236 121 38MB
German Pages 796 [800] Year 2000
Deutsch als Fremdsprache HSK 19.1
W
Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft Handbooks of Linguistics and Communication Science Manuels de linguistique et des sciences de communication Mitbegründet von Gerold Ungeheuer
Herausgegeben von / Edited by / Edités par Armin Burkhardt Hugo Steger Herbert Ernst Wiegand
Band 19.1
Walter de Gruyter · Berlin · New York 2001
Deutsch als Fremdsprache Ein internationales Handbuch Herausgegeben von Gerhard Heibig · Lutz Götze · Gert Henrici Hans-Jürgen Krumm 1. Halbband
Walter de Gruyter · Berlin · New York 2001
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek -
CIP-Einheitsaufnahme
Deutsch als Fremdsprache : ein internationales Handbuch / hrsg. von Gerhard Heibig .... — Berlin ; New York : de Gruyter (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft ; Bd. 19) Halbbd. 1. - (2001) ISBN 3-11-013595-7
© Copyright 2001 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Arthur Collignon GmbH, Berlin Druck: WB-Druck, Rieden/Allgäu Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin Einbandgestaltung und Schutzumschlag: Rudolf Hübler, Berlin
Vorwort 1. Zur Bezeichnung und Abgrenzung des Faches Der Terminus Deutsch als Fremdsprache wird für unterschiedliche Bereiche der Beschäftigung mit dem Deutschen als Nicht-Muttersprache verwendet. Er steht sowohl für den konkreten Sprachunterricht für Nichtdeutschsprachige wie auch für theoretische Studien und Forschungsprojekte zum Gegenstandsbereich und ebenso für Unterrichtsmethoden und Studiengänge innerhalb und außerhalb der Germanistik. Inwieweit Deutsch als Fremdsprache ein eigenes, klar abgrenzbares wissenschaftliches Fach ist und wie dieses zugeordnet werden sollte, als Bestandteil der Germanistik oder als interdisziplinäres Arbeitsgebiet zwischen Philologie und Psychologie bzw. Pädagogik, wird erst die weitere Entwicklung klarer zeigen. Abhängig von entsprechenden Konzeptionen ergeben sich terminologische und begriffliche Akzentuierungen. Mit Deutsch als Zweitsprache wird vielfach jener Bereich des Faches bezeichnet, der sich auf den Spracherwerb und die Sprachvermittlung innerhalb des deutschen Sprachraums, also insbesondere auf den Spracherwerb von Minderheiten und Migranten, bezieht. Als Interkulturelle Germanistik werden öfters besonders von Deutschland ausgehende Konzepte bezeichnet, die das Problem des Fremdverstehens im Rahmen literaturwissenschaftlicher Ansätze und in der Auseinandersetzung mit Theorien des (Fremd-)Verstehens entfalten — Artikel 1 zeichnet diese Diskussion nach. Die Herausgeber des Handbuchs haben für den vorliegenden Band eine zugleich programmatische wie auch praktische Position gewählt, die sich folgendermaßen charakterisieren lässt: 1) Die Bezeichnung Deutsch als Fremdsprache wurde beibehalten, weil sie, trotz mancher Missverständnisse, insbesondere der Verwechslung mit dem Sprachunterricht, dennoch die Geschichte des Faches, seine wissenschaftlichen Aspekte wie auch die inzwischen eingetretene Institutionalisierung und Differenzierung gut kennzeichnet: Institute und Lehrstühle, Jahrbücher und Zeitschriften tragen mit der Verwendung dieser Bezeichnung auch zur Festigung des Faches bei und haben den Terminus inzwischen vielfach auch international etabliert. 2) Ausgangspunkt der Beiträge in diesem Handbuch ist der Lernbereich des Deutschen als Fremdsprache, der in seinen linguistischen Grundlagen wie in den sprachpsychologischen, spracherwerbsbezogenen, sprachdidaktischen und landeskundlichen Arbeitsfeldern dargestellt wird, wobei die Grenzen zur Pädagogik und Psychologie dadurch gezogen werden, dass im Fach Deutsch als Fremdsprache , Sprache' nicht als den sprachübergreifenden Aspekten des Lernens und Lehrens unter- oder nachgeordnet, sondern als gleichgewichtiges konstitutives Element betrachtet wird. Das Handbuch unterscheidet sich insofern von anderen Konzeptionen, die den Erwerb und die Vermittlung einer Sprache vor allem als Spezialfall einer allgemeinen Betrachtung des Sprachenlehrens und -lernens bzw. des Lehrens und Lernens überhaupt verstehen. 3) In je unterschiedlicher Weise sind, was den deutschen Sprachraum betrifft, Fragestellungen des Deutschen als Fremdsprache in der Bundesrepublik Deutschland mit
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Vorwort
einer besonders langen Fachgeschichte und einer starken Institutionalisierung des Faches, in Österreich mit einer noch jungen, im Wesentlichen erst seit 1989 sich entfaltenden Fachszene, und in der Schweiz unter den spezifischen Bedingungen der Mehrsprachigkeit entwickelt worden. Das Handbuch trägt dem Rechnung, indem die Entwicklung in den deutschsprachigen Ländern jeweils separat dargestellt (Kap. II und XXII), nach Möglichkeit aber auch in die einzelnen Fachartikel (ζ. B. zur Landeskunde) integriert wird. 4) Eine besondere Beziehung besteht zwischen dem Fach Deutsch als Fremdsprache in den deutschsprachigen Ländern und der sog. Auslandsgermanistik; Verstand sich diese lange Zeit als Abbild der Germanistik des deutschen Sprachraums, so hat sie zunehmend eigene, aus der Außenperspektive auf den deutschen Sprachraum gerichtete Fragestellungen und damit für das Fach Deutsch als Fremdsprache charakteristische Arbeitsfelder entwickelt. Es muss daher vermieden werden, für Deutsch als Fremdsprache eine primär im deutschen Sprachraum entwickelte Perspektive zu verallgemeinern. Die Herausgeber haben dieser besonderen Situation Rechnung getragen, indem in Kap. XXIII länderspezifische Darstellungen die besonderen Entwicklungen in den einzelnen Ländern nachzeichnen. Ausserdem wurde versucht, möglichst viele Kollegen aus der ,Auslandsgermanistik' als Autoren zu gewinnen, um eine eurozentrische Sichtweise zu vermeiden. Die ursprüngliche Planung sah vor, das Handbuch in einem zweiten Teilband weiterzuführen. In ihm sollten vor allem komplexe semantische und pragmatische Probleme behandelt werden. Sie ergeben sich für Deutsch als Fremdsprache komparativ und hermeneutisch beim Umgang mit anspruchsvollen fremdsprachlichen Texten und Traditionen. Hierzu bedarf es weiterer Planungen und einer eingehenden Beschäftigung mit komparativer Semantik, Pragmatik und Literaturwissenschaft. Nur dadurch können nach unserer Überzeugung genügend abgesicherte Konzepte für Deutsch im Kontrast zu anderen Sprachen und deren Verständnishorizonten entwickelt werden. Einige Fragen dieses Bereichs werden im vorliegenden Handbuch jedoch in einem engeren Sinne, bezogen auf die Prozesse des Sprachenlehrens und -lernens und die Inhalts- und Kontextdimension von Sprache thematisiert - verwiesen sei auf die Kapitel XII, XVIII und XXI, in denen auch Kontroversen um die Etablierung der Interkulturellen Germanistik nachgezeichnet werden (vgl. z. B. Art. 135).
2. Aufgaben des Handbuchs Während die meisten anderen in der Reihe HSK vorgelegten Bände den Zustand eines konsolidierten Fachgebietes darstellen, gilt für Deutsch als Fremdsprache, dass sich dieses Fach zwar gefestigt hat und konzeptionelle wie auch institutionelle Strukturen sich etabliert haben, dass die Entwicklung freilich noch keineswegs als abgeschlossen betrachtet werden kann. Das Handbuch will daher einerseits den erreichten Entwicklungsstand im Sinne einer Bilanzierung darstellen, andererseits jedoch keine Geschlossenheit vortäuschen, wo diese noch nicht gegeben ist, sondern durchaus zur weiteren Konsolidierung des Faches beitragen. Seine Aufgabe besteht daher im Einzelnen darin, - die konzeptionelle Entwicklung von Deutsch als Fremdsprache in Theorie und Praxis wie auch die durchaus unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen darzustellen und zu erörtern,
Vorwort
VII
— die unterschiedlichen Institutionalisierungen des Faches transparent zu machen, — zu zeigen, wie Forschungsstand und Forschungsmethoden im Einzelnen einzuschätzen sind, — dabei vor allem die interdisziplinären Bezüge zu den Referenzwissenschaften aufzuzeigen, — und nicht zuletzt auch die Bedeutung des Faches für die verschiedenen Praxisfelder zu verdeutlichen. Drei der großen Herausforderungen, vor die das Fach gestellt ist und für die das Handbuch Grundlagen bereitstellen will, seien hier exemplarisch genannt: 1) die Neuorientierung der Germanistik in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, in der sich die Germanistik in stärkerem Maße mit der Berufsorientierung ihrer Studienangebote, einer professionellen Lehrerausbildung und der veränderten Rolle der deutschen Sprache im Sprachenangebot auseinandersetzen muss, was Fragen des Deutschen als Fach-, Berufs- und Wirtschaftssprache ebenso in den Vordergrund rückt wie auch die sprachenpolitische Dimension des Deutschen als Fremdsprache insgesamt; 2) die Tatsache, dass innerhalb der Europäischen Union die Grenzen zwischen In- und Ausland fließend werden, d. h. die Mobilität der Studierenden und Lehrkräfte zu einer Auflösung der Grenzen zwischen Muttersprachen- und Fremdsprachenphilologien, zwischen Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache führt, womit die deutsche Sprache vermehrt unter dem Aspekt gesellschaftlicher wie individueller Mehrsprachigkeit zum Forschungs- und Vermittlungsgegenstand wird; 3) die durch die Migrationsbewegungen entstandene Multikulturalitât des deutschen Sprachraums, die eine Einbeziehung sozialpsychologischer und soziokultureller Zugänge zu Sprache, Spracherwerb und Sprachvermittlung notwendig macht. Das Handbuch versucht, für diese Umbruch- und Aufbruchsituation den vorhandenen Erkenntnis- und Forschungsstand ebenso wie unterrichtspraktische und sprachenpolitische Erfahrungen und Modelle bereitzustellen.
3. Gliederung des Handbuchs Das Handbuch besteht aus 23 nach systematischen Gesichtspunkten gegliederten Kapiteln und hat folgende Grobstruktur: A
Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet (Kapitel I—II mit 11 Artikeln): Konzeptionen und Geschichte des Fachs. Β Gegenstände des Faches Deutsch als Fremdsprache (Kap. I I I - X X I mit 130 Artikeln): Linguistische Gegenstände (Kapitel III—VII): Sprachsystem, Sprachgebrauch, Texte aus linguistischer Sicht, Kontraste zwischen Einzelsprachen, sprachliche Varianten des Deutschen. Didaktisch-methodische Gegenstände - Lernen (Kapitel Vili—IX): Begriffe und Konzepte, Erklärungsansätze für den Zweitsprachenerwerb und das Fremdsprachenlernen: Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung, Zweitsprachenerwerb als Lernaktivität - Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess, Zweitsprachenerwerb als Interaktion, pädagogisch-didaktische Lernkategorien.
Vili
Vorwort
Didaktisch-methodische Gegenstände - Lehren (Kapitel X-XVI): Lehren in Theorie und Empirie, Planung von Deutsch als Fremdsprache-Unterricht, Methoden des Unterrichts in Deutsch als Fremdsprache, Leistungskontrolle und Leistungsmessung, Materialien und Medien, Lehrerinnen und Lehrer, Lehren und Lernen von Deutsch als Fremdsprache in der Auslandsgermanistik. Landeskundliche Gegenstände (Kapitel XVII-XX): Standpunkte und Konzepte, Texte aus landeskundlicher Sicht, landeskundliche Inhalte, Landeskunde in der Auslandsgermanistik. Literatur als Gegenstand des fremdsprachlichen Deutschunterrichts (Kapitel XXI). C Institutionen und Areale (Kap. XXII-XXIII mit 44 Artikeln): Sprachenpolitik und Institutionen, Deutschunterricht und Germanistikstudium im fremdsprachigen Ausland. A und C umfassen Rahmenkapitel: In Kapitel I und II werden allgemeine Konstituierungsprobleme und historische Entwicklungen des Fachs, in den Kapiteln XXII und XXIII vorwiegend quantitative und institutionelle Aspekte der Repräsentanz des Faches dargestellt. Der eingebettete Teil Β (Kapitel III bis XXI) repräsentiert den Kernbereich des Faches, wobei der Reihenfolge der Beiträge die Überlegung zugrunde liegt, dass das Lernen und Lehren von Gegenständen die genaue Kenntnis der Gegenstände voraussetzt. Die Reihenfolge Lernen und daran anschließend Lehren ist dadurch bedingt, dass das Lernen des Deutschen als Fremdsprache das Ziel ist, dem sich das Lehren anzupassen bzw. unterzuordnen hat. Obwohl Lern- und Lehrhandlungen einander bedingende Prozesse sind, haben sich die Herausgeber aus Gründen einer trennschärferen systematischen Darstellung für eine separate Behandlung der beiden Aspekte entschieden. In der Unterteilung in linguistische, didaktisch-methodische und landeskundliche Gegenstände sowie Literatur als Gegenstand des fremdsprachlichen Deutschunterrichts kommt der Darstellung der Funktionen der Referenzwissenschaften für diese Bereiche eine hohe Bedeutung zu. Ohne präzise und detaillierte Kenntnisse aus den jeweils relevanten Referenzwissenschaften ist ein kompetenter Umgang mit den Gegenständen im Lehr- und Lernprozess nicht möglich. Außerdem kann die konzeptionelle Entwicklung von Deutsch als Fremdsprache nicht unabhängig von den Entwicklungen in den einzelnen Referenzwissenschaften gesehen werden. So hat ζ. B. die Pragmalinguistik einen starken Einfluss bei der Entstehung und Ausgestaltung der kommunikativen Methode ausgeübt, die Diskurs- und Gesprächsanalyse haben sich auf die Untersuchung und Gestaltung von Interaktionen und die Verwendung von Kommunikationsstrategien im Unterricht ausgewirkt. Kognitive Linguistik und Psychologie sowie die Zweitsprachenerwerbsforschung haben die Bedeutung von Lernstrategien ins Zentrum des Fachinteresses gerückt, verschiedene Disziplinen der Linguistik haben in Kooperation mit der Sprachlehr- und Sprachlernforschung auf die Beschreibung von Lernersprachen hingewirkt, linguistische Grammatiktheorien (u. a. Konstituentenanalyse, Verb-DependenzAnalyse) haben grammatische Darstellungen in Deutsch-als-Fremdsprache-Lehrbüchern beeinflusst, die strukturale Linguistik hat insgesamt die Gestaltung verschiedener Übungstypen (Einsatz-, Transfer-Übungen) geprägt. Literaturwissenschaft und Linguistik schließlich haben die Analyse von fiktionalen und nichtfiktionaln Texten bestimmt, die Pädagogik hat zur Entwicklung lernerbezogener Unterrichtskonzepte beigetragen, so wie Psychologie, Zweitsprachenerwerbs- und Sprachlehrforschung die Untersuchung verschiedener Lern- und Lernervariablen beeinflusst haben. Dabei ist das Verhältnis
Vorwort
IX
zwischen Theorie und Praxis nicht als lineare Ableitung zu verstehen, vielfach haben praktische Probleme (etwa der Motivierung, des Selbstlernens) und Entwicklungen ζ. B. sprachenpolitischer Art auch den wissenschaftlichen Diskurs befruchtet und zu neuen Forschungsansätzen geführt; das Wechselspiel zwischen sprachenpolitischen Konzeptionen und wissenschaftlichen Begründungen von Mehrsprachigkeit und Fragen nach dem frühen Fremdsprachenlernen können in den 90er Jahren als Beispiele dienen. In den einzelnen Artikeln zu den 23 Kapiteln werden nach Möglichkeit folgende Gesichtspunkte berücksichtigt: theoretische, empirische und praxisrelevante Erkenntnisse und Bezüge unter Einbeziehung der Forschungsergebnisse der jeweils relevanten Referenzwissenschaften. Die grundsätzlich nach systematischen Aspekten erfolgende Darstellung berücksichtigt historische Entwicklungen und, differenziert nach Deutsch als Fremd- bzw. Deutsch als Zweitsprache, spezifische Lehr- und Lernprozesse sowie kontrastive Gesichtspunkte. Im Anschluss an jeden Artikel wird die relevante Literatur in Auswahl aufgeführt. An der Erarbeitung der Gliederung haben neben den Herausgebern weitere Kolleginnen und Kollegen beratend mitgewirkt. Der Band schließt ab mit einem Namens- und Begriffsregister sowie einer Auflistung der Autorinnen und Autoren. Im Hinblick auf die angestrebte Vollständigkeit in den einzelnen Abschnitten bedarf es eines Hinweises: Kap. VI beschränkt sich auf diejenigen Sprachen, zu denen kontrastive Analysen im Hinblick auf das Deutsche vorliegen. Auf Grund des Ausfalls von Autoren kurz vor der Drucklegung konnten hier leider nicht alle Lücken geschlossen werden: so fehlen zu unserem Bedauern ein Artikel zum Sprachkontrast Portugiesisch-Deutsch sowie einer zu den afrikanischen Sprachen. Ersatzweise sei auf die Artikel 171 —176 zu Afrika und 146 (Brasilien) sowie 158 (Portugal) im Länderteil des Handbuchs verwiesen. In Kap. XXIII haben wir uns bemüht, Länderberichte aus allen Staaten aufzunehmen, in denen eine über das klassische germanistische Fachverständnis hinausgehende Entwicklung zu verzeichnen ist, wo also Fragen des Deutschen als Fremdsprache in Forschung und/oder Studium besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die einzelnen Beiträge lassen deutlich werden, wie unterschiedlich sich das Fach jeweils entwickelt und wie verschiedenartig die Bedingungen und Anforderungen vor Ort sind — teils stehen Forschungs-, teils Lehraufgaben im Vordergrund, wobei in sehr unterschiedlichem Maße sprach- oder literaturwissenschaftliche, sprachdidaktische, unterrichtspraktische oder landeskundliche Fragestellungen dominieren. Die Herausgeber haben hier bewusst nicht eingegriffen, denn es schien uns wichtig, die Heterogenität des Fachverständnisses wie der Fachentwicklung nicht durch eine zu stark vereinheitlichende Darstellung zu kaschieren. Für einige wenige ursprünglich vorgesehene Länder fehlen in diesem Kapitel die Beiträge, weil es nicht gelungen ist, rechtzeitig zur Drucklegung entsprechende Beiträge zu erhalten. Wegen des beträchtlichen Umfangs erscheint das Handbuch in zwei Bänden.
