komplexe, Kommunikationen übergreifende sprachliche Formationen geprägt sind. Durch ihre sprachliche

11 12 13 14

Vgl. Mouffe, Chantal: Das demokratische Paradox, Wien: Turia + Kant 2008. Vgl. Butler, Judith: Rücksichtlose Kritik. Körper, Rede, Aufstand, Konstanz: Konstanz University Press 2019. Vgl. Posselt, Gerhard/Schönwälder-Kuntze, Tatjana/Seitz, Sergej (Hg.): Judith Butlers Philosophie des Politischen. Kritische Lektüren, Bielefeld: transcript 2018. Vgl. Foucault, Michel: Von der Freundschaft, Berlin: Merve 1984, S. 22.

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Strukturierung transportieren Diskurse gleichzeitig grundlegende Verständnisse von Gesellschaft oder dem Menschen. Dabei sind Diskurse immer durch bestimmte Mechanismen strukturiert. Diese legen fest, ob, was und wie etwas in einem Diskurs formuliert werden darf, also die Grenzen des Sagbaren und Denkbaren. »Ich setze voraus, dass in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen.«15 Mit der bedrohlichen Materialität, so könnte man übersetzen, ist die Eigendynamik von Diskursen gemeint. Immer wieder erleben wir bis heute diese Wirkmächtigkeit von (politischen) Diskursen, denen man sich als Bürger*in kaum entziehen kann. Der vorurteilsbeladene (und oftmals islamophobe) Diskurs über den Islam nach dem 11. September ist ein Beispiel hierfür. Butler schließt an Foucaults archäologische Methode der kritischen Diskursreflexion an, setzt jedoch andere Akzente, nicht zuletzt, weil Foucault auch keinen differenzierten Begriff der Öffentlichkeit entwickelt. Den Ausgang nimmt Butler beim politischen Subjekt.16 Dieses steht, so Butler, vor einem Paradox: Einerseits erfährt sich das Subjekt als Handelndes, andererseits muss es sich selbst voraussetzen als etwas, das schon immer gesellschaftlich geformt ist. Butler bezeichnet dieses Phänomen als Subjektivation und meint damit den Prozess »des Unterworfen-Werdens durch Macht und zugleich den Prozess der Subjektwerdung.«17 Soziale (Diskurs-)Strukturen prägen das Subjekt schon immer, z.B. indem eine Kultur ein bestimmtes Vokabular zur Selbstdeutung vorgibt. Gleichzeitig sind es immer Subjekte, die innerhalb dieser Strukturen handeln und damit Machtbeziehungen aufbrechen können, wodurch sich bereits ein Unterschied zu Foucault (zumindest in seinen frühen Schriften) auftut. Um den Prozess der Subjektivation genauer zu beschreiben, verwendet Butler den Begriff der Performativität. Mit diesem Begriff argumentiert sie,

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Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 1991, S. 10f. Vgl. Meißner, Hanna: Jenseits des autonomen Subjekts, Bielefeld: transcript 2010. Butler, Judith: Psyche der Macht: Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 8.

Performativität, Differenz und Kritik

dass die Identität des Subjekts immer wieder neu geschaffen und konstituiert wird. Menschen können dabei niemals ein objektives Wissen über ihre Identität gewinnen, diese existiert nur als ein Prozess, der sich ständig auf frühere Erfahrungen bezieht und gleichzeitig – performativ – neue Erfahrungsräume eröffnet.18 Das bedeutet allerdings nicht, dass Individuen in jedem Moment ›neue Menschen‹ sind, denn der Prozess der Subjektivation ist immer bedingt durch die Diskurse und Erfahrungen, die dem Menschen vorausgehen. In paradigmatischer Weise lässt sich dieser Gedanke mit Rückgriff auf Butlers frühere Arbeiten zum Geschlechterverhältnis erklären. In diesen betont sie zuerst hinsichtlich der Gender-Kategorie, dass diese lediglich als eine Abfolge von Handlungen verstanden werden kann, der ein bestimmtes Etikett von außen zugeschrieben wird. Es gibt keine natürlich gegebene Identität, die hinter der geschlechtlichen Rolle steht. »Hinter den Äußerungen der Geschlechtsidentität (gender) liegt keine geschlechtlich bestimmte Identität (gender identity). Vielmehr wird diese Identität gerade performativ durch diese ›Äußerungen‹ konstituiert, die angeblich ihre Resultate sind.«19 Deshalb wird von ihr die Idee, dass es ein Wesen des Menschen hinter der geschlechtlichen Rolle gebe, als unplausibel zurückgewiesen. Vielmehr zwingt erst der gesellschaftliche Diskurs den Menschen eine geschlechtliche Identität auf. Es soll den Einzelnen glaubhaft gemacht werden, dass er/sie es ist, der/die etwas will. Die kulturellen Prägungen machen die Gender-Rollen erst zu dem, was sie sind. Gleichzeitig betont Butler, dass auch die Kategorie des biologischen Geschlechtes nicht natürlich gegeben ist. Das biologische Geschlecht ist, mit Foucault gesprochen, ein regulierendes Ideal. Die Zuschreibung eines Geschlechts ist Teil einer sozialen Praxis, mit der menschliche Körper beherrscht werden. Das biologische Geschlecht wird daher zu einem dynamischen und prozesshaften Geschehen. »Das ›biologische Geschlecht‹ ist […] nicht einfach etwas, was man hat, oder eine statistische Beschreibung dessen, was man ist: Es wird eine derjenigen Normen sein, durch die ›man‹ überhaupt erst lebensfähig wird, dasjenige, was einen Körper für ein Leben im Bereich kultureller Intelligibilität qualifiziert.«20

18 19 20

Vgl. ebd. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 49. Ebd., S. 22.

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Genauso wie die Unterscheidung zwischen schwarzer und weißer Hautfarbe als Basis sozialer Diskriminierung seit vielen Jahren kritisiert wird, so argumentiert Butler für die Abschwächung einer naturalisierten Unterscheidung von Mann und Frau. Die aktuellen Erfahrungen von Rassismus und ihre kritische öffentliche Verarbeitung zeigen allerdings auch die massive gesellschaftliche (und auch bedrohliche) Wirkmächtigkeit solcher Unterscheidungen. Sozialphilosophisch betrachtet impliziert diese Argumentation ein relationales Konzept des Sozialen, was wichtig ist für das Verständnis von Öffentlichkeit.21 In Kritik der ethischen Gewalt erläutert Butler dieses relationale Verständnis mit Verweis auf die Foucaultʼsche Diskurs- und Hegelsche Anerkennungstheorie.22 Sie deutet dabei das Subjekt als eines, das in ein unaufhörliches Wechselspiel des Angesprochen-Seins und Antwortens eingebunden ist. Das Angesprochen-Sein formt das Subjekt, wohingegen das Antworten den Raum des Handelns eröffnet. Das Öffentliche als sozialer Raum ist dann nicht die Summe von (atomisierten) Subjekten bzw. deren Meinungen oder Handlungen, sondern ein dynamisches Beziehungsgeschehen. Relational ist dieses Öffentlichkeitsverständnis insofern als das, was das individuelle Handeln der Bürger*innen und das Politische als kollektive Handlungsformation ausmacht, immer schon eingebettet ist in diskursive Zusammenhänge. In dieser Perspektive sind Menschen immer abhängig und unabhängig zugleich. Diese relationale Theorie des Sozialen impliziert gleichzeitig auch eine erkenntnistheoretische Zurückhaltung in Bezug auf (soziales und politisches) Wissen, was gerade mit Blick auf die reflexive Verarbeitung der gegenwärtigen Komplexität und Dynamik öffentlicher Prozesse wichtig erscheint: Weil das Subjekt immer Teil eines relationalen Prozesses ist, kann es kein objektives Wissen über sich selbst oder die Wirklichkeit erlangen. Butler hebt heraus, dass »wir von Anfang an in einer Art von Beziehungshaftigkeit verstrickt sind, die sich nicht voll thematisieren, nicht voll der Reflexion unterwerfen und kognitiv erkennen lässt.«23 Die Einsicht in die Relationalität des Öffentlichen korrespondiert also mit einer Beachtung der erkenntnistheoretischen Grenzen des Menschen und gleichzeitig mit einer Offenheit für die Veränderbarkeit der sozialen und politischen Wirklichkeit der Öffentlichkeit.

21 22 23

Vgl. von Redecker, Eva: Zur Aktualität von Judith Butler, Wiesbaden: VS Verlag 2011. Vgl. Butler, Judith: Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. Ebd., S. 102.

Performativität, Differenz und Kritik

Vor diesem sozialphilosophischen und epistemologischen Hintergrund entwickelt Butler nun ein alternatives Verständnis von Normativität24 , was ebenfalls wichtig ist für die aktuelle Debatte um Öffentlichkeit. Angesichts der vielfältigen Formen von Gewalt im 21. Jahrhundert setzt sie sich beispielsweise mit Bezug auf Levinas mit der sozialen Funktion von Normativität auseinander.25 Ihrer Ansicht nach sollte die Funktion der Philosophie genau darin bestehen, Normativität nicht in abstrakt-universale Normen aufzuheben, sondern nach einer angemessenen Verantwortung angesichts der Fragilität des Anderen zu fragen. Philosophie kann damit helfen, die Macht der Diskurse zu brechen und der Singularität Raum zu geben. Gerade deswegen hilft (philosophische) Kritik, um zum unerwartet Menschlichen zurückzukehren und die Fragilität des Menschen in den Blick zu nehmen.26 Wenn politische Philosophie dies nicht tut, und Normativität in möglichst eindeutige und abstrakte Ideale zu fassen versucht, steht sie immer in der Gefahr gewalttätig zu werden. Ansätze, die nur einen rationalistisch eng gefassten normativen Rahmen von Öffentlichkeit kennen, gilt es aus dieser Perspektive grundlegend zu kritisieren. Deswegen spielt für Butler auch das Element der Kritik als Teil des Normativen eine so zentrale Rolle. Denn Kritik in der Tradition von Foucault ermöglicht für sie eine Anerkenntnis des relationalen Charakters menschlicher Wirklichkeit. Genau diese Relationalität wird in vielen Theorien oft zu wenig in den Blick genommen. Bei der philosophischen Reflexion von Öffentlichkeit gilt es aber, diese Relationalität anzuerkennen und im Sinne Frasers besonders die Diskriminierten in den Blick zu nehmen, d.h. jene Menschen, die aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen oder in ihr nicht gehört werden. Butler geht mit diesem Argument über Foucault hinaus: Denn Kritik versteht sie weniger als eine historische Rekonstruktion von Singularitäten, die von den diskursiven Mechanismen der (liberalen Vernunft) vereinnahmt wurden. Kritik greift zwar auf solche Rekonstruktionen zurück, sie ist aber weniger ein neues Argument des öffentlichen Vernunftgebrauches, sondern mehr

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25 26

Vgl. Schönwälder-Kuntze, Tatjana: »Zwischen Ansprache und Anspruch. Judith Butlers moraltheoretischer Entwurf«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58/1 (2010), S. 83-104. Vgl. Butler, Judith: Precarious Life. The Power of Mourning and Violence, London, UK/New York, NY: Verso 2004. Vgl. J. Butler: Precarious Life.

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eine Haltung des politischen Subjekts selbst.27 Kritik wird bei Butler zu einem dialektischen Prozess, der bei der Gegebenheit der Diskurse ansetzt und gleichzeitig über diese hinausgreift, um neue Handlungsmöglichkeiten performativ zu schaffen. Öffentlichkeit ist deswegen kein Rahmen für einen rationalen Diskurs, sondern vielmehr ein relationaler Prozess, eine kulturelle Praxis, die besonders auf die (negativen) Erfahrung des Gefährdet-Seins menschlichen Lebens und den Ausschluss aus demokratischer Praxis fokussiert. Politische Öffentlichkeit sollte Butlers Ansicht nach darauf ausgerichtet sein, genau dieser Verletzbarkeit menschlichen Lebens besondere Beachtung zu schenken. »›Precarious Life‹ approaches the question of a non-violent ethics, one that is based upon an understanding of how easily human life is annulled.«28 Dieser Fokus auf das gefährdete Leben verleiht der Verhältnisbestimmung von Öffentlichkeit und Demokratie neue Konturen.29 Öffentlichkeit als Hörbarmachung der Erfahrungen des AusgeschlossenSeins kann dabei nicht mehr auf eine klar umgrenzte ethnische, kulturelle oder historische Gemeinschaft bezogen werden. Öffentlichkeit hat heute (fast) immer eine globale Dimension. Normativ zielt ein solches Verständnis von Öffentlichkeit vor allem auf die Sensibilisierung für weltweite Erfahrungen von Gefährdungen des Menschen und Ausschlussformationen. Öffentlichkeit ist auch in dieser Hinsicht normativ betrachtet der Ort der Kritik im Sinne des Demos der Ausgeschlossenen. Dabei erweist sich der performative Vollzug der Kritik als das Eröffnen von neuen Möglichkeitsräumen jenseits fest gefahrener politischer Diskurs- und Handlungsmuster. Diese Überlegungen sollen beispielhaft an einer aktuellen Debatte illustriert werden, und zwar an jener über Religion im Allgemeinen und Religionsfreiheit im Besonderen. Denn in den vergangenen Jahren hat sich die Diskussion über die öffentliche Rolle der Religion als zentral herausgestellt, an der gegenwärtig auch viele gesellschaftlichen Konflikte verhandelt werden – vor allem auch in einer globalen-interkulturellen Perspektive. Zudem illustriert

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Foucault entwickelt in seinen späten Schriften zwar auch eine solche Konzeption der Tugend der Kritik, konzeptualisiert sie allerdings mehr als individuelle Tugend der ästhetischen Existenz und weniger als eine politische Haltung. J. Butler: Precarious Life, S. XVII; vgl. auch Ranciére, Jacques: Dissensus on Politics and Aesthetics, London: Bloomsbury Publishing 2010. Vgl. Reder, Michael: »Demokratie als experimentelle Praxis und radikale Gesellschaftskritik. Vergleich pragmatistischer und radikal-demokratischer Impulse für die Demokratietheorie«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 72/2 (2018), S. 184-204.

Performativität, Differenz und Kritik

dieses Beispiel auch das Verhältnis von Recht und Öffentlichkeit in der Konzeption von Butler. Religionsfreiheit, so argumentiert Butler30 mit Bezug auf Talal Asad31 , wird durch eine (selektive) Bestimmung des öffentlichen Raums grundgelegt. Das subjektive Recht impliziert dabei ein Verständnis des Rechtssubjekts als Eigentümer*in seiner selbst, weswegen beispielsweise MohammedKarikaturen im liberalen Rechtskontext als Blasphemie konzeptualisiert werden mussten. Es ging dabei nicht um die politischen Implikationen über das, was der Islam ist, oder um die Unterschiede im Religionsverständnis bzw. der Glaubenspraxis selbst, sondern um die Verletzung von bestimmten Freiheitsbzw. Eigentumsrechten. Damit wird nach Butlers Meinung jedoch die zentrale Frage gar nicht gestellt, nämlich die nach dem Selbstverständnis religiöser Praktiken und ihrem wechselseitigen politischen Umgang miteinander. Stattdessen werden die politischen Implikationen des Rechts unhinterfragt angewendet, was den Konflikt eher verschärft als ihn konstruktiv zu bearbeiten. Radikaldemokratisch geht es in Butlers Perspektive weniger um die Auslegung und Anwendung subjektiver Rechte angesichts der gegenwärtigen Aufmerksamkeit für Religion, sondern vielmehr um einen öffentlichen Streit um das Religionsverständnis selbst, den Autor*innen wie Habermas per se als außerhalb der Philosophie liegend verortet haben. Damit wird deutlich, welch großer Stellenwert der politischen Öffentlichkeit in dieser Perspektive zukommt: sie ist das Fundament der Demokratie. Politisierungsprozesse über Religion, so die Übertragung auf das Beispiel, d.h. politische Debatten darüber, was Religion z.B. überhaupt ist, sind nach Butler deshalb gerade in gegenwärtigen Zeiten besonders wichtig. Angesichts vielfältiger Konflikte um Religion sollten Demokratien sich nicht nur dem scheinbar neutralen Recht und seiner Heuristik beugen, sondern den Streit über die Differenzen von Religionen in den Blick nehmen, um genau diese dem Recht selbst wieder zuführen zu können. Dies ist entscheidend in einer globalisierten Welt, in der sich die Pluralität von Praktiken und diskursiven Deutungen ständig neu vervielfältigt.

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Vgl. Butler, Judith: »The Sensibility of Critique: Response to Asad and Mahmood«, in: Talal Asad/Wendy Brown/Judith Butler/Saba Mahmood (Hg.): Is Critique Secular? Blasphemy, Injury, and Free Speech, Berkeley: University of California Press 2009, S. 101145. Vgl. Asad, Talal: »Free Speech, Blasphemy and Secular Criticism«, in: ders./Wendy Brown/Judith Butler/Saba Mahmood (Hg.): Is Critique Secular?, S. 20-63.

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Die Debatte über die Bedeutung des Rechts in Bezug auf religiöse Subjekte ist beispielhaft hierfür. Alice Schwarzer hatte in diesen Debatten beispielsweise sehr polemisch (und wenig überzeugend) gegen Judith Butler argumentiert.32 In Schwarzers Perspektive sind Religionen, die Menschenrechte und Religionsfreiheit im strikten westlichen Verständnis interpretieren, per se negativ zu bewerten. Butler betont am Beispiel des Kopftuchs demgegenüber, dass man mit vorschnellen Wertungen über Religion (in diesem Fall: über den Islam) aus der Perspektive des vermeintlich universalen Rechts eher zurückhaltend sein sollte. »Even if one stayed within the problematic framework of that universalism, it would be difficult to come up with a coherent and noncontradictory criterium for why transgendered people should be protected against police violence and given every right to appear in public while Muslim women, but neither Christian nor Jewish women who may be engaged in wearing religious insignants, are to be deprived of the right to appear in public in ways that signify their religious affiliation and belonging. If rights can be universalized only for those who abide by secular norms, or who belong to religions that are deemed eligible for protection under the law, then surely the ›universal‹ has become emptied of meanings, worse, has become an instrument for discrimination, racism, and exclusion.«33 Für Butler markiert die Forderung nach einer (scheinbar absoluten) Anerkennung subjektiver Rechte die unverrückbare Grenze zwischen Demokratie und Nicht-Demokratie, die sich bei genauerer Analyse aber alles andere als eindeutig zeigt. Wendy Brown formuliert deshalb zugespitzt, dass gegenwärtig der Islam immer mehr als Extremfall des Religiösen und damit als Antipode zur liberalen Demokratie konzeptualisiert wird, ohne danach zu fragen, ob diese Konzeptualisierung überhaupt begründbar ist.34 Butler plädiert in diesem Zusammenhang für eine vorurteilsfreie Reflexion der Vielfalt des Religiösen, um der pluralen Lebenswirklichkeit der Menschen und ihren Selbst32

33 34

Vgl. Butler, Judith/Hark, Sabine: Gender Studies: Die Verleumdung, in: https://ww w.zeit.de/2017/32/gender-studies-feminismus-emma-beissreflex/komplettansicht vom 25.11.2019; Schwarzer, Alice: »Gender Studies: Der Rufmord«, https://www.zeit.de/2017 /33/gender-studies-judith-butler-emma-rassismus/komplettansicht vom 19.11.2019. Butler, Judith: Notes Toward a Performative Theory of Assembly, Cambridge, MA: Harvard University Press 2015, S. 59. Vgl. Brown, Wendy: »Wir sind jetzt alle Demokraten…«, in: Giorgio Agamben (Hg.): Demokratie? Eine Debatte, Berlin: Suhrkamp 2012, S. 55-71.

Performativität, Differenz und Kritik

deutungen überhaupt gerecht werden zu können. Öffentlichkeit, so lässt sich schlussfolgern, geht sowohl dem Recht als auch den demokratischen Institutionen voraus und ist immer auf einen vitalen Streit über die Grundkategorien des Sozialen und Politischen verwiesen. Dieser Impuls wurde bereits vor gut 100 Jahren in pragmatistischen Theorien der Öffentlichkeit formuliert (vgl. John Dewey) und findet auch heute mehr und mehr Einzug in die Deutung (post-)moderner Öffentlichkeiten.35 Viele der vorangegangenen Überlegungen münden in dem Werk Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung36 in eine Konzeption (politischer) Öffentlichkeit, die den verschiedenen Bedingungen der Ausgangsdiagnose und den neuen Merkmalen von Öffentlichkeit entsprechen. In Anlehnung an die Performativität des Subjekts ist auch die Öffentlichkeit für Butler nichts Statisches. Öffentlichkeit entsteht nur im Prozess des Vollzuges – sie ist Performativität. Öffentlichkeit ist damit nicht nur ein rationaler Diskurs ausgewählter und klar identifizierbarer Akteure, sondern Ausdruck von Differenz und Prozessualität. Das Politische zeigt sich als pluraler Streit und manifestiert sich performativ. Und dieser Streit der Differenz verlagert sich an ganz unterschiedliche Orte, Foren und mediale Formen.37 Entsprechend dem skizzierten Verständnis von (politischer) Normativität ist das Ziel dieses Vollzugs die Kritik bestehender hegemonialer Strukturen im Feld des Sozialen, Politischen und Ökonomischen. Die performativen Praktiken des Politischen setzen dabei an den etablierten Strukturen an und versuchen, diese gleichzeitig zu überwinden. »Many of the massive demonstrations and modes of resistance […] seize upon an already established space permeated by existing power, seeking to sever the relations between the public space, the public square, and the existing regime.«38 Öffentliche Kritik als performative Form des Widerstandes entsteht also nicht als eine creatio ex nihilo, sondern sie setzt immer bei den Spannungen an, die durch bestehende politische Strukturen und Diskurse bereits provoziert 35

36 37 38

Vgl. Kaelin, Lukas: »Das politische Denken unter den Bedingungen der medialen Öffentlichkeit«, in: Murat Ates et al. (Hg.): Orte des Denkens – Places of Thinking, Freiburg i.Br.: Alber 2015, S. 393-405. Vgl. Butler, Judith: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, Berlin: Suhrkamp 2016. Vgl. Krämer, Sybille: Performativität und Medialität, München: Fink 2004. J. Butler: Notes Toward a Performative Theory of Assembly, S. 85.

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wurde. Öffentliche Kritik hat dabei immer etwas Widerständiges wie gerade die vielfältigen Demonstrationen weltweit in den vergangenen Jahren zeigen. Dies gilt für alle Kulturen gleichermaßen, angefangen von den USA und Europa über den arabischen Raum bis hin zu lateinamerikanischen Bewegungen. Das politische Ziel dieser widerständigen Performativität ist eine andere Welt, allerdings nicht gefasst in eindeutig universalisierbarer Normen, sondern wiederum als ein prozedurales Geschehen. Dabei fokussiert Butler vor allem auf den gewaltfreien Widerstand, der ihrer Ansicht nach in besonderer Weise dem normativen Fokus auf das gefährdete Leben verpflichtet ist. »Nonviolent resistance requires a body that appears, that acts, and that in its action seeks to constitute a different world from the one it encounters, and that means encountering violence without reproducing its terms. It does not just say no to a violent world, but crafts the self and its relation to the world in a new way, seeking to embody, however provisionally, the alternative for which it struggles.«39 Öffentlichkeit kann vor diesem Hintergrund dann als der unabschließbare und sich ständig performativ neu vollziehende Prozess des Hörbarmachens der Ausgeschlossene konzeptualisiert werden, der auf eine alternative politische Gesellschaft abzielt.40 Die Performativität der Öffentlichkeit in der Versammlung manifestiert sich dabei nicht (nur) als ein Diskurs, sondern als ein körperliches Geschehen.41 Indem Menschen auf die Straße gehen, sich massiven Risiken aussetzen, um öffentlich Ausgeschlossene hörbar zu machen, bekommt die Öffentlichkeit eine zentrale Dimension: die der körperlichen Performativität. Hinter dieser steht nicht notwendig eine klare (oder rationale) politische Strategie. Öffentliche Proteste stellen im wahrsten Sinne des Wortes dem gesellschaftlichen Mainstream (z.B. einer nicht nachhaltigen Klimapolitik) etwas körperlich entgegen. Sie machen politische Anliegen durch körperliche Präsenz öffentlich und wirken dadurch transformativ. Gerade diese zentrale Bedeutung der körperlichen Performanz zeigt sich in der gegenwärtigen Fridays for Future

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Ebd., S. 187. Vgl. ebd., S. 66ff. Vgl. Posselt, Gerald: »Politiken des Performativen. Butlers Theorie politischer Performativität«, in: ders./Tatjana Schönwälder-Kuntze/Sergej Seitz (Hg.): Judith Butlers Philosophie des Politischen, S. 45-70.

Performativität, Differenz und Kritik

Bewegung. Obwohl alle Fakten seit langer Zeit auf dem Tisch liegen und tausende Wissenschaftler*innen viele kluge Argumente und Strategien in den politischen Prozess eingespeist haben, entwickelte die körperliche Präsenz von Schüler*innen einen starken (welt-)politischen Impuls. Es bleibt abzuwarten, wie effektiv diese Proteste mittel- und langfristig sein werden, aber sie haben sicherlich zu einer größeren Aufmerksamkeit für die Klimathematik geführt, hinter die Politiker*innen heute nicht mehr vollständig zurück können. Dies belegt die körperliche Dimension der Performanz des Öffentlichen eindrucksvoll. Jede Form der performativen Versammlung ist dabei allerdings immer nur ein Ausschnitt. Es gibt keine umfassende Einheit der Öffentlichkeit mehr. Das haben natürlich auch Rawls oder Habermas gesehen, trotzdem fassen Autor*innen wie Butler die Heterogenität der Öffentlichkeit auf der analytischen Ebene noch klarer als ein Strukturmoment der Öffentlichkeit selbst. Differenz ist der einzig sinnvolle Modus der Öffentlichkeit. Deswegen sollte heute stärker von Öffentlichkeiten gesprochen werden und in politisch-philosophischen Theorien auf die (formale und inhaltliche) Vielfalt innerhalb dieser Öffentlichkeiten geachtet werden. Widerstand ist immer »eine verkörperte kollektive Form dieses Urteils unter Bedingungen, unter denen es nicht das eine Kollektivsubjekt gibt.«42 Öffentliche Praktiken des Widerstandes sind immer heterogen, gerade auch in ihrem körperlichen Ausdruck. Der Tahrir-Platz als Nukleus des Arabischen Frühlings ist ein eindrückliches Beispiel hierfür, denn hier versammelten sich sehr unterschiedliche Gruppierungen mit divergierenden Zielen (angefangen von Muslimbrüdern über Frauen-NGOs bis hin zu Ultra-Fußballgruppen). »So if we let this developing example guide our thinking, then no one popular assembly comes to represent the entirety of the people, but each positing of the people through assembly risks or invites a set of conflictes that, in turn, prompt a growing set of doubts about who the people really are. After all, let us assume that no one assembly can rightly become the basis for generalizations about all assemblies.«43 Dieses Argument Butlers demonstriert nicht nur die Heterogentität von Öffentlichkeit, sondern noch einen letzten wichtigen Aspekt: Jede performative Form der Öffentlichkeit ist in normativer Hinsicht immer auch ambivalent. Es 42 43

J. Butler: Rücksichtslose Kritik, S. 139. J. Butler: Notes Toward a Performative Theory of Assembly, S. 155.

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gibt keinen einheitlichen universalen normativen Rahmen jenseits des Fokus auf das Gefährdetsein mehr. Und auch dieser wird im politischen Geschehen der Öffentlichkeit immer wieder verzerrt oder gar missachtet. Dies spricht jedoch nicht grundsätzlich gegen Butlers Perspektive auf Öffentlichkeit, sondern vielmehr dafür – gerade um für die Reflexion öffentlicher Bewegungen und Praktiken wiederum eine Kritikform bereitzustellen. Denn Öffentlichkeit ist auch in Butlers Sichtweise nicht per se positiv, sondern kann immer ambivalente Züge annehmen. Analog zu ihren allgemeinen Reflexionen zur Normativität und zur Kritik ethischer Gewalt geht es jedoch auch bei der Kritik der Öffentlichkeit nicht um eine Bezugnahme auf universale normative Prinzipien. Stattdessen fokussiert Butler – auch hier in der Tradition der Kritischen Theorie stehend – auf ein Verständnis von Kritik, das sich an der Stimme der Ausgeschlossenen und prekären Lebensformen orientiert und vor diesem Hintergrund jede Form öffentlicher Bewegung wieder neu einer kritischen Prüfung unterzieht.

4.

Fazit

Die Frage nach der Öffentlichkeit ist gegenwärtig eine Gretchenfrage der Sozial- und politischen Philosophie. Die durch Pluralisierung, Digitalisierung und Globalisierung angestoßenen Veränderungen betreffen die Öffentlichkeit massiv – sowohl in ihrer Form als auch ihrem Inhalt. Deswegen erweist sich die Beschäftigung mit der Öffentlichkeit auch als so produktiv für die Philosophie als Ganze. Dabei dominieren allerdings nach wie vor liberale und deliberative Konzepte von Öffentlichkeit den akademischen Diskurs. Auch wenn diese Modelle auf viele wichtige Aspekte aufmerksam machen, so scheinen angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen strukturelle Erweiterungen dieser Modelle sinnvoll und notwendig – gerade auch um die globale und hybride Form von Öffentlichkeit der Gegenwart theoretisch zu verarbeiten. Ansonsten läuft das Konzept selbst Gefahr, einem zu eng gefassten Verständnis des Politischen verhaftet zu bleiben. Butlers Konzept des Politischen und Öffentlichen erscheint hierfür ein Ansatzpunkt zu sein. Ihre Pädoyers für eine Weitung des Begriffs des Sozialen im Sinne der Relationalität und für einen differenztheoretischen Begriff des Politischen im Sinne eines kritischen Verständnisses erweisen sich gerade angesichts der gegenwärtigen Probleme (westlicher) Demokratien als produktiv. Mit der Theorie der Performativität betont sie zudem stärker den pro-

Performativität, Differenz und Kritik

zedualen und offenen Charakter des Öffentlichen, der zudem einen starken körperlichen Aspekt aufweist. Damit werden wichtige Akzentverschiebungen im Vergleich zu traditionellen Modellen von Öffentlichkeit vorgenommen, die insgesamt betrachtet wichtige Impulse zum Verstehen öffentlicher Dynamiken und deren theoretische Konzeptualisierungen leisten. Natürlich bleibt auch bei diesem Begriff der Öffentlichkeit eine grundlegende Ambivalenz. Einerseits wird nämlich auch in dieser Theorieperspektive Öffentlichkeit als ein wichtige Dimension des Demokratischen verstanden und damit normativ positiv beurteilt. Andererseits wird leicht ersichtlich, dass mit einem solchen weiten Verständnis des Politischen und Öffentlichen auch eine Kritik öffentlicher Praktiken schwieriger wird. Denn es wird ja gerade die Differenz und Pluralität als ein positives Strukturmoment interpretiert. Wie lassen sich dann aber Ambivalenzen politischer Umbrüche (z.B. im Kontext des Arabischen Frühlings) interpretieren? Oder noch schwieriger: Wie können neue rechte Bewegungen, die sich in ihrem Selbstverständnis ja gerade als die Stimme der Ausgeschlossenen verstehen, gedeuten werden? Kann Butler für die Beurteilungen solcher Formen dennoch ein überzeugendes Bewertungskriterium anbieten? Einerseits kann sie das, denn gerade der Fokus auf das Gefährdetsein ermöglicht eine grundlegende Kritik all jener Praktiken, die sich zwar als Demos verstehen, aber selbst auf vielfältige Diskriminierungs- und Ausschlussmechanismen abzielen. Das normative Kriterium wäre gerade die fundamentale Kritik all dieser Praktiken, Bewegungen und Äußerungen und der politische Streit mit diesen.44 Andererseits aber bietet Butlers Ansatz kein letztes Prinzip mehr an. Auch die Gefährdungen stellen sich oft erst performativ her und verschieben sich ständig. Die Philosophie kann auf diese gesellschaftliche Ausgangslage aber nicht mit eindeutigen normativen Prinzipien oder mit homogenen Großkonzepten mehr darauf antworten. Die normative Einheit der Öffentlichkeit ist eine Illusion. Dagegen ist ihre Vervielfältigung und der damit ausgelöste Streit ein grundlegendes Element ihres Vollzug. Die Philosophie verliert damit (vielleicht) die früher fast priesterlich vorgetragene Garantie universaler Normativität. Dafür entwickelt sie aber ein kritisches

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Heindl, Alexander/Stüber, Karolin-Sophie: »Die Pluralität von Solidaritäten und Formen der Kritik«, in: SWS-Rundschau 59/4 (2019), S. 275-293.

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Michael Reder

Potenzial im Sinne einer sich ständig neu eröffnenden Perspektive auf das Öffentliche selbst. Eine solche kritische Haltung steht der Philosophie in den gegenwärtigen Diskussionen um ein überzeugendes Modell von Öffentlichkeit gar nicht schlecht an.

Welche Öffentlichkeit? Wessen Forum?1 Theologische, sozialphilosophische und medientheoretische Reflexionen zur Öffentlichkeit Öffentlicher Theologie Florian Höhne

1.

Einleitung

An Allerheiligen 2018 lief nachts um 23.15 Uhr auf ORF III die Dokumentation: »Die geheime Inquisition – Feuer des Glaubens«.2 Im Mai 2018 meldet die Internetseite vaticannews.va die bevorstehende Heiligsprechung von Erzbischof Oscar Arnulfo Romero, dem »Märtyrer-Bischof aus El Salvador«.3 Am 8. November wird auf der Bühne des Berliner Ensemble aufgeführt: »Eine griechische Trilogie« von Simon Stone. Im Herzen Wiens steht der Stephansdom, für Spaziergänger und Touristen gut zu sehen. Eine Bibel in Einheitsübersetzung, tausendfach gedruckt. Der Gottesdienstsaal einer Berliner Baptistengemeinde, Anfang Oktober: eine Podiumsdiskussion zur Digitalisierung. 1

2 3

Wie Scott Paeths ähnlicher Aufsatztitel »Whose Public? Which Theology« (Paeth, Scott: »Whose Public? Which Theology? Signposts on the Way to a 21st Century Public Theology«, in: International Journal of Public Theology 10 [2016], S. 461-485) ist auch meiner an Alaisdair MacIntyres Titel »Whose Justice? Which Rationality?« angelehnt (MacIntyre, Alasdair C.: Whose justice? Which rationality?, Notre Dame, IN: Univ. of Notre Dame Press 1988) und wie Paeth verbinde ich damit keine Ambition (S. Paeth: Whose public?, S. 463, Anm. 5). Paeths lesenswerter Aufsatz beantwortet die Frage »Wessen Öffentlichkeit« in einer anderen Perspektive als ich: Er unterscheidet mit Tracy zunächst die Öffentlichkeiten von Kirche, Universität und Gesellschaft, um dann die Öffentlichkeit des 21 Jahrhunderts als pluralistisch, zunehmend säkular und zunehmen global zu beschreiben (S. Paeth: Whose public?, S. 467-480). Vgl. https://tv.orf.at/orf3/stories/2836348/ vom 01.08.2019. Vgl. auch für das Zitat: https://www.vaticannews.va/de/papst/news/2018-05/oscar-rom ero-heiligsprechung-14-oktober-konsistorium.html vom 01.08.2019.

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Florian Höhne

Eines haben diese unterschiedlichen Ereignisse, Texte, Performanzen, Töne, Interaktionen und Dinge gemeinsam: Sie können als öffentlich bezeichnet werden – und zwar zunächst im ganz grundsätzlichen Sinne: Sie bezeichnen, »was jeder sehen oder hören kann«4 . Öffentlichkeit meint unter anderem »Kommunikationen und Wissen«, das potentiell allen zugänglich sind.5 Damit ist »öffentlich« der Gegenbegriff zu »privat« oder »geheim«.6 Vor nötigen Differenzierungen und Erweiterungen lässt sich schon mit diesem grundlegenden »Sinn von Öffentlichkeit«7 verständlich machen, was mit Öffentlicher Theologie bezeichnet ist, einem Diskurs, der in den vergangenen 30 Jahren kontextuell und international entstanden ist. »Öffentlich« bezieht sich dabei auf Viererlei: Themen, Beiträge, Vollzüge und die explizite Reflexion der Öffentlichkeit ebendieser: 1. In Öffentlichen Theologien geht es um öffentliche Themen – um Themen also, die alle angehen könnten und nicht nur innerhalb der Universität, innerhalb einer religiösen Tradition oder akademischen Schule relevant sind. Das können ethische Fragen sein. So nennt Bedford-Strohm neben grundsätzlicheren Fragen etwa folgende Themen:8 soziale Gerechtigkeit, Globalisierung, Ökologie, Biotechnologie, militärische Gewalt. Das können auch dogmatische oder fundamentaltheologische Fragen sein – etwa nach der Deutung des Menschseins im Kontext selbstlernender Maschinen.

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Huber, Wolfgang: Kirche und Öffentlichkeit (= Forschungen und Berichte der Evangelischen Studiengemeinschaft, Bd. 28), Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1973, S. 11. Vgl. Peters, Bernhard: Der Sinn von Öffentlichkeit (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 1836), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 57f, Zitat auf S. 57, Herv. i.O. Vgl. auch für die Zitate ebd., S. 57. So der Aufsatz und Buchtitel von Peters, Bernhard: »Der Sinn von Öffentlichkeit«, in: Friedhelm Neidhardt (Hg.), Öffentlichkeit, Öffentliche Meinung, Soziale Bewegungen, Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 42-76; B. Peters: Sinn (2007). Dafür und für das Folgende vgl. Bedford-Strohm, Heinrich: »Öffentliche Theologie in der Zivilgesellschaft«, in: Florian Höhne/Frederike van Oorschot (Hg.): Grundtexte Öffentliche Theologie, Leipzig: Evang. Verl.-Anstalt 2015, S. 211-226, hier S. 215. Dort heißt es: »Öffentliche Theologie beschäftigt sich insbesondere mit Fragen der Sozialethik wie etwa dem Begriff der sozialen Gerechtigkeit und seiner Relevanz für aktuelle Sozialstaatsdebatten, den Herausforderungen der Globalisierung und ihrer humanen Gestaltung, der ökologischen Neuorientierung der Gesellschaft, den ethischen Dimensionen der neuen Biotechnologie, oder mit Kriterien der Legitimität der Anwendung militärischer Gewalt in Krisengebieten.«

Welche Öffentlichkeit? Wessen Forum?

2. Öffentliche Theologien versuchen, öffentliche Beiträge zu diesen Themen zu leisten; Beiträge also, die allen im buchstäblichen und übertragenen Sinne zugänglich sind. Zur öffentlichen Theologie gehört deshalb die Bemühung um Verständlichkeit. Im Vorwort zum ersten Band der Buchreihe »Öffentliche Theologie« spricht Wolfgang Huber von »darstellerische[r] Durchsichtigkeit«9 . 3. Drittens bezieht sich »öffentlich« auf den Vollzug von Theologie selbst, etwa wenn David Tracy »Theologie als öffentlichen Diskurs« versteht.10 Dann qualifiziert Öffentlichkeit nicht nur Themen oder die fertigen Beiträge von Theologie, sondern das Verfahren selbst, in dem theologische Deutungen und Orientierungen erarbeitet werden: Theologie ist im Vollzug selbst öffentlich. 4. Viertens verweist »öffentlich« in Öffentlicher Theologie auf die bewusste Reflexion all dessen: Öffentliche Theologie reflektiert ihre eigene Öffentlichkeit und ihren eigenen öffentlichen Vollzug.

In diesem Beitrag will ich reflektieren, was es für Öffentliche Theologie bedeutet, ihre Themen, Beiträge und ihren Vollzug als öffentlich zu verstehen. Dazu werde ich theologische Gründe benennen, aus denen sie dies tut, um dann zu referieren, mithilfe welcher Theorien Öffentliche Theologien ihre eigenen Öffentlichkeiten reflektieren. Daraus ergibt sich die konkrete Zielfrage: Wo genau ist Öffentlichkeit und wer macht dabei mit?

2.

Warum Öffentlichkeit? – Theologische Reflexion

Zunächst also: Warum überhaupt Öffentliche Theologie? Noch vor den theologischen Gründen ist ein soziologischer zu nennen: Kirchliche Realitäten und theologische Diskurse sind auch Teil gesellschaftlicher Prozesse und deshalb immer schon politisch und öffentlich relevant. Kirchliche Realitäten werden in Mediengesellschaften mit Pressefreiheit unabhängig von kirchlichen Kommunikationsinteressen zum öffentlichen Thema.11 Jeder Skandal ist ein Bei9 10 11

Wolfgang, Huber: »Vorwort«, in: Bruce C. Birch/Larry L. Rasmussen (Hg.): Bibel und Ethik im christlichen Leben, Gütersloh: Kaiser 1993, S. 9-12, hier S. 9. Vgl. etwa: Tracy, David: »Theology as Public Discourse«, in: The Christian Century 92 (1975), S. 280-284. Das Zitat ist meine Übersetzung des Aufsatztitels. Auf den Umstand, dass Kirchen nicht darüber verfügen können, welche Aspekte ihrer gesellschaftlichen Realität als öffentliche Äußerungen wahrgenommen werden,

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spiel dafür. Eine Theologie, die zu aktuellen gesellschaftspolitischen Fragen keine Stellung nimmt, legitimiert damit performativ den Status quo – und hat damit öffentliche Relevanz. Pointiert hatte schon Jürgen Moltmann betont, dass es zwar eine »naive und politisch bewusstlose Theologie«, aber eben »grundsätzlich keine a-politische Theologie« gäbe.12 Gleichzeitig haben Theologie und Kirche genuin theologische Gründe, Öffentlichkeit zu suchen, die in der Debatte Öffentlicher Theologie thematisiert wurden: 1. Ekklesiologischer Grund. Wolfgang Huber hat die Öffentlichkeit der Kirche in ihrem »Öffentlichkeitsauftrag« begründet. Damit geht er explizit nicht von einem »›Öffentlichkeitsanspruch‹ der Kirche um ihrer selbst willen« aus, sondern von einem »Öffentlichkeitsanspruch des Evangeliums«, dem die Kirche dient, indem sie ihren Öffentlichkeitsauftrag wahrnimmt:13 »Dieser Öffentlichkeitsauftrag ist in der biblischen Tradition fest verankert« und im Missionsbefehl (Mt 28, 18-20) gebündelt.14 Diese Begründung ist in der biblischen Tradition plausibel verankert, steht aber in insofern in Spannung zur gegenwärtigen Praxis Öffentlicher Theologie, als diese Begründung auf die »Ausbreitung des christlichen Glaubens«15 zielt, während Öffentliche Theologie praktisch vor allem um (sozial-)ethische

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hat auch verwiesen: Thomas, Günter: »Care, Stone, and Law. Three Symbolic Forms of Non-discoursive Public Theology«, in: Heinrich Bedford-Strohm/Florian Höhne/Tobias Reitmeier (Hg.): Contextuality and Intercontextuality in Public Theology. Proceedings from the Bamberg Conference 23.-25.06.2011, Münster: Lit 2013, S. 301-320, hier S. 308f. Vgl.: »Politische Theologie will das politische Bewusstsein jeder christlichen Theologie erwecken. In dieser Allgemeinheit verstanden, setzt das aber den Nachweis voraus, daß es wohl naive und politisch bewusstlose Theologie gibt, aber grundsätzlich keine a-politische Theologie. Betont unpolitische Theologien sind nachweislich verschwiegenermaßen stets sehr feste Allianzen mit politischen Bewegungen, zumeist konservativen, eingegangen.« (Moltmann, Jürgen: »Theologische Kritik der politischen Religion«, in: Johann B. Metz/Jürgen Moltmann/Willi Oelmüller [Hg.]: Kirche im Prozess der Aufklärung. Aspekte einer neuen »politischen Theologie«, München: Chr. Kaiser 1970, S. 11-51, hier S. 17; W. Huber: Kirche, S. 478) Vgl. auch für die Zitate W. Huber: Kirche, S. 619f. Vgl. auch für die Zitate Huber, Wolfgang: Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche, Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung 1998, S. 102. Dort heißt es: »In eindrucksvoller Bündelung bringt der neutestamentliche Auftrag Jesu an seine Jünger den öffentlichen Charakter kirchlichen Handelns zum Ausdruck«. Ebd., S. 103.

Welche Öffentlichkeit? Wessen Forum?

Orientierungen und damit um die relative Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse bemüht ist. Jürgen Moltmann hat beide Ziele implizit der Mission des Christentums zugeordnet, wenn er zwischen qualitativen und quantitativen Missionszielen unterscheidet und mit den qualitativen die »Veränderung der Lebensatmosphäre« fasst.16 2. Schöpfungstheologischer Grund. Die Bezogenheit von Kirche und Theologie auf Öffentlichkeit wird auch mit der bleibenden, schaffenden und erhaltenden Zuwendung Gottes zu seiner gesamten Schöpfung begründet. Diesen Grund präsentiert Robert W. McElroy etwa, wenn er John C. Murrays Naturrechtslehre referiert, die eine natürliche Theologie beinhalte: Gott habe als Urheber der Natur diese als Ordnung von Zwecken eingerichtet, was für alle Menschen einsehbar sei und damit allgemeiner moralischer Maßstab sein könnte:17 »the moral life of the human person must correspond with his own nature, and that nature is directed toward the purposes for which it was created by God.«18 Insofern es Theologie und Kirche also mit Orientierungen zu tun haben, die allen gelten, weil alle Geschöpfe Gottes sind, kann und muss es auch Öffentliche Theologie geben. Eine Herausforderung der schöpfungstheologischen Begründung besteht darin, die Differenz zwischen der gegenwärtig empirisch beschreibbaren Welt und ihrer christlichen Deutung als geordneter Schöpfung zu wahren, um nicht naturalistische Fehlschlüsse zu ziehen. 3. Christologischer Grund. Die Bezogenheit von Kirche und Theologie wurde in der Debatte öffentlicher Theologie vor allem mit Bezug zu Diet16

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Vgl. für diese Unterscheidung: »Es ist ein Ziel der Mission, Glauben zu wecken, Menschen zu taufen, Gemeinden zu gründen und das neue Leben unter der Herrschaft Christi zu gestalten. […] Es ist aber auch noch ein anderes Ziel der Mission. Es liegt in der qualitativen Veränderung der Lebensatmosphäre, des Vertrauens, des Fühlens, Denkens und Handelns.« (Moltmann, Jürgen: Kirche in der Kraft des Geistes. Ein Beitrag zur messianischen Ekklesiologie, München: Chr. Kaiser 1975, S. 173f). Vgl. dafür und für das folgende Zitat: McElroy, Robert W.: The Search for An American Public Theology. The Contribution of John Courtney Murray, New York: Paulist Press 1989, S. 55: »A third presupposition of natural law lies in its natural theology, the assertion that God is the author of nature and that he wills that the order of nature be fulfilled in its purposes.« Vgl. dazu insgesamt auch Höhne, Florian: Öffentliche Theologie. Begriffsgeschichte und Grundfragen. Teilw. zugl.: Erlangen-Nürnberg, Univ., Diss., 2014 u.d.T.: Höhne, Florian: Personalisierung in den Medien als Herausforderung für eine evangelische Öffentliche Theologie der Kirche (= Öffentliche Theologie, Bd. 31), Leipzig: Evang. Verl.-Anstalt 2015, S. 50. R. W. McElroy: Search for An American Public Theology, S. 56.

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rich Bonhoeffer mit der versöhnenden Zuwendung Gottes zur Welt in Jesus Christ begründet. So hat Bedford-Strohm der Sicht, die Kirche sei »vor allem die Kontrastgesellschaft zur Welt«, Bonhoeffers christozentrisches Wirklichkeitsverständnis entgegengesetzt, wenn er Bonhoeffer zitiert:19 »Die Wirklichkeit Gottes erschließt sich nicht anders als indem sie mich ganz in die Weltwirklichkeit hineinstellt, die Weltwirklichkeit aber finde ich immer schon getragen, angenommen, versöhnt in der Wirklichkeit Gottes vor. Das ist das Geheimnis Gottes in dem Menschen Jesus Christus.« (DBW 6: 4020 ) Von diesem christozentrischen Verständnis der Wirklichkeit als Einheit in Christus sei auch ein Denken in getrennten Räumen ausgeschlossen.21 Damit können sich Theologie und Kirche nicht ausschließlich in nicht-öffentliche Räume zurückziehen und sich von der öffentlichen Verantwortung in der Welt entbinden. Auf dieser Linie haben auch Katie Day und Sebastian Kim die inkarnationstheologische Betonung des Konkreten als »most essential mark of public theology« bestimmt.22 Mit Bonhoeffers Argumentation gegen die Dichotomien, die Kirche von der Welt abtrennen, werde betont: »Rather, reality is much more interactive; the church and indeed Christ can only be known in the concrete.«23 Eine herausfordernde aber zu bewältigende Problematik der christologischen Begründung ist m.E., bei der Interpretation der Weltwirklichkeit als Wirklichkeit, welche »immer schon getragen, angenommen, versöhnt in der Wirklichkeit Gottes«24 ist, das noch Unversöhnte und menschlich Unversöhnliche in der Gegenwart übersehen zu machen. 4. Eschatologischer Grund. Die Bezogenheit von Kirche und Theologie auf Öffentlichkeit lässt sich schließlich mit der erwarteten, erlösenden Zuwendung Gottes zu seiner gesamten Schöpfung in seinem neuschaffenden

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Vgl. Bedford-Strohm, Heinrich: »Dietrich Bonhoeffer als öffentlicher Theologe. Vortrag auf der Jahrestagung 2008 in Eisenach«, in: ibg Bonhoeffer Rundbrief (2008), S. 26-40, hier S. 35f; Zitat auf S. 35, Bonhoeffer-Zitat auf S. 36. Bonhoeffer, Dietrich: »Ethik«, in: Eberhard Bethge/Ernst Feil/Christian Gremmels et al. (Hg.): Dietrich Bonhoeffer Werke (DBW), Gütersloh: Gütersloher Verl.-Haus, hier S. 40. Vgl. H. Bedford-Strohm: Bonhoeffer, S. 36. Vgl. H. Bedford-Strohm: Bonhoeffer, S. 34. Vgl. dafür, für das Zitat und das Folgende Day, Katie/Kim, Sebastian: »Introduction«, in: dies. (Hg.), A Companion to Public Theology, Leiden/Boston, MA: Brill 2017, S. 1-21, hier S. 10. Ebd. DBW 6:40.

Welche Öffentlichkeit? Wessen Forum?

Handeln begründen. Wenn die christliche Hoffnung der ganzen Schöpfung gilt, wird sie auch ein Handeln und Strukturieren inspirieren, das der ganzen Schöpfung zugutekommen will und von daher in die allgemeine Öffentlichkeit gewiesen ist.25 Herausforderung dieser Begründung ist, die Differenz von menschlichen Hoffnungen, Visionen und Werken einerseits und Gottes Verwirklichung des Reiches Gottes andererseits aufrechtzuerhalten, um nicht das eigene Handeln mit der Errichtung des Reiches Gottes zu verwechseln. Alle Begründungen bringen Herausforderungen mit sich. Insofern sie sich auf unterschiedliche Loci der Dogmatik beziehen, sind sie als kombinierbar zu verstehen: Sie schließen einander nicht aus. Deutlich wird mit diesen Begründungen hoffentlich, dass Theologie und Kirche in ihrer eigenen, partikularen religiösen Tradition Gründe finden, sich bewusst auf eine Öffentlichkeit zu beziehen, die die Grenzen der Traditionsgemeinschaft überschreitet: Theologie und Kirche sind nicht nur auf das verwiesen, was Christ*innen sehen und hören können, sondern auch auf das, »was jeder sehen oder hören kann« (siehe oben). Wie lässt sich diese weitere Öffentlichkeit verstehen?

3.

Welche Öffentlichkeit? – Sozialphilosophische Reflexion

Grob lassen sich zunächst zwei theoretische Modelle von Öffentlichkeit unterscheiden: das systemtheoretische Spiegelmodell und das Diskursmodell.26 In beiden Modellen meint Öffentlichkeit Kommunikationen beziehungsweise in

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Zu diesem Gedanken als Ertrag der Auseinandersetzung Moltmanns Theologie der Hoffnung vgl. Höhne, Florian: Einer und alle. Personalisierung in den Medien als Herausforderung für eine Öffentliche Theologie der Kirche. Teilw. zugl.: ErlangenNürnberg, Univ., Diss., 2014 u.d.T.: Personalisierung in den Medien als Herausforderung für eine evangelische Öffentliche Theologie der Kirche (= Öffentliche Theologie, Bd. 32), Leipzig: Evang. Verl.-Anstalt 2015, S. 67f. Vgl. Neidhardt, Friedhelm: »Öffentlichkeit, Öffentliche Meinung, Soziale Bewegungen«, in: ders. (Hg.): Öffentlichkeit, Öffentliche Meinung, Soziale Bewegungen, Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 7-41, hier S. 9f; Jarren, Otfried/Donges, Patrick: Politische Kommunikation in der Mediengesellschaft. Eine Einführung (= Lehrbuch), Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwissenschaften 2006, S. 98-101; F. Höhne: Einer und alle, S. 121-123. Vgl. die letztgenannte Monographie S. 121, Anm. 555, für Günter Thomasʼ Kritik an dem Begriff Spiegelmetapher und meine Kritik an dieser Kritik.

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Florian Höhne

Habermasʼ Formulierung »ein Netzwerk für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen«27 . Ein Spiegelmodell konstruieren etwa Jürgen Gerhards und Frank Marcinkowski, wenn sie im Anschluss an Niklas Luhmanns Systemtheorie von »Öffentlichkeit als einem spezifischen Teilsystem«28 der funktional differenzierten Gesellschaft sprechen. Dieses Teilsystem wird durch Massenmedien und die Entstehung von dazugehörigen Berufen, Organisationen und Rollen »auf Dauer gestellt«.29 Spezifisch für das Teilsystem ist seine Funktion, die Gerhards und Marcinkowski so bestimmen: »Die zentrale Funktion von Öffentlichkeit besteht in der Ermöglichung der Beobachtung der Gesamtgesellschaft durch die Gesellschaft, in der Ermöglichung von Selbstbeobachtung«.30 Öffentlichkeit erfüllt eine Spiegelfunktion, weil die öffentlichen Beschreibungen es den unterschiedlichen Systemen in der Gesellschaft ermöglichen, sich selbst und ihren Kontext sozusagen im Spiegel der öffentlichen Beschreibung zu sehen. Das Modell ist »[n]ormativ ›anspruchslos‹«:31 Sobald der »Spiegel ›Öffentlichkeit‹ alle Akteure und Meinungen« abbildet, ist die Funktion erfüllt.32 Soweit ich weiß, ist dieses Modell in den Debatten Öffentlicher Theologie kaum bis gar nicht übernommen worden. Einzig Günter Thomas hat Niklas Luhmann in die Debatte eingebracht, um andere als diskursive Kommunikationsformen reflektieren zu können, sich dabei aber vor allem auf Luhmanns Kommunikationstheorie bezogen und nicht auf das Spiegelmodell von Öffentlichkeit.33 27

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Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 1361), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 436. So Gerhards, Jürgen: »Politische Öffentlichkeit. Ein system- und akteurstheoretischer Bestimmungsversuch«, in: F. Neidhardt (Hg.): Öffentlichkeit, Öffentliche Meinung, Soziale Bewegungen, S. 77-105, hier S. 82. Gerhards will in diesem Aufsatz System- und Akteurstheorie kombinieren, wird für den die Systemtheorie entfaltenden Teil aber dem Spiegelmodell zugeordnet (vgl. O. Jarren/P. Donges: Politische Kommunikation, S. 98). Vgl. J. Gerhards: Öffentlichkeit, S. 84-87, Zitat auf S. 84 und S. 87. Ebd., S. 87. Auch rezipiert von O. Jarren/P. Donges: Politische Kommunikation, S. 98. Vgl. auch für das Folgende O. Jarren/P. Donges: Politische Kommunikation, S. 98f, Zitat auf S. 98. Vgl. auch für das Zitat ebd., S. 99. Vgl. G. Thomas: Care, Stone, and Law, S. 302f. Dort heißt es: »Any discursive theology is always embedded into other forms of public communication in different symbolic media – affected in terms of historical dimensions, public perception and public credibility. These other forms of public communication need to be analyzed, critically re-

Welche Öffentlichkeit? Wessen Forum?

Gerade im deutschsprachigen Diskurs Öffentlicher Theologie spielen Jürgen Habermas und das Diskursmodell von Öffentlichkeit die prägende Rolle.34 Die Grundlagen für dieses Modell hat Habermas in seiner Habilitationsschrift zunächst mit der »Analyse des Typus ›bürgerlicher Öffentlichkeit‹«35 gelegt, in der er »nach den normativen Potentialen« dieses epochenspezifischen Typs fragte, ohne diesen selbst unkritisch zu idealisieren.36 In soziohistorischer und ideengeschichtlicher Analyse zeigt er einerseits wie (zunächst eine literarische und dann) eine politische Öffentlichkeit entstehen konnte, die sich selbst als Ort zugangsoffenen, gleichberechtigten Räsonnements der »zum Publikum versammelten Privatleute« verstand.37 Der »Idee zufolge, die die bürgerliche Gesellschaft von sich hat« sollte in der »freien Konkurrenz« der Argumente ein Konsens entstehen, eine öffentliche Meinung, die Vernünftigkeit beansprucht:38 »[I]hrer Idee nach verlangt eine aus der Kraft des besseren Arguments geborene öffentliche Meinung jene moralisch prätentiöse Rationalität, die das Recht und das Richtige in einem zu treffen sucht.«39 Öffent-

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flected, conceptually appreciated and eventually nourished by the Churches, because they provide a crucial context for any explicit and discursive public theology.« (S. 302) Vgl. etwa H. Bedford-Strohm: Theologie, S. 217-219. So stellt auch Thomas fest: »Within the discourse of public theology, Jürgen Habermas is the well-received philosopher of communication.« (G. Thomas: Care, Stone, and Law, S. 303, vgl. auch die bei Thomas referenzierten Belege dafür). Zu einer ausführlicheren Darstellung von Habermas Öffentlichkeitsbegriff vgl. schon das entsprechende Kapitel in F. Höhne: Einer und alle. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (= Politica, Bd. 4), Neuwied/Berlin: Luchterhand 1971, S. 7. Vgl. dazu und für dieses Zitat Habermas, Jürgen: »Vorwort zur Neuauflage 1990«, in: ders. (Hg.), Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 11-50, hier S. 34. Vgl. J. Habermas: Strukturwandel, S. 42-75, Zitat auf S. 42. Vgl. für die Kriterien der »Ebenbürtigkeit« und »Zugänglichkeit« ebd., S. 52f, S. 107. Dazu, dass es sich um ein »Selbstverständnis der politischen Öffentlichkeit« handelt, vgl. J. Habermas: Strukturwandel, S. 73. Vgl. J. Habermas: Strukturwandel, S. 73, S. 101, die Zitate auf S. 101. Vgl. auch: »Öffentliche Meinung bildet sich im Streit der Argumente um eine Sache […].« (J. Habermas: Strukturwandel, S. 86) Zur Konkurrenz der Argumente vgl.: Die »politisch funktionierende Öffentlichkeit […] soll voluntas in eine ratio überführen, die sich in der öffentlichen Konkurrenz der privaten Argumente als der Konsensus über das im allgemeinen Interesse praktisch Notwendige herstellt.« (J. Habermas: Strukturwandel, S. 105, kursiv im Original) J. Habermas: Strukturwandel, S. 73.

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lichkeit als Räsonnement soll der »Durchsetzung einer auf ratio gegründeten Gesetzgebung dienen«40 . Andererseits zeigt Habermas in der Analyse ideologiekritisch, wie diese Idee auf Fiktionen beruhte, besonders der »fiktiven Identität der zum Publikum versammelten Privatleute in ihren beiden Rollen als Eigentümer und als Menschen schlechthin«41 , beziehungsweise der »Fiktion der einen Öffentlichkeit«42 . In der großangelegten »Theorie des kommunikativen Handelns« findet Habermas das emanzipative Vernunftpotential nun nicht mehr in einer »epochenspezifisch auftretenden Formation der Öffentlichkeit«, sondern »in der kommunikativen Alltagspraxis selbst«.43 Dabei und in den Arbeiten zur Diskursethik entwickelt er ein Begriffsinstrumentarium, das auch für die Beschreibung diskursiver Öffentlichkeiten maßgeblich ist.44 In »Faktizität und Geltung« schließlich hat er den »Diskursbegriff der Demokratie« auf die »Reproduktionsbedingungen einer komplexen Gesellschaft« bezogen und damit das diskursive Öffentlichkeitsverständnis konkretisiert.45 Andere Texte, insbesondere in »Zwischen Naturalismus und Religion« erörtern differenziert die Möglichkeit religiöser Stellungnahmen in der diskursiv verstandenen Öffentlichkeit.46 Im Diskursmodell meint Öffentlichkeit also ein »Netzwerk«, in dem Geltungsansprüche vertreten, kritisiert und Argumente ausgetauscht werden, um über den »zwanglose[n] Zwang des besseren Arguments« einen Konsens zu finden, aus dem für alle verbindliche Normen bestimmt werden können:47 40 41 42 43 44

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Vgl. ebd., S. 72, S. 104f, Zitat auf S. 72. Ebd., S. 74, Herv. i.O. Ebd., S. 75, Herv. i.O. Vgl. auch für die Zitate J. Habermas: Vorwort, S. 34. Vgl. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 1175), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995; Ders.: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995; Ders.: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln (= SuhrkampTaschenbuch Wissenschaft, Bd. 422), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983. Vgl. auch für die Zitate J. Habermas: Faktizität, S. 367. Vgl. Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 1918), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 119-154. Für das Zitat vgl. Habermas, Jürgen: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 1176), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 119. Zum »Begriff des vernünftigen Konsenses« vgl. J. Habermas: Vorstudien, S. 109. Insgesamt dazu bereits J. Habermas: Strukturwandel, S. 72f.

Welche Öffentlichkeit? Wessen Forum?

»Der Diskursethik zufolge darf eine Norm nur dann Geltung beanspruchen, wenn alle von ihr möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses Einverständnis darüber erzielen (bzw. erzielen würden), daß diese Norm gilt.«48 Diese Öffentlichkeit muss von Standesunterschieden absehen, damit einzig die Vernünftigkeit der Argumente und nicht die Autorität des höheren Standes zählt; sie muss zugangsoffen sein, damit alle, die von den verbindlichen Regeln betroffen wären, auch an den Deliberationen teilnehmen können.49 Es ist dieses Verständnis von Öffentlichkeit, das sobald es um religiöse Semantiken geht, deren »Übersetzung« in der Öffentlichkeit nötig macht:50 Soll ein Geltungsanspruch für alle davon potentiell betroffenen nachvollziehbar und kritisierbar sein, kann er öffentlich nicht ausschließlich mit religiösen Gründen vertreten werden, die nur im Rahmen einer partikularen Tradition zugänglich sind, sondern muss übersetzt, also mit säkularen Gründen versehen werden.51 Teile des Diskurses »Öffentliche Theologie« sind von diesem diskurstheoretischen Öffentlichkeitsverständnis geprägt. Gerade im deutschsprachigen Raum zeigt sich dies daran, dass eine Diskussion um den Übersetzungsbegriff entstanden ist.52 Reflektiert Öffentliche Theologie die Öffentlichkeit, zu der sie einen Beitrag leisten will und in der sie sich selbst vollzieht, diskurstheoretisch, hat dies Konsequenzen für ihre Themen, ihre Beiträge und ihren Vollzug: Erstens werden sich theologische Arbeiten in diesem Licht auf ethische Fragen und auf ethische Fragen gegenwärtiger Relevanz beziehen. Im Fokus sind ethische Themen von gesellschaftlicher Relevanz. Zweitens wird theologisches Arbeiten auf Beiträge zielen, die als Diskursbeiträge möglichst eindeutig sind: Praktische Geltungsansprüche, Kritiken und Argumente sind ja gerade auf »diskursive Eindeutigkeit« hin entworfen, nicht auf Vieldeutigkeit.53 Drittens wird sich die theologische Reflexion auf sprachlich verfasste, 48 49

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J. Habermas: Moralbewusstsein, S. 76. Zu diesen Merkmalen (einschl. des Zusammenhangs von Absehen von Standesunterschieden und Autorität des Arguments) vgl. schon J. Habermas: Strukturwandel, S. 52f, S. 107. Vgl. J. Habermas: Naturalismus, S. 136f. Vgl. ebd., S. 136. Vgl. dazu den jüngst erschienen Band: van Oorschot, Friederike/Ziermann, Simone (Hg.): Theologie in Übersetzung? Religiöse Sprache und Kommunikation in heterogenen Kontexten (= Öffentliche Theologie, Bd. 36), Leipzig: Evang. Verl.-Anstalt 2019. Vgl. für den Zusammenhang von Diskursivität und Eindeutigkeit und das Zitat: Wabel, Thomas/Höhne, Florian/Stamer, Torben: »Klingende öffentliche Theologie. Plädoyer für eine methodische Weitung«, in: dies. (Hg.): Öffentliche Theologie zwischen Klang

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argumentierende, diskursive Vollzüge Öffentlicher Theologie als Diskurspraxis beziehen. Die mal konstruktive, mal fundamentaltheoretische Kritik an Öffentlicher Theologie richtet sich in Teilen gerade gegen diese Konsequenzen aus der Adaption eines diskurstheoretischen Öffentlichkeitsbegriffs. So hat Johannes Fischer jede Theologie vor die Alternative gestellt, »in ihrem Kern eine Ethik für die Welt oder die geistliche Orientierung derer, die sich zur Kirche halten oder religiös auf der Suche sind« anzustreben,54 und Öffentliche Theologie dafür kritisiert, dass ihre geistliche Dimension zu kurz komme.55 Das kritisiert die Themensetzung. Gleichzeitig kritisiert Fischer mit Wolfgang Schäuble den »Zwang zur Eindeutigkeit« als »Quelle der Unduldsamkeit«.56 Damit kritisiert er die öffentlichen Beiträge. Thomas Wabel hat darauf verwiesen, dass der Habermasʼsche Übersetzungsbegriff deshalb verkürzt sei, weil er sich auf Semantiken konzentriere; so bliebe außer Acht, dass Gründe auch anders verkörpert sein können.57 Entsprechend hat er vorgeschlagen, dass über die diskursive Dimension öffentlich-theologischer Inhalte Hinausgehende mit dem »Begriff der ›Verkörperung‹« zu reflektieren.58 Während geistliche und ethische Dimension anders als in Fischers Kritik gerade nicht als Alternativen zu sehen sind, und der Eindeutigkeit die komplementäre Gefahr der Uneindeutigkeit gegenübersteht, lässt die Konzentration auf im Habermas’schen Sinne diskursive Vollzüge tatsächlich wichtige »Wirkungen des Christentums in die Öffentlichkeiten der Gesellschaft hinein«59 außer Acht. Die Differenz von emphatischem Öffentlichkeitsbegriff und gesellschaftlichen, medienspezifischen Kommunikationspraktiken muss

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und Sprache. Hymnen als eine Verkörperungsform von Religion, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017, S. 9-40, hier S. 24. Vgl. auch für das Zitat Fischer, Johannes: »Gefahr der Unduldsamkeit. Die ›Öffentliche Theologie‹ der EKD ist problematisch«, in: zeitzeichen (2016), S. 43-45, hier S. 45. Vgl. auch für das Zitat ebd. Öffentliche Theologie konzentriere sich auf »ethische Orientierungen für die ganze Gesellschaft« (ebd.). Vgl. auch für die Zitate ebd. Vgl. dazu T. Wabel/F. Höhne/T. Stamer: Klingende öffentliche Theologie, S. 12, S. 24. Vgl. Wabel, Thomas: »›Der Mensch hat zwei Beine und zwei Überzeugungen‹ – Öffentliche Theologie im Raum sozialer Verkörperung«, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 58 (2016), S. 149-175, hier S. 168. Vgl. T. Wabel/F. Höhne/T. Stamer: Klingende öffentliche Theologie, S. 26. Vögele, Wolfgang: Zivilreligion in der Bundesrepublik Deutschland (= Öffentliche Theologie, Bd. 5), Gütersloh: Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1994, S. 421.

Welche Öffentlichkeit? Wessen Forum?

beachtet werden – gerade von diesem emphatischen Öffentlichkeitsbegriff her. Deshalb ist es sinnvoll für Öffentliche Theologie, mit einem Differenzbegriff von Öffentlichkeit zu arbeiten, wie ihn Torsten Meireis entwickelt hat. Meireis unterscheidet Öffentlichkeit »als Raum asymmetrischer Konflikte«, »als fragmentierter Artikulationsraum« und »als regulative Idee«.60 Öffentlichkeit meint danach, erstens, den Raum, in dem Konflikte darüber ausgetragen werden, was als Gemeinsames wie geregelt werden soll. Meireis zeigt mit Bourdieus Kapitaltheorie, dass dieser Raum von Machtasymmetrien durchzogen ist. Öffentlichkeit meint Meireis zufolge, zweitens, einen Raum der Artikulation und Diskussion von Kritik und Ideen, der aber immer schon in Öffentlichkeiten fragmentiert sei. Die Einheitlichkeit der Öffentlichkeit bestünde, drittens, »als regulative Idee«, in der sich der emphatische Begriff von Öffentlichkeit wiederfindet.61 Die Pointe dieses Begriffs ist, dass die Konflikt- und Artikulationsräume, in denen sich tatsächlich vollzieht, was wir Öffentlichkeit nennen, damit einerseits von der regulativen Idee einer idealen Öffentlichkeit unterschieden sind, weil sie immer hinter dem Anspruch dieser orientierenden Idee zurückbleiben. Andererseits sind sie auf diese regulative Idee bezogen, weil sie in Praktiken immer schon als Imagination prägend gewirkt hat. Wie genau dies zu verstehen ist, und wie dies auf Mikroebene konkret wird, lässt sich im Rückgriff auf Kategorien der Praxissoziologie zeigen. Diesen Fragen sind die medien- und praxistheoretischen Reflexionen des dritten und letzten Teils gewidmet.

4.

Wessen Öffentlichkeit? – Praxistheoretische Reflexion

Trefflich hat Christoph Neuberger festgestellt, dass Öffentlichkeitstheorien die konkreten Potentiale bestimmter Medientechniken62 und deren Differen60

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Vgl. auch für die Zitate und besonders für das Folgende Meireis, Torsten: »›O daß ich tausend Zungen hätte‹. Chancen und Gefahren der digitalen Transformation politischer Öffentlichkeit – die Perspektive evangelischer Theologie«, in: Bedford-Strohm, Jonas/Höhne, Florian/Zeyher-Quattlender, Julian (Hg.): Digitaler Strukturwandel der Öffentlichkeit. Interdisziplinäre Perspektiven auf politische Partizipation im Wandel, Baden-Baden: Nomos 2019, S. 47-62, hier S. 49-52. Vgl. auch für das Zitat ebd., S. 51f. Zur »Unterscheidung zwischen dem technischen Potenzial eines Mediums und seiner selektiven Aneignung im Prozess der Institutionalisierung« vgl. Neuberger, Christoph: »Internet, Journalismus und Öffentlichkeit. Analyse des Medienumbruchs«, in: ders./Christian Nuernbergk/Melanie Rischke (Hg.): Journalismus im Internet. Profes-

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zen zumeist ausblenden oder »als gegeben« voraussetzen.63 Symptomatisch dafür ist, dass das Thema auch bei Habermas nur am Rande vorkommt,64 zuletzt etwa mit der zurecht umstrittenen These, in der Internetkommunikation überwiege die Tendenz zur »Fragmentierung« der Öffentlichkeit:65 »Dieses Publikum zerfällt im virtuellen Raum in eine riesige Anzahl von zersplitterten, durch Spezialinteressen zusammengehaltenen Zufallsgruppen.«66 Mit dieser These wird zumindest zum Thema, was mittlerweile auch lebensweltlich aufläuft: Im digitalen Wandel verändert sich, wie wir uns informieren, wie wir und mit wem wir kommunizieren. Die in Öffentlicher Theologie als »Öffentlichkeit« in Anspruch genommenen Phänomene sind im digitalen Wandel begriffen, der ein kultureller Wandel ist.67 Spätestens das macht die Reflexion auf die technischen und materiellen Ermöglichungsgrundlagen von öffentlicher Kommunikation nötig: Wie, inwieweit und für wen die Themen, Beiträge und Vollzüge tatsächlich öffentlich, also zugänglich sind, muss Teil der Reflektion Öffentlicher Theologie sein. Dafür sind – so mein Vorschlag – Anleihen aus dem praxissoziologischen »Ideenpool«68 hilfreich, die Andreas Reckwitz zusammengefasst, Jan Schmidt auf das »neue Netz«69 be-

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sion – Partizipation – Technisierung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009, S. 19-105, hier S. 22. Vgl. ebd., S. 33f. Eine Ausnahme stellt m.E. unter anderem die Arbeit von Bernhard Peters dar: B. Peters: Sinn (1994); B. Peters: Sinn (2007). Vgl. so auch Neuberger: Der »Medienwandel wird nicht als unabhängige Variable gesehen wie bei Habermas […], der nur beiläufig in seinem Buch ›Strukturwandel der Öffentlichkeit‹ auf technische Medien verweist.« (C. Neuberger: Internet, S. 34) In der zweibändigen »Theorie des kommunikativen Handelns« sind es wenige Seiten am Ende des zweiten Bandes, die das »ambivalente Potential der Massenkommunikation« reflektieren (vgl. J. Habermas: Theorie, Bd. 2, S. 571-575, Zitat auf S. 571). Vgl. Habermas, Jürgen: Ach, Europa (= Kleine politische Schriften, XI), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 161f. Dort heißt es: »Im Kontext liberaler Regime überwiegt jedoch eine andere Tendenz. Hier fördert die Entstehung von Millionen von weltweit zerstreuten chat rooms und weltweit vernetzten issue publics eher die Fragmentierung jenes großen, in politischen Öffentlichkeiten jedoch gleichzeitigt auf gleiche Fragestellungen zentrierten Massenpublikums.« Ebd., S. 162. Zu dieser weiten Interpretation der digitalen Transformation als Entstehung einer »Kultur der Digitalität« im Kontext kulturgeschichtlicher Entwicklungen vgl. Stadler, Felix: Kultur der Digitalität (= Edition Suhrkamp, Bd. 2679), Berlin: Suhrkamp 2016. Reckwitz, Andreas: »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive«, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), S. 282-301, hier S. 289. Vgl. Schmidt, Jan-Hinrik: Das neue Netz. Merkmale, Praktiken und Folgen des Web 2.0 (= Kommunikationswissenschaft), Konstanz: UVK 2011.

Welche Öffentlichkeit? Wessen Forum?

zogen, und Pierre Bourdieu ausführlich entwickelt hat. Vier Gedanken aus diesem Ideenpool sind hier weiterführend: die Konzentration auf »Praxis als Vollzugswirklichkeit«70 , deren Materialität in sinnhaftem Gebrauch von Dingen und Körpern und das in den Praktiken aktuelle »praktische Wissen«.71 Das Routinewissen und die Körperlichkeit lassen sich in Bourdieus HabitusBegriff zusammendenken. Erstens sehen Praxistheorien »als ›kleinste Einheit‹ des Sozialen nicht ein Normensystem oder ein Symbolsystem, nicht ›Diskurs‹ oder ›Kommunikation‹ und auch nicht die ›Interaktion‹, sondern die ›Praktik‹«, also einen »routinisierten ›nexus of doings and sayings‹ (Schatzki)«.72 Eine Praktik wäre dann beispielsweise das Kommentieren eines Facebookposts mit einem Smartphone in der U-Bahn. Was theoretisch als Öffentlichkeit in Anspruch genommen wird, wäre dann nicht als »Netzwerk für die Kommunikation« zu verstehen, sondern als Netzwerk von aneinander anschließenden Praktiken. Praktiken aber werden – das betonen Praxistheorien – durch »›materielle‹ Instanzen« ermöglicht: durch Körper und Artefakte.73 Zweitens sind für Praktiken demnach die Dinge, Medien und Artefakte entscheidend, die in ihnen gebraucht werden. Diese Dinge sind dabei, wie Reckwitz betont, weder bloße Instrumente, noch determinieren sie die Praktik, vielmehr kommt es auf ihren praktischen »sinnhafte[n] Gebrauch« an.74 Dazu ein Beispiel: Mein Smartphone determiniert nicht mein Kommunikationsverhalten, aber wo ich es sinnhaft dazu gebrauche – etwa auf dem morgendlichen Weg zur Arbeit einen Facebookpost zu kommentieren –, prägt das darin aktualisierte technisches Potential diese Praktik. Von daher ist auch einsichtig, dass im praktisch-sinnhaften Gebrauch von Smartphones andere Praktiken entstehen als im praktisch-sinnhaften Gebrauch von Buchdruckmaschinen, Papier und Zeitungen – und damit andere Netzwerke von Praktiken und andere Öffentlichkeiten.75

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Hillebrandt, Frank: Soziologische Praxistheorien. Eine Einführung (= Soziologische Theorie), Wiesbaden: Springer VS 2014, S. 11. Vgl. dazu und zum Folgenden A. Reckwitz: Grundelemente, S. 290-297; F. Hillebrandt: Praxistheorien, S. 11. A. Reckwitz: Grundelemente, S. 290. Vgl. ebd. Vgl. auch für das Zitat ebd., S. 291. Vgl. dazu und wie unterschiedliche Kommunikationstechniken unterschiedliche Praktiken ermöglichen, ebd.

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Drittens sind für Praktiken Körper entscheidend.76 Pierre Bourdieu hat in den Weisen der Körperbewegungen, im Geschmack für Kleidung und Dinge, in der Erscheinungs- und Verhaltensweise ein »einheitsstiftende[s] Erzeugungsprinzip« ausgemacht, das er Habitus nennt.77 Der Habitus ist »Inkorporierung der Struktur des sozialen Raumes«, geprägt »in der Erfahrung einer besonderen sozialen Lage« und insofern »strukturierte Struktur«; zugleich ist der Habitus »Erzeugungsprinzip objektiv klassifizierbarer Formen von Praxis und Klassifikationssystem […] dieser Formen« und insofern »strukturierende« Struktur«.78 Konkret gesagt: Mit dem Habitus, den ich spezifisch zu meiner gesellschaftlichen Lage erworben habe, hängen mein Geschmack für Kleidung, meine Wahrnehmung von Umgangsformen und meine eigene Art zu reden zusammen: Dass ich lautes Rumpöbeln unzivilisiert finde und mich nicht daran beteilige, ist durch meinen inkorporierten Habitus erzeugt. Weil Habitus Klassifikationen und Distinktionen erzeugen, bestimmen sie über die Anschlussfähigkeit von Praktiken: »In dem Maße, und nur in diesem, wie die Habitusformen dieselbe Geschichte verkörpern – oder genauer dieselbe in Habitusformen und Strukturen objektivierte –, sind die von ihnen erzeugten Praktiken wechselseitig verstehbar und unmittelbar den Strukturen angepaßt […]«.79 Insofern sich diese Theorie empirisch plausibilisieren lässt, kann die Fragmentierung der Öffentlichkeit kaum als neues, internetspezifisches

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Vgl. ebd., S. 290. Vgl. auch für das Zitat Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 658), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2014, S. 283. Für die Zitate siehe ebd., S. 285, S. 279, S. 277 und S. 279. Vgl. auch: »Die Konditionierungen, die mit einer bestimmten Klasse von Existenzbedingungen verknüpft sind, erzeugen die Habitusformen als Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, als strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren, d.h. als Erzeugungs- und ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen, die objektiv an ihr Ziel angepaßt sein können, ohne jedoch bewußtes Anstreben von Zwecken und ausdrückliche Beherrschung der zu deren Erreichung erforderlichen Operationen vorauszusetzen, die objektiv ›geregelt‹ und ›regelmäßig‹ sind, ohne irgendwie das Ergebnis der Einhaltung von Regeln zu sein, und genau deswegen kollektiv aufeinander abgestimmt sind, ohne aus dem ordnenden Handeln eines Dirigenten hervorgegangen zu sein.« (Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft [= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 1066], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 98f) P. Bourdieu: Sozialer Sinn, S. 108.

Welche Öffentlichkeit? Wessen Forum?

Phänomen gesehen werden: Als Netze von Praktiken betrachtet waren die Kommunikationsnetze der Gesellschaft schon immer in die Cluster von Milieus und Lebensstilgruppen fragmentiert. Deshalb kann streng genommen auch nur von milieuspezifischen Öffentlichkeiten die Rede sein – der Öffentlichkeit der Standard-Leser*innen etwa im Gegenüber zur Öffentlichkeit der Kurier-Leser*innen. Öffentlichkeit ist immer schon »fragmentierter Artikulationsraum«80 . Teil welcher dieser Öffentlichkeiten Öffentliche Theologie jeweils ist, hängt praktisch von ihren Themen und vor allem von der ästhetischen Dimension ihrer Beiträge und Vollzüge ab: Wählt sie den Ton des Stammtisches oder die distinguierte Ausdrucksweise einer Dinnerparty? Auf wessen Öffentlichkeit bezieht sich Öffentliche Theologie? Diese Fragen sind für Öffentliche Theologie deshalb entscheidend, weil alle genannten theologischen Begründungen sie auf potentiell alle, auf die Zugangsoffenheit in der regulativen Idee von Öffentlichkeit81 und also auf die Überschreitung der Kommunikationsbarrieren fragmentierter Öffentlichkeiten hin ausrichten. Vor diesem Hintergrund ist m.E. auch die Diskussion um die Fragmentierung der Öffentlichkeit im Internet, um Filterblasen (Eli Pariser) und Echokammern (Cass Sunstein) zu führen.82 Einerseits verschärft die praktische Aktualisierung des technischen Potentials83 im World Wide Web diese Tendenz: Dynamische Algorithmen personalisieren, wie Eli Pariser dargestellt hat, die Meinungs- und Informationsdiät, mit der wir auf den großen Plattformen versorgt werden. Das vertieft die Milieu-Fragmentierung. Andererseits scheint es gerade im World Wide Web zu mehr milieu-übergreifenden Kommunikationen zu kommen. Dafür ist ironischerweise gerade die Klage über mangelnde Zivilität im Internet und das Phänomen von »nasty talk«84 ein Beleg. So hat der New-York-Times-Autor Nicholas Kristof trefflich bemerkt: »When people you follow annoy you and cause your temperature to rise – congratulations! You’ve escaped the echo chamber.«85

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T. Meireis: O daß ich tausend Zungen hätte, S. 50., Herv. i.O. Vgl. ebd., S. 52. Vgl. Sunstein, Cass R.: Republic.com 2.0, Princeton: Princeton Univ. Press 2007. Pariser, Eli: Filter Bubble. Wie wir im Internet entmündigt werden, München: Hanser 2012. Für den Begriff vgl. C. Neuberger in Anm. 62. Vgl. Chen, Gina M.: Online Incivility and Public Debate. Nasty Talk, Cham: Springer International Publishing/Palgrave Macmillan 2017. Dieser Monographie verdanke ich auch diesen Gedanken. Zitiert bei ebd., S. 3.

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Praxistheoretisch kann und muss dann nicht nur die mediale Entwicklung, sondern auch die Idee emphatischer Öffentlichkeit selbst soziologisch reflektiert werden: Wie und als was kommt die regulative Idee von Öffentlichkeit in den Praktiken der Öffentlichkeiten als Konflikt- und Artikulationsraum konkret vor?86 Weniger in den späteren Werken, aber im »Strukturwandel der Öffentlichkeit« hatte Habermas diese Einordnung noch selbst vorgenommen: Es ist dies zunächst die Idee, die die bürgerliche – also eine milieuspezifische Öffentlichkeit – von sich selbst hatte (s.o.). Die Vorstellung einer gesellschaftsweiten diskursiven Öffentlichkeit im Singular, in der Sachfragen mit Argumenten sprachlich, vernünftig, zivil und konsensorientiert verhandelt werden, ist sozial eingeordnet: Es ist zunächst die Idee eines spezifischen Milieus, deren ästhetischen Vorlieben, Distinktionen und Ausdrucksformen sie entspricht. Praktisch wirksam ist diese Idee als soziale Imagination im Taylor’schen Sinne,87 indem sie bestimmte Praktiken initiiert und informiert – und andere nicht. Wer vor dem Hintergrund der Imagination von Öffentlichkeit als Diskurs, einen Facebook-Kommentar schreibt, wird sich dabei als gleichberechtigte, vernünftig argumentierende Diskussionsteilnehmerin vorstellen, was die Praxis selbst beeinflusst. Bei der ursprünglichen Verortung der Idee von Öffentlichkeit in der bürgerlicher Gesellschaft bei Habermas setzte Nancy Frasers Kritik an, die besonders vier Grundzüge dieser bürgerlichen Konzeption hinterfragt: das Absehen von Standesunterschieden, den Singular von Öffentlichkeit, die Beschränkung des Diskurses auf das »common good« und die Trennung von Zivilgesellschaft und Staat.88 Bei dieser Verortung setzt auch meine abschließende These an, die Frasers Kritik ähnelt, aber auf die Ambivalenz der ursprünglichen bürgerlichen Imaginationen zielt: M. E. gibt es eine Paradoxie – Fraser referiert diese als »irony«89 – des emphatischen Öffentlichkeitsbe86 87

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Vgl. zur Benennungen dieser drei Sinndimensionen wie oben T. Meireis: O daß ich tausend Zungen hätte, S. 49-52. Zum hier zugrunde gelegten Begriff der »social imaginaries« und zur Öffentlichkeit selbst als Teil des sozial Imaginären vgl. Taylor, Charles: Modern Social Imaginaries (= Philosophy social theory), Durham: Duke Univ. Press 2004. Vgl. auch für das Zitat Fraser, Nancy: »Rethinking the Public Sphere: A Contribution to the Critique of Actually Existing Democracy«, in: Social Text 25/26 (1990), S. 56-80, hier S. 62f, S. 66. Diese Ironie besteht – so Frasers Referat von Geoff Eley – in Folgendem: »Thus, the elaboration of a distinctive culture of civil society and of an associated public sphere was implicated in the process of bourgeois class formation; its practices and ethos were markers of ›distinction‹ in Pierre Bourdieu’s sense, ways of defining an emergent elite,

Welche Öffentlichkeit? Wessen Forum?

griffs. Er verlangt als »regulative Idee« Zugangsoffenheit, Absehung von Standesunterschieden und Diskursivität und reproduziert als soziale Imagination über die milieuspezifische Herkunft und ästhetische Realisierung dieser Kriterien auch (nicht nur!) Exklusivität und Standesunterschiede. Die Performanzversuche emphatischer Öffentlichkeit unterlaufen ständig, was ihre Idee normativ fordert. Zum Beispiel benachteiligt das Absehen von Standesunterschieden – so Fraser – ohnehin schon Benachteiligte.90 Fungiert die regulative Idee als soziale Imagination, die die Öffentlichkeitspraktiken spezifischer Milieus als Selbstverständnis des Vollzugs informiert, richtet dies die Öffentlichkeitspraktiken einerseits auch praktisch auf mehr Zugangsoffenheit aus, steht aber andererseits in der Gefahr, wiederum genau ihre eigene Paradoxie unsichtbar zu machen: Eine Gruppe stellt sich als diskursive Öffentlichkeit vor, an der potentiell jede teilnehmen kann, sorgt so dafür, dass mehr teilnehmen können – und macht so gleichzeitig unsichtbar, dass nicht jede teilnimmt oder nehmen kann. Imaginativ Standesunterschiede auszublenden kann einerseits dafür sorgen, dass die Stimmen Benachteiligter gehört werden müssen, macht aber gleichzeitigt all deren materielle wie milieuspeifische Hindernisse an der Teilnahme unsichtbar. Anders gesagt: die Imagination einer diskursiven Öffentlichkeit steht auch in der Gefahr, als implizites Wissen selbst Tat- und Sprechakte und Praktiken zu einer Filterblase zu verbinden, die wie die digitalen, von Eli Pariser beschriebenen Filterblasen von innen unsichtbar bleibt und das von ihr Ausgeschlossene unsichtbar bleiben lässt. Übernimmt Öffentliche Theologie den emphatischen Öffentlichkeitsbegriff von Habermas, so kann sie diesen als »regulative Idee« (Meireis) verwenden und als soziale Imagination in Anspruch nehmen, muss sich aber der beschriebenen Ambivalenz dieser Idee als sozialer Imagination bewusst bleiben. Gerade wenn Öffentliche Theologie sich von diesem Öffentlichkeitsbegriff orientieren lässt, muss sie sensibel für dessen praktische Paradoxie bleiben, die praxistheoretisch thematisch wird.

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setting it off from the older aristocratic elites it was intent on displacing, on the one hand, and from the various popular and plebeian strata it aspired to rule, on the other. […] Now, there is a remarkable irony here, one that Habermas’s account of the rise of the public sphere fails fully to appreciate. A discourse of publicity touting accessibility, rationality, and the suspension of status hierarchies is itself deployed as a strategy of distinction.« (ebd., S. 60) Vgl. ebd., S. 64.

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Daraus folgere ich eine Anforderung an Öffentliche Theologie: Diese muss überall an der Konstitution ihrer eigenen Öffentlichkeit mitarbeiten!91

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Sie tut dies als das, was Wolfgang Vögele »Strukturelle öffentliche Theologie« genannt hat (W. Vögele: Zivilreligion, S. 425).

Bubbles – Bedingungen digitaler Öffentlichkeit

Politische Allmende Aspekte der gegenwärtigen Öffentlichkeit Lukas Kaelin

Im Jahre 1841 debattierte der rheinische Provinzial-Landtag über ein neues Gesetz, welches den Holzdiebstahl unter Strafe stellen sollte. Eine längst vergangene Gesetzesdebatte, die uns nicht interessieren würde, hätte nicht der junge Karl Marx sie in der Rheinischen Zeitung in mehreren Berichten festgehalten.1 Seine Berichte sind eine facettenreiche Anklage gegen die Enteignung der Armen, die Privatisierung des Allgemeinbesitzes, das Recht als Herrschaftsinstrument und die Bedeutung des Gewohnheitsrechts. Im Zentrum des neu beschlossenen Rechts steht das Unter-Strafe-Stellen des Sammelns von Raffholz, also von Bäumen gefallenen Ästen, d.h. einer bisher für die Allgemeinheit nutzbaren (wichtigen) Ressource, in dem das moderne Eigentumsrecht konsequent angewendet und das Gewohnheitsrecht ausgehebelt wurde. Was vorher eine Allmende war, ging in Privatbesitz über; womit die Geschichte der Einfriedungen weitergeführt wird.2 Was die Armen ehemals aus Gewohnheit durften, wurde durch die Ausdehnung von Eigentumsrecht kriminalisiert. In der theoretischen Entwicklung von Marx markiert dieser Text den Übergang von einem idealistischen zu einem materialistischen Denken.3 Im Medium der durch die Zeitung hergestellten bürgerlichen Öffentlichkeit wird die Frage nach dem Recht der Armen, nach der Eigentumsordnung und dem Verhältnis von bürgerlicher Gesellschaft und Staat gestellt. Die (hegelianische) bürgerliche Gesellschaft wird dadurch problematisch, dass sie

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Vgl. Marx, Karl: »Debatten über das Holzdiebstahlgesetz«, in: ders./Friedrich Engels: Werke, Bd. 1, Berlin, DDR: Dietz 1976, S. 109-147. Vgl. Bensaïd, Daniel: Die Enteigneten. Karl Marx, die Holzdiebe und das Recht der Armen. Aus dem Französischen von Roland Holst, Ulm: Laika 2012, S. 18. Vgl. ebd., S. 12.

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Lukas Kaelin

das Partikularinteresse der Waldbesitzer vertritt, zu der sich Marx mit seinem Bericht im bürgerlichen Medium der Zeitung kritisch ins Verhältnis setzte. Der Bericht markiert daher eine Schnittstelle von Recht, Öffentlichkeit und Allmende: Es illustriert die Problematik der Durchsetzung der Eigentumsordnung für die Mittellosen, den Konflikt zwischen einer auf Existenz und einer auf Eigentum basierenden staatlichen Ordnung und verhandelt die Bedingungen für gesellschaftliche Partizipation. Was ist, so könnte man im Anschluss an Marx’ Text fragen, das »Raffholz« des 21. Jahrhunderts? Was lässt sich aus Überlegungen über die Funktionsweise von Allmenden über die politische Öffentlichkeit lernen? Im Folgenden sollen die politische Öffentlichkeit und Überlegungen zur Allmende zusammengedacht werden. Damit ergeben sich neue Perspektiven auf die politische Öffentlichkeit. Dabei werde ich in vier Schritten vorgehen: Ich werde zuerst die Grundproblematik der Öffentlichkeit vorstellen; zweitens den Begriff der Allmende einführen; drittens die medialen Veränderungen der Öffentlichkeit besprechen und abschließend etwas zur Fruchtbarmachung des Allmendebegriffs für die heutige Öffentlichkeit und ihre theoretische Fassung sagen.

1.

Das Problem der Öffentlichkeit

Damit eine demokratische Gestaltung der Gemeinschaft möglich ist, bedarf es eines Mediums, in welchem diese eine Form annimmt. Für dieses Medium hat sich der Begriff der Öffentlichkeit eingebürgert. In der öffentlichen Auseinandersetzung werden die Angelegenheiten der Bürger*innen verhandelt und idealerweise einer Lösung zugeführt. Was die Angelegenheiten der Bürger*innen sind und damit Gegenstand der gemeinschaftlichen Verhandlung werden kann, ist umstritten. Ebenso umstritten ist die Rolle des Konflikts in der Auseinandersetzung und die Art und Weise wie die Auseinandersetzung zu führen ist. Versucht man den Begriff der Politik kriterial zu bestimmen als »Angelegenheiten der Bürger*innen«, so gibt Öffentlichkeit an, in welchem Medium diese verhandelt werden sollen. Fragen, die die Bürger*innen als Bürger*innen angehen, werden dann idealerweise in einer freien und vernünftigen Auseinandersetzung entschieden. Welche Form bzw. Ausprägung und welcher Grad die Vernünftigkeit haben soll, darüber herrscht wiederum Dissens ebenso wie über die normative Bewertung der kollektiven Organisation der Öffentlichkeit in unterschiedlichen Formen. Offen ist auch, welchen Platz Emotionen in der öffentlichen Auseinandersetzung haben sollen.

Politische Allmende

Versteht man Politik als Konfliktbewältigung, so kann Öffentlichkeit als die Form verstanden werden, in der diese Konflikte, wenn schon nicht beigelegt, so doch in geordnete Bahnen gelenkt werden können. Allerdings ist die normative Rolle des Konflikts ebenso umstritten wie die Werte von Konsens und Inklusion sowie die Beurteilung von Macht. Die wohl wirkmächtigste Konzeption von Öffentlichkeit stammt von Jürgen Habermas, der abstandnehmend von seiner frühen gesellschaftskritischen Konzeption im Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962/1990), ein rechtsphilosophisches Modell ausarbeitet, welches sowohl nahe an der Praxis nationalstaatlicher Demokratien als auch anschlussfähig an soziologische Theorien ist: In Faktizität und Geltung (1992) versteht er Öffentlichkeit »als ein Netzwerk für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen, also von Meinungen […]; dabei werden die Kommunikationsflüsse so gefiltert und synthetisiert, dass sie sich zu themenspezifisch gebündelten öffentlichen Meinungen verdichten.«4 Öffentlichkeit ist ein zur Lebenswelt gehörendes, und daher nach idealerweise unverstellten alltagssprachlichen Kommunikationsregel funktionierendes Netzwerk sprachlicher Äußerungen, das in einem Prozess von Filterungen und Bündelungen von Meinungen letztendlich öffentliche Meinungen produziert, die dafür sorgen sollten, politische Entscheidungen im jeweils intendierten Sinne zu beeinflussen. Dabei besteht die Funktion der Öffentlichkeit und ihrer geringen Institutionalisierung in der Zivilgesellschaft darin, Probleme zu benennen und dem politischen System zur Lösung zuzuführen. Damit wird einer Selbstbegrenzung der Öffentlichkeit das Wort geredet, die nicht mehr für sich in Anspruch nehmen würde, selber die Aufgaben des politischen Systems zu übernehmen, wie das im früheren Strukturwandel der Öffentlichkeit noch der Fall war.5 Während Habermasʼ spätere Öffentlichkeitstheorie – unter Bezugnahme auf Niklas Luhmann – eine in unterschiedliche Teilsysteme funktional differenzierte Gesellschaft theoretisch konzeptualisiert, nehmen sowohl seine frühere Öffentlichkeitstheorie als auch konkurrierende Theorien einen Standpunkt ein, in dem es in der Öffentlichkeit um die Gestaltung der Gesellschaft als Ganze geht. Dies ist beispielsweise bei John Dewey der Fall. Öffentlichkeit entsteht bei ihm durch die Betroffenheit von indirekten Handlungsfolgen. Kooperatives Verhalten erzeugt sowohl Folgen für die direkt Betroffenen, aber 4 5

Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 436. Vgl. J. Habermas: Faktizität und Geltung, S. 450.

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Lukas Kaelin

auch indirekte Handlungsfolgen, die jene betreffen, die nicht unmittelbar an der Kooperation beteiligt sind. Wenn diese von diesen Handlungsfolgen gestört werden oder sie zu unterstützen suchen, entsteht unter den so Betroffenen eine Öffentlichkeit: »Die Öffentlichkeit besteht aus all denen, die von den indirekten Transaktionsfolgen in solch einem Ausmaß beeinflusst werden, dass es für notwendig gehalten wird, sich um diese Folgen systematisch zu kümmern.«6 Erst die Zunahme an Komplexität und damit die Notwendigkeit viele Handlungsfolgen zu regeln, führt dazu, dass Personen mit politischen Funktionen betraut werden, und damit die Last der Regulierung delegiert wird. Deswegen bringt Dewey das Verhältnis von »Öffentlichkeit« und »Staat« auf die Formel, dass der Staat Öffentlichkeit plus Amtspersonen ist. Daher entsteht bei Dewey der Staat organisch aus der Öffentlichkeit aufgrund der Komplexitätssteigerung moderner Gesellschaften. Dies steht im Gegensatz zum frühen Habermas, bei dem in der Tradition des deutschen Idealismus die Öffentlichkeit sich als Gegenpol zu einem monarchisch verfassten Staat herausbildet. Die primäre Herausforderung für die Öffentlichkeit besteht nach Dewey im Übergang von kommunalen Gemeinschaften in eine nationale Gesellschaft. Damit wird die Einschätzung und Zuschreibung der indirekten Handlungsfolgen zunehmend schwieriger, weswegen Dewey auch von der Öffentlichkeit als intellektuelles Problem schreibt.7 Im Hintergrund dieser unterschiedlichen Öffentlichkeitskonzeptionen steht die unterschiedlichen Staatsgeschichten Europas und der Vereinigten Staaten: Während sich die Öffentlichkeit in Europa als Gegenspieler zu monarchischen Staaten herausgebildet hat, ist sie im Kern der vom Zeitpunkt der Unabhängigkeit demokratisch verfassten Vereinigten Staaten. Nun wird häufig die Unwahrscheinlichkeit einer funktionierenden Öffentlichkeit hervorgehoben und ihr Voraussetzungsreichtum betont.8 Unter den vielen Voraussetzungen sind die intellektuellen, medialen und politischen Voraussetzungen hervorzuheben. Die intellektuellen Voraussetzungen betreffen die Fähigkeit der Öffentlichkeit, problematische indirekte Handlungsfol6 7 8

Dewey, John: Die Öffentlichkeit und ihre Probleme. Aus dem Amerikanischen von Wolf-Dieterich Junghanns, Bodenheim: Philo 1996, S. 29. Vgl. ebd., S. 128. So schreibt etwa Habermas: »Öffentlichkeiten sind eine voraussetzungsreiche und daher unwahrscheinliche evolutionäre Errungenschaft moderner westlicher Gesellschaften.« (Habermas, Jürgen: Politische Theorie. Philosophische Texte [Studienausgabe Bd. 4], Berlin: Suhrkamp 2009, S. 135)

Politische Allmende

gen wahrzunehmen, ihre Ursachen zu erforschen und Schritte zu deren Regulierung zu ergreifen. Bei politischen Entscheidungen mit konkreten, tangiblen Themen mag die Identifikation sowohl der Folgen, des Verursachenden und die Möglichkeit der Förderung oder Unterbindung durch eine öffentliche Regulierung möglich sein; die Identifikation von Folgen, Verursachung und Problemlösung im Medium öffentlicher Steuerung bei komplexen Themen gestaltet sich dagegen schwierig. Verdeutlicht an den Beispielen eines Stadionneubaus oder einer neu einzurichtenden Fußgängerzone: Sie werden schnell zum Gegenstand öffentlicher Debatte mit klarer Identifikation von Folgen, Verursachung und Problemlösung, bei Bankenkrise oder Kinderarmut ist das nicht so sehr der Fall. Hinzu kommen Formen von verfehlten Problemzuschreibungen, wenn Personengruppen für Probleme verantwortlich (und zum Sündenbock) gemacht werden, die jedoch andere Ursachen haben. Die intellektuellen Voraussetzungen bestehen aber auch in den Bildungsvoraussetzungen, die für einen informierten Diskurs und einer Resistenz gegenüber Manipulation notwendig sind. Beispielhaft sei hier Habermasʼ geänderte Einschätzung bezüglich der Manipulationsanfälligkeit der Öffentlichkeit durch geänderte Bildungsvoraussetzungen erwähnt, die im Vorwort zur Neuauflage von Strukturwandel der Öffentlichkeit (1990) erwähnt wird.9 In einer translokalen Gesellschaft ist eine Öffentlichkeit auf die Dissemination relevanter Informationen durch Massenmedien angewiesen, was die Frage nach den medialen Voraussetzungen aufwirft. Bei Walter Lippmann (1922) war die Frage, woher wir unser nicht unmittelbar den Sinnen zugängliches Weltwissen haben, noch einfach zu beantworten: aus der Zeitung. Doch auch unter den massenmedial vereinfachten Bedingungen Lippmanns ist das Wissen über die Welt durch die strategischen Absichten auf der Seite der Absender*innen, durch die Verzerrung in der Übermittlung und die limitierte Aufnahmefähigkeit auf der Seite der Empfänger*innen beschränkt. Die Darstellung der Welt in den Massenmedien bleibt – neben der generellen Problematik der Darstellung des Besonderen in Kategorien des Allgemeinen – geprägt durch stereotypisierte Formen, ohne die eine Verarbeitung und Einordnung des Weltwissens nicht möglich wäre.10 Entscheidend dabei sind die 9

10

Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 11-50, insbesondere S. 29, wo er darauf hinweist, im Strukturwandel den »kritikfördernden, kulturell mobilisierenden Einfluss der formalen, insbesondere der sich ausweitenden sekundären Schulbildung« unterschätzt zu haben. »Without standardization, without stereotypes, without routine judgements, without a fairly ruthless disregard of subtlety, the editor would soon die of excitement.« (Lipp-

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leitenden Interessen auf Absender-, Vermittlung- und Rezipientenseite. Die Informationen auf Basis derer öffentliche Meinungen massenmedial vermittelt entstehen, sind daher immer gekennzeichnet durch strategische Interessen und behaftet mit Unsicherheit. Diese Unsicherheit im Wissen über die politischen Angelegenheiten in der größeren Gesellschaft bildet einen wichtigen Aspekt in gegenwärtigen Öffentlichkeiten. Grundlegende Voraussetzung für eine funktionierende Öffentlichkeit ist eine durch Massenmedien vermittelte gemeinsame Wirklichkeit, die gemeinsames Wissen produziert, über das eine Verständigung möglich ist. Wie prekär diese gemeinsam geteilte Wirklichkeit ist, wird einerseits im Kontext von Tendenzen der Polarisierung und Fragmentierung bewusst. Andererseits zeigt sich gerade auch in den Medienskandalen – Beispiel der Fall des ehemaligen Spiegel-Journalisten Jan Relotius11 – sowohl die Anfälligkeit für falsche Informationen als auch das prekäre Verhältnis zwischen Wirklichkeit und seiner medialen Aufbereitung.12 Eine wichtige politische Voraussetzung der Öffentlichkeit, schließlich, besteht in ihrer Übereinstimmung mit einem politischen Gemeinwesen, das die Macht der politisch-ökonomischen Steuerung innehat. Idealtypisch führt ein innerhalb einer Gemeinschaft über gemeinsame Medien geführter Diskurs zu öffentliche Meinungen, die die korrelierende Regierung anhält, in diesem Sinne Regeln zu erlassen. Doch diese Übereinstimmung auf Basis von Nationalstaaten von Bevölkerung, Sprachgemeinschaft, Massenmedien und Regierung zeigt sich immer mehr als überholt. Sowohl sind viele Medien grenzüberschreitend, als werden auch politische Entscheidungen häufig auf transund internationaler Ebene getroffen. Politische Öffentlichkeit ist auch deswegen in einer Krise, weil dieser Zusammenhang von politischer Einheit, medialer Vermittlung und staatlicher Regulierungsfähigkeit zusehends aufge-

11 12

mann, Walter: Public Opinion, New Brunswick, NJ/London, UK: Transaction Publishers 1998, S. 233) Vgl. Moreno, Juan: Tausend Zeilen Lüge, Berlin: Rowohlt 2019. Das zeigte nicht zuletzt die im Kontext der Aufarbeitung des Falles Relotius geführte Diskussion über das Genre der Reportage in ihrer Art, wie – abseits von aufgedeckten Fälschungen – in ihr Wirklichkeit dargestellt wird. Vergleiche dazu die Offenlegung des Betrugs in reportageartigem Stil durch den Spiegel selber und die Kritik daran (Fichtner, Ullrich: »SPIEGEL legt Betrugsfall im eigenen Haus offen«, in: Spiegel online vom 19.12.2018, https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/fall-claas-relotius-spiegel-l egt-betrug-im-eigenen-haus-offen-a-1244579.html vom 20.7.2020).

Politische Allmende

löst wird.13 Damit wird im politischen Prozess die effektive Möglichkeit über den Meinungsbildungsprozess der Öffentlichkeit politische Entscheidungen zu beeinflussen geschwächt.

2.

Elemente einer Allmende

In diesem Beitrag soll Öffentlichkeit als Allmende verstanden werden; ein Verständnis, das sich angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen der Öffentlichkeit als Ergänzung nahelegt. Eine Allmende ist eine nach komplexen und informellen Regeln gemeinschaftlich genutzte (natürliche) Ressource. Sie hat eine vitale Bedeutung für ihre Nutzer*innen, bedarf deren Kooperation und Einsatz für ihren Erhalt. Zugleich steht sie vor den Herausforderungen der Übernutzung, des Konflikts, der Verschmutzung und der Aneignung durch Partikularinteressen im Sinne einer Privatisierung. Bei der traditionellen Allmende handelt es sich um eine natürliche Ressource wie ein Weideland oder Fischgründe. Bei der politischen Allmende dagegen ist diese Ressource der stets herzustellende und zu gestaltende Bereich, der für eine gemeinschaftliche Gestaltung der Gesellschaft notwendig ist. Der moderne Diskurs über die Allmende lässt sich anhand von drei Phasen nachzeichnen. Die erste Phase wird 1968 mit Garret Hardins berühmten Artikel in Science über die »Tragödie der Allmende« (Tragedy of the Commons) eingeläutet. Vor dem Hintergrund der Diskussion der Überbevölkerung entwirft Hardin das Bild einer gemeinschaftlichen Wiese, auf der Hirten ihre Tiere grasen lassen können. Alle Hirten haben ein unmittelbares rationales Interesse daran, möglichst viele Tiere zu halten, aus denen sie Profit schlagen können. Die Kosten für die gemeinschaftliche Wiese werden hingegen kollektiv getragen. Konsequent zu Ende gedacht führe das zu einer Überweidung der Wiese. Unabwendbar endet für Hardin die Allmendenutzung durch die rationale Handlungslogik der einzelnen Hirten in einer Tragödie: »Each man [!] is locked into a system that compels him to increase his heard without limit – in a world that is limited. Ruin is the destination toward which all men rush, each pursuing his own best interest in a society that

13

Fraser, Nancy: »Transnationalizing the Public Sphere: On the Legitimacy and Efficacy of Public Opinion in a Post-Westphalian World«, in: Theory Culture Society 24/7 (2007), S. 7-30.

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believes in the freedom of the commons. Freedom in a commons brings ruin to all.«14 Dieses wirkmächtige Bild, in welchem in einem Satz von der gemeinschaftlich von Hirten bewirtschafteten Wiese zu den begrenzten Ressourcen einer endlichen Welt übergeleitet wird, wurde in der Folge auf mannigfaltige Probleme von Hungersnöten zu Umweltverschmutzung, von städtischer Kriminalität zur internationalen Zusammenarbeit angewandt.15 Nun lassen sich gegen diese Erzählung leicht Einwände formulieren, die auf die fehlende Unterscheidung zwischen »freiem Zugang« und »gemeinschaftlicher Nutzung« hinweisen und damit die Möglichkeit, dass die Hirten kooperieren, d.h. miteinander reden, außer Acht lässt. Auch lässt sich die Gegenerzählung einer »Komödie der Allmende«16 (Carol Rose) in Anschlag bringen, die die wirtschaftliche Bedeutung von gemeinschaftlich genutzten Ressourcen – von Verkehrswegen zu Luft und Wasser – hervorhebt, ohne die kein Gemeinwesen funktionieren könnte. Im Kontext der Neueinschätzung gemeinschaftlicher Bewirtschaftung natürlicher Allmende-Ressourcen spielt die Arbeit von Elinor Ostrom eine entscheidende Rolle. Das ist die zweite Phase des modernen Diskurses über die Allmende: Anhand der empirischen Erforschung von Allmenden, die oft über Jahrhunderte gemeinschaftlich gehalten und kultiviert wurden, stellt Ostrom die Frage nach den Erfolgsbedingungen der nachhaltigen Bewirtschaftung von Allmenden. Dabei handelt es sich um ganz unterschiedliche Ressourcen: Weideland und Wälder, Fischereien und Bewässerungsprojekte, die erfolgreich und nachhaltig gemeinschaftlich bewirtschaftet werden. Die beschriebenen Allmenden spielen eine vitale Rolle für die jeweilige (landwirtschaftlich geprägte) Gemeinschaft. Ostrom identifiziert sieben »Bauprinzipien langlebiger Allmenderessourcen-Institutionen«17 : Dazu gehören klare Grenzen sowohl bezüglich der bewirtschafteten Ressource als 14 15 16 17

Hardin, Garrett: »The Tragedy of the Commons«, in: Science 162 (1968), S. 1243-1248, hier S. 1244. Vgl. Ostrom, Elinor: Die Verfassung der Allmende. Jenseits von Staat und Markt, übers. v. Ekkehard Schöller, Tübingen: Mohr Siebeck 1999, S. 4. Carol Rose beschreibt dies in »The Comedy of the Commons: Commerce, Custom, and Inherently Public Property«, in: University of Chicago Law Review 53/3 (1986), S. 711-781. E. Ostrom: Die Verfassung der Allmende, S. 117f. Die »Bauprinzipien langlebiger ARInstitutionen« lauten vollständig wie folgt: »1. Klar definierte Grenzen […] 2. Kongruenz zwischen Aneignungs- und Bereitstellungsregeln und lokalen Bedingungen […] 3. Arrangements für kollektive Entscheidungen […] 4. Überwachung […] 5. Abgestuf-

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auch der Nutzer*innen. Wichtig sind gemeinschaftlich festgelegte Regeln mit der Möglichkeit von Änderungen und der Überprüfung ihrer Einhaltung. Um mit Konflikten konstruktiv umgehen zu können, bedarf es zum einen niederschwelliger Sanktionsmaßnahmen und zum anderen eingespielter bzw. eingeübter Formen der Streitschlichtung. Wenn man nun den Begriff der Allmende weiter fasst, so lassen sich Allmenden anhand unterschiedlicher Parameter systematisch einteilen. Es gibt lokale Allmenden wie Spielplätze und Gehsteige, regionale wie die Donau und die Stadt Linz und globale wie die Weltmeere und das Klima. Für die erforderlichen Regeln ist es auch von Relevanz, ob die Allmende wie ein Park eng begrenzt, wie der Rhein grenzüberschreitend, oder wie die Ozonschicht ohne Grenzen ist. Mit dieser allgemeineren Fassung der Allmende wird aber auch deutlich, dass es bei der Allmende nicht um die Ressource als solche geht, sondern um ein bestimmtes Verständnis davon, wie eine Ressource gemeinschaftlich genutzt wird. Bei der Frage wie eine nachhaltige Nutzung möglich ist, spielt sowohl die Größe als auch die Offenheit bzw. Abgeschlossenheit der Allmende eine Rolle. Mit dem Aufkommen des Internets entsteht eine neue Form der Allmende. Damit setzt die dritte Phase des Diskurses über Allmenden ein. In den frühen Jahren des Internets haben Nutzer*innen schnell die gemeinsam genützte Ressource als unabhängig von staatlichen und ökonomischen, als gemeinsam geteilte Ressource, eben als Commons, oder Allmende, interpretiert. Zugleich fällt auf, dass sie von den gleichen Gefahren bedroht war – »Verstopfung, Trittbrettfahrer, Konflikt, Übernutzung und ›Verschmutzung‹«18 –, die auch bei traditionellen Allmenden der Fall war. Dass es sich beim (frühen) Internet um eine gemeinschaftlich genutzte und verwaltete Ressource handelt, illustriert beispielsweise John Perry Barlows »Deklaration der Unabhängigkeit des Cyberspace«19 , in welchem das Cyberspace genannte Internet von staatlichen Regulierungen und ökonomischen Interessen frei gehalten werden soll. Wie die traditionelle Allmende sei auch das Internet »jenseits von Staat und

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19

te Sanktionen […] 6. Konfliktlösungsmechanismen […] 7. Minimale Anerkennung des Organisationsrechts […].« (Ebd.) Hess, Charlotte/Ostrom, Elinor: »Introduction: An Overview of the Knowledge Commons«, in: dies (Hg.): Understanding Knowledge as a Commons, Cambridge, MA: MIT Press 2011, S. 3-26, hier S. 4. Zum Wortlaut der Erklärung siehe: Barlow, John Perry: »A Declaration of the Independence of Cyberspace« vom 8.2.1996, https://www.eff.org/cyberspace-independence vom 20.7.2020.

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Markt« (so auch der Untertitel von Ostroms Buch). Für bestimmte virtuelle Bereiche und Nutzungen hat sich demzufolge auch der Begriff des Commons in Form von »Creative Commons« oder »Digital Commons« eingebürgert. Wenn die Rede von einer politischen Allmende ist, dann erscheint es wichtig, diese nicht im Sinne einer Form der Eigentumsverwaltung jenseits von staatlichem oder privatem Eigentum zu konzeptualisieren. Obwohl auch die Öffentlichkeit vor allem in ihrer Habermasʼschen Konzeptualisierung im Strukturwandel in einem spannungsreichen Verhältnis jenseits von Markt und Staat – und in ständiger Gefahr der Okkupation durch beide – steht, so geht es bei der politischen Allmende um eine bestimmte Form der Kultivierung oder Nutzung. Dass eine Allmende der Kultivierung bedarf, lässt sich an urbanen Allmenden wie den Straßen und Gehsteigen zeigen, die dadurch, dass sie eine Zone der Begegnung schaffen und dadurch Sicherheit produzieren, ihre urbane Funktion erfüllen.20 Nicht die gemeinsame geteilte Eigentümerschaft ist hier entscheidend, sondern die Art der gemeinschaftlichen Nutzung schafft das Gut, auf das es ankommt.

3.

Die Strukturen der gegenwärtigen Öffentlichkeit

Die Strukturen der Öffentlichkeit sind gegenwärtig durch eine Reihe von miteinander verknüpften medialen Phänomenen geprägt: Traditionelle Printmedien unterliegen einem durch alternative Nachrichtendisseminationsmöglichkeiten hervorgerufenen Strukturwandel, welche ihre für eine demokratische Öffentlichkeit wesentliche Funktion bedroht, und ihre schon immer existierende, aber in manchen Öffentlichkeitstheorien vergessene, ökonomische Seite betont. Neokorporatistische Modelle von Partnerschaften zwischen bestimmten Massenmedien und politischen Parteien haben Platz gemacht für instabile populistische Allianzen und ein konstantes Werben um die Aufmerksamkeit der Mediennutzer*innen.21 In seinem Standardwerk zur öffentlichen Meinung beschreibt Walter Lippmann anschaulich, wie eine Zeitung vorgehen sollte, um erfolgreich zu sein: Menschen seien naturgemäß vor allem an sich selber interessiert,

20 21

Vgl. Jacobs, Jane: The Death and Birth of Great American Cities, New York, NY: Vintage Books 1961. Vgl. Imhof, Kurt: Die Krise der Öffentlichkeit, Frankfurt a.M./New York, NY: Campus 2011.

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weswegen man kein lokales Ereignis auslassen soll, wie nichtig es auch sei, um darüber zu berichten.22 Entscheidend für den Erfolg der Zeitung sei zum einen das kontinuierliche Interesse der Leserschaft und zum anderen die Anzeigekunden. Damit ist sowohl eine Selbstverständlichkeit artikuliert – keine Zeitung ohne Leser*innen –, als auch die gängige Praxis der Werbung (bis auf wenige periodische Printprodukte, die sich nur über Leser*innen finanzieren) zur Sprache gebracht. Folglich orientiert sich die über die Zeitung produzierte Öffentlichkeit schon immer mehr an den ökonomisch ungleichen Bourgeois als am mit gleichen politischen Rechten ausgestatteten Citoyen. Auch in der über die Zeitung vermittelten Öffentlichkeit war ein gleicher Zugang nicht gewährleistet, sondern die Zugangsvoraussetzung sowohl bezüglich der passiven Partizipation am mitgeteilten Wissen als auch verstärkt bezüglich der Möglichkeit der aktiven Meinungsbildung über ökonomische Möglichkeiten vermittelt. Doch die Position der Zeitungen und damit die Praxis der Vermittlung der Öffentlichkeit über kollektiv praktiziertes Lesen ist in den letzten Jahrzehnten in zunehmendem Maß erodiert. Zwar übernehmen Zeitungen teilweise immer noch die Rolle der Leitmedien, die Themen setzten und damit öffentliche Diskurse prägen, doch die Zeit, in der die Zeitung das »Brot der Demokratie«23 war, ohne das sie nicht überlebensfähig scheint, ist vorbei. Nicht vorbei ist jedoch die Bedeutung einer medienvermittelten Öffentlichkeit für die Demokratie. Die mediale Hegemonie der Zeitung wurde durch eine Pluralität von Nachrichtendisseminationsmöglichkeiten abgelöst, in der unterschiedliche Massenmedien – Zeitung, Radio, Fernsehen – verstärkt über das Transmedium Internet abgelöst und interaktiv mit den sozialen Medien neu kombiniert und angeordnet werden. Damit sind wir bei der Struktur der medialen Nachrichtenvermittlung angekommen, die den Hintergrund der gegenwärtigen Öffentlichkeit bilden. Dabei lassen sich folgende Merkmale der medialen Voraussetzungen dieser (neuen) Öffentlichkeit von den Voraussetzungen, die klassische Öffentlichkeitstheorien machen, absetzen. Ein Großteil der Dissemination der für die öffentliche Meinungsbildung relevanten Information geschieht über Plattformen, die sich aus einer Vielzahl von Quellen und Medienformen speisen, nach

22 23

Vgl. W. Lippmann: Public Opinion, S. 220. Prantl, Heribert: »Das tägliche Brot der Demokratie«, in: Süddeutsche Zeitung vom 19. Mai 2010, www.sueddeutsche.de/kultur/antrittsvorlesung-heribert-prantldas-taegliche-brot-der-demokratie-1.74289 vom 17.6.2015.

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eigenen Präferenzen des Mediennutzenden organisiert sind, laufend aktualisiert werden und für unterschiedliche soziale Funktionen benutzt werden. Der Status dieser Plattformen ist in mehreren Hinsichten fragwürdig, da sie die Rolle der Aufbereitung und Formatierung der Informationen vornehmen, ohne sich jedoch als Redaktionen zu verstehen und sich einem dementsprechenden journalistischen Ethos verpflichtet zu fühlen. Jeder der Aspekte der geänderten medialen Vermittlung von Informationen ist von Relevanz für die politische Funktion der Öffentlichkeit: Die Vielzahl von Quellen und die mannigfaltigen Verweis- und Verlinkungsstrukturen werfen, erstens, die Frage nach Kontext und Urheberschaft und damit um Vertrauenswürdigkeit und Bedeutung der Information auf. In traditionellen Medien sind diese Aspekte nicht in der gleichen Art und Weise fragwürdig, da sie durch Redakteure standardmäßig verbürgt sind. Das schließt bekanntlich weder eine notwendige Selektion der Nachrichten noch eine Voreingenommenheit der Redakteure aus, doch ist das, was zu unserer Aufmerksamkeit gelangt, besser und transparenter nachvollziehbar. Diese Informationen setzen sich, zweitens, sowohl aus Nachrichten von institutionellen Akteuren als auch aus unterschiedlichen mehr oder weniger bekannten natürlichen Personen zusammen, die nach den eigenen Präferenzen ausgewählt werden. Informationen aus unterschiedlichsten professionellen und privaten Kanälen stehen nebeneinander im Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Nutzer*innen. Die laufende Aktualisierung trägt, drittens, zu einer Erschwerung der adäquaten Einschätzung der übermittelten Information bei. Während traditionelle Nachrichtenformate den Anspruch erheben, innerhalb einer begrenzten Zeit und eines begrenzten Umfangs die relevante Information in einem eindeutigen Format zu präsentieren, ist der für die Nutzer*innen weitgehend nach unklar operierenden Algorithmen geordnete Strom von Informationen grenzenlos. Während die Einordnung, Bedeutungszuschreibung und Orientierung in den traditionellen Nachrichtenformaten mitgeliefert wird, muss dies bei über Social Media vermittelten Informationen von den Nutzer*innen selber gemacht werden.24 Und, viertens, führt die Tatsache, dass diese Netzwerke sowohl für Arbeit als auch politische Organisation, für private Administration als auch für Pflege von Freundschaft genutzt werden, zu einer Vermischung der unterschiedlichen Teilbereiche des Lebens, die zugleich um die Aufmerksamkeit der Nutzer*innen werben. 24

Vgl. Kaelin, Lukas: »Virtual Ignorance: The Blind Spot in German Public Sphere Theory«, in: New German Critique 124 (2015), S. 189-202.

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Wie die uns mit den Sinnen nicht zugängliche Welt wahrgenommen wird, hängt also von den nach unseren Präferenzen uns zugespielten Informationen ab. Das heißt wie die Welt durch die unterschiedlichen Kanäle massenmedial von uns wahrgenommen wird, hängt von einer Mischung von uns ausgewählten selbst lernenden Filtern ab, deren Funktionsweise nicht durchschaubar ist und die von nach Verwertungslogiken operierenden Plattformen gesteuert werden. Folglich wird diese Information nicht mehr primär über klassische Gatekeeper sondern über Algorithmen organisiert. Oder besser: Was öffentlich wird, ist niederschwellig von den gemachten Artikulationen aller Nutzer*innen abhängig. Doch dieses Kriterium ist nicht hinreichend für einen Öffentlichkeitsbegriff, der die Analyse und Kritik bestehender Öffentlichkeit im emphatischen Sinne erlauben würde.25 Entscheidend für einen nutzbaren Begriff der Öffentlichkeit ist aber eine bestimmte – jeweils im Einzelfall nicht absehbare – Aufmerksamkeitsschwelle, die durch die algorithmische Organisation mitkonstituiert wird. Die Folgen dieser Nachrichtenorganisation und der damit zusammenhängenden Mediennutzung sind bekannt: Menschen suchen sich die Bestätigung ihrer Weltsicht und halten sich in Echokammern bzw. Filter Bubbles auf.26 Dabei führt beispielsweise die Problematisierung von »Fake News«, der nur die wahren Fakten gegenübergestellt werden müssten, in die Irre. Denn das primäre Problem ist die selektive Auswahl von Ereignissen, die die gemeinsame Verständigungsgrundlage in der Annahme einer geteilten Realität, über die man sich austauschen und die man gemeinsam gestalten kann, unterminieren. Die Fake News verstärken diese Problematik dann noch, indem auf der Basis der realen Unsicherheiten von Informationen über die Welt, Falschheiten in strategischer Absicht behauptet werden, die jeglichem Diskurs den Boden entziehen.

25

26

Bernhard Peters unterscheidet drei unterschiedliche Öffentlichkeitsverständnisse: Öffentlichkeit kann erstens als institutionalisierte Handlungssphäre mit eigenem normativen Charakter aufgefasst werden. Öffentliche Ämter und öffentliches Eigentum bedeuten dann eine bestimmte Form von Verantwortung und Kontrolle – im Gegensatz zur Privatheit. Öffentlichkeit kann, zweitens, als eine Form von Kommunikation und Wissen aufgefasst werden – im Gegensatz zum vertraulichen, privaten und geheimen Wissen. Schließlich ist Öffentlichkeit, im emphatischen Sinn, ein »Kollektiv, das auf einer bestimmten Kommunikationsstruktur beruht, oder eine Sphäre kommunikativen Handelns, in der sich eine ›öffentliche Meinung‹ mit bestimmten anspruchsvollen Merkmalen bilden kann.« (Peters, Bernhard: Der Sinn von Öffentlichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 59.) Vgl. den Beitrag von Calvin Kiesel in diesem Band.

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Bewusst muss dabei die Macht der als quasi-Monopole agierenden Plattformen herausgestrichen werden. Diese Macht besteht darin, mittels Algorithmen zu entscheiden, was und wer uns »erscheint«. Um es mit einem berühmten Ausdruck von Lawrence Lessig zu sagen: Code is Law, d.h. der verwendete Code spielt eine ähnliche regulierende Rolle im Internet wie das Recht in unserem sozialen Leben.27 Mit Hannah Arendt wird somit bestimmt, wer erscheinen (und sprechen) und damit Macht haben kann, und wer nicht erscheint und machtlos bleibt.28 Dabei bestehen die leitenden Interessen der Plattformen darin, ihre zur Nutzer*innen regredierenden Bürger*innen möglichst lange auf der Plattform in Interaktionen zu halten und, wenn möglich, zu über die Plattform abgewickelten Konsumentscheidungen zu animieren. Folglich wird ein Umfeld geschaffen, das umgelegt auf die reale Welt eher einer Shopping Mall als einem (politischen) Forum gleicht, geschaffen. Kurz: Die sozialen Medienkanäle mit Monopolstellung produzieren personalisierte Weltsichten, welche die gemeinschaftliche Verständigung über die Realität erschweren und zugleich die Kommunikation von distanziertem Abwägen in Empörungsbewirtschaftung umpolen. Der ungehinderte Zugang über die sozialen Medien »zur Öffentlichkeit« führt zum Abbau der traditionellen Grenze zwischen Privatheit und Öffentlich-

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»That regulator [in cyberspace] is the obscurity in this book’s title – Code. In real space, we recognize how laws regulate – through constitutions, statutes, and other legal code. In cyberspace we must understand how a different ›code‹ regulates – how the software and hardware (i.e., the ›code‹ of cyberspace) that make cyberspace what it is also regulate cyberspace as it is. As William Mitchell puts it, this code is cyberspace’s ›law.‹ ›Lex Informatica,‹ as Joel Reidenberg first put it, or better, ›code is law.‹« (Lessig, Lawrence: Code. Version 2.0, New York, NY: Basic Books 2006, S. 5) Vgl. Arendt, Hannah: Vita Activa oder Vom Tätigen Leben, München/Zürich: Piper 1981. Siehe auch den Beitrag von Maria Robszkiewicz in diesem Band. Hannah Arendts Machtbegriff stellt dabei eine weitere Verkomplizierung dar, da sie Macht – antithetisch zur vom Einzelnen ausgehenden Gewalt – als gemeinsames soziales Handeln versteht (Vgl. Arendt, Hannah: Macht und Gewalt. Aus dem Englischen von Gisela Uellenberg, München/Zürich: Piper 1970, S. 45).

Politische Allmende

keit und einer Umorientierung zu einer algorithmischen Organisation der Öffentlichkeit.29

4.

Die Öffentlichkeit als Allmende

Die politische Öffentlichkeit im emphatischen Sinn entspricht – in meinem Entwurf – einer Allmende. Sie hat eine vitale Funktion für die Gemeinschaft – nicht in einem ökonomischen, sondern in einem politischen Sinne: Ohne eine Öffentlichkeit, in der sich Bürger*innen engagieren und austauschen, gibt es keine Demokratie. Dabei wäre es verkürzt, die Öffentlichkeit bloß als Diskurs im Sinne eines distanzierten Verfahrens zur Produktion öffentlicher Meinung zu konzeptualisieren, denn die Öffentlichkeit als Allmende lebt vom Engagement und der Kultivierung durch die Bürger*innen. Verkörperte Formen des Protests, Aneignung des öffentlichen Raumes und gelebtes Engagement für politische Themen sind wesentliche Aspekte einer Öffentlichkeit als Allmende.30 Die Betrachtung der politischen Öffentlichkeit als Allmende kann so wichtige Aspekte herausstreichen, die im herrschenden Öffentlichkeitsdiskurs unterbelichtet bleiben. Die Öffentlichkeit als Allmende zu verstehen heißt, sich ihres Status als gemeinschaftlich geschaffenes, prekäres Gut bewusst zu sein. Als jenseits von Staat und Wirtschaft situierte Handlungssphäre ist sie stets in Gefahr, entweder durch das Handeln institutioneller politischer Akteur*innen – zum Beispiel mächtige Regierungen – oder durch wirtschaftliche Interessen vereinnahmt zu werden. Gerade die Gefahr der Privatisierung der Öffentlichkeit als Allmende ist angesichts der Macht führender Anbieter von Kommunikationsstrukturen augenscheinlich. Zugleich ist die Öffentlichkeit als Allmende gleichermaßen bedroht durch den Rückzug der Nutzer*innen aufgrund von

29

30

Ein Merkmal des Verschwimmens der Grenze besteht in der gesenkten Schwelle des Übergangs von der Privatheit zur Öffentlichkeit, d.h. im vereinfachten Schritt des »Veröffentlichens« in den sozialen Medien unter anderem, und dem damit verbundenen Verschmelzen von privatem und öffentlichem Habitus. Dass die »traditionelle« Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit keineswegs unproblematisch ist, zeigt der Beitrag von Romana Hagyo in diesem Band. Zu der Bedeutung der körperlichen Formen des Protestes siehe: Butler, Judith: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, Berlin: Suhrkamp 2016. Vgl. auch die Beiträge von Michael Reder und Dominik Harrer in diesem Band.

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Desinteresse an den Angelegenheiten der Bürger*innen und von einer »Übernutzung« in Form eines marktschreierischen Verhaltens, das im Kontext der Allmende als Verschmutzung zu deuten ist. Die Öffentlichkeit als Allmende ist eine Sozialbeziehung und wird somit erst durch die gemeinschaftliche Nutzung und Kultivierung der partizipierenden Nutzer*innen ihre für die Gemeinschaft vitale Funktion ausüben können. Öffentlichkeit ist also mehr als ein Verfahren zur Erstellung gemeinschaftlicher Regeln. Wie wesentliche Aspekte von Urbanität erst durch die Kultivierung städtischer Räume geschaffen werden, so verhält es sich mit der Öffentlichkeit. Ohne die Anwohner*innen und vor allem Geschäftsbetreiber*innen, denen es wichtig ist, dass man sich auf den umliegenden Straßen und Gehsteigen gerne aufhält, gibt es keine Sicherheit und kein Vertrauen in der Stadt.31 Wenn diese Form der »Kultivierung« zusammengebrochen ist, kann keine Form der polizeilichen Kontrolle und staatlichen Überwachung dies wiederherstellen. Es ist zu vermuten, dass obrigkeitsstaatliche Kontrolle und Überwachung die Kultivierung durch die freien und gleichen Nutzer*innen erschweren würde. Zugleich stellen wechselseitige Kontrollmechanismen unter den Allmendenutzer*innen einen wichtigen Aspekt in der nachhaltigen Allmendebewirtschaftung dar. Mit der Öffentlichkeit verhält es sich entsprechend. Ihre Funktion kann sie erst durch Formen der Begegnung und Auseinandersetzung erfüllen, eben durch die Kultivierung durch die Bürger*innen, die sich in ihr bewegen und sie mit Leben füllen. Daher bedrohen die Öffentlichkeit als Allmende Kommunikationsstrukturen, in denen Formen der unregulierten Begegnung mit anderen Ansichten und Meinungen eingeschränkt oder gar verhindert werden. Die Verengung von Öffentlichkeit auf einen rationalen Diskurs unterläuft den mit der Allmende verbundenen umfassenden Kultivierungsanspruch. Zudem verkennt eine solche Konzeptualisierung die bedeutende Rolle körperlichen und leidenschaftlich-kollektiven Handelns. Eine emphatisch verstandene politische Öffentlichkeit bedarf also bürgerschaftlicher Beteiligung, Nutzung und Kultivierung. Dabei geht es nicht bloß um die Aggregation von Meinungen und Stellungnahmen, sondern um Praktiken der Beteiligung, die von einer moralischen Haltung der Teilnahme getragen werden. Zugleich wird klar, dass Öffentlichkeit stets rückgebunden sein muss an konkrete lebensweltliche Probleme. Hier ist an Deweys Definition zu erinnern, der Öffentlichkeit als (regulierenden) Umgang mit indirekten 31

Vgl. J. Jacobs: The Death and Life of Great American Cities, S. 29ff.

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Handlungsfolgen versteht. So ist die Öffentlichkeit insofern eine Allmende, als es stets um konkrete lebensweltliche Fragen der Bürger*innen geht, die verhandelt werden müssen. Wie Allmenden bezüglich der Größe und Offenheit bzw. Geschlossenheit ganz unterschiedlich sein können, so trifft dies auch auf die in der Öffentlichkeit verhandelten Fragen zu. Die sich anhand von spezifischen Fragen etablierenden (Teil-)Öffentlichkeiten bedürfen eigene den Fragen entsprechenden Nutzungsbedingungen. Diese (Teil-)Öffentlichkeiten sind jedoch nicht hermetisch geschlossen, sondern sind im wechselseitigen Austausch und resultieren daher in einer Öffentlichkeit. Die Öffentlichkeit als Allmende zu verstehen, macht vor allem deutlich, dass sie eines Ethos seiner ›Nutzer*innen‹, d.h. der Commoners, bedarf. Als solche sind sie eben keine homines oeconomici, sondern an Kooperation interessierte und von Kooperation abhängige Wesen – homines politici. Öffentlichkeit als Allmende zu verstehen heißt daher nicht, dass ein freier Zugang ohne verantwortungsvolle Kooperation bestehen würde, sondern dass für das Funktionieren der politischen Öffentlichkeit eine bestimmte Einstellung der Nutzer*innen von unabdingbarer Bedeutung ist. Diese Einstellung kann man unter Rückgriff auf die Geschichte der politischen Philosophie als republikanisch verstehen. Diese Überlegungen zeigen aber auch die prekäre Natur der Öffentlichkeit als Allmende. Diese steht in Gefahr, durch Einhegungen okkupiert und privatisiert zu werden und damit nicht mehr der Gemeinschaft zur Verfügung zu stehen. Das »Raffholz« des 21. Jahrhunderts nach dem zu Beginn des Beitrags unter Rückgriff auf die Diskussion zum Holzdiebstahlgesetz gefragt wurde, ist nicht bloß die Information oder der Zugang zur Information. Denn dieser scheint – bei aller weiterhin bestehenden Ungleichheit – so einfach wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit zu sein. Vielmehr ist das »Holz« des 21. Jahrhunderts der Zugang zum Wissen, das in die Lage versetzt, in Kooperation mit anderen die politische Realität zu gestalten. Denn unter den Bedingungen der gegenwärtigen Öffentlichkeit ist diese mehr denn je ein »intellektuelles Problem« (Dewey). Bedingung dafür ist das gemeinsame Ringen um ein Verständnis der geteilten Welt, ohne welches politische Gestaltung nicht möglich ist. Hier geht es um die kultivierende (Wieder-)Aneignung der politischen Allmende und den Rückbezug der Öffentlichkeit auf konkrete Lebenswelten.

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CROWD and ART Über die Logik vernetzter Beteiligungsmodelle Manuela Naveau

Es wurde bereits viel über die Bedeutung von Partizipation geschrieben, sei es in Politik, Architektur, Design oder Kunst. Und doch trägt Partizipation immer noch überbordende Hoffnungen und Wünsche einer Pre-MilleniumGeneration mit sich und ist seitdem aufgeladen mit Ideen für mehr Demokratie, Emanzipation und Ermächtigung.1 Auch wenn die Leuchtkraft der Partizipation seit dem neuen Jahrtausend nachgelassen hat, wenn von Against Participation2 , einer Bastard Culture3 oder von Albtraum Partizipation4 exemplarisch die Rede ist, reflektieren diese Auseinandersetzungen einerseits den Wandel unserer Gesellschaft und unserer Kultur durch neue Kommunikationsmechanismen und versuchen andererseits, verschiedene Beteiligungsmodelle zu diskutieren und Zuschreibungen zum Begriff selbst zu hinterfragen. Die Partizipation hat mit dem Internet, das seit dem Web 2.0 per se partizipativ ist, eine neue Relevanz erlangt. Neben den kritischen Stimmen diskutiert dieser Artikel vor allem unbewusste und unfreiwillige Formen der Partizipation, wie diese zum Beispiel bereits in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts von den Futuristen und Surrealisten angestoßen wurden.5 Während 1

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Dieser Artikel ist eine überarbeitete Version eines Aufsatzes, der auf Englischin der Publikation Shifting Interfaces der Leuven University Press veröffentlicht wurde. Er basiert auf meiner Monografie: Crowd and Art – Kunst und Partizipation im Internet, Bielefeld: transcript 2017. Vgl. Pfaller, Robert: »Against Participation«, in: ders.: Ästhetik der Interpassivität, Hamburg: Philo Fine Arts 2008, S. 308-322. Vgl. Schäfer, Mirko Tobias: Bastard Culture! How User Participation Transforms Cultural Production, Amsterdam: Amsterdam University Press 2011. Vgl. Miessen, Markus: Albtraum Partizipation, Berlin: Merve 2012. Vgl. Bishop, Claire/Groys, Boris: »Bring the noise: Futurism« (Futurism Exhibition at Tate Modern, London; 12.6.-20.9.2009), https://www.tate.org.uk/tate-etc/issue-16-sum mer-2009/bring-noise vom 09.05.2020.

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Manuela Naveau

diese Formen der Erprobung des öffentlichen Raums damals als künstlerisch subversive Aktionen konzipiert waren, engagieren sich die meisten von uns heute in der digitalen Öffentlichkeit, ohne jemals eine aktive Zustimmung gegeben zu haben. Besondere Bedeutung sollte daher dem kreativen und künstlerischen Aktivismus des Teilnehmens und der Teilhabe beigemessen werden, der sich dem sogenannten »Shopping-Mall Internet« entgegenstellt. Dazu werden im Folgendem Social-Media-Interventionen ebenso vorgestellt wie Netzwerkgenossenschaften oder Beteiligungsmodelle der Netzkunst, um sich schließlich der Frage zu stellen, was diese Beteiligungsstrategien mit Wissen oder Nichtwissen der Beteiligten zu tun haben.

1.

Was bisher geschah …

Unsere Welt ist definitiv im Umbruch und jeder/e spricht von Digitalisierung. Sieht man sich aber das schwerfällige Herantasten von politischen Vertreter/innen auf nationaler als auch auf EU Ebene an das Thema an, zeugt dies doch eher von Ratlosigkeit. Dafür werden gerne Vergleiche mit der industriellen Revolution bemüht, allerdings mit dem Hinweis, dass uns die Zeit bereits davonzulaufen scheint, »denn erstens erlaubt die rapide Vermehrung der Rechenkapazitäten schnelle Fortschritte der künstlichen Intelligenz und Robotik. Und zweitens erlaubt sie die Verarbeitung von Daten in bislang ungeahntem Umfang«.6 Die Politik in Europa kämpft darum, mit dem technologischen Forstschritt mitzuhalten. Doch auch die Industrie ist von Unsicherheiten durchwoben. Medien berufen sich auf Studien und sprechen von fast 50 % der Jobs, die in den nächsten 30 Jahren aufgrund Automatisierungsprozesse bedroht sind.7 Es ist die Rede von neuen Arbeitsfeldern, die entwickelt werden müssen und Vertreter/innen aus der Industrie suchen verstärkt die Zusammenarbeit mit Kultur und Gesellschaft, um sich auf die Zukunft vorzubereiten. Wir befinden uns bereits mitten im Digitalisierungsprozess und scheinen doch nicht zu verstehen, was Digitalisierung bedeutet. »Digital ist ja nicht bloß eine technische Kategorie, sondern ein ontologischer Zustand von Information, ein Aggregatszustand, eine distinktive 6

7

Brost, Marc/Götz, Hamann/Wefing, Heinrich: »Kassenlose Gesellschaft«, in: DIE ZEIT vom 1. Februar 2018, https://www.zeit.de/2018/06/digitalisierung-koalitionsverhandlun g-union-spd/komplettansicht vom 21.8.2020. Vgl. ebd.

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Zustands- und Erscheinungsform von Information, die entsteht, wenn sich Information von den Bedingungen materieller Datenträger löst und als Code, als Folge von 0 und 1, jene ephemere Form annimmt, in der sie in alle denkbaren Ausdrucksformen um- und weiterverrechnet werden und unbegrenzt vervielfältigt und verteilt – also kommuniziert – werden kann. Der Computer ist dabei längst vom Rechner zum universellen Kommunikationsund Kulturapparat geworden, als dessen User wir nicht mehr eine Maschine bedienen, sondern selbst Knoten im Netz sind.«8 Gerfried Stocker bringt hier auf den Punkt, womit wir alle noch ringen: Es geht um ein grundsätzliches Verständnis der Gleichzeitigkeit von unserer physischen Präsenz und unserem digitalen Schatten und der Schwierigkeit, diese Simultanität, die zu gleichen Teilen in unsichtbaren und hypervernetzten Räumen stattfindet, zu denken.9 Unsere vernetzte Realität zwingt uns daher nicht nur über Begriffe wie ›digital‹ und ›physisch real‹, ›Masse‹ und ›Individuum‹, ›öffentlich‹ und ›privat‹ nachzudenken, sondern genau aus dem Grund, da wir selbst als Knoten in einem Netzwerk zu verstehen sind, rücken auch Formen der Beteiligung in den Fokus, die unbewusst oder unfreiwillig passieren. Schlussendlich läuft es auf die Frage hinaus, wie wir mit unseren Körpern in den unterschiedlichen Öffentlichkeiten umgehen bzw. welche Formen von Beteiligung und Involviertheit unsere Körper (sich) leisten können.

8 9

Stocker, Gerfried: »Ein Vorwort«, in: M. Naveau: Crowd and Art, S. 7. Auch wenn zum Beispiel in jüngster Vergangenheit Philosophen und Wissenschaftstheoretiker wie Bruno Latour sich der Fragen zur Komplexität unserer Zeit und Gesellschaft angenommen haben (vgl. Latour, Bruno: An Inquiry Into Modes of Existence – An Anthropology of the Moderns, Cambridge, MA/London, UK: Harvard University Press 2013), wenn die Philosophin Judith Butler die Anwesenheit unsere Körper im sowohl real physischen als auch virtuellen Raum hinterfragt (vgl. Butler, Judith: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, Berlin: Suhrkamp 2016), und wenn die Politikwissenschaftlerin Jodi Dean das Erscheinen von Individuen und Multituden untersucht (Dean, Jodi: Crowds and Party, London, UK/New York, NY: Verso 2016), so mangelt es doch grundsätzlich an einem allgemeinen Verständnis für eine Netzwerk-Kultur, welche auf der wachsenden Digitalisierung unserer Welt und dessen Auswirkungen beruht.

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2.

Beobachtungen von Beteiligungsformen

Folgende Beobachtungen markierten im Jahr 2010 den Beginn meiner theoretischen Auseinandersetzung und inspirierten mich zu meiner Forschungsarbeit zum Thema Crowd and Art: Einerseits verortete ich ein gewisses Nicht-Wahrnehmen, ein großzügiges Ausblenden aktueller Formen von Online-Beteiligungsmodellen in der Fachliteratur zu künstlerischer Partizipation; andererseits erkannte ich die Tatsache, dass sich die Formen der Beteiligung in der Kunst dank Computertechnologie, Internet und Smartphone, also aufgrund der Entwicklung entsprechender Hard- und Software, verändert haben.10 Eine erste Recherche ergab bald, dass eine Unmenge an Konferenzen zum Thema abgehalten wurden und Publikationen zu Partizipation in Kunst, Architektur, Theater und Performance, aber auch im politischen und sozialen Kontext, besonders in edukativen Bereichen, existieren.11 . Es schien jedoch, dass die Schnittstelle zwischen digitalen Medien und Partizipation bisher hauptsächlich von Medienwissenschaftler/innen diskutiert wurde12 und technische Implikationen in den Vordergrund gestellt wurden. Gleichzeitig begann die Welt Kopf zu stehen und sich zu ›empören‹: Vor allem Twitter, das eigentlich auf dem TXTMob Programm demokratischer US-Aktivisten beruht, wurde als Kommunikations- und Koordinationsmittel genutzt, um aktuellste Informationen über polizeiliche Maßnahmen auszutauschen. Neben Twitter ging es darüber hinaus um das clevere Kombinieren von Sozialen Netzwerken, welche die Aufstände ab 2011 beschleunigten. Angetrieben von der Idee und Erwartung neue Formen politischer Organisation zu schaffen, hatten Demonstrant/innen und politische Aktivist/innen – in Moldawien (2009), Iran (2009), Ägypten (2011), Spanien (Movimiento 15-M 2011/12) oder der Türkei (2013), einen großen Einfluss darauf, mit welchen Hoffnungen Soziale Netzwerke aufgeladen wurden. Welche Formen von Beteiligungen werden in diesen Netzwerken jedoch evident? Was bedeutet Aneignung, Täuschung, Instrumentalisierung oder Auslagerung in unserer digitalisierten Welt? Mit welchen Absichten oder Agenden operieren die verschiedenen Teilnehmenden und was hat Beteiligung mit Wissen oder Nicht-Wissen zu tun? Als Kuratorin und Wissenschaftlerin der Ars Electronica Linz sah ich daher die Notwendigkeit, unsere heutige vernetzte

10 11 12

Vgl. M. Naveau: Crowd and Art. Vgl. ebd., S. 21. Vgl. ebd., S. 32.

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Realität mittels ausgewählter künstlerischer Arbeiten zu untersuchen, ohne eine romantisierende bzw. dystopische Haltung einzunehmen. Fallstudien und begleitende Interviews bilden die Basis meiner kulturwissenschaftlichen Abhandlung, die ich im Folgenden hier exemplarisch vorstellen möchte.

3.

Casestudy 1: Die Welt in 24 Stunden von Robert Adrian X

(https://alien.mur.at/rax/24_HOURS/index.html)   Der kanadische und in Wien ansässige Künstler Robert Adrian X begann in den 1970er beziehungsweise Anfang der 1980er-Jahre in Zusammenschluss mit weltweit verteilt agierenden Künstlerkolleg/innen sich mit dem damaligen ›elektronischen Raum‹ zu beschäftigen. Fasziniert von der Idee des vereinfachten, da digitalisierten Austausches von Bildern und Daten, konzipierte und initiierte er 1982 im Auftrag der Ars Electronica Linz Die Welt in 24 Stunden: vom 27. September 1982 zwölf Uhr mittags bis zum 28. September 1982 12 Uhr mittags wurden fünfzehn Städte weltweit im Rahmen des Ars Electronica Festivals miteinander verbunden.13 Es ging ihm um ein gemeinschaftliches Erforschen des elektronischen Raumes mithilfe der damals zugänglichen Telekommunikationsmedien: Über drei simultan genutzte Telefonleitungen14 wurde nicht nur telefoniert oder Telefaksimile15 ausgetauscht, son-

13

14

15

Die Welt in 24 Stunden – das Programm: Am 27. September war Linz um 12:00 mit Wien, Bath und Amsterdam, um 13:00 mit Frankfurt a.M., um 18:00 mit Pittsburgh, um 19:00 mit Toronto, um 21:00 mit Wellfleet, um 22:00 mit San Francisco, um 23:00 mit Vancouver und am 28. September um 03:00 mit Sydney, um 04:00 mit Tokio, um 05:00 mit Honolulu, um 10:00 mit Florenz, um 11:00 mit Istanbul und um 12:00 mit Athen in Kontakt. Der Künstler erwähnte im Interview, dass das Projekt mit fünf Telefonleitungen geplant wurde, von denen aber nur drei schlussendlich funktionierten. Vgl. Adrian X, Robert/Grundmann, Heidi (Manuela Naveau, Wien/Linz 2013), Tonaufnahme und Transkript im Archiv der Autorin. Vgl. Adrian X, Robert: »Elektronischer Raum«, in: Kunstforum International 103 (1989), S. 145. Im Jahr 1982 war Telefax bzw. Fernkopie noch kein alltägliches Hilfsmittel. Heimisch wurde das Faxgerät in europäischen Büros erst Ende der 1980er Jahre, als das zunächst für den Empfang benötigte Thermopapier durch normales Schreibpapier ersetzt werden konnte.

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dern auch Slow-Scan-Television (SSTV)16 und ein internationales ComputerMailbox- und Konferenzsystem der Firma I. P. Sharp (IPSA)17 standen über diese drei Leitungen während der 24 Stunden für den künstlerischen Austausch zur Verfügung. Wichtigste Kriterien bei der Auswahl der benutzten Techniken waren, dass sie verhältnismäßig günstig, einfach zu bedienen und auch in Linz in einer von der Österreichischen Post- und Telegrafenverwaltung (ÖPTV) zugelassenen Form nutzbar waren. Die Faszination für diese weltweite Kommunikation via neuer Netzwerke und Plattformen, die Möglichkeit, Bilder auszutauschen, sowie das Gefühl, andere in einem virtuellen Raum treffen zu können – das zeichnete den Beginn der Internet-Ära aus. Getrieben von dieser Faszination wurden bereits in den 1970er Jahren extrem teure telematische Projekte via Satellit realisiert. Das Besondere an Die Welt in 24 Stunden ist jedoch, dass es eine neue Ära der Telekommunikationskunst einläutete, da es relativ erschwingliche Kommunikationskanäle verwendete und sich somit an ein viel breiteres Publikum wandte, als dies bei den Projekten via Satellit möglich war. Die Einrichtung der Online-Künstlerplattform Artbox/Artex– die im Grunde auf der gleichen Idee wie der Chatrooms oder der generellen Kommunikation im Web 2.0 bzw. auf heutigen Social-MedialPlattformen basierte und diese sehr früh austestete – bereitete den Boden für aktive Partizipation an künstlerischen Prozessen durch ein weltweit verstreutes Publikum. Die Welt in 24 Stunden ist eine – wie der Künstler selbst sagt – »Kommunikationsskulptur«: Ein Experiment mit und von Künstler/innen, das bereits in den 1980er Jahren diese neuen Phänomene untersuchte und zur Diskussion stellte. Es ging nie darum, ein klassisches Kunstwerk zu schaffen (schon der Begriff ›Werk‹ ist für Robert Adrian X ein Begriff aus dem 19. Jahrhundert), sondern die aufkommenden Medien zu untersuchen. Erst wenn die Möglichkeiten eines Mediums verstanden werden, ist der Künstler der Meinung, kann 16 17

SSTV ist eine analoge Betriebsart im Amateurfunkdienst und dient der Übertragung von Standbildern. Es handelt sich hierbei um das Artex-System; Artbox/Artex war einerseits ein NetzwerkKommunikations-Tool, andererseits kann es aber auch als eine der ersten digitalen Künstler-Communities bezeichnet werden. Es bildete eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Projekte wie Die Welt in 24 Stunden oder die von Roy Ascotts initiierten Arbeiten La Plissure du Texte (1983) und Planetary Network (1986) überhaupt stattfinden konnten. Die Begeisterung, mit der die circa 35 Artbox bzw. Artex-Kollaborateure ihre Ideen, Meinungen und Projekte diskutierten, erinnert an erste Erfahrungen mit SocialMedia-Plattformen.

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man dessen weitere Nutzung und Verbreitung kritisch mitbestimmen. Robert Adrian X und viele seiner Künstlerkollegen/innen sehen es als ihre Vermittlungsaufgabe an, diese Medien nicht alleine den an Profit orientierten Firmen zu überlassen, sondern Zugang auch für Einzelpersonen zu ermöglichen, um deren Weiterentwicklung und Verwendung mitzubestimmen oder zumindest Gegenmodelle zu präsentieren.

4.

Casestudy 2: Lizvlx und Hans Bernhard über [V]ote-auction

(https://www.ubermorgen.com/vote-auction.net/)   Begonnen hat die künstlerische Arbeit damit, dass ein amerikanischer Student namens James Baumgartner die Idee hatte, für seine Diplomarbeit am Rensselaer Polytechnic Institute (RPI) in Troy, New York eine Plattform im Netz zu installieren, die Wahlstimmen kauft und verkauft.18 Er bekam sofort nach der Veröffentlichung der Website eine Drohung vom New York Election Committee und wandte sich an The Yes Men, denn ein Mitglied der künstlerischen Aktivistengruppe – damals noch RTMark – war sein Professor am RPI. Dieser wusste, dass diese Art von Website nur außerhalb der Vereinigten Staaten, also außerhalb des direkten Einflusses der amerikanischen Gerichtsbarkeit, ausgetestet werden konnte, und kontaktierte Hans Bernhard und Lizvlx von ubermorgen.com.19 Das Konzept hinter der Plattform [V]oteauction mit dem Untertitel Bringing democracy and capitalism closer together war folgendes: Wähler/innen sollten während des amerikanischen Wahlkampfes im Jahr 2000 (als Al Gore gegen George W. Bush antrat) ihre Wahlstimme an die Plattform verkaufen können, wo sie am Stichtag (7. November 2000) an den Höchstbietenden versteigert werden sollten. Das Projekt war natürlich

18 19

Vgl. im Rhizom Anthology Archiv zu Netzkunst, https://anthology.rhizome.org/vote-a uction vom 09.05.2020. Die Künstler hinter RTMark arbeiteten bereits mit der Künstlergruppe etoy zusammen und kannten daher Hans Bernhard, der ein Gründungsmitglied von etoy war. Wie in Baumgärtel 2001 nachzulesen, verstanden sich die Künstler hinter RTMark weniger als Netzkünstler, sondern eher als politische Netzaktivisten, und unterstützten die Künstlergruppe etoy bei ihrem Rechtsstreit mit dem US-amerikanischen Spielzeugdistributor eToys genauso, wie ubermorgen.com. Vgl. Lizvlx/Bernhard, Hans (Manuela Naveau, Wien 2014), Tonaufnahme und Transkript im Archiv der Autorin.

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ein Schwindel, denn es gab weder Ankäufe noch Verkäufe, es gab jedoch Angebote. Die Berichterstattung zum Projekt war enorm und gipfelte in einem 27-minütigen Bericht auf CNN. FBI, NSA und CIA belangten das Künstlerduo, und selbst die US-amerikanische Juristin, Politikerin und Attorney General Janet Rino schaltete sich ein. Insgesamt sollen 450 Millionen Personen über Medienberichte von dem Projekt erfahren haben.20 Aufgrund der unterschiedlichen Beteiligungsgruppen (US-Bürger/innen, Internet-Ingenieure, Gerichte, Rechtsanwälte sowie Journalisten) gab es auch unterschiedliche Formen der Partizipation. Da waren einerseits die Millionen von US-Amerikaner/innen, die insofern getäuscht wurden, als sie nicht wussten, woran genau sie sich bei [V]ote-auction beteiligten, (unwissentliche, unfreiwillige Beteiligung). Selbst jene, die sich mit Fan- oder Hass-Mails beteiligten, ohne je ihre Stimme zum Kauf anzubieten, waren freiwillige, aber unwissenden Beteiligte. Gerichte und Rechtsanwälte sehe ich als unwissentlich und unfreiwillig Partizipierende, da sie in ihrer eigentlichen Profession ausgenutzt und im Sinne des Projekts instrumentalisiert wurden. Sie mussten aufgrund der juristischen Situation und als Rechtsvertreter reagieren und unterlagen einer Täuschung. Das sture Verfolgen der eigenen Agenda, ohne entsprechende Prüfung oder Verifikation, machte sie zu unfreiwilligen, unwissenden Beteiligten. Die Journalisten jedoch, auch wenn sie unwissend den Tatbestand kommunizierten, waren freiwillig Beteiligte, denn sie nutzen die Situation für ihre eigene Zwecke. Kunst und Partizipation verfolgen scheinbar immer eine bewusste Agenda, die über ein Anliegen hinausgeht. Interessant ist der Unterschied zwischen ›Anliegen‹ und ›Agenda‹: Ein Anliegen umfasst sehr subjektive Wünsche und Hoffnungen und kann daher fast nur im herkömmlichen Sinne auf die aktive Partizipation, die bewusst und freiwillig passiert, übertragen werden. Eine Agenda hingegen ist ein abstrakterer Begriff, der sich objektiv an Strukturen und Funktionen orientiert, um bestmögliche Ergebnisse zu erzielen. Der lateinische Begriff steht allgemein für Das-zu-Tuende, für das, was getan werden muss.21 Anliegen und Agenden sind beide treibende Faktoren hinter partizipatorischen Prozessen und auch wenn die Agenda der Künstler/innen (das Austesten von realen Körpern in digitalen Räumen) nicht sofort erkennbar war, so war doch ihr künstlerisches Anliegen (das kritische Hinterfragen 20 21

Vgl. ebd. Vgl. Wikipedia-Eintrag zum Schlagwort Agenda, http://de.wikipedia.org/wiki/Agenda vom 08.11.2014.