4. Geschichte der Ausarbeitung des Handbuchs Auf Einladung der HSK-Reihenherausgeber, Hugo Steger und Herbert Ernst Wiegand übernahm Gerhard Heibig (Leipzig) 1991 die Aufgabe, ein Handbuch für das Fach Deutsch als Fremdsprache herauszugeben. Auf seinen Vorschlag wurde die Herausge-
χ
Vorwort
bergruppe um Lutz Götze (Saarbrücken), Gert Henrici (Bielefeld) und Hans-Jürgen Krumm (Wien) erweitert. Die vier Herausgeber haben seitdem partnerschaftlich zusammengearbeitet und sich die Verantwortlichkeit für einzelne Themenbereiche geteilt. Nach der Emeritierung von Gerhard Heibig übernahm Hans-Jürgen Krumm die geschäftsführende Herausgeberschaft und Koordination des Projekts. Die Herausgeber haben für den nunmehr vorliegenden Band ingesamt ca. 250 Autoren angeschrieben und schließlich 171 Autoren dafür gewinnen können, eine Gesamtdarstellung des Faches sowohl in seinen institutionellen als auch fachlichen Bezügen zu geben. Dabei müssen der unterschiedliche Entwicklungsstand des Faches wie auch die unterschiedlichen Arbeitsbedingungen der Fachkollegen in Rechnung gestellt werden, was dazu führte, dass sich die Ausarbeitung des Handbuchs von der Einladung der ersten Autoren bis zur Herstellung über den langen Zeitraum 1996 bis 1999 hingezogen hat: Bei nichtdeutschsprachigen Autoren stellte sich immer wieder die Frage nach einer sprachlichen Überarbeitung, die wir in vorsichtiger Form vorgenommen haben, ohne stilistisch allzu sehr anzugleichen. Gelegentlich war zu entscheiden, ob auf einen Beitrag verzichtet werden sollte, weil er den fachlichen Ansprüchen der Herausgeber nicht genügte, vom Thema her aber eigentlich nicht fehlen durfte; die Zahl der für einzelne Themen verfügbaren Autoren erwies sich zudem als begrenzt. In einigen Fällen mussten neue Autoren gesucht werden, was nicht immer leicht war und den Terminplan für das Handbuch stark strapaziert hat; in fünf Fällen musste darauf verzichtet werden, vorgesehene Artikel zu realisierren. Terminologisch wie auch von der Fachkonzeption her wurden den Autoren dagegen keine Vorgaben gemacht und keine Angleichung vorgenommen, stehen terminologische Differenzen (ζ. B. Sprachdidaktik — Glottodidaktik — Angewandte Linguistik) doch auch für unterschiedliche Fachtraditionen und -konzeptionen. Für die sachliche Richtigkeit und die Qualität der einzelnen Beiträge liegt die Verantwortung bei den Autoren, doch die Herausgeber sind für die nicht immer gelungene Vereinheitlichung und für die systembedingten Mängel verantwortlich. Wenn in diesem Handbuch von Wissenschaftlern, Lehrern, Lernern usf. die Rede ist, sind immer auch die Wissenschaftlerinnen, Lehrerinnen, Lernerinnen etc. gemeint. Die Entscheidung für diese Sprachverwendung wurde ausschließlich aus Platzgründen getroffen. Die Beiträge wurden in dieser Hinsicht vereinheitlicht.
5. Danksagungen Das vorliegende Handbuch wurde an den vier Arbeitsorten der Herausgeber betreut und redigiert; ein großer Teil der Arbeit war von den Mitarbeitern der Herausgeber zu tragen. Ihnen gebührt ein besonderer Dank: bei Lutz Götze in Saarbrücken: Frank Thomas Grub, bei Gert Henrici in Bielefeld: Karin Aguado, Berit Heidecker, Annette Luksch, Claudia Riemer (jetzt Hamburg), bei Hans-Jürgen Krumm in Wien: Andrea Koban. In Wien wurde auch eine abschließende Redaktion und Vereinheitlichung der Beiträge besorgt, wofür alle Herausgeber Andrea Koban besonderen Dank schulden. Dank gilt auch Hanna Bancher und Maria Chalikia, die die Register besorgten. Schließlich haben die Herausgeber den Reihenherausgebern Hugo Steger und Herbert Ernst Wiegend zu danken, die die Entstehung des Bandes konstruktiv-kritisch begleitet haben. Ganz besonderer Dank gilt den Mitarbeiterinnen des Verlages, allen
Vorwort
XI
voran Brigitte Schöning und Anke Beck, nicht zuletzt aber auch Monika Wendland und Heike Plank, für die sorgfältige Betreuung des Projekts. Die Herausgeber hoffen, dass das Handbuch Deutsch als Fremdsprache zur Konsolidierung und zur Integration des Faches Deutsch als Fremdsprache beiträgt sowie seine Entwicklung durch konzeptionelle und Forschungsimpluse voranbringt. Bielefeld, Leipzig, Saarbrücken und Wien im Sommer 2000
Die Herausgeber
Inhalt 1. Halbband Vorwort
I.
V
Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen 1. 2. 3. 4.
II. 5. 6. 7. 8.
9.
10.
11.
III. 12. 13. 14. 15.
Die Struktur des Faches (Heibig, Götze, Henrici, Krumm) Linguistischer Ansatz (Götze, Heibig) Didaktisch-methodischer Ansatz: Die lehr- und lernwissenschaftliche Perspektive (Neuner) Landeskundlicher Ansatz (Simon-Pelanda)
1 12 31 41
Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte Entwicklungen des Unterrichts in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache in Deutschland (Reich) Entwicklungen des Deutschunterrichts in nicht-deutschsprachigen Ländern (Ammon) Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in Deutschland (Blei, Götze) Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache und des Deutsch als Fremd- und Zweitsprache-Unterrichts in Österreich (Muhr) Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache und des Deutsch als Fremd- und Zweitsprache-Unterrichts in der Schweiz (Langner) Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in nichtdeutschsprachigen Ländern I: Europäische Perspektive (Altmayer) Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in nichtdeutschsprachigen Ländern II: Außereuropäische Perspektive (D. Rail)
56 68 83
97
108
124
140
Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem Das deutsche Lautsystem (Kelz) Die Standardaussprache des Deutschen (Stock) Arten und Typen von Grammatiken (Heibig) Linguistische und didaktische Grammatik (Götze)
152 162 175 187
Inhalt
XIV 16.
17. 18.
19.
IV. 20, 21. 22.
V. 23. 24, 25, 26,
VI. 27, 28,
29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43
Kontrastivität Wörterbücher Kontrastivität Kontrastivität
in der Grammatik (Brdar-Szabó) (Barz) in der Lexik (Grimm) in der Phraseologie (Korhonen, Wotjak)
195 204 214 224
Linguistische Gegenstände II: Der Sprachgebrauch Sprachsystem und Sprechhandlungen (Koch) Sprechhandlungen und unterrichtsspezifische Sprachtätigkeiten (Portmann) Übersetzen und Deutschunterricht (House)
236 248 258
Linguistische Gegenstände III: Texte aus linguistischer Sicht Text, Texttypen, Textsorten (Thurmair) Textsorten der gesprochenen Sprache (Hess-Lüttich) Textsorten der geschriebenen Sprache (Heinemann) Linguistische Analyseverfahren von Texten (Willkop)
269 280 300 314
Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen Kontrastive Analysen Deutsch-Englisch: eine Übersicht (König). . . Kontrastive Analysen Deutsch-Niederländisch: eine Übersicht (Wilmots) Kontrastive Analysen Deutsch-Schwedisch: eine Übersicht (Nikula) Kontrastive Analysen Deutsch-Dänisch: eine Übersicht (Zint-Dyhr) Kontrastive Analysen Deutsch-Norwegisch: eine Übersicht (Askedal) Kontrastive Analysen Deutsch-Französisch: eine Übersicht (Greciano-Grabner) Kontrastive Analysen Deutsch-Italienisch: eine Übersicht (Auer) . . Kontrastive Analysen Deutsch-Spanisch: eine Übersicht (Zurdo) . . Kontrastive Analysen Deutsch-Rumänisch: eine Übersicht (Stänescu) Kontrastive Analysen Deutsch-Russisch: eine Übersicht (Gladrow) Kontrastive Analysen Deutsch-Polnisch: eine Übersicht (K^tny). . . Kontrastive Analysen Deutsch-Tschechisch/Slowakisch: eine Übersicht (Simecková) Kontrastive Analysen Deutsch-Serbisch/Kroatisch: eine Übersicht (Engel, Ziletic) Kontrastive Analysen Deutsch-Bulgarisch: eine Übersicht (Dimova) Kontrastive Analysen Deutsch-Griechisch: eine Übersicht (Winters-Ohle) Kontrastive Analysen Deutsch-Ungarisch: eine Übersicht (Brdar-Szabó) Kontrastive Analysen Deutsch-Finnisch: eine Übersicht (Hyvärinen)
324 331 337 343 351 358 367 375 377 385 392 394 403 410 416 422 429
Inhalt
44. 45. 46. 47. 48. 49.
VII. 50. 51. 52. 53. 54. 55. 56. 57. 58. 59.
VIII. 60. 61. 62. 63. 64. 65.
XV
Kontrastive Analysen Deutsch-Türkisch: eine Übersicht (Ilkhan) . . Kontrastive Analysen Deutsch-Arabisch: eine Übersicht (Blohm unter Mitarbeit von Nahed El Dib) Kontrastive Analysen Deutsch-Japanisch: eine Übersicht (Kaneko) Kontrastive Analysen Deutsch-Chinesisch: eine Übersicht (Qian Wencai) Kontrastive Analysen Deutsch-Koreanisch: eine Übersicht (Lie) . . . Kontrastive Analysen Deutsch-Madegassisch: eine Übersicht (Bergenholtz, Rajaonarivo)
Das Deutsche in Österreich (Wiesinger) Das Deutsche in der Schweiz (Sieber) Das Deutsche in Deutschland und seine regionalen Varianten (Protze) Soziale Varianten und Normen (Dittmar, Schmidt-Regener) Fachsprachen (Hoffmann) Geistes- und sozialwissenschaftliche Fachtexte (Wiese) Naturwissenschaftliche und technische Fachtexte (Fluck) Texte in Medizin-orientierter Kommunikation (Mentrup) Wirtschaftstexte (Reuter) Juristische Fachtexte (Kühn)
Lehren und Lernen (Aguado) Typen und Konzepte des Spracherwerbs (Klein) Deutsch als Fremdsprache — Deutsch als Zweitsprache (Baur). . . . Bilingualismus-Mehrsprachigkeit (Apeltauer) Theorie und Empirie (Redder) Deutsch als Tertiärsprache (Hufeisen)
66.
Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung I: der behavioristische Ansatz (Kuhberg) Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung II: Der kognitivistische und nativistische Ansatz (Riemer) Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung III: der sequenzieller Ansatz (Bahns, Vogel) Zweitsprachenerwerb als Lerneraktivität I: Lernersprache — Lernprozesse — Lernprobleme (Apeltauer)
69.
458 463 470
482 491 505 520 533 544 549 565 573 582
Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte
Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II: Erklärungsansätze für den Zweitsprachenerwerb und das Fremdsprachenlernen
68.
444 451
Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
IX.
67.
436
595 604 617 628 638 648
654 663 670 677
XVI
70. 71. 72. 73. 74. 75.
76. 77. 78. 79.
Inhalt
Zweitsprachenerwerb als Lerneraktivität II: Lernstrategien — Kommunikationsstrategien - Lerntechniken (Westhoff) Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess I: Neuropsychologische Ansätze (List) Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess II: Biologische und neurophysiologische Grundlagen (Schönpflug) Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess III: kognitive Faktoren (Riemer) Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess IV: Affektive Variablen (Rost-Roth) Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess V: Sozioökonomische, politische, soziokulturelle und andere Umgebungsvariablen (Rohman, Su-Yon Yu) Zweitsprachenerwerb als Interaktion I: Interaktiv-kommunikative Variablen (Henrici) Zweitsprachenerwerb als Interaktion II: Interaktion und Kognition (Redder) Pädagogisch-didaktische Lernkategorien I: Typen von Lernern und Lerntypen (Aguado) Pädagogisch-didaktische Lernkategorien II: Organisationsformen von Lernen (Kerschhofer-Puhalo)
684 693 701 707 714
722 732 742 751 761
2. Halbband X. 80. 81.
Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Theorie und Empirie Der Faktor „Lehren" im Bedingungsgefüge des Deutsch als Fremdsprache-Unterrichts (Krumm) Der Faktor „Lehren" im Bedingungsgefüge des Deutsch als Zweitsprachen-Unterrichts (Schmitt)
XI.
Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand II: Die Planung von Deutsch als Fremdsprache-Unterricht
82.
Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Fremdsprache (Neuner) Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Zweitsprache (Barkowski) Prüfungen, Zertifikate, Abschlüsse als Planungskategorien für den Unterricht (Schifko) Verfahren der Unterrichtsplanung (Piepho)
83. 84. 85.
XII. 86. 87.
777 785
797 810 827 835
Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III: Methoden des Deutsch als Fremdsprache-Unterrichts Methodische Konzepte für Deutsch als Fremdsprache (Henrici) . . . Methodische Konzepte für Deutsch als Zweitsprache (Luchtenberg)
841 854
Inhalt
88. 89. 90. 91. 92. 93. 94. 95. 96. 97. 98. 99. 100.
XVII
Zur Rolle der Fertigkeiten (Faistauer) Vermittlung der Phonetik (Hirschfeld) Grammatikvermittlung (M. Rail) Wortschatzvermittlung (Köster) Hörverstehen (Solmecke) Leseverstehen (Lutjeharms) Mündliche Sprachproduktion (Schreiter) Schriftliche Sprachproduktion (Bohn) Landeskundliches Lernen und Lehren (Simon-Pelanda) Textarbeit (Mummert, Krumm) Übersetzen (Königs) Berufsbezogener Deutschunterricht - Deutsch als Fremd- und Zweitsprache für den Beruf (Funk) Interkulturelles Lernen (Pommerin-Götze)
XIII.
Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand VI: Leistungskontrolle und Leistungsmessung
101.
Formen und Funktionen von Fehleranalyse,-korrektur und -therapie (Kleppin) Formen und Funktionen von Leistungsmessung und -kontrolle (Perlmann-Balme) Sprachstandsdiagnosen (Gogolin)
102. 103.
XIV.
Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V: Materialien und Medien
104.