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von Themen und das Ausloten gesellschaftlicher Akzeptanz oder aufständigem Beteiligungswillen) zu erahnen. In diesem Sinne bestätigte die Künstlergruppe ubermorgen.com, dass auch bei (vor-)täuschenden Projekten wie [V]ote-auction von Partizipation gesprochen werden kann. Mit diesem Beispiel sollen daher nicht nur die Arbeit und die künstlerische Praxis von ubermorgen.com präsentiert, sondern auch die immensen kommunikativen Anstrengungen thematisiert werden, die künstlerische Partizipation benötigt.

5.

Casestudy 3: Aaron Koblins The Sheep Market

(http://thesheepmarket.com)   Koblin, »constantly in a schizophrenic battle between my own luddite philosophical tendencies and an overwhelmingly nerdy curiosity in all technological tools«22 , versuchte seinen künstlerischen Anspruch mit dem Hinterfragen neuester technologischer Entwicklungen zu kombinieren. Ihn inspirierte die Tatsache, dass einige Arbeiten von Menschen nach wie vor einfacher zu erledigen sind, als etwa von Computern oder Apparaturen. Dazu kam sein Interesse an zeitgenössischer Kunstpraxis und künstlerischen Arbeitsprozessen. Alles zusammen resultierte im Projekt The Sheep Market. Innerhalb von 40 Tagen erkaufte sich Aaron Koblin über Amazon Mechanical Turk Arbeitskräfte, die der Aufforderung »Zeichne ein Schaf, das nach links schaut« nachkamen.23 Er richtete eine Website ein, die einerseits Hintergrundinformation zum Projekt lieferte und andererseits die 10 000 gesammelten Schafe auf der Startseite wie eine Mosaikwand präsentiert. Klickt man auf ein Schaf, so öffnet sich eine Applikation, und man sieht im Playback-Modus, wie es gezeichnet wurde. So entsteht der Eindruck, als ob man die Person beobachtet, die das ausgewählte Schaf gezeichnet hat. Wie von Geisterhand vervollständigt sich das Bild von selbst, manchmal langsamer, manchmal schneller, manchmal passiert auch für Sekunden nichts. 22

23

Koblin, Aaron: The Sheep Market: Two Cents Worth, unveröffentlichte Abschlussarbeit an der UCLA im Bereich Design/Media Arts, S. 7, artgallery.s3.amazonaws.com/sheepmarket/TheSheepMarket.doc vom 09.05.2020. Da jeder Teilnehmer/in nicht mehr als fünf Schafe laut Plattform zeichnen durfte, liegt die genaue Teilnehmerzahl unter 10 000 Personen. Es ist daher bei der extrem geringen Entlohnung von 10 Cents für fünf Schafe bemerkenswert, wie viele Turker den Arbeitsauftrag annahmen.

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Zwei Cent wurden jedem Online-Worker für ein gezeichnetes Schaf bezahlt, und 10 000 Schafe hat Aaron Koblin gesammelt, was circa elf gezeichneten Schafen pro Stunde entspricht.24 Nicht nur, dass das Honorar für die ›Arbeiter/innen‹ minimal ausfiel, Teil des Projektes war es auch, dass Koblin die gezeichneten Schafe en bloc als Briefmarken für 20 Dollar das Stück verkaufte und noch dazu eine Echtheitsbescheinigung – »a certificate of authenticity« – mitlieferte, was zu intendierten Diskussionen über Urheberschaft bzw. Autorenschaft führte. Das Auslagern von Produktionsprozessen nimmt mit dem Internet eine neuerliche Wendung: Waren bisher eher erfolgreiche Künstler/innen in der Lage, sich ein Team an speziell ausgewählten Assistent/inn/en überhaupt leisten zu können, so können sehr diverse Aufgaben über CrowdsourcingPlattformen schnell und äußerst günstig von anonymen Personen erledigt werden. Anders als bei der herkömmlichen partizipatorischen Kunst, die den Prozess der Produktion von künstlerischen Positionen an ein zumeist eher kunstaffines Publikum outsourct, wird bei Aaron Koblin die Arbeit von Personen erledigt, die keine Beziehung zu Kunst an sich haben müssen. Der Künstler verwendete Amazons Mechanical Turk – ein Art Online-Arbeitsplatz, bei dem Auftraggeber ihre Arbeitsaufträge (Human Intelligence Tasks) in kleinste Teile unterteilen (Microjobs), um diese von meist anonymen Arbeitern/innen (die weltweit verstreut sind) erledigen zu lassen. Der Name bezieht sich auf den berühmten Schachspielautomaten, der im Jahr 1769 von dem österreichisch-ungarischen Hofbeamten und Mechaniker Wolfgang von Kempelen konstruiert wurde. Er funktionierte jedoch nicht als Roboter, sondern es war eine Person, die sich im Automaten versteckte und ihn bediente.25 Es geht bei MTurk also um die menschliche Intelligenz und im Besonderen um das Akkumulieren von Einzellösungen, die aber in der Summe sich durch digitale Tools durchsetzen können und anders funktionieren als die sogenannte Schwarmintelligenz. Letzteres ist auch der Grund, warum nicht von Schwarmlösungen in Bezug zur Arbeit von Koblin oder ähnlichen Crowdsourcing-Projekten gesprochen werden kann.26 24

25 26

Würde eine einzige Person die 10 000 Schafe im gleichen Zeitraum – also innerhalb von 40 Tagen – erstellen wollen, müsste diese Person ca. elf unterschiedliche Schafe pro Stunde oder ca. 250 unterschiedliche Schafe pro Tag zeichnen. Vgl. den Wikipedia-Eintrag zum Schachtürken, http://de.wikipedia.org/wiki/Schacht  %C3 %BCrke vom 29.11.2013. Vgl. Kwastek, Katja: Crowdsourced Art – Die crowdbasierten Kunstprojekte von Aaron Koblin. Unveröffentlichter Beitrag im Archiv der Autorin zum Workshop Crowdsour-

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Während sich die Warhols, Hirsts und Eliassons ihre Arbeitskräfte aussuchen und deren Fähigkeiten kannten und kennen, hatte Koblin keinen Einfluss auf die Auswahl der beteiligten Turker. Im Gegensatz zu Hirst geht es auch nicht darum, dass ein Auftrag perfekt und wie von Computern gesteuert auf die Leinwand27 aufgebracht wird. Bei Koblin wird die persönliche Note pro Schaf (die im Rahmen des vom Künstler zur Verfügung gestellten Interfaces bzw. Eingabe-Zeichen-Tools möglich ist) gesucht, die die Individualität jedes einzelnen Menschen hinter einem Schaf erahnen lässt. Der Künstler wollte die größtmögliche Diversität an Schafzeichungen erreichen und ließ den beteiligten Arbeiter/innen freie Hand in der Art der Darstellung.28 Ganz bewusst gibt Koblin den bezahlten Schafszeichner/innen keine Credits. The Sheep Market von Aaron Koblin weist nicht nur auf wichtige Themen wie den steten Wandel von Arbeit und dessen Wertigkeit in Zeiten von Aufmerksamkeits- sowie virtueller Ökonomie als auch digitaler (Re-)Produktionsprozesse hin, sondern beschäftigt sich gleichzeitig auch mit Fragen der Autorenschaft und des Urheberrechts sowie der menschlichen Kreativität und ihrem Status in unserer vernetzten Gesellschaft. Der Begriff der Partizipation wurde in dieser künstlerisch-forschenden Arbeit entscheidend erweitert, verfremdet und hinterfragt und lässt die Kennzeichen unserer von Social Media geprägten Zeit emergieren: Immaterialität, Simultanität, Prozessualität und das Delegieren von Tätigkeiten an eine unbekannte Crowd online sowie das Aneignen von Informationen von nichtwissenden Beteiligten.      

27 28

cing, Swarm Intelligence, Data Mining und die Wissenschaften. Ludwig-MaximiliansUniversität, München 2013. Da sich die Lösungen der Turker nicht aneinander orientieren und sich ergänzen, kann im Fall von MTurk nicht von Schwarmlösungen oder gar von Schwarmintelligenz gesprochen werden. Ich beziehe mich hier auf die Spot-Paintings von Damien Hirst. Die Diversität der Beiträge ist der Website zur Arbeit erkennbar, wo alle 10 000 Schafe dokumentiert sind, www.thesheepmarket.com/ vom 09.05.2020.

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6.

Casestudy 4: Paolo Cirio und Alessandro Ludovico’s Face to Facebook

(www.face-to-facebook.net/)   Face to Facebook ist ein Facebook-Hack, eine multimediale Installation und, wie die Künstler es selbst definieren, »above all a social experiment«.29 Die Künstler entwendeten Daten und Profilbilder von einer Million FacebookUsern und analysierten sie in einer Datenbank. Es handelte sich dabei um Informationen wie Name, Land und Facebook-Gruppen, bei denen die Personen Mitglied sind. Das Freunde-System auf Facebook ermöglichte den Künstlern eine relativ gute weltweite Streuung an Facebook-Daten zu erzielen, ohne dass sie beim ersten Sammeldurchgang bereits Kriterien anführten. In weiterer Folge brachten sie eine selbst geschriebene Software zum Einsatz, die aus der ersten Datenmenge 250 000 (meist lachende) Gesichter anhand von sechs Merkmalen weiter extrahierte: climber (aufsteigend), easy going (lässig), funny (lustig), mild (sanft), sly (schlau) und smug (selbstgefällig). Die Künstler stellten diese Selektion auf die von ihnen initiierte Online-Partnervermittlungsplattform www.lovely-faces.com und kontaktierten die Auserwählten über Facebook. Kurz darauf musste die Dating-Website aufgrund einer Facebook-Klage offline gestellt werden, ansonsten wurden die Künstler nicht belangt. In Ausstellungen jedoch zeigten sie die DatingWebsite im Kiosk-Modus sowie 250 000 klein ausgedruckte Gesichter. Dazu projizierten sie ein Diagramm mittels Overhead-Projektor, das den Prozess der Softwareentwicklung zum Projekt darstellte. Sicherlich ging es Cirio und Ludovico nicht primär um das Aufzeigen von Systemfehlern von Internetriesen, und sie stahlen die Daten nicht, um einen persönlichen Gewinn oder wirtschaftlichen Vorteil zu generieren. Sie eigneten sich die Daten an, um einerseits den betreffenden Firmen etwas von ihrer Allmacht zu nehmen und andere darüber nachdenken – vielleicht sogar schmunzeln – zu lassen. Andererseits geht es den Künstlern darum, auf künstlerische Weise und mit ihren Methoden der künstlerischen Appropriation Wissen zu vermitteln und im Austausch mit anderen zu diskutieren. Die Kommunikationsmaschinerie rund um das Projekt, die wohl geplanten Presseaussendungen, die Kommunikation mit den Betroffenen und Beteiligten, den Rechtsanwält/innen und 29

Cirio, Paolo/Ludovico, Alessandro, (Manuela Naveau, Linz 2011), Tonaufnahme im Archiv der Autorin.

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Facebook-User/innen, den Journalist/innen und Festivalteilnehmer/innen: All die Gespräche und Konfrontationen waren Teil des Projektes, mit dem Ziel, kritisches Denken gegenüber den – allein auf Profit ausgerichteten – Online-Plattformen anzuregen.30 Es ging vor allem darum, dass man sich die Agenda hinter Beteiligungs-Modellen wie Facebook ansehen solle, die sich Partizipation und Teilnahme auf die Fahnen schreiben. Daraus folgt, dass mit dem Irrglauben oder den Hoffnungen aufgeräumt werden sollte und man sich im Social-Media-Kosmos der Partizipations-Ethik widmen müsste. Dafür haben solche Plattformen jedoch eine zu klare wirtschaftliche Agenda und sind wohl das denkbar ungeeignetste Format dafür.

7.

Teil-nehmen versus Teil-habe und die Logik einer Netzwerk-Kultur

Mit dem Internet wurde ein Medium geschaffen, das per se partizipatorisch ist31 und somit Formen der Beteiligung ermöglichte, die aufgrund einer allgemein eher verklärten Einstellung zur Partizipation aus dem Blickfeld geraten waren. Vor allem möchte ich den Fokus auf unwissentliche und unfreiwillige Formen der künstlerischen Beteiligung lenken und ihre Wichtigkeit am Thema Partizipation zur Diskussion stellen. Denn den zu Partizipation aufrufenden Künstler/innen – egal ob sie zu einer aktiven Beteiligung an ihren Arbeiten einladen, passive Beteiligung zulassen oder sich Beteiligung unwissentlich und/oder unfreiwillig aneignen – geht es meist um ein sozialpolitisches Anliegen, um das Eingreifen in bestehende Systeme, das Hinterfragen von angebotener Technologie sowie deren zukünftigen Entwicklungen (Die Welt in 24 Stunden). Es geht um Fragestellungen bezüglich des Aktivierungsgrades der Beteiligten und darum, dass ernst gemeinte Beteiligungsangebote eine Führung/ein Kümmern benötigen und einen ungemein hohen Kommunikationsaufwand mit sich bringen ([V]ote-auction). Es geht vor allem um die Fragestellung, wie künstlerische Interventionen die Intentionen der OnlinePlattformen offenlegen und Autorenschaft und Urheberrechte angesichts ei-

30 31

Vgl. Cirio, Paolo: »Face to Facebook 2011«, in: TEA BREAK. Konferenzpublikation zur Ausstellung: Collective Wisdom. Technology, Entertainment, Art, Taichung 2012. Tim O’Reilly, welcher den Ausdruck Web 2.0 prägte, beschreibt das Softwaredesign der Webservices als »Architecture of Participation«, http://oreilly.com/web2/archive/whatis-web-20.html vom 12.02.2018.

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ner vernetzten Realität hinterfragen können (Aaron Koblins crowdsourced art). Es geht nicht darum, die bereits bestehende Online-Welt dystopisch darzustellen, sondern Beteiligungsmechanismen transparent zu machen und eine kritische Reflexion anzustoßen (Face to Facebook), um so eine gewisse Entmythisierung von Partizipation ganz allgemein zu erreichen. Alle hier vorgestellten zur Beteiligung angelegten künstlerischen Arbeiten und Prozesse verbindet ein Moment: Sie sprengen den Kunstraum und suchen die Auseinandersetzung (ob mittels wissentlicher oder unwissentlicher, ob freiwilliger oder unfreiwilliger Beteiligung) mit Personen außerhalb der Kunstwelt, da sie weniger Utopien entwerfen als vielmehr die Realität unter die Lupe nehmen und destillieren. So werden Prozesse sichtbar, und es geht weniger darum, Objekte oder Relikte für Ausstellungen zu generieren. Es ist klar (zumindest im Nachhinein), wer die Autor/innen, Initiator/innen oder Künstler/innen hinter einem Projekt sind, die die Spielregeln zur Beteiligung vergeben, auch wenn sie sich im Prozess der Arbeit selbst oft nicht zu erkennen geben ([V]ote-auction, Face to Facebook). Es wird versucht zu zeigen, dass – wenn auch eindeutig eine Entwertung der Autorenschaft zu erkennen ist – man nicht von einer Aufhebung der selbigen sprechen kann, genauso wenig wie von flachen Hierarchien und gleichmäßig verteilten Verantwortlichkeiten oder gemeinsamer Kontrolle.32 In den hier vorgestellten künstlerischen Projekten wird deutlich, dass es zu kurz gegriffen scheint, wenn die aktuellen kunsttheoretischen Diskurse über Partizipation in der Kunst jene Medienkünstler/innen oder Künstler/innen außer Acht lassen, die offene Produktions-, Präsentations- oder Distributionsprozesse über das Internet oder vernetzte Devices initiierten. Die vorliegende Analyse von Partizipationsmodellen unterscheidet daher einerseits zwischen Angeboten zur Beteiligung (klassische Beteiligung oder Beteiligung als Aneignung, Täuschung oder Instrumentalisierung) und geht andererseits näher auf den Wirkungsgrad der Beteiligung seitens der Rezipient/innen (wissentlich/nicht wissentlich, freiwillig/nicht freiwillig) ein. Vier Angebots- bzw. Beteiligungsformen werden dabei im Kontext mit den Erkenntnissen aus den Beispielen evident: 32

Diese Erfahrung deckt sich auch mit meiner Beobachtung zu Projekten aus der Kategorie Digital Communities des Prix Ars Electronica. Auch wenn eine Community das Projekt z.B. durch ständige Beiträge ihrer Mitglieder am Leben erhält, so benötigt doch jede Community ausgewiesene ›Kümmerer‹, die sich verantwortlich fühlen. Dieses ›Kümmern‹ impliziert jedoch z.B. auch Führen oder Kontrollieren, also Begriffe, die mit Communities, Kollaboration oder Partizipation nicht gerne in Verbindung gebracht werden.

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Rezeption: Wissentliche und freiwillige Partizipation Angebot: klassisches Prinzip der Partizipation

Rezeption: Unwissentliche und unfreiwillige Partizipation Angebot: Prinzip der Aneignung

Rezeption: Freiwillige, jedoch unwissentliche Partizipation Angebot: Prinzip der Täuschung

Rezeption: Unfreiwillige, jedoch wissentliche Partizipation Angebot: Prinzip der Instrumentalisierung Dass dabei der Umfang der Beteiligung nicht als Maßstab fungieren kann, sondern dass Partizipation eine Methode vor allem zur Wissensgenerierung darstellt und es sich dabei nicht primär um eine ästhetische Diskussion handelt, davon spricht bereits Umberto Eco, als er sich Ende der 1950er Jahre mit dem ›offenen Kunstwerk‹ und vor allem dem ›Kunstwerk in Bewegung‹ beschäftigte.33 Beteiligung (ob wissentlich oder nicht wissentlich, ob freiwillig oder nicht freiwillig) basiert also auf Beobachtung, auf dem Generieren von Erfahrungen und Wissen, ausgelöst durch Beteiligte. In diesem Sinne kann es daher keine Wertung der Art der Partizipation geben, und so wie es keine Als-ob-Partizipation geben kann, kann es auch keine nicht funktionierende Partizipation geben, denn, wenn Beteiligung stattfindet, dann impliziert dies immer ein Wissen, das generiert werden will.

33

Im Das Offene Kunstwerk schreibt Umberto Eco den offenen Kunstwerken vor allem eine »Funktion als epistemologische Metapher« zu, da herkömmliche Bewertungskriterien wie Ästhetik und Schönheit nicht mehr greifen. Er argumentiert: »… in einer Welt, in der die Diskontinuität der Phänomene die Möglichkeit für ein einheitliches und definitives Weltbild in Frage gestellt hat, zeigt sie [die epistemologische Metapher] uns einen Weg, wie wir diese Welt, in der wir leben, sehen und damit anerkennen und unsere Sensibilität integrieren können. Ein offenes Kunstwerk stellt sich der Aufgabe, uns ein Bild von der Diskontinuität zu geben: es erzählt sie nicht, sondern ist sie. Es vermittelt zwischen der abstrakten Kategorie der Wissenschaft und der lebendigen Materie unserer Sinnlichkeit und erscheint so als eine Art von transzendentalem Schema, das es uns ermöglicht, neue Aspekte der Welt zu erfassen.« Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2 1977 (Original 1962), S. 159.

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Dies bedeutet jedoch auch, dass Wissen nicht ohne Beteiligte, nicht ohne Publikum, nicht ohne die unbekannten Anderen online generiert werden kann, die sich beteiligen lassen. Zwei wichtige Erkenntnisse bilden die Basis für diese Überlegung zur Frage des Publikums: Dass Partizipation in der Kunst mehr ist als ein Community-Projekt, darüber schrieb bereits Christian Kravagna im Jahr 1998.34 Dass künstlerische Partizipation nicht ausschließlich im Konsens mit dem Publikum passieren muss, darauf wies bereits Claire Bishop hin.35 Die hier vorgestellten Fallstudien haben gezeigt, dass Partizipation vor allem zugewiesene (Kunst-)Räume verlassen möchte, um in Kommunikation mit ›den Anderen‹ zu treten, für die das herkömmliche Verständnis und Vorstellung von Publikum, Rezipient/in oder Betrachter/in nicht mehr zutrifft. ›Die Anderen‹ sind in den digitalen Netzen unsichtbar, meistens kennt man sie nicht, und diese Fremdheit macht es aus, dass Künstler/innen mit ihnen zusammenarbeiten möchten und sich von ihnen angezogen fühlen. Eine Fremdheit, die – wie der Philosoph Robert Pfaller ausführt – deswegen so interessant ist, weil sie mit den unwissenden und unschuldigen Anderen spielt, die im System Kunst sonst kaum mehr anzutreffen sind.36 Auch wenn sich viele Künstler/innen und Kunsttheoretiker/innen einig zu sein scheinen, dass es sich bei künstlerischer Partizipation eher um Prozesse handelt als um die Gestaltung von physischen Objekten, und Kunstschaffende ihre Arbeiten öffnen, um andere teilnehmen zu lassen, so versucht diese theoretische Aufarbeitung zu unterstreichen, dass nicht von einer Aufhebung der Autorenschaft gesprochen werden kann, jedoch von einer Um- oder Neubewertung. Zwei Beispiele ([V]ote-auction, Face to Facebook) haben gezeigt, dass die Künstler/innen bei der Entstehung der Arbeit oft keinen Wert darauflegten, genannt oder mit der selbigen in Verbindung gebracht zu werden. Aufgrund der subversiven Anlage des Projektes ist es sogar wichtig, nicht erkannt zu werden. Außerdem arbeiten Künstler/innen oft mit Personen aus unterschiedlichen Disziplinen zusammen, etwa mit Programmierer/innen,

34

35 36

Vgl. Kravagna, Christian: Working on the community: models of participatory practice, in: Dezeuze, Anna: The ›do-it-yourself‹ artwork. Participation from Fluxus to new media, Manchester, UK/New York, NY: Manchester University Press 2010, S. 240-256. Vgl. Bishop, Claire: Antagonism and Relational Aesthetics, in: A. Dezeuze (Hg.): The ›do-it-yourself‹ artwork, S. 257-280. Vgl. M. Naveau: Crowd and Art, S. 239.

CROWD and ART

kreativen Technolog/innen oder »Internet-Ingenieuren«37 , mit denen sie auch die Credits teilen. Internet-Phänomene wie Karen Eliot (auch Karen Elliot geschrieben) – ein Pseudonym für unterschiedliche Künstler/innen, die weltweit unter demselben Namen firmieren – bestätigen die Notwendigkeit eines Umdenkens zu Wertvorstellungen von Autor/in, Urheber/in und Besitzer/in. ›Kunst mit einer Agenda‹ scheint eine zutreffende Beschreibung für unterschiedliche Ansätze in partizipatorischen Prozessen zu sein. Dass diese Anliegen nicht immer ausschließlich künstlerischer Natur sind, sondern auch von Institutionen, der Politik oder anderen gesellschaftlichen Vertreter/innen formuliert werden, resultiert aus der Tatsache, dass künstlerische Partizipation oft als schmückender Terminus verwendet wird, um zu gefallen. ›Partizipation‹ mutierte zu einem gern gehörten Label, da es eine Art spielerische Beteiligung suggeriert und von politischen oder wissenschaftlichen Vertretern als Legitimierung ihrer Zielvorhaben gebraucht wird, ohne dass diese wirklich an Beteiligung per se interessiert wären. Partizipation ist als Methode jedoch nicht darauf ausgerichtet, sich selbst genügen zu wollen, denn Beteiligung der Beteiligung willen, macht wenig Sinn. Wenn ursprünglich von der Annahme ausgegangen wurde, dass Partizipation mit Kommunikation, Austausch und Vermittlung zu tun hat, so bestätigen die Fallstudien, dass ein enorm hoher Aufwand im Dialog mit den Beteiligten notwendig ist, wenn Partizipation ernst genommen wird. Dies trifft vor allem bei Formen unwissentlicher und unfreiwilliger Online-Beteiligung zu, da die Künstler/innen hinter solchen Projekten meist eine Irritation bei den Beteiligten hervorrufen, die erst im Laufe des künstlerischen Prozesses aufgelöst wird. Wie die Fallstudien zeigen, bedarf es einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Medium Internet, da es eine Agenda auf Meta-Ebene beinhaltet38 und trotz kollaborativer und gemeinschaftlich erarbeiteter Inhalte skeptisch hinterfragt werden muss, wer im Hintergrund agiert. Dass eine rigide Auffassung von Partizipation die epistemologischen Möglichkeiten einschränkt, im Gegensatz jedoch das Spiel und der Mut zur 37

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Vgl. ebd., S. 183-191; Case Study zu [V]ote-auction (2000) und andere Arbeiten von Lizvlx und Hans Bernhard von ubermorgen.com und ihre Sicht eines Neuen Wiener Aktionismus. Die Fragen – wer will, dass ich mich wie und woran genau beteilige und welches Wissen wird durch die Beteiligung vieler anderer erwartet? – sind im Online-Kontext oft schwierig zu erkennen. Hinter jeder Plattform oder jedem Projekt stehen jedoch Menschen mit einer Agenda oder einem Anliegen, die es zu verstehen gilt, denn die konstruierten Interfaces und Plattformen spiegeln genau diese/s wieder.

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Offenheit, der Zufall oder der Prozess bzw. das Prozessuale wichtige Faktoren für einen erkenntnistheoretischen Mehrwert von Partizipation sind, machen die hier vorliegenden Ausführungen mehr als deutlich. In einer digitalen Welt sind »Zufälle Regeln unterworfen«.39 Der Zufall hat es in der digitalen Welt schwer, denn eigentlich ist er verbannt oder vorprogrammiert, und wahrhaft Zufälliges kann eigentlich nur dann entstehen, wenn eine Störung auftritt. ›Die Anderen‹, die Beteiligten können ein solcher Störfaktor sein, da ihre Reaktionen (wie zum Beispiel das Hintergehen von Systemen) und Tätigkeiten (wie zum Beispiel das Ein- und Ausschalten von Systemen) weder vorprogrammierbar noch prognostizierbar sind. Der Mensch als Garant für Zufälliges in digitalen Netzwerken ist nicht nur verantwortlich dafür, dass Maschinen so laufen, wie sie laufen, sondern auch dafür, dass sie hin und wieder nicht oder anders laufen. Kritisch müssen ›die Anderen‹ und das Thema der Online-Vernetzung auch dann betrachtet werden, wenn sie als Masse, Mob, Crowd oder als eine Ansammlung von Individuen online beschrieben werden. Es fehlen uns einerseits die Begriffe für die vernetzten Multituden, und andererseits dürfen wir nicht der Versuchung erliegen, zu glauben, dass ethische und moralische Korrektheit das Hauptanliegen jener sei, die sich online zeigen oder formieren. Es handelt sich um Menschen, die online mehr oder weniger so agieren, wie sie sich im physischen Raum präsentieren.40 Die Frage ist eigentlich (und hier beziehe ich mich auf Jaron Lanier und Robert Adrian X), wie wir mit der Unsichtbarkeit im Netz umgehen und das sichtbar machen, was uns und anderen Wissen bringt.

39 40

Vgl. Kim, Anna: Der Sichtbare Feind. Die Gewalt des Öffentlichen und das Recht auf Privatheit, St. Pölten/Salzburg/Wien: Residenz 2015, S. 10. Im Besonderen sei hier auf die Rede und den Ausdruck »Rudelschalter« von Jaron Lanier zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahr 2014 verwiesen, der meint: »Nach dieser Theorie sind Menschen Wölfe; wir gehören zu einer Spezies, die als Individuum oder als Rudel funktionieren kann. In uns ist ein Schalter. Und wir neigen dazu, uns immer wieder plötzlich in Rudel zu verwandeln, ohne dass wir es selbst bemerken. Wenn es eines gibt, dass mich am Internet ängstigt, dann dies: Es ist ein Medium, das ›Flashmobs‹ auslösen kann und regelmäßig schlagartig ›virale‹ Trends schafft. Zwar haben diese Effekte bisher noch keinen größeren Schaden angerichtet, aber was haben wir im Gegenzug getan, um sie zu verhindern?« Ebd., S. 22.

CROWD and ART

8.

Final Comments

Das Informationszeitalter hat mit Personen wie Paul Otlet und H.G. Wells begonnen, die eine Demokratisierung von Wissen durch die Erleichterung des Zugangs zu Wissen erreichen wollten. Wir befinden uns mittlerweile allerdings im Zeitalter der Beteiligung: Wir haben Einfluss darauf, ob das Internet fast ausschließlich von kommerziell orientierten Plattformen bevölkert wird, oder ob wir mit Netz-Plattformen und Platform Cooperativism41 sowie Digital Commons42 neue Wege in Richtung von dezentraler Vernetztheit und selbstorganisierter Gesellschaft gehen. Wir haben auch Einfluss darauf, was auf die weltweiten Server eingespeist und wie diese Inhalte vermittelt werden – ein Recht und Privileg unserer Zeit, das es zu nutzen gilt. Auch wenn wir wissen, dass wir nicht die Inhaber/innen der Server sind, wir nicht mitbestimmen können, was mit den Servern passiert, noch verstehen, was Algorithmen und selbstlernende Systeme in den digitalen Netzen mit uns machen – wir haben zumindest einen Fuß in der Tür. Schlussendlich möchte ich die Frage aufwerfen, inwieweit Kunstschaffende mit ihren netzbasierten partizipatorischen Arbeiten (ob wissentlich und/oder nicht, ob freiwillig und/oder nicht) versuchen, ein abstrahiertes Modell unserer Welt erfahrbar zu machen, als Ersatz für eine noch fehlende Ethik der Netzwerk-Kultur. »Niemand weiß, worum es geht. Man kann nicht in der Vergangenheit lesen, wohin es in Zukunft gehen wird […], man kann den Leuten nicht trauen, die noch nie ein Telefon genutzt haben. Diese Gleichzeitigkeit, diese Simultanität, die wir jetzt haben […], das ist alles völlig neu. Auch werden die Geräte immer unsichtbarer, so wie das Internet an sich unsichtbar ist. Und mit dieser Situation können wir nur schwer theoretisch umgehen.«43 Robert Adrian X

41 42 43

Vgl. Platform Cooperativism von Trebor Scholz, https://platform.coop/ vom 13.10.2019. Im Besonderen sei hier auf die Arbeit der P2P Foundation verwiesen, https://p2pfoun dation.net/ vom 13.10.2019. Adrian X, Robert/Grundmann, Heidi (Manuela Naveau, Wien/Linz 2013), Tonaufnahme und Transkript im Archiv der Autorin.

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Filterblasen als postmodern modelliertes Öffentlichkeitsphänomen Eine Analyse mithilfe der Theorien Jean-François Lyotards und Friedrich Kittlers Calvin Kiesel

Dieser Beitrag widmet sich der Frage, inwiefern das aufgrund der Personalisierung der Datenflüsse im Netz diagnostizierte Phänomen der Filterblasen in einem Kontrast dazu steht, was moderne Theorien der Öffentlichkeit beschreiben und fordern, und inwiefern diese neue Erscheinung eher einem postmodernen Bild der Kommunikation entspricht. Dabei wird in drei Schritten vorgegangen: Erstens sollen Grundzüge eines modernen Öffentlichkeitsmodells skizziert werden, wobei Überlegungen von Immanuel Kant und Jürgen Habermas herangezogen werden, deren Gemeinsamkeiten als paradigmatische Elemente der für die Moderne prägenden Theorie der Öffentlichkeit gesehen werden. Zweitens werden bestimmende Charakteristika des Phänomens der Filterblasen herausgearbeitet, um daran anschließend nachzuweisen, dass diese dem modernen Modell öffentlicher Kommunikation nicht entsprechen, sondern mit diesem konfligieren. Drittens wird mit Bezugnahme auf zentrale Elemente der Sprach- und Medientheorien Jean-François Lyotards und Friedrich Kittlers gezeigt, dass das im medialen Öffentlichkeitsraum des Internets auftauchende neue Phänomen der Filterblasen eher dem Bild entspricht, das postmoderne Theorien der Kommunikation zeichnen (wenngleich Filterblasen zur Entstehungszeit dieser Theorien noch nicht beschrieben wurden).1 1

Die Überlegung, in welchem Verhältnis das Phänomen der Filterblasen zu modernen und postmodernen Theorien öffentlicher Kommunikation steht, spielt auch in meinem Aufsatz »Philosophische Kritik der Filterblasen. Eine Konfrontation der modernen Öffentlichkeitskonzeption bei Kant und Habermas mit postmodernen Theorien.« eine Rolle, allerdings mit einem anderen Schwerpunkt. Während der genannte Text

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Calvin Kiesel

1.

Elemente des Öffentlichkeitsbegriffs der Moderne

Als Pionier der theoretischen Auseinandersetzung mit der Öffentlichkeit kann Immanuel Kant gelten, insofern der Begriff »öffentlich« in seinen Ausführungen zu sozialer und politischer Beteiligung maßgebliches Gewicht erhält. Einige bedeutende Facetten seiner Überlegungen zu diesem Thema sollen deshalb an dieser Stelle skizziert werden. Zum Ersten ist öffentlicher Vernunftgebrauch nach Kant die unerlässliche Bedingung für gelingende Aufklärung: »Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste […], nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.«2 Freiheit von äußeren Beschränkungen ist somit ein erstes Charakteristikum des geforderten Vernunftgebrauchs in der Öffentlichkeit. Zum Zweiten wird Aufklärung wirksam, wenn das Potenzial, »sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen«3 , sowie dessen Umsetzung gefördert werden. Die Voraussetzung dazu sind Subjekte, die mit Vernunft begabt sind und selbst denken können. Zum Dritten verlangt die Ausbreitung des Selbstdenkens deshalb Öffentlichkeit, weil die Wahrnehmbarkeit couragierter Einzelner nötig ist, damit eine große Zahl den Mut gewinnt, deren Beispiel zu folgen und die eigene Vernunft einzusetzen. Aus diesem Grund ist es kaum vorstellbar, dass jede/r allein sich aufklärt, dass »aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich«.4 Einem Publikum ist die Aufklärung möglich, was aber nicht bedeutet, dass es die Aufgabe der Individuen, selbst zu denken, übernehmen kann, sondern es soll sie darin fördern, dieser nachzukommen. Aufgrund der

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3 4

die im vorliegenden Beitrag weitgehend beiseitegelassene Frage fokussiert, ob moderne oder postmoderne Ansätze hinsichtlich ihres normativen Potenzials zur Bewertung der Filterblasen stärker überzeugen, konzentriert sich der vorliegende Text auf die deskriptiven Möglichkeiten dieser Theorien, die insbesondere im Falle der Nutzung des Sprachmodells Lyotards zur Analyse stärker ausgeschöpft werden. Vgl. Kiesel, Calvin: Philosophische Kritik der Filterblasen. Eine Konfrontation der modernen Öffentlichkeitskonzeption bei Kant und Habermas mit postmodernen Theorien, Wien: danzig & unfried (im Erscheinen). Kant, Immanuel: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, in: ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, 1 (Werkausgabe Band XI., hg. v. Wilhelm Weischedel), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 51-61, hier A 484. Ebd., A 481. Ebd., A 483.

Filterblasen als postmodern modelliertes Öffentlichkeitsphänomen

geforderten Freiheit des öffentlichen Vernunftgebrauchs können auch Staat und Religion einer Kritik unterzogen werden. Zum Vierten erhofft sich Kant einen Rechtsfortschritt, der von einem Diskurs über die Gesetzgebung ermöglicht werden soll, welchen ein selbstdenkendes Publikum führt.5 Kants Friedensschrift zufolge finden politischer und rechtlicher Fortschritt in der Öffentlichkeit aber nicht nur förderliche Bedingungen, sondern sogar einen Gradmesser: Ob politische Ziele legitim sind, hängt davon ab, ob sie öffentlich bekanntgegeben werden können, ohne dass mit Gewissheit ihre Realisierung aufgrund von sofort folgenden Widerständen ausgeschlossen werden kann. Publizität – die mögliche allgemeine Zustimmung in der Öffentlichkeit – wird zum Bewertungskriterium in der Politik.6 Habermas knüpft an Kants Überlegungen zu öffentlicher Kommunikation an, skizziert zuvor aber auch die Entstehungsgeschichte der Öffentlichkeit. Damit betont er, dass Öffentlichkeit nicht stets schon existierte, sondern sich sowohl die damit klassischerweise benannte soziale Wirklichkeit als auch die mit ihr verbundene normative Idee erst entwickeln mussten – und sie somit als geschichtlich entstandene Kategorie grundsätzlich auch möglichen Veränderungen unterworfen ist. Erst mit der Konstitution neuer Strukturen des Staates sowie des Nachrichten- und Warenverkehrs im 18. Jahrhundert ergab sich die Differenzierung zwischen der modernen Öffentlichkeit und der privaten Sphäre der Familie, wodurch der Begriff der Öffentlichkeit seinen bis heute gültigen Sinn erhielt.7 Schon bald wurden in den neuen Diskursstrukturen auch die staatlichen Instanzen mit Kritik konfrontiert, wobei die Konstitution des englischen Parlamentarismus von paradigmatischer Bedeutung war: Die parlamentarischen Verhandlungen geschahen unter Beobachtung der Öffentlichkeit, wodurch das von seiner Vernunft Gebrauch machende Publikum am Diskurs teilnehmen konnte. Auch in wissenschaftlichen Diskursen wurde die in der Gesellschaft entstandene Öffentlichkeit wahrgenommen und theoretisch reflektiert. Besonders Kant wird von Habermas als Theoretiker der Öffentlichkeit gewürdigt – ihm zufolge »findet die Idee der bürgerlichen Öffentlichkeit mit der rechtsund geschichtsphilosophischen Entfaltung des Prinzips der Publizität durch

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Vgl. ebd., A 494. Vgl. Kant, Immanuel: »Zum ewigen Frieden.«, in: ders., Schriften zur Anthropologie, S. 191-251, hier B 110/A 103. Vgl. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 14 2015, S. 54-121.

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Kant ihre theoretisch ausgereifte Gestalt.«8 Jedoch bemerkt Habermas auch kritisch, dass Kant privates Eigentum (dessen Erwerb dieser für jeden grundsätzlich für möglich hält) als Bedingung für öffentliche politische Partizipation ansieht.9 Hegel und Marx sahen später das Problem in derartigen Einschränkungen des Zugangs zum Diskurs der modernen Öffentlichkeit und erkannten auch deren soziales Konfliktpotenzial.10 Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts ereignete sich nach Habermas eine fundamentale Transformation der Öffentlichkeitsstrukturen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Diese Veränderung hat im Wesentlichen zwei Seiten: »[Öffentlichkeit] durchdringt immer weitere Sphären der Gesellschaft und verliert gleichzeitig ihre politische Funktion, nämlich die veröffentlichten Tatbestände der Kontrolle eines kritischen Publikums zu unterwerfen.«11 Habermas differenziert zwischen einem politischen Funktionswandel und einem sozialen Strukturwandel der Öffentlichkeit. Hinsichtlich des sozialen Wandels wird die Trennlinie zwischen Öffentlichkeit und privater Sphäre unscharf. So kommt es einerseits bei der Erfüllung öffentlicher Verwaltungsaufgaben zu einem Einsatz privatrechtlicher Mittel, andererseits verliert die Familie die alleinige Zuständigkeit in Erziehungsangelegenheiten, die nun häufiger auch staatlich organisiert werden. Darüber hinaus hat der wirtschaftlich-soziale Wandel der kulturellen Öffentlichkeit hin zum Kulturkonsum als Massenerscheinung zur Folge, dass kulturelle Phänomene als Konsumgüter der Unterhaltung und Entspannung ihre Funktion der politischen Kritik zunehmend einbüßen.12 Ebenso kommt es zu einer Funktions- und Strukturveränderung der politischen Öffentlichkeit. Der Schwerpunkt der politischen Beschlussfindung verschiebt sich von öffentlichen Parlamentssitzungen zu Ausschüssen und Beratungen der Fraktionen im Vorfeld sowie in Richtung

8 9 10

11 12

Ebd., S. 178. Vgl. ebd., S. 186-188. Nicht nur Besitzlosen, auch Frauen ist in Kants Konzeption der Zugang zur Öffentlichkeit aufgrund von Begrenzungen seiner Rechtsphilosophie verwehrt, was nicht übersehen werden sollte. Wenngleich diese Beschränkung des Anwendungsbereichs des Öffentlichkeitsbegriffs Kants scharf zu kritisieren und entschieden aufzuheben ist, verliert dieser dadurch noch nicht seine normative Relevanz (Vgl. Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten [Werkausgabe Band VIII, hg. v. Wilhelm Weischedel], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 303-634). J. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 223. Vgl. ebd., S. 225-274.

Filterblasen als postmodern modelliertes Öffentlichkeitsphänomen

der Parteiorganisationen und Verbände. Der politische Beschlussprozess wird der Öffentlichkeit somit in einem beträchtlichen Ausmaß wieder entzogen – und wo sie mit ihm betraut wird, gibt es Beeinflussungsversuche durch manipulative Werbung, wie die regelmäßigen Wahlkampagnen belegen. Solche Wahlauseinandersetzungen erfüllen die Anforderungen vernunftbestimmter Diskussion selbstdenkender Privatpersonen einer politischen Öffentlichkeit nicht mehr.13 Es soll hier speziell hervorgehoben werden, dass Habermasʼ Ausführungen über die Bildung und Veränderung der Öffentlichkeit seit dem 18. Jahrhundert keineswegs nur eine soziologische oder historische Beschreibung sind, sondern dass diese Prozesse auch normativ beurteilt werden. Habermas konzipiert einen normativen Begriff der Öffentlichkeit, in dessen Lichte er Vorgänge der sozialen Wirklichkeit kritisch bewertet. In seinem Denkansatz wird »›politische Öffentlichkeit‹ […] zum Grundbegriff einer normativ angelegten Demokratietheorie.«14 In einer konzisen Bestimmung erklärt Habermas: »[E]ine politisch funktionierende Öffentlichkeit […] soll voluntas in eine ratio überführen, die sich in der öffentlichen Konkurrenz der privaten Argumente als der Konsensus über das im allgemeinen Interesse praktisch Notwendige herstellt.« 15 Die unterschiedlichen Facetten dieser Charakterisierung von Öffentlichkeit gilt es im Einzelnen zu bedenken. Zum Ersten soll das allgemeine Interesse durch einen Konsens ermittelt werden, wobei strenge Allgemeinheit nicht schon durch einen Majoritätsbeschluss oder einen Ausgleich von Individualinteressen gewährleistet ist. Ein solcher Konsens soll sich aus der Konkurrenz privater Argumente ergeben, wodurch ein zweiter wesentlicher Aspekt in der

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14 15

Vgl. ebd., S. 275-342. Diese Diagnose der Wahlkämpfe stellte Habermas im Jahre 1961 im Lichte seiner Beurteilungsnorm für öffentliche Diskurse. Seither haben die Arten verschiedener Kommunikationsflüsse und Beeinflussungsmöglichkeiten in politischen Auseinandersetzungen stark zugenommen und sich gewandelt (z.B. Fernsehduelle, Lobbying, politische Onlinewerbung), wobei für sie jeweils zu überlegen und bewerten ist, inwiefern sie die Forderungen eines öffentlichen Vernunftdiskurses erfüllen. Der vorliegende Beitrag fokussiert jedoch nicht alle medialen Diskursneuerungen, sondern konzentriert sich ausschließlich auf das Phänomen der Filterblasen bei Datenflüssen im Netz. Ebd., S. 38. Dieses normative Konzept der Öffentlichkeit verbindet Habermas auch mit den moralphilosophischen Prinzipien der Diskursethik (vgl. ebd., S. 39f). Ebd., S. 153, Herv. i.O.

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Nachreihung der Argumente von Interessensverbänden gegenüber jenen von Privatpersonen besteht. Zum Dritten wird eine Konkurrenz der Argumente des »Für und Wider«16 gefordert – es bedarf also einer öffentlichen Konfrontation von Argumenten und Gegenargumenten, da ein Aufeinandertreffen gleicher Überzeugungen nicht ausreicht. Zum Vierten verlangt der normative Begriff der Öffentlichkeit einen rationalen Prozess der Diskussion, der den Konsens schlussendlich ermöglicht. Diese Rationalität wird dadurch gewährleistet, dass keine bloßen Meinungen ausgedrückt oder gar manipuliert werden, sondern Argumente vorgebracht werden, welche »immerhin Gesetzen der Logik verpflichtet«17 sind. Habermasʼ kritische Bewertungen geschichtlicher Transformationen haben in diesem normativen Öffentlichkeitsbegriff ihre Basis. Der Kritik des von Kant noch akzeptierten Ausschlusses Besitzloser von der bürgerlichen Öffentlichkeit liegt die Forderung nach einer über exklusive Individualoder Gruppeninteressen hinausgehenden Allgemeinheit des öffentlichen Interesses zugrunde. Die kritische Bewertung politischer Parteien als zentraler Faktoren der Willensbildung basiert auf der Forderung des Austauschs privater Argumente statt der Ansprüche bloßer Interessensvertretungen. Die Grundlage der Vorbehalte gegenüber der Kulturindustrie und der Werbung in Wahlkämpfen bildet die Rationalitäts- und Argumentationsforderung: Begründungen sind entscheidend, nicht Unterhaltungs- oder Sympathiewerte. Obwohl Habermas Kant hinsichtlich der Zugangsvoraussetzungen der Öffentlichkeit widerspricht, nimmt er zentrale Überlegungen von ihm auf, sodass die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede dieser beiden Autoren Aufschluss über bedeutende Elemente eines modernen Öffentlichkeitsbegriffs geben. Erstens erheben beide die Forderung nach einem freien Diskurs, der von selbstbestimmten Personen geführt und nicht von staatlichen Einschränkungen oder Interessensverbänden bestimmt werden soll. Zweitens zeigt sich in Kants Würdigung des Vernunftgebrauchs rationaler Subjekte sowie in Habermasʼ Anspruch auf den Austausch rationaler Argumente, dass beide Denker eine Rationalitätsforderung ins Zentrum ihrer Überlegungen stellen. Drittens denken beide den rationalen Diskurs als einen sozialen Vorgang mit einem Allgemeinheitsanspruch: Publizität – die realistische Perspektive allgemeiner Zustimmung in der Gesellschaft – wird bei Kant zur fundamentalen politischen Norm und auch für Habermas 16 17

Ebd., S. 325. Ebd.

Filterblasen als postmodern modelliertes Öffentlichkeitsphänomen

wird die Allgemeinheit des Konsenses zentral, denn nur dadurch wird mehr als ein bloßer Mehrheitskompromiss möglich. Viertens legt Habermas im Gegensatz zu Kant explizit Wert darauf, dass der zu einem allgemeinen Konsens führende Diskurs in der Öffentlichkeit zuvor in der Konfrontation der Argumente und Gegenargumente ein Konfliktmoment beinhaltet. In Gestalt dieser vier Aspekte wurden Kernelemente einer normativen Öffentlichkeitskonzeption der Moderne herausgearbeitet, mit denen im nächsten Abschnitt das aktuelle Phänomen der Filterblasen konfrontiert werden soll.

2.

Spannung zwischen Filterblasen und dem modernen Öffentlichkeitsbegriff

Eli Pariser fokussierte 2011 in seinem Buch mit dem Titel Filter Bubble eine rezente Transformation der Öffentlichkeitsstruktur, welcher seitdem in den Diskursen der Medien und der Wissenschaft mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde: die Personalisierungen übermittelter Daten, die Informationsfluss und Kommunikation im Internet verändern. 2009 begann Google auf der Grundlage der Analyse individueller Daten, Suchergebnisse mit Algorithmen auf den/die jeweilige/n Nutzer*in abzustimmen.18 Seit 2011 prognostiziert Google auf Basis der verfügbaren Daten zu den Individuen, wonach diese jeweils suchen möchten, und schlägt schon während des Eintippens mögliche Suchbegriffe vor. Personalisiert wurde auch die Meldung von Neuigkeiten auf Facebook, das den Status eines wichtigen Nachrichtenmediums für viele Menschen erreicht hat.19 Pariser vertritt die These, dass solche Personalisierungsentwicklungen des Informationsflusses im Internet ein neues Phänomen herbeiführen, welches er als Filterblase bezeichnet:20 »Prognosemaschinen entwerfen und verfeinern pausenlos eine Theorie zu Ihrer Persönlichkeit und sagen voraus, was Sie als Nächstes tun und wollen.

18 19 20

Vgl. Pariser, Eli: Filter Bubble. Wie wir im Internet entmündigt werden, München: Hanser 2012, S. 10f. Vgl. ebd., S. 13-16. Da die individualisierten Suchergebnisse und Informationen Wirkungen der zuvor erfolgten Eingaben der Nutzer*innen sind, kann der Effekt auch als Echokammer bezeichnet werden: Die häufige Ähnlichkeit macht die folgenden Daten gleichsam zu einem Echo der vorhergehenden.

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Zusammen erschaffen diese Maschinen ein ganz eigenes Informationsuniversum für jeden von uns – das, was ich die Filter Bubble nenne – und verändern so auf fundamentale Weise, wie wir an Ideen und Informationen gelangen.«21 Pariser räumt erstens ein, dass aufgrund des verständlichen Bedürfnisses der Internetnutzer*innen nach einer Reduktion der enormen Informationsflut auf eine bewältigbare Datenmenge eine Filterung des Datenflusses durchaus nötig ist, und zweitens auch, dass schon früher eine Filterung der für Mediennutzer*innen relevanten Informationen stattgefunden hat.22 Den Einwand, dass der Vorgang der Filterung kein neuer sei und auch nicht so bedenklich wäre, wie zunächst angenommen werden könnte, weil es sich bloß um eine übliche Begleiterscheinung öffentlicher Kommunikation handle, widerlegt Pariser, indem er die Charakteristika akzentuiert, die die rezente Filterung im Netz als ein tatsächlich neues Phänomen auszeichnen: »Zuerst einmal sitzen wir allein in unserer Filter Bubble. […] Zweitens ist die Filter Bubble unsichtbar. […] Und schließlich entscheidet man nicht selbst, in eine Filter Bubble zu treten.«23 Dies wäre bei medialen Filtervorgängen der Vergangenheit noch nicht der Fall gewesen, denn wenn etwa Nachrichtensendungen auf einem TV-Kanal mit einer spezifischen politischen Tendenz gesehen werden, so sind zwar auch hierbei die Informationen gefiltert, doch die Wahl dieses Senders geschah freiwillig, dessen politische Ausrichtung kann recherchiert werden und ist transparent, und ein/e Rezipient*in ist nicht der/die Einzige, dem/der diese Daten übermittelt wurden. Die Filterblase im Netz ist deshalb ein neues Medienphänomen, welches eine nicht ungefährliche Veränderung der Kommunikationsstrukturen – eine intransparente Abkapselung von Teilsystemen – mit sich bringt. Pariser vertritt die These, dass dieses Phänomen der Filterblasen das Potenzial besitzt, die Gesellschaft zu verändern. Einerseits sieht er die Gefahr, dass die Sphäre der traditionellen Öffentlichkeit an Relevanz verliert, weil die Abkapselung der einzelnen Menschen in Blasen zunehmen könnte. Dies führt möglicherweise dazu, dass Individuen nur mit bereits bekannten Themen konfrontiert werden und zu diesen auch keinen Zugriff auf ausgewogen zusammengestellte Daten haben, sondern vielmehr einseitige und qualitativ

21 22 23

Ebd., S. 17. Vgl. ebd., S. 17ff. Ebd., S. 17.

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mangelhafte Informationen erhalten. Andererseits könnte sich auf kollektiver Ebene die Folge ergeben, dass unangenehme und komplexe Themen aus dem geteilten Kommunikationsraum mehr und mehr verschwinden, weil diese von den Individuen lieber ausgeblendet werden und dadurch aufgrund der Verstärkungseffekte der Filterung auch seltener auftauchen.24 Nachdem Eli Pariser den Begriff der Filterblasen in die Diskussion eingeführt hat, wurde deren Gestalt und Ausbreitung in verschiedenen Studien genauer erforscht, von denen einige nun herangezogen werden sollen, um das Bild der Filterblasen zu konturieren, bevor dieses dann mit dem modernen und dem postmodernen Kommunikationsmodell in Verbindung gebracht werden soll. Engin Bozdag25 kommt in einer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass algorithmische Filter in sozialen Netzwerken die Kontrolle über Informationsflüsse transformiert, dem menschlichen Einfluss aber deshalb nicht zur Gänze entzogen haben: Erstens werden diese Algorithmen selbst von Menschen designt, zweitens gibt es auf den entsprechenden Plattformen (etwa auf Facebook) zusätzliche Kontrollen durch menschliche Instanzen, die Inhalte überprüfen und manchmal löschen. Auch wenn Bozdag den Effekt der Echokammern aufgrund der Personalisierung durchaus sieht, hält er deshalb mehr empirische Forschungen zum Effekt und Ausmaß der Filterblasen für nötig. Tatsächlich haben die Untersuchungen zu diesem Thema seither zugenommen. Eine solche Studie hat beispielsweise Max Grömping26 vorgelegt, mit der er anhand der Wahl 2014 in Thailand durch Betrachtung von FacebookGruppen, die den unterschiedlichen politischen Lagern zuzuordnen sind, untersucht, ob soziale Medien öffentliche Diskussion fördern oder Echokammern hervorrufen. Im untersuchten Fall konnte kaum ein Informationsaustausch festgestellt werden, womit ein deutlicher Effekt der Blasenbildung erkennbar ist, wobei die Grenzen der Studie aufgrund des politischen Kontextes in einem Land, das nicht zuletzt im untersuchten Zeitraum sehr polarisiert oder gar gespalten war, bewusst sein müssen, sodass sich die Ergebnisse nicht problemlos verallgemeinern lassen.

24 25 26

Vgl. ebd., S. 156-173. Vgl. Bozdag, Engin: »Bias in algorithmic filtering and personalization«, in: Ethics and Information Technology 15 (2013), S. 209-227. Vgl. Grömping, Max: »›Echo Chambers‹. Partisan Facebook Groups during the 2014 Thai Election«, in: Asia Pacific Media Educator 24 (2014), S. 39-59.

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Eine Studie von Tien Nguyen et al.27 zeigte in einem ganz anderen Kontext – nämlich in Bezug auf Online-Empfehlungssysteme für Filmanbieter im Netz – tatsächlich, dass algorithmisch bestimmte Informationsflüsse die Informationsdiversität mit der Zeit verringerten, dass dieser Effekt aber wesentlich geringer war, als in Kritiken der Personalisierung wie derjenigen von Eli Pariser, auf den in der Studie Bezug genommen wird, oft angenommen wird. Die Diversität der aufgerufenen Inhalte nimmt bei der Verwendung von Online-Empfehlungssystemen, die Bewertungen der individuellen Nutzer*innen auswerten, zwar ab, aber nicht erkennbar stärker, als sie auch bei Filmrezipient*innen im Netz abnimmt, die ein solches Empfehlungssystem nicht nutzten. Die genannte Studie war eine der ersten, die den Filterblaseneffekt – von deren Autor*innen als Reduktion der Inhaltsdiversität verstanden – auf einer individuellen Ebene (einzelner Nutzer*innen) empirisch zu messen versuchten.28 Daraus, dass empirische Studien zu den Effekten der Filterblasen und Echokammern in verschiedenen Kontexten verschiedene Ergebnisse zeigen, lässt sich schließen, dass man vorsichtig sein sollte, aus der Nutzung technischer Möglichkeiten wie der Verwendung von Algorithmen zur Personalisierung ungeprüft das Entstehen von Filterblasen abzuleiten. Es bedarf eines genauen empirischen Blicks dafür, wo tatsächlich Filterblasen entstehen.29 27

28

29

Vgl. Nguyen, Tien T. u.a.: »Exploring the filter bubble: the effect of using recommender systems on content diversity«, in: Proceedings of the 23rd International Conference on World Wide Web, hg. v. Chin-Wan Chung, New York: Association for Computing Machinery 2014, S. 677-686. Seither ist jedoch eine Fülle an Untersuchungen zur empirischen Nachweisbarkeit des Filterblaseneffekts – sowohl auf individueller wie auch auf kollektiver Ebene – entstanden. Vgl. z.B. Gentzkow, Matthew/Shapiro, Jesse: »Ideological Segregation Online and Offline«, in: The Quarterly Journal of Economics 126 (2011), S. 1799-1839. Rau, Jan Philipp/Stier, Sebastian: »Die Echokammer-Hypothese: Fragmentierung der Öffentlichkeit und politische Polarisierung durch digitale Medien«, in: Zeitschrift für vergleichende Politikwissenschaft 13 (2019), S. 399-417. Borgesius, Frederik J. Zuiderveen u.a.: »Should we worry about filter bubbles?«, in: Internet Policy Review 5 (2016), https://policyrevie w.info/articles/analysis/should-we-worry-about-filter-bubbles vom 15.06.2020. Wenn empirische Studien zurate gezogen werden, um das tatsächliche Ausmaß des Filterblaseneffekts zu ermitteln, dann ist außerdem ein Bewusstsein für die Erläuterungsbedürftigkeit des Begriffs der Filterblase notwendig. Das Begriffsverständnis Eli Parisers, der den Terminus einführte, wurde bereits vorgestellt, doch nicht alle Untersuchungen des entsprechenden Forschungsfeldes teilen eine einzige Definition. So untersuchte etwa Max Grömping (Vgl. Grömping, ›Echo Chambers‹) in der zuvor erwähnten Studie die Verringerung des Informationsaustauschs zwischen unterschied-

Filterblasen als postmodern modelliertes Öffentlichkeitsphänomen

Diese Notwendigkeit der Vorsicht und empirischen Genauigkeit macht jedoch eine Überlegung in Bezug darauf, mit welchem Kommunikationsmodell – etwa einem des modernen Öffentlichkeitsdenkens oder einem postmodern geprägten– treffend beschrieben und analysiert werden können, nicht weniger bedeutsam. Dort, wo solche Blasen entstehen, erweist die kommunikationstheoretische Analyse dieses Phänomens dann ihre Relevanz. Ein Beitrag zu dieser kommunikationstheoretischen Analyse der Filterblasen kann nun durch den Nachweis geleistet werden, dass deren eben beschriebene Eigenschaften der im ersten Abschnitt skizzierten Öffentlichkeitskonzeption der Moderne nicht entsprechen. Deshalb soll im Einzelnen erläutert werden, inwiefern ein Kontrast zwischen dem zuvor ausgeführten modernen Modell von Öffentlichkeit und den genannten Merkmalen von Filterblasen besteht, wodurch dieses rezente Öffentlichkeitsphänomen vom modernen Öffentlichkeitsbild deskriptiv nicht angemessen modelliert wird (und damit zusammenhängend auch die normativen Anforderungen des modernen Öffentlichkeitsbegriffs nicht einlöst).30 Wenn Menschen sich aufgrund der personalisierten Datenflüsse allein in ihrer Filterblase befinden und dadurch ein abgekapseltes Informationssystem darstellen, so steht dies in Kontrast zum modernen Öffentlichkeitsbild der kantischen und Habermasʼschen Theorien. Der etwa von Kant und Habermas gestellte Allgemeinheitsanspruch kann bei dieser sozialen Isolation der Internetnutzer*innen, die sich jeweils in auf sie individuell abgestimmten und einseitig versorgten Informationsräumen befinden, nicht mehr erfüllt werden. Betont Habermas außerdem, dass die Allgemeinheit eines Konsenses durch die vernünftige Begegnung von Für und Wider ermöglicht wird, so wird auch dieser Anspruch nicht eingelöst, weil der Ausschluss divergierender Inhalte aus der Weltsicht des/der Einzelnen den Kontakt von Argumenten und Gegenargumenten gerade vereitelt. Der Perspektive der Einzelnen werden in der Filterblase stets nur einseitige Informationen übermittelt. Weil die Konfrontation unterschiedlicher Sichtweisen im Diskurs für Habermas innig mit der Rationalitätsforderung ver-

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lichen politischen Gruppierungen in sozialen Netzwerken, während Tien Nguyen et al. (Vgl. Nguyen u.a., Exploring the filter bubble) die Reduktion der Inhaltsdiversität auf der Ebene individueller Nutzer*innen analysierten. Empirische Untersuchungen zu Filterblasen können also wohl aufschlussreich sein, untersuchen aber nicht immer dasselbe Phänomen. Im vorliegenden Beitrag liegt der Fokus aber auf dem Kontrast zwischen dem Filterblasenphänomen und der modernen Öffentlichkeitskonzeption in deskriptiver Hinsicht, nicht auf dem Konflikt mit dessen normativen Forderungen.

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bunden ist, ist in den Filterblasen bloß eine sehr beschränkte Möglichkeit vernünftiger Informationsverarbeitung durch die Nutzer*innen zu verorten. Wenn eine einzige Position ausschließlich durch Varianten des Informationsmaterials mit gleichen Implikationen bestätigt wird, weil nur endlose Wiederholungen übereinstimmender Informationen produziert werden, hat dies einen Zirkel zur Folge, der nicht als vernünftige Argumentation anzusehen ist. Der weitere Kernaspekt der modernen Konzeption der Öffentlichkeit, der darin besteht, dass diese ihre Rationalität einsetzenden und selbstbestimmten Menschen eine Sphäre des kommunikativen Austauschs bietet, findet in den Filterblasen ebenso wenig seine Entsprechung, insofern deren Charakteristikum der Undurchsichtigkeit der automatischen Filterung die bewusste und eigenständige Entscheidung autonomer Subjekte unterläuft. Die selbstbestimmte und sich nach gewissen Gründen richtende Wahl eines spezifischen Mediums, beispielsweise eines Fernsehkanals mit einer bestimmten weltanschaulichen Tendenz, konfligiert mit der Autonomieforderung noch nicht prinzipiell, der Charakter der Datenflüsse in Filterblasen jedoch sehr wohl. Eine Konfrontation mit dem Öffentlichkeitsbegriff der Moderne hat hinsichtlich einer Analyse der Filterblasen somit das Ergebnis, dass die Blasen zu dem modernen Öffentlichkeitsbild in wesentlichen Hinsichten einen Kontrast bilden, was den Schluss nahelegt, dass sie einem alternativen Bild von Kommunikation eher entsprechen könnten. Dies soll im nächsten Abschnitt geprüft werden.

3.

Filterblasen aus der Perspektive postmoderner Theorien

Es soll nun gezeigt werden, wie Filterblasen in einer Analyse aus der Perspektive postmoderner Theorien mit diesen in eine Entsprechung gebracht werden können. Ich halte den Aspekt, dass durch algorithmische Personalisierung Datenübertragungen und sprachliche Verkettungen nicht für jede Person in gleicher Weise, sondern in Abhängigkeit von den Differenzen zwischen den Menschen unterschiedlich geregelt sind, für theoretisch gut beschreibbar, wenn hierfür Gedanken aus Lyotards Schriften Das postmoderne Wissen und Der Widerstreit herangezogen werden. Nach Lyotard kam es zu einem Bruch des für die Moderne prägenden Modells öffentlicher Kommuni-

Filterblasen als postmodern modelliertes Öffentlichkeitsphänomen

kation, das diese als homogenes System mit einheitlichen Regeln verstand.31 Eine Betrachtung jüngerer wissenschaftlicher Entwicklungen, beispielsweise der Mathematik, offenbart, dass es nicht ein universelles Sprachsystem mit allgemeingültigen Regeln gibt, sondern nur unendlich viele Möglichkeiten geregelter Sprachsysteme, die stets ihre eigenen Begrenzungen aufweisen. Nur durch die Entdeckung neuer Regelsysteme, nicht hingegen durch die Homogenisierung dieser Pluralität von Systemen, wird Innovation verwirklicht.32 Was diese Erkenntnisse der neueren Mathematik und Logik zeigen, lasse sich auf Sprache, Kommunikation und Wissen im Allgemeinen übertragen: Das Modell eines homogenen und abgeschlossenen Systems weicht der Vielheit sprachlicher Ausdruckskomplexe. »Es gibt viele verschiedene Sprachspiele – das ist die Heterogenität der Elemente.«33 Zusammen mit anderen Bestimmungen hat diese Akzentuierung der Pluralität das Konzept der Postmoderne maßgeblich geprägt: »Die Postmoderne beginnt dort, wo das Ganze aufhört. […] Ihre Vision ist eine Vision der Pluralität.«34 Lyotard führt im Widerstreit aus, dass unterschiedlichen Diskurssystemen zugehörige sprachliche Äußerungen im Konfliktfall keine für alle Seiten gerechte Lösung zulassen, da keine universelle Regel zu deren Beurteilung verfügbar ist. Kriterien zur Beurteilung von Äußerungen existieren ausschließlich im Rahmen der einzelnen Diskurssysteme. Den Konflikt zwischen verschiedenen Systemen nennt Lyotard einen Widerstreit: »Im Unterschied zu einem Rechtsstreit [litige] wäre ein Widerstreit [différend] ein Konfliktfall zwischen (wenigstens) zwei Parteien, der nicht angemessen entschieden werden kann, da eine auf beide Argumentationen anwendbare Urteilsregel fehlt.«35 Die Vielfalt konfligierender Äußerungen aus verschiedenen Diskursen lässt sich somit nicht durch die Orientierung an einem übergeordneten System auflösen. Bei einer Betrachtung des in der rezenten Medienwelt auftauchenden Phänomens der Filterblasen aus einem an Lyotards Theorie orientierten Blickwinkel ergibt sich das folgende Bild: Im Internet liegt in der Tat eine 31 32 33 34 35

Vgl. Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen, hg. v. Peter Engelmann, Wien: Passagen 8 2015, S. 25f. Vgl. ebd., S. 107-111. Ebd., S. 25. Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne, Berlin: Akademie 6 2002, S. 39. Lyotard, Jean-François: Der Widerstreit, München: Fink 2 1989, S. 9.

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Pluralität unterschiedlichster Diskurssysteme und Datenflüsse vor, die weder homogen sind noch homogenisiert werden können, da nicht einmal eine Interaktion zwischen ihnen stattfindet. Ihre Funktionsweise ist auch nicht von denselben Regeln bestimmt: Welche sprachlichen Elemente miteinander – also welche Suchbegriffe etwa mit welchen Suchergebnissen – verkettet werden, ist von regelhaften Automatismen abhängig, die je nach den bisherigen Suchaktivitäten der einzelnen Internetnutzer*innen zwischen diesen stark divergieren.36 Ähnlichkeiten der Aktivitäten und Meinungen führen dazu, dass den entsprechenden Nutzer*innen nach analogen regelgeleiteten Mechanismen Daten zugespielt werden, stark unterschiedliches Internetverhalten hat große Divergenz der gefundenen Informationen zur Folge. Auch wenn sich ein Netz von Ähnlichkeiten und Unterschiedenheiten erkennen lässt, ergibt sich durch die Filterblasen doch eine maximale Pluralität: Schlussendlich sind die regelhaften Informationsverkettungsautomatismen auf jede/n einzelne/n Nutzer*in abgestimmt, sodass sich für jede/n eine individuelle Blase bildet. Ist eine irreduzible Pluralität der Diskurssysteme für die Postmoderne zentral, so kann die Filterblase unter diesem Aspekt als ein im äußersten Maße postmodernes Phänomen im medialen Öffentlichkeitsraum des Internets angesehen werden. Lyotards Theorie erlaubt es, Filterblasen nicht bloß zu analysieren, sondern sogar zu legitimieren. Zwar wurde dies in den Diskussionen zum Thema der Öffentlichkeit und speziell zu den Filterblasen bisher noch nicht unternommen, doch liegt es aufgrund der auffälligen konzeptuellen Übertragbarkeit der Überlegungen Lyotards auf plurale Diskursformationen – auch im Internet – nahe, sich zu überlegen, auf welche Weise eine solche Rechtfertigung geschehen kann, was deshalb hier durchgeführt werden soll. Weil keine allen Seiten gerecht werdende Beurteilung der Äußerungen unterschiedlicher Diskurse möglich ist, ist eine solche Beurteilung über Diskurse hinweg Lyotard zufolge zurückzuweisen. In diesem Sinne sollte es keine Homogenisierung der konfligierenden Diskurssysteme und keine Reduktion der Pluralität geben. Pluralität wird nicht nur als Charakteristikum der Gegenwart ausgemacht, sondern darüber hinaus normativ aufgeladen, etwa mit der Forde-

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Zwar gibt es einen zugrundeliegenden Algorithmus, der in allen Datenflüssen von Nutzer*innen einer Plattform gleichermaßen wirkt, doch ergeben sich aus diesem für die einzelnen Datenströme individuelle Verkettungsmechanismen, die gerade die jeweilige Einseitigkeit der Informationsflüsse verursachen.

Filterblasen als postmodern modelliertes Öffentlichkeitsphänomen

rung: »Krieg dem Ganzen, […] aktivieren wir die Differenzen«.37 Aus diesem Grund wird auch die zuvor ausgeführte, von Habermas angestrebte konsensorientierte Art öffentlicher Kommunikation zurückgewiesen: »Der durch Diskussion erreichte Konsens, wie Habermas denkt? Er tut der Heterogenität der Sprachspiele Gewalt an.«38 Sieht man Heterogenität jedoch als zulässig und förderungswürdig an, so können Filterblasen gerechtfertigt werden, da es in ihnen zu einer höchstmöglichen Vervielfältigung von Diskurssystemen kommt.39 Ein zweiter Aspekt der postmodernen Theorie Lyotards, insbesondere ihres sprachphilosophischen Modells im Widerstreit, lässt Analogien zur Filterblasen erzeugenden algorithmisch gesteuerten Kommunikation im Netz erkennen. Dieser betrifft die von Lyotard aufgezeigten Grenzen eines kognitivargumentierenden Diskurses, der zu enge Bedingungen an Sender*in, Empfänger*in, Bedeutung und Referenten sprachlicher Äußerungen stellt, die dadurch vieles unterdrücken, was unter anderen Konditionen zur Sprache ge-

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38 39

Lyotard, Jean-François: »Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?«, in: ders., Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982-1985, hg. v. Peter Engelmann, Wien: Passagen 2 1996, S. 11-31, hier S. 31. J.-F. Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 26. An dieser Stelle ist erneut auf den deskriptiven Schwerpunkt des vorliegenden Beitrags hinzuweisen. Sowohl die moderne Öffentlichkeitskonzeption von Kant und Habermas als auch Lyotards und Kittlers Kommunikationstheorien haben normative Motive, die in einer angemessenen Skizzierung nicht übergangen werden können. So soll durchaus auf die Forderungen hingewiesen werden, die die unterschiedlichen Denkansätze mit ihren Kommunikationsmodellen verbinden. Der deskriptive Fokus des vorliegenden Beitrags äußert sich dann darin, dass zwar untersucht wird, ob das Phänomen der Filterblasen eher dem Modell und den Forderungen der modernen Denktradition oder denen des postmodernen Ansatzes entsprechen, jedoch nicht der Frage nachgegangen wird, ob eher die einen oder die anderen Forderungen argumentativ plausibel legitimierbar sind. Diese Fragestellung wird in einem anderen Text thematisiert (Vgl. C. Kiesel, Philosophische Kritik der Filterblasen, Fn. 1). Darüber hinaus ist auch zu bedenken, dass die Kompatibilität der Informationsflüsse in Filterblasen mit Lyotards ethischen Motiven nicht bedeutet, dass Betreiber*innen von Plattformen, die durch Algorithmen solche Blasen erzeugen, dies aus den normativen Gründen tun, die Lyotard mit seinem Pluralitätsstreben verbindet. Doch auch wenn das bewegende Ziel der Plattformbetreiber*innen die Maximierung der Werbeeffektivität und des resultierenden Gewinns sein mag, ändert dies nichts daran, dass die damit einhergehende Veränderung der Kommunikationsstrukturen deren zunehmende Übereinstimmung mit Lyotards normativem Ziel der Pluralisierung von Diskurssystemen ohne Homogenisierungsmöglichkeit mit sich bringt.

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bracht werden könnte. Unter Bedeutung versteht Lyotard das, was über etwas ausgesagt wird; unter dem Referenten dasjenige, worüber etwas ausgesagt wird, das also, worauf sich eine Aussage bezieht. Der Fall der Äußerungsunterdrückung, der Lyotard am meisten beschäftigt, ist der der Verhinderung des Zeugnisses von Überlebenszeug*innen der Shoah, einerseits durch das Schweigen von Überlebenden, andererseits durch die Zweifel von Holocaustleugner*innen wie Robert Faurisson. Lyotards Analyse dieses Problems ergibt, dass in der Verhinderung des Überlebenszeugnisses mindestens hinsichtlich eines von vier Aspekten sprachlicher Kommunikation Bedingungen aufgestellt werden, die nicht erfüllt werden oder nicht erfüllt werden können: Mit der Behauptung von Holocaustleugner*innen, dass es keine Gaskammern gegeben habe, wird die Anforderung an den Referenten, wirklich zu existieren, als nicht erfüllt angesehen. In der Erklärung, es könne nicht mitgeteilt werden, dass es Gaskammern gegeben habe, und es könne keine akzeptablen Zeugen geben, weil diejenigen, die den Einsatz der Gaskammern wahrgenommen hätten, in ihnen ermordet wurden, jemand anderer aber kein unbezweifelbares Zeugnis des Geschehens ablegen könne, werden die Bedingungen, die bezüglich der Bedeutung und des/der Sender*in(s) der Aussage gestellt werden, als unerfüllt beurteilt. In der Überzeugung, die potenziellen Rezipient*innen wären nicht würdig, dass ihnen von dem Geschehen berichtet wird, oder die Überlebenden wären nicht würdig, es zu bezeugen, werden Forderungen gegenüber dem/der Sender*in und dem/der Empfänger*in der Äußerung gestellt, die nicht eingelöst werden. Holocaustleugner*innen wie Faurisson zwängen Überlebenszeug*innen außerdem in eine Kommunikationssituation ähnlich einem Gerichtsprozess, in dem sie etwas argumentativ beweisen müssen, die Anforderungen an einen Beweis aber so hoch angesetzt werden, dass dieser unmöglich ist. Lyotard erklärt anschließend an die so rekonstruierte sprachliche Situation, dass nicht innerhalb dieses Kontextes ein Ausweg gefunden werden kann, sondern die Kommunikationsbedingungen selbst von einer quasi-gerichtlichen Argumentation und uneinlösbaren Anforderungen hinsichtlich der vier Instanzen des Sprachmodells dahingehend verändert werden müssen, dass die Äußerungshürden wegfallen und Überlebenszeugenschaft möglich wird: »Das Schweigen zeigt nicht an, welche Instanz negiert ist, es zeigt an, daß eine oder mehrere Instanzen negiert sind. Die Überlebenden schweigen, und man kann daraus entnehmen, 1.) daß die fragliche Situation (der Fall) den Empfänger nicht betrifft (er ist nicht zuständig oder er ist es nicht wert, daß

Filterblasen als postmodern modelliertes Öffentlichkeitsphänomen

man sich an ihn wendet usw.); oder 2.) daß diese Situation nicht existiert hat (so Faurisson); oder 3.) daß es darüber nichts zu sagen gibt (sie ist unsinnig, unausdrückbar); oder 4.) daß es nicht die Sache der Überlebenden ist, darüber zu reden (sie sind dessen nicht würdig usw.). Oder mehrere dieser Negationen zusammen. […]   Um die Existenz der Gaskammern nachzuweisen, muß man die vier verschwiegenen Negationen aufheben: Es gab keine Gaskammern? Doch. – Aber wenn es Gaskammern gegeben hat, so kann dies nicht formuliert werden? Doch. – Aber wenn dies formuliert werden kann, so besitzt zumindest niemand die Autorität, dies zu formulieren und wahrzunehmen (es ist nicht mitteilbar)? Doch.«40 Gefordert werden also in verschiedenen Hinsichten andere sprachliche Bedingungen, die das Überlebenszeugnis legitimieren. Die Ermöglichung der Überlebenszeugenschaft ist ein zentrales Motiv des Sprachdenkens Lyotards, aber seine Überlegungen zu den vier kommunikativen Instanzen gehen darüber insofern hinaus, als es ihm prinzipiell und somit auch in anderen Kontexten um die Ermöglichung und Legitimation von Äußerungen geht, die durch bestimmte diskursive Bedingungen unterdrückt werden. Auch wenn im Fall der Überlebenszeugenschaft die Existenz der Gaskammern und damit des Referenten der Aussage gegeben ist, gibt es andere Kommunikationsthemen und -kontexte, in denen die Existenz eines Gegenstandes nicht gesichert ist, tatsächlich ernsthaft infrage steht und diskutiert wird oder zuerst gar nicht bezweifelt wird, sich später aber als fragwürdig herausstellt. Dies soll aber gerade kein Hindernis sein, um einen Diskurs über den fraglichen Gegenstand als sinnvoll anzusehen, womit nach Lyotard die Bindung des Referenten von Aussagen an die gesicherte Existenz in der Wirklichkeit eine zu überwindende Kommunikationsbarriere ist: Dass ein sprachlicher Ausdruck (Lyotard bezieht sich hier insbesondere auf Namen) »seinen Referenten mit einer Wirklichkeit versieht – dies zumindest ist zufällig. Darum steht die Wirklichkeit niemals fest (ihre Wahrscheinlichkeit ist nie gleich 1).«41 Weil nämlich Ausdrücke verschieden interpretiert werden können, es verschiedene Ansichten von der Wirklichkeit gibt und sich diese

40 41

J.-F. Lyotard: Der Widerstreit, S. 35f. Ebd., S. 83.