Die Funktion der Medien in den Methoden des Deutsch als Fremdsprache-Unterrichts (Schwerdtfeger) Lehrwerkproduktion, Lehrwerkanalyse, Lehrwerkkritik (Krumm, Ohms-Duszenko) Regionale Lehrwerke und Lehrmethoden (Breitung, Lattaro) Deutschunterricht in den Massenmedien (Eichheim) Wörterbücher (Neubauer) Grammatiken (Götze) Textsammlungen (Tuk) Hörmaterialien (Krumm) Audiovisuelle Medien (Ehnert) Elektronische Medien (Boeckmann)
105. 106. 107. 108. 109. 110. 111. 112. 113.
XV.
Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand VI: Lehrerinnen und Lehrer
114. 115.
DaF-Lehren als Beruf (Witte) Ausbildung und Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache: Inhalte und Formen (Krumm, Legutke) Unterrichtsbeobachtung und Unterrichtsanalyse (Krumm)
116.
864 872 880 887 893 901 908 921 931 942 955 962 973
986 994 1007
1018 1029 1041 1053 1061 1070 1078 1086 1093 1100
1112
1123 1139
XVIII
Inhalt
XVI.
Lehren und Lernen von Deutsch als Fremdsprache in der Auslandsgermanistik
117.
Lehren und Lernen von Deutsch als Fremdsprache in der europäischen Auslandsgermanistik (Rosier)
XVII.
Landeskundliche Gegenstände I: Standpunkte
118. 119. 120. 121. 122. 123. 124. 125. 126.
Geschichte und Konzepte der Landeskunde (Veeck, Linsmayer) . . . Fremdbilder und Fremdwahrnehmung (Althaus) Vergleichende Kultur-und Mentalitätsforschung (Wolf) Multikulturelle Gesellschaften als Gegenstand der Landeskunde (Pommerin-Götze) Informationsorientierte Landeskunde (Hackl) Sprachbezogene Landeskunde (Bettermann) Interkulturelle Landeskunde (Müller-Jacquier) Landeskunde aus österreichischer Sicht (Fischer) Landeskunde aus schweizerischer Sicht (Frischherz, Langner) . . . .
XVIII.
Landeskundliche Gegenstände II: Texte
127.
Texte als Träger von landes- und kulturwissenschaftlichen Informationen (Bettermann) Auswahlkriterien für Fach- und Sachtexte im Deutschunterricht (Kühn)
128.
XIX.
Landeskundliche Gegenstände III: Spezifische Inhalte
129. 130. 131. 132. 133.
Geschichte und Landeskunde (Koreik) Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeographie und Landeskunde (Buchholt) Politik und Landeskunde (Steinig) Alltagskultur und Landeskunde (Baumgratz) Geistes- und Sozialwissenschaften und Landeskunde (Koreik) . . . .
XX.
Landeskunde in der Auslandsgermanistik
134. 135.
Landeskunde in der europäischen Auslandsgermanistik ( B y r a m ) . . . Landeskunde in der außereuropäischen Auslandsgermanistik (Kussler)
XXI.
Literatur als Gegenstand des fremdsprachlichen Deutschunterrichts
136. 137. 138.
Literarische Texte im Deutschunterricht (Ehlers) Fragen des literarischen Kanons (Ackermann) Migrantenliteratur: Entwicklungen und Tendenzen (Rösch)
1151
1160 1168 1179 1194 1204 1215 1230 1234 1241
1253 1262
1273 1278 1285 1294 1308
1313 1323
1334 1346 1353
Inhalt
XIX
XXII.
Sprachenpolitik und Institutionen
139. 140. 141.
Sprachenpolitik und Fremdsprachenunterricht (Bosch) Die Verbreitung des Deutschen in der Welt (Ammon) Institutionen für Deutsch als Fremd- und als Zweitsprache in Deutschland (Ortmann) Institutionen für Deutsch als Fremd- und als Zweitsprache in Österreich (Koliander-Bayer)
142.
XXIII.
Deutschunterricht und Germanistikstudium im fremdsprachigen Ausland
143.
Deutschunterricht und Germanistikstudium (James, Tschirner) Deutschunterricht und Germanistikstudium (Hufeisen, Prokop) Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium (Rosier) Deutschunterricht und Germanistikstudium (Fischer, Schewe) Deutschunterricht und Germanistikstudium (Lundin-Keller) Deutschunterricht und Germanistikstudium (Liefländer-Koistinen, Koskensalo) Deutschunterricht und Germanistikstudium (Tuk) Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium (Thimme) Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium (Domaschnew) Deutschunterricht und Germanistikstudium (Kiliari) Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium (Rekha Kamath Rajan) Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium
144. 145. 146. 147. 148. 149. 150. 151. 152. 153. 154. 155. 156. 157. 158. 159. 160. 161. 162. 163. 164. 165. 166. 167.
1361 1368 1381 1411
in den USA 1424 in Kanada in in in in in
Mexiko (Fandrych) Brasilien (Sartingen) Argentinien (Bein). . Chile (Cziesla) . . . . Grossbritannien
1431 1438 1445 1450 1457 1464
in der Republik Irland 1471 in Norwegen 1480 in Finnland 1487 in den Niederlanden in Belgien (Duhamel) . in Frankreich in in in in in in in
Italien (Ponti) . . . . Spanien (Keim) . . . Portugal (Dreischer) Polen (Grucza). . . . Ungarn (Paul) . . . . Bulgarien (Dimova) Russland
1491 1498 1502 1509 1516 1523 1528 1544 1551 1556
in Griechenland in der Türkei (Tapan) . in Indien in Korea (Grünert) . . . in China (Hess)
1561 1565 1570 1575 1579
XX
168. 169. 170. 171. 172. 173. 174. 175. 176. 177. 178. 179. 180. 181. 182.
Inhalt
Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium (Setiawati Darmojuwono) Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium (Truckenbrodt, Kretzenbacher) Deutschunterricht und Germanistikstudium Jugoslawien (Djukanovic) Deutschunterricht und Germanistikstudium (Falster Jakobsen) Deutschunterricht und Germanistikstudium (Stänescu) Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium
in Japan (Sugitani) . . . in Indonesien in in in in in in in in
Ägypten (Arras) . . . Südafrika (Kussler) Kamerun (Ngatcha) Nigeria ( W i t t e ) . . . . Ghana (Bemile) . . . Mali (Traoré) Marokko (Arras) . . Australien
1586 1594 1602 1609 1619 1624 1631 1635 1642 1651
in der Bundesrepublik 1659 in Dänemark 1666 in Rumänien in Kroatien (Zepic). . . in Estland (Mohr) . . .
1671 1677 1683
Namenverzeichnis
1691
Stichwortverzeichnis
1712
I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen 1. Die Struktur des Faches 1. 2.
4. 5. 6.
Einleitende Bemerkungen Entwicklung des Faches im deutschen Sprachraum Ausprägungen des Faches seit den 90er Jahren Tendenzen und Perspektiven Schluss Literatur in Auswahl
1.
Einleitende Bemerkungen
3.
Der Unterricht des Deutschen als Fremdsprache kann auf eine lange Tradition zurückblicken. Bereits aus dem 15. Jh. datiert das erste Lehrwerk für Deutsch als Fremdsprache, d. h., die Fachtradition hat eine ältere Praxis als die dokumentierte Praxis der Germanistik (vgl. Karnein 1976). Als wissenschaftliches Fach dagegen ist Deutsch als Fremdsprache in unterschiedlichen Ausprägungen, unter verschiedenen Bezeichnungen (Deutsch als Fremdsprache, Deutsch als Zweitsprache, Interkulturelle Germanistik, Ausländer- oder Migrationspädagogik, Interkulturelle Kommunikation) und in verschiedenen fachlichen Kontexten (in der germanistischen und allgemeinen Sprachwissenschaft, innerhalb der Literaturwissenschaft, im Rahmen von Sprachlehrforschung, Fremdsprachendidaktik und in der Erziehungswissenschaft) erst Ende der 70er und zu Beginn der 80er Jahre im deutschen Sprachraum etabliert worden, oft abhängig von den Zufallen gerade verfügbarer Professuren, örtlicher Interessen einzelner Fakultäten, im Besonderen aber in Abhängigkeit von praktischen Erfordernissen, ζ. B. der Ausbildung von Lehrkräften für Migrantenkinder oder der Vorbereitung von Lehrern und Lektoren für die Sprachvermittlung in nichtdeutschsprachigen Ländern (vgl. hierzu auch Artikel 5-11). Für die nichtdeutschsprachigen Länder ist eine Datierung schwieriger, da Übergänge von einer an die Binnengermanistik angelehnten zu einer eigenständigen, das Deutsche als eine
fremde Sprache und Kultur thematisierenden Auslandsgermanistik fließend sind (vgl. König 1995; Grucza 1998 sowie für einzelne Länder die Artikel 143ff.). Die Entwicklung ist auch im deutschen Sprachraum bis heute nicht abgeschlossen. Erste Bestandsaufnahmen und Bilanzierungen (vgl. insbesondere die Dokumentation der Konstituierungsdebatte in Henrici/Koreik 1994) haben vielmehr die Frage nach der Eigenständigkeit des Faches Deutsch als Fremdsprache gegenüber der Germanistik erneut zum Thema gemacht, wobei die Positionen von der Auffassung, Deutsch als Fremdsprache sei Bestandteil der (vor allem linguistischen) Germanistik (so etwa Glück 1997), bis zu Vorstellungen von einer völlig eigenständigen Disziplin reichen (vgl. die Beiträge in der Zeitschrift Deutsch als Fremdsprache 1996-1998 sowie in Heibig 1997). 2.
Entwicklung des Faches im deutschen Sprachraum
Bis Anfang der 70er Jahre gab es in Deutschland keine ernsthafte Debatte über ein akademisches Fach Deutsch als Fremdsprache. Im Bildungsbericht des Deutschen Bildungsrates von 1970 sucht man es vergeblich. Bis dahin existierte Deutsch als Fremdsprache in Form von Sprachkursen in unterschiedlichen institutionellen Kontexten, sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in der DDR. In der Mehrzahl wurde der Sprachunterricht für Ausländer von philologisch ausgebildeten Sprachlehrern (vor allem Germanisten, aber auch Absolventen anderer Philologien) erteilt, innerhalb von Sommer-Ferienkursen, als studienvorbereitende und -begleitende Sprachkurse, als berufsqualifizierende und Sprachkurse für Touristenzwecke (vgl. Art. 5). Tragende Institutionen für dieses Angebot von Sprachkursen waren ζ. B. die Akademischen Auslandsämter der Universitäten,
2
I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen
der Deutsche Akademische Austauschdienst, das Goethe- und das Herder-Institut sowie private Sprachschulen. Die Situation im deutschen Sprachraum glich damit der in der Auslandsgermanistik, wobei der Sprachunterricht dort als Teil des Germanistikstudiums oft institutionell, curricular und personell besser abgesichert war (vgl. König 1995). Eine gezielte berufsqualifizierende akademische und praxisbezogene Ausbildung analog der Lehrerausbildung mit dem Referendariat im staatlichen Schulwesen entwickelte sich sehr langsam. Verdienste haben sich in dieser Hinsicht das Goethe- und das Herder-Institut erworben (vgl. Art. 7). Das Goethe-Institut richtete 1962 in seiner Zentralverwaltung in München eine „Arbeitsstelle für wissenschaftliche Didaktik" ein, um dem dringenden Bedarf an Forschung und Lehrmaterialentwicklung abzuhelfen, 1971 folgte die Einrichtung einer „Zentralen Ausbildungsunterrichtsstätte", die erste systematische Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten für Deutsch als Fremdsprache, beschränkt auf angehende Mitarbeiter des Goethe-Instituts, anbot und damit den Grundstein für eine Professionalisierung im Unterrichtsbereich legte (vgl. Goethe-Institut 1982). Die Entwicklung gegen Ende der sechziger Jahre wurde durch zwei Impulse beeinflusst: die Bundesrepublik und die DDR begannen, sich als Studienstandorte für ausländische Studierende zu profilieren — 1956 wurde das Institut für Ausländerstudium an der Leipziger Universität (seit 1961 Herder-Institut) gegründet, 1970 ein spezifischer germanistischer Studiengang für ausländische Studierende an der Universität Heidelberg eingerichtet (vgl. Eggers/Palzer 1975; Wierlacher 1975); der zweite Impuls wurde durch die zunehmende Zahl ausländischer Migranten und deren Kinder gegeben, so dass sich die Notwendigkeit einer entsprechenden Ausbildung für Lehrkräfte im Schulwesen wie auch in der Erwachsenenbildung ergab: 1974 wurde der „Sprachverband - Deutsch für ausländische Arbeitnehmer e. V." gegründet, um Initiativen in diesem Bereich zu bündeln (vgl. Göbel 1975). Als Motor der Entwicklung im Wissenschaftsbereich etablierte sich 1971 der „Arbeitskreis Deutsch als Fremdsprache" (AKDaF) als Interessenvertretung der Lehrgebiete, die an den Hochschulen der Bundesrepublik Kurse für ausländische Studierende anboten; seit 1973 arbeitet der Arbeitskreis (jetzt: „Fachverband Deutsch als Fremdsprache" FaDaF) eng mit dem Deut-
schen Akademischen Austauschdienst zusammen. Entscheidend stabilisiert wurde das sich entwickelnde Fachgebiet durch die Einrichtung fachspezifischer Publikationsorgane: Zielsprache Deutsch (1970 als Neugründung der 1932-1968 existierenden Zeitschrift Deutschunterricht für Ausländer), Informationen Deutsch als Fremdsprache (Info DaF) seit 1974 in zunächst lockerer Reihenfolge, Materialien DaF zuerst 1975, Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache seit 1975. Bereits 1964 hatte das Herder-Institut in Leipzig die Zeitschrift Deutsch als Fremdsprache ins Leben gerufen. Als Anfang einer Fachdebatte kann die Diskussion um den Heidelberger Studiengang gesehen werden, die Fragen nach einem separierten oder gemeinsamen Studium deutschsprachiger und nichtdeutschsprachiger Studierender aufwarf (vgl. Wierlacher 1975; Dietrich 1975; Delmas/Stenzig 1977). Entscheidenden Anteil an der Etablierung eines Netzwerkes von Fachleuten und an der Entwicklung einer systematischen Forschungsdiskussion hatten auch die Fortbildungskurse, die seit 1974 gemeinsam von Hochschulen, dem Goethe-Institut und dem DAAD angeboten wurden und einen Dialog zwischen In- und Ausland etablierten. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft schuf 1983 mit dem Schwerpunktprogramm „Sprachlehrforschung" eine erste Möglichkeit systematisch geförderter Forschung für Deutsch als Fremdsprache: von den 20 geförderten Projekten gehörten sechs in den Bereich des Deutschen als Fremd-/Zweitsprache (vgl. Koordinierungsgremium 1983). Über den „Arbeitskreis der Sprachenzentren" (AKS), gegründet 1970/71 als Forum für die Erarbeitung wissenschaftlicher Grundlagen der Fremdsprachenvermittlung, sowie die „Gesellschaft für Angewandte Linguistik" (GAL) wurden Fragen des Deutschen als Fremdsprache Bestandteil der deutschsprachigen und internationalen Fachdiskussion zum Lehren und Lernen fremder Sprachen. Für den spezifischen Bereich des Deutschen als Zweitsprache (vgl. auch Art. 5) etablierte der Sprachverband 1975/76 die Zeitschrift Deutsch lernen; weitere Zeitschriften wie Ausländerkinder. Forum für Schule & Sozialpädagogik (1980, seit 1988 unter dem Titel Interkulturell) und Ausländerkinder in Schule und Kindergarten (seit 1980) widmeten sich speziell der Situation der Migrantenkinder (vgl. Art. 5). Impulse für die Erforschung des Erwerbs der Zweitsprache Deutsch und die Entwicklung von Angeboten der Lehreraus-
1. Die Struktur des Faches
und Lehrerfortbildung gingen von der zu Beginn der 70er Jahre an der Pädagogischen Hochschule Rheinland, Abteilung Neuss, entstandenen „Forschungsstelle ALFA" aus und wurden durch ein Programm zur Förderung der „Gastarbeiterforschung" der Stiftung Volkswagen werk 1974—1981 weiter ausgebaut (vgl. Korte/Schmidt 1983). Professuren und Ausbildungsmöglichkeiten (Zusatzstudiengänge für Lehrer von Kindern nichtdeutscher Muttersprache, vgl. Reich 1988) wurden insbesondere in den Erziehungswissenschaften eingerichtet. Mit der Schaffung von eigenständigen Magister- und Promotionsstudiengängen für Deutsch als Fremdund Zweitsprache, in Sprachenzentren (so in Bochum und Hamburg), in eigenen Instituten für Deutsch als Fremdsprache (München) oder innerhalb der Germanistik (etwa in Augsburg) seit Mitte der siebziger Jahre (zu den ersten Lehrstühlen gehörten die in Leipzig 1969 mit Gerhard Heibig, München 1978 mit Harald Weinrich und Hamburg 1975 mit Hans-Jürgen Krumm; vgl. Henrici/Koreik 1994) wurde eine erste Konsolidierung des Faches Deutsch als Fremdsprache an den Hochschulen in der Bundesrepublik erreicht. In der DDR war es trotz früher Initiativen wie der Einrichtung des ersten Lehrstuhls für Deutsch als Fremdsprache 1969 in Leipzig und seiner Besetzung mit Gerhard Heibig sowie der Gründung der Zeitschrift Deutsch als Fremdsprache im Jahr 1964 bis zum Schluss nicht gelungen, ein eigenes spezifisches Ausbildungsfach für Deutsch als Fremdsprache in den Hochschulen zu verankern. Eine spezielle Weiterbildung von DaF-Lehrkräften blieb dem Herder-Institut vorbehalten, was den Bedarf jedoch keineswegs decken konnte. Rückblickend kann Blei (1991, 32) feststellen, dass „in der Endkonsequenz das verheißungsvolle ,StartkapitaF, das die D D R auf dem Gebiet des DaF in den 50er/60er Jahren einzubringen hatte, nicht ,verzinst' wurde". Seit der sogenannten „Wende" gibt es auch in Ostdeutschland eine Reihe von Vollzeit- und Ergänzungsstudiengängen: Jena, Leipzig, Berlin (Humboldt), Rostock, Chemnitz/Zwickau. In der Schweiz und in Österreich vollzog sich eine vergleichbare Entwicklung erst sehr spät. In der Schweiz war es das Institut für Deutsche Sprache an der Universität Fribourg, das im Zusammenhang mit den Sprachprojekten des Europarats in den 70er Jahren aktiv wurde. Hier gibt es auch ein Ergänzungsfach Deutsch als Fremdsprache
3 für Deutschsprachige (vgl. Art. 9). In Österreich entwickelte sich Deutsch als Fremdsprache außerhalb des Hochschulbereichs (vgl. Art. 8). Erst 1990/91 wurden in Graz ein Hochschullehrgang, 1993 in Wien und 1995 in Graz jeweils eine Professur für Deutsch als Fremdsprache besetzt. Wenn man sich die Stadien der Genese einer wissenschaftlichen Disziplin vor Augen hält, wie sie die Wissenschaftssoziologie zur Beschreibung verwendet — Initialphase, Etablierungsphase und Konsolidierungsphase (ζ. B. bei Laitko 1982, 16f.) - , so lassen sich diese Phasen unschwer auf die Entwicklung des Faches Deutsch als Fremdsprache (in der Bundesrepublik) übertragen. Die Initialphase ist gekennzeichnet durch „das Heranreifen des Widerspruchs im Disziplinsystem — unter der mehr oder minder direkten Einwirkung praktischer Erfordernisse" (ebd.), eine Beschreibung, die die Anfangsphase des Faches kennzeichnet, in der immer deutlicher Erfordernisse der Praxis einen Kontrast zu einer mit diesen Problemen nicht befassten Germanistik bildeten, gleichzeitig jedoch ein Ausbildungsbedarf offensichtlich wurde. Die Etablierungsphase „bildet den Kernprozess der Disziplingenese; mit der Ausprägung eines gegenstandsspezifischen Systems der Erkenntnisproduktion entsteht ein adäquater konzeptualer Rahmen (im Idealfall durch eine einheitliche Theorie repräsentiert [...]" (ebd.). Zu dem Idealfall einer einheitlichen Theorie hat es das Fach Deutsch als Fremdsprache bisher nicht gebracht - es ist auch sehr fragwürdig, ob eine solche Theorie dem Fach Nutzen gebracht hätte und je bringen könnte. Es entstand aber eine dem Gegenstand Unterricht Deutsch als Fremdsprache angemessene Produktion von Erkenntnissen, die auf der Grundlage von Forschung über eine Handlungsempfehlungsliteratur hinausging, wie es Krumm (1978) und Weinrich (1979) für verschiedene Teilbereiche des Faches gefordert hatten. Die Konsolidierungsphase, geprägt durch die „volle institutionelle Sicherstellung mit dem bekannten Repertoire von Institutionen" (Laitko 1982, 17), ist für das Fach Deutsch als Fremdsprache offensichtlich durch die zahlreichen Studiengänge und Professuren, durch das relativ breite Spektrum an eigenen Fachzeitschriften - zusätzlich zu den bereits erwähnten: Ausländerkinder in Schule und Kindergarten, Interkulturell (früher: Ausländerkinder — Forum für Schule und Sozialpädagogik), Deutsch lernen, Zielsprache Deutsch, Fremdsprache Deutsch
4
I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen
und Reihen wie ζ. B. Werkstattreihe DaF, Perspektiven DaF - , durch regelmäßig stattfindende Jahrestagungen, Kongresse und spezielle Fachtagungen, durch Verbände und Gesellschaften, wie auch durch eine stetig wachsende Zahl an Einführungen in das Fach (wie Ehnert 1982/89; Ickler 1984; Henrici 1986/1988; Heyd 1990; Henrici/Riemer 1994; Rosier 1994; Huneke/Steinig 1997; Storch 1999).
Deutsch als Fremd- und Zweitsprache ist die Rolle der deutschen Sprache als zweiter und fremder Sprache in einer Welt, die zunehmend durch Mehrsprachigkeit, durch Migration und Mobilität gekennzeichnet ist, so dass die Sprachvermittlung im Ausland nicht losgelöst von der Mehrsprachigkeit im Inland gesehen werden kann (vgl. Krumm 1994a). Weinrich hat 1979 die folgenden Inhaltsbereiche als Kern des Faches Deutsch als Fremdsprache beschrieben:
3.
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Ausprägungen des Faches seit den 90er Jahren
Stellt man die Frage nach der wissenschaftlichen Dignität des Faches Deutsch als Fremdsprache/Deutsch als Zweitsprache oder mit Glück (1991) die Frage, ob das Fach den Status einer Disziplin habe, und misst dies — wie er - mit den Parametern „eigene Erkenntnisinteressen", „eigene Gegenstände", „eigene Untersuchungsmethoden", muss die Antwort nicht so negativ ausfallen wie bei ihm. Es gibt durchaus eigene Erkenntnisinteressen und Gegenstände des Faches. Auch in anderen Disziplinen wie ζ. B. der germanistischen Linguistik und Literaturwissenschaft werden Untersuchungsmethoden verwendet, die nicht originär disziplinspezifische sind (vgl. dazu auch Götze/Suchsland 1996 und Henrici 1996 sowie die Beiträge in Heibig 1997). Die Differenzmerkmale ζ. B. zur Germanistik sind evident: Fremdsprachigkeit, Fremdsprachenwissenschaftlichkeit, Theorie-Praxis-Bezug, die Relation StudiumBeruf, Interdisziplinarität, Internationalität (vgl. Henrici 1989, 1995). Glück (1991) hat dem Fach dadurch Kontur geben wollen, dass er die vielfältigen Arbeitsfelder im Hinblick auf zwei Ausrichtungen bündeln wollte: eine Α-Linie, d. h. eine auf die Fragestellungen und Erfordernisse des nichtdeutsprachigen Auslands hin gerichtete Lehre und Forschung (Deutsch als Fremdsprache im engeren Sinne), und eine M-Linie, die auf die Situation der Migration bezogene Ausrichtung (Deutsch als Zweitsprache). Auch wenn diese Unterscheidung für die Wahrnehmung unterschiedlicher Sprachlern- und Sprachverwendungssituationen wichtig ist, so bildet sie dennoch kein Strukturprinzip für die wissenschaftliche Arbeit und die Ausbildungsaufgaben des Faches. Bei ausländischen Studierenden im deutschsprachigen Raum vermischen sich die beiden Stränge besonders augenfällig — aber auch generell gilt: Thema des Faches
Kontrastive Linguistik Sprachnormenforschung Sprachlehrforschung Fachsprachenforschung Gastarbeiter-Linguistik Deutsche Literatur als fremde Literatur Deutsche Landeskunde
Damit sind die Areale, in denen sich das Fach in den 70er und 80er Jahren entfaltet hat, insgesamt umrissen, wobei der sprachdidaktische Akzent über die von Weinrich skizzierte Rolle hinaus an Bedeutung gewonnen hat. Betrachtet man die Ausprägungen des Faches in den 90er Jahren, so lassen sich vier Schwerpunkte ausmachen (vgl. Henrici/Koreik 1994, 16ff.), die die von Weinrich genannten Bereiche bündeln und akzentuieren und sich in den entsprechenden Studiengängen wie vielfach auch in den Forschungsaktivitäten der jeweiligen Institute und Lehrstühle niederschlagen: 1. eine linguistische Ausrichtung 2. eine lehr-/lernwissenschaftliche (didaktisch/methodische) Ausrichtung 3. eine landeskundlich-kulturwissenschaftliche Ausrichtung und 4. eine literaturwissenschaftliche Ausrichtung. 3.1. Die linguistische
Ausrichtung
(vgl. ge-
nauer Art. 2) ist vielfältig ausgeprägt. Entsprechend den historischen Entwicklungsphasen der Sprachwissenschaft reicht sie von klassischen Orientierungen, bei denen die Grammatik und das Lexikon als Komponenten des Sprachsystems im Mittelpunkt stehen, bis hin zu eher pragmatischen und diskursorientierten Konzepten (vgl. die Artikel 1222). Sie umfasst Teildisziplinen wie die Soziound Psycholinguistik, die zu weiteren Differenzierungen bzw. eigenständigen Disziplinen wie der Zweitsprachenerwerbsforschung, Applied Linguistics, dem L2-Classroom Research geführt haben, welche ζ. T. den An-
1. Die Struktur des Faches
spruch erheben, in besonderem Maße grundlegend für die Erforschung der Fremdsprachenvermittlung zu sein. Diese Ausrichtung geht davon aus, dass die Linguistik mit ihren Subdisziplinen ein zentrales Kenntnissystem für Deutsch als Fremdsprache darstellt und dass ohne Beschreibung und Kenntnis der entsprechenden sprachlichen Sachverhalte kein erfolgreicher Sprachunterricht an NichtMuttersprachler möglich ist. Die linguistische Untersuchung des Deutschen als Fremdsprache hat zahlreiche Einsichten zu unserer heutigen Kenntnis des deutschen Sprachsystems beigesteuert (vgl. Glück 1991, 23-33). Insbesondere kontrastive Gesichtspunkte spielen bei einer linguistischen Analyse des Deutschen als Fremdsprache eine wesentliche Rolle (vgl. die Artikel 27-49). Dennoch kann die linguistische Ausrichtung des Faches nicht auf den kontrastiven Aspekt reduziert werden, einmal, weil erfolgversprechende kontrastive Arbeiten immer die solide Einzelbeschreibung der zu vergleichenden Sprachen voraussetzen, zum andern, weil nicht alle Lernprobleme und Fehler aus dem Kontrast zur Muttersprache erklärt werden können (vgl. Art. 66-69). 3.2. Die lehr-Hernwissenschaftliche bzw. didaktisch-methodische Ausrichtung (vgl. genauer Art. 3), in deren Zentrum die Theorie und Praxis des Lehrens und Lernens von Deutsch als Fremd- und Zweitsprache steht, hat sich in den letzten Jahren als Fremdsprachendidaktik bzw. als Sprachlehr-/-lernwissenschaft fest etabliert: dies u. a., indem sie sich zunehmend von einer „Vorschlagsdidaktik" hin zu einer wissenschaftlichen Disziplin entwickelt hat, die das Lehren und Lernen theoretisch und empirisch erforscht, praktisch erprobt und evaluiert. Ergebnisse aus den relevanten Referenzwissenschaften werden nicht auf die einzelnen Bereiche des Fremdsprachenunterrichts appliziert, sondern hinsichtlich der fremdsprachenspezifischen Erkenntnisinteressen funktionalisiert (vgl. Bausch/Krumm 1995). Charakteristisch für die lehr-/lernwissenschaftliche Orientierung der 80er und 90er Jahre ist die Verlagerung des Interesses vom Lehren (Suche nach der „besten" Methode und dem „guten Fremdsprachenlehrer") auf das Lernen. Damit haben sich zwei Ausprägungen lehr-/ -lernwissenschaftlicher Fragestellungen entwickelt: Die Zweitsprachenerwerbsforschung sieht den unterrichtlichen Spracherwerb vorrangig als Spezialfall für menschlichen
5 Spracherwerb überhaupt, der am besten in „natürlichen" Erwerbssituationen zu untersuchen sei, um die so erarbeiteten Gesetzmäßigkeiten auf den unterrichtlichen Spracherwerb zu übertragen. Die Sprachlehr- und Sprachlernforschung dagegen geht von der Eigengesetzlichkeit unterrichtlicher Sprachlernsituationen aus, die in einem interdisziplinären Zugriff unter Berücksichtigung der Spezifika des unterrichtlich gesteuerten Lernens zu untersuchen seien. Inzwischen ist jedoch deutlich geworden, dass beides keine einander ausschließenden, sondern ergänzenden Ansätze darstellen (vgl. Wilms 1984; Götze 1995). Mit dem lehr-/-lernwissenschaftlichen Ansatz sind in den 90er Jahren die besonderen Vermittlungskontexte des Deutschen als Fremdsprache, ζ. B. Deutsch als zweite oder weitere Fremdsprache etwa nach Englisch (vgl. Art. 65) zum Forschungsgegenstand geworden. 3.3. Die in nahezu allen Studiengängen variantenreich repräsentierte landeskundlichkulturwissenschaftliche Ausrichtung (vgl. genauer Art. 4) ist hinsichtlich ihrer wissenschaftsmethodologischen Fundierung und ihres wissenschaftssystematischen Ortes weiterhin sehr umstritten, wie es auch die Kontroversen um Begriffe wie ,Deutschlandstudien' (vgl. Koreik 1995), Landeskunde und interkulturelle Landeskunde (vgl. Reinbothe 1997) zeigen. Auch die auf Unterricht ausgerichteten und teilweise in Lehrmaterialien manifestierten Konzepte reichen von der klassischen Institutionenkunde über kontextorientierte Ansätze bis zu einer kontrastiv-interkulturellen Landeskunde (vgl. Art. 96). Mit Beginn der 90er Jahre hat, ausgelöst durch die ABCD-Thesen zur Landeskunde (1990), ein verstärktes Interesse eingesetzt, in Forschung und Lehre den gesamten deutschen Sprachraum, insbesondere Österreich und die deutschsprachige Schweiz, einzubeziehen. Mit der zunehmenden Bedeutung von Wirtschaftsdeutsch stellen sich der Landeskunde neue, über den klassischen Bereich hinausgehende Aufgaben (vgl. Art. 130). 3.4. Das Spektrum der literaturwissenschaftlichen Ausrichtung ist breit gefachert. Es umfasst zum einen programmatische Entwürfe fremdkulturell-hermeneutischer Ausprägung, die sich unter der Bezeichnung Interkulturelle Germanistik etabliert haben (vgl. u. a. Wierlacher 1980; 1987; Krusche 1985; Krusche/ Wierlacher 1990; Thum/Fink 1993). Ziel ei-
6
I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen
ner solchen Interkulturellen Germanistik ist die adressatenspezifische Auseinandersetzung mit Literatur aus der Fremd- und Eigenperspektive. Das Zusammenbringen beider Rezeptionsweisen soll zu Kulturmündigkeit führen und gegenseitiges Verstehen ermöglichen. Die Interkulturelle Germanistik im deutschen Sprachraum sieht sich in dieser Perspektive als Partner der auslandsgermanistischen Literaturwissenschaft. Gerade aus der Perspektive des Auslandes wird ihr jedoch auch Eklektizismus und Ethnozentrismus vorgeworfen: „Das Postulat einer interkulturellen Kommunikation verschleiert die Herrschaftsmechanismen, unter denen die zwischenstaatlichen Interaktionen erfolgen und die auf diese Weise perpetuiert werden" (Ndong 1993, 19). Bei Zimmermann (1989), Hess (1992) u. a. wird die Legitimität des Anspruches, vom deutschen Sprachraum aus die Fremdperspektive mitzudenken, in Frage gestellt. Mit der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik (GIG, gegründet 1987) und den aus deren Tagungen hervorgegangenen Sammelbänden sowie mit der Einrichtung von Lehrstühlen und Instituten spielt die Interkulturelle Germanistik eine gewichtige Rolle im Zusammenhang mit Deutsch als Fremdsprache, auch wenn sie mit den drei anderen hier genannten Ausrichtungen (vgl. Absätze 3.1. bis 3.3.) nur vereinzelte Verbindungen aufweist und eine fachlich wie personell weitgehend unabhängige Entwicklung durchläuft (vgl. Wierlacher 1987). Neben diesem programmatischen Ansatz stehen zum anderen weniger globale, an den Erfordernissen des konkreten Unterrichts ausgerichtete literaturdidaktische Ansätze, die im engeren Sinne in die Praxis der Vermittlung des Deutschen als Fremdsprache hineinreichen. Sie rezipieren sowohl literaturwissenschaftliche als auch textlinguistische und sprachdidaktische Ansätze und fördern einen kreativen Umgang mit Sprache sowie die Ausnutzung von Phantasiepotentialen (vgl. ζ. B. Kast 1985; Mummert 1989; Ehlers 1992). Dabei geht es nicht nur darum, literarische Texte als gewichtige Elemente des Sprachunterrichts zu nutzen (vgl. hierzu Art. 136—138), sondern auch darum, freies und kreatives Schreiben anzuregen und die Fähigkeit zur Verwendung der Fremdsprache in ihren sinnlich-ästhetischen Dimensionen zu vermitteln (vgl. Art. 97). Nachdem in der ersten Phase des kommunikativen Unterrichts die Orientierung an den Alltagsfunktionen der Sprache, also ihre kommunikative Verwertbarkeit, in den Vor-
dergrund gerückt war, hat sich seit Beginn der 90er Jahre die Erkenntnis durchgesetzt, dass literarische Texte in besonderem Maße sprachliche wie kulturelle Eigenarten verdeutlichen können und zur Motivierung der Lernenden beitragen (vgl. auch Art. 86). 3.5. In einer empirischen Studie (Henrici/Koreik 1994, 22ff.),die u. a. zum Ziel hatte, Studienbewerbern und Studierenden eine Orientierung für die Studienortwahl zu geben, wurde die Repräsentanz des Faches an den deutschen Hochschulen in Vollzeit- und Ergänzungsstudiengängen nach den vier genannten Ausrichtungen hinsichtlich dominanter Lehrstuhlbesetzungen sowie der Studien- und Prüfungsordnungen untersucht. Dabei wurde deutlich: An allen Studienorten sind alle Ausrichtungen mehr oder weniger stark vertreten. Dabei überwiegen die etwa gleich stark vertretenen linguistischen und lehr-/lernwissenschaftlichen Ausrichtungen gegenüber den literaturwissenschaftlichen und landeskundlich-kulturwissenschaftlichen (Verhältnis 3:1), wobei es örtliche Dominanzen gibt (vgl. Henrici/Koreik 1994; ergänzend Krumm 1994b). Auffällig ist die große Heterogenität der Studiengänge hinsichtlich der Dauer, der Organisationsformen und der Strukturierung der Studieninhalte sowie die Anbindung an unterschiedliche Fachbereiche, Fächer, Institute, was teilweise durch die (sinnvolle) interdisziplinäre Orientierung der Studiengänge bedingt ist. Ein ähnliches Bild zeichnen auch die vorliegenden Einführungen in das Fach Deutsch als Fremdsprache: Hier dominieren die lehr-/lerawissenschaftlichen Aspekte vor den linguistischen (das gilt etwa für Bielefeld), während die landeskundliche und die literaturwissenschaftliche Ausrichtung nicht immer gewichtig vertreten sind (eine Ausnahme bildet ζ. B. Bayreuth). 4.