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auch wandeln, gibt es keine stabile Beziehung zwischen Aussagen und Wirklichkeit, die zur Bedingung für die Zulässigkeit oder Sinnhaftigkeit sprachlicher Äußerungen erhoben werden könnte. Ähnliche Lockerungen der Diskursbedingungen können im Sinne Lyotards auch hinsichtlich der anderen sprachlichen Instanzen gefordert werden. Einerseits können zu hohe Anforderungen, um einer Äußerung den Status einer bedeutungstragenden Aussage zuzugestehen, kritisch gesehen werden, andererseits ließen sich zu enge Einschränkungen dafür, welche Instanzen als zulässige Sender*innen oder Empfänger*innen gelten können, zurückweisen. Solche Bestrebungen und Überlegungen bezüglich Neues zulassender Kommunikationsbedingungen ließen sich auch auf die algorithmischen Informationsflüsse in Filterblasen übertragen. In diesen ist es nicht direkt ein Mensch, der sich auf eine Wirklichkeit bezieht und einem anderen Menschen etwas Bedeutungsvolles über diese mitteilt. Vielmehr wirkt anstatt eines denkenden und sprechenden Menschen ein Automatismus (der damit auch in der Position des Sendenden mitfungiert), nach dem berechnet wird, welche Daten einem Menschen zugespielt werden – jedoch nicht aufgrund einer Bedeutung oder eines Wahrheitsgehalts der Informationen bezüglich der Wirklichkeit (deren Status als eindeutiger Referent unterlaufen wird), sondern bloß aufgrund des Zusammenhangs mit den bisher vom/von der adressierten Nutzer*in verarbeiteten Daten. Sind auch solche Phänomene des Informationsflusses als aktuelle Realität der Kommunikation zu verstehen, so muss erkannt werden, dass hier Sender*in, Referent und Bedeutung im Vergleich zu Kommunikationsformen mit einer stärkeren humanen Mitbestimmung einem Transformationsprozess unterworfen sind. Sollen derartige Phänomene nicht durch ein einengendes Kommunikationsmodell als defizitäre Kommunikationserscheinung zurückgewiesen, sondern von einer offeneren Kommunikationstheorie auch legitimiert werden, so gilt es, hinsichtlich der vier sprachlichen Instanzen keine so strengen Forderungen zu stellen, dass diese nach einem solchen Wandlungsprozess als nicht mehr einlösbar gelten. Es lässt sich aber nicht nur aus Lyotards Erwägung einer Ausweitung der Möglichkeiten der Gestaltung der vier sprachlichen Instanzen – und damit auch des Sendenden (sowie aus Überlegungen zur Anwendbarkeit seiner Gedanken auf Filterblasen) – folgern, dass nicht stets autonom denkende und entscheidende Menschen als Sender*in fungieren, sondern an anderen Stellen seines Sprachdenkens findet man sogar explizite Zweifel daran, autono-

Filterblasen als postmodern modelliertes Öffentlichkeitsphänomen

me Menschen als Verfüger*innen über die Sprache ansehen zu können. In sprachlichen Regelsystemen und Diskursarten werden Lyotard zufolge Äußerungen nach bestimmten Regeln miteinander verkettet, wobei diese Verkettungen auch Spannungen und Auseinandersetzungen herbeiführen können, die neue Verkettungen ermöglichen. »Aber die Auseinandersetzung wird nicht zwischen Menschen oder ganz anderen Entitäten geführt, die selbst eher aus den Sätzen resultieren.«42 Es sind die Sätze, die sprachlichen Ereignisse selbst, die nach Regeln geschehen und in Spannungen geraten. Sprache und ihre verschiedenen Diskurssysteme kennen also ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten, Brüche und Transformationen, die nicht von autonomen Menschen festgelegt werden. Welche Instanzen in welcher Weise als Menschen verstanden werden und wie mit diesen umzugehen ist, hängt vielmehr umgekehrt von der Entwicklung der Diskurse ab. Auch dieser dritte Aspekt des postmodernen Denkens Lyotards lässt sich auf die Filterblasen übertragen. In der algorithmischen Kommunikation sind es keine frei und bewusst entscheidenden Menschen, die festlegen, welche Äußerungen miteinander verkettet werden, sondern es sind die anonymen sprachlichen Ereignisse und Regelsysteme selbst, aus denen dies resultiert. Dieses Charakteristikum der Filterblasen, in undurchsichtiger und nicht bewusst wahrgenommener oder autonom gewählter Weise die einer Person zugänglichen und von ihr verarbeitbaren Daten zu bestimmen, erscheint mir theoretisch auch mit Bezugnahme auf Friedrich Kittlers Medientheorie43 gut und ähnlich analysierbar zu sein. Im Gegensatz zur früheren tendenziellen Ignoranz der Geistes- und Kulturwissenschaften gegenüber ihren medialen und technischen Bedingungen fokussierte Kittler in seinem Buch Aufschreibesysteme 1800/1900 »das Netzwerk von Techniken und Institutionen […], die einer gegebenen Kultur die Adressierung, Speicherung und Verarbeitung relevanter Daten erlauben.«44 Derartige Netzwerke prägen das Denken und Handeln der Menschen so stark, dass sich dieses durch eine Veränderung der Medien- und Institutionsstrukturen fundamental wandeln kann. Eine bedeutende geschichtliche Veränderung erkennt Kittler um etwa 1800, als eine rasante Ausbreitung und ein Methoden42 43

44

Ebd., S. 229. Kittlers Medientheorie wird etwa in den Werken Aufschreibesysteme 1800-1900 (Vgl. Kittler, Friedrich: Aufschreibesysteme 1800-1900, München: Fink 4 2003) und Grammophon, Film, Typewriter (Vgl. ders.: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin: Brinkmann u. Bose 1986) ausgeführt. Kittler: Aufschreibesysteme 1800-1900, S. 501.

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wandel45 der Alphabetisierung, zusammenhängend mit einer Veränderung der Bildungsinstitutionen, die Konstitution eines Menschenbildes als autonomes, freies und rationales Subjekt erlaubte. Um 1900 wäre es dann aufgrund des Auftauchens neuer Medientechniken, deren Gebrauch die Menschen zu einer psychophysischen Adaption nötigte und einen Wandel der Denk- und Kommunikationsprozesse verursachte, zur Entlarvung der Illusionen der Autonomie und des irreduziblen rationalen Bewusstseins gekommen, die dem »sogenannten Menschen«46 zugeschrieben wurden. Dies ermöglichte die Erkenntnis, dass »freie Subjekte nur in Philosophielehrbüchern vorkommen«47 , in der Wirklichkeit hingegen nicht. Aus der Perspektive einer derartigen Theorie ist es möglich, Filterblasen als einen erneuten Fall der Auflösung menschlicher Autonomie und bewusster Handlung zu beleuchten. Wieder zeigt sich, wie medientechnische Vorgänge der Informationsverarbeitung menschliche und soziale Kommunikationsund Denkprozesse verändern. Nicht die freien Entscheidungen Medien nutzender Menschen, sondern die durch die Funktionsweise einer jeweiligen Medientechnik bedingte Logik bestimmt, wie Menschen sich in einem vorgegebenen Rahmen (zueinander) verhalten können. Diese medienspezifische Logik lässt sich durchaus untersuchen. Sie ist zwar den Menschen meist zunächst nicht bewusst (was Marshall McLuhan48 wie auch Kittler49 betonen), aber unabhängig davon äußerst wirkungsvoll. Es könnte aus einer an Friedrich Kittler orientierten medientheoretischen Perspektive angedacht werden, eine kritische Beurteilung der Filterblasen, welche deren Autonomiegefährdung akzentuiert, mit dem Argument zurückzuweisen, dass das Bild rationaler, autonomer und selbstbestimmter Subjekte 45 46 47 48

49

Dies betrifft primär den Übergang von einer Buchstabier- zu einer Lautiermethode bezüglich des Lehrens der Schriftsprache (vgl. ebd., S. 35-86). Ebd., S. 238. Ebd., S. 292. Da McLuhan zufolge Medien die Umwelt der Menschen gestalten und in diesem Prozess mit ihr verschmelzen, geraten sie aus dem Blick und werden erst dann wieder wahrnehmbar, wenn sie zum Gegenstand eines anderen Mediums werden (Vgl. McLuhan, Marshall: »Medien verstehen – die Ausweitung des Menschen.«, in: ders., Absolute Marshall McLuhan, hg. v. Martin Baltes u. Rainer Höltschl, Freiburg: orange-press 2002, S. 138-174, hier S. 138. Mersch, Dieter: Medientheorien zur Einführung, Hamburg: Junius 2006, S. 115). Auch Kittler hebt hervor, dass Mediensysteme von innen weder erkennbar noch analysierbar seien und erst dann in den Fokus der Wahrnehmung geraten, wenn sie miteinander kontrastiert werden (Vgl. Kittler: Aufschreibesysteme 1800-1900, S. 502).

Filterblasen als postmodern modelliertes Öffentlichkeitsphänomen

ohnehin stets schon eine illusionäre Vorstellung gewesen sei. Zwar bedeutet dies keine direkte Legitimation der Filterblasen durch ein offeneres normatives Kommunikationsmodell, zumindest ist es aber ein begründeter Einwand gegen Kritiken an ihnen. Da Kittler darüber hinaus sogar teilweise Sympathien für mediale Innovationen mit Steigerungen der technischen Leistung, aber ohne Einflüsse menschlicher Autonomie, zeigt (Winthrop-Young 2005, 167), lässt sich darin eine Fundierung einer potenziellen Rechtfertigung der Filterblasen erkennen.50 Damit wurde überlegt, wie vom Gesichtspunkt postmoderner Ansätze wie denjenigen Lyotards und Kittlers51 Filterblasen analysiert werden können. Dabei ergaben sich Parallelen zwischen den von postmodernen Ansätzen festgestellten sozialen und medialen Entwicklungen und den Filterblasen, die zur Entstehungszeit solcher Theorien noch nicht von ihnen analysiert werden konnten. Eine solche Parallelität zeigte sich bezüglich der erhöhten Pluralität von Diskurssystemen ohne Austausch zwischen ihnen, hinsichtlich der veränderten Sprachbedingungen (die etwa weniger auf eine Referenz auf die Wirklichkeit und mehr auf interne sprachliche Beziehungen ausgerichtet sind) sowie in Bezug auf den sich auflösenden Einfluss autonomer Subjekte. In diesem Sinne sind Filterblasen ein neues Phänomen der medialen Öffentlichkeit des Internets, das dem postmodernen Modell von Kommunikation in entscheidenden Aspekten entspricht.

4.

Konklusion

Zentrale Elemente des Öffentlichkeitsbildes der Moderne, wie man es bei Immanuel Kant und Jürgen Habermas findet, sind die Voraussetzung autonomer Subjekte, die an einem gesellschaftlichen Diskurs partizipieren, rationale Argumentation, die diesen Diskurs leitet, und eine Konfrontation des Für und Wider in einem solchen argumentativen Austausch. Eine Betrachtung 50

51

Ob ein solcher an Kittler orientierter Legitimationsversuch der Filterblasen allerdings plausibel ist oder entscheidende Einwände gegen ihn erhoben werden müssten, ist nicht Gegenstand dieses Beitrags. An Friedrich Kittlers Medientheorie kann nicht nur die Skepsis gegenüber dem rationalen und autonomen Subjekt der Moderne, sondern etwa auch gegenüber der Möglichkeit einer linearen und bruchlosen Geschichtsschreibung als postmodern identifiziert werden. Vgl. Yeh, Sonja: Anything goes? Postmoderne Medientheorien im Vergleich, Bielefeld: transcript 2013.

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des neuen Phänomens der Filterblasen, das zwar nicht immer, aber teilweise auftaucht, wenn in der medialen Öffentlichkeit des Internets Datenflüsse durch Algorithmen personalisiert werden, und durch welches es zu einer Diversitätsreduktion der den individuellen Nutzer*innen zugespielten Informationen kommt, hat ergeben, dass dieses dem modernen Bild öffentlicher Kommunikation in wesentlichen Punkten nicht entspricht. Die Regulierung der Datenflüsse richtet sich nicht nach autonomen Entscheidungen der Nutzer*innen, sondern nach automatischen Algorithmen. Die Selbstbestätigung eigener Ansichten durch den gezielten Erhalt ähnlicher Daten ist aufgrund ihrer Zirkelhaftigkeit keine Form rationaler Informationslegitimation. Die Ausblendung divergierender Daten verhindert außerdem die Begegnung von Argumenten und Gegenargumenten. Eher entsprechen die Informationsflüsse innerhalb des neuen Öffentlichkeitsphänomens der Filterblasen einem von postmodernen Theorien gezeichneten Bild. Dies gilt etwa hinsichtlich der sowohl von Jean-François Lyotard als auch von Friedrich Kittler ausgedrückten Skepsis gegenüber einem kommunikationssteuernden autonomen Subjekt, welches im Prozess algorithmischer Automatismen tatsächlich an Selbstbestimmung einbüßt. Außerdem kann in den abgekapselten individuellen Blasen eine Pluralität von Diskurssystemen im Sinne Lyotards gesehen werden, die nicht homogenisiert werden kann. Schließlich entspricht es auch Lyotards Sprachmodell, wenn sich Informationsverkettungen immer weniger nach einer externen Wirklichkeit richten, sondern auch von internen sprachlichen Regeln – im Fall der Filterblasen von Algorithmen – bestimmt werden. Somit ergibt eine Analyse der Filterblasen wesentliche Parallelen zu einem postmodernen Modell von Sprache und Kommunikation, womit diese als postmodernes Phänomen im medialen Öffentlichkeitsraum des Internets angesehen werden können.

Bodies – Körper im Raum

Sakramentale Körper Vom christlichen Beitrag zu einer kritischen theoria der Kultur Mirja Kutzer

Angesichts der zunehmend alle Lebensbereiche durchziehenden Digitalisierung und Virtualisierung, zwischen Bubbles und Bots stellt sich die Frage nach der Bedeutung von Körperlichkeit in neuer Art und Weise. Es sind nicht zuletzt die neuen Medien, die mit ihren Möglichkeiten des schnellen Produzierens, Bearbeitens und Teilens von Bildern ihren Beitrag zu dem leisten, was als pictorial oder iconic turn1 beschrieben wurde und sowohl eine Zunahme an Bildern in (Alltags-)Kultur und Wissenschaft wie eine methodische Aufmerksamkeit für das Bild meint. Die Repräsentanz von Inhalten, von Menschen und Ereignissen, erfolgt in einem zunehmenden Maße über (bewegte) Bilder, und zwar insbesondere über Bilder von menschlichen Körpern. Mit dieser wachsenden Visualisierung treten die Körper ins Zentrum medialer (Selbst-) Repräsentanz. 2 Diese kreuzt sich wie bei jeder bildlichen Repräsentation mit einer Abwesenheit der konkreten Körper, wobei dies gegenwärtig mit einer Verschiebung von öffentlicher und privater Sphäre einhergeht. Denn war Privatheit vor Social Media vor allem ein Ort körperlicher Präsenz, ist es heute (auch) das per Instagram geteilte Körperbild, das den privaten Kontakt her-

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2

Vgl. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek b.H.: Rowohlt 2014, S. 329-365; in diesen Kontext gehören auch die Studien zur visual culture. Vgl. Rimmele, Marius/Stieger, Bernd: Visuelle Kulturen/Visual Culture. Zur Einführung, Hamburg: Junius 2019; Mirzoeff, Nicholas (Hg.): The Visual Culture Reader, London, UK/New York, NY: Taylor & Francis 2012. Zum Verhältnis von Körper, Medien und Bild vgl. Schulz, Martin: »Die Re-Präsenz des Körpers im Bild«, in: Annette Keck/Nicolas Pethes (Hg.): Mediale Anatomien. Menschenbilder als Medienprojektionen, Bielefeld: transcript 2001, S. 33-50.

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stellt. Damit rückt das private Bild und mit ihm der repräsentierte eigene Körper in den Bereich der Öffentlichkeit. Die Art und Weise der Repräsentation ändert sich dabei mit den technischen Medien – insbesondere durch das Smartphone mit seinen Möglichkeiten der Bildproduktion nahezu immer und überall, der annähernd in Echtzeit möglichen Übertragung bei gleichzeitiger Speicherung »für die Ewigkeit« sowie den immer einfacher zu handhabenden Möglichkeiten der Bildbearbeitung, die die grundsätzlich gegebene Differenz zwischen medialer Inszenierung und repräsentiertem Körper wiederum verschieben. Gleichzeitig tragen sich in diese neuen, durch die Möglichkeiten der Medien vorstrukturierten Bilder traditionelle Darstellungsweisen ein – nicht zuletzt in den Inszenierungen des Frauenkörpers.3 Die insbesondere von Hans Belting4 vertretene These, dass die zentrale Motivation jeglicher Bildproduktion der Anblick des Todes des anderen und die damit einhergehende Vorausahnung des eigenen Todes sei, gewinnt im Hinblick auf gegenwärtige Darstellungen des (geschlechtlichen) Körpers erneut an Plausibilität. Der ästhetisch optimierte, perfekt gestylte und digital bearbeitete Körper wird in Haltung und Ausdruck eingefroren, in das der körperlichen Materialität entzogene Bild gesetzt und so dem Verfall entzogen. Er gleicht »dem ›Auferstehungsleib‹, der den lebendigen, hinfälligen Leib hinter sich lässt, aber auch ›den Geist aufgibt‹ und als modisches Utensil himmlischen Glücks in irdische Wunschträume zurückkehrt.«5 Diese Körperinszenierungen lassen eine Qualität des Photographischen hervortreten, die Roland Barthes in Die helle Kammer 6 grundsätzlich in den Blick genommen hat – nämlich die Ablösung des Bildes vom Körper bzw., philosophischer gesprochen, vom Leib7 des konkreten Erlebens bei gleichzeitiger Ausklamme3 4

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Vgl. Grittmann, Elke et al. (Hg.): Körperbilder – Körperpraktiken. Visualisierung und Vergeschlechtlichung von Körpern in Medienkulturen, Köln: Herbert von Halem 2018. Vgl. Belting, Hans: »Bild und Tod. Verkörperung in frühen Kulturen«, in: ders. (Hg.): Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München: Fink 2011, S. 143188. Bublitz, Hannelore: »Das Maß aller Dinge. Die Hinfälligkeit des (Geschlechts-)Körpers«, in: Birgit Riegraf/Dirk Spreen/Sabine Mehlmann (Hg.): Medien – Körper – Geschlecht. Diskursivierungen von Materialität, Bielefeld: transcript 2012, S. 34. Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 17 1989, S. 22. Im Folgenden wird dem Begriff »Körper« zumeist der Vorzug gegeben, da im Fokus der sichtbare Körper steht, wie er dem äußerlichen Betrachter zugänglich ist. »Körper« wird aber auch dann verwandt, wenn Dimensionen im Blick sind, die als ein Gegenüber

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rung des Subjekts, was Barthes als »kleines Ereignis des Todes«8 bezeichnet. Das Subjekt ahme sich im Prozess des Photographierens selbst nach: »In der Phantasie stellt die Photographie (die, welche ich im Sinne habe) jenen äußerst subtilen Moment dar, in dem ich eigentlich weder Subjekt noch Objekt, sondern vielmehr ein Subjekt bin, das sich Objekt werden fühlt«.9 Der dann photographisch präsentierte, vom Subjekt abgelöste Körper ist kaltgestellter, toter Körper, der einen als eine Art Gespenst vom medialen Jenseits aus anstarrt. Doch ist diese Ablösung vom Subjekt nur die eine Seite der Medaille. Denn die Inszenierung dieser »Toten« bleibt nicht ohne Auswirkungen auf das Erleben von Körpern, insofern diese Selbstwahrnehmungen und -praktiken des Menschen beeinflussen und über ihre Vermittlung Selbstverständigungen darüber stattfinden, was das Humanum sei. Im Folgenden geht es denn auch nicht um die metakritische Frage nach der unmöglichen Repräsentanz körperlichen Erlebens durch das »tote« Bild. Zur Debatte stehen vielmehr das »Wie« der Inszenierung von Körperlichkeit und die Frage der Gewinnung einer kritischen Perspektive darauf. Im Fokus liegt dabei die Stilisierung perfekter, jugendlicher, makelloser Fetisch-Körper nicht nur in professioneller Bildproduktion, wie sie die klassischen Medien schon lange prägt, sondern auch in privaten und über Social Media geteilten Körperinszenierungen. Denn auf dieser letztlich marktförmigen, digitalen Oberfläche geschieht eine Ausblendung wesentlicher Dimensionen menschlichen Subjektseins und der damit einhergehenden ethischen Perspektiven, die mit dem hinfälligen, widerständigen, sterblichen Körper in Verbindung stehen. Es ist das Subjekt in seiner Fragilität, seiner Bedürftigkeit und seinem Begehren, seiner Verletzlichkeit und seiner Gefährdung, die hier aus dem Blick gerät. Julia Kristeva hat die Verständigung über die Körperlichkeit des Menschen denn auch als einen der Aspekte festgehalten, die sie für die Suche nach einer neuen, für das 21. Jahrhundert tragfähigen Humanität für wesentlich hält.10 Als säkulare Denkerin verweist sie dabei auf die christliche,

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des Ich erlebt werden. Der Begriff »Körper« markiert hier eine (biologisch und/oder kulturell begründete) Widerständigkeit, wird als der Kontrolle des geistig-leiblichen Selbst entzogen oder fremd erlebt bzw. muss in irgendeiner Weise bearbeitet oder angeeignet werden. R. Barthes: Die helle Kammer, S. 22. Ebd. Vgl. Kristeva, Julia: »Zehn Prinzipien für den Humanismus des 21. Jahrhunderts«, in: Communio 41 (2012), S. 476-480.

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insbesondere mystische Tradition und zitiert Teresa von Avila: »Wir sind keine Engel, wir haben einen Körper«.11 Nun liegt es angesichts der Jahrhunderte alten körperfeindlichen Tradition des Christentums nicht gerade nahe, einen produktiven Beitrag zur Selbstverständigung über die Körperlichkeit des Menschen heute zu erwarten. Dennoch hat das Christentum eine lange Geschichte an Körperverhandlungen hervorgetrieben, die einen Blick gewinnen lassen auf die Bedeutung des (verletzlichen und bedürftigen) Körpers für das Subjekt. Jean Baudrillard hat für das Bild generell von einem symbolischen Tausch (l’échange symbolique)12 gesprochen: Das Bild gibt dem Körper ein Medium, in dem es gegenwärtig bleiben kann, und tritt an dessen Stelle. Die gesamte Tradition des Christentums kreist nun letztlich um einen solchen Tausch. Der abwesende Christus-Körper, der gleichzeitig der gewaltsam verletzte, gekreuzigte, sterbliche Körper ist, wird präsent gesetzt durch andere vermittelnde, mediale »Körper«, insbesondere im Sakrament der Eucharistie. Diese Körper unterhalten durchaus differente Spuren bzw. Zeichenrelationen zu dem einen Körper, den sie repräsentieren. Sie nehmen den Menschen in seiner körperlichen Verfasstheit in Anspruch und lenken ihrerseits (Selbst-) Wahrnehmungen und Körperdiskurse. Lassen sich also, so die hier gestellte Frage, materiale Gehalte der christlichen Tradition als eine Ressource begreifen, die einen öffentlichkeitsrelevanten, mithin auch säkular verstehbaren Beitrag leisten kann, um gegenwärtige Verhandlungen von Körperlichkeit einer kritischen Bewertung zu unterziehen? Und ist es möglich, aus dem Reservoir der christlichen Tradition schöpfend gegenwärtig auch säkular verstehbare Zeichen zu setzen bzw. Körper zu schaffen, die eine in diesem Sinne kulturkritische Kraft entfalten? Der hier eingeschlagene Weg zur Beantwortung dieser Frage führt über die sakramentale Verfasstheit des Christentums. Es ist die Struktur des Sakraments, die das Christentum einerseits in den öffentlichen Raum stellt. Andererseits hat das Bemühen um sakramentale Repräsentanz Körperdiskurse hervorgetrieben, die sowohl eine Positionierung zur jeweiligen Kultur zum Ausdruck bringen als auch aufschlussreich sind für die Rolle konkreter Körperlichkeit für das Subjekt in seiner Hinfälligkeit und Verletzlichkeit. Der Beitrag dieser im 11

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Teresa von Avila: Das Buch meines Lebens 22, 10 (Gesammelte Werke, Bd. 1), hg., übers.u. eingel. v. Ulrich Dobhan OCD und Elisabeth Peters OCD, Freiburg i.Br.: Herder 2001, S. 327. Die deutsche Übersetzung übersetzt hier mit »Leib«, während Kristeva im Französischen analog zum Spanischen »corps« verwendet. Vgl. Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod, München: Matthes & Seitz 1991.

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weiten Sinne sakramentalen Körperdiskurse liegt nicht allein auf der Ebene des Arguments. Er gründet auch in der Fähigkeit, ästhetische, sakramentale Körper hervorzubringen, die einen anderen Blick, eine kritische theoria13 auf kulturelle Repräsentanzen erlauben und deren blinde Flecken »sehen« lassen.

1.

Öffentliches Geheimnis – das Sakrament als Kulturkritik

Das Christentum ist nicht nur faktisch, sondern auch theologisch eine Religion, die im öffentlichen Raum stattfindet. Grundlegend dafür ist, was sich in einem allgemeinen Sinn als sakramentale Struktur bezeichnen lässt.14 Die christliche Tradition hat Sakrament im engeren Sinne als ein Zeichen definiert, das aus einer Worthandlung und einer materialen Zeichenhandlung besteht. Dabei wird dem sakramentalen Zeichen zugeschrieben, nicht nur anderes zu bedeuten, sondern dieses gleichzeitig zu bewirken. Wenn also etwa das zentrale Sakrament der Eucharistie im Brechen des Brotes und dem Trinken des Weines gemeinsam mit dem darüber gesprochenen Hochgebet das letzte Abendmahl Jesu mit den Aposteln erinnert, so ist dies gleichzeitig eine Präsentsetzung: Jesus Christus nimmt erneut Gemeinschaft mit den Mitfeiernden auf.15 Dieses Sakramentenverständnis im engeren Sinne gründet auf der umfassenderen Überzeugung, dass das Himmlische sich im Irdischen zeigt, mithin Gott sich in der Geschichte mitteilt und erfahren lässt.16

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Theoria ist hier im Sinne der lateinischen Wortbedeutung »Betrachtung«, »Anschauung« verwendet. Entsprechend geht es nicht um eine »Theorie« der Kultur, die kulturelle Produktion umfassend erklären will, sondern um die Gewinnung eines kritischen Blicks auf kulturelle Äußerungsformen. Dabei schwingt bei theoria auch immer ein Moment des Nicht-reflexiven, Vorsprachlichen mit, das nie zur Gänze in Reflexion/Sprache überführt werden kann, mithin ein auch ästhetischer Blick ist. Eine kompakte Darstellung des christlichen Sakramentenverständnisses bietet Nocke, Franz-Josef: »Allgemeine Sakramentenlehre«, in: Theodor Schneider (Hg.): Handbuch der Dogmatik, Bd. 2, Mainz: Matthias-Grünewald 2017, S. 188-225. Diese Auffassung gilt sowohl für das katholische Theorem der Transsubstantiation als auch für das lutheranische der Realpräsenz. Diese Überzeugung ist bereits für die Schriften Israels, das christliche »Alte Testament« charakteristisch. Das Zweite Vatikanische Konzil hat entsprechend die in den biblischen Schriften zum Tragen kommende Offenbarung als Selbstmitteilung Gottes beschrieben. Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil: Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum vom 18. November 1965, 2: www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19651118_dei-verbum_ge.html

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Erfahrungen, die Menschen miteinander in Natur und Geschichte machen, können entsprechend als Nahekommen Gottes gedeutet werden, als sich je neu ereignende »Verkörperungen« des Heils. Darin werden sie zu Sakramenten in einem weiten Sinn: zu erfahrbaren Zeichen, die den Kontakt zu Gott ebenso bezeichnen wie bewirken. Diese Zeichen sind nicht geheim. Sie finden nicht, oder wenigstens nicht allein in der Abgeschlossenheit sakraler Räume oder Rituale statt. Vielmehr ereignen sie sich in der Öffentlichkeit und sind prinzipiell jedermann zugänglich.17 Aufschlussreich ist hier die neutestamentliche Verwendung des griechischen Terminus mysterion, der ab dem 2. Jahrhundert für liturgische Rituale verwandt und der im Lateinischen mit sacramentum übersetzt wird. Mysterion, das die Einheitsübersetzung mit Geheimnis widergibt, steht im Griechischen im Kontext des Kultes. Die Silbe my bezeichnet das Schließen des Mundes oder der Augen. Es ist die körperliche Reaktion auf eine Erfahrung, die sich dem diskursiven Denken, der sprachlichen Formulierbarkeit entzieht. Mit dieser Reaktion auf eine Erfahrung wird auch das Kultgeschehen, in dem die Erfahrung ihren Ort hat, als mysterion bezeichnet.18 »Geheimnis« bzw. »geheim« ist dabei nicht notwendigerweise in Gegenüberstellung zu Öffentlichkeit zu verstehen. Vielmehr bezieht es »sich primär auf die Unaussprechlichkeit des Inhalts der Mysterien, die per se indifferent waren gegenüber Öffentlichkeit oder Geheimhaltung. Gegenüber dem Charakter des Unaussprechlichen war die Geheimhaltung ein durchaus sekundäres Moment.«19 Interessanterweise begegnet der Begriff mysterion im Neuen Testament nun gerade nicht im Kontext des Kultischen. Vielmehr wird er in Beziehung 17

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Dies gilt selbst dort, wo es auf den ersten Blick nicht so zu sein scheint, etwa wenn die Bibel von Erfahrungen exklusiver Offenbarung an einzelne Menschen, insbesondere Propheten spricht. Denn auch hier handelt es sich keineswegs um geheime Ereignisse oder Inhalte, die lediglich für Einzelne bestimmt wären und eine Art Einweihungswissen beinhalten. Vielmehr sind diese Exklusivoffenbarungen, wie sie etwa die Berufungsberichte der großen Propheten schildern (vgl. Jer 1,4-19; Ez 3,1), gleichzeitig Beauftragungen: Was der Prophet erfahren hat, soll münden in Kommunikation, die das Erfahrene der breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen sucht. Vgl. F.-J. Nocke: Allgemeine Sakramentenlehre, S. 190f.; Krämer, Helmut: »Art. Mysterion«, in: Horst Balz/Gerhard Schneider (Hg.): Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament (EWNT), Bd. 2, Stuttgart: Kohlhammer 1981, S. 1098-1105, hier S. 1099. Schupp, Franz: Glaube – Kultur – Symbol. Versuch einer kritischen Theorie sakramentaler Praxis, Düsseldorf: Patmos 1974, S. 40. Schupp bezieht sich hier auf Kerényi, Karl: Mysterien der Kabiren. Einleitendes zum Studium Antiker Mysterien (Eranos-Jahrbuch XI), Zürich: Rhein 1944, S. 13f.

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zum Reich Gottes, dem zentralen Inhalt der Verkündigung Jesu gesetzt. Die basileia tou theou (Reich Gottes) meint eine die Geschichte verwandelnde Größe und ist damit wesentlich ein geschichtstheologischer und gesellschaftlicher Begriff.20 Sie bedeutet eine individuelle wie gesellschaftliche Umgestaltung der Wirklichkeit, die durch das Nahekommen Gottes bewirkt wird, und ist darin Kritik an bestehenden Verhältnissen wie individuellem Lebensvollzug. Diese Veränderung wird nirgends absolut definiert, sondern in Wort- und Tatverkündigung Jesu exemplarisch dargestellt und dabei gleichzeitig wirksam. Sie wird etwa in Gleichnissen verkündet, die alternative ethische Handlungsoptionen vor Augen führen (z.B. Mt 20, 1-16) und diese so gleichzeitig ermöglichen.21 Sie wird ebenso in Wundern präsent gemacht, wobei sie insbesondere in den Heilungen und Speisungen auf konkrete körperliche Bedürfnisse bezogen ist.22 Jesus handelt heilsam am bedürftigen, hinfälligen, sterblichen Menschen, wobei die Körperlichkeit immer im Raum von Machtbeziehungen steht. So ist der kranke, gar aussätzige Mensch gleichzeitig der, der in der religiös-gesellschaftlichen Ordnung an die Ränder gedrängt oder ausgeschlossen ist. Ebenso sind diejenigen, mit denen Jesus Mahl hält, oft diejenigen, mit denen sich das Mahl eigentlich verbietet (vgl. Mk 2, 15-17). Als ebenso körperbezogen können auch die Gleichnisse Jesu als Sprachereignisse gelten. Denn nicht nur thematisieren diese immer wieder Bedürftigkeit, die mit konkreten Machtverhältnissen in Verbindung steht.23 Sie arbeiten auch mit Mitteln sprachlicher Metaphorik und fiktionalen Erzählens, welche mit

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23

Vgl. F. Schupp: Glaube – Kultur – Symbol, S. 44-47; Strotmann, Angelika: Der historische Jesus: eine Einführung, 2. aktual. Aufl., Paderborn: Schöningh 2015, S. 109-115. Vgl. Kutzer, Mirja: In Wahrheit erfunden. Dichtung als Ort theologischer Erkenntnis (ratio fidei 30), Regensburg: Friedrich Pustet 2006, S. 255-279. Diese Bezogenheit hat insbesondere die Theologie der Befreiung ins Bewusstsein gerufen. Vgl. etwa Segundo, Juan Luis: »Freiheit und Befreiung«, in: Ignacio Ellacuría/Jon Sobrino (Hg.): Mysterium Liberationis, Bd. 1, Luzern: Edition Exodus 1995, S. 361-381, hier S. 371: »Dadurch, dass jemand vom Hunger befreit wird, wird nicht so sehr ›Freiheit‹, sondern vielmehr Sättigung bewirkt. Oder anders gesagt: der so Befreite wird nicht ›frei‹, sondern satt. Es ist eine Eigenart des Realismus des Evangeliums, der schon an einen ausgewogenen und gesunden Materialismus grenzt (wenn wir einmal diesen Begriff in einem positiven Sinne verstehen wollen), auf konkrete Befreiungen abzuzielen.« Diese Dimension herausgestellt zu haben ist wesentlich das Verdienst von Luise Schottroff als einer der Begründerinnen der sozialgeschichtlichen Exegese. Vgl. etwa Schottroff, Luise: Die Gleichnisse Jesu, München: Gütersloh3 2005.

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der kognitiven Ausstattung des Menschen auch die emotionale und körperbezogene Vorstellungskraft in Anspruch nehmen.24 Körperlich sind diese Zeichenhandlungen schließlich insofern, als sie gebunden sind an die Begegnung mit dem körperlich-öffentlichen Auftreten Jesu. In den Evangelien wird das Reich Gottes als mit seinem Handeln verknüpft dargestellt (vgl. Lk 11,20). Insofern die Erzählung die Sprachform ist, die das Subjekt als ein Handelndes vorstellt, steht in ihnen die körperliche Präsenz in Verbindung mit der Narration, die mit dem Handeln die Person deutet und zu einem Inhalt der Verkündigung macht.25 Dabei bleiben diese materiell-körperlichen Handlungen Zeichen, die anders verstanden werden können als dies die Narrative der Evangelien tun. Hier hat die Rede vom mysterion des Reiches Gottes ihren Ort, wobei mysterion wiederum keinen Gegensatz zu Öffentlichkeit meint. Von Anfang an findet die Verkündigung des Reiches in der Öffentlichkeit, in den offiziellen Synagogen und am See Genezareth und schließlich im Tempel in Jerusalem statt.26 Doch die Worte und Handlungen werden keineswegs von allen gleich verstanden. Das von Markus breit ausgebaute sog. Messiasgeheimnis reagiert darauf, dass keineswegs alle, sondern letztlich nur eine sehr begrenzte Zahl von Jünger*innen zum Glauben an Jesus als den Messias gefunden hat. Erklärt wird dies durch den Auftrag zur Geheimhaltung nicht nur der Messianität Jesu, sondern auch der Bedeutung seiner Botschaft und seines Handelns. Entsprechend begegnet mysterion in Mk 4, 11: »Euch ist das Geheimnis (mysterion) des Reiches Gottes gegeben. Jenen draußen aber wird alles in Gleichnissen zuteil, auf dass sie sehend sehen und doch nicht schauen, und hörend hören und doch nicht verstehen, um nicht umzukehren und Vergebung zu finden.«

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25 26

Nach Paul Ricœur schafft der poetische Text eine Gefühlsfiktion, die die distanzierte Beziehung durchbricht und an der Sache teilnehmen lässt. Vgl. Ricœur, Paul: Die lebendige Metapher (Übergänge 12), München: Fink 3 2004, S. 235f.; Roland Barthes sieht in dieser Begegnung mit dem fiktionalen Text, die in eine Hingabe des Subjekts an den Text münden kann, auch den Körper beansprucht. Vgl. Barthes, Roland: Die Lust am Text, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 26. Dies ist angelehnt an ein Konzept narrativer Identität, wie es Paul Ricœur vorstellt in: ders.: Das Selbst als ein Anderer, München: Fink 1996. Vgl. Zeller, Dieter: »Art. Messiasgeheimnis«, in: Wibilex, https://www.bibelwissenscha ft.de/stichwort/51998 vom 20.8.2020.

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Im Gegensatz zur Deutung des Evangelisten dürfte die Rede in Gleichnissen und Bildworten nicht der Verschleierung, sondern eher im Gegenteil der Absicht geschuldet sein, verständlich zu machen, in welcher Weise das Reich Gottes die geschichtliche Wirklichkeit umgestaltet. Nach Markus dienen sie aber der Verrätselung, so dass die Außenstehenden die Worte »hören, und doch nicht hören«, die Wunder »sehen, und doch nicht sehen«. Verhüllende Bildrede einerseits und Verstockung der Rezipierenden andererseits erklären, dass nur ein Teil Israels sich bekehrt, aber auch, dass die Jünger*innen mitunter ebenfalls Unverständnis zeigen. Sie markieren eine Uneindeutigkeit der Reich-Gottes-Botschaft, die keineswegs automatisch das Bekenntnis zu Jesus als dem Messias nach sich zieht. Das Reich Gottes ist also nicht in diesem Sinne Geheimnis, als mysterion eine Differenz zu Öffentlichkeit anzeigen würde. Wohl aber besteht eine Ambiguität der (öffentlichen) Zeichenhandlungen. Ein ähnliches Verständnis von mysterion zeigt auch der 1. Brief des Paulus an die Gemeinde von Korinth. Der Apostel bezieht den Begriff hier auf die Person Jesu Christi, was gegenüber den Evangelien eine Verlagerung anzeigt – von der Botschaft des Reiches hin auf den Mittler der Botschaft. »Und doch verkündigen wir Weisheit unter den Vollkommenen, aber nicht Weisheit dieser Welt oder der Machthaber dieser Welt, die einst entmachtet werden. Vielmehr verkündigen wir das Geheimnis (mysterion) der verborgenen Weisheit Gottes, die Gott vor allen Zeiten vorausbestimmt hat zu unserer Verherrlichung. Keiner der Machthaber dieser Welt hat sie erkannt; denn hätten sie die Weisheit Gottes erkannt, so hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt.« (1 Kor 2, 6-8; vgl. auch 2, 7) Auch hier ist das Geheimnis ein öffentliches. Das Auftreten Jesu ist für alle sichtbar, doch keineswegs alle erkennen ihn als »Herrn der Herrlichkeit«. Wiederum also steht mysterion für eine Ambiguität des Sichtbaren/Erfahrbaren und der Tod am Kreuz ist deren Konsequenz. Mysterion gewinnt hier gleichzeitig eine kulturkritische Komponente: Das »Geheimnis der verborgenen Weisheit Gottes« ist den »Machthabern dieser Welt« verschlossen. Ihre Perspektive wird als »Weisheit der Welt« für nichtig erklärt. Im Horizont Gottes, was hier keineswegs Weltabkehr bedeutet, ist deren Position des Wissens samt dem gesellschaftlichen Machtgefüge radikal infrage gestellt. Dabei steht

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im Zentrum der Kritik das Handeln am verletzlichen, sterblichen Körper des Inkarnierten.27 Im Neuen Testament wird mysterion noch nicht mit liturgischen Handlungen in Verbindung gesetzt. Dennoch besteht ein innerer Zusammenhang, insofern insbesondere die Feier des Herrenmahls, quasi die Vorform der späteren Eucharistiefeier, das »Geheimnis des Glaubens« im erinnernden Nachvollzug des letzten Abendmahles präsent setzen will. Wie es der 1. Korintherbrief vorführt, ist die im Kontext des mysterion-Begriffs begegnende ethische Dimension auch für diese Feier bestimmend und begründet wiederum ein kulturkritisches Moment. Paulus schreibt an die Gemeinde von Korinth: »Wenn ihr euch versammelt, ist das kein Essen des Herrenmahls; denn jeder nimmt beim Essen sein eigenes Mahl vorweg und dann hungert der eine, während der andere betrunken ist. Könnt ihr denn nicht zu Hause essen und trinken? Oder verachtet ihr die Kirche Gottes? Wollt ihr jene demütigen, die nichts haben? Was soll ich dazu sagen? Soll ich euch etwa loben? In diesem Fall kann ich euch nicht loben.« (1 Kor 11, 20-22) Kritisiert wird hier die Art und Weise des Mahlhaltens in Korinth, in der sich die sozialen Schichtungen der Gemeinde widerspiegeln. Erwähnt werden eigens die Nicht-Habenden, die über kein oder nur wenig selbst Mitgebrachtes verfügen. Deren Ausgrenzung zieht nach sich, dass die Praxis in Korinth nach Paulus eben gerade nicht für sich in Anspruch nehmen kann, Herrenmahl zu sein. Paulus empfiehlt, dass die Gemeindemitglieder aufeinander warten (1 Kor 11, 33). Die dazwischen platzierte Schilderung der Einsetzungsworte (1 Kor 11, 23-26), die die Feier des Herrenmahls auf den Auftrag Jesu beim letzten Abendmahl zurückführen, ist damit gerahmt von Anforderungen an eine Praxis. Die von Paulus avisierte Idealstruktur des Herrenmahls, die Versammlung der Gemeindemitglieder, wird hier zu einem kritischen Regulativ der herrschenden Gesellschaftsstruktur, deren Un-Heil sich in körperlicher Bedürftigkeit, in Hunger manifestiert. »Die antizipierte Idealform wahren Lebens wäre dort erreicht, wo das Zusammenkommen der Christen nicht dazu diente, die Ungleichheit zu mani27

Ebenfalls ein Vorrang des Ethischen vor dem Kultischen zeigt sich in 1 Tim 3, 9, wo mysterion mit Glauben gleichgesetzt wird. Die Diakone sollen »mit reinem Gewissen am Geheimnis des Glaubens festhalten«. Dabei ist die Reinheit des Gewissens wiederum nicht als kultische, sondern als ethische zu verstehen. Vgl. F. Schupp: Glaube – Kultur – Symbol, S. 46.

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festieren und die Überlegenheit dessen zur Darstellung zu bringen, der über die materiellen Bedingungen und die Herrschaftsmittel verfügt.«28 Die sakramentale Praxis der Kirche, in deren Zentrum die Eucharistie steht, ist damit von ihren Ursprüngen her verstanden nicht in erster Linie ein kultischer Vollzug, sondern ein sich in der Liturgie verdichtendes »Zeichen erlöster Welt«29 , das als Ausdruck von Kultur gleichzeitig eine Positionierung zu ihr zum Ausdruck bringt. Ihre Kriterien gewinnt diese Praxis im Rückbezug auf die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu: Wie das Reich Gottes in den konkreten Worten und Handlungen Jesu ein umfassendes Heil antizipiert, so sollen dies auch die Symbole und Symbolhandlungen der Kirche. Sie sind »antizipierend vermittelnde Zeichen ›wahren‹, ›heilen‹ Lebens, die so zugleich die kritische Funktion haben, das Unwahre und Nicht-Heile am konkreten geschichtlichen Leben aufzuzeigen. Sie wirken, indem sie in solchem Aufzeigen im Menschen eine Umkehr, eine Umwandlung hervorrufen. Sie sind so selbst praktische Zeichen als Zeichen geforderter Praxis, deren Bedingung sie selbst vermitteln.«30 Dabei ist es insbesondere die Bezogenheit auf den inkarnierten, leidenden Christuskörper (vgl. 1 Kor 11, 20-26), die sich einschreibt in die Geschichte sakramentaler Repräsentation. Sie treibt unterschiedliche Körperdiskurse hervor, die auch den menschlichen Körper in seiner Verletzlichkeit und Sterblichkeit ins Zentrum rücken.

2.

Repräsentationen – eine kleine Geschichte sakramentaler Körper

In seiner sakramentalen Praxis, die das mysterion durch die Zeiten tragen soll, ist das Christentum wiederum körperproduktiv. So sind es etwa in der Eucharistie die materialen »Körper« von Wein und Brot, die den Körper Christi bezeichnen – und zwar, wie es die Einsetzungsworte bei Paulus zeigen, den verletzlichen, sterblichen, am Kreuz getöteten.

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F. Schupp: Glaube – Kultur – Symbol, S. 247. F.-J. Nocke: Allgemeine Sakramentenlehre, S. 218f. F. Schupp: Glaube – Kultur – Symbol, S. 7f.

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»[…] Denn ich habe vom Herrn empfangen, was ich euch dann überliefert habe: Jesus, der Herr, nahm in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde, Brot, sprach das Dankgebet, brach das Brot und sagte: Das ist mein Leib für euch. Tut dies zu meinem Gedächtnis! Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch und sprach: Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut. Tut dies, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis! Denn sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.« (1 Kor 11, 20-26) Die Feier des Abendmahls nimmt vorhandene »Körper« in Anspruch, greift Bedeutungen auf, die diesen kulturell zugeschrieben werden,31 und überschreibt diese durch den Bezug auf Christus. Brot und Wein werden so zu sakramentalen Körpern, die den abwesenden, gekreuzigten Christus-Körper präsent setzen. Nach Michel de Certeau ist es gerade die Abwesenheit des Fleisch gewordenen Gottgleichen (vgl. Joh 1, 14), der Verlust seiner körperlichen Präsenz, der das Christentum verstehen lässt als ein beständiges Hervorbringen von Körpern, die den Abwesenden substituieren: »In der christlichen Tradition ruft ein uranfänglicher Mangel an Körper unaufhörlich Institutionen und Diskurse hervor, die die Wirkungen und Substitute dieser Abwesenheit sind: kirchliche Körper, doktrinelle Körper usw.«32 Die vielfältigen »Körper« sind als Wirkungen und Substitute des Christus-Körpers Sakramente in einem allgemeinen Sinn. Sie sind »Heiltümer«, so übersetzt Peter Knauer die allgemeine Verwendung von sacramentum bei Hugo von St. Victor, der mit seinem Hauptwerk De sacramentis wesentlich zur Klärung des Sakramentenbegriffs beigetragen hat.33 Hugo versteht unter sacramentum im weiteren Sinn alles, was eine Beziehung herstellt zu Christus und mit ihm zu Gott, was er sowohl als erkenntnisgeleitet wie emotional denkt. Darunter fallen bei ihm die Heiligen Schriften, die die Heilsgeschichte darstellen, die Sakramente im engeren Sinn, aber auch sein eigenes Werk, das dazu anleitet, sowohl die Heilsgeschichte als auch die Natur »richtig« zu interpretieren.

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Vgl. Höhn, Hans-Joachim: spüren. Die ästhetische Kraft der Sakramente (GlaubensWorte), Würzburg: Echter 2002, S. 77-93. de Certeau, Michel : Mystische Fabel. 16. bis 17. Jahrhundert, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 127-128. Vgl. Hugo von St. Viktor: Über die Heiltümer des christlichen Glaubens, übers. v. Peter Knauer, eingel. v. Rainer Berndt (Corpus Victorinum: Schriften, Bd. 1), Münster: Aschendorff 2010.

Sakramentale Körper

Die sakramentalen Körper, die eine Abwesenheit ebenso anzeigen wie substituieren, nehmen verschiedene Formen und Bedeutungen an, die durch die Zeiten hindurch nicht gleichbleiben. »Es ist ebensowohl möglich, dass ein phänomenologisch gleichbleibendes Symbol einen Bedeutungswandel bis zum Gegenteil seines ursprünglichen Sinns durchmacht, wie auch, dass derselbe oder ein ähnlicher Gehalt unter verschiedenen kulturellen Bedingungen unter phänomenologisch völlig unvergleichbaren Symbolisierungen auftritt.«34 Veränderungen des Signifikants sind ebenso möglich wie Veränderungen des Signifikats sowie der Zeichenrelation insgesamt. In diesen Veränderungen wandelt sich nicht nur die Inanspruchnahme bzw. Produktion sakramentaler Körper, sondern auch die Stellungnahme zur jeweiligen Kultur. Ebenso verändert sich das Verstehen von mysterium (neben sacramentum eine mögliche lateinische Übersetzung von mysterion) und damit das Verhältnis von Geheimnis zu Öffentlichkeit. Eine einschneidende Veränderung steht am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit und ist markiert durch den Verlust einer Zeichenrelation: Die Wörter und Dinge, die bisher als Zeichen für eine andere, heilsgeschichtliche oder himmlische Wirklichkeit betrachtet wurden, verlieren diese bisher wesentlich augustinisch-neuplatonisch gedachte Transparenz. Damit verändert sich aber auch die Verbindung, die das sakramentale Zeichen zuvor hergestellt hatte. Henri de Lubac hat diese Veränderung der Zeichenrelation anhand der Eucharistie, des corpus mysticum beschrieben.35 Im bis dahin dominanten Verständnis wird das Zeichen, der eucharistische Leib, als mystisch beschrieben. Es verbindet auf mystische Weise zwei historische/öffentliche Körper – den Körper der Kirche mit dem Körper Jesu Christi, den er bezeichnet. In Folge eines Verständniswandels wird später nicht mehr das Zeichen als mystisch bezeichnet, sondern mystisch wird nun eine unsichtbare Wirklichkeit, die dem Sichtbaren – dem Körper der Kirche wie dem sichtbaren Sakrament gegenübergestellt wird. Der materiale Körper der Eucharistie wird dadurch zu einem codifizierten Zeichen,

34 35

F. Schupp: Glaube – Kultur – Symbol, S. 15. Vgl. de Lubac, Henri: Corpus mysticum. Kirche und Eucharistie im Mittelalter. Eine historische Studie, übertragen von Hans Urs von Balthasar, Einsiedeln: Johannes Verl. 1969, S. 13-147; vgl. M. de Certeau: Mystische Fabel, S. 129-133.

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»das heißt als eine sichtbare ›Sache‹ [erfasst], die eine andere, unsichtbare Sache bezeichnet: Die Sichtbarkeit dieses Objekts tritt an die Stelle der gemeinsamen Feier, des gemeinschaftlichen Vollzugs, sie ist ein Indiz für die Vermehrung verborgender Wirkungen (von Gnade, von Heil), die das reale Leben der Kirche ausmachen.«36 Die Eucharistie wird mithin verstanden als reale Präsenz, die durch ein extrinsisches Mirakel produziert wird, und die Kirche ist der Kanal, durch die es zustande kommt. Die Bedeutungsverschiebungen, die dies nach sich zieht, sind eklatant. Das einst kritische Moment gegenüber dem Gegebenen schwindet zugunsten einer Affirmation des Sichtbaren, mithin der Institution. Sehr deutlich wird dies in der politischen Theologie Carl Schmitts und ihrer Beurteilung des kirchlichen Amtes.37 Nach Schmitt repräsentiert die Institution realisierend die göttliche Autorität in der konkreten Person, im Amt. Der Papst, den er auch als Reservoir politischer Macht in der modernen Welt sieht, ist die sichtbarste Verkörperung. Anders als bei politischer Macht gehe die Autorität von oben nach unten, werde also nicht vom Volk abgeleitet. Indem in diesem Verständnis der Gemeinschaftsaspekt des Sakraments schwindet, geht es auch der Dimension »Öffentlichkeit« verlustig. Es kann, durch sichtbare Amtsträger und sakramentale Körper realisiert, sine populo (ohne Volk) gefeiert werden.38 Der Handlungsaspekt – Performativität und Ethik – weichen dem Kult. Das Sakrament wird verankert im Sein, nicht im Handeln.39 Schließlich wird der Körper des Amtsträgers quasi geteilt – 36 37

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39

M. de Certeau : Mystische Fabel, S. 131f. Vgl. Rust, Jennifer: »Politics of the Corpus Mysticum: Schmitt, Kantorowicz, and de Lubac«, in: Graham Hamill/Julia Reinhard Lupton (Hg.): Political Theology and Early Modernity, Chicago, IL/London, UK: University of Chicago Press 2012, S. 102-123. Diese verstellende Form der Liturgie wurde durch die vom Zweiten Vatikanischen Konzil angestoßene Liturgiereform zurückgedrängt und der Gemeinschaftscharakter der Messe neu hervorgehoben. Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil: Konstitution über die Heilige Liturgie Sacrosanctum Concilium vom 4. Dezember 1963, 27: www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19631204_sacrosanctum-concilium_ge.html Schupp verweist hier auf Schelling, der diese Verankerung des Christentums und seinen wesentlichen Ausdruck im Handeln in seiner geschichtstheoretischen Zuordnung von griechischer Religion und Christentum festgehalten hatte: »Die Ideen einer auf Anschauung des Unendlichen im Endlichen gerichteten Religion müssen vorzugsweise im Sein ausgedrückt sein, die Ideen der entgegengesetzten, in der alle Symbolik nur dem Subjekt zugehört, können allein durch Handeln objektiv werden. Das ursprüng-

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in einen institutionellen Körper, der getrennt vom privaten Körper des Sünders betrachtet wird. Die Konsequenzen dieser Trennung reichen bis in den kirchlichen Umgang mit dem Missbrauchsskandal in der systematischen Vertuschung von Straftaten: Der institutionelle Körper des schuldig gewordenen Amtsträgers steht über den konkreten Körpern der Opfer und muss entsprechend geschützt werden. De Certeau hat eine zweite Reaktion auf den genannten Transparenzverlust beschrieben, die auch als Absetzung von der Kodifizierung der Zeichen in der Scholastik verstehbar ist. Die neuzeitliche mystische Tradition versucht den Verlust der Zeichenrelation nicht durch die Behauptung einer Präsenz zu kompensieren. Vielmehr kreisen die mystischen Schriften um eine Abwesenheit und sind darin neuzeitlich.40 Christus ist weg. Deshalb spricht das mystische Ich. Die Abwesenheit begründet seine Suche, in der der menschliche Körper eine zentrale und höchst ambivalente Rolle einnimmt. Diese Ambivalenz tritt vielleicht am deutlichsten bei Bernhard von Clairvaux als einem Vorläufer und wichtigen Bezugspunkt der neuzeitlichen Mystik zu Tage.41 Nach Bernhard zwingt der Körper mit seinen Bedürfnissen das Subjekt, aus sich heraus zu treten und seinen Willen auf anderes zu lenken. Diese Bedürftigkeit des Körpers verbindet sich mit einem in der Seele angesiedelten Mangel, der den Menschen nach Erfüllung, letztlich nach Gott streben lässt, da Gott allein den Mangel beheben kann.42 Darin ist der Körper ein Quell von Lebendigkeit und Ausgangspunkt der Gottsuche. Gleichzeitig enthält er aber auch eine Neigung zum Tod, insofern er die Seele im Irdischen festhält und den Willen auf unbeseelte Dinge lenkt, bis die Seele ding-analog wird und ihren freien Willen verliert. Diese Ambivalenz verstärkt sich, zumindest in einer gegenwärtigen Perspektive, angesichts Bernhards Reflexion auf die unio mystica. Denn zwar ist der Körper Beginn der Gottsuche, doch ist er ebenso Widerstand, der die Seele davon abhält, die Fülle, die Vereinigung mit Gott dauer-

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liche Symbol aller Anschauung in ihr ist die Geschichte«. (Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums [Werke, Bd. 2], Leipzig: o.V. 1907, S. 293.) M. de Certeau : Mystische Fabel, S. 10-15. Siehe dazu v.a. Bernhard von Clairvaux: De diligendo Deo (Sämtliche Werke lateinisch/deutsch 1; hg. v. Gerhard B. Winkler), Innsbruck: Tyrolia 1990, S. 73-151; vgl. Kristeva, Julia: Geschichten von der Liebe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2019, S. 145-164. Bernhard steht hier in der Tradition des Augustinus und dessen Suche nach erfüllender Ruhe, wie es programmatisch in den Confessiones (I 1; XIII 8) formuliert ist. Vgl. Augustinus: Confessiones (CSEL 33; hg. v. Pius Knöll), Prag/Wien/Leipzig: o.V. 1896.

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haft zu erreichen. Denn es sind die Bedürfnisse des Körpers, die das Subjekt zurückrufen aus der Erfahrung der unio mystica, die einer Nichtung des Subjekts gleichkommt. Damit ist es letztlich der Körper in seinen Bedürfnissen, der das Subjekt an das eigene Selbst bindet und vor der Aufhebung bewahrt – was Bernhard freilich negativ bewertet und eine rigide Askese motiviert. Der Körper situiert das Subjekt damit zwischen Tod und Tod. Er bewahrt es in seiner Bedürftigkeit vor der Verdinglichung, die der Abschluss in sich selbst bedeutet. Er ruft es ebenso ins Eigene zurück, wo es sich im Anderen zu verlieren droht. Rückt bei Bernhard die Bedürftigkeit des Körpers in den Vordergrund, so ist es in der späteren Frauenmystik seine Verletzlichkeit. Der (kranke) Körper wird etwa bei Teresa von Avila zum Ort somatischer Erfahrungen, die eine Gottesbeziehung anzeigen.43 Anders als bei Bernhard, der die Körpererfahrungen als allgemeine schildert, sind diese obgleich auch »von außen« beobachtbar, dennoch zuhöchst subjektiv. Sie sind gebunden an die Person der Teresa und lassen diese in ihrer Individualität hervortreten. Erst indem sie nach Kommunikation, nach Öffentlichkeit drängen, werden sie intersubjektiv zugänglich. Als Signifikanten einer Gottesbegegnung ist deren Bedeutung gleichwohl nicht in einen kognitiven Inhalt, der vom körperlichen Erleben des Subjekts abgetrennt wäre, überführbar. Die Vermittlung erfolgt wiederum über das Schaffen eines »Körpers«, eines Textkörpers, der dem eigenen, kranken Körper abgerungen wird, wobei die Tätigkeit des Schreibens heilsam ist und den Ich-Verlust aufhält. Teresas Hauptwerk, die Seelenburg (Moradas), überführt die subjektiven Erfahrungen nicht in einen vom Subjekt unabhängigen kognitiven Inhalt. Vielmehr schafft die Mystikerin mit dieser Narration eine große Fiktion, die keinerlei Anspruch erhebt eine Realität abzubilden. Sie ist dennoch auf Realität bezogen, insofern sie sich ihrem subjektiv-körperlichen Erleben verdankt. Sie ist es ebenfalls, insofern sie im Appell an die Phantasie ihrer Rezipient*innen darauf zielt, vom Text gesteuerte, aber nicht gänzlich kontrollierte und wiederum individuelle Erfahrungen zu machen. Damit ist es gerade die Fokussierung auf den verletzlichen, affizierten Körper, die das neuzeitliche Konzept von Individualität befördert. Diese Konzentration auf den Körper in seiner Fragilität verbindet die sakramentale Repräsentanz wieder mit einer ethischen Perspektive und 43

So die vielfachen Schilderungen von Krankheit in der Vida, aber auch die Beschwerden, die gemäß der Einleitung der Seelenburg (Moradas) das Schreiben begleiten. Vgl. M. de Certeau: Mystische Fabel, S. 305-325.

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einer Positionierung gegenüber Kultur, die Schnittmengen zur Reich-GottesBotschaft aufweist. Die mystischen Schriften entstehen vielfach im Kontext der Armutsbewegung. Das Lebensideal persönlicher Armut ist nicht nur eine Kritik an insbesondere kirchlicher Machtentfaltung. Es verbindet sich auch mit einer Sorge um die Armen und Kranken in der Verelendung der Städte.44 Wenn Das Fließende Licht der Gottheit der Begine Mechthild von Magdeburg den Entscheidungsträgern in der Kirche empfiehlt, regelmäßig die Krankenhäuser zu besuchen, so ist dies eine offensichtliche Anfrage an die Lebensführung des Klerus.45 Keineswegs fordert der Text ein, die Kranken seelsorglich zu begleiten. Vielmehr geht es um die Sorge für den Körper auch jenseits dessen Qualität als beseelter Leib, wenn die Machthabenden die Exkremente der Kranken wegtragen sollen. Dabei ist die Aufmerksamkeit für den kranken, hinfälligen, leidenden Körper auch christologisch motiviert. Sie verdankt sich nicht zuletzt der seit dem 12. Jahrhundert zunehmenden Hinwendung zum Gekreuzigten, auf den sich der Affekt des mystischen Ich in der Haltung der Compassio, des Mitleidens richtet. Aufgrund einer Relation der Ähnlichkeit wird die Haltung gegenüber dem Gekreuzigten auch auf den bedürftigen Anderen übertragen, dessen Körper dadurch zum sakramentalen Körper, zum Körper Christi wird. Im 20. Jahrhundert wird Simone Weil diese Relation unter Berufung auf Mt 25, 31-46 herstellen.46 Die Ähnlichkeitsrelation ist dabei dezidiert eine zwischen Körpern. Weil hat hier die Situation des Malheurs im Blick – eines mit körperlichem Schmerz einhergehenden Zustands, der das menschliche Selbst in einer Weise an seine Grenzen bringt, dass es Freiheit, Kommunikationsfähigkeit, seine Fähigkeit zu Wünschen und letztlich all das verliert, was das Subjektsein ausmacht und seine Fähigkeit begründet, mit Gott in Kontakt zu treten. Nahe am Kadaver ist es als Subjekt nur noch durch Fremdzuschreibung rettbar – dadurch, dass ein Anderer bereit ist, in ihm den Menschen,

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Herausgearbeitet bei Otto Langer in dessen Darstellung der mittelalterlichen Mystik: Langer, Otto: Christliche Mystik im Mittelalter. Mystik und Rationalisierung – Stationen eines Konflikts, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004. Vgl. Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit (VI,1), zweisprachige Ausgabe, übers.u. hg. v. Gisela Vollmann-Profe, Berlin: Verlag der Weltreligionen 2010, S. 422f. Zur Einordnung von Mechthild von Magdeburg in die Armutsbewegung ihrer Zeit vgl. Keul, Hildegund: Verschwiegene Gottesrede. Die Mystik der Begine Mechtild von Magdeburg, Innsbruck: Tyrolia 2004, S. 146-155. Vgl. Weil, Simone: »Die Gottesliebe und das Unglück«, in: dies. (Hg.): Das Unglück und die Gottesliebe, München: Kösel 1953, S. 110-191.

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Christus zu sehen. Der fleischliche, verletzte Körper ist in der Situation des Malheurs der letzte Anker der Subjektivität, mithin der Würde des Individuums. Gleichzeitig ist dieser Anker zutiefst fragil – nicht nur, weil der Körper das Malheur mitverursacht und der körperliche Tod die Rettung unmöglich machen kann. Die dem Subjektkörper zugesprochene Würde, seine Christusähnlichkeit ist nicht, sie wird gesehen, indem der Betrachter eine Zeichenrelation zwischen dem betrachteten Körper und dem Christuskörper herstellt und so den Menschen nahe am Kadaver in ein deutendes Narrativ einbindet. In einer solchen Linie der sakramentalen Zeichenrelation, die den Menschen in seiner körperlichen Bedürftigkeit mit dem Christuskörper verbindet, steht schließlich eine Predigt Papst Pauls VI. aus dem Jahr 1968, gehalten in San José de Mosquera.47 Diese Predigt ist nicht zuletzt deshalb bedeutsam, weil erstmals ein Papst in tropischer Region mit Menschen, die zu den Ärmsten der Armen Lateinamerikas gehören, vor Campesinos, Feldarbeiter*innen, Tagelöhner*innen die Messe feiert. Wie schon für Simone Weil ist auch für Paul VI. der Referenztext die Rede vom Weltgericht aus dem Matthäusevangelium. Er spricht die Mitfeiernden an: »Ihr seid ein Zeichen, ein Abbild, ein Mysterium der Präsenz Christi. Das Sakrament der Eucharistie bietet uns seine verborgene Gegenwart an, lebendig und real; Ihr seid auch ein Sakrament, d.h. ein heiliges Abbild des Herrn in der Welt, eine Widerspiegelung, die eine Vertretung ist und die nicht sein humanes und göttliches Gesicht verbirgt. … Die gesamte Tradition der Kirche erkennt in den Armen das Sakrament Christi, das gewiss nicht einfach gleichzusetzen sei mit der Wirklichkeit der Eucharistie, aber in vollkommen analoger und mystischer Entsprechung damit stehe.«48 Die Sakramentalität, die der Papst den Mitfeiernden zuspricht, würdigt diese in ihrer theologisch lange vernachlässigten körperlichen Bedürftigkeit und Verletzlichkeit. Er verbindet dies mit der Anklage der ökonomischen, die Armut verursachenden Ungerechtigkeit und dem Versprechen, die notwendigen sozialen Reformen zu unterstützen. So beleuchtet der Papst auch die Machtkonstellationen und ökonomischen Verflechtungen, die diese Situation verursachen, und lässt in den Armen die Opfer erkennen. Mit dieser sozialethischen Dimension gewinnt Sakramentalität ihre kulturkritische Perspektive 47 48

Vgl. Bleyer, Bernhard: Die Armen als Sakrament Christi. Die Predigt Papst Paul VI. in San José de Mosquera: Stimmen der Zeit 136/11 (2008), S. 734-746. Zitiert nach B. Bleyer: Die Armen als Sakrament Christi, S. 740f.

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zurück, dir ihr von der Reich-Gottes-Botschaft her eingeschrieben ist. Die Armen als Sakrament Jesu Christi vermitteln einen Blick auf das, was in den gesellschaftlichen Strukturen heil und un-heil ist. Diese Ermöglichung eines veränderten Blicks, einer anderen theoria auf Kultur, vermag denn auch dort fortschreibbar sein, wo mediale Körperinszenierungen die Verletzlichkeit und Bedürftigkeit konkreter Körper ausblenden.

3.

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Damit kehren wir zu Ausgangsfrage zurück: Ist also gerade diese sakramentale Tradition, in der der Mensch in seiner verletzlichen Körperlichkeit zum »Zeichen des Heils«49 wird, in der Lage einen Beitrag zu leisten zur Verständigung über den Menschen heute? Vermag sie angesichts der vielfachen medialen Ausblendung des verletzlichen Körpers ein ebenso analytisch-kritisches wie würdigendes Licht auf gegenwärtige Körperrepräsentationen und Körperpraktiken zu werfen? Und ist es möglich, aus der christlichen Tradition heraus Zeichen zu setzen, Körper zu produzieren, die auch säkular verstehbar sind und so einen öffentlichen Diskurs zu bereichern vermögen? Die Möglichkeit kann hier nur knapp und exemplarisch im Hinblick auf die Fetischisierung des Körpers in den medialen Körperrepräsentationen bei gleichzeitiger Ausblendung des bedürftigen und hinfälligen Körpers erfolgen. Die Parallelen zwischen medialen (Selbst-)Inszenierungen insbesondere von weiblichen Körpern und dem christlich-mystischen Askese-Diskurs liegen auf der Hand.50 Die mediale Präsentation von idealen, trainierten, jugendlichen und gemäß den Vorgaben ökonomischer Verwertbarkeit »schönen« Körpern zeigt sich als Ausdruck eines Begehrens, das, selbst wo dessen Erfüllung gänzlich im Irdischen gesucht wird, als Ausdruck eines Strebens nach Ganzheit, Fülle, Identität, Ewigkeit verstanden werden kann. Es ist eben jenes Begehren, das die Mystiker*innen als Ausgangspunkt ihrer Suche nach Gott begreifen. So mag in einer dezidiert theologischen Perspektive auch das 49 50

So der Titel der Studie von Wenzel, Knut: Sakramentales Selbst. Der Mensch als Zeichen des Heils, Freiburg i.Br. u.a.: Herder 2003. Dies wurde vielfach herausgearbeitet. Pars pro toto seien genannt H. Bublitz: Das Maß aller Dinge; Sander, Hans-Joachim: Von der Askese bis zum Orgasmuszwang. Religiöse Erbstücke im postmodernen Körper. Zwischen Entkörperlichung und Körperwahn, in: Minas Dimitriou/Susanne Ring-Dimitriou (Hg.): Der Körper in der Postmoderne, Wiesbaden: Springer VS 2019, S. 137-150.

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mediale Körperbild und das sich im marktförmigen Streben nach Likes kanalisierende Begehren als Zeichen einer Gottesverwiesenheit deutbar sein. Dabei hat die mystische Tradition das als Gefahr benannt, was Freud später als Fetisch51 bezeichnen wird – dass sich das Begehren in einem Gegenstand abschließt, in dem Fall das eigene »tote« Bild, diesem Versprechen der Ewigkeit, das doch nur Gespenst ist. »Am Ende erstrahlt der ewig jugendliche Körper in himmlischer Schönheit und signalisiert so das Ende aller Begehrlichkeiten. Technologisch produziert gibt der so präsentierte Körper gewissermaßen ›den Geist auf‹, indem er, betont künstlich arrangiert, wie ein ›Zombie‹ erscheint, der als geschlechts- und lebloses Phantasma des Körpers zugleich so täuschend natürlich wie ein Puppe wirkt, die Lebendigkeit bloß simuliert und zugleich, als Fetisch, erotisch aufgeladen ist.«52 Auf dieser Folie gelesen ist die Fetischisierung des (eigenen) Körpers ein Mittel, über die Bedrohung des Selbst hinwegzutäuschen. Und doch ist es gerade der Körper in seiner Widerständigkeit, der diese Täuschung immer wieder als solche entlarvt. Denn ebenso wie der bedürftige Körper des mystischen Ich die endgültige Vereinigung mit Gott in der unio verhindert, zeigt der alternde Körper die Differenz zwischen dem Selbst und der bildlichen Inszenierung und verhindert die totale Identifizierung mit diesem. So ist das Streben nach Vervollkommnung ebenso im mystischen wie auch im gegenwärtig-medialen nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen steht der vielfache Kampf gegen den realen, konkreten Körper – dessen Imperfektion, dessen Bedürfnis und Lust nach Nahrung sowie dessen unvermeidliche Alterung. Dabei lässt die Unterwerfung des Körpers unter eine Konsumlogik den natürlichen Verfall als beschleunigt wahrnehmen. Als Medium der Selbstinszenierung ist der Körper so permanenter Widerstand. Die mystische Tradition kennt diesen Kampf gegen den eigenen Körper hinlänglich und weiß, dass er nicht zu gewinnen ist, es sei denn um den Preis der Auslöschung des eigenen, irdischen Selbst. Es ist ein Ergebnis des mystischen Diskurses, dies nicht negativ, sondern als eine Bedingung von Leben, von Lebendigkeit zu sehen. In diesem Sinne ist das einleitend genannte Zitat Teresas von Avila zu verstehen: »Wir sind keine Engel. Wir haben einen Körper.« Es 51 52

Freud, Sigmund: Fetischismus (Gesammelte Werke 14), London: Imago Publishing Co. 1948, S. 309-317. Vgl. H. Bublitz: Das Maß aller Dinge, S. 31.

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setzt sich fort: »Uns zu Engeln aufschwingen zu wollen, während wir noch hier auf Erden leben […], ist Unsinn«.53 Dabei bleibt die Fetischisierung der medial vermittelten jugendlichen Körper nicht ohne Rückwirkungen auf materiale, soziale, politische und ökonomische Verhältnisse. Wo der kranke, sterbliche, alte Körper systematisch ausgeblendet ist, wird dessen Wahrnehmung automatisch zu einer Erschütterung, der nicht nur die Inszenierungen jugendlicher Ewigkeit entlarvt, sondern auch die eigene Sterblichkeit enthüllt. In der Konsequenz werden diese Körper aus dem Gesichtsfeld und an die Ränder gedrängt – Behinderte und Alternde in die Abgeschlossenheit von Heimen, Sterbende in die Krankenhäuser, Bettelnde aus den Innenstädten, Flüchtende vor und hinter die Grenzen. Die Abwesenheit dieser Körper als blinden Fleck gegenwärtiger Gesellschaft kenntlich zu machen, ist ein Desiderat an den öffentlichen Diskurs. Welchen Beitrag vermag die christliche Tradition, verstanden als Ressource öffentlicher Selbstverständigung, hier zu leisten? Die Frage führt zur künstlerischen Produktion der Gegenwart. Unverkennbar ist das sakramentale Zeichen mit dem ästhetischen Zeichen verwandt.54 Beide besetzen bzw. schaffen einen von den pragmatischen Zwängen des Alltags weitgehend befreiten Raum, der eine Unterbrechung bedeutet. Beide nehmen in Anspruch, Sichtbares zu setzen, das gleichwohl Unsichtbares bzw. bisher nicht Gesehenes »sehen« lässt. Was sie sehen lassen, ist ebenso wenig in einen kognitiven Inhalt abschließend überführbar wie das Sichtbare selbst durch andere (erklärende) Zeichen ersetzt werden kann. Eine Parallelität besteht ebenfalls in der performativen Ausrichtung auf eine Wirkung, die sie bei den Teilnehmenden/Betrachtenden hervorrufen. Sakramentale wie ästhetische Zeichen sind darauf ausgelegt, Erfahrungen zu provozieren, die – womöglich – Veränderungen anstoßen. Zwei Kunstwerke auf der Documenta 14 (2017) haben Fragilität wie Wirkmächtigkeit sakramentaler Zeichenproduktion in einem säkularen, von Virtualität geprägten Umfeld ausgelotet. Der deutsche Filmemacher und Regisseur Romuald Kamarkar hat mit BYZANTION einen Film in zwei Teilen geschaffen, in dessen Zentrum der Song Agni Parthene (O reine Jungfrau), ein

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Teresa von Avila: Das Buch meines Lebens, S. 327f. Herausgestellt inbesondere von H.-J. Höhn: spüren, bes. S. 29-42; vgl. auch Weiland, Maria: Ästhetik gebrochener Gegenwart. Zur Bedeutung der repäsentativen Dimension sakramentalliturgischen Handelns im Gespräch mit Dieter Henrich (ratio fidei 44), Regensburg: Friedrich Pustet 2011.

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marianischer Hymnus der Orthodoxen Kirche steht.55 Teil 1 zeigt eine griechische Version, gesungen von Achimandrit Nikodimos (Panos Kabarnos), der als ein Star der Byzantinischen Musik gilt. Gedreht wurde in der Kirche Ieros Naos Analipseos tou Kyriou in Neos Kosmos in Athen. Der zweite Teil ist eine kirchenslawische Version, gesungen von dem Brüderchor des Klosters Valaam, nördlich von Petersburg und in der dortigen Kirche aufgenommen. Gezeigt wurde der Film auf der Documenta in einem säkularen Raum – einem mittelgroßen, rechteckigen Saal der Orangerie in der Kasseler Karlsaue. Der Film wurde an einer Kurzseite des Raums auf eine dreiteilige Videowand projiziert, so dass das Bild sowohl schwarz gerahmt als auch von zwei schwarzen Streifen unterbrochen wurde. Sowohl mit dem einen Altar zitierenden Triptychon als auch mit den Sitzgelegenheiten, die im Raum aufgestellt waren, sind Analogien zum Kirchenraum gesetzt. Die Besucher*innen sitzen meist in völliger Stille, sehen das Video und lauschen dem Gesang. Auch die Bewegungen sind ähnlich wie in deutschen Kirchenräumen – ruhig, langsam, gesammelt. Der Raum schafft damit sowohl innerhalb der Stadt als auch innerhalb der Documenta eine Unterbrechung, eine Art Sakralraum. Es ist eine Inszenierung von Liturgie, die mit der Formung einer flüchtigen Gemeinde einhergeht. Dem in einem weiten Sinn verstandenen sakramentalen Zeichen des liturgischen Gesangs scheint damit vermittels des digitalen Mediums mühelos die Vermittlung zu gelingen in den ebenso kulturell wie geographisch entfernten säkularen Raum. Und doch ist der Bruch vielfach. Die Form des Triptychons, die das Video in drei Teile unterteilt, hält die Virtualität der Inszenierung im Bewusstsein. Der Kontext der Aufnahmen bleibt unscharf. Sowohl das Kirchenslawische als auch das byzantinische Griechisch sind liturgische Sprachen, die außerhalb der entsprechenden Liturgien nicht gesprochen und so kaum verstanden werden dürften. Markant ist ebenfalls der Bruch zwischen der Virtualität der digital projizierten Körper auf der einen und der präsenten Körper auf der anderen Seite. Damit ist diese liturgische Inszenierung keineswegs Fortsetzung einer Bedeutung von Zeichen, sondern eher deren Zerspielen. Es fehlt der gemeinsame Kontext, die Sprache, das Narrativ, das Verstehen möglich macht. Die Installation spielt so permanent mit der Frage: Was bleibt, wenn es keine Gemeinde (mehr) gibt, keinen geteilten Raum körperlicher Präsenz und kulturellen Verstehens, der das sakramentale Zeichen lesen lässt? Ist es 55

Vgl. https://www.romuald-karmakar.de/film/byzantion; https://www.romuald-karmak ar.de/archive/film/byzantion/reviews

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mystisch im Sinne von opak? Darin bearbeitet die Videoinstallation von Kamarkar die Fragilität des sakramentalen Zeichens als religiöses Zeichen.

Abb. 1: Romuald Kamarkars Film BYZANTION, gezeigt in der Orangerie in der Kasseler Karlsaue.

Quelle: https://www.documenta14.de/de/artists/13706/romuald-karmakar (Standbild).

Einen anderen Weg geht Olu Oguibe mit seinem Das Fremdlinge und Flüchtlinge Monument. Im Kontext der aktuellen Fluchtbewegungen hat Oguibe für den Königsplatz in Kassel einen Obelisken geschaffen und diesen gleichzeitig in mehrere Narrative eingewoben.56 So begründet er selbst die gewählte Form neben dem gewollt Monumentalen damit, dass Obelisken ebenso unfreiwillig nach Europa gebracht wurden, wie Menschen gegenwärtig den Weg dorthin suchen, womit der Obelisk zum Symbol des unfreiwillig Flüchtenden wird. Ein weiteres Narrativ wird aufgerufen durch das Zitat aus Mt 25, 35c, das in den vier in Kassel von den meisten Menschen gesprochenen Sprachen auf den vier Seiten des Obelisken eingraviert ist – in Deutsch, Englisch, Türkisch und Arabisch: »Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt.« 56

Vgl. »Christus in Kassel. Interview mit Olu Oguibe, geführt von Claudia Bohn«, in: art. Das Kunstmagazin 6 (2017), S. 44-47.