Tendenzen und Perspektiven
4.1. Sprachenpolitik: Mit der Öffnung des Eisernen Vorhangs, dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union und der vorgesehenen Osterweiterung der EU stellen sich dem Fach Deutsch als Fremdsprache neue sprachenpolitische Aufgaben (vgl. im einzelnen Art. 139 und 140): Mit dem Wegfall der Pflichtfremdsprache Russisch ist Deutsch in den mittel- und osteuropäischen Ländern neben Englisch zu einer wichtigen Verkehrs-
1. Die Struktur des Faches
und Wirtschaftssprache geworden: Die Entwicklung von Curricula für alle Schulstufen (vgl. Art. 82), die Aus- und Fortbildung von Deutschlehrern (1990 fehlten allein in Ungarn 15.000 Deutsch- und Englischlehrer; vgl. Kast/Krumm 1994; vgl. auch Art. 115) sowie die Entwicklung von Lehrmaterial (vgl. Art. 106) stellen in dieser Größenordnung neue Herausforderungen für das Fach dar. Bedingt durch die unmittelbare Nachbarschaft hat vor allem Österreich seine Aktivitäten im Bereich des Deutschen als Fremdsprache verstärkt (vgl. Art. 8), auch hat sich eine verstärkte Zusammenarbeit Deutschlands, Österreichs und der Schweiz im Bereich der Sprachförderung in Mittel- und Osteuropa entwickelt (vgl. Wiener Erklärung 1997; Krumm 1999). Zugleich hat die starke Konzentration auf Mittel- und Osteuropa in anderen Kontinenten zu einer Schwächung des sprachenpolitischen Engagements insbesondere der Bundesrepublik Deutschland geführt (so wurden in den Jahren 1996/97 und 1999 Goethe-Institute u. a. in Lateinamerika, Afrika und Westeuropa geschlossen, teilweise allerdings zugunsten der Neueröffnung von Instituten in Mittel- und Osteuropa). Beeinflusst durch die weiter ausgebaute Stellung des Englischen als Wissenschafts- und Wirtschaftssprache, aber auch in Folge ausländerfeindlicher Ausschreitungen, hat die Zahl der ausländischen Studierenden in Deutschland abgenommen; der Deutsche Akademische Austauschdienst hat daher 1997 eine Initiative zur Verbesserung des Studienstandortes Deutschland ins Leben gerufen, die u. a. die Entwicklung einer bereits im Ausland abzulegenden sprachlichen Eingangsprüfung für das Hochschulstudium in Deutschland einschließt. Die Mitwirkung an der Entwicklung eines Gesamtkonzeptes für die Förderung der deutschen Sprache als Fremd- und Zweitsprache einschließlich einer fachlichen und sprachenpolitischen Kooperation der deutschsprachigen Länder bleibt eine wichtige Aufgabe des Faches. 4.2. Fach- und berufspolitische Aktivitäten: Es ist evident, dass sich mit der erhöhten Nachfrage nach Deutsch in Deutschland, im erweiterten Europa und in der Welt, die sich wesentlich aus der zunehmenden Internationalisierung der Weltwirtschaft und rapide steigenden Wanderbewegungen erklärt (Amnion 1991), auch ein erhöhter Bedarf an spezifisch ausgebildeten Lehrkräften ergibt. Insbesondere in Mittel- und Osteuropa sind da-
7 her neue Ausbildungsmöglichkeiten geschaffen worden, die auf die Dauer den ,Import' von Lehrkräften aus Deutschland und Österreich reduzieren. Während für nichtdeutschsprachige Studierende, die im deutschen Sprachraum eine Qualifikation in Deutsch als Fremdsprache erwerben, Berufsmöglichkeiten bei Rückkehr in das Herkunftsland vielfach günstig sind — zuverlässige länderspezifische Recherchen liegen allerdings nicht vor - , stellt sich die Berufssituation für die deutschsprachigen Studierenden als schwierig dar. Da die Studiengänge für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache in der Regel als Magisterstudiengänge angelegt sind, bleibt den Absolventen der Zugang zu einer Lehrtätigkeit in öffentlichen Schulen meist verwehrt. Selbst für die Auslandsschulen, in denen Fachkräfte für Deutsch als Fremdsprache erforderlich sind, hat sich keine befriedigende Regelung finden lassen; Ähnliches gilt für die Studienkollegs und Vorstudienlehrgänge, die in der Regel eine Lehrerausbildung voraussetzen. Der Arbeitsmarkt in der Erwachsenenbildung ist durch ein hohes Maß an Teilzeitarbeit und Honorarkräften bestimmt (vgl. Christ 1990), und der Bedarf an ausgebildeten Experten für Deutsch als Fremdsprache beim Goethe-Institut, in Lehrbuchverlagen und im Hochschulbereich ist relativ gering (vgl. Krumm 1997). Absolventen von Zusatzstudiengängen, einem Hochschullehrgang o. ä. haben es leichter, wenn sie damit ein Lehramtsstudium erweitern. Die Trennung zwischen Magister- und Lehramtsstudien in Deutschland und Österreich zu überwinden bleibt für Deutsch als Fremdsprache eine Zukunftsaufgabe. Dadurch, dass Magisterstudiengänge in Deutschland in der Regel ein oder zwei Nebenfacher verlangen, ergibt sich für Studierende des Deutschen als Fremdsprache die Möglichkeit individueller Profilierungen: die Wahl von Nebenfächern kann bereits zu einer Mehrfachqualifikation führen und damit auch das Spektrum möglicher beruflicher Tätigkeitsfelder erweitern (vgl. zu dieser Problematik u. a. Ehnert 1988, 443; Koreik 1995, 17). Aber auch innerhalb des Deutsch-als-Fremdsprache-Studiums zeichnen sich nach einem eher verbindlichen Grundstudium Schwerpunktbildungen für das Hauptstudium ab, wie sie in auslandsgermanistischen Studien ζ. T. bereits realisiert sind, ζ. B. im Bereich der Übersetzungstheorie und -praxis oder der Fachsprachenforschung und -Vermittlung. Insgesamt stellt sich für die Studiengänge im Be-
8
I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen
reich Deutsch als Fremd- und Zweitsprache die Frage, ob in Zukunft eher Studiengangskonzepte zu befürworten sind, die spezifische Berufsfelder und Adressatengruppen ins Auge fassen, oder solche, die eher allgemeine Konzepte favorisieren, die die Studierenden in die Lage versetzen, in möglichst vielen Tätigkeitsfeldern einsetzbar zu sein (Polyvalenz). In diesem Zusammenhang ist auch die Frage zu sehen, in welchem Verhältnis sich die akademische Ausbildung mit einer praktischen Berufseinführung verknüpfen lässt. 4.3. Praxisorientierung: Stärker als andere Fremdsprachenphilologien hat sich das Fach Deutsch als Fremdsprache im deutschen Sprachraum Praxisfeldern geöffnet und diese in das Studium integriert. In fast allen Magisterstudiengängen, vielfach aber auch in den Zusatzstudien für Deutsch als Fremdsprache, sind Praxisphasen/Praktika von unterschiedlicher Dauer und Intensität in der Regel verpflichtender Bestandteil der Studienordnungen (vgl. dazu die Dokumentation von Henrici/Koreik 1994; Krumm 1994b). Der intensive Austausch zwischen theoretischer Reflexion seiner Gegenstände und den Möglichkeiten einer konkreten Anwendung bildet von Anfang an ein besonderes Kennzeichen des Faches (zur Darstellung der Formen und Funktionen von Praktika vgl. Fandrych 1993; Apeltauer 1994). Praktika haben in dreifacher Hinsicht einen bedeutenden Stellenwert im Fach Deutsch als Fremdsprache: Sie sind lebensweltliche Konkretisierungen von Wissensbeständen und wirken insofern auch persönlichkeitsbildend und -stabilisierend, als sie vergleichende Einsichten und Reflexionen in und über eigene und fremde sprachliche und gesellschaftlich-kulturelle Situationen gewähren. Sie sind für die Studierenden eine zentrale Gelenkstelle, an der deutlich wird, welches Wissen, welche Einstellungen und welche Handlungskompetenzen erforderlich sind, um sich in den vielfältigen zukünftigen DaF-spezifischen Berufssituationen (Inland, Ausland, unterschiedliche Institutionen, Lernergruppen, Lernniveaus u. a.) zurecht zu finden - insofern dienen sie gleichzeitig der Berufsorientierung wie auch als Impuls für die theoriegeleiteten Studienphasen, an die aus der praktischen Erfahrung heraus Fragen zu stellen sind. Schließlich sind Praktika auch Ausdruck der Weltoffenheit und Internationalität des Faches, die ausländerfeindlichen Tendenzen entgegenwirken können. Das setzt allerdings voraus, dass
Praktika systematisch in das Studium integriert sind. Unverzichtbar ist auch eine empirisch ausgerichtete Praktikumsforschung, die über die systematische Untersuchung der verschiedenen Praktikumskonstellationen und die in ihnen vorzufindenden Bedingungen begründbare Weiterentwicklungen ermöglicht. An dieser Forschung fehlt es zur Zeit noch. Sie könnte mit der noch am Anfang stehenden sogenannten Austauschforschung eine Gemeinschaft bilden (Fandrych 1993, 290). 4.4. Forschungsaufgaben und -perspektiven: Trotz einer schwierigen Ausgangslage (Etablierung des Faches während der einsetzenden Sparprogramme, hohe Studentenzahlen) kann das Fach Deutsch als Fremdsprache ein breites Spektrum an forschungsmethodischen Arbeiten und empirischen Untersuchungen vorweisen: Mittlerweile liegen nicht nur anwendungsbezogene, sondern zunehmend auch grundlagenorientierte Forschungsarbeiten vor, die auf einer intensiven theoriegeleiteten empirischen Forschung beruhen. Glück (1991) und Rosier (1994) haben diese Forschung unterschiedlich typisierend beschrieben und mit einer Vielzahl von ausgewählten Beispielen dokumentiert. Aus der Entstehungsgeschichte wie aus dem Selbstverständnis des Faches Deutsch als Fremdsprache als einem Theorie und Praxis verbindenden Fach ist erklärlich, dass ein großer Teil der relativ geringen Forschungskapazitäten auf sogenannte anwendungs-/praxisbezogene Forschungen ausgerichtet ist. Zu ihnen zählen u. a. grundlegende, die Praxis unterstützende und steuernde Grammatikarbeiten (vgl. Art. 109), didaktische Arbeiten zur Theorie und Praxis der Fremdsprachenvermittlung (vgl. Art. 80; 81), die Lehrwerkkritik (vgl. Art. 105), Untersuchungen zu den theoretischen Grundlagen und der kommunikativen Praxis interkultureller Kommunikation (vgl. Art. 100; 124), die intensive Beschäftigung mit Fachsprachenpraxis, -didaktik und -theorie (vgl. Art. 54-59) und nicht zuletzt die Konzipierung, Entwicklung und Evaluation von Selbststudienmaterialien und Lehrbüchern (vgl. Art. 105; 106), die berechtigterweise von den Lehrenden für die Praxis des Unterrichtens eingefordert werden. In diesen Zusammenhang gehört die kritische Analyse sogenannter alternativer Vermittlungsverfahren (etwa Tandem, Suggestopädie, Dramapädagogik u. ä.; vgl. Art. 86). Im Rahmen von Schulversuchen, angesichts curricularer Entwicklungen wie dem Frühbeginn
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1. Die Struktur des Faches
des Deutschunterrichts in vielen Ländern, angesichts der Tendenz, die Fremdsprache auch als Arbeitssprache in anderen Unterrichtsfachern einzusetzen und schließlich durch die Einbeziehung der Sprachen von Minderheiten und Migranten, die zu neuen Modellen der Mehrsprachigkeit führt, gewinnen auch die Begleitforschung und die Wirkungsforschung (Evaluationen) an Bedeutung (vgl. Koschat/Wagner 1994; Landesinstitut 1995). Wie die Dokumentation zu Deutsch als Fremd- und Zweitsprache von Glück (1991) aber ebenfalls belegt, sind zunehmend auch Arbeiten vorgelegt worden, die dem Forschungstyp „grundlagenorientiert" zuzurechnen sind. Es handelt sich im Wesentlichen um solche Arbeiten, die die Untersuchung der Mechanismen von natürlichen und gesteuerten Fremdsprachenerwerbsprozessen betreffen (vgl. Art. 66-79), deren Ergebnisse Begründungen und Absicherungen für den Kernbereich des Faches, „das Lehren und Lernen des Deutschen als Fremdsprache in Theorie und Praxis" bereitstellen können. 4.5. Kooperation und Arbeitsteilung: Trotz mancher kritischer Einwände und Hinweise auf unterschiedliche „Linien" (Glück 1991) sollte an der These von der Einheit des Faches und ihrer Begründung festgehalten werden (Henrici 1989, These 1; Götze/Suchsland 1996, These 2; Henrici 1996). Das Argument gilt weiterhin, dass Einheit und Vielfalt keinen Widerspruch bedeuten (Götze 1997, 89). Auch in anderen Disziplinen finden wir diese Vielfalt in der Einheit. Keiner käme auf die Idee, aufgrund der Vielfalt von FachdifTerenzierungen nicht mehr von der Romanistik, der Anglistik oder der Slavistik zu sprechen. Wie in anderen Disziplinen hat sich auch im Fach Deutsch als Fremdsprache die Vielfalt aus praktisch-gesellschaftlichen und innerdisziplinären Gründen auf verschiedenen Ebenen entwickelt. Dieser Differenzierungsprozess ist auf der Ebene von Erkenntnisinteressen, Untersuchungsgegenständen, Untersuchungsmethoden, Datenerhebungsverfahren, hinsichtlich der Ausdifferenzierung des Faches in Teilbereiche sowie in unterschiedliche Institutionalisierungs- und Organisationsformen zu beobachten. Die europäischen Forschungs- und Mobilitätsprogramme erlauben seit den 80er Jahren in verstärktem Maße internationale Kooperationen, die wechselseitige Anerkennung von Studienleistungen und eine länderübergreifende Zusammenarbeit.