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Der Rückgriff auf die Gerichtsrede des Matthäus-Evangeliums, übertragen auf den Körper des Obelisken, lässt das Monument als Christus-Körper sehen und mit ihm die Körper der Flüchtenden, die der Obelisk bezeichnet. Eine dritte Verbindung bildet der Standort: Der Kasseler Königsplatz wurde von dem Oberhofbaumeister Simon Louis du Ry (1726-1799) entworfen, der seinerseits aus einer hugenottischen Flüchtlingsfamilie stammte. Zudem wurde gemäß einer Anekdote der Stadtgeschichte am Königsplatz im Jahr 1792 Johann Wolfgang von Goethe die Übernachtung in einer Herberge verwehrt. Er wurde für einen Franzosen gehalten, der die Ideen der Französischen Revolution weitertragen wollte. Diese Narrative sind wiederum Fluchtgeschichten. Sie zeigen Kassel als eine Stadt, die in der Vergangenheit Flüchtende aufgenommen hat, wenn auch keineswegs immer, und machen dies zum Teil der Stadterzählung. Schließlich erwähnt Oguibe auch den Mord an dem Kasseler Halit Yozgat durch die Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) im Jahr 2006 und verbindet den Obelisken mit der Gedenkstelle auf dem nach dem Mordopfer benannten Halit-Platz, wodurch auch der Obelisk zu einem Monument für einen Einspruch gegen Rassismus und einem Gedenken an dessen Opfer wird. Das Fremdlinge und Flüchtlinge Monument hat keinen religiösen Kontext. Die Bibel ist als Quelle nicht angegeben. Auch wenn Oguibe nicht zuletzt evangelikale Christen in den USA, die die Aufnahme von Flüchtlingen ablehnen, als Adressat*innen nennt, so ist es auch gänzlich säkular verstehbar. Als ästhetisches Zeichen funktioniert es dennoch wie ein sakramentales Zeichen: Es ist ein Körper, der die Körper der Flüchtenden und Fremden in die Öffentlichkeit rückt und mit einem deutenden Narrativ versieht. Dieses Narrativ hat seinerseits eine für das biblische Denken klassische Struktur: In der Erinnerung des Heilsamen der Vergangenheit kommt Hoffnung für die Zukunft zum Ausdruck. Wie Kassel einst Flüchtende aufgenommen hat, so wird es dieser Hoffnung gemäß auch jetzt, angesichts der aktuellen Fluchtbewegungen, Herberge und Heimat geben. Es ist die nahezu unwiderstehliche Vorstellung einer guten, heilen Welt, die das aktuelle Geschehen unter Spannung setzt und einer Bewertung unterzieht. Darin bietet der Obelisk, was Maria Weiland für das christliche Sakrament festgehalten hat, eine »Ästhetik gebrochener Gegenwart«.57

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M. Weiland: Ästhetik gebrochener Gegenwart.

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Abb. 2: Olu Oguibes Das Fremdlinge und Flüchtlinge Monument am neuen Standort in der Treppenstraße von Kassel.

Foto: M. Kutzer.

Die Wirkung von Oguibes Kunstwerk war durchschlagend und zeigte sich nicht zuletzt in der gegensätzlichen Aufnahme.58 Von Anfang an war es eines der Kunstwerke der Documenta 14, die für den Ankauf durch die Stadt Kassel gehandelt wurden. Ebenfalls gewann es den Arnold-Bode-Preis der Stadt. Doch waren auch die Widerstände aus ebenso politischen wie ästhetischen 58

Die Geschehnisse lassen sich anhand der medialen Berichterstattung nachvollziehen. Eine Liste von Links bietet https://de.wikipedia.org/wiki/Obelisk_(Olu_Oguibe)

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Gründen immens. Gegen die Ankaufspläne wandte sich nicht zuletzt die AfD. Deren Stadtverordneter Thomas Materner nannte den Obelisken im Kulturausschuss in der Aufnahme nationalsozialistischen Jargons ideologisierende und entstellende Kunst. Später drohte er damit, Kundgebungen zu organisieren, falls Oguibe nach Kassel kommen würde. Die Stadtverordnetenversammlung beschloss schließlich, dass der Obelisk nicht auf dem zentralen Königsplatz verbleiben solle, was allgemein als Einknicken insbesondere der SPD vor der AfD gewertet wurde. In den Morgenstunden des 3. Oktobers 2018, des Feiertags der Deutschen Einheit, wurde der Obelisk abgebaut – ein Geschehen, das Carin Lorch in der Süddeutschen Zeitung bewusst in einer Sprache schildert, in der der Obelisk verschmilzt mit den Körpern der Flüchtenden: »Das Kommando rollte im Morgengrauen an, unter Polizeischutz, wie es in Kassel heißt. Der Obelisk habe sich gesperrt, es sei nicht einfach gewesen, ihn zu entfernen. Auf einer der letzten Aufnahmen, die in der Lokalzeitung abgebildet sind, scheint er sich – schon am Kran baumelnd – noch einmal den Kasselanern zuzuwenden. Es wirkt, als verabschiede er sich. Ein letztes Mal ist der Satz ›Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt‹ auf dem Königsplatz zu lesen. Danach werden die Einzelteile, die nur unter Aufbietung enormer Gewalt voneinander zu trennen waren, auf einen Bauhof gebracht, wo sie auf ihren Abtransport in die USA warten. Zerlegt und neben einem Haufen Betonsteine abgestellt, stehen sie da wie ihre eigenen Grabsteine. Schon kurze Zeit später legen Bürger auf dem aufgerissenen Pflaster des Königsplatzes, aus dem der Sockel herausgebrochen wurde, Blumen nieder.«59 Dies ist nicht das Ende dieses weiteren Narrativs, das sich an den Obelisken angelagert hat. Künstler und Stadt Kassel einigten sich auf die Treppenstraße als neuen Standort, auf dem das Kunstwerk am 18. April 2019 aufgestellt wurde. Zwischen dem Kulturbahnhof und der Innenstadt begrüßt der Obelisk Ankommende, freilich in erster Linie regional Reisende, denn der Kasseler Fernbahnhof liegt in anderer Richtung. Auf dem neuen Standort bleibt dem Obelisken auch der Konflikt eingeschrieben und hält so die sakramentale Spannung zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte, aufrecht. Olu 59

Lorch, Catrin: »Documenta: Kassel baut Flüchtlingsdenkmal ab«, in: SZ.de vom 4.10.2018, https://www.sueddeutsche.de/kultur/documenta-kassel-bautfluechtlingsdenkmal-ab-1.4155959 vom 20.8.2020.

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Oguibes Monument zeigt damit in eindrücklicher Weise, wie die christlichsakramentale Tradition auch säkular fortgeschrieben werden und Öffentlichkeit mitgestalten kann. Dies steht und fällt mit der Fähigkeit, dem Körper des Fremden, Anderen, Marginalisierten, Prekären Sichtbarkeit, Körper zu geben und diese Sichtbarkeit mit einem Narrativ zu verbinden, das einen Blick, eine theoria darauf ermöglicht, was heil ist und was Un-Heil bedeutet.

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Under Construction1 Fragile Räume Romana Hagyo

Der Titel dieses Aufsatzes bezieht sich auf die Arbeit Women at Work – Under Construction (1999) der Künstlerin Maja Bajević. Zudem formuliert er die Absicht, Konzeptionen des Öffentlichen und Privaten in Anbetracht der aktuellen Situation von Flucht- und Migrationsbewegungen als im Umbau begriffen zu diskutieren. Dieses Vorhaben ist von der Notwendigkeit motiviert, Konzeptionen des Öffentlichen und Privaten daraufhin zu befragen, für welche Personen und für wessen Lebensrealitäten diese relevant sind. Mit dieser Intention werden die künstlerischen Arbeiten Women at Work, Under Construction und Green, Green Grass of Home von Maja Bajević sowie When we where exhaling images von Hiwa K und Research for sleeping Positions von Anna Jermolaewa diskutiert. Der Künstler Hiwa K hat in seiner Installation When we where exhaling images (2017) im öffentlichen Raum auf der Documenta 14 keramische Abwasserrohre horizontal aufgeschichtet. Diese gestaltete er in Zusammenarbeit mit Studierenden der Kunsthochschule Kassel als Schlaf- oder Sanitärräume sowie Wohn- und Kochplätze. Er referierte auf die Situation geflüchteter Menschen im Hafen von Patras (Griechenland), die auf prekäre Übernachtung in dort befindlichen Abwasserrohren angewiesen waren, während sie auf eine Möglichkeit der Weiterfahrt warteten. Einführend werde ich grundlegende Überlegungen zu dichotomen Konzeptionen des Öffentlichen und Privaten thematisieren und auf die in den

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Dieser Text ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung meines Beitrages Hagyo, Romana: »Green, Green Grass of Home: Zur Auflösung der Grenzen privater und öffentlicher Räume in Kontext von Flucht und Migration«, in: Anita Moser/Marcel Bleuler (Hg.): ent/grenzen. Künstlerische und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Grenzräume, Migration und Ungleichheit, Bielefeld: transkript 2018, S. 131-142; sowie Hagyo, Romana: Über das Wohnen im Bilde sein, Wien: Passagen 2020, S. 55-63.

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Kulturwissenschaften in den letzten 20 Jahren konstatierte Diffusion öffentlicher und privater Räume im Kontext von postindustrieller Arbeit und Stadtentwicklung eingehen. Mein Vorgehen ist von der Absicht motiviert, in der Auseinandersetzung mit den ausgewählten Kunstwerken die potenzielle Durchdringung öffentlicher und privater Räume im Kontext von Flucht und Migration zu diskutieren.

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Zur Durchdringung öffentlicher und privater Räume

Seit zwei Jahrzehnten wird in den Kulturwissenschaften die Diffusion öffentlicher und privater Räume diskutiert. Dies geschieht vornehmlich mit Bezug auf soziale Medien, postindustrielle Arbeit2 und Prozesse der Stadtentwicklung.3 Der potenziellen Durchdringung öffentlicher und privater Räume im Kontext von Flucht und Migration wurde im Gegensatz dazu bis dato weniger Aufmerksamkeit gewidmet. Postindustrielle Gesellschaften lassen sich in Bezug auf Raumkonzeptionen wie folgt beschreiben: Der »postdomestische Raum«4 ist einer medialen Durchdringung ausgesetzt. Wir wechseln zwischen Emailverkehr und Chatroom, während wir zuhause auf dem Sofa sitzen und die neueste Reality-Show ansehen. Die Vorhänge sind zugezogen, um Einsicht durch die Nachbar*innen zu verhindern, gleichzeitig wird im Skype-Gespräch die Wohnungseinrichtung sichtbar. Auch ein Selfie muss an diesem Abend noch gepostet werden, zufällig fällt die Präferenz auf jenes Foto, auf dem die Badezimmerwand im Hintergrund zu sehen ist. Die beschriebene Entwicklung wird von einer Neubewertung der Privatheit begleitet.5 Beate Rössler plädiert für den »Wert des Privaten«, wobei sie de2 3

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Vgl. Colomina, Beatriz: »The Century of the Bed«, in: Arge Curated by Vienna (Hg.): The Century of the Bed, Wien: Verlag für moderne Kunst 2014, S. 10-18. Vgl. Siebel, Walter/Wehrheim, Jan: »Öffentlichkeit und Privatheit in der überwachten Stadt«, in: DISP, Heft 153 (2003), https://www.wiso.uni-hamburg.de/fileadmin/s owi/kriminologie/Publikationen/Siebel_Wehrheim_2003_ueberwachte_Stadt.pdf vom 3.8.2019. Paul B Preciado spricht in diesem Zusammenhang von der medialen Durchdringung des »postdomestischen Raumes«; Preciado, Beatriz (Paul B.): Pornotopia, Berlin: Wagenbach 2012, S. 141. Vgl. Döllmann, Peter/Temel, Robert: »Zukünftiges Wohnen zwischen privat und öffentlich« in: dies. (Hg.): Lebenslandschaften. Zukünftiges Wohnen im Schnittpunkt zwischen privat und öffentlich, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 2002, S. 9-14, hier S. 10.

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zisionale, informationelle und lokale Privatheit unterscheidet.6 Das Zuhause, als historisch weiblich konnotierter Raum des Privaten, möchte die Autorin nutzen, um allen Menschen geschlechterunabhängig ein »Leben nach ihren eigenen Entscheidungen« zu ermöglichen.7 Sie spricht in diesem Zusammenhang von lokaler Privatheit. Beate Rösslers Vorschlag nimmt seinen Ausgang von einer dichotomen Konzeption des Öffentlichen und Privaten. Das Gegensatzpaar öffentlich – privat fungiert seit der Entstehung des Haushaltes der bürgerlichen Kernfamilie als eine Grundannahme des Zusammenlebens in den Gesellschaften Europas. Die Auseinandersetzung mit Angelegenheiten von allgemeinem Interesse wird in öffentlichen Räumen verortet. Im Gegensatz dazu soll der private Raum reproduktiven Tätigkeiten dienen, die weiblich konnotiert sind. Diese angenommene dichotome Trennung öffentlicher und privater Räume ist nicht nur mit geschlechterbezogenen Zuschreibungen verbunden. Wie ich anhand von zwei Aspekten ausführen möchte, und in der Folge mit Bezug auf die genannten künstlerischen Arbeiten diskutieren werde, läuft sie Gefahr, gesellschaftliche Machtverhältnisse und minorisierte Lebensrealitäten zu übersehen und zu verstärken. Historische Forschungen, beispielsweise der Sammelband Das Haus in Europa«8 , haben gezeigt, dass die Grenze zwischen öffentlichen und privaten Räumen immer schon durchlässig war. Die Autor*innen befragen das vielschichtige Verhältnis öffentlicher und privater Räume in bürgerlichen Wohnformen Europas des 18. und 19. Jahrhunderts und stellen das Konzept des offenen Hauses vor. Joachim Eibach zeigt, dass Häuser einen Ausgangspunkt bürgerlicher Öffentlichkeit darstellten.9 Diese Forschungen beschränken sich nicht nur auf den Salon als wichtigem Ort bürgerlicher Öffentlichkeit, der für vielfältige kulturelle Zusammenkünfte genutzt wurde und die Möglichkeit zur Formierung des Publikums gab, sondern sie machen auch die Vielfalt an Menschen deutlich, die in den Häusern lebten.10 Dies inkludierte die Kernfamilie, Angestellte, Untermieter*innen und entfernte Verwandte. Nachrichten wurden bei Besuchen und bei Zusammentreffen in Treppenhäusern 6 7 8 9 10

Rössler, Beate: Der Wert des Privaten, 2003, http://90.146.8.18/de/festival2007/topics/d _roessler_lang.pdf vom 3.8.2019. Ebd., S. 5. Eibach, Joachim/Schmidt-Voges, Inken (Hg.): Das Haus in der Geschichte Europas: Ein Handbuch, Berlin: De Gruyter 2015. Vgl. Eibach, Joachim: »Das Haus in der Moderne«, in: J. Eibach/I. Schmidt-Voges (Hg.): Das Haus in der Geschichte Europas, S. 19-40, hier S. 23. Vgl. ebd.

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und Eingangsbereichen sowie in den Wirtschaftsräumen ausgetauscht.11 In den Eingängen und Stiegenhäusern wurden Lieferungen überbracht und – im Speziellen zwischen Bot*innen und Angestellten – Nachrichten ausgetauscht und Geschichten erzählt. Zudem hatten Fenster und Balkone in europäischen Städten eine wichtige Funktion in der Konstitution von Öffentlichkeit und waren Orte der Durchdringung öffentlicher und privater Räume.12 Fenster boten Ausblick auf den Stadtraum und Einsicht in die Innenräume. Fenster und Balkone wurden häufig zur Teilnahme an Aufmärschen und Kundgebungen sowie an Aufständen und Protestaktionen genutzt, dies führte zeitweise zur Vermietung von Balkonen für bestimmte Anlässe.13 Es ist von Bedeutung, im Zusammenhang mit Konzeptionen von Öffentlichkeiten die Frage nach deren Zugänglichkeit zu stellen. Jürgen Habermasʼ Überlegungen zum Ideal der bürgerlichen Öffentlichkeit bieten eine theoretische Grundlage, um Aspekte der Zugänglichkeit und Teilhabe zu diskutieren. Er formuliert drei Bedingungen bürgerlicher Öffentlichkeit: gleichberechtigten Zugang, Gleichwertigkeit der geäußerten Ansichten und das Fehlen des Interpretationsmonopols des Staates oder der Kirche.14 Der Autor konzipiert dadurch einen gesellschaftlichen Idealzustand, dessen Realisation nicht stattfindet. Nancy Fraser diskutiert in ihrer Auseinandersetzung mit den Ansätzen von Jürgen Habermas Fragen der Zugänglichkeit, der Teilnahme und sozialer Ungleichheit in der dualen Konzeption des Öffentlichen und Privaten.15 Sie kritisiert das Konzept einer singulären Öffentlichkeit, die nur speziellen Personengruppen Zutritt zur Verständigung über das Zusammenleben gewährt und minorisierte Lebensrealitäten oder Sprechpositionen übersieht.16 Aus diesem Grund schlägt sie vor, von parallelen oder subalternen Öffentlichkeiten auszugehen.17 Auf diese Weise verdeutlicht sie den Zusammen11 12 13 14 15

16 17

Vgl. Jütte, Daniel: »Das Fenster als Ort sozialer Interaktion«, in: J. Eibach/I. SchmidtVoges (Hg.): Das Haus in der Geschichte Europas, S. 467-483, hier S. 469. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 471. Vgl. Habermas, Jürgen, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2013, S. 97f, 156f. Vgl. Fraser, Nancy: »Öffentlichkeit neu denken. Ein Beitrag zur Kritik real existierender Demokratie«, in: Elvira Scheich (Hg.): Vermittelte Weiblichkeit. Feministische Wissenschafts- und Gesellschaftskritik, Hamburg: Hamburger Edition 1996, S. 151-182, hier S. 159. Vgl. ebd., S. 162. Diverse Autor*innen konzipieren parallele oder mehrdimensionale Öffentlichkeiten, für einen Überblick vgl. etwa Hohendahl, Peter Uwe et al.: »Öffentlichkeit/Publikum«,

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hang zwischen der Zugänglichkeit öffentlicher Räume und gesellschaftlichen Machtverhältnissen.18 Sie weist darauf hin, dass der Zugang zur Öffentlichkeit und zu öffentlichen Räumen abhängig ist von Geschlecht*, Herkunft, sozialer Situation und weiteren Faktoren. Gleiches gilt für den Zugang zu privaten Räumen. Wenn ich mich in meinen Ausführungen auf Theorien des Öffentlichen beziehe, so geschieht dies mit der Absicht, das Verhältnis öffentlicher und privater Räume in den Arbeiten von Maja Bajević, Hiwa K und Anna Jermolaewa zu diskutieren. Meine Argumentation bewegt sich im Feld der visuellen Kultur und verbindet repräsentationskritische und raumtheoretische Zugänge, wie sie beispielsweise von Irene Nierhaus und Christiane Keim/Barbara Schrödl ausgeführt werden.19 Öffentliche Räume konzipiere ich in Anlehnung an Martina Löw als soziale Räume, deren Herstellung sich nicht nur in der Platzierung von Menschen und sozialen Gütern vollzieht, sondern auch als Prozess im Handeln und in ihrer Darstellung und Wahrnehmung.20 Meine Auseinandersetzung mit den Kunstwerken ist von der Absicht motiviert, mit Bezug auf Nancy Frasers eingangs erwähnte Ausführungen21 das komplexe Verhältnis öffentlicher und privater Räume einer differenzierteren Betrachtung zu unterziehen und zum Thema zu machen, dass die dichotome Trennung öffentlicher und privater Räume Gefahr läuft, minorisierte Lebensrealitäten, beispielsweise im Kontext von Flucht und Migration zu übersehen. Mit der Vorstellung von Privatheit wird in westeuropäischen Kontexten das Zuhause als privater Rückzugsraum assoziiert. Ein Zuhause steht aber nicht allen Menschen in gleicher Weise zur Verfügung, wie sich in den künstlerischen Arbeiten zeigt, die ich in der Folge diskutieren werde.

18 19

20 21

in: Karlheinz Barck et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden (Bd. 4.), Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler: 2002, S. 583-637. Vgl. N. Fraser: Öffentlichkeit neu denken, S. 159f. Vgl. Nierhaus, Irene: »Positionen«, in: dies./Felicitats Konecny (Hg.): räumen, Wien: edition selene 2002, S. 11-24, Keim, Christiane/Schrödl, Barbara: »Eine Einleitung«, in: dies (Hg.): Architektur im Film. Korrespondenzen zwischen Film, Architekturgeschichte und Architekturtheorie, Bielefeld: transcript 2015, S. 9-28. Vgl. Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 271f. Vgl. N. Fraser: Öffentlichkeit neu denken, S. 159f.

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2.

Temporäre Spuren im Stadtraum

Maja Bajević (geboren 1967 in Sarajewo, Bosnien Herzegowina) ging nach ihrer Schulzeit nach Paris, um ein Kunststudium zu absolvieren. Noch während ihres Studiums begann der Krieg in Bosnien und Herzegowina und sie konnte dorthin nicht mehr zurückreisen. Als sie nach Beendigung des Krieges in ihre Wohnung in Sarajewo, die sie von ihrer Großmutter übernommen hatte, zurückkehren wollte, war diese von fremden Menschen bewohnt.22 Ihr Versuch, das Apartment und die Besitztümer durch ein Gerichtsverfahren zurückzubekommen, blieb ohne Erfolg. Die Künstlerin beschreibt die Bedeutung ihres verlorenen Zuhauses: »Home inhabits us as much as we inhabit it. We identify ourselves with places and these places punctuate our lives. With their loss, by choice or force, we loose what we lived in them.«23 Der Verlust des Daheims im Kontext von Vertreibung und Flucht stellt ein zentrales Thema in den frühen Arbeiten von Maja Bajević dar, zu denen auch die in diesem Text diskutierten Projekte gehören. Für die Performance Women at Work – Under Construction kooperierte sie im Jahr 1999 mit fünf Frauen, die aus Srebrenica vertrieben worden waren.24 Das Projekt fand statt, als die National Gallery of Bosnia and Herzegowina wegen eines Umbaus eingerüstet war.25 Das Team stickte fünf Tage lang ornamentale Formen in die Abdeckung des Baugerüstes. Die Motive der Formen entstammten den ehemaligen Häusern der Beteiligten. Von der Straße aus waren auf dem netzartigen Gewebe der Fassadenabdeckung die Stickereien zu sehen; die Arbeitenden befanden sich hinter dem semitransparenten Gewebe und waren nur schemenhaft erkennbar. Die Beteiligten hatten durch das Massaker von Srebrenica nicht nur ihre Häuser, sondern auch ihre Verwandten verloren und bestritten zum Zeitpunkt der Performance ihren Lebensunterhalt mit Stick- und Näharbeiten in Sarajewo. Die Stadt Srebrenica hatte seit 1992 als Zufluchtsort für zahlreiche Menschen aus der gesamten Umgebung gedient, da sie unter dem Schutz von niederländischen UN-Friedenstruppen

22 23 24 25

Vgl. Bajević, Maja: »projects«, in: Angela Vettese (Hg.): Maja Bajević, Vicenza: Editione Charta 2008, S. 32-98, hier S. 61. Ebd. Die Namen der Beteiligten sind Fazila Efendic, Zlatija Efendic, Hatidza Verlasevic, Munira Mandzic und Amira Tihic. Die Arbeit war Teil des dreiteiligen Zyklus Women at Work, die anderen Teile hießen Women at Work — The Observers (2000) und Women at Work — Washing Up (2001).

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Abb. 1: Maja Bajević: Women at Work – Under Construction (1999)

courtesy: Maja Bajević und Galerie Peter Kilchmann, Zürich

stand. Die Personen vertrauten auf die Schutztruppen und nahmen schlechte sanitäre Bedingungen und Lebensmittelknappheit in Kauf.26 Im Juli 1995 wurden von serbischen Truppen geschätzte 8000 hauptsächlich männliche

26

Wölfl, Adelheid: »Srebrenica-Gedenken: Emir lernte zu überleben«, in: Der Standard vom 11.6.2016, http://derstandard.at/2000040787800/Srebrenica-Gedenken-Emir-lernt e-zu-ueberleben vom 3.8.2019.

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Personen ermordet. Die Hinterbliebenen hatten oftmals keinerlei Dokumente über den Tod ihrer Ehemänner und somit keinen Pensionsanspruch und mussten deshalb ihren Lebensunterhalt mit Näh- und Stickereiarbeiten verdienen. Zudem beteiligten sie sich an Demonstrationen, um Gerechtigkeit für ihre verstorbenen Verwandten zu fordern. In der Performance wurde die Umbausituation des Gebäudes der National Gallery of Bosnia and Herzegowina genutzt, um durch das Sticken der Motive aus ihren ehemaligen Häusern den Verlust ihres Zuhauses und ihre Trauer zum Thema zu machen. Zudem wurden durch die Intervention temporäre Spuren im Stadtraum hinterlassen und marginalisierte Geschichten eingeschrieben. Auf diese Weise konnten die Akteurinnen, die vornehmlich Heimarbeit verrichteten, am sozialen Leben der Stadt teilnehmen und den öffentlichen Raum mitgestalten. Ich möchte zu dieser Arbeit zwei Lesarten vorstellen: Bojana Pejić diskutiert die Aktion aus der Perspektive der zweiten Frauenbewegung.27 Sie argumentiert, dass mithilfe der weiblich konnotierten Tätigkeit des Stickens Verlust und Trauer öffentlich gemacht werden. Das Sticken wird, so Pejić, durch die Platzierung auf einer Baustelle konterkariert. Sie spricht von der »öffentlichen Verrichtung diverser Handarbeiten«, die als »weibliche Tätigkeiten […] in öffentlichen Räumen aufgeführt werden.«28 Das Sticken, eine mit dem Privaten konnotierte Arbeitsform, wird genutzt, um Trauer und Verlust zu veröffentlichen. Ihre Lesart, dass die privaten Gefühle der Trauer öffentlich gemacht werden, geht von einer Polarität des Öffentlichen und Privaten aus, die mit geschlechterspezifischen Zuschreibungen verbunden ist. Vorausgesetzt wird, dass für die Akteurinnen eine private Sphäre gegeben wäre, aus der das Thema in die Öffentlichkeit gebracht werden kann. Demgegenüber möchte ich eine andere Lesart vorschlagen: Die Performance wurde an der Gebäudefassade der National Gallery in der Situation des Umbaus platziert. Gebäudefassaden haben eine Funktion als Eingrenzung des Innenraums sowie als Öffnung zum Außenraum. Auf diese Weise fungieren sie sowohl als Begrenzung als auch als Verbindung und verweisen auf die wechselseitige Durchdringung öffentlicher und privater Räume.29 Zudem sind die Performerinnen hinter einem semitransparenten Gewebe plat27 28 29

Vgl. Pejić, Bojana: »Fassaden-Werk«, in: I. Nierhaus/F. Konecny (Hg.): räumen, S. 182206, hier S. 191. Ebd. Vgl. Hauser, Susanne: »Die Haut als Zwischenraum«, in: Angela Lammert et al. (Hg.): Die Aktualität des Raums in den Künsten der Gegenwart, Berlin: Akademie der Künste

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ziert. Ihre Position ist weder dem Innen- noch dem Außenraum zuzuordnen. Die Nutzung der Fassade in der Situation des Umbaus und das Einschreiben oder Einsticken der Themen häusliche Arbeit, Flucht und Trauer verweisen auf die Durchdringung öffentlicher und privater Räume im Kontext von Vertreibung und Flucht. Eine dichotome Konzeption öffentlicher und privater Räume geht von der Annahme aus, dass diese Räume für alle Personen in gleicher Weise zugänglich oder vorhanden wären, wie ich eingangs argumentiert habe. Im Rahmen einer Flucht aber werden Räume kurzzeitig provisorisch genutzt, um sich dann wieder auf den Weg zu machen. Das Zuhause, das als privater sicherer Ort der Geborgenheit fungiert hatte, wurde verlassen; es müssen temporär neue Räume hergestellt werden. Die Performance von Maja Bajević und ihren Mitarbeiterinnen stellt einen solchen temporären Raum her, indem die Motive aus den verlorenen Häusern in der Situation des Gebäudeumbaus eingestickt werden. Im Rahmen des Kunstprojektes wurden so temporäre Spuren im Stadtraum von Sarajewo hinterlassen und in diesen marginalisierte Geschichte/n eingeschrieben. Der Titel der Performance Under Construction verweist nicht nur auf die Umbausituation der National Gallery of Bosnia and Herzegowina oder die gesellschaftliche Umbruchssituation, in der die Performance stattfand,30 sondern auch auf die Notwendigkeit, hegemoniale dichotome Konzeptionen öffentlicher und privater Räume, die vom Vorhandensein eines privaten Raumes des Zuhauses ausgehen, zu überdenken. Diese Notwendigkeit motiviert mein Vorhaben, in der aktuellen Situation von Flucht- und Migrationsbewegungen, Konzeptionen des Öffentlichen und Privaten daraufhin zu befragen, für welche Personen und für wessen Lebensrealitäten diese relevant sind.    

30

2005, S. 308-320, hier S. 317 und Schäffner, Wolfgang: »Elemente architektonischer Medien«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1/1 (2010), S. 137-150, hier S. 144. Vgl. hierzu die Projektbeschreibung der Künstlerin, http://majabajevic.com/works/wo men-at-work-under-construction vom 3.8.2019.

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Abb. 2: Maja Bajević: Women at Work – Under Construction (1999)

courtesy: Maja Bajević und Galerie Peter Kilchmann, Zürich

3.

Transparenz und Verhüllung, Zeigen und Verdecken

In der Folge möchte ich auf die Platzierung der Performerinnen auf dem Baugerüst eingehen. Räumlich erhöhte Positionen sind ambivalent, indem sie eine Person gleichzeitig exponieren und ihr den Überblick über die Umgebung ermöglichen. Die Fotografien der Performance (vgl. Abb. 1 und 2) zeigen sowohl die Perspektive der Stickenden (deren Aussicht von oben auf den Stadtraum), als auch den Blick von unten auf das Gebäude. Von der Straße aus sind farbige Motive auf einem Gewebe zu sehen. Durch das semitransparente Gewebe hindurch werden die Arbeitenden schematisch erkennbar. Der durchscheinende Stoff fungiert als Kreuzungspunkt der Blicke in beide Richtungen ähnlich wie das Glas eines Fensters. Die Akteurinnen befinden sich in einer erhöhten Position, vergleichbar mit dem Platz am Balkon oder in der Theaterloge. Möglich ist der Blick von oben bei gleichzeitiger Distanz zum Geschehen: sie sind gleichzeitig sichtbar und geschützt. Wie beispielsweise Beatriz Colomina in ihrem Aufsatz Die gespaltene Wand, häuslicher Voyeurismus gezeigt hat, weisen erhöhte Positionen (beispielsweise auch der Platz in

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der Loge oder das Erkerfenster) auf den geschlechtlich codierten Zusammenhang zwischen räumlichen Situationen und Wechselwirkungen des Blickens hin.31 Blickverhältnisse bilden selbst räumliche und geschlechtlich codierte Beziehungen aus, da, im Rahmen räumlicher Ordnungen geschlechtliche Positionen zugewiesen oder auch überschritten werden.32 Dies gilt in gleicher Weise für die Position der Akteurinnen auf dem Gerüst der National Gallery of Bosnia and Herzegowina. Maja Bajević und ihre Mitarbeiterinnen nutzten den erhöhten Platz auf dem Baugerüst, um die Thematik des Verlusts ihres Zuhauses in den Stadtraum einzuschreiben und den Stickenden Handlungsspielraum zu geben. Auf diese Weise werden marginalisierte Positionen (statt Personen) im Stadtraum sichtbar gemacht. Women at Work – Under Construction referiert auf die weiblich konnotierte Handarbeit, platziert diese aber in erhöhter Position im Stadtraum. Die Fassadenabdeckung als Schnittstelle zwischen Innen- und Außenraum wird genutzt, um im Changieren zwischen Transparenz und Verhüllung, zwischen Zeigen und Verdecken einen temporären Erinnerungsort herzustellen. Dieser machte nicht nur die minorisierten Positionen von geflüchteten Frauen sichtbar, sondern verwies auch auf potenzielle Durchdringung privater und öffentlicher Räume im Kontext von Flucht und Migration.

4.

Die ehemalige Wohnung

Die Werkgruppe Green, Green Grass of Home macht den Verlust von Maja Bajević‹ eigenem Zuhause, ihrer Wohnung in Sarajewo, zum Thema. Der Titel ist eine Referenz auf den gleichnamigen Song von Tom Jones. Im Lied träumt eine Person davon, nach Hause zurück zu kommen und inmitten der eigenen Familie »das Gras von daheim zu berühren«.33 Den Projektbeginn stellte die Produktion des Videos Green, Green Grass of Home (2002) dar. Emanuel Licha 31

32

33

Vgl. Colomina, Beatriz: »Die gespaltene Wand, häuslicher Voyeurismus (1992)«, in: Susanne Hauser et al. (Hg.): Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften. Zur Logistik des sozialen Raumes, Bielefeld: transcript 2003, S. 176-187. Vgl. hierzu auch Kuhlmann, Dörte: Raum. Macht & Differenz, Wien: edition selene 2003, S. 144-168, hier S. 201. Die Autorin diskutiert zwei Vorgänge der Herstellung geschlechtlicher Identitäten in der Architektur: die Zuweisung von Blickrichtungen im Raum und geschlechtliche Segregation. Vgl. Songtexte.com (o.J.), www.songtexte.com/songtext/incognito/always-there23d7c467.html vom 3.8.2019.

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(als damaliger Lebensgefährte) filmte Maja Bajević, während sie ihr ehemaliges Apartment in Sarajewo detailliert beschrieb. Die Videoarbeit stellt eine Reinszenierung der ehemaligen Wohnung auf einer Wiese dar. Zu sehen ist die Künstlerin, während sie den imaginären Grundriss ihrer ehemaligen Wohnung abgeht. Sie beschreibt die Zimmer, die Küche, den Eingangsbereich des Apartments, das sie von ihren Großeltern übernommen hatte. Auch einzelne Gegenstände, Mobiliar und Bilder werden erwähnt. Im Hintergrund sind vorbeigehende Spaziergänger*innen zu sehen, die von der Szene unberührt bleiben.

Abb. 3: Maja Bajević: Green Green Grass of Home – The Construction (2002)

courtesy Maja Bajević und Galerie Peter Kilchmann, Zürich

In der Folge wurde ein Grundrissplan der verlorenen Wohnung erstellt, der die Basis des nächsten Projektteils: Green Green Grass of Home – The Construction (2002) bildete. Anlässlich der Videopräsentation in der Ausstellung Paradiso Perduto (Palazzo dellʼ Arengo, Rimini, 2002) wurde der Wohnungsgrundriss in Originalgröße auf den Boden am Vorplatz des Ausstellungshauses gezeichnet und mit Rasenziegeln ausgelegt. Die beiden Künstler*innen verbrachten

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die Zeit bis zur Eröffnung auf dieser Grünfläche auf Liegestühlen, in der Folge stand die Rasenfläche den Passant*innen als Aufenthaltsort zur Verfügung. Diese zweite Reinszenierung der verlorenen Wohnung schaffte einen temporären Erinnerungsraum, der sich mitten auf einem öffentlichen Platz befand und allgemein verfügbar war. Wer aber die Liegestühle nutzte, war den Blicken der Vorbeigehenden ausgesetzt. Auf diese Weise fungierte das verlorene Zuhause nicht mehr als Schutz- und Rückzugsraum, sondern es musste erinnert und temporär vor aller Augen neu geschaffen werden.34 Alexandra M. Kokoli verweist auf den Verlust des Zuhauses im Kontext von Kriegen: »Recent political events (e.g. the wars in former Yugoslavia) […] compel us to reconsider the interfaces of home and homeland, […] not simply as concepts, but in terms of the lived experiences of exiles, the homeless, refugees […]«.35 Die Verbindung von Konzept und persönlicher Erfahrung zeigt sich in der Publikation … and other stories (von Maja Bajević), wo die Künstlerin den Verlust ihrer Wohnung und ihre Situation mit den Worten: »I feel homeless, thrown out« beschreibt.36 Diese Aussage verdeutlicht den Wert des Zuhauses als Ort der Geborgenheit und Zugehörigkeit. Jener Raum, den Beate Rössler in ihrem Konzept lokaler Privatheit nutzen möchte, um das Recht auf Privatheit zu reklamieren, ist durch Vertreibung und Flucht verloren gegangen. Die Auseinandersetzung mit dem Fehlen eines Zuhauses als sicherem Raum des Rückzugs sowie mit der potentiellen Durchdringung privater und öffentlicher Räume im Kontext von Flucht und Migration findet sich auch in den künstlerischen Arbeiten When we were exhaling images (2017) von Hiwa K und Research for sleeping positions (2006) von Anna Jermolaewa. Beide erstellten die Arbeiten zur Thematik prekärer Übernachtung im öffentlichen Raum aus einer zeitlichen Distanz heraus. Dieses erneute Aufgreifen einer selbst erlebten Situation mit zeitlichem Abstand macht deutlich, dass für die Kunstschaffenden nicht nur das persönliche Erlebnis, sondern kritische Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse im Zentrum stehen.

34 35 36

Vgl. Bajević, Maja: … and other stories, Zürich: Kollegium Helveticum 2002, hier S. 43. Vgl. dies.: Green, Green Grass of Home – The Construction, http://majabajevic.com/wo rks/green-green-grass-of-home/the-construction vom 4.8.2019. Dies.: … and other stories, S. 43. Die Künstlerin reflektiert in ihrem Katalog im Dialog mit ihrem Partner den Verlust ihres Zuhauses.

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5.

»Denn wo ist in diesem Fall Zuhause?«37

Hiwa K wurde im irakischen Teil Kurdistans geboren und flüchtete mit 25 Jahren nach Europa. Er überquerte auf dem Fußweg eine Bergkette, um in den Iran zu kommen. In der Folge gelangte er über die Türkei nach Europa. In Deutschland angekommen, lebte er etliche Monate in Flüchtlingsunterkünften. Im Jahr 2005 begann er ein Kunststudium in Mainz. Seine Arbeiten werden international ausgestellt, beispielsweise in der Einzelausstellung Don’t Shrink Me to the Size of a Bullet im Jahr 2017 in den Kunstwerken Berlin. Das Projekt When we were exhaling images (2017) wurde im Rahmen der Documenta 14 präsentiert. Es handelte sich um eine rund vier Meter hohe Skulptur aus horizontal gestapelten keramischen Abwasserrohren am Friedrichsplatz (Durchmesser je 0,9 m, Länge: 5,7 m). In Zusammenarbeit mit Studierenden der Klasse für Möbeldesign der Kunsthochschule Kassel stattete der Künstler jede Röhre mit einer individuellen Einrichtung aus, die an Zimmer einer Wohnung erinnerte. Zudem gab es Küche, Bad, Wohnzimmer und eine Bar. Er referierte auf die provisorischen Unterkünfte geflüchteter Menschen, die im Hafen von Patras (Griechenland) auf eine Chance zur Weiterfahrt hofften. Manche übernachteten während des Wartens dort mehrere Wochen in gestapelten Abwasserrohren. Der Künstler möchte Ungleichheiten und globale Nord-Süd-Machtverhältnisse aufzeigen und auf Situationen der Flucht aufmerksam machen.38 Im Interview mit Michael Stoeber verdeutlichte er, dass er dafür zwar auf Erlebtes Bezug nimmt, stets aber um damit größere Probleme zur Diskussion zu stellen: »Aber persönliche Geschichten dienen mir immer nur dazu, um mit ihrer Hilfe Themen und Probleme von allgemeinem Interesse zu verhandeln, die für den Spätkapitalismus exemplarisch sind.«39 Das Projekt When we were exhaling images arbeitet auf mehreren Ebenen: Erstens verdeutlicht die Referenz auf das temporäre Übernachten in Rohren sowohl das Bedürfnis nach Schutz und Rückzugsraum als auch die Schwierigkeit, einen solchen 37

38 39

Dieser Zwischentitel bezieht sich auf eine Aussage von Anna Jermolaewa, vgl. Probst, Ursula Maria: »Anna Jermolaewa. Alles läuft nach Plan. Ein Gespräch von Ursula Maria Probst«, in: Kunstforum International, Band 221 (2013), https://www.kunstforum.de/ artikel/alles-lauft-nach-plan vom 5.8.2013. Vgl.: Interview mit Hiwa K von Whitney Jones, https://www.youtube.com/watch?time_ continue=3&v=zQ-HhyTC-5o vom 5.8.2019. Stoeber, Michael, »Hiwa K _ Unser Unterbewusstsein kennt keine Ironie«, Kunstforum, Band 259 (2019), https://www.kunstforum.de/artikel/hiwa-k-2/ vom 4.8.2019.

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Schutzraum auf der Flucht zu finden. Zweitens besteht ein Gegensatz zwischen den auf den ersten Blick ästhetisch gestalteten Unterkünften und der Referenz an die grausame Realität der Flucht. Ebenfalls mit der Thematik prekärer Übernachtung in öffentlichen Räumen befasst sich Anna Jermolaewa in ihrer Videoarbeit Research for Sleeping Positions (2006). Zu sehen ist die Künstlerin auf einer Bank im Wiener Westbahnhof, in der Zeit vor dem Umbau. Sie trägt mehrere Schichten Kleidung übereinander, einen Mantel, aus dem die Kapuze einer Jacke hervorragt und eine Jogginghose. Es muss sich um eine kühle Jahreszeit handeln, da auch die anderen Personen am Bahnhof warme Kleidung tragen. Die Bank ist durch zwei Armlehnen unterteilt, die Künstlerin probiert diverse Sitz- und Liegepositionen bei ihrem Versuch einzuschlafen, seitlich mit angezogenen Beinen, rückwärts gelehnt, den Kopf eingezogen. Umgeben ist sie von Menschen, die stehen, vorbeigehen oder sitzen. Während Jermolaewa eine zurückgelehnte Position versucht, stehen mehrere Personen neben ihr und können ihr zuschauen. Im Hintergrund sind Teile des Bahnhofs sowie Läden zu sehen. Anna Jermolaewa (geboren 1970 in St. Petersburg) stellte im Jahr 2006 eine Situation dar, die sie 17 Jahre zuvor selbst erlebt hatte. Im Jahr 1989 musste sie ihre Heimat verlassen, weil sie die erste Oppositionspartei, die Demokratische Union, mitgegründet hatte. Sie und ihr Partner hatten ihre Wohnung eineinhalb Jahre lang für die Produktion einer oppositionellen Parteizeitung zur Verfügung gestellt. Als Konsequenz waren sie Vernehmungen und Hausdurchsuchungen ausgesetzt.40 Sie erzählt, dass sie über Polen nach Wien gelangte, wo sie eine Woche lang mangels Schlafplatz oder Geld am Westbahnhof übernachten musste. Bei dem Versuch des erneuten Grenzübertritts (auf dem Weg nach Paris) wurde sie verhaftet und in das Lager Traiskirchen gebracht.41 Sie hat ihre Flucht nicht nur in Research for Sleeping Positions bearbeitet, sondern auch im Video Aleksandra Wysokinksa/20 Jahre danach (2009), das eine Begegnung mit jener Frau zeigt, die ihr auf ihrem Weg von Polen nach Wien geholfen hatte. Die Videoarbeit Research for Sleeping Positions verweist auf die Notwendigkeit, von vielen Menschen umgeben, auf einer Bank am Bahnhof übernachten zu müssen, und damit auf das Fehlen privater Räume des Rückzugs im Kontext von Flucht. Die Künstlerin thematisiert in der Arbeit außerdem die 40 41

Vgl. U.M. Probst, Anna Jermolaewa. Vgl. Gabriel, Roland: »In the Studio, Anna Jermolaewa«, in: Collectors Agenda, https:// www.collectorsagenda.com/en/in-the-studio/anna-jermolaewa vom 5.8.2019.

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Grausamkeit, Bänke in öffentlichen Räumen so zu gestalten, dass das Lagern und Übernachten erschwert oder verunmöglicht wird. Über diese Strategien der Verhinderung des Lagerns hat sie im Jahr 2019 eine weitere Arbeit begonnen: Hostile Architecture zeigt architektonische Eingriffe, meist Spitzen oder Dornen, die auf horizontalen Flächen im Londoner Stadtraum angebracht wurden, um das Sitzen oder Übernachten abzuwehren. Es sind jeweils zwei Fotografien kombiniert: Links wird das mit Spitzen versehene Objekt gezeigt, rechts ein unbekleideter Körper mit Abdrücken der jeweiligen Applikationen.42 Anna Jermolaewa erwähnt im Gespräch mit Ursula Maria Probst ihre Auseinandersetzung mit dem Verlust des Zuhauses: »Ich hasse die Frage: ›Fährst du zu Weihnachten nach Hause?‹ Denn wo ist in diesem Fall ›zu Hause‹?«43 Ich habe eingangs darauf hingewiesen, dass in Anbetracht der Diffusion öffentlicher und privater Sphären im Kontext von sozialen Medien, postindustrieller Arbeit und Prozessen der Stadtentwicklung der »Wert des Privaten«44 hervorgehoben wird. Beate Rössler schlägt vor, den historisch als weiblich konnotierten Raum des Privaten zu nutzen, um Personen unabhängig von geschlechtlichen Zuschreibungen die Möglichkeit zu geben, »unbehelligt von Eingriffen des Staates und der Gesellschaft ihr Leben nach ihren eigenen Entscheidungen« zu führen.45 Ein solcher Vorschlag lässt außer Acht, dass der Zugang zu öffentlichen Räumen und die Verfügung über private Räume von gesellschaftlichen Machtverhältnissen, von Geschlecht, Herkunft, sozialem Status und weiteren Faktoren abhängig ist. Maja Bajević‹ Projekte und die Arbeiten von Hiwa K und Anna Jermolaewa verdeutlichen, dass die Grenzen öffentlicher und privater Räume im Kontext von Vertreibung und Flucht verschwimmen bzw. verloren gehen und ein Recht auf Privatheit oder private Räume meist nicht gewährt wird. Aus diesem Grund laufen dichotome Konzeptionen des Öffentlichen und Privaten Gefahr, die Lebensrealitäten von minorisierten Personengruppen zu übersehen. Aufgrund der Notwendigkeit, 42 43

44 45

Vgl. Homepage Anna Jermolaewa: Hostile Architecure, www.jermolaewa.com/hostilearchitecture.html vom 6.8.2019. Vgl. U.M. Probst, Anna Jermolaewa. Diese Aussage ist auch dadurch bedingt, dass ihre restliche Familie in die USA ausgewandert ist und sie daher keine Verwandten mehr in Russland hat. Mit der Stadt St. Petersburg aber setzt sie sich wiederholt auseinander, indem sie alle fünf Jahre dorthin reist, um in der Nähe ihrer ehemaligen Wohnung die Rolltreppe einer U-Bahn-Station zu filmen (vgl. ebd.). B. Rössler: Der Wert des Privaten, S. 7. Ebd., S. 6.

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den eigenen Wohnort zu verlassen und einen neuen zu finden, werden Orte aufgesucht und wieder verlassen, es werden temporäre Quartiere bezogen, die oftmals keinerlei Privatsphäre bieten, wie sich in den Arbeiten von Hiwa K und Anna Jermolaewa zeigt. Dieser Artikel möchte zu Überlegungen anregen, welche Konzeptionen von Öffentlichkeit abseits der dichotomen Setzungen öffentlich-privat möglich sind, um über gegenwärtige Formen von Öffentlichkeit und Privatheit und die jeweiligen Zuschreibungen, die mit diesen Begriffen verbunden sind, nachzudenken.

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Wer erscheint in der Öffentlichkeit? Ein mikropolitischer Ansatz im Kontext der Migrationsdebatte Maria Robaszkiewicz

In den medialen Darstellungen werden Migrantinnen und Migranten größtenteils als eine Menschenmasse gezeigt. Dies wurde besonders während der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 deutlich. In den Medien war von Wellen, Zustrom, Flut und Schwarm die Rede und diese Rhetorik wurde auch von prominenten Politikerinnen und Politikern verwendet.1 Diese Darstellungen sind nicht neutral, sondern implizieren eine normative Gewichtung: Migrantinnen und Migranten scheinen alleine aufgrund ihrer Menge eine physische Gefahr darzustellen; sie werden als eine körperliche Strömung inszeniert, die durch ihre Wucht bedrohlich wirkt. Der mediale Diskurs überträgt sich auf die öffentliche Debatte um Themen der Migration und beeinflusst somit die Art und Weise, wie die migrierenden Menschen in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Ein Blick auf die Debatte innerhalb der Philosophie zeigt, dass diese, obwohl es sich beim Thema Migration um eine der brisantesten und dringendsten Herausforderungen des heutigen gesellschaftlichen und politischen Zu1

Vgl. z.B. Elgot, Jessica/Taylor, Matthew: »Calais crisis: Cameron condemned for ›dehumanising‹ description of migrants«, in: The Guardian vom 30.07.2015, https://www. theguardian.com/uk-news/2015/jul/30/david-cameron-migrant-swarm-languagecondemned vom 19.11.2019; o.V.: »Economic challenges and prospects of the refugee influx«, Briefing des Europäischen Parlaments vom Dezember 2015, www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/BRIE/2015/572809/EPRS_BRI(2015)572809_EN.pdf vom 19.11.2019; vgl. auch: Gröhnheim, Hannah von: Solidarität bei geschlossenen Türen. Das Subjekt der Flucht zwischen diskursiven Konstruktionen und Gegenentwürfen, Wiesbaden: Springer VS 2018, S. 104. In ihrer sehr informativen Studie führt die Autorin eine umfangreiche Diskursanalyse zum öffentlichen Umgang mit Migration und Flucht in den letzten Jahren durch.

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sammenlebens handelt, nur in einigen Bereichen, vor allem in der politischen Philosophie und der angewandten Ethik, geführt wird. Im Vordergrund stehen entweder die ethisch-normative Zulässigkeit beziehungsweise Verwerflichkeit bestimmter mit Migration verbundener Praktiken2 oder normativtechnische Lösungen der im Zusammenhang mit Migration entstehenden Probleme.3 Diese Perspektiven sind ohne Zweifel sehr relevant und tragen wichtige philosophische Stimmen zu der interdisziplinären Migrationsdebatte bei. Doch sie adressieren nicht die philosophisch dringendere Frage nach der Kondition des Menschen unter den Bedingungen der Migration. Es wird darin von den Migrant*innen den Flüchtlingen und den Einwanderern gesprochen, selbst wenn die Autor*innen auf drastische Metaphern verzichten, die aus den Medien und der populistischen Rhetorik bekannt sind. Wenn Migrantinnen, Migranten und Geflüchtete als eine homogene Masse betrachtet werden, die rein durch ihre unkontrollierbare transnationale Fortbewegung charakterisiert wird, in ihrer existenziellen und körperlichen Individualität relativiert und im Effekt unsichtbar gemacht. In diesem Aufsatz zeige ich, dass in den ethnisch und kulturell heterogenen Gemeinschaften in Zeiten verstärkter Migrationsströme die politische Präsenz der Migrierenden nicht auf deren administrativen Status reduziert werden soll, sondern die Möglichkeit ihrer Beteiligung an der Öffentlichkeit untermauert werden muss. Um diese Möglichkeit und ihre Bedingungen zu verstehen und aktiv mitzugestalten, sollen die Aspekte der Individualität und des Miteinanders als gleich wichtig behandelt werden. Eine passende theoretische Grundlage bildet hierzu das Konzept der Pluralität von Hannah Arendt. Weiter gehe ich dem mikropolitischen Ansatz aus Jeffrey Goldfarbs Buch The Politics of Small Things nach, um zu prüfen, inwiefern dieser als eine intersubjektive Kommunikations- und Handlungsstrategie für heterogene Gemeinschaften gelten kann. Abschließend diskutiere ich vor dem Hintergrund der oben genannten Theorien das Potenzial elektronischer Kommunikation und

2

3

Vgl. u.a. Singer, Peter: »Die drinnen und die draußen«, in: Frank Dietrich (Hg.): Ethik und Migration, Berlin: Suhrkamp 2017, S. 60-76; Carens, Joseph H.: »Fremde und Bürger. Weshalb Grenzen offen sein sollen«, in: Andreas Cassee/Anna Goppel (Hg): Migration und Ethik, Münster: Mentis 2012, S. 23-46; Miller, David: Fremde in unserer Mitte: politische Philosophie der Einwanderung, Berlin: Suhrkamp 2017. Vgl. u.a. Goppel, Anna: »Wahlrecht für Ausländer?«, in: A. Cassee/A. Goppel (Hg): Migration und Ethik, S. 255-274; Brock, Gillian: »Brain-Drain – Welche Verantwortung tragen die Emigranten?«, in: F. Dietrich (Hg.): Ethik und Migration, S. 212-231.

Wer erscheint in der Öffentlichkeit?

virtueller Räume für die Politisierung (im Sinne der Befähigung zur politischen Teilhabe) von Migrant*innen.

1.

Das Öffentliche als Handlungsraum

Hannah Arendt beschreibt in einem ihrer wichtigsten Werke, Vita activa oder vom tätigen Leben, die Sphäre des Politischen als einen Handlungsraum, in dem Menschen sich treffen, um miteinander ›etwas Neues‹ zu schaffen. Die Befähigung zum Handeln und Sprechen, so Arendt, ist das, was unser Leben menschlich macht.4 Trotz dieser aristotelisch inspirierten Feststellung lehnt sie die Möglichkeit einer Bestimmung der menschlichen Natur dezidiert ab und konstatiert stattdessen, dass sich menschliche Existenz durch unendliche Bedingtheit charakterisieren lässt. Manche dieser Bedingungen sind allgemeiner Art und betreffen alle; andere resultieren beispielsweise aus der individuellen Lebensgeschichte, der psychologischen und sozialen Veranlagung oder aus der Interaktion mit anderen. Alles, betont Arendt, womit wir in Berührung kommen, wird zur Bedingung unserer menschlichen Existenz.5 Dies gilt sowohl für unsere aktuelle, wie auch biographisch-historische Situierung. Eine solche Verortung des menschlichen Wesens in seiner Bedingtheit bedeutet aber nicht, dass unser Handlungsvermögen eingeschränkt oder vorbestimmt sei. Im Gegenteil: für Arendt ist die menschliche Freiheit im Handeln erfahrbar oder aktualisiert.6 Somit wird Freiheit nicht klassisch als eine Voraussetzung des Handelns verstanden, sondern als eine Erfahrung, welche Menschen, die in den Raum der Öffentlichkeit treten und dort mit anderen handeln und sprechen, machen. Dabei haben die Spontanität und die Unvorhersehbarkeit des Handelns,7 die durch Arendts anthropologische Annahmen begründet sind, entscheidende Bedeutung, denn diese Erfahrung ist weder

4 5 6 7

Vgl. Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München/Zürich: Piper 2007, S. 212. Vgl. ebd., S. 19. Vgl. Arendt, Hannah: »What is Freedom?«, in: dies.: Between Past and Future, New York: Penguin Classics 2006, S. 142-169, insb. 144f. Vgl. H. Arendt: Vita activa, S. 293f.

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im Privaten, noch in Einsamkeit, sondern nur unter Menschen als einzigartige politische Akteure möglich.8 Unter den existenziellen Bedingungen, die alle Menschen betreffen, sind für meine Argumentation zwei von besonderer Bedeutung: Natalität und Pluralität. Natalität ist für Arendt die Tatsache, dass jeder als ein radikal neues Individuum zur Welt kommt und sich somit von jedem anderen unterscheidet, der je lebte, lebt oder leben wird. Das Leben erstreckt sich naturgemäß von der Geburt bis zum Tod. Aber es ist nicht die menschliche Sterblichkeit, die nach Arendt existenziell zentral ist, sondern die Geburt, welche immer ein Element der Welterneuerung mit sich bringt.9 Mit jeder Geburt tritt ein einzigartiges Individuum mit seiner Befähigung zu spontanem Handeln und Sprechen in die Welt. Diese Einzigartigkeit hält Arendt dem sozialwissenschaftlichen Paradigma entgegen, in dem primär nach wiederholbaren menschlichen Eigenschaften gesucht wird, die ein soziologisches Clustering ermöglichen. Die Spontanität des Handelns, die die Erfahrung der politischen Freiheit mit sich bringt, schränkt die Geltung solcher Praktiken auf den Bereich des Sich-verhaltens ein, in dem Schnittmengen zwischen Menschengruppen festgestellt werden können.10 Aufgrund der Einmaligkeit jedes Individuums sind die Entwicklungen im Bereich der menschlichen Angelegenheiten niemals mit Sicherheit vorhersehbar, weshalb der Lauf der Geschichte nicht vorherbestimmt werden kann.11 Mit dieser Diagnose entfernt Arendt sich vom fatalistischen Denken über die Historie der Welt sowie deren Zukunft. Ein solches Potenzial der Welterneuerung schreibt Arendt auch Migrantinnen und Migranten zu.12 Ähnlich wie Neugeborene bringen sie ein Element des Neuen mit sich. Doch anders als bei einer Geburt sind die Neuankömmlinge in der Regel durch ihre Biographie viel mehr bedingt. Sie bringen ein gewisses existenzielles Vermögen mit, das durch ihre Relationen mit der Welt und anderen kontinuierlich angesammelt wird. Das Element des Neuen besteht in diesem Fall primär darin, eine neue Stimme in die gemeinsame Welt 8

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Die Sphäre des Privaten ist für Arendt ein Gegenpol zum Öffentlichen, also eine Sphäre, in der Menschen den engen, emotionalen Relationen und Tätigkeiten, die von dem ›Licht der Öffentlichkeit‹ geschützt werden sollen, nachgehen, vgl. ebd., S. 38ff. Vgl. ebd., S. 18, 316. Vgl. ebd., S. 57. Vgl. ebd., S. 301. Vgl. Arendt, Hannah: »The Crisis in Education«, in: dies.: Between Past and Future, S. 170-193, insb. S. 193.

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zu bringen und damit eine neue Position, aus der gehandelt wird. Dabei sind migrierende Menschen in erster Linie Menschen, die in die Welt hineingeboren wurden, so dass Migrationsgeschichte in diesem Kontext eine Art Mehrwert darstellt. Die zweite entscheidende Bedingung der menschlichen Existenz ist die Pluralität. Damit bezeichnet Arendt »die Tatsache, dass nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben und die Welt bevölkern«.13 Dies bedeutet jedoch mehr als die Trivialität, dass es Menschen in einer Vielzahl gibt. Die menschliche Bedingung der Pluralität hat zwei Facetten: die Einzigartigkeit und die Differenz. Alle Menschen gleichen einander dadurch, dass sie Menschen sind – also unendlich bedingte Wesen. Zugleich ist jeder Mensch kraft der Natalität einzigartig und unterscheidet sich auf diese Weise von jedem anderen. Ohne die Differenz, so Arendt, bräuchten wir kein Sprechen und Handeln, denn jeder wüsste auf Anhieb, was die Bedürfnisse der anderen sind; und ohne die Gleichheit wäre keine Grundlage für das gemeinsame Handeln und Sprechen gegeben.14 In anderen Worten ist die Pluralität jene Bedingung der menschlichen Existenz, die es erlaubt, die öffentliche Sphäre als eine gemeinsame Welt zu unterstellen, in der sich Menschen dadurch begegnen, dass sie miteinander handeln und sprechen, sich einigen oder einander widersprechen. Im Kontext der transnationalen Migration offenbart sich die menschliche Bedingung der Pluralität in diese beiden Facetten. Die Art der Bedingtheit, die ein Mensch mit sich trägt, relativiert sich im Lichte der Tatsache des Menschseins. Zugleich kommen durch die kulturelle Verwurzelung und Entwurzelung sowie die Erfahrung mit Migration konditionierende Elemente dazu, die eine neue intersubjektive und weltliche Relationalität ermöglichen. Arendt betont, dass die gemeinsame Welt im Sinne der öffentlichen Sphäre, die sich durch unser Handeln und Sprechen miteinander aktualisiert, nicht stagnieren oder »versteinern«15 darf. Jeder Mensch schlägt seinen Faden in das Gewebe der Geschichte,16 der zur Entstehung einer Pluralität der erzählbaren Geschichten beiträgt und somit ein Weiterspinnen anregt. Dies bedeutet zwar nicht, dass von Migrationsbewegungen nicht betroffene Gemeinschaften – sollte es diese in der Menschheitsgeschichte je gegeben

13 14 15 16

H. Arendt: Vita activa, S. 17. Vgl. ebd., S. 213. H. Arendt: The Crisis in Education, S. 189. H. Arendt: Vita activa, S. 226.

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haben – zwangsläufig versteinern. Es bedeutet vielmehr, dass die Fäden, die von Migrantinnen und Migranten in das Gewebe unserer gemeinsamen Geschichte gewoben werden, seinen integralen Teil ausmachen. Arendt stellt eine sehr anspruchsvolle Auffassung des Handelns vor, welche die Anerkennung der Einzigartigkeit jedes Menschen, die Achtsamkeit auf zwischenmenschlichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie die prinzipielle – wenn auch auf einem sehr weichen Kriterium basierende – Gleichheit aller Menschen voraussetzt. Doch worin besteht der Anreiz des freien Handelns, wenn mit Gewalt und List die gewünschten Ziele wahrscheinlich zuverlässiger erreicht werden könnten? Und wenn Menschen auf eine unvorhersehbare Weise handeln und damit ihre Einzigartigkeit ausleben, oder im Handeln und Sprechen ihre Freiheit erfahren, wer bestimmt, welche politischen Ansichten zu befürworten sind und welche nicht? Ist es alleine eine Frage meines Urteilens, ob ich mich einer ultranationalistischen Gruppierung anschließe oder einem politisch engagierten Verein, der sich für die bessere Versorgung von Menschen in den türkischen Flüchtlingslagern einsetzt? Diese Fragen deuten auf einen fragilen Status der politischen Ethik in Arendts Denken hin.17 Die scheinbar »intuitiv-chaotische Methode«18 ihrer Schriften sorgt dafür, dass man einige Zeit nach einem normativen Prinzip suchen muss, welches das politische Handeln und Sprechen reguliert. Vor allem vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit Nationalsozialismus sowie ihrer theoretischen Auseinandersetzung mit totalitärer Herrschaft, legt Arendt enormen Wert auf die Pluralität politischer Urteile und Positionen, setzt ihnen aber auch Grenzen. Dabei nimmt sie Bezug auf zwei Figuren der Philosophiegeschichte, die sie zu den wenigen Philosophen zählt, die ein Verständnis von Politik entwickelt hätten: Aristoteles und Kant. Aus der aristotelischen Auffassung des guten Bürgers (später auch Bürgerin), der stets zur Verbesserung der Verfassung des eigenen Staates beiträgt, leitet sie das Prinzip der 17

18

Arendt selbst distanziert sich von der ethischen Perspektive auf das Politische, denn ihrer Ansicht nach befasst sich Ethik mit einem Subjekt im Singular, wohingegen das Politische immer eine Pluralität der Subjekte voraussetzt, vgl. Arendt, Hannah: Das Urteilen, München/Zürich: Pieper 1998, S. 24. Vowinckel, Annette: Geschichtsbegriff und Historisches Denken bei Hannah Arendt, Köln: Böhlau 2001, S. 42. Vowinckels Bezeichnung basiert auf Arendts Polemik gegen Karl Jaspers – ihr lebenslanger Mentor und Freund – und dessen Verständnis der Sozialwissenschaften und ihrer Methodik. Belegt ist dies in der Korrespondenz zwischen Arendt und Jaspers, welche die beiden in den 50er Jahren geführt haben.

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Sorge um die gemeinsame Welt ab.19 Dieses normative Prinzip begleitet uns Menschen in unserem Handeln und Sprechen gemäß dem übergeordneten Ziel, die fragilen Handlungsräume, in denen sich Freiheit offenbart, zu schützen und die Beständigkeit der öffentlichen Sphäre zu sichern. Die Sorge um die Welt ist allerdings, wie jedes allgemeine Prinzip, offen für Interpretationen. Was passiert beispielsweise, wenn ich der Meinung bin, dass ich durch mein Engagement für die Ultranationalisten die gemeinsame Welt am besten schütze? In diesem Fall würden der politischen Urteilskraft Grenzen gesetzt, die aus Arendts Anthropologie und ihrer phänomenologischen Auffassung der Welt als Erscheinungsraum resultieren. Nicht jedes Urteil und nicht jede Meinung können der Sorge um die Welt gerecht werden. In diesem Kontext erinnert Arendt an Kants Konzept des Weltbürgertums, demzufolge die gesamte Erdkugel im ursprünglichen Sinne allen Menschen gehört und kein Ort mehr im Besitz des einen als des anderen ist. Da es sich um eine begrenzte Fläche handelt, können wir uns darauf nicht unbegrenzt verbreiten und treffen irgendwann zwangsläufig aufeinander.20 Wer versucht, so Arendt, bestimmte Individuen von dieser Welt zu schaffen, nur, weil sie einer noch näher zu definierenden Gruppe angehören, verliert selbst das Recht, an der gemeinsamen Welt teilzuhaben.21 Somit halten diskriminierende Ansichten und Handlungen im politischen Raum22 einer normativen Prüfung im Arendtʼschen Sinne nicht stand.

19 20 21 22

Vgl. H. Arendt: Vita activa, S. 23ff. Vgl. hierzu auch: Borren, Marieke: Amor Mundi. Hannah Arendt’s Political Phenomenology of World, Amsterdam: F&N 2009. Vgl. Kant, Immanuel: »Zum ewigen Frieden«, in: ders., Werkausgabe, Band XI, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 214, vgl. auch S. 213. Vgl. Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem, München/Zürich: Piper 2005, S. 402ff. Arendt argumentiert, prominent in ihrem Essay »Reflections on Little Rock«, dass es sich anders im gesellschaftlichen Raum verhält, wo Menschen im Recht sind, sich mit denjenigen zu verbinden, die man sich selbst auswählt. Dieser Essay wurde direkt nach der Veröffentlichung kontrovers diskutiert und Arendts Austausch mit dem Dichter Ralph Ellison brachte sie dazu, ihre Stellung zu revidieren. Vgl. Arendt, Hannah: »Reflections on Little Rock«, in: Dissent 6 (1959), S. 45-56; vgl. auch: Young-Bruehl, Elisabeth: For Love of the World, New Haven, CT/London, UK: Yale University Press 1982, S. 315ff; Steele, Meili: »Arendt versus Ellison on Little Rock: The Role of Language in Political Judgment«, in: Constellations 9/2 (2002), S. 184-206.

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2.

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Gemäß Arendts phänomenologischem Projekt legt sie eine Beschreibung der öffentlichen Sphäre als eines Erscheinungsraumes vor. Dieser Raum entsteht oder wird aktualisiert, wenn Menschen zusammenkommen, um Aktivitäten zu betreiben, die über ihre alltäglichen Routinen hinausgehen. Arendt greift oft nach eindrucksvollen und dramatischen Beispielen, um ein solches gemeinsame Handeln und Sprechen zu veranschaulichen. Dies liegt vor allem an ihrer Leidenschaft für griechischen Antike – so charakteristisch für ihre Zeit und philosophische Sozialisation –, aufgrund derer sie oftmals in die Kritik geraten ist und als elitäre Graecophile abgestempelt wurde.23 An einer anderen Stelle24 habe ich argumentiert, dass die griechische Polis bei Arendt nur ein Beispiel oder Modell eines Handlungsraumes darstellt: eine besonders überzeugende Repräsentation eines politischen Raumes, der in ihren Schriften zum Teil kontrafaktisch stilisiert wird, um diese Funktion zu erfüllen. Arendt bezieht sich auf die Polis nicht als ein historisches Faktum, sondern nutzt sie als Figur, um die Strukturen politischer Erfahrung zu untersuchen. Deshalb hat ihre Schilderung keine historisch begrenzte Relevanz, sondern dient dazu, die politische Öffentlichkeit, von der sie spricht, zu exemplifizieren. Die öffentliche Sphäre stellt Arendt als einen Raum dar, in dem sich Menschen als handelnde und sprechende Wesen einander exponieren. Es gibt einen bedeutsamen Unterschied zwischen so verstandenem Handeln und anderen menschlichen Tätigkeiten. Dieser besteht darin, dass im öffentlichen Erscheinungsraum Menschen zeigen, wer sie in ihrer Einzigartigkeit sind, währenddessen sie in anderen existenziellen Räumen zeigen, was sie in Hinblick auf die bloßen soziokulturellen Charakteristika, die sie mit anderen teilen, sind.25 Das Wer kommt nach Arendt durch das Interagieren mit anderen zum Vorschein; durch den tätigen und sprachlichen Austausch, welcher einen Einfluss auf die gemeinsame Welt beansprucht. Dieser Anspruch ist immer kontingent und fragil, denn politische Ziele lassen sich nicht einfach planen

23

24 25

Ausführlich gegen diesen Vorwurf argumentiert u.a. Euben, J. Peter: »Arendt’s Hellenism«, in: Dana Villa (Hg.): The Cambridge Companion to Hannah Arendt, Cambridge: Cambridge University Press 2000, S. 149-164. Vgl. Robaszkiewicz, Maria: Übungen im politischen Denken. Hannah Arendts Schriften als Einleitung der politischen Praxis, Wiesbaden: Springer VS 2017, S. 38f, 190f. Vgl. H. Arendt: Vita activa, S. 219.

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und realisieren, als würde es sich dabei um eine Art Projektmanagement handeln. Das liegt einerseits an der existenziellen Bedingung der Pluralität: Wie jemand politisch urteilen und handeln wird, können wir nur vermuten, aber nie zuverlässig vorhersehen. Wenn mehrere Menschen zusammenkommen, potenziert sich diese Unsicherheit. Andererseits betont Arendt, dass die anderen viel besser das Wer der in Erscheinung tretenden Person sehen können, als diese Person selbst.26 Denn nur sie sehen den anderen als ein rein handelndes und sprechendes Wesen, ohne den Unterbau des Denkens, Urteilens, der Einbildungen sowie ohne die eigenen Unsicherheiten und Eitelkeiten. Im Kontext der Migration und des diesbezüglichen öffentlichen Diskurses gewinnt die Frage, wer in der Öffentlichkeit erscheint, eine zusätzliche Relevanz. Um die Metaphorik, die ich am Anfang dieses Aufsatzes angesprochen habe, wieder aufzugreifen: Massen, Ströme oder Wellen sind keine Menschen und handeln folglich nicht.27 Es entsteht zwar der Eindruck, dass Migrierende durch mediale Darstellungen und politische Diskurse in der Öffentlichkeit erscheinen. In Wirklichkeit werden sie genau durch diese Praktiken verhüllt: Sichtbar wird in der Regel nur ein Phantombild einer Menschenmasse, die nicht näher bekannt ist, aber trotzdem und gerade deshalb bedrohlich wirkt – aufgrund ihrer Größe, ihrer Undurchsichtigkeit und der ihr zugeschriebenen katastrophalen Auswirkung.28 Entscheidend ist dabei die zwischenmenschliche Greifbarkeit, Sichtbarkeit und Hörbarkeit. Es ist auffällig, dass in einigen Staaten, in denen die

26 27 28

Vgl. ebd. Vgl. H. von Gröhnheim: Solidarität bei geschlossenen Türen, S. 81. In Hinblick auf die Migrationsproblematik sind – vor dem Hintergrund des Kolonialismus und seiner Folgen – die Themen Rasse und Rassismus sehr relevant, und das sowohl historisch als auch aktuell. Eine ausführliche Diskussion dieser Aspekte würde allerdings den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, weshalb ich ihr nur eine Fußnote widme. Die Erforschung des Phänomens der Migration erfolgt interdisziplinär und so werden auch aus unterschiedlichen Fachrichtungen Beiträge geleistet, von denen ich hier exemplarisch nur wenige erwähne, um die Heterogenität des Forschungsfeldes aufzuzeigen: Ahmed, Sara: »A phenomenology of whiteness«, in: Feminist Theory 8/2 (2007), S. 149-168; Fanon, Frantz: Black Skin, White Masks, New York: Grove Press 2008; Ehrkamp, Patricia: »Geographies of migration II: The racial-spatial politics of immigration«, in: Progress in Human Geography 43/2 (2017), S. 363-375; Karagiannis, Evangelos/Randeria, Shalini: »Exclusion as a liberal Imperative«, in: Doris Bachmann Medick/Jens Kugele (Hg.): Migration. Changing Concepts, Critical Approaches, Berlin/Boston, MA: De Gruyter 2018, S. 229-252.

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Zahl der Bevölkerung mit Migrationserfahrungen sehr niedrig ist, die politischen Kräfte, die sich gegen die Aufnahme des von der Europäischen Union vorgeschriebenen Kontingents an Geflüchteten aussprechen, besonders große Unterstützung gewinnen.29 Was unvertraut, fremd und anders ist, wird gefürchtet und abgelehnt. Und wer im öffentlichen Raum nicht erscheint, ist genau das: fremd. Aus der Perspektive der Migrantinnen und Migranten bedeutet das jedoch auch, wenn man Arendt folgt, dass sie selbst als Individuen, wenn sie im öffentlichen Raum nicht in Erscheinung treten oder in Erscheinung treten können, politisch irrelevant und im Ausdruck ihrer Freiheit entkräftet, also als individuelle Menschen machtlos sind. Deutlich zeigt das Marieke Borren auf, die die Unsichtbarkeit illegaler Migrantinnen und Migranten beleuchtet: The politics of in/visibility simultaneously feature regimes of exposing and regimes of obscuring: the first severely impairing the natural invisibility of aliens and the latter their public visibility. Due to the weakening of their legal status, they are more or less deprived of their protective mask one needs to enter the space of appearance. This is especially pressing for undocumented aliens […] Since they obviously do not register as asylum seekers or residents […] they do not »exist« for authorities, nor does society at large see them. This means that they are invisible and deprived of the capacity to appear as a »who«. […] As an undocumented Moroccan who had been in custody as an alien for over half a year said: »I know I don’t exist. That’s simply how things are«.30 Von diesem Beispiel ausgehend, kann weiter über die Folgen einer solchen Unsichtbarkeit nachgedacht werden: In den Medien erscheint ein Terrorist und nicht meine Nachbarin, der mit ihrem Mann und zwei Kleinkindern aus Aserbaidschan nach Deutschland geflüchtet ist und mittlerweile – wie jeder andere – zum Bild meiner Straße gehört. Denn Terroristen sind wie eine Horde wilder Raubtiere, die in der Dunkelheit lauern: Wir wissen, dass sie da

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Vgl. Behringer, Benedikt/Rhode, Carla/Stitteneder, Tanja: »ifo Migrationsmonitor: Die Verteilung von Geflüchteten in der EU«, in: ifo Institut – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München, 72/22 (2019), S. 34-40, insb. S. 36, http s://www.ifo.de/publikationen/2019/zeitschrift-einzelheft/ifo-schnelldienst-222019 vom 19.12.2019. Borren, Marieke: »Towards an Arendtian Politics of In/Visibility«, Ethical Perspectives 15 (2008), S. 213-237, insb. S. 231.

Wer erscheint in der Öffentlichkeit?

sind, obwohl wir sie nie gesehen haben. Und diese nicht fassbare Gefahr aus der Dunkelheit macht uns Angst. Die Auswirkungen der medialen Darstellungen ist natürlich gesellschaftlich und politisch im höchsten Maße relevant. Zugleich muss auch immer wieder betont werden, was eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte: Wer und was in den Medien erscheint, erscheint nicht wirklich – ist für uns nicht greifbar –, nicht spürbar und bleibt nur Teil einer entfernten interund multikulturellen Narration, die in den Zeiten der Globalisierung die ganze Erdkugel umrankt. Die virtuelle Realität ist gemäß dem Ursprung dieses Begriffes eben virtuelle Realität, also nur eine Art Scheinrealität. Wir diskutieren zwar gerne darüber, dass sich unser Leben weitgehend digital abspielt, dass soziale Beziehungen nachgelassen haben und dass fast jeder Mensch auf der Straße nicht auf andere Menschen, sondern auf sein Smartphone schaut. Auch wenn diese Sorgen legitim sind, muss betont werden, dass die Erfahrungen, die wir in dem wie auch immer gearteten virtuellen Raum machen, nur eine Spiegelung dessen sind, was wir in der realen Welt erleben oder erleben wollen. Solange wir uns auf die medialen Darstellungen von Migrantinnen und Migranten die sie als eine menschenmassenförmige Naturkatastrophe zeigen, unkritisch einlassen, statt Räume der Erscheinung in der gemeinsamen Welt mit ihnen zu teilen, bleiben die Migrantinnen und Migranten unheimliche Fremde, atomisierte Riesenstrohfiguren, wie: der Muslime, der Türke, der Araber, der Russe, der Pole, der Schwarze. Diese Generalisierung, die den Menschen seiner Subjektivität beraubt, kann ad infinitum erweitert werden.

3.

Wessen Öffentlichkeit? Das ›große‹ und das ›kleine‹ Handeln

Ich habe argumentiert, dass die Unsichtbarkeit in der Öffentlichkeit mit politischer Machtlosigkeit einhergeht. Um an der Macht teilzuhaben, muss ein Mensch in den öffentlichen Erscheinungsraum eintreten können. Wer nicht auf diese Weise als handelndes und sprechendes Subjekt erscheint, bleibt machtlos. Wie ist es möglich, diesem Zustand entgegenzuwirken? Im alltäglichen Gebrauch wird Politik als eine institutionalisierte Praxis des Verwaltens und Veränderns der Räume menschlichen Zusammenlebens verstanden. Offensichtlich können aber nur wenige Menschen in die Sphäre der institutionalisierten Politik auf nationalen oder internationalen Ebene rücken und auch nicht jeder will oder kann sich an Kommunalpolitik beteiligen. Doch,

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Arendt folgend, wird alles, was in der Öffentlichkeit erscheint, zur politischen Realität und dann muss der Begriff des Politischen jenseits der Institutionen gefasst werden. Politik wird somit nicht auf Beschlüsse auf der politischen Makroebene reduziert, sondern wird als jedes zwischenmenschliche Handeln und Sprechen in einer wie immer kleinen Gruppe verstanden, die durch ihre Aktivitäten die gemeinsame Welt auf einer Mikroebene verändert. Diese Perspektive bringt den mikropolitischen Ansatz von Jeffrey Goldfarb ins Spiel. In seiner Studie stellt Goldfarb die These auf, dass hinter jedem großen politischen Ereignis ein kompliziertes Zusammenspiel von kleinen Geschehnissen steht. Diese ›kleinen Dinge‹ spielen eine entscheidende Rolle für die große Politik, aber diese Rolle wird nicht ausreichend berücksichtigt. Großer Wandel geschieht nicht einfach so – und wenn die ›politics of small things‹ nicht ausreichend und kontinuierlich verbreitet wäre, würde ein solcher Wandel gar nicht zustande kommen.31 Goldfarb entwickelt sein Konzept des Handelns anhand von acht Fallstudien. Diese sind einerseits in den Osteuropäischen Ländern in der Zeit vor dem Ende der Sowjetherrschaft situiert, andererseits in den USA am Anfang des 21. Jahrhunderts. Goldfarb erzählt Geschichten des Widerstandes auf Mikroebene und analysiert ihren Einfluss auf die darauffolgenden politischen Geschehnisse, um den dominanten Modus der politischen Geschichtsschreibung zu hinterfragen. Nicht nur die vordergründig großen Ereignisse auf höchster politischer Ebene oder prominente politische Akteure bestimmen die politische Entwicklung. Hinter dem, was Regierungen, Staatsoberhäupter, nationale und transnationale Organisationen durch ihre Beschlüsse in der Welt verändern, steht eine Vielzahl von einzelnen politischen Akteuren: konkrete, individuelle politische Subjekte, deren Handeln historische Veränderungen in der Welt erst ermöglicht. Statt die politischen Entwicklungen im Sinne eines Systems, eines Organismus oder einer politischen Logik zu interpretieren, greift Jeffrey Goldfarb auf Hannah Arendts politische Phänomenologie zurück.32 Durch die Betonung der Relevanz kleindimensionierter öffentlicher Räume eröffnet Goldfarb eine Perspektive auf das politisch relevante Engagement von Menschen, die, ohne einer Institution beizutreten, in das Licht der Öffentlichkeit treten und etwas Neues anfangen. Es sind Räume des niederschwelli-

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Vgl. Goldfarb, Jeffrey C.: The politics of small things. The Power of the powerless in dark times, Chicago, IL: The University of Chicago Press 2006, S. 2, S. 135f. Eine zweite theoretische Grundlage stellt für Goldfarb das Werk von Erving Goffman dar, J. Goldfarb: The politics of small things, S. 2.