5.
Schluss
Eine Reihe von Problemen ist auch weiterhin gründlich zu diskutieren, von deren Lösung die zukünftige Entwicklung des Faches u. a. auch abhängen wird (vgl. Henrici 1995). Beschreibt man die Entwicklung des Faches bzw. der Disziplin nach einzelnen Phasen (Initial-, Etablierungs-, Konsolidierungsphase, vgl. Laitko 1982), lässt sich als gewisser Konsens unter den meisten Fachvertreterinnen und -Vertretern ausmachen, dass sich das Fach inzwischen in der Konsolidierungsphase befindet, zumal seine Etablierung an den deutschen Hochschulen als weitgehend abgesichert angesehen werden kann (vgl. u. a. Götze/Suchsland 1996). Diese optimistische Einschätzung wird nur dann weiterhin gültig bleiben, wenn sich das Fach nicht auf den in seiner etwa fünfundzwanzigjährigen Geschichte zweifellos erworbenen Meriten ausruht, sondern die kontroverse Debatte um mögliche Fachstrukturen und deren praktische Umsetzung engagiert weiterführt. Dass das Hochschulfach Deutsch als Fremdsprache nicht nur für Studierende ein attraktives sowie in Anbetracht der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Europa und in der Welt ein notwendiges Fach ist, begründet u. a. die ständige quantitative Zunahme von Vollzeitund Zusatzstudiengängen in den letzten Jahren. Die starke Nachfrage nach einem Studium Deutsch als Fremdsprache hat bereits zur Einführung eines Numerus Clausus (NC) an einzelnen Studienorten geführt (Bielefeld, Hamburg, München). In den nur grob wiedergegebenen Ergebnissen der Recherche von Henrici/Koreik 1994 scheint die These von der gesicherten Etablierung und Konsolidierung des Faches ihre Bestätigung zu finden. 6.
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12
I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen
2. Linguistischer Ansatz 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
1.
Verschiedene Ausrichtungen des Faches als Reflex unterschiedlicher Komponenten Zum Status des Faches Deutsch als Fremdsprache Was heißt „linguistischer Ansatz"? Kontrastive Linguistik vs. Einzeldeskription System vs. Kommunikation Grammatik vs. Lexikon Ausdrucks- vs. Inhaltsgrammatik Zentralität der linguistischen Komponente Literatur in Auswahl
Verschiedene Ausrichtungen des Faches als Reflex unterschiedlicher Komponenten
Selbst bei weitgehend einhelliger Gegenstandsbeschreibung des Faches „Deutsch als Fremdsprache" erscheint das Fach (bis in die Studiengänge hinein) in verschiedenen „Ausrichtungen" - mindestens: einer linguistischen, einer literaturwissenschaftlichen, einer landeskundlich-kulturwissenschaftlichen und einer didaktisch-methodischen (lehr- und lernwissenschaftlichen) Ausrichtung (vgl. Art. 1). Mit diesen Ausrichtungen ist zunächst nur die entsprechende disziplinäre Zuordnung angezeigt, noch nicht das Spezifische des Faches „Deutsch als Fremdsprache", durch das es sich von anderen Fächern unterscheidet. Dieses Spezifikum besteht u. E. darin (vgl. Heibig 1997b, 132 f.), dass es Theorie und Praxis des Lehrens und Lernens von Deutsch als Fremdsprache zum Gegenstand hat. Mit den hier hervorgehobenen Teilen dieser Gegenstandsbeschreibung ist zugleich auf wesentliche Nachbar- und Teildisziplinen verwiesen, zu denen „Deutsch als Fremdsprache" in notwendigen Beziehungen steht: Das Deutsche als Sprache ist das, was gelernt/gelehrt wird (der Gegenstand des Lernens/Lehrens, der auch von der germanistischen Linguistik beschrieben wird). Dieser Gegenstand wird aber (im Unterschied zur Binnenperspektive der germanistischen Linguistik im Inland) als Fremdsprache, d. h. aus der Fremdoder Außenperspektive, betrachtet. Zu der Sprache (und mit ihr verbunden) kommen als Gegenstände die Literatur und die Landeskunde hinzu. Alle diese Gegenstände sollen gelernt und gelehrt werden (damit befassen sich vor allem Sprachlehr- und -lernforschung/ Fachdidaktik, Methodik, (Zweit-)Spracherwerbsforschung, Psycholinguistik). Auf diese
Weise beruhen die genannten „Ausrichtungen" auf unterschiedlichen Komponenten oder Aspekten eines Phänomens, das gleichermaßen einheitlich wie komplex ist. Weil es einheitlich ist, sollte es auch von einem einheitlichen Fach aus erfasst werden; weil es komplex ist (und aus verschiedenen Komponenten besteht), erfordert es einen interdisziplinären Zugang. Diese Interdisziplinarität bringt es mit sich, dass (auf Grund dieser unterschiedlichen Komponenten) notwendigerweise auch unterschiedliche Wissensbestände in das Fach „Deutsch als Fremdsprache" eingehen, dass dabei jedoch die in „Deutsch als Fremdsprache" hineinragenden Teildisziplinen oft den Anspruch von Erklärungsmodellen für den Gesamtbereich erheben. Statt eines interdisziplinären Forschungsansatzes herrscht vielfach (noch) die Tendenz vor, Theorieansätze aus den einzelnen Komponenten als für den Gesamtkomplex zuständig auszugeben (vgl. Krumm 1978, 87ff.). Das gilt insbesondere für die Linguistik und für die Didaktik (Sprachlehr- und -lernforschung), aber auch für die Zweitspracherwerbsforschung, manchmal auch für Landeskunde und Literaturwissenschaft (und führte zu einseitigen Dominanzverhältnissen). Grob gesagt: Auf eine Periode der „Linguistisierung" des Fremdsprachenunterrichts und von „Deutsch als Fremdsprache" folgte - als Reaktion — eine ebenso ungerechtfertigte Dominanz durch Didaktik/Sprachlehr- und -lernforschung sowie Psychologie (nicht selten dann unter Abkoppelung von der Linguistik) (vgl. Heibig 1994, 85 ff.). Wie der Fremdsprachenunterricht und „Deutsch als Fremdsprache" nicht einfach „angewandte Linguistik" sind, so sind sie auch nicht einfach „angewandte Psychologie"; ebensowenig dürfen sie auf Sprachlehr- und -lernforschung oder auf Didaktik/Methodik reduziert werden. Vielmehr müssen die Ergebnisse aller dieser Disziplinen auf „Deutsch als Fremdsprache" angewandt werden (aber nicht direkt und nicht unadaptiert, vielmehr unter der übergreifenden Fragestellung des Lernens/Lehrens von Deutsch als Fremdsprache) - eben weil für Deutsch als Fremdsprache (wie für den Fremdsprachenunterricht generell) nicht nur eine Wissenschaft zuständig ist, sondern Wissenskomponenten aus verschiedenen Bezugsdisziplinen. Dass gegenwärtig häufig noch Kon-
2. Linguistischer Ansatz
zepte, Methoden und Fragestellungen der „Ausgangsdisziplinen" bei Gesamtdiskussionen um Deutsch als Fremdsprache (über solche zu dessen „ureigenem" Gegenstandsbereich) dominieren, kann und muss man gewiss beklagen (vgl. ζ. B. auch Dittmar/RostRoth 1995, 5), ergibt sich aber aus dem interdisziplinären Charakter des Faches und ist u. E. allemal besser als eine schlichte „praktizistische" Reduzierung von Deutsch als Fremdsprache auf Didaktik oder auf eine (eher dilettantische) Schein-Interdisziplinarität, die das Fach von seinen Bezugsdisziplinen abkoppelt. Bei der Weiterentwicklung des Faches wird es freilich darauf ankommen, die Wissensbestände zu den verschiedenen Komponenten zusammenzuführen - die sich nicht kontradiktorisch, sondern eher komplementär zueinander verhalten - , dies weder unadaptiert noch rein additiv, sondern unter Dominanz des spezifischen Gegenstandes von Deutsch als Fremdsprache. 2.
Z u m Status des Faches Deutsch als Fremdsprache
Ausgehend von den unterschiedlichen Komponenten beim Erwerb/Erlernen von Fremdsprachen und in Verbindung mit den unterschiedlichen „Ausrichtungen" des Faches, aber auch auf Grund der bisherigen Entwicklung des Faches (als „Kind der Praxis", auf der Basis unterschiedlicher gesellschaftlicher Desiderate und in unterschiedlichen institutionellen Kontexten) ergab sich nicht nur eine Mehrzahl von Bezeichnungen für das (neue) Fach, sondern auch - darauf kommt es uns hier besonders an — eine Unsicherheit und Heterogenität im Hinblick auf den theoretischen Status des Faches. Darauf deutet schon die (zugespitzte) Frage von Glück (1994, 146f.) hin, ob es ein Zweig der Germanistik (etwa ein vierter Zweig neben Sprach-, Literaturwissenschaft und Mediävistik) oder eine Spielart der Auslandsgermanistik, ob es „ein disziplinärer Bastard, aus allerlei Kultur- und Sozialwissenschaften zusammengefügt, mit einem unklaren sprachwissenschaftlichen Kern", „ein Arbeitsbereich vor allem der Sprachwissenschaft", „ein Zweig der Fremdsprachendidaktik bzw. Sprachlehr- und -lernforschung bzw. Glottodidaktik bzw. Linguodidaktik", eine „anwendungsbezogene Hilfswissenschaft der Politologie im Bereich der Außenpolitik" oder „von allem ein bißchen" sei. Diese Fragestellung enthält den Keim
13 mancher zentraler Kontroversen, wie sie zu Inhalt, Struktur und Profil des Faches heute ausgetragen werden (ζ. B. in der Zeitschrift DaF seit Götze/Suchsland 1996). Diese Kontroversen stehen im Zusammenhang mit der Interdisziplinarität des Faches und ergeben sich aus unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und Dominanzverhältnissen zwischen den verschiedenen Komponenten des Faches. Das führte zu solchen Fragen, welches die entscheidende (und dominante) Bezugsdisziplin für „Deutsch als Fremdsprache" ist, ob „Deutsch als Fremdsprache" - generell oder vor allem - ein germanistisches oder ein fremdsprachenphilologisches (bzw. -wissenschaftliches) Fach, ob es ein sprachwissenschaftliches oder ein didaktisches (bzw. lehr- und lernwissenschaftliches) - oder gar ein pädagogisches - Fach sei. In der Diskussion in DaF haben Götze/Suchsland (1996, 68 ff.) für die Germanistik (nicht für die Fremdsprachenphilologie, auch nicht für die Didaktik) als wesentlichste Bezugsdisziplin plädiert und „Deutsch als Fremdsprache" als germanistisches Fach (als „viertes Standbein" der Germanistik) angesehen. Entgegengesetzt argumentieren Henrici (1995, 10f.; 1996, 132ff.), Königs (1996, 195fT.), Edmondson (1998) und andere für Deutsch als Fremdsprache als fremdsprachenwissenschaftliches Fach mit fremdsprachenerwerblicher und -didaktischer Schwerpunktsetzung. Ein ähnliches Bild bietet sich auch generell: Wie Henrici möchte auch Krumm (1994, 77 ff.) - in Abgrenzung von der Germanistik - die Lehr- und Lernprozesse in das Zentrum des Faches rücken, umgekehrt sieht Glück (1991; 1994, 134; 1997, 60ff.) das Fach als Teilbereich bestimmter Untergliederungen der Sprachwissenschaft und die Germanistik (und innerhalb der Germanistik die Sprachwissenschaft) als wesentlichste Bezugsdisziplin an. Auch wenn man den einheitlichen und interdisziplinären Charakter von „Deutsch als Fremdsprache" anerkennt und sich über seine wesentlichsten Komponenten weitgehend einig ist, bestehen dennoch erhebliche Divergenzen hinsichtlich der Gewichtung dieser Komponenten und der angenommenen Hierarchie- und Dominanzverhältnisse zwischen ihnen. Allerdings fallt bei der Diskussion zweierlei auf (vgl. Heibig 1997b, 134f.): a) Die Argumentationen werden oft von „äußeren Faktoren" her (ζ. B. der Stellenbesetzung und der institutionellen Zuordnung,
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I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen
der fachpolitischen Zwecksetzung und den personellen Voraussetzungen) motiviert. Wir sehen im Folgenden von diesen Faktoren weitgehend ab und versuchen stattdessen eine fachsystematische Antwort - obwohl die entsprechenden Konzepte von diesen äußeren Faktoren natürlich mitbedingt sind und auch Konsequenzen in dieser Richtung haben. Es verbietet sich u. E. jedoch eine Verkürzung auf „externals", ζ. Β. auf Feststellungen, dass Germanisten das Fach „Deutsch als Fremdsprache" teils respektieren, teils desavouieren, dass sie ihm Stellen gelegentlich nicht zubilligen, dass manchmal einerseits ein Fremdsprachendidaktiker, andererseits ein Germanist als „von außen" kommender „Fremdkörper" im Bereich „Deutsch als Fremdsprache" empfunden wird. Von der Sache her nicht bedeutsam dürfte auch sein, ob das Fach universitär als eigenes Institut oder im Rahmen von Fremdspracheninstituten oder von Germanistischen Instituten etabliert ist. b) Inhaltlich wird oftmals die Alternative „germanistische vs. fremdsprachenwissenschaftliche Schwerpunktsetzung" vermischt oder gekoppelt mit der Alternative „linguistische vs. didaktische Schwerpunktsetzung". Beide Alternativen sind nicht identisch: Gewiss ist eine germanistische Schwerpunktsetzung zumeist verbunden mit einer primär linguistischen Ausrichtung (sehen wir einmal von der „interkulturellen Germanistik" ab, die ein Kind der Literaturwissenschaft ist); aber eine fremdsprachenwissenschaftliche Orientierung führt u. E. nicht notwendig zu einer didaktischen Dominanz. Dies wird deutlich, wenn man nach den Beziehungen von „Deutsch als Fremdsprache" zu den genannten Fächern unter dem Aspekt des Gegenstandes und der Methoden fragt (vgl. auch Neuner 1993; 1995): Vom Gegenstand der deutschen Sprache her weist Deutsch als Fremdsprache Gemeinsamkeiten sowohl mit der Inlands- als auch mit der Auslandsgermanistik auf. Von der Perspektive auf diesen Gegenstand („Außenperspektive") her unterscheidet es sich deutlich von der Binnengermanistik und zeigt Gemeinsamkeiten sowohl mit der Auslandsgermanistik als auch mit anderen Fremdsprachenphilologien (also ζ. B. der Anglistik in Deutschland oder der Germanistik in Frankreich (vgl. Heibig 1997a, 92f.)). Bereits Weinrich (1979, lf.) dessen Aufsatz oft als „Konstituierungsurkunde" für Deutsch als Fremdsprache ange-
sehen wird - hat (mit Recht) davon gesprochen, dass sich Inlands- und Auslandsgermanistik zwar nicht in ihrem Gegenstand, wohl aber in ihrer Perspektive (Binnenperspektive vs. Außen- bzw. Fremdperspektive) auf den Gegenstand und in ihrer Methodologie voneinander unterscheiden, dass sich der Aufgabenbereich von Deutsch als Fremdsprache unter philologischem Gesichtspunkt mit dem der Germanistik, unter methodologischem Gesichtspunkt mit dem der Fremdsprachenphilologien deckt. Insofern kann und sollte man Deutsch als Fremdsprache als eine Fremdsprachenphilologie auffassen (wie auch die Auslandsgermanistik eo ipso Fremdsprachenphilologie ist). Mit den Fremdsprachenphilologien und mit der Auslandsgermanistik ist das Fach dadurch verbunden, dass sein Hauptanliegen das Lehren und Lernen einer Fremdsprache ist, dass die Außenperspektive konstitutiv ist, die oft neue (und andere) Deutungen eröffnet, die der Binnenperspektive verschlossen geblieben sind. Dabei sind nicht nur sprachliche, sondern auch landeskundliche, literarische und kulturelle Kontraste gemeint, einmal ganz abgesehen von der Didaktik (deren Differenzierung sich schon dadurch ergibt, dass Fremdsprachenerwerb anders funktioniert als Mutterspracherwerb). Die Auffassung von Deutsch als Fremdsprache als Fremdsprachenphilologie bedeutet jedoch keine „Abkoppelung" von der Germanistik (wie das oft von didaktischer Seite suggeriert wird). Völlig unbegründet ist eine Isolierung von der Auslandsgermanistik (auf Grund der Gemeinsamkeiten in Gegenstand, Perspektive und Methodologie), unbegründet aber auch eine völlige Abkoppelung von der muttersprachlichen Binnengermanistik (auf Grund der Gemeinsamkeiten im Gegenstand und der von ihr gewonnenen Einsichten in die deutsche Sprache) (vgl. auch Glück 1991). Kurz gesagt: Die auf der Außenperspektive begründete Auffassung von Deutsch als Fremdsprache als Fremdsprachenphilologie bedeutet weder eine Identität mit noch eine Abkoppelung von der (Binnen-)Germanistik. Dass innerhalb der Germanistik für Deutsch als Fremdsprache die Sprachwissenschaft die entscheidende Rolle spielt, dürfte kaum zu bestreiten sein; einmal wegen des Lernens und Lehrens der deutschen Sprache (als des zentralen Gegenstandes von „Deutsch als Fremdsprache"), aber auch wegen der sekundären Rolle der anderen Komponenten (Landeskunde, Literatur u. a.), die schon durch
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2. Linguistischer Ansatz
den zumeist eingeschränkten Umfang im Unterricht bedingt ist. Wenn statt „Fremdsprachenphilologie" ein Terminus wie „Fremdsprachenwissenschaft" favorisiert wird (vgl. Henrici 1989, 14; 1995), dürfte es sich eher um einen rein terminologischen Ersatz handeln (um einem zu engen und traditionellen Verständnis von „Philologie" zu entgehen). Auf jeden Fall bedeutet eine Auffassung von Deutsch als Fremdsprache als Fremdsprachenphilologie nicht automatisch oder notwendig eine primär oder gar ausschließlich didaktische bzw. lehr- und lernwissenschaftliche Bestimmung oder Dominanz des Faches. Mitunter gewinnt man den Eindruck, als ob (aus Berührungsangst und/oder Selbstrechtfertigungsdruck) aus der angestrebten Loslösung von der (Binnen-)Germanistik in mechanischer Weise auf eine solche einseitige didaktische Dominanz geschlossen wird. Eine solche - nach der „Linguistisierung" des Fremdsprachenunterrichts - abermals einseitige Schwerpunktsetzung verbietet sich aus prinzipiellen Gründen: Wenn es bei Deutsch als Fremdsprache um das Lehren und Lernen von Deutsch als Fremdsprache geht, kann das Wie (des Lernens und Lehrens) nicht von dem abgekoppelt werden, was gelernt und gelehrt wird (das Deutsche als Fremdsprache). In der in diesem Buch vertretenen Gegenstandsbestimmung verweist Deutsch auf den (Lern-)Gegenstand, Fremd-
sprache auf die Perspektive und Methodologie, Lernen und Lehren auf den Erwerb u n d
die Vermittlung (die selbst zum Gegenstand der Reflexion werden). Erst alle diese Aspekte zusammen machen das einheitliche Fach „Deutsch als Fremdsprache" aus, das weder einfach „angewandte Sprachwissenschaft" oder „angewandte Germanistik" noch einfach „angewandte Spracherwerbsforschung" oder „angewandte Sprachlehrund -lernforschung" ist. Dennoch sind die verschiedenen Komponenten des Faches nicht völlig gleichwertig. Ein bestimmtes Hierarchieverständnis ergibt sich schon daraus, dass das Was gegenüber dem Wie primär ist, andererseits der Erwerbsprozess nicht gegenüber dem Gegenstand des Erwerbs als autonom angesehen werden kann. Im Fremdsprachenunterricht (und in Deutsch als Fremdsprache) geht es immer um den Erwerb einer Sprache (als des zu erwerbenden Gegenstandes). Der zu erwerbende Gegenstand determiniert immer Struktur und Ablauf des Erwerbsprozesses und nicht umgekehrt. Auf diese Weise gewinnt die zu er-
werbende Sprache eine zentrale Rolle unter den verschiedenen Komponenten des Faches. Von diesem „archimedischen Punkt" aus muss Deutsch als Fremdsprache betrieben werden (vgl. Glück 1998, 3ff.);genau dies ist das Credo des im Folgenden genauer zu beschreibenden „linguistischen Ansatzes" für das Fach „Deutsch als Fremdsprache". 3.