Wer erscheint in der Öffentlichkeit?

gen Handelns, die, wie er aufzeigt, trotzdem einen wesentlichen Beitrag zu politischen Veränderungen leisten können. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwiefern solche Handlungsräume den Migrantinnen und Migranten eine Möglichkeit des öffentlichen Erscheinens im positiven Sinne bieten können, also nicht im Sinne einer ›schädlichen Sichtbarkeit‹? Nach Arendt generieren Menschen Macht, wenn sie in Erscheinung treten, um miteinander zu sprechen und zu handeln. Arendt deutet den klassischen politisch-philosophischen Begriff der Macht als ein hierarchisches Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Herrschenden und den Beherrschten um. Ihr Begriff der Macht bezeichnet ein Machtpotential: die spürbare Befähigung, gemeinsam in der Welt etwas Neues anzufangen, also durch Interaktion mit anderen diese Welt zu beeinflussen und zu verändern.33 Arendt verändert damit den Sinn des Machtbegriffs von einer vertikalen Relation der Machtausübung zu einer horizontalen Relation der Machterzeugung. Der Status einer solchen Machterzeugung ist allerdings sehr fragil, weil »das Machtpotential […] nur in dem Maße existiert, als es realisiert wird. […] Macht ist immer ein Machtpotenzial und nicht etwas Unveränderliches, Meßbares, Verläßliches wie Kraft oder Stärke. Stärke ist, was ein jeder Mensch von Natur in gewissem Ausmaße besitzt und wirklich sein eigen nennen kann; Macht aber besitzt eigentlich niemand, sie entsteht zwischen Menschen, wenn sie zusammenhandeln und sie verschwindet, sobald sie sich wieder zerstreuen.«34 Weltveränderungen oder -erneuerung, die sich ergeben, wenn ein solches Machtpotenzial aktualisiert wird, müssen die Fundamente unseres Zusammenlebens nicht unbedingt erschüttern. Tatsächlich passiert das nur selten und nur im Falle weniger politischer Akteure, wohingegen die Möglichkeit, in die Öffentlichkeit zu treten und Macht mitzuerzeugen und mitzuaktualisieren, jedem Menschen qua handelndes und sprechendes Wesen grundsätzlich zugänglich ist. Die von Goldfarb vorgeschlagene Politik der kleinen Dinge scheint einen geeigneten Rahmen für die Ermächtigung der Unsichtbaren – darunter Migrantinnen und Migranten, die (noch) nicht Teil der existenziell-politischen Gemeinschaft in ihrem Migrationsland geworden sind – zu bieten. Die loci 33 34

Vgl. H. Arendt: Vita activa, S. 251-263, insb. S. 252ff. Ebd., S. 252.

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von Goldfarbs Mikropolitik sind unter anderem ein Theater, eine Buchhandlung, ein Universitätsseminar, eine Straße und ein Küchentisch35 . Ein Raum für das politische Handeln und Sprechen ist ein Raum des Austausches, der Kritik und der Ermächtigung. In einigen Beispielen, die Goldfarb anführt, musste dieser Raum trotz seines öffentlichen Potenzials verborgen werden. Denn in einer Diktatur ist es nicht immer einfach oder gar unmöglich, öffentlichen Widerstand zu leisten: »When friends and relatives met in their kitchens, they presented themselves to each other in such a way that they defined the situation in terms of an independent frame rather than that of officialdom. Clear rituals were observed. […] In this way friendship was forged and a general orientation established. Bonds of trust developed, enabling each individual who took part to forge an identity, a self, that was strikingly different from his or her institutionally defined persona. This was public life hidden in a private space.«36 Es lässt sich nicht unkritisch behaupten, dass demgegenüber die republikanischen Staatsordnungen heutiger europäischer Demokratien viel mehr Freiräume für das Handeln und Sprechen im Sinne Arendts bieten; aber auch in diesem Fall werden dieselben Grundstrukturen benötigt: ein Raum, eine Pluralität von Menschen, eine Offenheit für gemeinsames Sprechen und Handeln. Es ist nicht ein klar definiertes und messbares Ziel, das die Menschen in einem solchen Raum zusammenhält, auch wenn sie eine soziale oder politische Agenda zusammenbringt. Stattdessen ist ein mikropolitischer Handlungsraum ein Raum des Austausches unter der existenziellen Bedingung der Pluralität, also aller Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den zusammenkommenden Menschen. Solche Räume sind eine niederschwellige, offene und nicht institutionalisierte Möglichkeit, die eigene Freiheit im Sprechen und Handeln zu erfahren – gerade auch für Migrantinnen und Migranten. Sobald eine Kommunikationsmöglichkeit entsteht und ein gemeinsames Interesse besteht, – im Sinne Arendts – Sorge um die Welt, können sich alle daran beteiligen, die den Mut haben, aus der Sicherheit des Privaten in die Öffentlichkeit zu treten.

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36

Ein Tisch ist für Arendt eine Metapher des öffentlichen Raumes, der zugleich die daran sitzenden Personen verbindet und trennt, was den zwei Aspekten der Pluralität entspricht, vgl. ebd., S. 66. J. Goldfarb: The politics of small things, S. 15.

Wer erscheint in der Öffentlichkeit?

Solche Räume sind das Gegenteil von Klubs, Vereinen, Parteien und institutionalisierten Versammlungen. Es gibt keine Anmeldeliste, keine Gebühren und kein Statut. Sie basieren nicht auf dieser Art Verpflichtung oder sanftem Zwang, die Zulassungsbedingungen voraussetzen, und somit exklusiv bleiben. Stattdessen sind sie inklusiv und offen, denn die Befähigung zum Sprechen und Handeln ist ein fester Bestandteil der conditio humana. Die Existenz solcher Räume ist ephemer. Das Handeln und Sprechen in solchen Räumen entspringt der menschlichen Spontanität, weshalb sie fragil und unbeständig sind. Sie können entstehen, wo wir sie am wenigsten erwarten und sie lösen sich wieder auf, um an einer anderen Stelle wiederaufzutauchen. Wie kann gewährleistet werden, dass sich Migrantinnen und Migranten im Arendtʼschen Sinne politisieren können? Dafür gibt es keine schnelle, einfache und zuverlässige Lösung. Der Raum der menschlichen Angelegenheiten ist fragil, die Vergangenheit lässt sich nur anhand von Fakten37 interpretieren und die Zukunft des gemeinsamen Handelns lässt sich nicht voraussagen. Zahlreiche gesellschaftliche Herausforderungen stehen der Politisierung der Migrantinnen und Migranten im Wege: das Fehlen einer gemeinsamen Sprache, kulturelle Differenzen,38 oder rechtlichen Barrieren, die über den Aufenthaltsstatus hinausgehen. Die Möglichkeit, dass sich ein mikropolitischer Raum in diesem Sinne eröffnet, ist immer gegeben, doch eine Erfolgsgarantie geht damit nicht einher. Denn sehr häufig sind es alltägliche Situationen, die zum öffentlichen Erscheinungsraum werden: ein Gespräch, ein Treffen, Teilnahme an einer universitären Lehrveranstaltung, gemeinsames Spielen von Kindern auf einem Spielplatz. In all diesen Situationen ist es möglich,

37

38

Arendt unterscheidet zwischen Wahrheit und faktischen Wahrheiten. Wahrheit schreibt sie dem Bereich der Philosophie zu, im Sinne des hypothetischen Ziels der Erkenntnis, während die faktischen Wahrheiten einen weltlichen Bezug haben. Ihr Status ist jedoch fragil, denn sie brauchen Zeugen, müssen nacherzählt werden und kommunikativ geteilt werden, um eine weltliche Realität zu erlangen; sie sind auch Objekt der Interpretation, also der Meinung. Arendt argumentiert, dass es für die öffentliche Sphäre von großer Bedeutung ist, die Fakten nicht zu leugnen, denn sie stellen die Grundlage gemeinsamer Realität dar, vgl. Arendt, Hannah: »Truth and Politics«, in: dies.: Between Past and Future, S. 223-259, insb. S. 233ff. Was unter kulturelle Differenzen tatsächlich fällt und was von anderen Faktoren, wie Persönlichkeit, Erziehung, Bildung, Sozialisation, Gender, ökonomische Situation und ähnlichem abhängig ist, bleibt eine umstrittene Frage, vgl. u.a. Dervin, Fred/Gross, Zehavit (Hg.): Intercultural Competence in Education. Alternative Approaches for Different Times, London: Palgrave MacMillan 2016, S. 1-10.

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184

Maria Robaszkiewicz

dass etwas Neues durch die Begegnung von Menschen in ihrer Pluralität entsteht, völlig unabhängig von ihrer vermeintlich so stark prägenden Kultur. Das Schaffen solcher Mikrohandlungsräume ist eine Tat im Sinne der Sorge um die Welt. Denn der Ausschluss bestimmter Individuen aus dem öffentlichen Raum nur aufgrund ihres ethnischen oder kulturellen Hintergrundes, aber auch ihres sozialen Status, Geschlechts, sexueller Orientierung, Aussehen oder körperlicher Beeinträchtigungen, diskreditiert den Ausschließenden als einen politischen Akteur.

4.

Klein handeln: körperlos? Der Raum des Politischen und der virtuelle Raum

Die Frage, die ich im letzten Teil des vorliegenden Aufsatzes angehen will, ist, ob für die ›politics of small things‹ materielle Handlungsräume notwendig – oder zumindest vorteilhaft – sind oder ob virtuelle Räume, die von digitalen Kommunikationstechnologien ermöglicht werden, diese Funktion gleichrangig übernehmen können. Anders gefragt: Müssen Migrantinnen und Migranten körperlich in der Öffentlichkeit erscheinen, um am gemeinsamen Handeln und Sprechen mitzuwirken? Über die Rolle des Körpers in Arendts Theorie wurde bereits viel diskutiert.39 Zum Teil wird dabei die Grenze zwischen verschiedenen existenziellen Räumen, die Arendt beschreibt, essenzialisiert und es wird argumentiert, dass Arendt den Körper in den Reich des Natürlichen, also Vorpolitischen, verbannt.40 Dies hat zwar eine gewisse Fundierung innerhalb der Quellen, ist jedoch auch ein Gegenstand der Interpretation. So zeigt etwa Sophie Loidolt gemäß ihrer konsequent phänomenologischen Deutung von Vita activa auf, dass es sich hier um unterschiedliche Erscheinungsräume handelt. Diese sind nicht nebeneinander situiert, sondern grenzen aneinander an, überlappen und durchdringen sich, sodass verhandelt werden kann, ob ein Phänomen der einen oder der anderen Sphäre zuzurechnen ist.41 So kann man argu39

40 41

In den letzten Jahren besonders prominent von Judith Butler; vgl. Butler, Judith: Notes Toward a Performative Theory of Assembly. Cambridge, MA: Harvard University Press 2015, S. 99-122. Vgl. Pitkin, Hanna: »Justice: On Relating Private and Public«, in: Political Theory, 9/3 (1981), S. 327-352. Vgl. Loidolt, Sophie: Phenomenology of Plurality. Hannah Arendt on Political Intersubjectivity, New York/Milton Park: Routledge 2018, S. 126-133.

Wer erscheint in der Öffentlichkeit?

mentieren, dass Leiber zwar, wie Arendt betont, ohne jegliche Eigenaktivität in der einzigartigen Form ihrer Körper und im Klang ihrer Stimmen erscheinen, während Menschen als individuelle politische Akteure in der Öffentlichkeit in Erscheinung treten.42 Doch auch diese einzigartigen Leiber sind ein Teil des Wer, insofern, als sie auch ein Aspekt des Neuen sind, welches durch Geburt auf die Welt kommt. Vor diesem Hintergrund scheinen die virtuellen Modi politischer Handlung einen eklatanten Makel aufzuweisen: sie lassen nicht den gesamten Menschen in seiner Einzigartigkeit, also nicht das gesamte Wer, in der Öffentlichkeit erscheinen. Selbst wenn das Bild durch eine Kamera und die Stimme durch ein Mikrofon übermittelt wird, fehlt die wichtige Facette der Berührbarkeit, welche sich nur über materielle Körper aktualisieren kann. Ein virtueller Raum kann also kein vollkommener politischer Raum sein und das aufgrund seiner fundamentalen Körperlosigkeit. Aber ist diese Perspektive in postmodernen Zeiten, wo Digitalisierung allgegenwärtig geworden ist, nicht überholt? Jeffrey Goldfarb diskutiert in seinem Buch von 2006 einige Fälle virtueller politischer Handlung. Er schreibt unter anderem über die Proteste gegen den amerikanischen Antiterrorkrieg im Jahr 2003 und über Howard Deans letztendlich gescheiterten Internetwahlkampf zur Nominierung als Kandidat der Demokraten in den US-Präsidentschaftswahlen von 2004. Goldfarb ist optimistisch und schreibt den Misserfolg des Kandidaten eher seinen öffentlichen – und damit körperlichen – Auftritten zu.43 Im Kontext der Proteste gegen die amerikanische Kriegspolitik weist er auf die entscheidende Rolle der online-Plattform MoveOn hin, die der Kampagne einen nationalen und internationalen Schwung gegeben hat. Goldfarb betont, dass wenige Menschen es mithilfe dieser Internetseite geschafft hätten, eine globale Reaktion auf demokratischer Basis zu bewirken. In seiner Perspektive bietet das virtuelle Handeln perfekte Bedingungen für die Mikropolitik und stellt eine postmoderne Alternative zum globalen Imperialismus sowie zur totalitären Bewegung des Terrors dar.44 Das von ihm an derselben Stelle genannte Beispiel der ›candlelight vigils‹ (nächtliche Mahnwachen mit Kerzen gegen die US Kriegspolitik), die nicht nur an unzähligen Orten in den USA, sondern

42 43 44

Vgl. H. Arendt: Vita activa, S. 219. Vgl. J. Goldfarb: The politics of small things, S. 87. Vgl. ebd., S. 71f.

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auch global rund eine Million Menschen versammelt haben, zeigt eindrucksvoll die Auswirkung virtueller Vernetzung im Kontext des zivilen Ungehorsams. Dafür zitiert Goldfarb den MoveOn Kampagnenchef Eli Pariser: »You could say that MoveOn has a postmodern organizing model […] it’s opt-in, it’s decentralized, you do it from your home.«45 Die Hoffnungen, dass das Internet nicht nur eine Grundlage von ›politics of small things‹ bildet, sondern auch eine neue, globale, demokratische und freie Öffentlichkeit hervorbringt, sind groß. 2011 schreibt Eli Pariser: »To my preteen self, it seemed clear that the Internet was going to democratize the world, connecting us with better information and the power to act on it. The California futurists and techno-optimists […] spoke with a cleareyed certainty: an inevitable, irresistible revolution was just around the corner, one that would flatten society, unseat the elites, and usher in a kind of freewheeling global utopia. During college […] an e-mail referring people to a website I started went viral, I was suddenly put in touch with half a million people in 192 countries. […] I joined forces with another small civic-minded startup from Berkley called MoveOn. […] For a time, it seemed that the Internet was going to entirely redemocratize society. […] And yet the era of civic connection I dreamed about hasn’t come. Democracy requires to see things from one another’s point of view, but instead we’re more and more enclosed in our own bubbles. Democracy requires a reliance on shared facts; instead we’re being offered parallel but separate universes.«46 Pariser setzt mit der Beschreibung der großen Enttäuschung fort, die er mit dem Fortschreiten der Personalisierung des Internets erlebte. Er analysiert und enthüllt die Mechanismen, die im Laufe der Entwicklung virtueller Welt(en) eingeführt wurden sowie die Machtstrukturen, die dahinterstehen: große Softwarekonzerne und globale Politik treiben durch die Personalisierung von Internetnutzung die Kontrolle über individuelle Menschen weltweit und auf eine Weise voran, die noch nie, selbst unter totalitärer Herrschaft, denkbar war. Um an Goldfarbs Beispiel der Dean-Kampagne anzuknüpfen: Während Roosevelt der erste ›Radiopräsident‹ war und Kennedy der erste ›Fernsehpräsident‹, hat es für einen Moment so ausgesehen, als könnte Dean 45 46

Ebd., S. 72. Pariser, Eli: The Filter Bubble. What the Internet is Hiding from you, London: Viking 2011, S. 3ff.

Wer erscheint in der Öffentlichkeit?

der erste ›Internetpräsident‹ werden.47 Zugespitzt formuliert kann man aus heutiger Sicht darin eine historische Ironie erkennen: Das Internet hat sich nicht zu einem freien, globalen, politischen Raum entwickelt, sondern zu einem totalitären Überwachungssystem, in welchem alles nur auf ökonomischen Gewinn abzielt. Nicht der Demokrat Dean mithilfe von MoveOn ist der erste ›Internetpräsident‹ geworden, sondern der Populist Trump mithilfe von Cambridge Analytica. Diese Entwicklung ist das erste Problem mit dem virtuellen politischen Raum. Es lässt sich allerdings aus Arendts Perspektive auf Geschichte sagen: »Es hätte auch anders sein können.«48 Das zweite Problem, das ich in diesem Kontext sehe, sind die Automatismen, die der Personalisierung im Internet dienen. Pariser stellt fest, dass obwohl die Algorithmen, die dafür verwendet werden, häufig unseren Geschmack treffen, doch bei weitem nicht zuverlässig sind; so passiert es sehr oft, dass wir auf dieser Grundlage mit Inhalten konfrontiert werden, die unser Interesse völlig verfehlen.49 Das ist keine Bagatelle, denn es zeigt, dass es sich hier um eine nur scheinbare Personalisierung handelt. Trotz des Eindrucks, dass unser Einblick in das Netz auf uns persönlich zugeschnitten ist, ist er in Wirklichkeit eine nach – so komplizierten, wie undurchsichtigen – Rechenoperationen berechnete Schnittmenge aus Internetaktivitäten von uns und anderen Menschen, die uns vermeintlich ähnlich sind. Der Bezug zu unserer Person, also dazu, wer wir sind ist in diesem Fall weitgehend akzidentell. Mit Arendt kann man sagen, dass Menschen »höchstens [zu] Charaktertypen […], die alles andere sind als Personen«50 werden; mit Pariser: »Both [Facebook’s and Google’s portraits] are pretty poor representation of who you are, in part because there is no one set of data that describes who we are. […] ›We are more than the bits of data we give off as we go about our lives.‹«51 Die Automatismen, die dahinterstehen, können nicht unterscheiden, ob jemand als Subjekt (in Arendtʼschem Sinne) erscheint, sich verbirgt oder eine alternative Identität annimmt. Ein Mensch erscheint einer Maschine ganz anders, als er anderen Menschen erscheint. Und da die Erscheinung in Internet-communities durch eine Maschine vermittelt wird,

47 48 49 50 51

Vgl. J. Goldfarb: The politics of small things, S. 73. H. Arendt: Vita activa, S. 239ff; vgl. auch: Benhabib, Seyla: The Reluctant Modernism of Hannah Arendt, Thousand Oaks: Sage Publications 1996, S. 72. Vgl. E. Pariser: The filter bubble, S. 10; S. 113ff. H. Arendt, Vita activa, S. 223. E. Pariser: The filter bubble, S. 115.

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wird die »Enthüllung der Person im Handeln und Sprechen«,52 in ein dialektisches Verhältnis mit der Verhüllung verstrickt, die in einer nicht nur beabsichtigten, sondern auch von außen unkontrollierbar gesteuerten Reduzierung und Verzerrung der online Repräsentation einer Personen resultieren. Das dritte Problem ist die nur scheinbare Virtualität der Handlung im virtuellen politischen Raum. Das Internet bietet natürlich bisher unvorstellbare Möglichkeiten der Vernetzung zwischen Menschen, die in der realen Welt keine Chance hätten, sich über den Weg zu laufen. Es bietet auch Möglichkeiten, sich ohne großen Aufwand und zunächst getarnt, für eine Sache zu engagieren. Doch ist es weiterhin offenbar, dass die meisten bekannten Fälle virtueller politischer Handlung auf die politische Aktivität in der Welt zielen, in der wir uns als verkörperte, unmittelbar sichtbare und hörbare Personen bewegen. Nicht nur MoveOn diente in erster Linie der Organisation von Protesten, die darin mündeten, dass die realen Menschen in realen politischen Räumen sich zusammenfanden. Auch der Arabische Frühling (oft auch als ›Facebook Revolution‹ bezeichnet), die Gezi Park Proteste, die #MeToo Kampagne (die seit 2017 maßgeblich die Welle der Proteste für Frauenrechte mitgeprägt hat), oder School Strike for Climate (der in kaum mehr als einem Jahr globalen Umfang erreicht hat), um nur einige Beispiele zu nennen: All diese Bewegungen fingen im Internet an oder haben das Internet als Medium intensiv für organisatorische Zwecke genutzt, mündeten aber in Straßenprotesten im großen, zum Teil globalen, Maßstab. Macht entsteht, wenn dutzende, hunderte oder tausende körperliche politische Akteure zusammenkommen und im öffentlichen Raum in Erscheinung treten.53 So verlockend es klingen mag, sich nicht vom Computer wegbewegen zu müssen, um eine Politisierung im Mikropolitischen zu erreichen, so ungenügend ist die Materialität der Touchscreens, Funkmasten, Unterseekabel und Satelliten, um einen vollwärtigen politischen Raum im Arendtʼschen Sinn zu etablieren. Digitale Medien sind ein gut geeignetes Organisationsmittel auch für die kleinpolitischen Handlungsräume, in denen sich Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte, mit und ohne Migrationsbezug, mit und ohne 52 53

H. Arendt, Vita activa, S. 213, Herv. M.R. Judith Butler radikalisiert dieses Konzept des verkörperten Handelns, indem sie die Verbannung der körperrelevanten Probleme aus dem Raum des Politischen bei Arendt kritisiert. Butler Argumentiert, dass einige ethische Ansprüche unmittelbar aus dem Faktum der Verkörperung von Menschen und anderen Lebewesen resultieren. Das Leben zu schützen ist nicht ausreichend, denn wir auch darauf achten müssen, dass das Leben lebenswert ist, J. Butler: Notes, S. 118f.

Wer erscheint in der Öffentlichkeit?

Migrationsinteresse – also alle, die gemeinsam sprechen und handeln wollen – zusammenfinden. Doch letztendlich, wie die von mir aufgeführten Beispiele zeigen, materialisiert sich das Öffentliche in dem, was direkt erfahrbar ist, was uns unmittelbar umgibt und nicht über die Medien vermittelt wird. Momentan scheint die Erschaffung der pluralen und materialen mikropolitischen Räume das geeignete Mittel zu sein, jedem Menschen seine Sorge um die gemeinsame Welt durch Handeln und Sprechen zum Ausdruck bringen zu lassen, auch wenn sie von virtuellen Kommunikationsmitteln unterstützt werden. Vor dem Hintergrund der Arendtʼschen Auffassung des menschlichen Handelns in seiner radikalen Unvorhersehbarkeit, wird die Zukunft zeigen, wie sich unsere zunehmend globalisierte und digitalisierte Welt unter dieser Hinsicht entwickelt.

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Öffentlichkeit und Praktiken

Zur Legitimität zivilen Ungehorsams Das Aufbegehren gegen prekäre Lebensbedingungen aus rechtsphilosophischer Sicht Dominik Harrer

1.

Einleitung

Die aktive Teilhabe an der politischen Gestaltung der Gesellschaft – eine elementare Grundlage demokratisch verfasster Rechtsgemeinschaften – beruht wesentlich auf dem Vermögen zu kritischer Reflexivität, auf dem wachen Bewusstsein mündiger Bürger*innen. Diese sollen im öffentlichen Raum in Erscheinung treten und ihre Interessen artikulieren können. Kritisch-reflexive Öffentlichkeit und eine damit zusammenhängende lebendige Demokratie basieren also wesentlich auf dem Gesehen- und Gehört-werden. Den individuellen sowie kollektiv geteilten Interessen muss eine Stimme gegeben werden können, es braucht den geschützten Austausch von begründeten Meinungen. Ohne diese (Selbst-)Ermächtigung haben die Menschen noch nicht zureichend am politischen Geschehen teil. Der dadurch zum Ausdruck kommende Wille erscheint in der Sprache, d.h. vermittels einer Stimme, die vernommen wird, und durch einen Körper, der gesehen wird, an einem Ort im öffentlichen Raum – wenn von der ›digitalen Öffentlichkeit‹ einmal abgesehen wird. In dieser lassen sich zwar ebenfalls Stimmen vernehmen, doch kann hier – insbesondere aufgrund des virtuellen Settings – nicht ohne weiteres zwischen menschlich-einzigartigem Willen und bloßer ›Maschinenintelligenz‹ unterschieden werden. Jedenfalls hängt die Teilhabe am politischen Geschehen wesentlich von der Möglichkeit ab, einen bestimmten Ort einnehmen und dadurch hör- bzw. sichtbar werden zu können, ob nun auf der Straße oder mithilfe der erforderlichen technischen Mittel auf ›digitalen Bühnen‹. Dazu Hannah Arendt:

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Dominik Harrer

»Handelnd und sprechend offenbaren die Menschen jeweils, wer sie sind, zeigen aktiv die personale Einzigartigkeit ihres Wesens, treten gleichsam auf die Bühne der Welt, auf der sie vorher so nicht sichtbar waren, solange nämlich, als ohne ihr eigenes Zutun nur die einmalige Gestalt ihres Körpers und der nicht weniger einmalige Klang der Stimme in Erscheinung traten.«1 Nicht auf diese Weise in Erscheinung treten zu können, obwohl der Anspruch auf Anerkennung und Achtung der eigenen Person besteht, fordert gleichsam dazu auf, sich trotz der gegebenen Umstände Gehör zu verschaffen und sichtbar zu werden. So kamen und kommen angesichts der fortdauernden multiplen Krisensituation weltweit »große Menschenmassen in der Öffentlichkeit zusammen, um als plurale politische Präsenz und Kraft gesehen und gehört zu werden«, wie Judith Butler schreibt.2 In Zeiten des Lockdowns aufgrund der Covid-19-Pandemie erfahren diese Formen politischen Aufbegehrens, die als konstitutiv für wachsame Demokratien anzusehen sind, zwar eine signifikante Einschränkung.3 Dass es aber auch in einer solchen Lage möglich ist, in der Öffentlichkeit die Stimme zu erheben, um auf Missstände hinzuweisen, zeigen etwa die MAYDAY-Parade und die 10-Jahresfeier des BOEM* in Wien am 1. Mai 2020 sowie die Initiative »CoView19«, die sich zum Ziel gesetzt hat, »auf die politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen von COVID-19 und die begleitenden Maßnahmen zu reagieren – digital und vor Ort.«4 Die politisch motivierte Handlung, die sich als (organisierter) ›zweiter Zwang‹ gegen einen ersten, der auch von der waltenden Regierung selbst kommen mag, zur Wehr setzt, ist also eine besondere Form des Sich-begegnens und Miteinander-sprechens im öffentlichen Raum. Eine solche Handlung drückt im Wesentlichen »ein Recht auf Widerstand gegen Verletzungen des Prinzips moderner Freiheit« aus.5 Besonders an die Marginalisierten, die An-den-Rand-Gedrängten, welche Gayatri Chakravorty Spivak »Subalter-

1 2 3

4 5

Arendt, Hannah: Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper 15 2015, S. 219. Butler, Judith: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, übers. v. Frank Born, Berlin: Suhrkamp 2016, S. 37. Vgl. Ramonet, Ignacio: »Konfrontiert mit dem Unbekannten. Die Pandemie und das Weltsystem«, übers. v. Klaus E. Lehmann, https://www.attac.de/fileadmin/user _upload/bundesebene/SiG/Ramonet_-_Die_Pandemie_und_das_Weltsystem.pdf vom 28.05.2020. https://coview.info/about-us vom 28.05.2020. Vieweg, Klaus: Das Denken der Freiheit. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, München: Fink 2012, S. 330.

Zur Legitimität zivilen Ungehorsams

ne« nennt, ist hier zu denken.6 In dem vorliegenden Artikel soll nun auf eine wiederum besondere Form des politischen Widerstands – jene des zivilen Ungehorsams – näher eingegangen werden. Die begriffliche Definition dieses Phänomens ist umstritten, zumal eher enge und eher weite Bestimmungen vorliegen. Mit der Handlung des zivilen Ungehorsams wird zunächst die genuin rechtsphilosophische Frage aufgeworfen, welche Ziele welche Mittel legitimieren. Der zivile Ungehorsam ist per definitionem illegal, er ist also eine Handlung, die zumindest teilweise außerhalb des positivgesetzten Rechts vollzogen wird. Dennoch wird diese Widerstandshandlung unter Umständen als legitim verstanden und nicht als kriminell – doch unter welchen? Welche politischen Ziele rechtfertigen das Mittel des zivilen Ungehorsams, d.h. die partielle Übertretung des rechtlichen Rahmens? Und wie weit darf dieser Rahmen überschritten werden, wenn die Legitimität eines solchen ›außerrechtlichen‹ Handelns außer Zweifel steht? Diesen Fragen nachzugehen ist kein rein philosophischer Akt. Es mischt sich notgedrungen eine politische Selbstverortung mit hinein, etwa in Anbetracht dessen, welche Stimmen zu Wort kommen und von welchen Phänomenen die Rede ist. Dadurch wird auf dem politischen Feld zumindest implizit Position bezogen. Solange das Denken dabei nicht als Mittel zum Zweck der technisch-praktischen Gesellschaftsveränderung missverstanden wird, sondern im Sinne eines zureichend begründeten intellektuellen Widerstands gegen unzumutbare Verhältnisse auftritt und sich ›nur‹ an einer Selbstaufklärung abarbeitet, geht es dabei auch nicht fehl. Ausgehend von dem genannten besonderen Fall politischen Widerstands, dem zivilen Ungehorsam, werden im Folgenden zunächst die unterschiedlichen Begriffsbestimmungen betrachtet, um im Anschluss daran am Beispiel der »Extinction Rebellion« eine mögliche Form legitimen zivilen Ungehorsams zu untersuchen. In einem weiteren Schritt wird mit Judith Butlers Konzeption der Vulnerabilität eine Kriteriologie für die Legitimität zivilen Ungehorsams ausgearbeitet. Schließlich soll mithilfe der Hegelschen Rechtsphilosophie eine systematisch hinreichende Begründung des fraglichen Gegenstandes unternommen werden. Ich folge dabei der These Klaus Viewegs, dass Hegels »Denken der Freiheit« auch (und bei weitem nicht nur) in Bezug auf

6

Vgl. Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, übers. v. Alexander Joskowicz u. Stefan Nowotny, mit einer Einleitung v. Hito Steyerl, Wien: Turia + Kant 2007 [Original: 1988].

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das »Not- und Widerstandsrecht […] eine theoretisch gehaltvolle, argumentative Grundlage« bildet.7

2.

Zur Definition des zivilen Ungehorsams

Das Phänomen des zivilen Ungehorsams ist ein paradigmatischer Fall politischen Widerstands. Dennoch – oder gerade aus diesem Grund – birgt die Definition des Begriffs viele Tücken. Andrea Pabst weist in ihrer Analyse auf das komplexe Kontinuum der kursierenden Begriffsbestimmungen hin, das nicht nur aus der innerakademischen Diskussion resultiert, sondern auch durch die gezielte Begriffsverwendung in aktivistischen Kreisen erweitert wird. So erklärte Luca Casarini, einer der Sprecher der »Tute Bianche« in Italien, nach den Protesten gegen den G8-Gipfel in Genua 2001, dass die Phase des zivilen Ungehorsams nun zu Ende gegangen sei und zum sozialen Ungehorsam übergegangen werden müsse.8 Pabst fragt sich im Anschluss an diese Forderung, wie sozialer Ungehorsam von zivilem unterschieden werden soll und wie der Übergang von dem einen zum anderen aussehen könnte; allerdings findet sie darauf weder in der Fachliteratur noch in den Positionierungen der Aktivist*innen eine zufriedenstellende Antwort. Die hierbei relevanten Begriffe, so Pabst, werden – wenn überhaupt – kaum einheitlich bestimmt. Und sie fügt hinzu, dass es sich um Begriffe handelt, die in besonderer Weise politisch umkämpft sind: »Die Begriffspolitik besteht in der akademischen Auseinandersetzung über angemessene Definitionen einerseits und der damit verbundenen politischstrategischen Verwendung der Begriffe durch AktivistInnen andererseits.«9 Pabst nennt etwa Jürgen Habermas, um eine eher enge Definition des zivilen Ungehorsams vorzustellen, die überaus prominent ist. Diese Bestimmung führt die folgenden Bedingungen an, unter welchen ziviler Ungehorsam legitim zu nennen ist: Es muss der Zweck des Appells an die Einsichtsfähigkeit 7 8

9

K. Vieweg: Das Denken der Freiheit, S. 19f. Pabst, Andrea: »Vom zivilen zum sozialen Ungehorsam und zurück?«, https://www.lin ksnet.de/index.php/artikel/21243 vom 30.09.2019. (Für die Langfassung dieses Artikels siehe: Kastner, Jens/Spörr, Bettina [Hg.]: »nicht alles tun«. Ziviler und Sozialer Ungehorsam an den Schnittstellen von Kunst, radikaler Politik und Technologie, Münster: Unrast 2008.) Ebd.

Zur Legitimität zivilen Ungehorsams

und den Gerechtigkeitssinn vorherrschen; ziviler Ungehorsam ist ein moralisch begründeter Protest; er ist ein öffentlicher Akt; er schließt die vorsätzliche Verletzung einzelner Rechtsnormen ein; er verlangt die Bereitschaft, für die rechtlichen Folgen der Normverletzung einzustehen; die Regelverletzung darf ausschließlich symbolischen, also kommunikativen Charakter haben. Aus diesem letzten Punkt ergibt sich die Begrenzung auf gewaltfreie Mittel.10 Dieser eher engen Definition stellt Pabst eine weite Auffassung gegenüber, die sie bei Howard Zinn vorfindet, einem US-amerikanischen Historiker, Drehbuchautor und Aktivisten. Zinn zufolge handle es sich bei zivilem Ungehorsam um »the deliberative violation of law for a vital social purpose«11 – oder wie es in der Übersetzung von Andrea Pabst heißt: ziviler Ungehorsam ist »die überlegte und gezielte Übertretung von Gesetzen um dringender gesellschaftlicher Ziele willen.«12 Damit sind mehrere Elemente im ›komplexen Kontinuum‹ der begrifflichen Bestimmung zivilen Ungehorsams benannt: Die Definition des zivilen Ungehorsams kann entweder eng oder weit ausfallen, sie kann eher restriktiv oder permissiv sein; der »qualifizierte Rechtsgehorsam« (Habermas) kann zum unbedingten Prinzip gemacht oder eher in der Schwebe gehalten werden – je nachdem, wie der von Zinn eingebrachte Begriff des »vital social purpose« verstanden wird. Auch die Gewaltfreiheit ist ein wesentliches Thema: Dieser Aspekt zieht unter anderem die Frage nach sich, welcher Begriff von Gewalt der Definition zugrunde gelegt wird, ob etwa zwischen der Gewalt gegen Sachen und jener gegen Personen unterschieden wird.13 Auch der Begriff 10

11 12

13

Vgl. Habermas, Jürgen: »Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat«, in: ders., Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften V, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 79-99, hier S. 83f. Zinn, Howard: Disobedience and Democracy. Nine Fallacies on Law and Order, New York, NY: Vintage 1968, S. 39. Pabst, Andrea: »Ziviler Ungehorsam: Annäherung an einen umkämpften Begriff«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 25-26 (2012), S. 23-29, hier S. 24. – Im Original heißt es an dieser Stelle weiter: »[T]his would include violating laws which are immoral whether constitutional or not, and laws which themselves are not at issue as well as those that are.« Die Frage nach den Mitteln zivilen Ungehorsams lässt Zinn offen, erläutert aber in zwei Punkten seine Position zur Anwendung von Gewalt (siehe nächste Fußnote). Vgl. dazu auch insgesamt das Kapitel »Fourth fallacy: that civil disobedience must be absolutely nonviolent«, in: H. Zinn: Disobedience and Democracy, S. 39-53, bzw. die folgende Stelle daraus (S. 39f.): »I would leave open the question of the means of disobedience, but with two thoughts in mind: 1. that one of the moral principles guiding the advocate

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der Zivilität ist umstritten: Dieser kann mit der ›bürgerlichen Gesellschaft‹ in Zusammenhang gebracht werden; so wird oft statt zivilem von bürgerlichem Ungehorsam gesprochen. Damit erhält eine solche Protestaktion jedoch eine verhängnisvolle »staatsbürgerliche Konnotation«, die sowohl für die Selbstdarstellung als auch für die Fremdbeschreibung von ›Ungehorsamen‹ oftmals problematisch sei, wie Pabst kritisch einwendet.14 Eine ähnliche Diagnose stellt Robin Celikates: Der Begriff des zivilen Ungehorsams sei zwar schon immer ein politisch umkämpfter Begriff gewesen, doch besonders in der gegenwärtigen öffentlichen Wahrnehmung herrsche »ein zwiespältiges Bild« vor.15 Und in Bezug auf die habermasianische Definition, die in weiten Teilen derjenigen von John Rawls entspricht, urteilt Celikates, dass sich in der philosophischen Diskussion »so gut wie alle Bestandteile […] als umstritten erwiesen [haben].«16 So greife Habermas die Rawlssche Idee der »fair notice« auf,17 womit auch der Begriff der Öffentlichkeit eng zusammenhängt. Nach Habermas ist der zivile Ungehorsam »ein öffentlicher Akt, der in der Regel angekündigt ist und von der Polizei in seinem Ablauf kalkuliert werden kann«.18 Celikates fragt nun, was »öffentlich« hier genau meint. Rawls zufolge ist ziviler Ungehorsam insofern öffentlich, als er »nicht insgeheim ausgeführt« werden solle: »A further point is that civil disobedience is a public act. Not only is it addressed to public principles, it is done in public. It is engaged in openly with fair notice; it is not covert or secretive.«19

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of civil disobedience is his belief that a nonviolent world is one of his ends, and that nonviolence is more desirable than violence as a means; 2. that in the inevitable tension accompanying the transition from a violent world to a nonviolent one, the choice of means will almost never be pure, and will involve such complexities that the simple distinction between violence and nonviolence does not suffice as a guide.« Vgl. A. Pabst: Vom zivilen zum sozialen Ungehorsam und zurück? Celikates, Robin: »Ziviler Ungehorsam – zwischen Gewaltfreiheit und Gewalt«, in: Franziska Martinsen/Oliver Flügel-Martinsen (Hg.): Gewaltbefragungen. Beiträge zur Theorie von Politik und Gewalt, Bielefeld: transcript 2013, S. 211-226, hier S. 211. Ebd., S. 213. Rawls, John: A Theory of Justice. Revised Edition, Cambridge, MA: Harvard University Press 1999, S. 321. J. Habermas: Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat, S. 83. J. Rawls: A Theory of Justice, S. 321.

Zur Legitimität zivilen Ungehorsams

Wenn Habermas nun die Idee der »fair notice« aufnimmt, ergeben sich erhebliche Schwierigkeiten dabei, bestimmte Fälle augenscheinlich zivilen Ungehorsams als solche erfassen zu können, wie Celikates hervorstreicht: »Es bedarf […] keiner aufwendigen historischen Recherchen, um zu dem Schluss zu kommen, dass die erfolgreiche Ausübung zahlreicher allgemein anerkannter Formen des zivilen Ungehorsams – etwa das Blockieren einer vielbefahrenen Kreuzung, die Besetzung eines Hafens oder Bahnhofs oder die Behinderung der Abschiebung illegalisierter Migrantinnen und Migranten – gerade davon abhängt, dass die Behörden nicht im Vornherein von den Aktionen unterrichtet werden und die Polizei diese nicht in ihrem Ablauf kalkulieren kann. Theoretisch ebenso wie politisch ist es daher höchst fragwürdig, diese Protestformen per definitionem aus der Kategorie zivilen Ungehorsams auszuschließen, was auch immer man im Einzelnen von ihnen halten mag.«20 In diesem Zitat treten mögliche Rechtfertigungsgründe für zivilen Ungehorsam im Sinne des »vital social purpose« nach Howard Zinn deutlich hervor. Rawls zufolge ist ein solcher Protest aber nur dann legitim, wenn individuelle Rechte oder Verfassungsgrundsätze verletzt werden, also nicht etwa im Falle ›bloßer politischer Differenzen‹. Auch Ronald Dworkins Position scheint auf den ersten Blick in diese Richtung zu weisen. Wie Celikates kritisch festhält, sei ziviler Ungehorsam Dworkin zufolge »nur in ›matters of principle‹, nicht aber in ›matters of policy‹ legitim«.21 So diskutiert Dworkin (wie auch Habermas und andere) die politischen Ziele und Strategien der Anti-AtomBewegung, die in den 1980er-Jahren dagegen protestierte – und gerade mittels zivilen Ungehorsams –, dass in Europa US-amerikanische Nuklearwaffen stationiert werden. Im Gegensatz zur US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, die von Fragen der Gerechtigkeit und der Grundrechte ihren Ausgang nahm, hätte die Anti-Atom-Bewegung politische Ziele verfolgt, die es aufgrund der grundsätzlich anders gelagerten Motivation zumindest als fraglich erscheinen lassen, so Dworkin, diesen zivilen Ungehorsam als legitim anzuerkennen. Celikates will nun zeigen, dass die von Dworkin getroffene Un-

20 21

R. Celikates: Ungehorsam – zwischen Gewaltfreiheit und Gewalt, S. 213. Celikates, Robin: »›Veränderungen an sich sind immer das Ergebnis von Handlungen außerrechtlicher Natur‹. Subjektive Rechte, ziviler Ungehorsam und Demokratie nach Arendt«, in: Rechtsphilosophie. Zeitschrift für Grundlagen des Rechts 1 (2017), S. 31-43, hier S. 39.

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terscheidung zwischen ›prinzipiellen‹ Anliegen einerseits und ›administrativpolitischen‹ Einwänden andererseits nicht so einfach getroffen werden könne. Mit einer übermäßigen Konzentration auf die individuellen Rechte drohen, wie er betont, »sowohl bestimmte Formen der sozioökonomischen Ungleichheit […] als auch jene prozeduralen und institutionellen Demokratiedefizite, […] die die effektive Beteiligung der BürgerInnen an der Selbstgesetzgebung beeinträchtigen, als potentielle Rechtfertigungsgründe aus dem Bild zu verschwinden.«22 Angesichts dieser wichtigen Kritik ist aber auch zu bemerken, dass für Dworkin gerade die sozioökonomische Ungleichheit Grund genug sein könnte für die Legitimität zivilen Ungehorsams. Dworkin zufolge stellen das subjektive Gewissen einerseits und gute Argumente andererseits die Rechtfertigungskriterien für ›bürgerlichen Ungehorsam‹ dar. Sich dem Gesetz gegenüber ungehorsam zu verhalten ist also dann gerechtfertigt, wenn »wichtige persönliche oder politische Rechte beschränkt« werden.23 Der wertgebundene egalitäre Liberalismus Dworkins setzt dabei die Gleichheit der Menschen als oberstes Prinzip an und nicht wie der libertäre Liberalismus die (negative Gewerbe-)Freiheit. Bei legalen, aber illegitimen Beschneidungen des Rechts, etwa in Bezug auf die Ressourcengleichheit, scheint der zivile Ungehorsam also auch Dworkin zufolge ein legitimes, adäquates Mittel politischer Dissidenz zu sein. In seiner Diskussion der Legitimität zivilen Ungehorsams vor dem Hintergrund der geplanten Stationierung von US-amerikanischen Atomwaffen auf europäischem Territorium geht es ihm in erster Linie darum, den Unterschied herauszustreichen, der zu anderen Formen des zivilen Ungehorsams besteht: »If protests against the deployment of atomic weapons in Europe, for example, are ordinarily challenges to policy rather than to principle, then civil disobedience is a very different matter from that directed, in earlier decades, against unjust wars and racial discrimination.«24

22 23 24

Ebd. Dworkin, Ronald: »Bürgerlicher Ungehorsam«, in: ders., Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 337-363, hier S. 345. Dworkin, Ronald: A Matter of Principle, Cambridge, MA/London, UK: Harvard University Press 1985, S. 3 (Herv. D.H.).

Zur Legitimität zivilen Ungehorsams

Dabei unterscheidet er erstens zwischen Formen zivilen Ungehorsams, die einerseits »integrity-based« oder »justice-based« und durch prinzipiengeleitete Überzeugungen gekennzeichnet sind, und jenen Formen andererseits, die »policy-based«, d.h. auf konkrete politische Initiativen oder Ziele bezogen sind, also nicht in demselben Maße von Integrität und Gerechtigkeitssinn getragen werden.25 Zweitens trifft er die Unterscheidung zwischen überzeugungskräftigen Strategien, die also auf stichhaltigen Argumenten beruhen, und solchen Strategien, die dieses Kriterium nicht erfüllen. Ziviler Ungehorsam, der auf der Ablehnung konkreter politischer Vorhaben beruht (und nicht so sehr auf Integrität und Gerechtigkeitssinn) sowie darüber hinaus in seinen Strategien auf argumentative Kohärenz eher verzichtet, sei dabei am wenigsten zu rechtfertigen bzw. am schwächsten.26 In diesem Fall wird laut Dworkin gegen ein Regieren opponiert, das nicht als ungerecht oder rechtswidrig eingeschätzt wird, sondern einfach als unklug (oder auch gefährlich). Diese Einschätzung beruht aber nicht so sehr auf überzeugenden Argumenten, sondern eher auf einem allgemeinen Eindruck, einem nicht genauer bestimmbaren Widerwillen, der möglicherweise die Komplexität der Situation verkennt und der waltenden Regierung mit diesem auch emotional eingefärbten Blick den Vorwurf macht, falsch zu handeln. Aber auch wenn ein Großteil der Bevölkerung diese Meinung teilt, wird damit noch nicht dem für eine Demokratie wesentlichen Mehrheitsprinzip27 entsprochen, da keine zureichende Argumentations- oder Faktenbasis vorliegt.28 Das eigentliche Ziel dieser Form zivilen Ungehorsams liegt Dworkin zufolge deshalb darin, die kritisierte Regierung wenigstens einen hohen Preis dafür zahlen zu lassen, wenn sie ihr Vorhaben wirklich durchsetzen will.29 Dworkin äußert seine Zweifel daran, ob ziviler Ungehorsam dieser Art die öffentliche Debatte wirklich zu erhellen vermag oder auch nur legitim genannt werden kann. Am Ende kommt er in Bezug auf die Anti-Atom-Proteste zwar zu keinem eindeutigen Schluss. Doch entgegen dem Einwand, dass im Angesicht des drohenden Weltuntergangs die Suche nach theoretischer Klarheit irrelevant sei, gibt er zu bedenken, dass eine fundierte Theorie zivilen Ungehorsams nicht auf 25 26 27 28

29

Ebd., S. 106f. Ebd., S. 111. Vgl. ebd., S. 110. Es kann dabei auch an die während der Covid-19-Pandemie erneut kursierenden Verschwörungstheorien gedacht werden sowie an die sogenannten (Anti-)HygieneDemonstrationen. Vgl. R. Dworkin: A Matter of Principle, S. 110.

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die im vorigen angeführten Unterscheidungen verzichten darf. Andernfalls, so Dworkin, gelte: »we cannot expect honor or opportunity from those who think it is we who are naive and stupid.«30 Diese Position kann also durchaus konstruktiv mit jener von Celikates verbunden werden. Dessen wichtiger Punkt besteht im Folgenden: Der (begriffliche) Rahmen bzw. das ›Framing‹, durch das wir uns ein Bild von den gesellschaftlichen Strukturen und Prozessen machen, verdeckt möglicherweise legitime Gründe für zivilen Ungehorsam. Wird dieser etwa zu eng definiert, besteht die Gefahr, bestimmte Phänomene gar nicht zu erfassen oder sie einer falschen (rechtlichen) Kategorie zuzuordnen. Mit Dworkin kann aber noch hinzugefügt werden, dass wir auch über das Ziel einer fundierten Theorie zivilen Ungehorsams hinausschießen können, wenn wir in den Unterscheidungen, die zu treffen sind, nicht klar genug sind.

3.

»Extinction Rebellion« als Fall legitimen zivilen Ungehorsams?

Ein gegenwärtiges Beispiel für den Grenzfall der Legitimität zivilen Ungehorsams scheint die weltweite Umweltbewegung »Extinction Rebellion« (XR) zu sein. Zu den Gegner*innen dieser Bewegung zählen etwa der britische Premier Boris Johnson (die XR-Aktivist*innen seien »aufdringlich« und »unkooperativ«31 ), der deutsche FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner (XR stelle offen die Demokratie infrage32 ) und der langjährige Präsident des deutschen Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier (XR als Zeichen einer drohenden »Ökodiktatur«33 ). Wie im Folgenden erläutert werden soll, ist diese Protestbewegung jedoch keineswegs als antidemokratisch oder gar totalitär anzusehen. 30 31

32

33

Ebd., S. 113. Rawlinson, Kevin: »Extinction Rebellion: Johnson calls climate crisis activists ›uncooperative crusties‹«, in: The Guardian vom 08.10.2019, https://www.theguardian. com/politics/2019/oct/07/uncooperative-crusties-boris-johnson-attacks-extinctionrebellion-activists vom 28.05.2020. So in einem Tweet vom 7. Oktober 2019, der auf den Klimaschutz-Aktivisten Roger Hallam Bezug nimmt, https://twitter.com/c_lindner/status/1181123222823227393 vom 28.05.2020. Vgl. Vornbäumen, Axel/Hoidn-Borchers, Andreas: »Hans-Jürgen Papier: ›Der Rechtsstaat zieht sich hier schon bedenklich zurück‹«, in: stern vom 29.10.2019, https://www. stern.de/politik/deutschland/ex-verfassungsrichter-hans-juergen-papier-warnt-imstern-vor-erosion-des-rechtsstaats-8975080.html vom 28.05.2020.

Zur Legitimität zivilen Ungehorsams

Die Bewegung gründet in der Bestürzung angesichts der erschreckenden Folgen menschlicher Naturzerstörung. Doch sie mündet deshalb nicht in Hoffnungslosigkeit, sondern geht mit der Ermächtigung der politisch handlungsbereiten Personen einher. Das Motto »Hope dies – Action begins«34 bringt eine Haltung des Widerstands durch Trauer zum Ausdruck, die es ermöglichen soll, »angesichts katastrophaler Zustände für ein humanes Leben zu kämpfen«.35 Es sollen »endlich radikale Maßnahmen gegen das gigantische Artensterben und die Klimakatastrophe« ergriffen werden.36 Dass XR auf mehr als ›nur‹ die defizitäre Umweltgesetzgebung zielt und sich der Multidimensionalität der Herausforderung ›Klimawandel‹ durchaus bewusst ist, zeigt das folgende Zitat des Aktivisten, Schriftstellers und Schauspielers Sam Knights: »The challenge we now face is extremely daunting. Because the problem, unfortunately, is not just the climate. The problem is ecology. The problem is the environment. The problem is biodiversity. The problem is capitalism. The problem is colonialism. The problem is power. The problem is inequality. The problem is greed, and corruption, and money, and this tired, broken system.«37 Es sollen jedoch keine »Kampfzonen« geschaffen werden.38 Vielmehr wird infolge des Primärziels allseitigen Lebensschutzes eine »Verpflichtung« eingegangen, »keine Feindzonen entstehen zu lassen«.39 Die Emotion der Trauer wird dabei als in sich widerständig verstanden, sie ziehe notwendig Verantwortlichkeit nach sich. Durch Talks, Die-Ins, Trauermärsche und SwarmingAktionen soll für eine (nicht nur) klimapolitische Kehrtwende im Sinne mitfühlenden Betroffenseins sensibilisiert werden.40

34

35 36

37 38 39 40

Vgl. Extinction Rebellion Hannover (Hg.): »Hope dies – Action begins«, in: Stimmen einer neuen Bewegung, Bielefeld: transcript 2019, https://www.transcript-verlag.de/97 8-3-8376-5070-9/hope-dies-action-begins-stimmen-einer-neuen-bewegung/?number= 978-3-8394-5070-3 vom 05.10.2019. Ebd., S. 86. Zitat von der transcript-Verlagsseite, https://www.transcript-verlag.de/978-3-83765070-9/hope-dies-action-begins-stimmen-einer-neuen-bewegung/?number=978-38394-5070-3 vom 30.09.2019. Extinction Rebellion Hannover (Hg.): Hope dies – Action begins, S. 86. Ebd., S. 85. Ebd. Vgl. ebd., S. 23f.

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Die Ausrufung eines Klimanotstandes wird für unumgänglich gehalten. Diese Notwendigkeit wird damit begründet, dass ein grundlegender Bewusstseinswandel vollzogen werden muss.41 Erst dann werde breitenwirksam anerkannt, dass wir uns schon längst in einer nicht nur krisenhaften, sondern katastrophalen Lage befinden. Jürgen Manemann bringt dies wie folgt auf den Punkt: »Durch das rapide Artensterben verschwinden nicht nur viele Tier- und Pflanzenarten für immer. Mit diesem Aussterben sind die Lebensgrundlagen aller Lebewesen bedroht. Die Ausrufung des Klimanotstandes als symbolischer Akt verleiht der Katastrophe eine sinnbildhafte Repräsentanz. Der Klimanotstand avanciert somit zu einem Instrument, die Katastrophe auf der politischen Ebene sinnlich erfahrbar werden zu lassen.«42 Die unmittelbare Folge für das politische Geschäft besteht darin, dass unter den Bedingungen des geforderten Notstands »bei allen Entscheidungen alle Aspekte aus der Perspektive des ›Global Warming‹ zu betrachten« sind.43 Neben der Ausrufung des Klimanotstands wird der zivile Ungehorsam als legitimes Mittel für den angestrebten Bewusstseinswandel angesehen. Der rechtstheoretische Grund für einen Notstand bestehe gerade darin, dass entweder die staatliche Aufgabe verfehlt wird, das Leben bzw. die Subsistenzgrundlage der Bürger*innen zu schützen, oder aber der Staat selbst in seiner Existenz gefährdet ist.44 In diesem Fall müsse den Bürger*innen das Recht zuerkannt werden, sich des Mittels der gezielten Übertretung des gesetzten Rechts zu bedienen. Der zivile Ungehorsam ist nach Manemann »ein symbolischer Akt, der moralisch legitimiert ist«, dabei jedoch »nicht die Rechtsordnung als Ganze in Frage [stellt]«, sondern vielmehr einsteht »für die Einhaltung derselben durch einen partikularen gesetzlichen Regelbruch«.45 Diese Form des politischen Widerstands richtet sich »nicht gegen die Verfassung an sich, sondern lediglich gegen als ungerecht empfundene, partikulare Ge-

41 42 43 44

45

Vgl. ebd., S. 26-29. Ebd., S. 28. Ebd., S. 29. Vgl. dazu etwa das deutsche Grundgesetz, Art. 20 Abs. 4: »Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung [kurz: Demokratieprinzip, Rechts- und Sozialstaatlichkeit; D.H.] zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.« Extinction Rebellion Hannover (Hg.): Hope dies – Action begins, S. 29.

Zur Legitimität zivilen Ungehorsams

setze, Verordnungen oder Maßnahmen«,46 und wird im Grunde gewaltfrei vollzogen – wenngleich nicht ohne körperlichen Einsatz: schon das Blockieren einer Straße geschieht mithilfe des schon in sich selbst widerständigen Körpers, der erst einmal weggeschafft werden muss, soll die Blockade aufgelöst werden.47 Anhand des Beispiels der »Extinction Rebellion« werden also nachvollziehbare Rechtfertigungsgründe für zivilen Ungehorsam im Sinne von ›dringlichen politischen Zielen‹ erkennbar, wie sie Howard Zinn als Kriterium für die Legitimität solcher dissidenter Handlungen angibt. Eher enge Definitionen des zivilen Ungehorsams können wie gesagt dazu führen, gewisse Phänomene nicht in den Blick zu bekommen oder sie von vornherein als etwas zu verstehen, das der Sache nicht entspricht. So hatte der Vorwurf gegenüber Ronald Dworkin gelautet, dass mit der Unterscheidung zwischen »matters of principle« und »matters of policy« bestimmten Formen legitimen zivilen Ungehorsams nicht Rechnung getragen werden könne. Doch wie gezeigt wurde, bietet Dworkins Differenzierung durchaus tragfähige Ansatzpunkte, die auch auf die Bewegung XR übertragen werden können: XR scheint sowohl »justice-based« als auch »policy-based« zu sein, indem die Protestbewegung auf ungerechte Missstände hinweist, die durch eine verhängnisvolle Klimapolitik bzw. Lebensweise verursacht werden. Ihre Aktionen gründen außerdem in einer stichhaltigen Faktenlage, weshalb die Bewegung insgesamt und auch im Sinne Dworkins als ›persuasive‹ verstanden werden kann. Dennoch bleibt im Blick auf schwierigere Fälle (bzw. wirkliche Grenzfälle, in denen etwa das Prinzip der Gewaltlosigkeit verletzt wird) die Frage offen, auf welchen ethischen Grundlagen dann über das Kriterium der Dringlichkeit in der Rede von einem »vital social purpose« geurteilt werden kann, besonders wenn die Faktenbasis fehlt bzw. das erforderliche Wissen von vornherein unzugänglich ist, die Fakten bzw. deren Deutung strittig sind oder aus einem anderen Grund nicht auf rational-argumentative Überzeugungskraft gesetzt wird bzw. werden kann. Dafür soll im nächsten Schritt Judith Butlers Konzeption von Vulnerabilität herangezogen werden.

46 47

Ebd., S. 67. Vgl. dazu aber auch die von der absoluten Gewaltfreiheit abweichende Position Howard Zinns, die in Fn. 13 angeführt wird.

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4.

Aufbegehren gegen Prekarität und Prekarisierung

Howard Zinn spricht von ›dringlichen gesellschaftlichen Zielen‹ als zureichendem Grund für politische Dissidenz im Sinne des zivilen Ungehorsams. Das englische Adjektiv ›vital‹ könnte auch mit ›überlebensnotwendig‹ übersetzt werden, d.h. es ginge um ›überlebensnotwendige politische Maßnahmen‹, die zwar gesetzt werden müssten, aber – aus welchen Gründen auch immer – von der jeweils amtierenden Regierung bzw. den staatlichen Organen nicht gesetzt werden. Gegen diesen Missstand könnte sich dann eine Protestbewegung (wie XR) formieren, die sich für ebendiese Maßnahmen engagiert und gegebenenfalls auf das Mittel des zivilen Ungehorsams zurückgreift. Anders gesagt geht es um ein Aufbegehren gegen prekäre Lebensbedingungen, die nicht (mehr) hingenommen werden können. Der Begriff Prekarität wird unter anderem von Judith Butler verwendet, die ihn als Teil ihrer allgemeineren Konzeption von Vulnerabilität versteht. Es können dabei drei grundlegende Dimensionen voneinander unterschieden werden: 1. Das Prekärsein: Nicht nur alle Menschen, sondern alles Lebendige ist vulnerabel. Butler verwendet hier den Begriff »precariousness«.48 Menschen sind grundsätzlich angewiesene Wesen und in ihrer Versehrbarkeit und Ausgesetztheit prinzipiell gleich.49 Die Körperlichkeit gilt ihr als Voraussetzung des spezifisch Menschlichen, der menschlichen Denk- und Handlungsfähigkeit. Aufgrund ihrer Animalität sind Menschen also zunächst einmal verletzbar und auch sterblich,50 und gerade das stellt Butler zufolge den Ausgangspunkt für die moralische Berücksichtigung individueller und kollektiver Interessen dar: Dieser moralischen Verpflichtung wegen – sich selbst sowie den vulnerablen anderen gegenüber – sind wir dazu angehalten, eine Art ›Sorgegemeinschaft‹ zu bilden. 2. Die Prekarität: Die Empfänglichkeit für Versehrung ist kontingent und je spezifisch. Das macht den Hintergrund für die grundsätzlich selektive Verteilung von Versehrbarkeit aus, sei es durch besondere äußere Ereignisse (wie Hungersnöte, Kriege, Umweltzerstörung, Naturkatastrophen)

48 49 50

Butler, Judith: Frames of War. When is Life Grievable?, London, UK/New York, NY: Verso 2009, S. 2-5. Vgl. auch dies.: Precarious Life. The Powers of Mourning and Violence, London, UK/New York, NY: Verso 2006. Vgl. J. Butler: Frames of War, S. 18f.

Zur Legitimität zivilen Ungehorsams

oder durch einseitig bleibende bzw. vorenthaltene Anerkennung der Vulnerabilität. Letzteres kann etwa durch rassistische Vorurteile oder paternalistische und stereotypisierende Behandlungsweisen von Menschen mit ›besonderen‹ Bedürfnissen der Fall sein. Das alles umfasst Butlers Begriff »precarity«.51 3. Die (gouvernementale) Prekarisierung: Dieser Begriff wird im Anschluss an Butler und Foucault von Isabell Lorey verwendet, um die spezifische Regierungsweise in der (westlichen) Moderne zu beschreiben.52 Die gouvernementale Prekarisierung ist nach Lorey einerseits mit dem Entstehen der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung verbunden, andererseits mit den damit zusammenhängenden Vorstellungen bürgerlicher Souveränität. Die Funktionsweise moderner Regierungsweisen wird Lorey zufolge weniger über Repression als über die Selbstregierung der einzelnen Individuen erzielt, wenngleich die repressiven, disziplinarischen Machtverhältnisse dadurch nicht einfach ersetzt werden. Das hat einen spezifischen Lernprozess zur Grundlage: Die Individuen müssen sich, erstens, selbst als Gestalter*innen ihres eigenen Lebens verstehen und, zweitens, müssen sie ihren Körper (bzw. dessen Prekärsein) möglichst souverän beherrschen lernen. Nach Lorey basiert dieses in höchstem Maße verdinglichende Selbstverhältnis also wesentlich auf dem Prozess der Individualisierung im Zuge der Liberalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse.53 Dadurch tritt das gemeinsam Geteilte in den Hintergrund, denn die Individuen sind gezwungen, nur noch auf ihr je ›eigenes‹ Prekärsein zu achten. Individualismus und Souveränität stehen so auf der einen Seite, das Gemeinschaftliche und die wechselseitige Anerkennung auf der anderen. So stellt sich die Frage, wie diese beiden Sphären am besten miteinander vermittelt werden können.

51 52 53

Ebd., S. 3. Vgl. Lorey, Isabell: Die Regierung der Prekären. Mit einem Vorwort von Judith Butler, Wien: Turia + Kant 2 2015. »Moderne Selbstverhältnisse basieren strukturell, auch über eine ökonomische Anrufung hinaus, auf einem Verhältnis zum eigenen Körper als Produktionsmittel. Dementsprechend implizieren besitzindividualistische Selbstverhältnisse Vorstellungen von einer sichernden Gestaltbarkeit des ›eigenen‹ Prekärseins gemäß klassen- und geschlechtsspezifischer Positionierungen sowie ethnischer, rassifizierter, sexualisierter und religiöser Zuschreibungen – ausgehend von und im Verhältnis zu einer nationalen, männlich heterosexuellen Norm.« (Ebd., S. 46.)

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Im Vergleich zum liberalen Gesellschaftsmodell geht es Butler nun zwar auch, aber eben nicht nur um Verteilungsgerechtigkeit im Hinblick auf Güter und Grundfreiheiten, wie wir es etwa in Dworkins egalitärem Liberalismus oder in Rawlsʼ Gerechtigkeitstheorie wiederfinden. Genauso wenig geht es Butler alleine um die damit zusammenhängende Einräumung von Grundrechten im Sinne von Abwehrrechten, die ein selbstmächtiges, souveränes Individuum und seine Ansprüche bzw. Interessen immer schon voraussetzen. Butler weist über diesen ›moralischen Individualismus‹ hinaus, der die Defizite des restriktiven liberalen Souveränitätsdenkens nicht aufzulösen vermag. Butler ist der Ansicht, dass die wechselseitige Anerkennung von Vulnerabilität konstitutiv ist sowohl für soziale Beziehungen wie auch für die Achtung anderer und für unsere eigene Selbstachtung. Anerkennung muss demnach als notwendige Bedingung eines guten, gelingenden bzw. nicht-verfehlten Lebens erachtet werden. Dieser Ansatz rückt auf effektive Weise ansonsten eher unbemerkte Phänomene wie Gleichgültigkeit, Unfreundlichkeit, Taktlosigkeit und selbst Mobbing in den Vordergrund: Phänomene dieser Art können sich stets in die Praktiken der vermeintlichen Gleichbehandlung einschleichen und die geforderten Anerkennungsverhältnisse untergraben.54 Butler geht es darum, die strukturelle Ungleichverteilung von Anerkennung auf den Begriff zu bringen. Die je konkreten, gesellschaftlich und historisch vermittelten Anerkennungsverhältnisse gründen ihrerseits, wie Butler schreibt, in »categories, conventions, and norms that prepare or establish a subject for recognition, that induce a subject of this kind, precede and make possible the act of recognition itself.«55 Die damit umrissene Grundlage für das je konkrete Anerkanntwerden nennt sie »recognizability«.56 Diese Überlegungen sind nun vor allem in Bezug auf marginalisierte bzw. subalterne Personengruppen zu verstehen, etwa in Anbetracht jener Menschen, die von der Klimakatastrophe am stärksten betroffen und zugleich völlig unterrepräsentiert sind, nur weil sie weniger mächtigen Staaten angehören. Die strukturelle Ungleichverteilung von Anerkennung widerspricht der ursprünglich-rechtlichen Forderung nach der gleichen Achtung jeder Person. Für eine ›Ethik des vulnerablen

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55 56

Vgl. Young, Iris Marion: »Fünf Formen der Unterdrückung«, in: Herta NaglDocekal/Herlinde Pauer-Studer (Hg.): Politische Theorie. Differenz und Lebensqualität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 99-139. J. Butler: Frames of War, S. 6. Ebd.

Zur Legitimität zivilen Ungehorsams

Lebens‹ bedeutet dies das Folgende: Ausgehend von der Erkenntnis des je eigenen Ausgesetztseins und der je eigenen Bedürftigkeit sind wir Butler zufolge nicht nur dazu angehalten, die konkreten anderen in ihrem eigenen Angewiesensein auf andere und anderes Leben anzuerkennen. Das würde sich in der bloßen Achtung der (negativ-)freiheitlichen Grenzen unserer Mitmenschen erschöpfen. Darüber hinaus werden wir auch in die Pflicht genommen, unser Handeln entsprechend einer an Gleichheit orientierten Berücksichtigung und Minimierung von Gefährdetheit auszurichten. Das führt notwendigerweise zu der starken moralischen Verpflichtung, die gegebene Ungleichverteilung von Gefährdungslagen in ein erträgliches Maß zu überführen, und zwar nicht nur im eigenen Land, sondern angesichts des weltumspannenden Handels auch über nationalstaatliche Grenzen hinweg. Die aus der Konzeption von Vulnerabilität hervorgehenden Bestimmungen des Prekärseins, der Prekarität und der Prekarisierung treffen wesentliche Momente des menschlichen In-der-Welt-Seins und können deshalb dafür herangezogen werden, die Nicht-Hinnehmbarkeit von Lebenslagen als Legitimitätsgrundlage politischen Widerstands im Sinne von zivilem Ungehorsam begrifflich fassbar zu machen. Übertretungen des positiv-gesetzten Rechts wie im Falle des zivilen Ungehorsams können dadurch viel eher als legitim oder illegitim eingeordnet werden. So lässt sich die Legitimität der Protestbewegung XR angesichts der Ziele, die sie verfolgt und der Mittel, derer sie sich bedient, allem Anschein nach bestätigen. Dagegen scheinen ähnliche Gesetzesübertretungen, wenn sie von der Reichsbürgerbewegung, auf Pegida- oder Hygiene-Demonstrationen erfolgen, als illegitim eingestuft werden zu müssen; einerseits wegen der oftmals fehlenden Faktenbasis, andererseits aufgrund des im Vergleich zu wirklich prekären Lebenslagen – dies besonders aus einer weltumspannenden Perspektive – viel geringer einzuschätzenden Privilegienverlustes. Wie nun der zivile Ungehorsam aus einer umfassenderen rechtsphilosophischen Perspektive systematisch zureichend begründet werden kann, soll abschließend anhand von Hegels Rechtsdenken gezeigt werden, das durchaus – entgegen weit verbreiteter Meinungen – ein Recht auf Widerstand kennt.

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5.

Zum systematischen Ort des zivilen Ungehorsams in der Rechtsphilosophie Hegels

In Hegels Rechtsordnung, die er vor allem in den Grundlinien der Philosophie des Rechts ausarbeitet, scheint auf den ersten Blick kein Widerstandsrecht verankert zu sein. Für Klaus Vieweg liegt das jedoch eher in Hegels »politischer Rücksichtnahme« und der »Verschleierung seiner Position« durch die Zensur begründet.57 Die wesentliche Frage lautet in diesem Zusammenhang, was von Hegels eigentlichem Rechtsgedanken her unter dem Begriff ›Rechtsordnung‹ zu verstehen ist und ob ein (zumindest in den Grundlinien) nicht explizit gemachtes Widerstandsrecht doch implizit aufgefunden werden kann. Vieweg beantwortet diese Frage unmissverständlich positiv: »[Es muss] auf der Grundlage der Hegelschen Denklogik, hier der prinzipiellen Legitimität der Umkehrung von Un-Recht in Recht, der Berechtigung des zweiten Zwangs, das Recht auf politischen Widerstand in jeder Form gedacht werden […].«58 Hegel kennt in der Tat kein Widerstandsrecht, das die Auflösung der in den Grundlinien konzipierten modernen Verfasstheit des Rechts herbeiführt. Das käme einem Aufbegehren gegen Vernunft und Freiheit überhaupt gleich und wäre damit gerade kein legitim zu nennender politischer Widerstand. Sehr wohl aus der Hegelschen Rechtsphilosophie herauszulesen ist aber ein Recht auf Widerstand gegen jegliche Verletzung des modernen Freiheitsprinzips, d.h. gegen alle restaurativen Bestrebungen und Beeinträchtigungen individueller Freiheit. Auch ein Recht auf die Korrektur von Unzulänglichkeiten der politischen Gemeinschaft – etwa im Blick auf das Grundrecht auf Subsistenz und angemessene Bezahlung für Arbeit – ist hier zu nennen. Die Begründung dieses Rechts soll im Folgenden wenigstens ansatzweise nachgezeichnet werden.59 Aus der Vergrößerung der Kluft zwischen großem Reichtum und tiefster Armut erwächst eine auch für Hegel durchaus nachvollziehbare Empörung bei den Betroffenen. Er spricht in diesem Zusammenhang von dem »Recht zum Aufstand gegen die Ordnung, die dem Willen der Freien jede Verwirkli-

57 58 59

K. Vieweg: Das Denken der Freiheit, S. 454. Ebd., S. 455. Vgl. zu den folgenden Ausführungen ebd., S. 328-336 und S. 448-461.

Zur Legitimität zivilen Ungehorsams

chung verwehrt.«60 Mit Hegel kann also ein Notrecht zum Aufstand gedacht werden, ein Widerstandsrecht, das prekäre Lebensbedingungen zur Grundlage hat, ein Recht der Armen, Ausgegrenzten, Anteillosen. Wie lässt sich dieses Recht auf Vermeidung eklatanter Armut begründen? Zum einen aus dem abstrakten Recht, der ersten Sphäre in den Hegelschen Grundlinien: Hier wird das Recht der Person auf Unversehrtheit und das Grundrecht auf Personalität ausbuchstabiert. Das am Prinzip der Freiheit orientierte und darum vernünftige Recht hat nur dann Dasein, wenn es die Freiheit des Menschen und sein Wohl in der Gesellschaft garantiert. Andernfalls sind die Individuen im Grunde genommen ›Rechtlose‹. Als vom (Vernunft-)Recht Ausgeschlossene befinden sie sich dann im Zustand des Unrechts, zugespitzt gesagt: in der Situation der Versklavung. Doch dem versklavten Individuum kommt das ursprüngliche Recht zu, »jeder Zeit seine Fesseln zu zerbrechen; […] sein Recht ist unverjährbar«, wie es in einer Vorlesungsnachschrift zur Hegelschen Rechtsphilosophie heißt.61 Schon von dieser »formal-rechtlichen Seite« her bzw. aus dem »›Sklaven-Prinzip‹«62 lässt sich also das Recht auf Widerstand ableiten. Dazu Klaus Vieweg: »Dieses klare Plädoyer für den berechtigten Widerstand in Notstandslagen trifft nicht nur […] vormoderne Verhältnisse, sondern auch stets mögliche Restaurationen von Unterdrückung, Unterwerfung und Diskriminierung in modernen Gemeinschaften.«63 Zum anderen lässt sich das Recht auf Widerstand aus der Sphäre der Moralität begründen, die das »›Sokrates-Prinzip‹« des moralischen Widerstands sowie ein »Not-Recht auf das Wohl« kennt und damit schon auf die Sphäre der Sittlichkeit vorausweist.64 Als Grundlage für den legitimen Widerstand gegen vorhandenes und eintretendes Unrecht bzw. gegen Verletzungen gesetzten vernünftigen Rechts muss die einsichtsvolle Erkenntnis der Menschen angesehen werden. Ihr Wissen »über den Widerspruch dessen, was sie fordern

60 61

62 63 64

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift, hg. v. Dieter Henrich, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 20. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818-1831, Bd. 4: Philosophie des Rechts. Nach der Vorlesungsmitschrift K. G. v. Griesheims 1824/25, ed. u. komm. v. Karl-Heinz Ilting, Stuttgart-Bad Canstatt: Frommann-Holzboog 1974, S. 239. K. Vieweg: Das Denken der Freiheit, S. 330. Ebd., S. 450. Ebd., S. 331.

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können [d.h. vernunftrechtlich fordern dürfen; D.H.], und des Zustands, in dem sie sich befinden«65 – oder in den sie durch angedachte politische Maßnahmen gedrängt zu werden drohen –, fundiert die Legitimität politischen Widerstands. Das ›Sokrates-Prinzip‹ besagt, dass die Rechtmäßigkeit der bestehenden Ordnung stets einer persönlichen Prüfung bedarf. Die Individuen müssen die Rechtsordnung immer auch aus sich selbst heraus gutheißen können, damit diese vernünftig genannt werden kann. Weicht die rechtliche Ordnung von den Bedürfnissen der in ihr lebenden Bürger*innen ab, so ist die Form des inneren Widerstands als rechtmäßig anzuerkennen, d.h. die kritische Dimension der Moralität, die sich in der »Abwendung von der bestehenden Ordnung«, ja dem Akt des »›Hintergehens‹ dieser, der Unaufrichtigkeit zu ihr« ausdrückt.66 Doch das am individuellen Wohl orientierte Notrecht geht über diesen innerlich bleibenden Widerstand noch hinaus.67 Die bürgerliche Gesellschaft hat die Besonderheit und damit das Eigeninteresse zur Grundlage. Wenn nun der Reichtum einer politischen Gemeinschaft groß genug ist, alle Bürger*innen in ihren lebensnotwendigen Bedürfnissen zu befriedigen, dies aber nicht geschieht, dann »gewinnt der Mangel sogleich die Form eines Unrechts«.68 Im Fall von miteinander kollidierenden Interessen, die in der Sphäre der Besonderheit unumgänglich sind, tritt die Unvollkommenheit der bürgerlichen Gesellschaft zutage. Sie bedarf der vernünftigen Steuerung und Regulation. Diese Aufgabe kann aber nicht sie selbst, sondern alleine der soziale, Gerechtigkeit garantierende Staat übernehmen. Das Recht auf Notwehr entspringt also der bürgerlichen Gesellschaft, in der es stets zur bereits erwähnten Kluft zwischen großem Reichtum und tiefster Armut oder zu anderen als prekär einzustufenden sozialen Verhältnissen kommen kann. So sind gegenwärtige Verarmungstendenzen und -realitäten unter anderem in den politischen Teilbereichen Subsistenz, Asyl, Bildung und Gesundheitsfürsorge zu sehen.

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G.W.F. Hegel: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818-1831, S. 477. K. Vieweg: Das Denken der Freiheit, S. 451. Herbert Schnädelbach hingegen meint, dass Hegels Widerstandsrecht auf den inneren Widerstand begrenzt sei, wie Vieweg kritisch anmerkt. Vgl. Schnädelbach, Herbert: Hegels praktische Philosophie. Ein Kommentar der Texte in der Reihenfolge ihrer Entstehung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 241f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 14 2015, S. 390 [= § 244, Zusatz].

Zur Legitimität zivilen Ungehorsams

Da auf diese Weise das Versagen der staatlichen Institutionen angesprochen und die aktive politische Teilhabe der Einzelnen am Staatsgeschehen vorweggenommen wird, verweist das Recht auf Notwehr schon auf die Sphäre der Sittlichkeit. Auf dieser Ebene betrachtet lässt sich das Widerstandsrecht noch einmal durch das Grundrecht auf die Konstitutionsprinzipien der politischen Gemeinschaft stützen: In einem guten Staat muss die formelle Partizipation als gleiche Teilhabe aller an der bürgerlichen Gesellschaft gesichert werden. Wird gegen diese Forderung verstoßen, so besteht das Recht auf die Restitution dieser politisch-emanzipatorischen Grundlagen. Die Gesellschaftsmitglieder haben also einen legitimen Anspruch auf die Garantie ihrer Mitgliedschaft, auf die Respektierung ihrer sozialen Rechte. Daraus folgt aber nicht zugleich das Recht auf Umsturz: Der willkürlichen Beseitigung dieser Fundamente – als Ermöglichungsbedingungen für die Verwirklichung von Freiheit überhaupt – wird jegliche Vernünftigkeit abgesprochen. Klaus Vieweg liest Hegel meines Erachtens zurecht als anti-restaurativen Denker.69 Mit Hegel lassen sich sowohl die Empörung als auch die verschiedenen Formen des politischen Widerstands als legitime Reaktionen auf drohende oder bereits eingetretene Rückfälle hinter das moderne Rechtsprinzip und daraus resultierende Prekarisierungstendenzen und -realitäten begründen. Legitime politisch-widerständige Praxis – als ziviler Ungehorsam – kann sich demnach gegen Massenarmut, Bildungsdiskriminierung und Naturzerstörung richten oder sich für die soziale und politische Anerkennung von Marginalisierten einsetzen, auch über nationale Grenzen hinweg wie im Falle von indigenen Bevölkerungen.

6.

Schlussbemerkungen

In diesem Beitrag ging es darum, legitime Gründe für zivilen Ungehorsam zu benennen und diese Form des politischen Widerstands rechtsphilosophisch zu begründen. In der weiten Auffassung von Howard Zinn ist die Rede von ›dringlichen gesellschaftlichen Zielen‹. Das Mittel des zivilen Ungehorsams, der eine partielle Rechtsübertretung miteinschließt, wird Zinn zufolge also durch solche Ziele gerechtfertigt, die nicht nur ›matters of principle‹, sondern auch ›matters of policy‹ betreffen, wie mit Ronald Dworkin (und der Blickerweiterung durch Robin Celikates) gesagt werden kann. Darüber hinaus 69

Vgl. K. Vieweg: Das Denken der Freiheit, S. 330.

213

214

Dominik Harrer

lässt sich mit Judith Butlers Konzeption der Vulnerabilität und den drei damit verbundenen Dimensionen zeigen, wie neben offensichtlichen Regelverletzungen auch weniger augenscheinliche Normbrüche wahrgenommen und analysiert werden können. Auf Normbrüchen im Sinne von unterschwelliger Diskriminierung, Abwertung oder Ausgrenzung gründen oft unhaltbare Lebensbedingungen, also Tendenzen oder Realitäten der Prekarisierung. Diese können durch kritische Gesellschafts- und Subjekttheorien benannt werden, die ihrerseits rezipiert und als intellektuelle Grundlage für die Organisation politischen Widerstands genutzt werden können. Dadurch kommt es im besten Fall zu einer hinreichenden Selbstermächtigung der Betroffenen, die wirksam gegen tatsächliche Versäumnisse oder Vergehen des Staates aufbegehren, d.h. gegen das Verfehlen ›dringlicher politischer Ziele‹, die nicht angegangen oder gar nicht als solche wahrgenommen werden. Klimapolitik mag auf den ersten Blick ein davon abweichendes politisches Terrain sein, doch anhand der Stimmen der sozialen Bewegung »Extinction Rebellion« wurde die zu berücksichtigende Multidimensionalität dieses Themas zumindest angedeutet: auch hier geht es um die Prekarisierung der Ärmsten, d.h. um Diskriminierung und Ausbeutung im weltweiten Maßstab durch globale Güterketten und Ressourcenabbau (Stichwort: »Imperiale Lebensweise«70 ). Was sich an sozialen Bewegungen zeigt, die mitunter auch das Mittel der teilweisen Rechtsübertretung heranziehen, ist vor allem die transformativemanzipative Kraft, die es anzuerkennen gilt. Denn gäbe es dieses Engagement nicht, so lebten wir in einer völlig anderen Welt als der heutigen. Celikates führt vor diesem Hintergrund die Position Hannah Arendts als »eine notwendige demokratietheoretische Ergänzung des liberalen Modells« ins Feld.71 So heißt es bei Arendt: »Aufgrund des beispiellosen Tempos, mit dem sich in unseren Tagen alles ändert, und wegen der Herausforderung für die Rechtsordnung, die dieser Wandel mit sich bringt – auf seiten der Regierung wie auch auf seiten derjenigen, die die Gesetze nicht befolgen –, ist heutzutage die Auffassung weit verbreitet, daß Veränderungen durch die Gesetze herbeigeführt werden 70

71

Vgl. Brand, Ulrich/Wissen, Markus: Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur in Zeiten des globalen Kapitalismus, München: Oekom 2017; Acosta, Alberto/Brand, Ulrich: Radikale Alternativen. Warum man den Kapitalismus nur mit vereinten Kräften überwinden kann, übers. v. Nadine Lipp, München: Oekom 2018. R. Celikates: Veränderungen an sich sind immer das Ergebnis von Handlungen außerrechtlicher Natur, S. 39.

Zur Legitimität zivilen Ungehorsams

können […]. [Diese Auffassung scheint] mir von einer irrigen Vorstellung von der Leistungsfähigkeit des Rechts auszugehen. Natürlich kann das Recht Veränderungen, wenn sie einmal vollzogen sind, stabilisieren und legalisieren, doch die Veränderungen an sich sind immer das Ergebnis von Handlungen außerrechtlicher Natur.«72 Diese Stelle ist nur insofern ergänzungsbedürftig, als es im Fall legitimen zivilen Ungehorsams um Handlungen geht, die sich zwar außerhalb des positiv-gesetzten Rechts, nicht aber außerhalb des Vernunftrechts bewegen. Das allgemeine Recht auf Widerstand kann nur als Einforderung oder Wiedergewinnung der grundlegenden Konstitutionsprinzipien moderner politischer Gemeinschaften verstanden werden, d.h. nicht als »willkürliche Insurrektion oder […] unzulässige Usurpation von Macht«, sondern im Sinne des »legitimen Anspruch[s] von Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft auf die Garantie dieser ihrer Mitgliedschaft, den Anspruch auf Respektierung ihrer sozialen Rechte.«73 Dieser an Hegels Rechtsphilosophie anschließende Grundgedanke muss nicht auf die Gesellschaft innerhalb der jeweiligen Staatsgrenzen beschränkt bleiben, wie Vieweg ausführt, sondern hier darf über Hegels dem Zeitgeist geschuldete enge nationalstaatliche Perspektive hinaus an »eine vernünftige, humane Globalisierung« gedacht werden, deren Zielpunkt »globaler Wohlstand« ist und damit »einen Grundstein [bildet] für eine Weltordnung der Freiheit.«74 Mit diesen auch hoffnungsvollen Worten soll am Ende noch einmal darauf hingewiesen werden, dass Hegels Rechtsphilosophie – als »Denken der Freiheit« (Vieweg) – durchaus anschlussfähiger ist als in den Augen derer, die ihm zu Unrecht politischen Illiberalismus vorwerfen. Dies wurde in dem vorliegenden Beitrag exemplarisch anhand des zivilen Ungehorsams nachgezeichnet, einer Praxis, die vor dem Hintergrund prekärer Lebensumstände politische Anliegen ins öffentliche Bewusstsein rückt, die sonst womöglich keine oder zu wenig Beachtung gefunden hätten. Auf die Stimmen der ›Ungehorsamen‹ zu hören, deren Anliegen ernst zu nehmen, lässt sich auch und gerade mit Hegel als Pflicht begründen.

72 73 74

Arendt, Hannah: »Ziviler Ungehorsam«, in: dies.: Zur Zeit. Politische Essays, hg. v. Marie Luise Knott. Berlin: Rotbuch 1986, S. 119-159, hier S. 141 (Herv. D.H.). K. Vieweg: Das Denken der Freiheit, S. 329. Ebd., S. 328.

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Digitaler ziviler Ungehorsam und transnationale Öffentlichkeiten Wulf Loh

In der Nacht vom 24. auf den 25.09.2018 wurde die Webseite des Energiekonzerns RWE mit einer DDoS-Aktion (Distributed Denial of Service) wiederholt angegriffen und war zeitweise nicht erreichbar.1 Einige Tage zuvor hatte der deutsche Ableger der Hacktivist-Bewegung »Anonymous« ein Video auf YouTube veröffentlicht, in dem RWE aufgrund der trotz aller Proteste weiter vorangetriebenen Räumung des Hambacher Forstes gewarnt wurde: »Sollten Sie nicht sofort die Rodung des Hambacher Forst [!] einstellen, werden wir Ihre Server angreifen, Ihre Homepages und Ihre Fake Produktseiten abschalten, solange, bis Ihre [!] Konzern einen wirtschaftlichen Schaden davonträgt, dass [!] Sie sich nicht mehr davon erholen.«2 Ein dreiviertel Jahr später, am 13.07.2019, brachen Hacker in Server von SyTech ein, einer angeblich für den russischen FSB arbeitenden Sicherheitsfirma, und erbeuteten 7,5 Terabyte an Daten, die unter anderem zeigen, wie der FSB soziale Medien überwacht und versucht, Nutzer*innen des anonymen Tor-Browsers zu identifizieren.3 Gleichzeitig ist das Open-AccessDownloadportal »Sci-Hub«, von der wissenschaftliche Artikel kostenlos heruntergeladen werden können, die sonst nur gegen erhebliche Gebühren zugänglich und dadurch gerade für Forscher*innen aus dem globalen Süden

1 2 3

Vgl. WDR vom 25.09.2018: »Hacker-Angriff auf RWE-Server«, https://www1.wdr.de/na chrichten/ruhrgebiet/hacker-angriff-auf-rwe-100.html vom 27.07.2019. Anonymous: Operation RWE abschalten. YouTube 2018, https://www.youtube.com/wa tch?v=8mw2itwhqDk vom 31.08.2020. Vgl. Spiegel Online vom 22.07.2019: »Massives Datenleck bei FSB-Auftragnehmer«, https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/russland-massives-datenleck-bei-fsbauftragnehmer-a-1278370.html vom 27.07.2019.

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unerreichbar wären, nach wie vor unter wechselnden Domains erreichbar,4 während ihre Gründerin sich seit geraumer Zeit vor den Strafverfolgungsbehörden versteckt.5 Auch wenn es nach wie vor derartige Beispiele von rechtswidrigem politischem Protest im digitalen Raum gibt, ist nach einer Reihe aufsehenerregender Fälle in den 2000er und frühen 2010er Jahren doch in jüngerer Zeit ein Rückgang – mindestens im medialen Bewusstsein – feststellbar. Hierfür lassen sich mehrere Gründe anführen: Zum einen eine ständige Zunahme des kriminellen Hackertums (Black-Hat-Hacker), die es Hacktivist*innen erheblich erschwert, sich von diesen kriminellen Fällen abzugrenzen und diesen oft spektakulären Fällen gegenüber einen Nachrichtenwert zu erzeugen. Gleichzeitig resultiert diese Zunahme kriminellen Hackertums in einer konstanten Weiterentwicklung der IT-Sicherheit von Unternehmen und öffentlichen Institutionen, welche das primäre Ziel solcher digitalen Protestaktionen darstellen.6 Damit einher gehen verstärkte Bemühungen, die Urheber*innen dieser Aktionen zu identifizieren, was wiederum das mit derartigen Protestaktionen verbundene persönliche Risiko teils stark erhöht. Zum anderen hat aber auch die starke Kriminalisierung dieser Protestformen, die besonders in den USA zum Teil absurde Züge angenommen hat, einen nicht zu unterschätzenden Anteil an diesem Rückgang. In einer Reihe von spektakulären Gerichtsprozessen wurden Aktivist*innen entweder zu erheblichen Strafen verurteilt, oder aber zumindest von der Staatsanwaltschaft ein zum Teil exorbitantes Strafmaß gefordert.7 So wurde etwa Jeremy Hammond 2013 zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt, nachdem er die Server von Stratfor gehackt hatte, einer US-amerikanischen Sicherheitsfirma, die mit dem FBI zusammenarbeitete 4

5

6

7

Vgl. Bohannon, John: »Who’s downloading pirated papers? Everyone«, in: Science vom 28.04.2016, https://www.sciencemag.org/news/2016/04/whos-downloading-pirated-pa pers-everyonevom 27.07.2019. Vgl. ders.: »The Frustrated Science Student Behind Sci-Hub«, in: Science vom 28.04.2016, https://www.sciencemag.org/news/2016/04/frustrated-science-student-be hind-sci-hubvom 27.07.2019. Gerade die nahezu exponentielle Zunahme von kriminellen DDoS-Angriffen hat zu spezialisierten Lösungen wie bspw. DNS-Forwarding oder BGP-Routing geführt, die von einer Vielzahl von Anbietern wie Cloudflare, Akamai oder Kaspersky angeboten werden. Vgl. Ludlow, Peter: »Hacktivists on Trial. Prosecutors are warping the law to throw activist hackers like Aaron Swartz behind bars for years«, in: The Nation vom 04.12.2013, https://www.thenation.com/article/hacktivists-trial/ vom 07.11.2018.

Digitaler ziviler Ungehorsam und transnationale Öffentlichkeiten

und eine Vielzahl an Daten veröffentlichte, die unter anderem zeigen, dass und auf welche Weise die US-Regierung politische Bewegungen wie Occupy überwachte.8 Im Zusammenhang mit den Stratfor Hacks wurde auch Barrett Brown zu einer Haftstrafe von mehr als fünf Jahren und Entschädigungszahlungen von knapp 900.000 US-Dollar verurteilt, nachdem er den Link zu den von Jeremy Hammond geleakten Emails und Dokumenten in einem IRC Channel gepostet hatte.9 Zu trauriger Berühmtheit gelangte Aaron Swartz,10 der sich mit einem Strafmaß von insgesamt 35 Jahren Haft und ca. einer Million US-Dollar konfrontiert sah, nachdem er seinen MIT-Gastzugang benutzt hatte, um mehrere Millionen wissenschaftlicher Artikel vom PDF-Anbieter JSTOR herunterzuladen.11 Obwohl er die PDFs nicht verbreitete (bzw. nach Ansicht der Staatsanwaltschaft verhaftet wurde, bevor er Gelegenheit dazu hatte), und öffentlich als Unterzeichner des »Guerilla Open Access Manifesto«12 als politischer Open-Access-Aktivist auftrat, wurde er von der Staatsanwaltschaft wie jede*r andere Computer-Kriminelle und Raubkopierer*in behandelt. Da Swartz kurz vor der Gerichtsverhandlung Suizid beging, lässt sich über sein tatsächliches Tatmotiv nur spekulieren. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Strafverfolgungsbehörden in Europa teilweise ein angemesseneres Strafmaß fordern und die Gerichte auch moderater urteilen. So wurden bspw. zwei irische Aktivist*innen für das Hacken und Verändern der irischen Partei »Fine Gael« zu Strafzahlungen von

8

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10 11 12

Vgl. Kopfstein, Janus: »Hacker with a Cause«, in: The New Yorker vom 21.11.2013, https: //www.newyorker.com/tech/annals-of-technology/hacker-with-a-cause vom 12.11.2018. Dieser Fall wird einerseits dadurch kompliziert, dass Hammond auch bei der Entwendung und Weitergabe von ca. 60.000 Kreditkarteninformationen aus der Stratfor Datenbank mitwirkte, mit denen ca. 700.000 US-Dollar an gemeinnützige Organisationen überwiesen wurden. Andererseits wurde er von einem FBI-Informanten überhaupt erst auf die Schwachstellen der Stratfor Serverinfrastruktur aufmerksam gemacht. Vgl. Cameron, Dell: »How an FBI informant orchestrated the Stratfor hack«, in: The Daily Dot vom 05.06.2014, https://www.dailydot.com/layer8/hammond-sabu-fbistratfor-hack/ vom 28.07.2019. Vgl. Borchers, Detlef: »Stratfor-Hack: Barrett Brown zu 63 Monaten Haft verurteilt«, in: Heise Online vom 23.01.2015, https://www.heise.de/newsticker/meldung/Stratfor-Hack -Barrett-Brown-zu-63-Monaten-Haft-verurteilt-2526848.html vom 28.07.2019. Vgl. The Internet’s Own Boy: The Story of Aaron Swartz (2014, R: Brian Knappenberger). Vgl. P. Ludlow: Hacktivists on Trial. Vgl. Swartz, Aaron: »Guerilla Open Access Manifesto 2008«, https://archive.org/stream/ GuerillaOpenAccessManifesto/Goamjuly2008_djvu.txt vom 29.07.2019.

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jeweils 5000 Euro und einer Teilnahme an einem Wiedereingliederungsprogramm verurteilt.13 Andererseits definiert eine Studie des Bundeskriminalamts von 2015 »Hacktivismus« als »digitalisierte Form von Aktivismus«, setzt ihn dann aber mit »Cybercrime« gleich.14 Laut der Studie sei die/der typische Hacktivist*in »zumeist Mitglied islamischer/islamistischer Gruppierungen, möglicherweise nachrichtendienstlich gelenkt und vor allem lediglich nebenberuflicher Hacktivist. Hauptberuflich seien diese (vermutlich) die ›üblichen‹ Cyberkriminellen«.15 Nach Ansicht vieler Beobachter*innen verfolgt die Justiz besonders in den USA eine gezielte Abschreckungspolitik, anders sei der »authoritarian legalism«16 , mit dem Gerichte und Strafverfolgungsbehörden die Fälle zum Teil handhabten, nicht zu erklären. Dies geschehe einerseits aus dem Versuch heraus, »das Internet in einen unternehmensfreundlichen Marktplatz zu verwandeln«17 , indem Urheberrechtsverletzungen und Verstöße gegen AGBs scharf geahndet werden. Andererseits zeigen sich gerade Sicherheitsbehörden und nachrichtendienstliche Einrichtungen im Umgang mit der Öffentlichkeit sowie daraus resultierenden Transparenz- und Rechenschaftspflichtansprüchen oftmals wenig kooperativ.18 Und nicht zuletzt sind alle Formen von Hacks und Webseiten-Manipulationen auch darauf angelegt, die jeweiligen Betreiber bloßzustellen und ihre Autorität zu untergraben.19 Auf diesen Gesichtsverlust reagieren insbesondere staatliche Organe und Insti-

13 14

15 16 17 18

19

Coleman, Gabriella: Hacker, Hoaxer, Whistleblower, Spy. The Many Faces of Anonymous, London: Verso 2014, S. 385. Zitiert nach Haase, Adrian/Züger, Theresa: »Hacktivismus = Cybercrime? Eine Replik auf die Studie des BKA zu Hacktivisten. Sicherheitspolitik-Blog 2015«, https://www. sicherheitspolitik-blog.de/2015/02/26/hacktivismus-cybercrime-eine-replik-auf-diestudie-des-bka-zu-hacktivisten/ vom 06.11.2018. Ebd. Scheuerman, William: »Digital disobedience and the law«, in: New Political Science 38 (2016), S. 299-314, hier S. 311. Sauter, Molly: The Coming Swarm. DDoS Actions, Hacktivism, and Civil Disobedience on the Internet, London: Bloomsbury Academic 2014, S. 137 (Übersetzung W.L.). Vgl. Gallagher, Kevin: »Barrett Brown, political prisoner of the information revolution«, in: The Guardian vom 13.07.2013, https://www.theguardian.com/commentisfree/2013/j ul/13/barrett-brown-political-prisoner-information-revolution vom 29.07.2019. Vgl. G. Coleman: Hacker, Hoaxer, Whistleblower, Spy.

Digitaler ziviler Ungehorsam und transnationale Öffentlichkeiten

tutionen häufig überaus heftig – vielleicht nicht überraschend, da ebendiese Autorität einen entscheidenden Aspekt ihrer Ordnungsfunktion darstellt. Vor diesem Hintergrund macht das vergleichsweise milde Strafmaß für die »PayPal 14«, die im Zuge der Anonymous Operation »Payback« an den DDoS-Aktionen auf die PayPal-Webseite beteiligt waren, nachdem PayPal die Verarbeitung und Weitergabe von Spenden an WikiLeaks eingestellt hatte, ein wenig Hoffnung. Obwohl die Staatsanwaltschaft z.T. 15 Jahre Haft und bis zu 500.000 US-Dollar Geldstrafe gefordert hatte, verurteilte das Gericht die Aktivist*innen nach einem Schuldeingeständnis schließlich »nur« zu 90 Tagen Haft und 5,600 US-Dollar Geldstrafe. Es bleibt unklar, ob dies möglicherweise auch als Resultat der Verteidigungsstrategie von Anwalt Stanley Cohen gewertet werden kann, der die Aktionen seiner Mandantin und der anderen Angeklagten als zivilen Ungehorsam verteidigt hatte.20 Gerade für das US-amerikanische Rechtssystem, das wesentlich auf Gerichtsentscheidungen als primärer Rechtsquelle aufbaut (»case law«), sind derartige Fälle entscheidend, um den Tendenzen einer exzessiven Strafverfolgung und eines »authoritarian legalism« entgegenzuwirken. Da digitaler Protest jedoch weder auf die USA beschränkt ist, noch die Protestierenden auch nur überwiegend US-Staatsbürger*innen oder in den USA wohnhaft sind, gilt es, auch andere Rechtsordnungen dafür zu sensibilisieren, dass manche Formen digitalen Protestes legitim – wenn auch illegal – sein können. Damit ist die Dimension zivilen Ungehorsams angesprochen als einer Form von »gewaltfreier direkter Aktion«21 , die auf gezielte Rechtsverletzungen setzt, um in einem »symbolischen Akt«22 auf eklatantes Unrecht aufmerksam zu machen. Im nicht-digitalen Bereich werden ähnliche Formen des illegalen Protestes weithin als ziviler Ungehorsam und damit als legitim eingestuft.23 Die 20 21

22 23

O’Brien, Alexa: »Inside the ›PayPal 14‹ Trial«, in: The Daily Beast vom 14.04.2017, https:// www.thedailybeast.com/inside-the-paypal-14-trial vom 30.07.2019. King, Martin Luther, Jr.: Letter From a Birmingham Jail 1963, https://kinginstitute.stan ford.edu/king-papers/documents/letter-birmingham-jailvom 16.08.2018 (Übersetzung W.L.). Celikates, Robin: »Democratizing civil disobedience«, in: Philosophy & Social Criticism 42 (2016), S. 982-994. Dagegen wendet eine frühe konservative Kritik ein, dass in demokratischen Rechtsstaaten die rechtlich vorgesehenen Verfahren (vor allem gerichtliche Überprüfung und demokratischer Wettbewerb) ausreichend seien und deren Bürger*innen daher einer Pflicht zum Rechtsgehorsam unterlägen, die durch die Illegalität des Protestes unterlaufen würde. Auch wenn diese Position mittlerweile kaum mehr vertreten wird, muss die Legitimität des illegalen Protestes vielen Skeptiker*innen zufolge an der demokra-

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Rechtfertigungen für die Legitimität solchen illegalen Protestes reichen von moralischen, über verfahrenslegitimatorischen bis hin zu demokratietheoretischen Begründungen.24 Dabei setzen die meisten Autor*innen nicht auf eine Legalisierung zivilen Ungehorsams, sondern auf die Angemessenheit des Strafmaßes mit Blick auf den Symbolcharakter des Rechtsbruchs.25 Ein Strafmaß, das sich ebenso wie die Tat im symbolischen Bereich bewegt, vermindert die Abschreckungswirkung der rechtlichen Konsequenzen, ohne sie vollständig aufzuheben. Damit wird nicht nur diese Form politischen Protests als wichtige Möglichkeit der Einflussnahme gerade für marginalisierte Gruppen oder auch bei politischen Entscheidungen mit weitreichenden und irreversiblen Konsequenzen gestärkt. Darüber hinaus wird durch die Dekriminalisierung einer Eskalation des Konflikts und den damit einhergehenden Radikalisierungstendenzen der Aktivist*innen entgegengewirkt. Die prinzipielle Möglichkeit der Anerkennung bestimmter Formen digitalen politischen Protestes als digitalem zivilen Ungehorsam muss dabei im Wege eines Analogieschlusses gezeigt werden: 1. Bestimmte Formen illegalen Protestes lassen sich vis-à-vis einer protanto-Verpflichtung zum Rechtsgehorsam rechtfertigen. Diese werden oft als ziviler Ungehorsam bezeichnet. 2. Wenn sich zeigen lässt, dass bestimmte Formen digitalen illegalen Protests diesen gerechtfertigten Formen hinreichend ähnlich sind – also »digitalen zivilen Ungehorsam« darstellen –, dann lassen sie sich analog ebenfalls vis-à-vis einer pro-tanto-Verpflichtung zum Rechtsgehorsam rechtfertigen.

In diesem Aufsatz kann ich nicht auf die Voraussetzungen und die grundlegenden Schwierigkeiten eines solchen Analogieschlusses eingehen. Vielmehr

24 25

tietheoretisch problematischen Möglichkeit der Instrumentalisierung des politischen Diskurses durch eine laute Minderheit gemessen werden. Vgl. hierzu Isensee, Josef: »Ein Grundrecht auf Ungehorsam gegen das demokratische Gesetz? Legitimation und Perversion des Widerstandsrechts«, in: Basilius Streithofen (Hg.): Frieden im Lande, Bergisch Gladbach: Bastei Lübbe 1983, S. 155-173. Vgl. Braune, Andreas (Hg.): Ziviler Ungehorsam. Texte von Thoreau bis Occupy, Ditzingen: Reclam 2017. David Lefkowitz unterscheidet hier zwischen »penalty« und »punishment«. Vgl. Lefkowitz, David: »On a Moral Right to Civil Disobedience«, in: Ethics 117 (2007), S. 202233.

Digitaler ziviler Ungehorsam und transnationale Öffentlichkeiten

soll hier zunächst die Notwendigkeit einer solchen Übertragung herausgearbeitet werden, d.h. die Frage geklärt werden, warum wir überhaupt bestimmte Formen digitalen illegalen Protestes als digitalen zivilen Ungehorsam zu rechtfertigen versuchen sollten. Mein Argument hierfür ist funktional: Digitaler ziviler Ungehorsam spielt eine zentrale Rolle für die Konstituierung und Aufrechterhaltung digitaler Öffentlichkeiten, welche wiederum bestimmte Funktionen demokratischer politischer Öffentlichkeiten speziell im transnationalen Rahmen miterfüllen helfen können. Der Aufsatz ist in drei Teile unterteilt. Im ersten Teil werde ich kurz einige zentrale Aspekte gängiger Definition von zivilem Ungehorsam herausstellen, die sich für die Möglichkeit eines Analogieschlusses auch in digitalen Protestformen wiederfinden lassen müssen. Im zweiten Teil werde ich einige idealtypische digitale Protestformen als Kandidaten für digitalen zivilen Ungehorsam charakterisieren. Schließlich werde ich im dritten Teil die Notwendigkeit einer solchen Übertragung und damit Legitimierung bestimmter Formen digitalen illegalen Protestes motivieren und dabei eine funktionalistisch-demokratietheoretische Rechtfertigung digitalen zivilen Ungehorsams unternehmen.

1.

Was ist ziviler Ungehorsam?

Auch wenn viele Autor*innen unterschiedliche Aspekte zivilen Ungehorsams hervorheben und andere für unwichtig oder gar widersprüchlich halten, sind sich die meisten einig, dass es sich bei zivilem Ungehorsam um eine illegale Form politischen Protestes handelt.26 Um ihn von anderen Formen politischen Widerstands, besonders gewaltsamen Aufständen, Rebellionen, Unabhängigkeitsbewegungen bzw. terroristischen Handlungen, abzugrenzen, wird zumeist gefordert, dass der Protest gewaltlos zu erfolgen habe.27 Hier beginnt jedoch schon die Kontroverse: Ist das Kriterium der Gewaltlosigkeit deshalb wichtig, weil es sich bei zivilem Ungehorsam um eine symbolische Form des Protests handeln soll, die »die Angelegenheit so zu dramatisieren

26 27

Zu einer jüngeren Auseinandersetzung vgl. Scheuerman, William: Civil Disobedience, Cambridge, MA: Polity 2018. Vgl. Bedau, Hugo: »On Civil Disobedience«, in: Journal of Philosophy 58 (1961), S. 653656, hier S. 656.

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versucht, dass sie nicht länger ignoriert werden kann?«28 Oder geht es hier primär um die Frage nach der moralischen Zulässigkeit von Gewalt? Je nachdem, ob das Kriterium der Gewaltlosigkeit instrumentell oder substanziell begründet wird, ändert dies nicht nur die Antwort darauf, was unter »Gewalt« genau zu verstehen ist.29 Wenn ziviler Ungehorsam nicht primär als symbolischer Akt verstanden wird, können unter Umständen Formen illegalen politischen Protests als solcher gelten, die gar nicht auf Medienwirksamkeit und die Beeinflussung des politischen Diskurses abzielen, sondern hauptsächlich auf die Verursachung möglichst großen finanziellen Schadens, wodurch sich die Aktivist*innen letztlich Verhaltensänderungen aufgrund von Wirtschaftlichkeitsüberlegungen erhoffen. Ich kann an dieser Stelle nicht auf die weitverzweigte Diskussion um die Definition, geschweige denn Rechtfertigung, von zivilem Ungehorsam eingehen. Stattdessen werde ich im Folgenden drei zentrale Aspekte der meisten Definitionen – Publizität, Gewaltlosigkeit und Illegalität – herausgreifen, die für eine Übertragung des Konzepts auf den digitalen Raum meines Erachtens entscheidend sind.

Publizität John Rawlsʼ bekannter Definition zufolge sind Akte zivilen Ungehorsams »gewissensbestimmt[], aber politisch[]«.30 Auch wenn er im selben Atemzug »öffentlich« als ein weiteres notwendiges Merkmal zivilen Ungehorsams nennt, ergibt sich die Publizität schon aus der Qualifizierung als »politisch«. Denn um als politisch gelten zu können, muss die Handlung mindestens mit irgendeiner Art von Adressierung einer wie auch immer vorgestellten politischen Gemeinschaft einhergehen, die darauf abzielt, »bestimmte Gesetze, Maßnahmen oder Institutionen zu verändern.«31 Sofern also die Handlung nicht allein gewissensbestimmt ist – wie bei einer Weigerung aus Gewissensgründen, die einer persönlichen Moralvorstellung folgt, aber keine soziale

28 29

30 31

M.L. King, Jr.: Letter From a Birmingham Jail 1963 (Übersetzung W.L.). Zu einer instruktiven Diskussion über die Frage der Gewaltlosigkeit siehe u.a. Celikates, Robin: »Ziviler Ungehorsam – zwischen Gewaltfreiheit und Gewalt«, in: Franziska Martinsen/Oliver Flügel-Martinsen (Hg.): Gewaltbefragungen. Beiträge zur Theorie von Politik und Gewalt, Bielefeld: transcript 2014, S. 211-226. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975, S. 401. R. Celikates: Ziviler Ungehorsam – zwischen Gewaltfreiheit und Gewalt, S. 215-216.

Digitaler ziviler Ungehorsam und transnationale Öffentlichkeiten

Veränderung anstrebt (z.B.: Wehrdienstverweigerung) –, sondern auch politisch, bringt sie notgedrungen ein Mindestmaß an Publizität mit sich. Dies deckt sich mit vielen typischen Intuitionen hinsichtlich des Konzepts zivilen Ungehorsams: »There would clearly be something odd about a policeman’s reporting that he had surprised several persons in the act of committing civil disobedience.«32 Rawls folgert aus dieser Verbindung von »öffentlich« und »politisch«, dass sich ein Akt zivilen Ungehorsams notwendigerweise »an den Gerechtigkeitssinn der Mehrheit der Gesellschaft«33 wendet. Martin Luther King unterstreicht diese inhärent kommunikative Dimension des Politischen: »We who engage in nonviolent direct action are not the creators of tension. We merely bring to the surface the hidden tension that is already alive.«34 Diese kommunikative Dimension zivilen Ungehorsams setzt jedoch voraus, dass die sozialen Ungerechtigkeiten und politischen Marginalisierungen, also die Kämpfe um Anerkennung35 , die mithilfe zivilen Ungehorsams als politischer Protestform sichtbar gemacht bzw. ausgefochten werden sollen, von den intendierten Adressaten auch als solche erkannt werden können. Um den Gerechtigkeitssinn der Mehrheit anzusprechen, müssen diese Forderungen auf »für alle einsichtigen moralischen Prinzipien [beruhen], auf die der moderne Verfassungsstaat die Erwartungen gründet, von seinen Bürgern aus freien Stücken anerkannt zu werden.«36 Mit anderen Worten, die Protestierenden müssen sich auf demokratische Verfassungsprinzipen, Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte und grundlegende Menschenrechte oder zumindest das Gemeinwohl berufen können. Dabei müssen ihre Rechtfertigungen allgemein verständlich sein und Mindestanforderungen an einen »öffentlichen Vernunftgebrauch«37 erfüllen, d.h. sie dürfen nicht auf einer Privatmoral gründen oder nur als Feigenblatt für die Durchsetzung eigener Interessen dienen.

32 33 34 35 36

37

H. Bedau: On Civil Disobedience, S. 655. J. Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 401. M. L. King, Jr.: Letter From a Birmingham Jail 1963. Vgl. Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992. Habermas, Jürgen: »Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. Wider den autoritären Legalismus in der Bundesrepublik«, in: A. Braune (Hg.): Ziviler Ungehorsam, S. 209-228, hier S. 220. Rawls, John: »Nochmals: Die Idee der öffentlichen Vernunft«, in: ders.: Das Recht der Völker, Berlin: de Gruyter 2002, S. 165-218.

225

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Gewaltlosigkeit Wie schon oben angerissen, ist das Kriterium der Gewaltlosigkeit hochumstritten. Nicht nur stellt sich hier die Frage, ob hier ein »enger« oder »weiter« Gewaltbegriff angelegt werden sollte, d.h. ob man sich »auf die physische Schädigung von Menschen durch Menschen« beschränkt,38 oder ob man etwa Drohung, Zwang, strukturelle Machtasymmetrien, Hate Speech oder auch Sachbeschädigungen als Gewalt versteht. Gerade für die Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik ist die Abgrenzung zwischen »Gewalt« und »Zwang« in der Beurteilung von Sitzblockaden als Nötigung (§240 StGB) virulent geworden.39 Darüber hinaus deutet der Gewaltbegriff besonders in der politischen Philosophie auf eine illegitime Handlung hin, während Begriffe wie »Macht«, »Autorität«, »Herrschaft«, »Zwang« zumeist auf legitime Formen von (staatlicher) Gewaltausübung verweisen sollen.40 Vor diesem Hintergrund erhält das Kriterium der Publizität eine zusätzliche Begründungslast. Wenn es stimmt, dass ziviler Ungehorsam inhärent eine politische Form illegaler Handlungen meint, und wenn »politisch« notwendig beinhaltet, dass ein politisches Gemeinwesen adressiert wird, muss sich die Frage der Gewalt zumindest auch an dieser kommunikativen Funktion orientieren. Dies sieht auch Rawls, wenn er Gewaltlosigkeit aus dem einfachen Grund fordert, dass »Gewalthandlungen, die Menschen verletzen können, […] unverträglich mit dem zivilen Ungehorsam als einer Art Appell [wären]. Wenn der Appell fehlschlägt, kann man sich manchmal überlegen, ob man zu gewaltsamem Widerstand greifen soll. Doch der zivile Ungehorsam drückt gewissenhafte

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40

Enzmann, Birgit: »Politische Gewalt. Formen, Hintergründe, Überwindbarkeit«, in: dies. (Hg.): Handbuch Politische Gewalt. Formen – Ursachen – Legitimation – Begrenzung, Wiesbaden: Springer VS 2013, S. 44-66, hier S. 44. Für einen kurzen Überblick und eine Evaluation der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Sitzblockade I und II), sowie des Bundesgerichtshofes (Zweite-ReiheRechtsprechung) vgl. u.a. Fischer-Lescano, Andreas: »Sitzen ist Gewalt«, in: der Freitag vom 31.03.2011, https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/sitzen-ist-gewalt vom 12.11.2018. Martinsen, Franziska/Flügel-Martinsen, Oliver: »Zur politischen Philosophie der Gewalt«, in: dies. (Hg.): Gewaltbefragungen. Beiträge zur Theorie von Politik und Gewalt, Bielefeld: transcript 2014, S. 9-16.

Digitaler ziviler Ungehorsam und transnationale Öffentlichkeiten

und tiefe Überzeugungen aus; er kann warnen und mahnen, aber er droht nicht.«41 Die Illegalität des Protestes und ein damit einhergehender Einsatz von Gewalt ist aus Sicht der kommunikativen Dimension zivilen Ungehorsams ein zweischneidiges Schwert: Einerseits sichert sie den Nachrichtenwert des Protestes, dramatisiert die sozialen Problemlagen und macht die Spannungen sichtbar. »Without moments of real confrontation, civil disobedience would also lose its symbolic power and turn into a mere appeal to the conscience of the powers that be and the respective majorities backing them.«42 Andererseits haben es gewaltsame Protestformen nicht nur sehr viel schwerer, den Gerechtigkeitssinn der Mehrheit zu erreichen, wie Rawls schreibt. Vielmehr haben gerade die klassischen Massenmedien die Tendenz, sich auf die Gewalt zu konzentrieren und darüber die Forderungen der Protestierenden in den Hintergrund rücken zu lassen. Dabei steckt natürlich in der Auseinandersetzung über die Frage der Gewaltlosigkeit einer Bewegung oder Protestform selbst wiederum ein Kampf um Anerkennung letzterer als zivilem Ungehorsam und damit als legitim. Umso wichtiger ist es, die Grenze zwischen legitimer Illegalität und unzulässiger Gewaltanwendung möglichst genau abzustecken.

Illegalität Als Protestform, die illegale aber gewaltlose Handlungen umfasst, muss sich ziviler Ungehorsam gegenüber der pro-tanto-Verpflichtung zum Rechtsgehorsam rechtfertigen lassen. Dies gilt natürlich nur, solange die Rechtsordnung selbst, die diesen Rechtsgehorsam fordert, legitim ist. Eine Rechtsordnung, die sich nicht auf die »einsichtige[] und darum freiwillige[] Anerkennung jenes normativen Anspruches auf Gerechtigkeit«43 vonseiten der ihr Rechtsunterworfenen stützen kann, verdient auch nicht deren Rechtsgehorsam. Der Anwendungsbereich zivilen Ungehorsams beschränkt sich also auf ein Mindestmaß an demokratischer Rechtsstaatlichkeit, die auf »anerkennungswürdigen«44 Verfassungsprinzipien beruht.

41 42 43 44

J. Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 403. R. Celikates: Democratizing Civil Disobedience, S. 987. J. Habermas: Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat, S. 217219. Ebd., S. 219.

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Aufgrund dieser grundlegenden Anerkennungswürdigkeit der Rechtsordnung sowie der kommunikativen Funktion zivilen Ungehorsams ist die Illegalität der Protesthandlungen eingeschränkt: Er »drückt Ungehorsam gegenüber dem Gesetz innerhalb der Grenzen der Gesetzestreue aus.«45 Die Protestierenden müssen also auch im rechtswidrigen Handeln ihren grundsätzlichen Rechtsgehorsam demonstrieren und damit deutlich machen, dass sie die Rechtsordnung als Ganzes für legitim halten. Nur auf diese Weise qualifizieren sie sich als politische Dialogpartner*innen bzw. deren Anliegen als legitimen Kampf um Anerkennung innerhalb des politischen Systems, und eben nicht als revolutionären Umsturzversuch. In diesem Sinne beging Gandhi keinen zivilen Ungehorsam, da er die britische Kolonialherrschaft nicht als legitim ansah, sondern vielmehr diese Rechtsordnung revolutionär – wenn auch gewaltlos – beseitigen wollte. Ein für viele Autor*innen wichtiges Kennzeichen für diesen grundlegenden Glauben an die Legitimität der Rechtsordnung aufseiten der Protestierenden stellt die »Bereitschaft, die gesetzlichen Folgen der Handlungsweise auf sich zu nehmen«46 , dar. Sich für illegales Verhalten verhaften zu lassen und die dafür vorgesehene Strafe auf sich zu nehmen, sei die beste Möglichkeit, zu zeigen, dass man weder aus Eigennutz handelt und daher als Kriminelle*r zu behandeln wäre, noch, dass man die Rechtsordnung selbst missachtet. Mehr noch, die Inhaftierung, Strafverfolgung und der Gerichtsprozess geben den Protestierenden unter Umständen große kommunikative Vorteile an die Hand: »If you confront a man who has been cruelly misusing you, and say ›Punish me, if you will; I do not deserve it, but I will accept it, so that the world will know I am right and you are wrong‹, then you wield a powerful and just weapon. This man, your oppressor, is automatically morally defeated, and if he has any conscience, he is ashamed.«47 Wie im Fall der Gewaltlosigkeit ergibt sich auch das Kriterium der Illegalität innerhalb der Grenzen des Rechtsgehorsams direkt aus der politischen Natur

45 46 47

J. Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 403. Ebd. Haley, Alex: »Martin Luther King Jr.: A Candid Conversation With the Nobel PrizeWinning Civil Rights Leader. Part I«, in: Playboy Magazine vom 01.01.1965, https://lo ngform.org/posts/playboy-interview-martin-luther-king-jr vom 03.08.2019.

Digitaler ziviler Ungehorsam und transnationale Öffentlichkeiten

zivilen Ungehorsams und dessen Versuch, den Gerechtigkeitssinn der Mehrheit zu adressieren. Als inhärent symbolischer Akt nutzt ziviler Ungehorsam die Illegalität der Protestaktion, um einen politischen Konflikt zuzuspitzen und in diesem Zuge einen Nachrichtenwert zu generieren, der wiederum die Aufmerksamkeit eines nichtsahnenden politischen Gemeinwesens weckt. Um dies zu erreichen, muss ziviler Ungehorsam gewaltlos sein und im Moment der Illegalität gleichzeitig einen fundamentalen Legitimitätsglauben an die Rechtsordnung demonstrieren. Als Fazit aus dem kurzen Überblick über die Theorie des zivilen Ungehorsams lässt sich festhalten, dass er an eine wie auch immer geartete Öffentlichkeit gerichtet sein muss. Dies ergibt sich aus seiner Charakterisierung als inhärent politischem Akt. Der Versuch, den Gerechtigkeitssinn einer Polity zu adressieren, macht zivilen Ungehorsam wiederum zu einem symbolischen Akt. Hieraus folgt die Forderung, einen Legitimitätsglauben an die Rechtsordnung als Ganzes zu demonstrieren. Auf diese Forderung wiederum stützen sich das Kriterium der Gewaltlosigkeit und der Akzeptanz der rechtlichen Konsequenzen vonseiten der Protestierenden.

2.

Kandidaten für digitalen zivilen Ungehorsam

Bei der Verurteilung von Jeremy Hammond sagte Richterin Loretta Preska: »These are not the actions of Martin Luther King, of Nelson Mandela … or even Daniel Ellsberg«.48 Doch ob diese Einschätzung – und das damit einhergehende Strafmaß – zutreffend waren, bleibt fraglich. Denn auch wenn Online-Aktivist*innen wie Jeremy Hammond andere Protestformen wählen, um ihrem Protest Ausdruck zu verleihen und einen politischen Konflikt zuzuspitzen, sind sie keine »Cyberkriminellen«, wie häufig gerade von der Gegenseite behauptet. Gleichzeitig mag ihre Rhetorik teilweise revolutionär klingen,49 dennoch spielen gerade bei Gruppen wie Anonymous auch immer der Klamauk und die Posse (der sogenannte »Lulz«), der sich in grotesken Bloß-

48 49

Zitiert nach: J. Kopfstein: Hacker with a Cause. Diese beziehen sich jedoch zumeist auf eine »Revolution« des Urheberrechts (vgl. hierzu A. Swartz: Guerilla Open Access Manifesto) bzw. – seltener – auf die Frage der Internet Governance (siehe paradigmatisch: Barlow, John: A Declaration of the Independence of Cyberspace. Electronic Frontier Foundation 1996, https://www.eff.org/de/cyb erspace-independence vom 05.08.2019).

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stellungen des politischen Gegners, selbstironischer Überhöhung, pompösem Auftreten und schamloser Übertreibung ausdrückt, eine große Rolle.50 Im Folgenden werde ich fünf gängige digitale Protestformen vorstellen, die als idealtypische Kandidaten für zivilen Ungehorsam in Frage kommen: DDoS’ing, Defacement, Leaking, Doxing und gezielte Urheberrechtsverletzungen. Diese Protestformen vereint, dass sie zum einen prima facie illegal sind, zum anderen als Protestform genuin auf Publizität zielen. Schwierigkeiten ergeben sich jedoch zum einen mit der allen digitalen Protestformen inhärenten Anonymität, die die Bedingung der Akzeptanz rechtlicher Konsequenzen verletzt. Damit steht die Rechtstreue der Hacktivist*innen in Zweifel, was gerade angesichts zuweilen revolutionärer Rhetorik problematisch ist. Zum anderen steht auch die Bedingung der Gewaltlosigkeit besonders bei Protestformen wie dem Doxing in Frage, bei denen Individuen unter Umständen nicht nur erheblich psychisch geschadet wird, sondern auch physischer Schaden durch Dritte in Kauf genommen wird. Aber auch bei den anderen Protestformen stellen sich Fragen der Gewaltlosigkeit nicht nur aufgrund der teilweise hohen finanziellen Schäden. Darüber hinaus steht etwa beim DDoS’ing die Möglichkeit einer Nötigung – und damit eines Zwanges, der »rechtswidrig mit Gewalt« (§240 StGB) ausgeführt wird – im Raum, wenn Webseiten nicht erreichbar sind, wie die oben angesprochene bundesdeutsche Rechtsprechung bei Sitzblockaden zeigt.

DDoS’ing (Distributed Denial of Service-Aktionen) Bei dieser Protestform wird versucht, eine Webseite so durch wiederholte Anfragen von verschiedenen (»distributed«) Rechnern aus zu überlasten, dass sie nicht mehr erreichbar ist (»denial of service«). Im Unterschied zu den anderen hier vorgestellten Protestformen ist ein illegales Eindringen in das betroffene System (»Hacking«) nicht nötig, es wird lediglich auf die Infrastruktur und die Rechenleistung des Servers gezielt. Aus diesem Grund wird das DDoS’ing auch oft als »virtual sit-in« bezeichnet.51

50 51

G. Coleman: Hacker, Hoaxer, Whistleblower, Spy, Kap. 1 und 2. Die Protestgruppe »The electrohippies« benutzte diesen Begriff für die DDoSAktionen während der WTO-Proteste 1999 (»The battle of Seattle«), und das »Critical Art Ensemble« schrieben 1994: »Blocking information conduits is analogous to blocking physical locations: however, electronic blockage can cause financial stress that physical blockage cannot and it can be used beyond the local level. [Electronic Civil

Digitaler ziviler Ungehorsam und transnationale Öffentlichkeiten

Obwohl theoretisch eine genügend große Anzahl an Nutzer*innen ausreicht, die immer wieder ihren Browser-Refresh-Knopf drücken, gab es aus technischen Gründen schon von Anfang an leicht herunterzuladende Tools, die alle Protestierenden ohne große Vorkenntnisse installieren und ausführen konnten. Auf diese Weise wurden viele gerade auch technisch Nicht-Versierte angesprochen und zur Partizipation motiviert. Frühe Aktivist*innen wie »The electrohippies« und das »Electronic Disturbance Theater« setzten diese technischen Hilfsmittel jedoch explizit nur so ein, dass damit ein »one-to-one participant to signal ratio«52 sichergestellt wurde, d.h. dass von jedem beteiligten Computer nur ein Signal ausging. Als Protestform bekannt wurde DDoS’ing jedoch vor allem durch die Aktionen von Anonymous, besonders in der Operation Payback, die u.a. zur zeitweisen Blockierung der PayPal-Webseite führte und in den oben angeführten Urteilen gegen die PayPal 14 resultierte. Hier setzte Anonymous neben technischen Hilfsmitteln zur direkten Partizipation von Protestierenden – etwa durch zur Verfügung gestellte Programme wie »LOIC« oder »FloodNet« – auch Bot-Netze ein, um überhaupt genügend Traffic zu generieren, der die modernen Server-Architekturen und Internet-Infrastrukturen einschränken würde.53 Der sogenannte »Hive Mind Mode« neuerer LOIC-Versionen erlaubte es sogar, die Steuerung des eigenen Computers an bestimmte IRCChannels abzugeben und kreierte so ein freiwilliges Bot-Netz. Allerdings wurden auch teilweise nicht-freiwillige Bot-Netze eingesetzt, d.h. dass die Rechner von zumeist Unwissenden gehackt wurden, um mit ihrer Hilfe eine DDoS-Aktion auszuführen.54 Während freiwillige Bot-Netze aus demokratietheoretischer Sicht schon in Zweifel zu ziehen sind, da die Frage im Raum steht, inwieweit hier noch von Partizipation im Sinne einer kollektiven Aktion gesprochen werden kann, lässt sich dies bei nicht-freiwilligen Bot-Netzen mit Sicherheit nicht mehr konstruieren. Darüber hinaus sind letztere auch mit Blick auf Autonomie und Schädigung der Betroffenen ethisch problematisch, besonders wenn – wie im Fall digitaler Protestformen – möglicherweise drakonische Strafen drohen. Außerdem werden dadurch die Handlungen der aktiv und freiwillig Partizipierenden unter Umständen

52 53 54

Disobedience] is [Civil Disobedience] invigorated. What CD once was, ECD is now.« (Zitiert nach M. Sauter: The Coming Swarm, S. 41) Ebd., S. 44. Vgl. Olson, Parmy: We Are Anonymous. Inside the Hacker World of LulzSec, Anonymous, and the Global Cyber Insurgency, New York, NY: Back Bay Books 2013. Vgl. G. Coleman: Hacker, Hoaxer, Whistleblower, Spy.

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geschmälert, und es wird dem Vorwurf der Kriminalität zusätzlicher Raum gegeben.55 Die Illegalität von DDoS’ing steht nach geltender Rechtsprechung nicht in Frage. Selbst das manuelle wiederholte Anklicken des Refresh-Buttons im Browser ist nach herrschender Meinung illegal,56 dies gilt umso mehr für die Verwendung von Hilfsmitteln wie FloodNET oder LOIC. Sobald unfreiwillige Bot-Netze im Spiel sind, werden auch noch andere Straftaten wie »Datenveränderung« (§303a StGB) relevant. Dazu kann »Nötigung« (§240 StGB) und »Bildung terroristische Vereinigungen« (§129a StGB) kommen.57 In den USA ist der berüchtigte und inzwischen mehrfach abgeschwächte Computer Fraud and Abuse Act (CFAA) einschlägig.58

Website Defacement Bei dieser Protestform wird eine bestimmte Webseite inhaltlich verändert, um auf einen Missstand oder einen politischen Konflikt aufmerksam zu machen. So wurde etwa nach dem in der Einleitung schon angesprochenen Suizid von Aaron Swartz die Seite des MIT gehackt und vollständig verändert. Auf schwarzem Hintergrund war dort in großen weißen Buchstaben »R.I.P. Aaron Swartz« zu lesen. Ein weiteres Beispiel betrifft die »Deportation-Class« Proteste, bei denen die Lufthansa Webseite neben einer DDoS-Aktion auch gehackt und verändert wurde, um gegen den Umstand zu protestieren, dass die Lufthansa an den Rückführungen illegaler Migrant*innen verdiente.59 Diese Protestform wird zuweilen mit dem Anbringen von Protestplakaten an Gebäuden verglichen. Der Vergleich ist insofern zutreffend, als in beiden Fällen fremdes Eigentum »betreten« und verändert wird, häufig unter Überwindung mehr oder weniger effektiver Sicherheitsvorkehrungen (Zäune, Alarmanlagen, Passwortschutz etc.). Dies konstatiert in beiden Fällen ei-

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57 58 59

Vgl. M. Sauter: The Coming Swarm, S. 132. Strafbar nach §303b StGB (Computersabotage), sofern eine »Nachteilszufügungsabsicht« nachgewiesen werden kann. Vgl. hierzu Malek, Klaus/Popp, Andreas: Strafsachen im Internet, Heidelberg/Hamburg: C.F. Müller 2015, S. 57-61. In §129a, Nr. 2 lit. 2 StGB wird explizit der oben genannte Straftatbestand der Computersabotage (§303b StGB) aufgeführt. Zu einer kurzen und vernichtenden Diskussion siehe W. Scheuerman: Civil Disobedience, S. 126-128. Die veränderte Webseite lässt sich immer noch einsehen unter: www.noborder.org/archive/www.deportation-class.com/vom 17.08.19.

Digitaler ziviler Ungehorsam und transnationale Öffentlichkeiten

ne Form der Sachbeschädigung (bzw. Datenveränderung als Untertatbestand nach §303a StGB). In dieser Protestform zeigt sich bei aller Virtualität des Protestes besonders augenscheinlich die Wichtigkeit der Topologie. Ähnlich dem DDoS’ing spielt die Tatsache, dass hier eine bestimmte Webseite – meistens die zu der Institution gehörende, gegen die protestiert wird – verändert bzw. blockiert wird, eine entscheidende Rolle. Dabei geht es nicht nur um den Nachrichtenwert und die direkte Konfrontation in der örtlichen Gegenüberstellung. Anders als beim Anbringen von Protestplakaten an abgelegenen Fabrikgebäuden werden beim Defacement zunächst vor allem zufällige Besucher der Webseite von den Änderungen überrascht und in Form einer »darstellenden Kritik«60 ästhetisch affiziert. Erst in einem zweiten Schritt findet die Interpretation durch andere Kommunikationsmedien statt. Dies unterscheidet Defacement fundamental vom DDoS’ing, bei dem die Besucher*innen der Webseite nur deren Nichterreichbarkeit phänomenal erfahren und möglicherweise erst später über andere Kanäle von der Protestaktion Kenntnis erlangen. Aus diesem Grund ist es insbesondere beim Defacement – mehr noch als beim DDoS’ing – völlig undenkbar, den Protest an einen anderen Ort zu verlegen, etwa auf bestimmte Protestforen, wie Kritiker*innen immer wieder vorgeschlagen haben.61

Leaking Beim Leaking verschaffen sich Aktivist*innen illegal Zugang zu geheim gehaltenen Informationen staatlicher Institutionen oder Unternehmen – zumeist durch das Überwinden der Sicherheitsarchitektur der entsprechenden Server, Datenbanksysteme und Email-Clients – und veröffentlichen diese, etwa auf WikiLeaks. Jeremy Hammonds Stratfor Hacks habe ich zu Beginn schon angesprochen, ebenso jüngere Leaks wie die von SyTech. Grundsätzlich handelt es sich hierbei also um digitales Whistleblowing, d.h. die Informationsbeschaffung findet ausschließlich über digitale Kommunikationswege statt. Während das klassische Whistleblowing typischerweise auf interne Informant*innen angewiesen ist, die inkriminierende Dokumente entwen-

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Vgl. Wesche, Tilo: »Reflexion, Therapie, Darstellung. Formen der Kritik«, in: Rahel Jaeggi/Tilo Wesche (Hg.): Was ist Kritik?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 193-220. Vgl. M. Sauter: The Coming Swarm, S. 46.

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den und öffentlich machen, geht dem Leaking so gut wie immer der Einbruch in fremde Computersysteme voraus. Das bedeutet einerseits, dass neben »Landesverrat« (§94 StGB)62 statt Verstößen gegen das Dienst- bzw. Geschäfts- oder Betriebsgeheimnis andere Straftatbestände wie »Verletzung des Briefgeheimnisses« (§202 StGB), insbesondere das »Ausspähen/Abfangen von Daten« (§202a-c StGB), im Fokus stehen. Andererseits kennen einbrechende Hacktivist*innen zuvor häufig weder die Sensibilität der entwendeten Daten, noch hatten sie Gelegenheit, auf die entdeckten Missstände institutionsintern aufmerksam zu machen. Dies spielt eine wichtige Rolle bei der moralischen Bewertung des Protests, da im Bereich des klassischen Whistleblowings häufig Schadensminimierung – speziell für Dritte –, sowie die Erschöpfung interner Revisionsmechanismen gefordert wird.63 Dem Selbstverständnis der Hacktivist*innen nach lässt sich Leaking zum einen als Ausübung öffentlicher Kontrolle über staatliche Institutionen und privatwirtschaftliche Unternehmen in Ausübung staatlicher Aufgaben begreifen. So beschreibt etwa der Hacker und Journalist Jacob Appelbaum in Erweiterung der Rede von den Medien als »vierter Gewalt« WikiLeaks als »fifth estate« und verbindet diese Rolle mit einer Medienkritik: »When the media is gagged, we refuse to be gagged. We refuse to be silent«.64 Zum anderen aber spiegelt das Leaking als Protestform auch den Wert der Transparenz und Informationsfreiheit wider, der nach wie vor viele Hacktivist*innen umtreibt. Sie verbinden ihre Rolle als Kontrollfunktion einer demokratischen Öffentlichkeit mit ihren Vorstellungen einer offenen, transparenten Gesellschaft mit einem Minimum an persönlichen, aber vor allem auch institutionellen Geheimnissen.65 Unabhängig davon, wie sie jeweils zu horizontaler Transparenz zwischen Individuen stehen, fordern fast alle Verfechter*innen ein Höchstmaß an vertikaler Transparenz der staatlichen Institu-

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In den USA ist der »Espionage Act« berüchtigt für seine »chaotische und zuweilen völlig unverständliche Sprache« (W. Scheuerman: Civil disobedience, S. 126 [Übersetzung W.L.]). Vgl. Boot, Eric: The Ethics of Whistleblowing, Abingdon: Routledge 2019, S. 35. Zitiert nach G. Coleman: Hacker, Hoaxer, Whistleblower, Spy, S. 84. Paradigmatisch hierzu Brin, David: The Transparent Society. Will Technology Force Us to Choose between Privacy and Freedom?, Reading, MA: Perseus Books 1998. Dystopisch wird diese Vorstellung aufgearbeitet in Eggers, Dave: The Circle, London: Penguin Books 2014.

Digitaler ziviler Ungehorsam und transnationale Öffentlichkeiten

tionen bzw. Unternehmen gegenüber den Bürger*innen bei gleichzeitig möglichst geringer Transparenz in die umgekehrte Richtung.66

Doxing Ziel dieser Protestform ist das öffentliche Bloßstellen und Lächerlich-Machen von Einzelpersonen, um auf deren Fehlverhalten in ihrer Eigenschaft als Repräsentant*innen bestimmter Institutionen aufmerksam zu machen. Es handelt sich also um eine Art digitalen Pranger, der darin besteht, dass private Informationen – meist eine Mischung aus persönlichen Daten wie Adresse, Telefon-Nummer, Emailadresse, Kreditkarten-Daten etc. einerseits und peinlichen biografischen Details wie peinlichen Fotos, Chatverläufen u.ä. andererseits – illegal beschafft und dann per Online-Foren, soziale Medien oder eigens eingerichteter Webseiten veröffentlicht werden. Im Gegensatz zum Leaking zielt das Doxing also nicht auf das Veröffentlichen von geheimen Informationen institutioneller Akteure, sondern auf die Geheimnisse von Individuen, die überwiegend in den Bereich des Persönlichkeitsrechts und der Privatsphäre fallen. Dabei werden aber nicht Individuen qua Individuen, sondern im politischen Doxing immer als Repräsentant*innen von Institutionen zur Projektionsfläche für die Proteste. Dies geschieht entweder, weil sie pars-pro-toto anstelle der Institution selbst ins Visier geraten, zumeist, weil sie wegen ihrer Aussagen Widerspruch hervorrufen, oder aber aufgrund ihres wahrgenommenen Fehlverhaltens vis-à-vis ihrer jeweiligen Rollenverantwortung. Ein paradigmatisches Beispiel für ersteres ist das Doxing von Linton Johnson, Sprecher der Bay Area Rapid Transit (BART) Nahverkehrsgesellschaft. BART hatte 2011 Mobilfunkanbieter angewiesen, den Dienst in mehreren Stationen in San Francisco einzustellen, um Proteste zu erschweren oder zu verhindern, die sich an der Tötung eines Passagiers durch die BART Police entzündeten. Johnson zog den Zorn von Anonymous auf sich, da er als Sprecher nicht nur das Vorgehen des Unternehmens verteidigte, sondern die Abschaltung auch öffentlich als seine eigene Idee bezeichnete.67 Aktivist*innen hackten nicht nur BARTs Computersysteme, veränderten die Webseite (Deface-

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Vgl. Heller, Christian: Post Privacy. Prima leben ohne Privatsphäre, München: Beck 2011, S. 110-114. Vgl. Brooks, Jon: »Linton Johnson Reassigned by BART«, in: KQED News vom 14.11.2011, https://www.kqed.org/news/46987/linton-johnson-reassigned-by-bart vom 18.08.2019.

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ment) und veröffentlichten Kundendaten, sie stellten auch halbnackte Bilder von Johnson auf die Seite »bartlulz«.68 Ein Beispiel für das oben genannte zweite Szenario, in dem politisches Doxing dazu verwendet wird, um auf individuelles Rollenfehlverhalten von Repräsentant*innen aufmerksam zu machen, stellt die Operation »Right2Rest« dar. Ausgangspunkt hier waren wiederholte polizeiliche Auflösungen von Obdachlosen-Camps in der Innenstadt von Denver während eines besonders kalten Frühjahrs, die auf einen »Urban Camping Ban« zurückgingen. Anonymous fokussierte neben anderen Aktionen auf den Bürgermeister von Denver und bedrohte ihn und einen Stadtrat mit einem Doxing. Auf dem Twitter-Account #OpRight2Rest erschien eine Grafik im Anonymous-Stil mit u.a. folgendem Text: »A very public spotlight is about to be shined on you Mayor Hancock and your sycophant, Councilman Brooks. The entire world will see what heartless people you are. Every member of the Downtown Partnership who supported the camping ban will also be doxed and their information posted for the world to see.«69 In einem dazugehörigen Video erklärt Anonymous detailliert, warum ihrer Auffassung nach der Camping Ban verfassungswidrig sei und Bürgermeister Hancock seine Pflichten als oberster Vertreter der Stadtverwaltung verletze. Politisches Doxing ist hochumstritten, nicht nur aufgrund der Verletzung von Persönlichkeitsrechten und dem Recht auf Privatheit. Darüber hinaus steht die Gewaltlosigkeit dieser Protestform in Zweifel. Selbst unter der oben angesprochenen engen Definition von Gewalt, die selbige als »physische Schädigung von Menschen durch Menschen« bzw. deren glaubhafte Androhung charakterisiert,70 kann Doxing zumindest dann indirekt gewaltsam sein, wenn dadurch Dritte in die Lage versetzt oder angestachelt werden, die gedoxte Person physisch anzugreifen oder zu bedrohen. Darüber hinaus setzt Doxing die jeweiligen Individuen fast immer psychischer Gewalt aus,

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Vgl. G. Coleman: Hacker, Hoaxer, Whistleblower, Spy, S. 8. Roberts, Michael: »Anonymous Rips Denver, Tattered Cover Over Homeless Policies, Threatens Doxing«, in: Westword vom 21.03.2016, https://www.westword.com/news/ anonymous-rips-denver-tattered-cover-over-homeless-policies-threatens-doxing7723871 vom 18.08.2019. Vgl. B. Enzmann: Politische Gewalt, S. 44.

Digitaler ziviler Ungehorsam und transnationale Öffentlichkeiten

sei es in Form von starker Angst, übermäßigem Stress, schwerer Demütigung oder erheblichen Ohnmachtserfahrungen.71

Urheberrechtsverstöße Wie oben schon angesprochen, fühlen sich viele Hacktivist*innen einer Internetwertekultur der Transparenz und vor allem Informationsfreiheit verbunden. In Kombination mit dem Ideal der freien Verfügbarkeit von Wissen hat sich daraus ein Open-Access-Aktivismus entwickelt, der der klassischen Vorstellung von Urheberrecht kritisch gegenübersteht. Auf die Geschichte von Aaron Swartz und das von ihm verfasste »Guerilla Open Access Manifesto« (GOAM) bin ich zu Beginn schon eingegangen, ebenso auf das Portal »SciHub«. In beiden Fällen wird die Asymmetrie des Zugangs zu Wissen als Gerechtigkeitsfrage formuliert, die moralisch zu zivilem Ungehorsam nötigt. So heißt es im GOAM: »Those with access to these resources – students, librarians, scientists – you have been given a privilege. You get to feed at this banquet of knowledge while the rest of the world is locked out. But you need not – indeed, morally, you cannot – keep this privilege for yourselves. You have a duty to share it with the world.«72 Anders als bei den anderen digitalen Protestformen wird hier mit dem jeweils geltenden Urheberrecht gegen dasjenige Gesetz verstoßen, welches unter moralischen oder verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten als problematisch angesehen wird. Zwar gilt dies auch für viele klassische Fälle zivilen Ungehorsams – genau genommen war es eine bewährte Taktik des CivilRights-Movement, die Segregationsgesetze gezielt und öffentlichkeitswirksam zu verletzen –, da aber im Fall der Urheberrechtsverletzungen ein nicht unerheblicher persönlicher Vorteil durch den kostenlosen Zugang zu urheberrechtlich geschütztem Material im Raum steht, gerät die Frage nach dem politischen Ziel besonders in den Blickpunkt. Auch wenn es im Fall von Aaron Swartz nicht sonderlich wahrscheinlich ist, dass er sich mit den vier Millionen heruntergeladenen PDFs persönlich

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Vgl. Nunner-Winkler, Gertrud: »Überlegungen zum Gewaltbegriff«, in: Wilhelm Heitmeyer/Hans-Georg Soeffner (Hg.): Gewalt. Entwicklungen, Strukturen, Analyseprobleme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 21-61. A. Swartz: Guerilla Open Access Manifesto.

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bereichern wollte, ist dies bei Filesharing-Plattformen nicht mehr ganz so offensichtlich. Zwar machen die jeweiligen Gründer*innen bzw. Betreiber*innen deutlich, dass sie sich der Open-Access-Bewegung verpflichtet fühlen und gegen bestehende Ungerechtigkeiten hinsichtlich des Zugangs zu Informationen vorgehen wollen. So gibt etwa die Sci-Hub Gründerin Alexandra Elbakyan an, dass sie nach einem kurzen USA-Aufenthalt bei ihrer Rückkehr nach Kasachstan von der Paywall der großen Wissenschaftsverlage und der damit einhergehenden Ungleichheit des Zugangs zu wissenschaftlichen Publikationen und den damit extrem ungleichen Bildungschancen frustriert war.73 Auch die Gründer von »The Pirate Bay« (TPB) haben wiederholt deutlich gemacht, dass sie »Verfechter*innen eines unregulierten Internets«74 und damit politische Aktivist*innen sind. Ob dies allerdings auch für alle User der Plattformen gilt, ist eher fraglich. Ist jemand, der PDFs, raubkopierte Kinofilme oder gecrackte Software zum Download anbietet, noch ein*e Aktivist*in? Hier verschwimmen schnell die Motive zwischen persönlichem Vorteil, dem impliziten Ausdruck einer OpenAccess-Kultur und politischem Aktivismus. Darüber hinaus bleibt selbst im Fall der Begründer*innen bzw. Betreiber*innen unklar, ob diese Form des Protestes noch rein symbolisch operiert, wie die obige Definition zivilen Ungehorsams fordert. Immerhin wird durch das massenhafte Verbreiten urheberrechtlich geschützter Inhalte nicht nur ein politisches Statement gemacht, sondern auch urheberrechtliche Fakten geschaffen, die unter Umständen nicht mehr rückgängig zu machen sind. Damit wären Filesharing Plattformen nicht mehr ein drastisches Mittel, um die eigene politische Meinung kundzutun, sondern ein Rechtsbruch, der durch seine normative Kraft des Faktischen undemokratische Politik machte.

3.

Transnationale (digitale) Öffentlichkeiten

Ich kann an dieser Stelle nicht darauf eingehen, inwieweit sich diese idealtypischen digitalen Protestformen tatsächlich als digitaler ziviler Ungehorsam

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Vgl. J. Bohannon: The Frustrated Science Student Behind Sci-Hub. Kopimi: »The Pirates behind Pirate Bay 2019«, https://kopimi.com/wp/kopimi-the-pirat es-behind-the-pirate-bay/ vom 19.08.2019 (Übersetzung W.L. .) Kopimi ist ein Reposito-rium für die nicht mehr erreichbare Seite des »Piratbyran«, dem politischen Arm von TPB (The Pirate Bay).

Digitaler ziviler Ungehorsam und transnationale Öffentlichkeiten

charakterisieren lassen. Vielmehr soll in diesem letzten Abschnitt geklärt werden, warum eine solche Rechtfertigung überhaupt unserer Mühe wert ist. Anders gesagt: (Wozu) brauchen wir digitalen zivilen Ungehorsam? Diese Rechtfertigungsebene unterscheidet sich zum einen von der Rechtfertigung einzelner Protestformen als digitaler ziviler Ungehorsam im Wege des oben skizzierten Analogieschlusses, zum anderen aber auch von einer Rechtfertigung konkreter Protestaktionen gegenüber einer politischen Öffentlichkeit. Ich habe oben schon darauf hingewiesen, dass Akte von digitalem zivilen Ungehorsam teilweise immer noch stark kriminalisiert werden. Dies ist deshalb problematisch, weil digitaler ziviler Ungehorsam sowohl ein konstitutives als auch strukturerhaltendes Element digitaler Öffentlichkeiten darstellt, welche wiederum einen wichtigen Baustein für aktive und nicht nur reaktive transnationale Öffentlichkeiten bilden.

Digitaler ziviler Ungehorsam als konstitutives Element digitaler Öffentlichkeiten Schon die Aktionen der Electrohippies im Zuge der »Battle of Seattle« waren nicht nur auf die Auswirkungen des WTO-Systems gemünzt. Vielmehr wollten sie mit ihren digitalen Protesten auch deutlich machen, dass ihrer Auffassung nach das Netz ein inhärent öffentlicher Raum ist und seine »versuchte Ausweisung als ›Privateigentum‹«75 verhindern. Als öffentlichem Raum kommt dem Netz eine Reihe von sozialen Funktionen zu; hier sollen besonders die politischen Aspekte interessieren. Grundsätzlich unterstützen politische Öffentlichkeiten demokratische Prozesse auf vier Ebenen: Sie helfen dabei, (a) Interessen oder Gemeinwohlvorstellungen zu aggregieren, (b) zivilgesellschaftliche Forderungen für die politischen Institutionen zu übersetzen, (c) eine effektive Kontrolle über diese Institutionen auszuüben sowie (d) mindestens eine rudimentäre Form der Sozialintegration zu leisten. Insbesondere mit Blick auf den zweiten und dritten Aspekt kann digitaler ziviler Ungehorsam eine wichtige Rolle spielen. Hinsichtlich der Übersetzung von individuellen Interessenslagen oder Gemeinwohlvorstellungen für politische Institutionen unterstützen Protestformen, die digitalen zivilen Ungehorsam beinhalten, regelmäßig beim »Aufspüren gesamtgesellschaftli-

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M. Sauter: The Coming Swarm, S. 44-45 (Übersetzung W.L.).

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cher Probleme«76 . Dadurch wird nicht nur eine öffentliche Deliberation über diese Problemlagen initiiert, sondern auch wie oben angesprochen deren Dringlichkeit und Schwere herausgestellt und politische Institutionen zum Handeln gedrängt.77 Digitaler ziviler Ungehorsam ist in der Lage, Themen aus der »schwachen Öffentlichkeit« der gesellschaftlichen Meinungsbildung in die »starke Öffentlichkeit« der Meinungsführerschaft, Gesetzesinitiativen und legislativen Prozesse zu überführen.78 Oder um es mit Danielle Allen zu sagen: »Expressive Diskursströme« werden leichter in »einflussreiche Diskursströme« transformiert.79 In ähnlicher Weise kann digitaler ziviler Ungehorsam auch die Kontrolle politischer Macht, die eine der Grundaufgaben der politischen Öffentlichkeit markiert, unterstützen. Neben der internen und wechselseitigen Aufsicht politischer Institutionen im Sinne von checks and balances bildet in diesem Zusammenhang vor allem die externe Beobachtung durch Medien und zivilgesellschaftliche Akteure wie NGOs und Bürgerinitiativen einen wichtigen Baustein, um Transparenz und Zurechenbarkeit politischer Institutionen – aber auch privatwirtschaftlicher Unternehmen – sicherzustellen. Hier hilft digitaler ziviler Ungehorsam, den Fokus auf Rechtsverletzungen, Machtmissbrauch und Intransparenz zu richten und moralisches Fehlverhalten anzuprangern. In ihrer Funktion als »vierter Gewalt« stehen nach wie vor die klassischen Massenmedien als Kontrollinstanz im Mittelpunkt. Sie bilden häufig die »gatekeeper« für Themen und weisen ihnen erst einen Nachrichtenwert zu. Selbst eine im Internet schon »viral« gegangene Nachricht erhält ihre öffentlichkeitenübergreifende Dynamik zumeist aufgrund der Berichterstattung der klassischen Medien, welche dann in einer Feedback-Schleife wieder

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Habermas, Jürgen: »Hat die Demokratie noch eine epistemische Funktion? Empirische Forschung und normative Theorie«, in: ders.: Ach, Europa, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 138-191, hier S. 150. Vgl. Celikates, Robin : »Digital Publics, Digital Contestation. A New Structural Transformation of the Public Sphere?«, in: ders./Regina Kreide/Tilo Wesche (Hg.): Transformations of Democracy. Crisis, Protest and Legitimation, London, UK: Rowman & Littlefield 2015, S. 159-174, hier S. 166. Vgl. Dahlgren, Peter: The political web. Media, participation and alternative democracy, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2013, S. 48 (Übersetzung W.L.). Allen, Danielle: »Reconceiving Public Spheres. The Flow Dynamics Model«, in: Danielle Allen/Jennifer Light (Hg.): From Voice to Influence. Understanding Citizenship in a Digital Age, Chicago, IL/London, UK: The University of Chicago Press 2015, S. 178-207 (Übersetzung W.L.).

Digitaler ziviler Ungehorsam und transnationale Öffentlichkeiten

in die digitalen Nachrichtenkanäle zurückgespielt wird.80 Gleiches gilt für die oben angesprochene Übersetzung von Themen für Bereiche der Öffentlichkeit, in denen politischer Einfluss ausgeübt wird. In diesem Sinne steht digitaler ziviler Ungehorsam als symbolische Protestform häufig in einem »spannungsgeladenen symbiotischen Verhältnis mit der Massenmedienindustrie«.81 Im Versuch, auf gesellschaftliche Problemlagen oder Intransparenzen aufmerksam zu machen, muss der Protest einerseits genügend Aufmerksamkeit generieren, um von den Massenmedien als verbreitungswürdige Nachricht anerkannt zu werden. Auf der anderen Seite führen in den Augen der Medien exzessive Rechtsverstöße oder sogar die Gewaltsamkeit einer Aktion leicht zu einem Fokus auf diesen Umstand sowie zu einer Vorverurteilung der Protestierenden als »Randalierer«, »Provokateure« oder »Kriminelle«: »If a tactic such as DDoS is seen as illegitimate, the media could fail to recognize a given action as ›activism‹ and cover only the novelty, spectacle, and criminality of the tactic being deployed.«82 Trotz – oder gerade wegen – dieses Nachrichtenwertparadoxes nehmen verschiedene digitale Protestbewegungen und -plattformen wie bereits erläutert für sich in Anspruch, als »fünfte Gewalt« die klassischen Medien zu ergänzen. Dies geschieht, indem einerseits die Nachrichtenwertschwelle überschritten wird,83 andererseits Öffentlichkeiten angesprochen werden, die wenig Kontakt zu klassischen Medien haben. Hier etabliert digitaler ziviler Ungehorsam im Bereich des Digitalen Übersetzungs- und Kontrollmechanismen, ohne die eine politische Öffentlichkeit nicht funktionieren kann. Mehr noch, mit Blick auf die Aufmerksamkeitsstruktur und komplexe Nachrichtenwertlage der modernen Medienlandschaft erweist sich digitaler ziviler Ungehorsam als unverzichtbar für die Erfüllung dieser Funktionen innerhalb digitaler Öffentlichkeiten. Aus diesem Grund stellt er ein konstitutives Element für letztere dar. 80 81 82 83

Vgl. Fung, Archon/Shkabatur, Jennifer: »Viral Engagement. Fast, Cheap, and Broad, but Good for Democracy?«, in: D. Allen/J. Light (Hg.): From Voice to Influence, S. 153-177. M. Sauter: The Coming Swarm, S. 59 (Übersetzung W.L.). Ebd., S. 60. Vgl. Kepplinger, Hans M./Bastian, Rouwen: »Der prognostische Gehalt der Nachrichtenwert-Theorie«, in: Publizistik 45 (2000), S. 462-475; Glogger, Isabella/Maier, Michaela/Retzbach, Joachim/Stengel, Karin: Nachrichtenwerttheorie, Baden-Baden: Nomos 2018.

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Digitaler ziviler Ungehorsam als strukturerhaltendes Element digitaler Öffentlichkeiten Neben seiner konstitutiven Funktion wirkt digitaler ziviler Ungehorsam auch strukturerhaltend für digitale Öffentlichkeiten, indem er einerseits die negativen Effekte digitaler Fragmentierung (Filterblasen, Microtargeting) aufgrund seiner potenziell Diskursräume übergreifenden Wirkung zumindest abmildern helfen kann. Gleichzeitig trägt er dazu bei, den Vorwurf der Belanglosigkeit und fehlenden Effektivität digitaler Protestformen, sowie des insbesondere im Online-Bereich vielbeschworenen »Slacktivism«84 , zu entkräften. Akte von digitalem zivilem Ungehorsam erreichen in digitalen Öffentlichkeiten, aber auch klassischen Massenmedien, immer wieder einen hohen Nachrichtenwert, erzielen mitunter spürbare Ergebnisse und zeichnen sich dabei als Hochrisiko-Partizipation aus. Auf diese Weise können sie digitale Öffentlichkeiten als funktionale politische Öffentlichkeiten legitimieren helfen. Mit Blick auf das Versprechen digitaler Öffentlichkeiten hinsichtlich einer erhöhten Inklusion und verbesserter Partizipationsmöglichkeiten wird häufig auf die niedrige Partizipationsschwelle hingewiesen, die digitalen Diskursräumen zu eigen ist: »Low entry and participation costs have an egalitarian effect and increase the openness and inclusivity of the virtual public sphere, enabling, at least in principle, those who are geographically dispersed, socially marginalized or politically disenfranchised to participate.«85 Gegen diese Einschätzung ist in der Vergangenheit eine Reihe von Gegenargumenten vorgebracht worden. Zunächst einmal beinhalten auch digitale Öffentlichkeiten eine Partizipationsschwelle, sei es in Form fehlender technischer Hardware oder mangelnder Computerkenntnisse, sei es, weil an praktischem Wissen hinsichtlich des sozial adäquaten Verhaltens in sozialen Medien fehlt.86 Gleichzeitig geht die niedrige Partizipationsschwelle digitaler 84 85 86

Vgl. Gladwell, Malcolm: »Small Change. Why the Revolution Will Not Be Tweeted«, in: The New Yorker vom 04.10.2010. R. Celikates: Digital Publics, Digital Contestation, S. 171. Zu einem Überblick über die Forschung zur sogenannten »Digital Divide« vgl. u.a. Loh, Wulf/Suphan, Anne/Zirnig, Christopher: »Twitter and Electoral Bias«, in: Kevin Macnish/Jai Galliot (Hg.): Big Data and Democracy, Edinburgh: Edinburgh University Press 2020, S. 89-103.