Was heißt „linguistischer Ansatz"?
Unter „linguistischem Ansatz" wird die Summe aller Auffassungen verstanden, die der Sprache unter den verschiedenen Komponenten des Faches „Deutsch als Fremdsprache" die zentrale Rolle zuschreiben, in ihr eben den „archimedischen Punkt" sehen, der Ausgangs- und Bezugspunkt des Faches ist. Da eine (Fremd-)Sprache erworben/vermittelt werden soll, bedarf es nicht nur entsprechender Fähigkeiten und Fertigkeiten in dieser Sprache, dazu bedarf es auch solider Kenntnisse über diese Sprache, mindestens für den Lehrbuchautor und den Lehrer, ζ. T. aber auch - abhängig vom Bedingungsgefüge des konkreten Sprachunterrichts, der „Faktoren-Komplexion", die den Unterricht determiniert - auch für den Lernenden. Einfacher gesagt: Der linguistische Ansatz basiert auf der Einsicht, dass man zuerst und vor allem wissen muss, was erworben/vermittelt werden soll (nämlich die Strukturen und Funktionen der zu erwerbenden/vermittelnden Sprache - in diesem Falle: des Deutschen), ehe man sich für bestimmte Strategien und Taktiken entscheiden kann, wie die Vermittung in optimaler Weise erfolgen sollte (didaktisch-methodisch), die sich wiederum nur aus allgemeinen Erkenntnissen über Struktur und Ablauf von Erwerbsprozessen ergeben. Allerdings sind die Auffassungen selbst innerhalb dieses linguistischen Ansatzes keineswegs einheitlich und völlig homogen. Wesentliche Unterschiede bestehen offenkundig mindestens in zweifacher Hinsicht: 1. Innerhalb eines „linguistischen Ansatzes" gibt es entweder die Variante, dass Deutsch als Fremdsprache ausschließlich auf die linguistische Komponente reduziert wird (im Extremfall die anderen Komponenten - aus welchen Gründen auch immer - ausgeschlossen werden) und damit das Fach auf „angewandte Linguistik" verkürzt wird, oder die andere Variante, dass das Fach interdisziplinär verstanden wird, also mehrere Kom-
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I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen
ponenten angenommen werden, von denen freilich die Sprache in das Zentrum gerückt wird. Im vorliegenden Buch wird für die zweite Variante argumentiert (vgl. Art. 1 und Art. 2, Abs. 1. und 2.). 2. Innerhalb eines „linguistischen Ansatzes" gibt es Meinungsverschiedenheiten darüber, welche Aspekte der Sprache als besonders relevant für den Fremdsprachenunterricht (und damit auch für Deutsch als Fremdsprache) angesehen werden. Es handelt sich um solche Fragen, welche Rolle die Kontraste zwischen Sprachen (die Konfrontative bzw. Kontrastive Linguistik), welche Rolle der Systemaspekt der Sprache im Verhältnis zur kommunikativen Verwendung der Sprache und welche Rolle innerhalb des Systemaspekts die Grammatik und die Lexik (das Lexikon) spielen, und schließlich um die Frage, ob die linguistische Grammatik von den Formen („Ausdrucksgrammatik") oder von den Funktionen („Inhaltsgrammatik") ausgehen sollte. Alle diese Fragen sind noch umstritten und haben unterschiedliche theoretische Voraussetzungen und Implikationen. Auf diese Fragen und Unterschiede soll deshalb in den nächsten Absätzen genauer eingegangen werden.
(Rahmenbau), auf die Voranstellung/Satzgliedstellung des attributiven Adjektivs und den unflektierten Gebrauch des prädikativen Adjektivs (im Unterschied ζ. B. zum Frz.), auf die fehlende Markierung der AdjektivAdverbien, auf das deontische und epistemische System der deutschen Modalverben, auf Tempus-, Modus- und Genussystem des Verbs, auf den „externen" possessiven Dativ im Deutschen (etwa: Ich wasche mir die Hände vs. I wash my hands), die besondere Rolle der Modalpartikeln im Deutschen, auf das Fehlen eines speziellen Reflexivpronomens in der 1./2. Pers. im Deutschen (etwa: mir vs. myself), auf die vielfache Formengleichheit von substantivischen Pronomina und entsprechenden Artikelwörtern im Deutschen (ζ. B. dieser) im Unterschied zu anderen Sprachen u. v. m. Dennoch wäre es zu einfach und zu kurzschlüssig, den linguistischen Anteil (die linguistische Komponente) des Fremdsprachenunterrichts (und damit auch von Deutsch als Fremdsprache) auf den konfrontativen/kontrastiven Vergleich mehrerer Sprachen zu reduzieren, dies mindestens aus folgenden Gründen (vgl. Heibig 1981, 70ff.; 1986a; 1994, 89fT.; 1997a, 95f.; 1997b, 135f.; vgl. auch Art. 14, Abs. 2.8.):
4.
1. Der kontrastive Sprachvergleich war ursprünglich mit dem (praktischen) Ziel angetreten, jene Probleme zu finden und zu beschreiben, die die Sprecher einer Sprache haben würden, wenn sie eine andere Sprache lernen - in der zunächst unterstellten Annahme, dass die in der Muttersprache gleichen oder ähnlichen Elemente für den Lernenden einfach, die von der Muttersprache abweichenden Elemente aber schwierig sein würden. Diese Annahme (der Glaube, durch die Interferenz der Muttersprache bedingte Fehler in direkter Weise voraussagen zu können) hat sich indes nicht bestätigt, die ursprüngliche Zielstellung als unzureichend (als „Falschziel") erwiesen, - und zwar aus theoretischen sowie aus praktischen Gründen: aus theoretischen Gründen deshalb, weil die Kontraste immer nur auf dem Hintergrund eines vollständigen und systematischen Vergleichs von Einzelsprachen ermittelt werden können (daraus entstand die mancherorts vorgenommene Unterscheidung von konfrontativer und kontrastiver Grammatik, wobei erstere eine theoretische Disziplin ist mit dem Ziel, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Einzelsprachen aufzudek-
Kontrastive Linguistik vs. Einzeldeskription
Die für alle Komponenten von Deutsch als Fremdsprache unverzichtbare und konstitutive Außen- und Fremdperspektive hat in der linguistischen Komponente schon früh zu dem Gebot geführt, die deutsche Sprache nicht unabhängig von anderen Sprachen, sondern immer im Kontext mit ihnen zu sehen (vgl. Weinrich 1979, 2ff.). Der Sprachvergleich - typologischer und vor allem kontrastiver/konfrontativer Art - erweist sich deshalb als zentraler Bereich der linguistischen Komponente von Deutsch als Fremdsprache (vgl. ausführlicher Art. 27-49). Das führte zu der berechtigten Forderung, dass Lehrer des Deutschen als Fremdsprache mehrere Fremdsprachen kennen sollten, damit sie die deutsche Sprache auf dem Hintergrund eines Vergleichs mit anderen Sprachen (vor allem: mit der Muttersprache der Lernenden) vermitteln können. In der Tat treten auf diesem Wege zahlreiche Spezifika des Deutschen besonders deutlich zutage und erleichtern den Lernprozess. Wir verweisen ζ. B. auf die Wortstellung/Satzgliedstellung
2. Linguistischer Ansatz
ken, letztere sich - als praktische Anwendung — auf die Unterschiede beschränkt); aus praktischen Gründen deshalb, weil im Fremdsprachenunterricht keineswegs nur die (starken) Kontraste, sondern auch und gerade die Ähnlichkeiten und schwachen Kontraste fehleranfällig sind (faux amis), so dass Schwierigkeiten beim Lernen einer Fremdsprache keineswegs als direkte und geradlinige Folge von Strukturdifferenzen zwischen Sprachen angesehen werden können. Überdies gibt es mehrere Arten von Fehlern, durchaus nicht nur solche, die sich aus dem Verhältnis zur Muttersprache ergeben, sondern auch solche, die durch andere Faktoren (ζ. B. durch Übergeneralisierung) bedingt sind, also Fehler in der Fremdsprache selbst (Intraferenzen) sind. 2. Die Auffassung, dass man mit dem kontrastiven Sprachvergleich eine Art „Allheilmittel" für die Optimierung des Fremdsprachenunterrichts gefunden habe, wurde auch durch die zunehmende Einsicht in Frage gestellt, dass kontrastive Arbeiten immer die Einzelbeschreibung der zu vergleichenden Sprachen voraussetzen - entsprechend der alten Forderung „Beschreiben vor Vergleichen". Eine konfrontative Grammatik kann - wenn sie nicht aphoristisch und anekdotenhaft bleiben soll - die vollständige Beschreibung der zu vergleichenden Sprache weder ersetzen noch abkürzen. Sie setzt somit mindestens zwei Grammatiken von Einzelsprachen voraus, die miteinander und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Obwohl damit zwar der konfrontative Vergleich — auch in Qualität und Aussagekraft — von vorgängigen einzelsprachlichen Beschreibungen abhängig ist, ist auf der anderen Seite die (in früheren strukturalistischen Arbeiten enthaltene) kurzschlüssige Vorstellung unzutreffend, dass sich der Vergleich aus den Einzelbeschreibungen gleichsam von selbst ergebe. Vielmehr muss zwischen der getrennten Deskription der Einzelsprachen und dem Vergleich eine wichtige Zwischenstufe eingeschoben werden, auf der zunächst die Vergleichbarkeit (Komparabilität) festgestellt werden muss. 3. Bei der Vergleichbarkeit geht es sowohl um objektsprachliche als auch um metasprachliche Komparabilität. Objektsprachliche Komparabilität meint Vergleichbarkeit im Objekt Sprache selbst und ist notwendig, weil man nicht Unvergleichliches und in der Regel auch nicht in einem Schritt ganze Sprachen in extenso miteinander vergleichen
17 kann, sondern immer nur Teile, Ebenen, Subsysteme oder - in den meisten Fällen - nur einzelne Kategorien. Dabei taucht von selbst die Frage auf, welche Teile und welche Kategorien miteinander vergleichbar sind - eine Frage, die vor allem dann nicht leicht zu beantworten ist, wenn sich die Kategorien der zu vergleichenden Sprachen nicht geradlinig entsprechen, wenn die Kategorien der einen Sprache Entsprechungen in anderen Kategorien der zweiten Sprache haben, wenn es für bestimmte grammatische Erscheinungen der einen Sprache im grammatischen System der anderen Sprache keine direkten oder überhaupt keine Entsprechungen, möglicherweise auch Entsprechungen in anderen Subsystemen der Sprache gibt (vgl. ζ. B. die Aspekte in slawischen Sprachen, die keine direkte Entsprechung im Deutschen, die Artikel im Deutschen, die keine Entsprechung in slawischen Sprachen haben, oder die deutschen Abtönungspartikeln, die in anderen Sprachen oft anders ausgedrückt werden). Die metasprachliche Komparabilität bezieht sich nicht auf die zu vergleichenden Segmente der Sprache selbst, sondern auf die Vergleichbarkeit der Beschreibungen der zu vergleichenden Sprachen. Für einen Sprachvergleich genügt also nicht die vorhandene Beschreibung der Einzelsprachen schlechthin, sondern es muss sich um vergleichbare Beschreibungen handeln, um Beschreibungen auf der Basis der gleichen Sprach- und Grammatiktheorie, mit Hilfe der gleichen Methoden und der gleichen Termini (also: um theoretische, methodologische und terminologische Vergleichbarkeit). Wenn diese nicht gegeben ist (ζ. B. beim Vorliegen einer generativen Beschreibung der betreffenden Kategorie im Englischen und einer strukturalistischen oder funktionalen Beschreibung derselben Kategorie im Deutschen), ist ein sinnvoller Vergleich mindestens erschwert, wenn nicht unmöglich: Die Beschreibungen müssten erst ineinander übersetzt werden, was beim gegenwärtigen Stand der Dinge zu kaum überwindbaren Schwierigkeiten führen würde. 4. Bereits die Einzelbeschreibungen vor dem eigentlichen Vergleich müssen für Deutsch als Fremdsprache (wie auch für jeden anderen Fremdsprachenunterricht) aus der Außenperspektive vorgenommen werden, so dass das Deutsche als „verfremdet" erscheint. Es ist ein häufiges Missverständnis, anzunehmen, dass die einzelsprachliche Beschreibung aus der Binnenperspektive vorgenommen werde und erst der (explizite) kontrastive Vergleich
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I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen
— gleichsam „zusätzlich" - die Außenperspektive ins Spiel bringe. Vielmehr unterscheiden sich Binnen- und Außenperspektive schon bei der Einzeldeskription. Deshalb wird grundsätzlich vom Unterschied zwischen „Muttersprach-" und „Fremdsprachengrammatiken" gesprochen (vgl. Art. 14, Abs. 2.7.). Weil die deutsche Sprache aus der Außenperspektive „verfremdet" erscheint, müssen Beschreibungen für Deutsch als Fremdsprache andere Proportionen der Teilgegenstände haben (als aus der „natürlichen" Binnenperspektive) und vor allem auch expliziter sein, damit Erklärungen abgegeben werden können für Lernende, die noch nicht über eine ausgebaute Kompetenz verfügen (wie die Muttersprachler) (vgl. Helbig/Buscha 1991, 17 f.). Diese tragende Idee liegt auch der Reihe „Eurogermanistik" zugrunde: Der eigenständige Beitrag der „Xeno-Germanisten" wird - völlig zu Recht - darin gesehen, dass das Deutsche für die ausländischen Germanisten immer eine Fremdsprache bleibt (folglich viele Eigenschaften ins Auge fallen, die dem Muttersprachler meist verschlossen bleiben), dass andererseits die deutsche Sprache „so weit zu erklären" ist, „daß sie lehr- und lernbar wird" (Valentin 1992, VII). 5. Kritische Stimmen gegen die konfrontative Analyse kamen auch von der empirischen Fehleranalyse, weil deren Ergebnisse nicht (immer) mit den Vorhersagen der konfrontativen Analyse übereinstimmten: Die Fehleranalysen wiesen Fehler nach, die die kontrastiven Analysen nicht vorhergesagt hatten, und umgekehrt fehlten in ihnen z. T. solche Fehler, die entsprechend den kontrastiven Analysen hätten auftreten müssen. Diesem Einwand ist freilich damit zu begegnen, dass konfrontative Analyse und empirische Fehleranalyse unterschiedliche Ziele verfolgen (die Fehleranalyse sammelt a posteriori alle Fehler, kann sie aber nicht erklären; die kontrastive Analyse richtet sich nur auf den Teilbereich der Fehler, die sich aus dem Verhältnis von Mutter- und Fremdsprache ergeben können) und folglich eher als komplementär anzusehen sind. 6. Im Zusammenhang mit der theoretischen Analyse von Fehlern wurde von anderer Seite gezeigt, dass sich im Lernprozess (unabhängig von den Muttersprachen) „Zwischensprachen" (mit bestimmten „Fehlern/Abweichungen") herausbilden, die als „approximative Systeme" zwischen den beiden Sprachen aufgefasst werden. Solche „Erwerbsfehler" wer-