Digitaler ziviler Ungehorsam und transnationale Öffentlichkeiten

Medien und Diskussionsforen vielen Kritiker*innen zufolge mit schwachen Bindungen (sogenannte »weak-tie connections«87 ) einher, die eher Resilienz und Anpassungsfähigkeit fördern als strategische konzise politische Aktionen: »Social networks are effective at increasing participation ‒ by lessening the level of motivation that participation requires.«88 Gerade zur Prävalenz solcher schwacher Bindungen bildet digitaler ziviler Ungehorsam einen Gegenpol. Zwar lässt sich auch ihm der Vorwurf des »Slacktivism« machen,89 dennoch sind Akte digitalen zivilen Ungehorsams etwas völlig anderes als Online-Petitionen zu unterzeichnen, FacebookBeiträge zu liken oder das eigene Profilbild in den französischen Nationalfarben einzufärben, um Solidarität mit Charlie Hebdo zu demonstrieren. Gerade mit Blick auf die eingangs erwähnten exorbitanten Strafen gehen die Aktivist*innen teilweise ein hohes Risiko ein, von Schönwetter-Aktivismus kann also keine Rede sein. Darüber hinaus erfordert ein solches Risiko ein Mindestmaß an Vertrauen in die anderen Beteiligten, das sich einerseits aus schon bestehenden »strong ties« speist, andererseits diese auch erst erzeugt.90 Ein weiterer Vorteil digitaler Öffentlichkeiten wird in der Egalität und Inklusivität digitaler Diskursräume gesehen, da hier aufgrund der Anonymität des Netzes, sowie der Möglichkeit der Pseudonymisierung in vielen sozialen Medien jede*r teilhaben kann, unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Hautfarbe, religiöser Orientierung etc.91 Dass damit auch öffentlichkeitszersetzende Phänomene wie Hatespeech einhergehen, ist bekannt. Wichtiger noch für die hier behandelte Frage von Inklusivität und Egalität sind jedoch neue Formen der Fragmentierung von Öffentlichkeit, die im Kontext digitaler Öffent87 88 89

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M. Gladwell: Small Change. Ebd. So schreibt etwa Oxblood Ruffin, einer der Gründer des Aktivisten-Kollektivs »Cult of the Dead Cow«: »I’ve heard DDoSing referred to as the digital equivalent of a lunch counter sit-in, and quite frankly I find that offensive. It’s like a cat burglar comparing himself to Rosa Parks. Implicit in the notion of civil disobedience is a willful violation of the law; deliberate arrest; and having one’s day in court. There is none of that in DDoSing. By comparison to the heroes of the Civil Rights Movement DDoSing tactics are craven.« (zitiert nach: M. Sauter: The Coming Swarm, S. 5) Dies zeigt eindrücklich die Entstehungsgeschichte von Anonymous, die sich als Kollektiv weitgehend aus – einander zum großen Teil wenigstens als Pseudonym bekannten – Frequentierenden des berüchtigten »/b/-board« auf 4Chan rekrutierten. Vgl. hierzu G. Coleman: Hacker, Hoaxer, Whistleblower, Spy, insbesondere Kap. 2. Vgl. Thiel, Thorsten: »Anonymität und der digitale Strukturwandel der Öffentlichkeit«, in: Zeitschrift für Menschenrechte 10/1 (2016), S. 9-24.

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lichkeiten auftreten. So spielen die oben angesprochenen Digital Divides auch hier eine Rolle, wie Manuel Maldonado feststellt: »Talking to a grandchild via Skype is not the same as following what they are doing on Twitter.«92 Darüber hinaus sehen sich digitale Diskursräume einer zunehmenden Fragmentierung in Form von Echokammern ausgesetzt. Gerade die privatwirtschaftliche Ausrichtung der Plattformbetreiber wird hier zum Problem, da dadurch die Plattformen nicht auf Partizipation, Vernetzung und Diversität ausgelegt sind, sondern auf eine möglichst hohe Verweildauer und umfassende Verdatung der Nutzer*innen.93 Zu diesem Zweck werden die Sortieralgorithmen für den eigenen Nachrichten-Feed darauf optimiert, mehr vom Gleichen zu zeigen. Dies führt zu diskursiven Feedback-Schleifen, innerhalb derer die Partizipierenden zunehmend nur noch Nachrichten und Meinungen zu sehen bekommen, mit denen sie übereinstimmen, damit sie einen bestimmten Post möglichst lange studieren (Werbezeit) und möglichst oft und weit teilen. Ergänzt wird diese Fragmentierung aufgrund von Echokammern durch das spätestens seit der US-Wahl 2016 ins Erklärungsvisier für die gestiegene Polarisierung und wechselseitige Immunisierung digitaler Gesellschaften geratene Microtargeting.94 Hierbei werden die – z.T. von den Plattformbetreibern gekauften – Informationen zu persönlichen Vorlieben für eine politische Botschaft genutzt, die individuell auf die Empfänger*innen zugeschnitten ist. Auf diese Weise erhalten unterschiedliche Adressat*innen teilweise sehr verschiedene Informationen über Kandidat*innen, politische Parteien oder geplante Policies, die eine horizontale Verständigung mit anderen Bürger*innen sowie eine Deliberation über zweck- bzw. auch wertrationale Gründe95 für oder gegen bestimmte Politiken stark erschweren. Auch hier kann digitaler ziviler Ungehorsam insofern ein einendes Moment digitaler Öffentlichkeiten darstellen, als er nicht nur die Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Thema lenkt, sondern auch eine bestimmte Sicht92 93

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Maldonado, Manuel: »The Internet Against Democracy«, in: Eurozine vom 05.10.2017, www.eurozine.com/the-internet-against-democracy/ vom 11.10.2017. Vgl. Biniok, Peter: De-Fragmentierung. Gemeinwohlbildung durch digitale Plattformen. Rosa-Luxemburg-Stiftung 2017, https://www.rosalux.de/publikation/id/38133/defragmentierung/ vom 19.04.2018. Vgl. Kreiss, Daniel: »Yes We Can (Profile You). A Brief Primer on Campaigns and Political Data«, in: Stanford Law Review 64 (2012), S. 70-74. Vgl. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 2010, § 2.

Digitaler ziviler Ungehorsam und transnationale Öffentlichkeiten

weise auf dieses Thema einnimmt und diese über alle Echokammer- und Microtargeting-Grenzen hinweg zu verbreiten vermag. Man denke etwa an die Videos von Anonymous, die teilweise die Verantwortlichen warnen, teilweise die Öffentlichkeit über die jeweiligen Vorgänge informieren. Auch wenn digitale sowie klassische Medien das Geschehen natürlich für ihre jeweilige Suböffentlichkeit interpretieren und einordnen, vermögen es Akte digitalen zivilen Ungehorsams durch ihren hohen Nachrichtenwert mitunter, in direkte Kommunikation mit diesen Öffentlichkeiten zu treten, sei es durch Videos, Memes, Pamphlete, im Netz veröffentlichte Aussagen von Aktivist*innen usw. Sofern es digitalem zivilen Ungehorsam gelingt, die Partizipationshürden, Fragmentierungen, schwachen Bindungen und den »Slacktivism« digitaler Öffentlichkeiten zu kontern oder zumindest abzumildern, kann er dazu beitragen, digitale Öffentlichkeiten als wirksame – d.h. aus einer demokratietheoretischen Funktionslogik effektive – Ergänzung zu bestehenden politischen Öffentlichkeiten zu legitimieren. Bisher wird digitalen Öffentlichkeiten zwar die Dezentralisierung und De-Hierarchisierung von Öffentlichkeit zugestanden, dabei aber auch gern darauf verwiesen, dass aus dem digitalen Bereich kaum fokussierte Aktionen und dementsprechend wenig konkrete Einflussnahme käme. Oder um es mit den Worten der Aktivist*innen des Twitter-Accounts »AnonNewsDe« zu sagen: »Am Ende zählen halt wirklich nur die Leute auf der Straße.«96 Dagegen macht die Tatsache, dass Aktionen digitalen zivilen Ungehorsams sehr wohl in der Lage sind, politische Agenden für die »einflussreichen Diskursströme« zu übersetzen (Übersetzungsfunktion digitaler Öffentlichkeiten), deutlich, dass digitale Öffentlichkeiten effektiv Funktionen politischer Öffentlichkeit übernehmen können. Gleiches gilt für die Aufmerksamkeitslenkung auf Missstände und Machtmissbrauch (Kontrollfunktion digitaler Öffentlichkeiten). Hier gelingt es Aktionen digitalen zivilen Ungehorsams regelmäßig, nicht nur die Diskussionswertschwelle digitaler Öffentlichkeiten zu überschreiten, sondern auch die Nachrichtenwertschwelle für klassische Massenmedien. Auf diese Weise hilft digitaler ziviler Ungehorsam dabei, digitale Öffentlichkeiten einerseits in den Augen der Demokratietheorie als funktional wichtige Öffentlichkeitsarena zu etablieren, andererseits auch

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Zitiert nach: Biselli, Anna: »Anonymous wird wieder aktiv«, in: Golem vom 06.03.2019, https://www.golem.de/news/operation-13-anonymous-wird-wieder-aktiv-1 903-139707.html vom 18.08.2019.

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gerade bei jungen, netzaffinen aber politikfernen »first time activists«97 das Image politischer Partizipation zu verbessern und damit die Motivation, sich einzubringen, zu erhöhen.

Transnationale Öffentlichkeiten Mit der zunehmenden Institutionalisierung und Verrechtlichung der globalen Ebene geht das demokratietheoretische Problem einher, dass immer mehr politische Entscheidungen auf trans-, inter- oder supranationaler Ebene getroffen werden,98 ohne dass diesen eine globale Öffentlichkeit nachwächst, die die oben genannten vier Funktionen (Aggregation, Übersetzung, Kontrolle, Sozialintegration) auch nur annähernd erfüllen könnte. Besonders die »langen Legitimationsketten«99 zwischen einem nationalstaatlichen Demos und globalen Rechtsetzungs- und -sprechungsakten über die eigene Regierung und die Pflicht zur Ratifikation durch das Parlament lassen letztlich auch die Legitimität dieser Akte zweifelhaft erscheinen.100 Vor diesem Hintergrund richteten sich in der Vergangenheit vermehrt Hoffnungen auf digitale Öffentlichkeiten, da diese aufgrund niedriger Partizipationsschwellen und gesteigerter Inklusivität eine Transnationalisierung politischer Öffentlichkeiten versprachen: »New forms of unconventional engagement enable young citizens to use digital media networks to organise around shared concerns, but through identity frames which are more personalised. Thus the use of memes, such as ›we are the 99 %‹, enables diverse individuals to identify with the transna-

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A. Fung/J. Shkabatur: Viral Engagement, S. 163. Vgl. Dingwerth, Klaus/Blauberger, Michael/Schneider, Christian: Postnationale Demokratie. Eine Einführung am Beispiel von EU, WTO und UNO, Wiesbaden: VS-Verl. für Sozialwissenschaften 2011. Loh, Wulf: Legitimität und Selbstbestimmung. Eine normative Rekonstruktion des Völkerrechts, Baden-Baden: Nomos 2019, insbesondere Kap. 1. 99 Böckenförde, Ernst-Wolfgang: »Demokratie als Verfassungsprinzip«, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg: Müller 2004, S. 24. 100 Vgl. paradigmatisch: von Bogdandy, Armin/Venzke, Ingo: In wessen Namen? Internationale Gerichte in Zeiten globalen Regierens, Berlin: Suhrkamp 2014.

Digitaler ziviler Ungehorsam und transnationale Öffentlichkeiten

tional concern of rising social inequality exacerbated by the global financial crisis and experienced in a variety of ways in different parts of the world.«101 Diese Hoffnungen haben sich bisher nicht erfüllt. Wie ich oben schon angesprochen habe, generieren digitale Öffentlichkeiten nicht nur eine neue digitale Trennlinie, sondern darüber hinaus und ihrer Eigenlogik entsprechend neue Partizipationshemmnisse, Fragmentierungen und Kommunikationshindernisse. Hinzu kommen die klassischen ökonomischen, weltanschaulichen und bildungsbedingten Unterschiede zwischen Weltregionen sowie dem globalen Norden und Süden, die die digitalen Bruchlinien abmildern, aber auch verstärken können. Man denke nur an die Sprachbarriere: Wer über kein ausreichendes Englisch verfügt, ist auch in digitalen Öffentlichkeiten auf die Räume und Diskurse beschränkt, die den eigenen sprachlichen Fähigkeiten entsprechen. Im Ergebnis bleiben trotz vieler Versprechen und Hoffnungen in die egalisierende und inkludierende Wirkung digitaler Öffentlichkeiten die traditionellen Dichotomien weitgehend erhalten: »What we may be witnessing is not so much the emergence of a transnational public sphere by a new digital generation, but rather a social and cultural cleavage between middle class young citizens with a global outlook, on the one hand, and a more numerous majority of young people more parochial in outlook, on the other.«102 Dieser negative Ausblick gilt zumindest, sofern von transnationalen Öffentlichkeiten verlangt wird, dass sie alle vier oben angesprochenen Funktionen erfüllen müssen. Speziell mit Blick auf die Aggregations- und Sozialintegrationsfunktion transnationaler Öffentlichkeiten ist es sicher richtig, dass eine »worldwide political community constituted by a broad consensus recognizing a common domain as the proper subject of global collective decisionmaking and habitually communicating with one another about public issues«103 nicht existiert, sei es im Digitalen oder im Analogen. Transnationale

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Loader, Brian: »A Transnational Public Sphere for a Digital Generation?«, in: EInternational Relations vom 15.08.2014, www.e-ir.info/2014/08/15/a-transnationalpublic-sphere-for-a-digital-generation/ vom 06.10.2017, hier S. 2. 102 Ebd., S. 4-5. 103 Buchanan, Allen/Keohane, Robert: »The Legitimacy of Global Governance Institutions«, in: Ethics & International Affairs 26 (2006), S. 405-437, hier S. 416.

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Öffentlichkeiten sind vielmehr vor allem »reaktiv«104 , d.h. sie entstehen entlang globaler Empörungen über Menschenrechtsverletzungen, Missachtungen, Marginalisierungen und Machtmissbräuche, von den Sympathien mit der Iranischen Revolution bis hin zu #MeToo. Sie sind an Einzelereignisse gebunden und lösen sich wieder auf, sobald der Missstand beigelegt oder die öffentliche Aufmerksamkeit durch ein anderes Ereignis überlagert wird. Daran können kurz- bis mittelfristig auch Versuche, einen »rooted cosmopolitanism«105 in globale Praktiken einzubetten und so zu internalisieren, nicht viel ändern.106 Dies ist jedoch meines Erachtens auch nicht nötig, da zumindest die Kontroll- und Übersetzungsfunktion auch durch rein reaktive Öffentlichkeiten bis zu einem gewissen Maße gewahrt werden kann. Hier können sowohl analoger ziviler Ungehorsam als auch digitaler ziviler Ungehorsam wichtige Impulse liefern, indem sie ein Gegennarrativ entwickeln und dadurch wie im vorherigen Kapitel dargelegt Proteste sichtbar machen, erklären und legitimieren. Besonders digitaler ziviler Ungehorsam spielt hier eine zentrale Rolle, da er bestimmte digitale Öffentlichkeiten direkt ansprechen kann, ohne den Umweg über den Filter der klassischen Massenmedien zu nehmen, wie die meisten anderen Protestformen. Dies ist insofern vorteilhaft, als dadurch das zumeist nationale Framing klassischer Massenmedien in den Hintergrund tritt und damit die Nachrichtenwertschwelle anders gesetzt ist. Ein Akt digitalen zivilen Ungehorsams wird für bestimmte digitale Öffentlichkeiten direkt interpretiert und nicht mehr durch nationale Medien für eine hypostasierte »nationale Öffentlichkeit« interpretiert. Mit der oben angedeuteten Verlagerung von Governance auf die globale Ebene verlagern sich auch die Konflikte und Kontestationen dorthin, so dass auch (digitaler) ziviler Ungehorsam »zunehmend internationale Institutionen oder multinationale Unternehmen«107 ins Visier nimmt. Gerade für die Entstehung transnationaler Öffentlichkeiten ist es enorm wichtig, dass derartige

104 Habermas, Jürgen: »Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie«, in: Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 91-169, hier S. 162-163. 105 Appiah, Anthony: The Ethics of Identity, Princeton, NJ: Princeton Univ. Press 2005. 106 Vgl. Parham, Angel/Allen, Danielle: »Achieving Rooted Cosmopolitanism in a Digital Age«, in: dies./J. Light (Hg.): From Voice to Influence, S. 254-272. 107 Züger, Theresa: »Digitaler ziviler Ungehorsam. Spurensuche der Dissidenz im digitalen Zeitalter«, in: Juridikum (2014), S. 472-482, hier S. 473.

Digitaler ziviler Ungehorsam und transnationale Öffentlichkeiten

Ereignisse nicht primär durch eine nationale »Brille« betrachtet werden. Digitaler ziviler Ungehorsam kann dabei helfen, dies zumindest in Einzelfällen umzusetzen. Auch wenn damit vergleichsweise kleine digitale Öffentlichkeiten direkt erreicht werden, legitimiert dies solche Öffentlichkeiten nach dem »First Seen On«-Prinzip. Die Kontrolle von Global-Governance-Institutionen ist ein Unterfangen, an dem viele Akteure beteiligt sind, nicht zuletzt transnationale NGOs, die Informationen über das Verhalten internationaler Institutionen und multinationaler Konzerne sammeln und bereitstellen. Bei der Dissemination dieser Informationen und der Aktivierung reaktiver transnationaler Öffentlichkeiten spielen Akte digitalen zivilen Ungehorsams eine große Rolle. Paradoxerweise müssten in diesem Zusammenspiel verschiedener Akteure gerade nationale Regierungen – die digitalen zivilen Ungehorsam häufig kriminalisieren – selbigen unterstützen, um eine effektive Kontrolle über GlobalGovernance-Institutionen aufrecht zu erhalten: »If national legislatures are to retain their relevance […] they must be able to review the policies of global governance institutions. For legislatures to have information essential to performing these functions, they need a flow of information from transnational civil society. Monitoring is best done pluralistically by transnational civil society, whereas the sanctions aspects of accountability are more effectively carried out by legislatures.«108

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Schluss

In diesem Aufsatz habe ich versucht, die Dekriminalisierung digitalen zivilen Ungehorsams über seine Funktion für digitale Öffentlichkeiten – und deren Wichtigkeit für transnationale Öffentlichkeiten – zu motivieren. Zusammengefasst lässt sich das Argument folgendermaßen formulieren: 1. Transnationale Öffentlichkeiten stellen wichtige Hilfsfunktionen bei der Kontrolle von Global-Governance-Institutionen in Form von Informationsverbreitung und Übersetzungsleistungen bereit.

108 A. Buchanan/R. Keohane: Legitimacy of Global Governance Institutions, S. 431.

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2. Digitale Öffentlichkeiten unterstützen bei allen ihnen selbst inhärenten Spaltungen und Fragmentierungen die Transnationalisierung von Öffentlichkeit. 3. Digitaler ziviler Ungehorsam spielt eine zentrale Rolle bei der Konstituierung und Aufrechterhaltung digitaler Öffentlichkeiten, indem er die Kontroll- und Übersetzungsfunktion digitaler Öffentlichkeiten unterstützt. Gleichzeitig legitimiert er dadurch digitale Öffentlichkeiten als politisch funktionale Öffentlichkeiten und kontert den Vorwurf des »Slacktivismus«. 4. Aus diesem Grund sollten illegale digitale Protestformen, die sich als ziviler Ungehorsam charakterisieren lassen, dekriminalisiert werden. Dies bedeutet keine Legalisierung, aber das jeweilige Strafmaß sollte das zivilgesellschaftliche Engagement und die Symbolik des Aktes im Kampf gegen Missstände und Ungerechtigkeiten widerspiegeln.

Eine solche Dekriminalisierung könnte, wie Molly Sauter zu bedenken gibt, mit den klassischen Massenmedien beginnen, da dort Aktivist*innen nach wie vor häufig als »Hacker« bezeichnet werden. Mit dem Begriff »Hacker« gehen ihr zufolge vielfältige negative Konnotationen und Ängste einher: »The word ›hacker‹ was, and is still now, used by the news media as a catchall term to apply to any type of criminal or ›bad‹ computer activity, including those that did not break any laws. The hacker figure himself […] became a type of ›folk devil‹, a personification of our anxieties about technology, the technologically mediated society, and our increasingly technologically mediated selves. The hacker, as depicted in film and on the 6 o’clock news, is the central deviant of the information society.«109

109 M. Sauter: The Coming Swarm, S. 62.

Bubbles müssen nicht digital sein Kollektive Räume zwischen Safe Space, Insel und Öffentlichkeit Xenia Kopf

Autonome Kulturzentren in Städten treten oft mit dem Ziel an, öffentliche Räume zu schaffen – oder zumindest Räume für Gegen-Öffentlichkeiten, die Alternativen zu hegemonialen Diskursen darstellen sollen. Als situierte, das heißt raumzeitlich verortete, kollektiv gestaltete Räume sind autonome Kulturzentren materiell-physische Orte und selbst Teil des Stadt-Körpers, die unter anderem Ko-Präsenz, körperliche Begegnung, Praxen der Raumaneignung, ästhetische Gestaltung und Aushandlungsprozesse ermöglichen. Wie ›öffentlich‹ können und wollen solche Räume dabei aber tatsächlich sein? Oft fungieren sie als Versammlungsräume politischer, vorwiegend (aber nicht ausschließlich) linksalternativer Teil-Öffentlichkeiten, mit den jeweils angeschlossenen soziokulturellen Netzwerken und medialen Kommunikationskanälen, darunter Eigenpublikationen oder webbasierte Medien (Social Media, Wikis, Mailinglisten, Messenger-Dienste) – je nach angestrebtem Grad der Ver-Öffentlichung. Autonome Kulturzentren sind aber auch Räume der Vergemeinschaftung mit einer entsprechenden Ästhetik und Symbolwelt, die sich in Habitus, Kulturproduktion und -rezeption ausdrücken. In dieser Hinsicht sind sie grundlegend über informelle Beziehungen organisiert, die auf einer traditionellen Begriffsachse weniger dem Öffentlichen als dem Privaten zugeordnet sind. Inwiefern kann also von öffentlichen Räumen gesprochen werden, wenn es um kollektive Strukturen wie autonome Kulturzentren geht? Welche Einund Ausschlüsse werden bewusst oder unbewusst produziert? Mittels welcher

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Praxen wird so etwas wie ›Öffentlichkeit‹ im Sinne einer ›publicness‹ hergestellt?1 Zentraler Ausgangspunkt dieses Bandes ist die These, dass Öffentlichkeiten zwar diskursiv strukturiert, aber keineswegs reine Diskursfelder sind. Aus dieser Perspektive rücken deren materielle, körperliche, technologische und mediale Bedingungen in den Vordergrund. Mein Beitrag widmet sich am Beispiel der Kulturzentren dem Zusammenhang von Öffentlichkeit und Raum: Öffentlichkeiten benötigen Räume, um sich zu konstituieren; Räume, die Versammlung ermöglichen; Räume, die als Arenen der Gemeinschaftsstiftung und der politischen Aushandlung fungieren. Umgekehrt produzieren auch Öffentlichkeiten ihre je spezifischen Räume, was Perspektiven auf die Wechselwirkungen von sozialer Praxis und Raum eröffnet. Das Begriffskonglomerat ›öffentlicher Raum‹ mit seinen eng gesteckten Bedeutungsgehalten reicht meines Erachtens nicht aus, um alle diese Dimensionen zu erfassen.2 So sind etwa ›Insel‹, ›Safe Space‹ oder ›Bubble‹ Bezeichnungen für Räume, die üblicherweise gerade nicht als öffentliche Räume anerkannt sind: ›Bubbles‹, auch Filterblasen oder Echokammern3 , sind aktuell das paradigmatische Zerrbild öffentlicher Räume – sie sind nahezu Gegenbegriffe, deren Existenz aber aufs engste verknüpft ist mit öffentlichen Kommunikationsforen, digitalen oder konventionellen Medien oder auch präsentischen Öffentlichkeiten. Die geographische Metapher der ›Insel‹4 bezeichnet im allgemeinen Sprachgebrauch einen ›abgesetzten‹ Raum, sei es durch physische Barrieren, soziale Strukturen oder kulturelle Logiken. Räumliche ›Inseln‹ können etwa intime Rückzugsräume sein, also solche, die Privatheit ermöglichen; sie können aber auch zum Verweilen und zur Beteiligung im Kontext stark reglementierter Räume einladen, also Öffentlichkeit begünstigen. Das umstrittene Konzept des ›Safe

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Neuere Ansätze der Humangeographie versuchen mit dem Konzept ›publicness‹ die ›Öffentlich-keit‹ von Raum als relationale und (inter)subjektive Qualität statt als funktionell determiniertes Charakteristikum zu fassen. Vgl. z.B. Tornaghi, Chiara: »The relational ontology of public space and action-oriented pedagogy in action. Dilemmas of professional ethics and social justice«, in: dies./Sabine Knierbein (Hg.): Public Space and Relational Perspectives. New Challenges for Architecture and Planning, London: Routledge 2015, S. 17-41. Vgl. Bridge, Gary/Watson, Sophie: »Reflections on Publics and Cultures«, in: dies. (Hg.): The New Blackwell Companion to the City, Chichester u.a.: Wiley-Blackwell 2011, S. 379-389. Vgl. z.B. Kiesel in diesem Band. Vgl. Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 82ff.

Bubbles müssen nicht digital sein

Space‹5 schließlich entstammt der (queer-)feministischen Praxis und Theorie und bezeichnet einen möglichst diskriminierungsbewussten Raum, der oft nur bestimmten Teilöffentlichkeiten zugänglich ist, und zwar jenen, die außerhalb von Safe Spaces beständig diskriminierungsgefährdet sind. Keine dieser Raum-Kategorien lässt sich auf ›öffentlicher Raum‹ oder ›nicht-öffentlicher Raum‹ bzw. ›privater Raum‹ reduzieren. Ich möchte damit verdeutlichen, dass der ›öffentliche Raum‹ ein normatives, idealtypisch-universalistisches Konstrukt ist.6 Dieses basiert meines Erachtens auf einem deliberativen Verständnis von Öffentlichkeit als einer Sphäre der freien Deliberation, des rationalen Arguments und der Ausklammerung von Statusunterschieden, also sozialer Ungleichheit.7 Stattdessen schlage ich vor, ein mehrdimensionales Verständnis von Öffentlichkeiten zu Grunde zu legen, das deren performative Dimension, Machtasymmetrien und Pluralitäten berücksichtigt8 , ebenso wie ein relationales Verständnis von Raum, das diesen nicht als fixiert fasst, sondern als wandelbar im Wechselspiel mit unterschiedlichen Praktiken und Ästhetiken.9 Unter dieser Perspektive zeigt sich, dass die Zuschreibung ›öffentlicher Raum‹ die Komplexität von tatsächlichen, gelebten Räumen oft nur unzureichend erfasst. Öffentliche Räume – hier bewusst im Plural – werden in unterschiedlichen Formen verwirklicht, oft in erstaunlicher und unerwarteter Gestalt.10 Umgekehrt konstituieren sich Öffentlichkeiten im Sinne von ›publicness‹ im Zusammenspiel von gebauter Umwelt, Körpern/Verkörperungen, Diskursen, aber

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Vgl. The Roestone Collective: »Safe Space: Towards a Reconceptualization«, in: Antipode 46/5 (2014), S. 1346-1365. Vgl. Kopf, Xenia: Coram publico. Zur strategischen Inszenierung öffentlicher Räume, Diplomarbeit, Wien 2015, S. 25-29, http://othes.univie.ac.at/35942/ vom 15.7.2019. Vgl. Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München u.a: Piper 2008; Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990. Vgl. Sennett, Richard: »Reflections on the Public Realm«, in: G. Bridge/S. Watson (Hg.): The New Blackwell Companion to the City, S. 390-397; Fraser, Nancy: Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaats, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001; Klaus, Elisabeth: »Das Öffentliche im Privaten – das Private im Öffentlichen. Ein kommunikationstheoretischer Ansatz«, in: Friederike Herrmann/Margret Lünenborg (Hg.): Tabubruch als Programm. Privates und Intimes in den Medien, Opladen: Leske + Budrich 2001, S. 15-35. Vgl. Lefebvre, Henri: The Production of Space, Oxford u.a.: Blackwell 1991; M. Löw: Raumsoziologie. Vgl. C. Tornaghi/S. Knierbein: Public Space and Relational Perspectives.

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auch Affekten mitunter in Räumen, die nicht notwendigerweise das Label ›öffentlicher Raum‹ tragen.11 Der normative Begriff des öffentlichen Raums bleibt dennoch ein notwendiger Referenzpunkt, vor allem im politischen Diskurs12 , etwa im Kontext von »Recht auf Stadt«-Bewegungen.13 Durch die Berufung auf diesen Begriff beanspruchen betroffene Subjekte eine legitime Position im Aushandlungsprozess und eine grundsätzliche Gleichwertigkeit der Positionen. Damit können Teilhabemöglichkeiten eingefordert und Ansprüche auf kollektiv angeeignete Räume legitimiert werden. Um ein erklärendes Verstehen öffentlicher Räume zu erreichen, braucht es meiner Meinung nach jedoch einen wie oben skizzierten erweiterten Begriff von öffentlichem Raum. Um den Problemhorizont konkret zu diskutieren, ziehe ich einzelne Aspekte dreier Fallstudien zu kollektiv organisierten Kulturzentren im urbanen Kontext heran (siehe Kästen). Ich untersuche den Bezug dieser Kulturzentren zum Themenfeld öffentlicher Raum auf verschiedenen Ebenen: Auf welcher Grundlage können sie aus analytischer Perspektive als öffentliche Räume gefasst werden? Wie nehmen die Aktivist*innen der Projekte in Eigenpublikationen auf Öffentlichkeiten Bezug? Und wie lassen sich die in der Praxis produzierten (›gelebten‹) öffentlichen oder nicht-öffentlichen Räume beschreiben? Ziel ist, die Erscheinungsformen und Implikationen dieser Räume als multiple, praktisch hergestellte öffentliche Räume herauszuarbeiten.14

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Vgl. G. Bridge/S. Watson: Reflections on Publics and Cultures. Vgl. Mouffe, Chantal: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007; Rancière, Jacques: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. Vgl. Mullis, Daniel: Krisenproteste in Athen und Frankfurt. Raumproduktionen der Politik zwischen Hegemonie und Moment, Raumproduktionen, Münster: Westfälisches Dampfboot 2017. Die Fallbeispiele sind meinem Dissertationsprojekt entnommen, das im Bereich der kulturwissenschaftlichen Stadtforschung angesiedelt ist. Ich setze mich dabei mit dem Begriff des Raums auseinander, insbesondere mit der Bedeutung kultureller Praxis für Raumproduktionsprozesse und ihrer politischen Dimension, d.h. wie sich Machtstrukturen darin äußern. Arena 76 wird als Hauptfallstudie behandelt, AT Rog und Gängeviertel als gegenwärtige Bezugsfälle. Die Fallstudien sind qualitativ angelegt und werden in einer Methodenkombination aus Oral History, Stadtethnografie und Grounded Theory bzw. Situational Analysis erarbeitet. vgl. Wierling, Dorothee: »Oral History«, in: Michael Maurer (Hg.): Aufriß der historischen Wissenschaften in sieben Bänden. Bd. 7: Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft, Stuttgart: Reclam 2003, S. 81-151; Schwanhäußer, Anja (Hg.): Sensing the City. A Companion

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Kollektiv organisierte Stadträume – drei Fallbeispiele Die Arena Wien 1976 war ein selbstorganisiertes Kulturzentrum auf einem ehemaligen Schlachthof-Gelände in Wien-Landstraße, im relativ dezentral gelegenen Ortsteil St. Marx an der Grenze zu Wien-Simmering. Das Gelände wurde 1975 und 1976 als Spielort der Programmschiene ›Festwochen Arena‹ der Wiener Festwochen zwischengenutzt und sollte anschließend abgerissen, privatisiert und mit einem Textil- und Modegroßhandelszentrum neu bebaut werden. Im Anschluss an die letzte Vorstellung Ende Juni 1976 wurde das Gelände von Besucher*innen, Studierenden, Künstler*innen und Jugendlichen besetzt. Die Arena 76 bestand insgesamt nur drei Monate lang, von Juli bis September 1976, entwickelte aber in dieser kurzen Zeit einen bedeutenden Umfang und eine bemerkenswerte innere Komplexität, mit zahlreichen Gruppen und Strukturen. Sie war später der Ausgangspunkt für zahlreiche weitere Projekte der so genannten Wiener ›Alternativkultur‹: So entstand aus der Arena 76 beispielsweise – auf einem unweit gelegenen Gelände – ein von einem Verein betriebenes Kulturveranstaltungshaus unter dem Namen Arena Wien, das bis heute existiert.15

Die Autonome Fabrik Rog (Avtonomna Tovarna Rog, kurz AT Rog) ist ein Kulturzentrum am Rand der Innenstadt von Ljubljana (Slowenien). Seit 2006 wird das Gelände einer ehemaligen Fahrrad-Fabrik genutzt, deren Produktion 1991 stillgelegt wurde. 2006, nach 15 Jahren Leerstand, veranstalteten mehrere künstlerische und politische Kollektive auf dem Gelände ein Kunst- und Architektur-Festival, das ursprünglich genehmigt war, jedoch kurzfristig wieder untersagt wurde. Die Initiator*innen entschieden, das Festival dennoch durchzuführen, zunächst als ausdrücklich temporäre Nutzung, um gemeinsam mit der Stadtverwaltung (MOL) ein neues, partizipatives und Nutzer*innen-fokussiertes Nachnutzungskonzept zu entwerfen. Nach Abbruch der Verhandlungen seitens der Stadtverwaltung blieben die Nutzer*innen auf dem Gelände. Seither wird es von zahlreichen, teils wechselnden Kollektiven und Einzelpersonen

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to Urban Anthropology, Basel: Birkhäuser 2016; Clarke, Adele E.: Situational analysis: Grounded theory after the postmodern turn, Thousand Oaks u.a.: Sage 2005. Vgl. Weidinger, Leonhard: Arena. Die Besetzung des Auslandsschlachthofes St. Marx im Sommer 1976 als kulturelles und politisches Ereignis Diplomarbeit, Wien 1998; Mörth, Arenafreiheit, (Wien 2006, R: Otto Mörth); Nußbaumer, Martina/Schwarz, Michael Werner (Hg.): Besetzt! Kampf um Freiräume seit den 70ern, Wien: Czernin 2012.

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selbstorganisiert genutzt, während die Stadtverwaltung gerichtlich gegen die Nutzer*innen vorgeht. Die Lage der AT Rog ist auf Grund regelmäßiger Räumungsversuche sowie laufender interner und externer Konflikte anhaltend prekär. Aktuell (Sommer 2020) ist sie wieder räumungsgefährdet.16

Das Gängeviertel ist ein historischer Gebäude-Komplex in Hamburg-Neustadt, nahe der Altstadt. Dieser besteht aus mehreren Häusern, die sich in Größe, Baujahr und -stil sowie Erhaltungszustand maßgeblich unterscheiden, jedoch als architekturhistorisch wertvoll betrachtet werden, da sie zu den letzten verbliebenen Resten der historischen Stadtstruktur der ›Gängeviertel‹ zählen. Um 2009 standen die Häuser großteils leer; einzelne Flächen wurden von Künstler*innen als Arbeits- und Ausstellungsräume genutzt. Als Privatisierungs- und großflächige Abriss- bzw. Neubaupläne bekannt wurden, formierte sich ausgehend von den Künstler*innen eine Initiative von Interessierten, Anwohner*innen und Aktivist*innen. Im August 2009 veranstaltete die Gruppe ein nicht genehmigtes ›Hoffest‹, bei dem Gebäude von Künstler*innen bespielt und für Besucher*innen geöffnet wurden. Zum Erstaunen der Initiator*innen kam es nicht zur Räumung, sondern es folgten Verhandlungen mit der Stadtverwaltung, und im Sommer 2019 unterzeichnete die Gängeviertel Genossenschaft 2010 einen Erbbaurechtsvertrag: Die Gebäude bleiben städtisches Eigentum, die Initiative erhält das selbstverwaltete Nutzungsrecht auf 75 Jahre.17

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Vgl. Beznec, Barbara/Kurnik, Andrej: »Rog: Struggle in the City«, 2008, in: eipcp (Hg.): Transversal, 05 2008, https://transversal.at/transversal/0508/kurnik-beznec/en? hl=beznec vom 19.7.2019; Beznec, Barbara: Konstituiranje evropskega državljanstva: državljanstvo kot družbena praksa, Dissertation, Ljubljana 2016; Hakimova, Aigul: »Rog«, in: Glossary of Common Knowledge, http://glossary.mg-lj.si/referential-fields/ commons/rog vom 19.7.2019; Tomsich, Francisco: »Rog is a Symptom. Notes on the History of Art Production in Autonomous Factory Rog«, in: Journal for the Critique of Science, Imagination, and New Anthropology 270 (2018), S. 91-104; informelle Auskünfte lokaler Aktivist*innen in den Jahren 2019 und 2020. Vgl. Breckner, Ingrid/Ziehl, Michael: Projektbericht vom 20.09.2011: Temporär & prekär – Akteure des Gängeviertels im Spannungsfeld von Nutzerinteressen und Stadtentwicklungspolitik in Hamburg, http://das-gaengeviertel.info/P4_Bericht_Temporaer _und_Prekaer.pdf vom 19.7.2019; Gängeviertel e.V. (Hg.): Mehr als ein Viertel. Ansichten und Absichten aus dem Hamburger Gängeviertel, Hamburg/Berlin: Assoziation A 2012.

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Neben ihrer lokalen und historischen Spezifik weisen die Fallbeispiele zentrale Parallelen auf: Es handelt sich 1. um größere historische Gebäudekomplexe, die 2. in öffentlichem Eigentum, aber kurz vor der Privatisierung stehen bzw. standen, bevor sie 3. in einer Graswurzel-Bewegung angeeignet und zu selbstorganisierten Räumen deklariert wurden, in denen 4. Kunst und Kultur eine zentrale Rolle spielen, die 5. Offenheit, allgemeine Zugänglichkeit und interne Differenzierung anstreben18 , und die 6. umstrittenes Terrain sind, das heißt Gegenstand konflikthafter Aushandlungsprozesse verschiedener Interessensträger*innen um Nutzung, Funktion und Deutungshoheit. Aus analytischdeskriptiver Perspektive kommen damit zunächst die Elemente öffentliches Eigentum, öffentliche Zugänglichkeit und öffentliches Interesse zum Tragen und verdeutlichen, dass die Fälle in dem oben skizzierten Verständnis als öffentliche Räume zu verstehen und zu behandeln sind. Darüber hinaus positionieren sich die Projekte selbst in unterschiedlichen Ausprägungen zur Öffentlichkeit und zum öffentlichen Raum. So etwa gehörten zu den vier zentralen Forderungen der Arena 76 jene der öffentlichen Finanzierung: »Die Gemeinde Wien soll zur Unterstützung der Aktivitäten die Betriebskosten zahlen«; eine weitere Forderung war jene nach dauerhafter ›Öffnung‹: »Das gesamte Gelände muss als Kulturzentrum das ganze Jahr offen sein.«19 Zwei der vier Forderungen nehmen also den Aspekt des Öffentlichen für sich in Anspruch. Abseits der diskursiven Dimension ist die körperlich-materielle Aneignung des Ortes ebenso grundlegend mit dem Anspruch auf den Öffentlichkeitscharakter verknüpft: Ein Graffito an einer Hausmauer des Arena 76-Geländes zeigte eines der Arena-Schweine20 mit dem Slogan »Das [hier]

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19 20

Dieser Anspruch wird in unterschiedlichem Ausmaß verwirklicht. In allen drei Fallbeispielen finden sich künstlerische, kulturelle, soziale, politische und ökonomische Nutzungen, ebenso wie ›private‹ Räume etwa zum Wohnen, die – anders als bei vielen Hausbesetzungen – hier jedoch nicht zentral sind, vgl. Martínez López, Miguel A. (Hg.): The urban politics of squattersʼ movements, New York: Palgrave Macmillan 2018, insb. S. 271ff. Schlachthof-Arena: Wien, St. Marx. Sondernummer, Wien 1976, S. 2. Schweine waren Teil der Arena 76-Symbolik, da der ehemalige Schweinestall zu einem beliebten Café umfunktioniert worden war. An den Hausmauern rund um das Café Schweinestall waren zahlreiche Schweine-Graffiti angebracht; ein weiterer Slogan lautete etwa: »Bitte hinsetzen und grunzen.« In Schlachthof-Arena: Wien, St. Marx. Sondernummer 1976 wird das Schwein bezeichnet als »Anti-Symbol, das die Haltung der Gesellschaft gegenüber unserer Bewegung meint.« (S. 2).

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gehört uns Allen! Keine Macht für Niemand!«, wobei das A in ›Allen‹ dem Anarchismus-Symbol nachempfunden ist.

Abb. 1: Umschlagabbildung des Ausstellungskataloges ARENA: Wien Sankt Marx, Sommer 1976, Museum des 20. Jahrhunderts 1978

© ARENA-Fotogruppe21

Hierbei handelt es sich nicht nur um eine diskursive Aussage mit politischer Positionierung, sondern auch um eine symbolische und materielle Aneignung: Der körperlich-materielle Akt des Anmalens nutzt die Hausmauer als öffentliches Kommunikationsinstrument, und ist insofern performativ – die Handlung vollzieht, was sie äußert. Sowohl ihre »Selbstbezüglichkeit« als auch ihre »wirklichkeitskonstituierende Kraft« werden dabei deutlich.22 Retrospektiv wird dieses Moment noch deutlicher, wie das Editorial der Eigenpublikation Arena Stadtzeitung kurz nach Räumung und Schleifung des Geländes zeigt: »Einfach gesagt, die herrschende Öffentlichkeit ist eine Öffentlichkeit der Herrschenden, ihrer Interessen, ihrer Bedürfnisse. […] In dieser Situation ist 21 22

ARENA-Fotogruppe: ARENA. Wien St. Marx, Sommer 1976, hg. v. Museum des 20. Jahrhunderts, Wien 1978. Fischer-Lichte, Erika: Performativität. Eine Einführung, Bielefeld: transcript 2012, S. 29.

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es zur ARENA-76 gekommen, wo sich jene eine Öffentlichkeit verschafften, die bisher von den Massenmedien ausgeschlossen waren. […] Wo eine Gegenöffentlichkeit zur herrschenden Öffentlichkeit entstand.«23 Dieses Zitat verdeutlicht nicht nur ein Selbstverständnis der Arena 76 als (Gegen-)Öffentlichkeit, sondern auch die zentrale Stellung der Medien: Die zeitgenössischen etablierten Medien werden hier als Sprachrohr einer als hegemonial wahrgenommenen Öffentlichkeit charakterisiert, während die Eigenpublikationen der Arena als Publikations- und Kommunikationskanäle für alternative Narrative positioniert werden. Auch die beiden gegenwärtigen Bezugsfälle verweisen direkt auf die Themenfelder Öffentlichkeit und öffentlicher Raum. Die Entstehung der Autonomen Fabrik Rog (AT Rog) in Ljubljana 2006 geht unter anderem auf das Engagement des Kollektivs Temp zurück, das 2004 im Umfeld der lokalen, politisch engagierten Kunst- und Architektur-Szene gegründet wurde. Ziel war es, auf das Problem des ›verschwindenden öffentlichen Raums‹ in Ljubljana aufmerksam zu machen: »to actualise the problem of disappearing public space«24 . Dieser Hintergrund spiegelt sich in der aktuellen Selbstbeschreibung der AT Rog wider: »In 2006 the area was occupied by engaged students, artists and activists as a critical response to the post-socialist transition process (privatisation and deindustrialisation), and erosion of public and social spaces (individualisation and atomisation of society). The occupation pulled legitimacy from the need for places for non-formal artistic, cultural and political activity (autonomy, alternative culture, horizontal political organising).«25 Als zentrale Motivationen werden hier die Erosion sozialer und öffentlicher Räume sowie gesellschaftlicher Individualisierungsdruck genannt. Demgegenüber positioniert sich die AT Rog als gemeinschaftlicher und nicht-hierar-

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Verein zur Förderung Alternativer Kommunikation: Arena-Stadtzeitung Nr. 7, Wien 1976, S. 1. Škufca, Andrej (u.a.): »Links: Crisis and New Beginnings: Art in Slovenia 2005-2015 (2015)«, 2016, in: ŠUM | Journal for contemporary art criticism and theory, vom 10.10.2019. Avtonomna Tovarna Rog: »What is Autonomous Factory Rog«, http://atrog.org/en/abo ut-us/our-story vom 10.10.2019, Herv. X.K.

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chischer Raum für autonome Kulturproduktion und politischen Aktivismus, zwei zentrale Bestandteile von Gegenöffentlichkeiten.26 Im Konzept für das Gängeviertel schließlich, veröffentlicht etwa ein halbes Jahr nach der ›kulturellen Inbesitznahme‹, sind ausführliche Positionierungen zum Thema Öffentlichkeit zu finden: »Über das wiederbelebte Gängeviertel hinaus haben wir uns verbunden. Mit Menschen, die in ihren Vierteln eigene Initiativen ins Leben gerufen haben und mit der ganzen Stadtöffentlichkeit. Wir haben eingeladen, zusammen zu kommen, aktiv zu werden und gemeinsam Antworten auf essentielle Fragen zu finden: Wie soll die Stadt aussehen? Wem soll sie gehören? Wie wollen wir miteinander leben? Das Gängeviertel ist zum Ort der Diskussion und der Teilhabe geworden, ein offenes Stück Hamburg – für die Besucher des sonntäglichen Zeitzeugen-Cafés genauso wie für uns Aktive, die sich den [sic!] hilfsbedürftigen Häusern angenommen haben.«27 Hier wird nicht nur explizit die Stadtöffentlichkeit adressiert, sondern auch ausformuliert, was die Akteur*innen des Gängeviertels darunter verstehen: nämlich einen Raum, der konflikthafte politische Ver- und Aushandlungsprozesse zwischen differenten Subjektivitäten sowie gegenhegemoniale Kritik ermöglicht. Birgit Sauer fasst dies kurz: »Öffentlichkeit ist […] jener Raum, wo Macht und Herrschaft thematisiert und kritisiert werden können.«28 Die Aspekte des öffentlichen Eigentums, der öffentlichen Zugänglichkeit und des öffentlichen Interesses verbinden sich in den Selbstverständnissen von Arena 76, AT Rog und Gängeviertel mit dem Anspruch, Räume für politische Teilnahme, Machtkritik und Emanzipation zu schaffen. Diese Positionierung als gegen-/öffentliche Räume – ohne den Begriff des ›öffentlichen Raums‹ direkt für sich in Anspruch zu nehmen – basiert auf den Momenten der Offenheit und Zugänglichkeit, der Versammlung und Begegnung (leiblichen Ko-Präsenz) heterogener Milieus, der Auseinandersetzung mit politischen Fragen mit Schwerpunkt auf gegenhegemonialen Diskursen, der horizontalen und kollektiven Selbstorganisation und der Ermächtigung marginalisierter Personengruppen. 26 27 28

Vgl. N. Fraser: Die halbierte Gerechtigkeit, S. 131. Gängeviertel e.V.: Konzept für das Gängeviertel, https://das-gaengeviertel.info/gaenge viertel/zukunftskonzept.html vom 19.7.2019. Sauer, Birgit: Staat, Demokratie und Geschlecht – aktuelle Debatten, 2003, S. 15, https://www.fu-berlin.de/sites/gpo/pol_theorie/Zeitgenoessische_ansaetze/sauerstaat demokratie/birgit_sauer.pdf vom 15.7.2019.

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An dieser Stelle ist ein ergänzender Kommentar geboten: Diese Positionierung deckt sich mit Analysen öffentlicher Räume, die vor allem deren emanzipatorisches Potenzial unterstreichen.29 Auch Sauers Diktum von der Öffentlichkeit als »Raum, wo Macht und Herrschaft thematisiert und kritisiert werden können«30 klammert das repressive Potenzial öffentlicher Räume aus. Wenn sie anschließend schreibt, »Öffentlichkeit bezeichnet die ›Möglichkeitsstruktur‹ politischen Handelns,« so schließt dies ein, dass politisches Handeln ebenso das Potenzial hat, Machtstrukturen zu reproduzieren und Repressionen zu verstärken. Öffentliche Räume können dementsprechend auch als machtaffirmative Repräsentationswerkzeuge fungieren, etwa indem marginalisierte Personengruppen exkludiert oder gegenhegemoniale Narrative unsichtbar gemacht werden.31 Tatsächlich bleibt diese ambivalente politische Dimension im Diskurs häufig unterbelichtet. So schreibt beispielsweise Richard Sennett, das Defizit des ›Theatralitäts-Konzeptes‹ von Öffentlichkeit, wie es Erving Goffman, Clifford Geertz und er selbst es vertreten haben, sei politisch indifferent: »What Goffman, Geertz, and I have failed to address in our work is what a liberated politics is – what is a liberating theatricality in the city and what is a repressive one?«32 Um auf die Fallbeispiele zurückzukommen: Deren Positionierung als öffentliche Räume pendelt zwischen Deskription und normativem Anspruch. Mit Blick auf die eben beschriebene Ambivalenz öffentlicher Räume ist wiederum zu fragen, wie dieser Anspruch räumlich umgesetzt wird. Anders ausgedrückt: Wie sehen die ›gelebten‹ öffentlichen Räume aus?

1.

Das Frauenhaus in der Arena 76 als gegen-/öffentlicher Raum

Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich einen Ausschnitt der Hauptfallstudie Arena 76 heranziehen. Diese war als offen und allgemein zugänglich deklariert worden, sowohl betreffend den Ort und die Veranstaltungen als auch die Strukturen, das heißt ›Häuser‹ und Arbeitsgruppen (AGs). Besonders deutlich wird dies in Bezug auf das strikt basisdemokratische Plenum als regelmäßig tagende, oberste Entscheidungsinstanz. Hier konnten alle Interessierten und Beteiligten zeitlich und thematisch offen sprechen, was sowohl 29 30 31 32

Vgl. C. Tornaghi/S. Knierbein: Public Space and Relational Perspectives. B. Sauer: Staat, Demokratie und Geschlecht – aktuelle Debatten, S. 15, Herv. X.K. Vgl. z.B. Hagyo, Romana: Über das Wohnen im Bilde sein, Dissertation, Salzburg 2018. R. Sennett: Reflections on the Public Realm, S. 396.

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breite Teilnahmemöglichkeiten als auch große Herausforderungen schuf.33 Zeitzeug*innen heben ebenso wie zeitgenössische und jüngere Publikationen insbesondere die ›erfolgreiche‹ Durchmischung unterschiedlichster Personengruppen hervor. Die Arena wird im Großen und Ganzen als diversifizierte und, trotz allfälliger Konflikte, kohärente Community (re-)konstruiert. Häufig wird in den Narrationen ein ›harmonisches Miteinander trotz aller Differenzen‹ betont: »Einzelne Medien beschrieben die Aktion als linksradikalen Aufstand, doch insgesamt war das Echo erstaunlich positiv. Zu offensichtlich war es, dass da die unterschiedlichsten Gruppen junger Menschen zusammengefunden hatten, voran Künstler vieler Sparten. Die Grenzen zwischen Künstlern und Publikum wurden aufgehoben. […] Videogruppen zogen ebenso ein wie Motorrad-Rocker. Um aus Erziehungsheimen geflüchtete Jugendliche kümmerten sich Sozialarbeiter, darunter Caspar Einem. […] Auch junge Berufstätige fühlten sich angezogen: Kurt Sedlak etwa, damals ein Installateurmeister Ende 20. […] Er kündigte seinen Job, blieb fast zehn Jahre Teil der Arena-Bewegung und arbeitet bis heute in der alternativen Kulturszene.«34 Eines der Häuser in der Arena 76 war das Frauenhaus. Es wurde von einer kleinen Gruppe autonomer Frauen organisiert, einige von ihnen waren Teil der Gruppe AUF – Aktion Unabhängiger Frauen –, die 1972 gegründet worden war.35 Die Idee des Frauenhauses entstand aus der Erfahrung, dass Frauen auch in der Arena 76 Übergriffen verbaler, psychischer und physischer Art ausgesetzt waren. Eine der zentralen Akteurinnen beschreibt die Motivation für die Gründung des Frauenhauses noch im Sommer 1976 folgendermaßen:

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Vgl. L. Weidinger: Arena, S. 86ff; Unger, Heinz Rudolf: Die Proletenpassion. Dokumentation einer Legende, Wien u.a.: Europa 1989, S. 142; Wespennest. Zeitschrift für brauchbare Texte, Nr. 23: Arena-Dokumentation, Wien 1976, S. 5; sowie Zeitzeug*innen-Interviews (liegen bei der Autorin). Stackl, Erhard: »Als einen Sommer lang Freiheit war«, in: Der Standard vom 22.08.2016, https://www.derstandard.at/story/2492068/als-einen-sommer-lang-freihei t-war vom 10.10.2019. Vgl. Frauenkollektiv RitClique (Hg.): Zündende Funken. Wiener Feministinnen der 70er Jahre, Wien: Löcker 2018; Dick, Hildegunde: Die autonome Frauenbewegung in Wien. Entstehung, Entfaltung und Differenzierung von 1972 bis Anfang der 80er Jahre, Dissertation, Wien 1991; Demokratiezentrum Wien: »Aktion Unabhängiger Frauen (AUF)«, www.demokratiezentrum.org/wissen/wissenslexikon/aktion-unabhaengigerfrauen-auf.html vom 25.9.2019.

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»[…] zu diesem zeitpunkt hatten wir bereits alle erkannt, daß die frauen hier genauso beschissen behandelt werden wie woanders. wir wollten also eine art informations- und hilfsstelle machen.«36 Das Frauenhaus war als Anlaufstelle von und für Frauen gedacht, um Schutz vor Übergriffen zu bieten und um Widerstand dagegen bzw. gegen Übergriffe begünstigende Strukturen zu leisten. Es bot eine Zeit lang auch Wohnraum für Frauen in schwierigen Lebens- oder Wohnsituationen. Eine Zeitzeugin beschreibt das Frauenhaus im Interview für Hildegunde Dick37 wie folgt: »Es hat dort ein Frauenhaus gegeben, wo Frauen auch gewohnt haben […] und das waren Mädchen, die aus Heimen davongelaufen sind oder überhaupt sehr viele Mädchen, die aus irgendwelchen Gründen von irgendwo davongelaufen sind. Oder auch, sowie [N] und diese Leute, die schlechte Wohnungen gehabt haben oder bei der Mutter gewohnt haben und mit ihren 2 Kinder[n], beengt. Auch Frauen, die Lesben war[e]n, die nirgends in ihrem sozialen Umfeld die Möglichkeit gehabt haben, mit ihrer Freundin zusammenzuleben.«38 Im Frauenhaus waren die unterschiedlichsten Gruppen von Frauen präsent, je nach politischem Selbstverständnis, sozialem Status, sexueller Orientierung, Beruf, Familienstand, Alter etc. Diese heterogene Gemeinschaft war nicht immer harmonisch, es gab etwa unterschiedliche Einstellungen zum Thema Sexarbeit. Die Lebenssituation der dort wohnenden Frauen wird mitunter als ›elend‹, das Frauenhaus insgesamt bisweilen als ›dysfunktional‹ beschrieben. Dennoch wird es von Zeitzeuginnen als wichtiger Ort für die Entwicklung der Frauenbewegung erinnert, indem es Raum für Debatten zu Geschlechtergerechtigkeit und zu gemeinsamen feministischen Zielen schuf. Thematisiert wurden etwa die (un-)gerechte Verteilung von Care-Arbeit oder die Dominanz der Männer bzw. die Unsichtbarkeit der Frauen in den Gremien der 36

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Gressl, Felicitas: »Frauenhaus = Freudenhaus?«, in: AUF: eine Frauenzeitschrift, Nr. 8 (1976), S. 20-22, hier S. 20; Dies.: »machts doch gleich ein puff auf!«, in: Neues Forum (September/Oktober 1976), S. 11-13, hier S. 11. H. Dick: Die autonome Frauenbewegung in Wien. Dies.: »Gespräch mit H.H. am 26.1.88« (unveröff. Interview-Typoskript), 1988, S. 4, Signatur: C 164/16. Stichwort – Archiv der Frauen- und Lesbenbewegung, Wien. – Sämtliche Interview-Transkripte sind aus Gründen der Lesbarkeit und Verständlichkeit sprachlich leicht geglättet, anonymisiert (Klarnamen wurden ggf. durch [N] ersetzt) und stellenweise ergänzt, und augenscheinliche Tippfehler und Interpunktion wurden korrigiert (Ergänzungen und Korrekturen sind durch eckige Klammern ausgewiesen).

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Arena. Ebenso ermöglichte das Frauenhaus die Begegnung unterschiedlicher Lebensrealitäten. Eine der Zeitzeuginnen aus meiner eigenen Forschungsarbeit betont die aus ihrer Sicht zentrale Rolle des Arena-Frauenhauses: »Ich glaube, dass es eine große Mobilisation war, später, auch für die Frauen, weil es hat nachher eine Frauenhaus-Bewegung gegeben. Ich würde das Positive hervorheben […], es war ein unglaublicher Aufbruch. […] Das war einfach der Aufbruch zu weiteren Aktivitäten, Gruppen, und so. Also das Frauenhaus war positiv.«39 Eine weitere Zeitzeugin konkretisiert diese positive Wahrnehmung anhand einer bestimmten Person, deren Persönlichkeitsentwicklung vom Frauenhaus profitiert hat: »Sie war so für mich der Beweis, ich hab mich so gefreut immer später, wenn ich sie gesehen hab, dass sie sich nicht mehr provozieren lässt, und dass sie fast weise Sachen [von sich gegeben hat], sie ist eine richtige Philosophin geworden. Ganz ruhig und durchdacht. Und ich hab mir gedacht: so geht’s auch. Also das war so ein Beweis für mich, wie wichtig diese Freiräume sind, wo man sich Zeit nehmen kann, mit jemandem zu reden. […] Und die dann andere Perspektiven auch sehen in ihren Leben. Und [die dann sehen], es gibt noch was Anderes.«40 Da einige der in der Arena 76 aktiven Frauen Care-Arbeit, in erster Linie Kinderbetreuung, zu leisten hatten, organisierten sie auch ein Kinderhaus mit Betreuungsdiensten.41 Die Aktivist*innen wandelten das erste Gebäude, das sie als Frauenhaus vorgesehen hatten, in das Kinderhaus um und suchten anschließend einen anderen Raum; einige der Aktivist*innen waren in beiden Häusern aktiv. Die Kollektivierung dieser Care-Arbeit erlaubte es einigen überhaupt erst, am Gesamtprojekt Arena teilnehmen zu können, das heißt, sich etwa an Plena und Diskussionen zu beteiligen oder Kulturveranstaltungen zu besuchen. Die mit dem Kinderhaus verknüpfte Entstehung und Entwicklung des Frauenhauses ist allerdings nicht linear, sondern von Brüchen

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Kopf, Xenia: »Interviewtranskript A3 vom 18.07.2017« (unveröffentlicht), 2017, S. 22. Dies.: »Interviewtranskript A9 vom 26.09.2018« (unveröffentlicht), 2018, S. 7. Auch Männer beteiligten sich laut Interview-Partner*innen auf Aufforderung hin an der Kinderbetreuung, die Hauptinitiative verblieb bei Frauen. Zeitweise gab es einen Mangel an Betreuungspersonen, vgl. z.B. Schlachthof Arena Nr. 2, o.S. [S. 5].

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gekennzeichnet. Es musste laufend gegen Widerstand durchgesetzt werden, wie die bereits zitierte Zeitzeugin in der AUF weiter beschreibt: »Wir malten überall Frauenzeichen hin und fühlten uns dabei eigentlich sehr klaß. [sic!] […] Es dauerte keine Viertelstunde, als auch schon ein ganzer Stoß Typen anmarschiert kam. Sie schnauzten uns an, wollten wissen, was wir da machen. Wir versuchten also, ihnen zu erklären, daß wir ein Frauenhaus eröffnen wollen, weil […] nun, weiter kamen wir in unserer Erklärung gar nicht. ›Was soll denn der Scheiß?! Das ist doch spalterisch. Wozu braucht’s denn ihr ein Frauenhaus, machts doch gleich ein Puff auf?‹ Das waren noch die schwächeren Sachen, die wir zu hören bekamen.«42 Schon die Absichtserklärung und die ersten Aneignungsschritte – sichtbare, visuelle Markierungen eines Gebäudes – hatten also Vorwürfe und sexistische Beleidigungen zur Folge. Die Etablierung und der Betrieb des Frauenhauses blieben über die folgenden Wochen eine Herausforderung, sowohl innerhalb der Aktivist*innen als auch im Rahmen der Arena 76 insgesamt. Der Ort und die Struktur des Frauenhauses sowie das Netzwerk der Akteur*innen zwischen Frauenhaus und Kinderhaus waren essentiell für die Entwicklung einer ›Frauen-Öffentlichkeit‹ im Sinne einer Teilöffentlichkeit der Arena 76. Diese Teilöffentlichkeit war wiederum die Grundlage dafür, dass sich diese ›Frauen-Öffentlichkeit‹ auf anderen Ebenen artikulieren konnte, z.B. innerhalb der ›Arena-Öffentlichkeit‹ im Rahmen der basisdemokratischen Plena oder auf Ebene der städtischen Öffentlichkeit. Das Frauenhaus war kein ›öffentlicher Raum‹ im oben diskutierten normativen Sinn, denn es war ausschließlich für Frauen zugänglich – nicht-binäre Formen der Geschlechteridentität wurden zu diesem Zeitpunkt von der sich formierenden Frauenbewegung in Wien (noch) nicht thematisiert. Durch diese Reglementierung und durch die Raum-Aneignung, die Frauen hier praktizierten, konnte sich eine Teil-Öffentlichkeit auf der Mikroebene konstituieren. Ohne diese »einfache Öffentlichkeit«43 wäre das politische Spektrum der Arena unvollständig gewesen. Das Frauenhaus, ebenso wie andere Arena-Gruppen und -Häuser, verhalf der Arena 76 zu einer pluralistischeren öffentlichen Sphäre, und damit zu einer Öffentlichkeit, die diese Bezeichnung auch im normativen Sinn verdient hat.

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F. Gressl: Frauenhaus = Freudenhaus?, S. 20. E. Klaus: Das Öffentliche im Privaten, S. 22.

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Die bereits zitierte Zeitzeugin von Hildegunde Dick geht in ihrer Narration direkt im Anschluss an das obige Zitat auch auf diesen Aspekt des Öffentlichen und auf die notwendigen Aushandlungsprozesse ein: »Aber [es hat dort] natürlich auch Frauen [gegeben], die das [Frauenhaus] auch dazu benützen wollten[,] um die Frauenfrage präsent zu machen. Und dort hat natürlich dasselbe stattgefunden, wie überall, und zwar, daß das immer möglichst aufs Nebengleis geschoben worden [ist]. Was genau dieselben harten Kämpfe auch innerhalb gebracht hat[,] um die Frage präsent zu machen. Das war halt immer die letzte Frage.   Frage: Präsent unter den anderen Arena-Leuten und auch in der Öffentlichkeit?   Ja, beides. Genau derselbe Kampf, den wir heute auch noch führen und auch das, warum die Frauen aus den politischen Gruppierungen hinausgegangen sind, weil die Fb [Frauenbewegung] in der Zeit ist nicht entstanden, wenn man so will, aufgrund von Frauenfragen, sondern deshalb, weil in den politischen Gremien und Gruppierungen die Frauen mit ihren Anliegen erstens wieder untergegangen sind, zweitens sie immer wieder benützt werden, für Schreibarbeiten und andere weibliche untergeordnete Tätigkeiten, aber die Präsentation nach außen immer von Männern geschehen ist und irgendwann haben die Frauen [sich] das nicht mehr gefallen lassen und sind zu dem Schluß gekommen, wir machen uns sozusagen selbstständig.«44 Die Geschichte des Frauenhauses und seiner Kontroversen zeigen, dass nicht nur das Frauenhaus selbst, sondern auf einer anderen Ebene auch die ›Arena-Öffentlichkeit‹ als Raum konflikthafter Aushandlungen zwischen verschiedenen Interessensgruppen zu verstehen sind: Hierbei wurden verschiedenste Teil-Öffentlichkeiten produziert, auf unterschiedlichen Ebenen und von unterschiedlicher Komplexität. Diese waren an leibliche Verkörperungen und Raumaneignungen geknüpft und traten in affektiv aufgeladene Verhandlungsprozesse untereinander ein, die sich keineswegs nur um das ›sachlich bessere Argument‹ drehten, sondern in denen Identitäten, Differenzen und Hierarchien verhandelt wurden, kurzgefasst: in denen um Hegemonie gerungen wurde.

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H. Dick: »Gespräch mit H.H. am 26.1.88.« (unveröff. Interview-Typoskript), S. 4.

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2.

Aspekte öffentlicher Räume am Beispiel von AT Rog und Gängeviertel

Inhaltlich anders gelagerte, aber strukturell ähnliche Aussagen lassen sich auch für die AT Rog oder das Gängeviertel treffen. So war etwa die AT Rog und insbesondere das Social Center (Socialni Center) at Rog seit 2006 der Kristallisationspunkt verschiedener politischer Öffentlichkeiten, etwa der Izbrisani (Erased): Einwohner*innen Sloweniens, die Staatsbürger*innen anderer jugoslawischer Republiken waren und mit der Unabhängigkeit Sloweniens 1991 aus den öffentlichen Registern gelöscht wurden. Damit verloren sie ihren legalen Zugang zu Wohnraum, Arbeitsverhältnissen, sozialen Sicherungssystemen und politischer Teilhabe.45 Die Izbrisani, ebenso wie später Initiativen des slowenischen Refugee-Aktivismus, organisierten sich im und durch das Social Center at Rog. Darüber hinaus war und ist die AT Rog Versammlungs- und Diskursort für feministische und anarchistische Szenen, Schauplatz massiver – sowohl interner als auch externer – Auseinandersetzungen um Raumnutzungen und Deutungshoheiten, alternativkultureller Produktionsort und Treffpunkt zeitgenössischer Kunst-Szenen.46 In den laufenden Auseinandersetzungen mit der Stadtverwaltung wurde im Frühjahr 2019 das Festival Roza Bagra ausgerufen und ein unabhängig besetztes, öffentliches Tribunal (Javna Tribuna) zur Zukunft des Geländes eingefordert.47 ›Roza Bagra‹ lässt sich als ›Rosa Bagger‹ übersetzen und verweist auf ein Widerstandssymbol: AT Rog-Nutzer*innen verhinderten 2016 mit einer Blockade Räumung und Teilabrisse auf dem Gelände durch Mitarbeiter*innen einer privaten Sicherheitsfirma. Die Firma ließ dabei einen Bagger auf dem Gelände zurück, der sich mehrere Wochen vor Ort befand, mit pinker Farbe besprüht und zu einem Symbol für die erfolgreich verhinderte Räumung wurde.48

45 46 47

48

Vgl. European Court of Human Rights: »Case of Kurić and others v. Slovenia«, 12.03.2014, http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-141899 vom 10.10.2019. Vgl. B. Beznec: Konstituiranje evropskega državljanstva. Vgl. Avtonomna Tovarna Rog: »Roza Bagr Festival«, 2019, http://atrog.org/en/aboutus/save-rog/roza-bagr-festival vom 19.7.2019; Avtonomna Tovarna Rog: »Javna tribuna: Avtonomna Tovarna Rog in prihodnost mesta – STALIŠČA A.T. ROG«, 18.06.2019, http:// atrog.org/en/about-us/public-statements/374-javna-tribuna-avtonomna-tovarna-rogin-prihodnost-mesta-stalisca-at-rog vom 10.10.2019. Vgl. z.B. jaka prijatelj: »Balet bagrov v Rogu« (05.07.2016), https://www.youtube.com/ watch?v=9IdS8P91Hy0&feature=youtu.be vom 10.10.2019.

267

268

Xenia Kopf

Die Entwicklung des Gängeviertels wiederum verläuft vom ›klandestinen‹ Treffen einer kleinen Personengruppe über ein als einmalig gedachtes, öffentliches Fest hin zu einem genossenschaftlich verwalteten Stück Stadtviertel mit unzähligen kulturellen, sozialen und politischen Initiativen sowie regelmäßigen Groß-Veranstaltungen mit tausenden Besucher*innen. Das erste Hoffest wurde 2009 unter dem Motto Komm´ in die Gänge veranstaltet, was die Betonung des öffentlichen und einladenden Charakters durch die Initiative verdeutlicht. Dieses Motto hat sich gehalten und ist zum zentralen Element des internen Selbstverständnisses und der externen Kommunikation geworden. Das Hoffest findet seit 2010 jedes Jahr als mehrtägiges Geburtstagsfest mit einer Fülle von Veranstaltungen und Angeboten statt. Auch im Gängeviertel werden Positionen, Räume und Ressourcen ständig (neu) und mitunter hoch konflikthaft verhandelt, sowohl innerhalb der Community als auch mit der städtischen Öffentlichkeit: Zuletzt etwa 2017 im Rahmen des umstrittenen G20-Gipfels in Hamburg, als sich das Gängeviertel zur »Freien Oase Gängeviertel»› deklarierte und während des Gipfel als »Info- und Anlaufpunkt« sowie als »lebendiger Fleck Erde, der von einer endlos scheinenden Einöde umgeben ist«, fungierte.49

3.

Resümee

Ich schlage also vor, Arena 76, AT Rog und Gängeviertel beispielhaft für kollektiv organisierte Stadträume, als Konstellationen multipler, gelebter und geschichteter öffentlicher Räume zu verstehen, die sich zumeist bemühen, nicht in Echokammern umzuschlagen und womöglich als Safe Spaces, Inseln oder ›andere Räume‹ in Erscheinung treten. Am Beispiel eines zeitgeschichtlichen (Arena Wien 1976) und zweier zeitgenössischer Beispiele (AT Rog Ljubljana, Gängeviertel Hamburg) spürt dieser Beitrag den Begriffen des ›Öffentlichen‹ und des ›öffentlichen Raums‹ in autonomen städtischen Kulturzentren nach. Die Analyse ergab, wie fließend diese Begriffe und wie wenig sie die komplexe soziale Wirklichkeit zu fassen in der Lage sind. Die idealtypische Idee des öffentlichen Raums – meist eng verwoben mit einem ebenso ideal gedachten Stadt-Begriff – stellt häufig 49

Gängeviertel e.V.: »Freie Oase Gängeviertel | News and Stories around the G20-summit in Hamburg, 30. June – 9. July 2017«, 2017, https://oasegaengeviertel.wordpress.com/p age/2/ vom 8.10.2019.

Bubbles müssen nicht digital sein

eine argumentative Hintergrundfolie für politische Diskurse dar. Demgegenüber differenzieren sich die in der Praxis produzierten, gelebten öffentlichen Räume stark aus. Sie reichen von informellen ›community spaces‹ über präsentische Mikro-Öffentlichkeiten bis hin zu offenen Räumen, die breite Öffentlichkeiten ansprechen, in ihren Teilhabe- und Aushandlungsmöglichkeiten aber mitunter begrenzt bleiben. Dies sind allesamt Kategorien, die ein Aufbrechen, Querlesen und Erweitern der konventionellen Dichotomie von öffentlich und privat erfordern. Diese kollektiven Räume dennoch als öffentliche Räume zu verstehen und zu deklarieren bedeutet, sie nicht als partikular abzutun, sondern ihre Funktion als »Möglichkeitsstruktur politischen Handelns«50 , als Räume der Ermächtigung und Teilhabe, aber auch kontingenter Machtverhältnisse anzuerkennen. Ein solches Begriffsverständnis wird zugleich der Komplexität und vermeintlichen Widersprüchlichkeit gelebter, praktisch umgesetzter öffentlicher Räume gerechter.

50

B. Sauer: Staat, Demokratie und Geschlecht, S. 15.

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Zu den Autor*innen

Romana Hagyo, Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Lektorin der Kunstuniversität Linz. Promotion zu Konzeptionen von Öffentlichkeit und Privatheit in ausgewählten künstlerischen Darstellungen des Wohnens. Arbeitet an der Schnittstelle von bildender Kunst und kunstwissenschaftlicher Geschlechterforschung. Dominik Harrer, Institut für Praktische Philosophie/Ethik, Katholische Privat-Universität Linz. Studien in Wien und Linz, Master in Philosophie zum Eigentumskonzept im Rahmen des Themas Biobanken. Dissertationsprojekt zur Kritik des pharmakologischen Neuro-Enhancement aus einer integrativ-bioethischen Perspektive. Florian Höhne, Seminar für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Studien in Neuendettelsau, Erlangen und Durham (NC, USA), Promotion über Öffentliche Theologie und Personalisierung in den Medien. Habilitationsprojekt zu Verantwortung als sozialer Praxis. Ilaria Hoppe, Institut für Kunst in gegenwärtigen Kontexten und Medien, Katholische Privat-Universität Linz. Studium in Düsseldorf und Berlin, Promotion zu Frauengemächern der Frühen Neuzeit. Seit 2007 forscht und lehrt sie zu Graffiti und Street Art. Lukas Kaelin, Institut für Praktische Philosophie/Ethik, Katholische PrivatUniversität Linz. Studium in München und London, Promotion zur Gesellschaftstheorie Theodor W. Adornos. Habilitationsprojekt zum medialen Wandel gegenwärtiger Öffentlichkeit.

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Bubbles & Bodies

Calvin Kiesel, Lehrer am Stiftsgymnasium Melk. Abschluss des Bachelorstudiums Philosophie und des Lehramtsstudiums der Fächer Deutsch und Psychologie/Philosophie in Wien. Laufendes Masterstudium der Philosophie in Wien mit einer Abschlussarbeit zur Geschichtsphilosophie Immanuel Kants. Xenia Kopf, Kulturwissenschafterin mit Schwerpunkten in Stadtforschung, Kulturpolitik und Theaterwissenschaft. Laufende Dissertation zum Thema Die Stadt als performativer Raum. Kulturelle Praxen in urbanen Transformationsräumen im interuniversitären Doktoratsstudium Wissenschaft und Kunst (Universität Salzburg und Mozarteum Salzburg). Mirja Kutzer, Institut für Systematische Theologie, Universität Kassel. Studium in Regensburg, Rom und Wien, Promotion zu fiktionaler Literatur als Quelle theologischer Erkenntnis. Habilitation zu Kulturen der Gottesliebe. Wulf Loh, Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW), Universität Tübingen. Studium der Philosophie, Politikwissenschaft und des Völker- und Europarechts in Heidelberg, Bologna und der FU Berlin. Promotion im Bereich der Internationalen Politischen Theorie zu einer normativen Rekonstruktion des Völkerrechts. Habilitationsprojekt zu sozialen Pathologien informationeller Privatheit. Manuela Naveau, österreichische Künstlerin, Forscherin und Kuratorin der Ars Electronica Linz. Lehrt Critical Data/Interface Cultures an der Kunstuniversität Linz zu Netzwerken, Plattformen und Daten im Kontext einer künstlerisch-wissenschaftlichen Forschungspraxis. Michael Reder, Institut für Ethik und Sozialphilosophie, Hochschule für Philosophie München. Studium der Philosophie, katholischen Theologie und Volkswirtschaft in München, Tübingen und Fribourg/Ch. Seine Forschungsschwerpunkte sind Grundlagen der Sozialphilosophie, politische Philosophie der Globalisierung, und bereichsethische Forschung (vor allem Umweltethik). Maria Robaszkiewicz, Institut für Humanwissenschaften/Philosophie an der Universität Paderborn. Studium im Łódź, Jyväskylä und Bonn, Promotion an der Universität Paderborn über Übungen im politischen Denken bei Hannah Arendt. Habilitationsprojekt zur kritischen Phänomenologie der Migrationserfahrung (laufend).

Zu den Autor*innen

Andreas Telser, Institut für Fundamentaltheologie und Dogmatik an der Theologischen Fakultät der Katholischen Privat-Universität Linz. Studien in Boston, Chicago, Linz und Regensburg, Promotion über die Öffentliche Theologie David Tracys. Habilitationsprojekt zum Verhältnis von Theologischer Anthropologie und Humor.

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Kulturwissenschaft Gabriele Dietze

Sexueller Exzeptionalismus Überlegenheitsnarrative in Migrationsabwehr und Rechtspopulismus 2019, 222 S., kart., Dispersionsbindung, 32 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4708-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4708-6

Gabriele Dietze, Julia Roth (eds.)

Right-Wing Populism and Gender European Perspectives and Beyond April 2020, 286 p., pb., ill. 35,00 € (DE), 978-3-8376-4980-2 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4980-6

Stephan Günzel

Raum Eine kulturwissenschaftliche Einführung März 2020, 192 S., kart. 20,00 € (DE), 978-3-8376-5217-8 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5217-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan

Postkoloniale Theorie Eine kritische Einführung Februar 2020, 384 S., kart. 25,00 € (DE), 978-3-8376-5218-5 E-Book: 22,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5218-9

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Elena Beregow, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Annekathrin Kohout, Nicolas Pethes, Miriam Zeh (Hg.)

POP Kultur & Kritik (Jg. 9, 2/2020) Oktober 2020, 178 S., kart. 16,80 € (DE), 978-3-8376-4937-6 E-Book: PDF: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4937-0

Karin Harrasser, Insa Härtel, Karl-Josef Pazzini, Sonja Witte (Hg.)

Heil versprechen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2020 Juli 2020, 184 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4953-6 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4953-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de