den auf diese Weise nicht negativ bewertet, sondern sind Signale für Fortschritte im Lernprozess (die auf späteren Stufen dieses Prozesses wieder überwunden werden); dies gilt insbesondere für „Übergeneralisierungen" (z. B. des Typs *er schwimmte statt er schwamm; *ich musse statt ich muss). Der „Kontrastiven Hypothese" wurde somit die „Interferenzhypothese" gegenübergestellt, den Interimssprachen wandte sich vor allem die „Zweitsprachenerwerbsforschung" zu (Felix 1982). 7. Schließlich wurde der Wert der konfrontativen Analyse manchmal mit dem Argument in Frage gestellt, dass der Lernende ohnehin nicht vergleichen könne, weil er zumeist nicht bewusst und reflexiv über die Strukturen seiner Muttersprache verfüge. An diesem Argument mag die Prämisse richtig sein (in der Tat sind die meisten Lernenden nicht in der Lage, explizit über die Regeln ihrer Muttersprache Auskunft zu geben - trotz der vorhandenen Kompetenz, die jeweils ein implizites Wissen ist), die Schlussfolgerung ist jedoch nicht stichhaltig, weil sie den Nutzerkreis für kontrastive Analysen auf die Lernenden reduziert (und damit Lehrbuchautoren und Lehrer — als wichtige und unverzichtbare Vermittlungsinstanzen zwischen Linguistik und Sprachunterricht — überspringt). In Wahrheit sind die primären Nutzer kontrastiver Analysen die Lehrbuchautoren und Lehrer: Wenn das Lehrmaterial kontrastiv gestaltet ist und der Lehrer den Unterricht kontrastiv anlegt/steuert, muss der Lernende u. U. nicht selbst den Vergleich vornehmen. Auf jeden Fall sind kontrastive Analysen linguistischer (nicht didaktischer) Natur; deshalb bedürfen sie der Umsetzung aus der „linguistischen Grammatik" in eine „didaktische Grammatik" (vgl. Art. 15). Durch diese Einwände und Einschränkungen ist die ursprüngliche Euphorie im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit der konfrontativen Linguistik mancherorts in ihr Gegenteil umgeschlagen. Der anfänglichen í/fcerbewertung (als „Allheilmittel" für den Fremdsprachenunterricht, als Mittel zur Fehlerprognose) folgte eine - aus der Kritik erwachsene C/nterbewertung. Gegenüber diesen beiden (falschen) Extremen kommt es darauf an, nüchtern zu erwägen, was die Konfrontation leisten, was sie nicht leisten und was sie nur in Kooperation mit anderen Disziplinen leisten kann. Sie kann gewiss die einzelsprachliche Deskription (vor ihr) und auch die didaktische Adaption (nach ihr) nicht ersetzen;
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2. Linguistischer Ansatz
sie kann aber ebensowenig durch diese ersetzt werden. Um den Wert und Nutzen der konfrontativen Linguistik adäquat einzuschätzen, sollten auch ihre verschiedenen Möglichkeiten im Auge behalten werden: a) Ein konfrontativer Vergleich kann entweder eine Sprache auf eine andere abbilden: Dabei ist die Ausgangssprache das Bezugssystem für die Beschreibung der Zielsprache, dabei ist grundsätzlich keine Metasprache als Tertium comparationis außerhalb der zu vergleichenden Einzelsprachen — nötig, wird in der Regel nur eine Sprache (die Fremdsprache) vollständig und systematisch beschrieben, die als Bezugspunkt dienende Sprache tritt dagegen nur selektiv in Erscheinung; dieser Vergleich kann immer nur in einer Richtung vorgenommen werden, ist also unilateral. Oder er kann eine vollständige Beschreibung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden der zu vergleichenden Sprachen anstreben, bei der beide Sprachen gleichwertig sind (ein solcher Vergleich ist bilateral, also in beiden Richtungen durchführbar, ist aber auf eine Metasprache als gemeinsames Bezugssystem angewiesen, d. h. auf ein unabhängig von den Einzelsprachen existierendes oder hypothetisch anzunehmendes Merkmaloder Regelsystem, das mindestens interlingual, wenn nicht universal sein sollte, das aber bisher nur in Ansätzen vorliegt, von unterschiedlichen Grammatiktheorien abhängig ist und deshalb nicht immer allgemein akzeptiert wird — vgl. etwa die distinktiven Merkmale der Phonologie, die semantischen Merkmale u. a.). Nicht zufallig ist gewiss, dass der deskriptive Strukturalismus eher zu einem unilateralen Vergleich neigt (vorhandene Gemeinsamkeiten von Sprachen treten bei ihm ohnehin in den Hintergrund), die generative Grammatik dagegen (auf Grund ihres komplexen Modells mit mehreren Repräsentationsebenen eher zu einem bilateralen (oder multilateralen) Vergleich. b) Damit zusammen hängt die Unterscheidung zwischen der Konfrontation als Methode zur Gewinnung neuer linguistischer Erkenntnisse (als Ermittlungsmethode) und der Konfrontation als Mittel zur Darstellung linguistischer Erkenntnisse (als Darstellungsmethode) (vgl. Jäger 1972, 233 ff.). Bei der Konfrontation als Ermittlungsmethode ist in der Regel nur eine Sprache (vollständiger) Gegenstand der Beschreibung, die andere ist (gelegentliche) Bezugsgröße: Eine Sprache
wird in den Termini der anderen beschrieben, die ihrerseits lediglich als Hintergrund und Anknüpfungspunkt erscheint, aber nicht als vollständiger Gegenstand der Beschreibung. Die Konfrontation als Ermittlungsmethode ist oft und längst bewusst von Sprachwissenschaftlern und intuitiv auch von Fremdsprachenlehrern (meist nicht systematisch, eher spontan) benutzt worden mit dem Ziel, von verschiedenen Erscheinungen einer Sprache Β her bestimmte Erscheinungen einer Sprache A (der eigentlich zu beschreibenden Sprache) zu differenzieren und abzugrenzen (ζ. B. Bedeutungsvarianten von deutschen Präpositionen oder Konjunktionen durch Vergleich mit Äquivalenten in anderen Sprachen), ohne dass dies - als bloße Ermittlungsprozedur in die Darstellung selbst eingeht (vgl. Heibig/ Buscha 1990). Bei der Konfrontation als Darstellungsmethode geht es um weit mehr: um eine systematische und vollständige Erfassung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden sowie um eine Korrelation der Ausdrucksmittel beider Sprachen, die auf diese Weise gleichwertig sind, c) Diese Unterscheidung lässt zugleich erkennen, dass einzelsprachliche Deskription und Konfrontation nicht in einen absoluten Gegensatz zueinander gebracht werden können: Es gibt einzelsprachliche Beschreibungen des Deutschen, die sich der Konfrontation als Ermittlungsmethode bedienen. Darüber hinaus besteht zwischen Einzelbeschreibung und konfrontativem Vergleich kein unidirektionales Verhältnis. Obwohl grundsätzlich der konfrontative Vergleich die einzelsprachlichen Beschreibungen voraussetzt, gibt es Rückwirkungen des Vergleichs auf die einzelsprachliche Deskription, vor allem durch Reinterpretationsmöglichkeiten für die Einzelsprache, die sich erst aus dem Vergleich ergeben.
5.
System vs. Kommunikation
Eine weitere Kontroverse innerhalb des linguistischen Ansatzes ist mit der (einseitigen) Orientierung entweder am internen Sprachsystem oder an der Kommunikation verbunden. Bei der linguistischen Beschreibung des Deutschen als Fremdsprache sollte es sich nicht um einseitige und verkürzte Beschreibungen handeln, weder um eine Reduzierung auf die Grammatik noch um eine solche auf kommunikativ-pragmatische Sachverhalte. Nachdem früher das Sprachsystem im Mittel-
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punkt (sowohl in der linguistischen Beschreibung als auch bei der Vermittlung im Fremdsprachenunterricht) stand, hat sich in neuerer Zeit ein (scheinbarer) Gegensatz herausgebildet, bedingt durch die „kommunikativ-pragmatische Wende" in der Sprachwissenschaft seit 1970 (das Interesse verlagerte sich von den internen - morphosyntaktischen und semantischen - Eigenschaften des Sprachsystems auf die Funktionen der Sprache in der Kommunikation und Interaktion) und die kommunikative Orientierung des Fremdsprachenunterrichts (primäre Ziele waren nicht mehr Kenntnisse, sondern Fähigkeiten und Fertigkeiten). „Grammatik" und „Kommunikation" sind geradezu Reizwörter geworden; es schien zeitweilig, als ob Grammatik und Kommunikation in einem alternativen Verhältnis zueinander stünden (vgl. Heibig 1987; 1991; 1992a, 1994, 91 f.; 1997a, 96ff.; 1997c; Götze 1991; 1995). Vielerorts hat sich die (wiederum einseitige) Vorstellung festgesetzt, es komme ausschließlich auf die Kommunikation an, sprachsystematische Erkenntnisse indes seien sekundär oder gar überflüssig. Auf diesem Wege ist die Grammatik in ungerechtfertigter Weise in Verruf gebracht worden (auch in ihrer Bedeutung für den Fremdsprachenunterricht) - , gewiss bedingt auch durch ein zu enges Verhältnis von Grammatik (beschränkt nur auf die Morphosyntax oder gar nur auf Konjugations- und Deklinationsparadigmen). Inzwischen hat sich jedoch gezeigt, dass sich die Grammatik nicht aus dem Fremdsprachenunterricht hat vertreiben lassen (vgl. auch Glück 1994, 155f.; Rosier 1994, 57ff.; Gnutzmann/Königs 1995, 13; Götze 1993); es hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass auch ein kommunikativer Unterricht eine grammatische Komponente enthalten muss, das zwischen den Reizwörtern „Grammatik" und „Kommunikation" nur eine unechte Alternative besteht, weil die kommunikative Kompetenz (als Ziel) die grammatische Kompetenz (als Mittel) einschließt bzw. voraussetzt. Das gilt sowohl für die Sprachwissenschaft selbst als auch für den Fremdsprachenunterricht. In der Sprachwissenschaft wurde die „kommunikativ-pragmatische Wende" vor allem motiviert durch die bisherige Reduktion auf das interne Sprachsystem und die stärker akzentuierte Einsicht, dass die sprachlichen Zeichensysteme kein Selbstzweck sind, sondern — als Kommunikationsmittel und Handlungsinstrumente - zu außersprachlichen Zwecken dienen, also auch von
„externen" Faktoren determiniert und nur auf diese Weise vollständig zu erklären sind. Das führte zu einer Abwendung von der reinen „Systemlinguistik" (wie sie vielfach abschätzig genannt wurde) zu einer mit der Kommunikationslinguistik verknüpften Ausweitung des Gegenstandsbereichs der Sprachwissenschaft und zum Entstehen neuer Teildisziplinen wie ζ. B. Textlinguistik, Sprechakttheorie, Gesprächsanalyse, Sozio- und Psycholinguistik (die Ausschnitte aus einem komplexen Objektbereich darstellen und deshalb auch untereinander zusammenhängen). Bei dieser Entwicklung wurde der Kommunikationsbegriff oft überbetont und entleert, wurde auch das alte Wertesystem (mit dem absoluten Vorrang des Sprachsystems) oft einfach und undialektisch umgekehrt, und so vollzog sich mancherorts eine ersatzlose Abkehr von der Grammatik und von der Systemlinguistik, die schließlich dazu führte, dass spezifisch sprachliche Aspekte in den Hintergrund traten und eher im Rahmen soziologischer, psychologischer und kommunikationstheoretischer Gesichtspunkte behandelt wurden (vgl. Mötsch 1984, 328). Was als Gegenstandserweiterung legitim und notwendig war, wurde als Gegenstandslose/, als Ersatz eines alten Gegenstands (Grammatik) durch einen neuen Gegenstand (Kommunikation), verstanden und (miss-)interpretiert (vgl. Härtung 1981, 1311). Die Polemik gegen die Grammatik wird immer dann ungerechtfertigt, wenn sich die kommunikativ orientierte Linguistik gegen die Grammatik zu profilieren sucht und sich auf diese Weise vom Sprachsystem abkoppelt. Demgegenüber hat sich in zunehmendem Maße die Einsicht durchgesetzt, dass das alte Wertesystem nicht einfach umgekehrt werden darf, dass das Sprachsystem vielmehr in Beziehung zu setzen ist zu anderen und übergreifenden (kommunikativen und interaktionalen, psychologischen und sozialen) Determinanten, dass es aber eine entscheidende Rolle bei der Erforschung natürlicher Sprachen behält (behalten muss). Vor allem im Rahmen von modularen Konzepten der kognitiven Linguistik ist deutlich geworden, dass Struktur und Funktion von Kenntnissystemen durch relativ autonome, aber interagierende Teilsysteme (Module) bestimmt sind, dass konkrete Verhaltensabläufe in der Regel nicht von einem einzigen Kenntnissystem, sondern von mehreren Kenntnissystemen determiniert sind (vgl. Bierwisch 1987, 645 ff.). Das hat entscheidende Konsequenzen für die Sprachkenntnis,
2. Linguistischer Ansatz
für die Einbettung der Sprachkenntnis in die Gesamtheit mentaler Kenntnissysteme und für das Verhältnis zwischen Grammatik und Kommunikation: So bedarf ζ. B. die „wörtliche Bedeutung" einer Äußerung (gleichsam im Null-Kontext) - die allein durch sprachliches Wissen aufgrund von Kenntnissen des Sprachsystems zustande kommt (basierend auf Regeln phonetischer, morphosyntaktischer und semantischer Art) - zunächst der Beziehung auf das konzeptuelle System des begrifflichen Wissens und der begrifflich strukturierten Umwelterfahrung (dadurch entsteht eine „kontextuelle Äußerungsbedeutung") und danach in einem weiteren Schritt auf die soziale Interaktionssituation (aus der sich erst der „kommunikative Sinn" einer Äußerung ergibt (vgl. Bierwisch 1979, 69ff.). Auf diese Weise erhält die Grammatik - im Gegensatz zu den häufig anzutreffenden Polarisierungen Grammatik versus Kommunikation - ihren adäquaten Ort im Gesamtgefüge von Kommunikation und Interaktion. Der kommunikative und interaktionale Aspekt der Verwendung von Sprache wird durch das Zusammenwirken von relativ autonomen Teilsystemen begriffen. Von ihnen ist eines das von der Linguistik zu erfassende Sprachsystem, das allerdings das zentrale Modul ist, auch wenn es nicht verabsolutiert werden darf. Insofern wird weder eine Überbewertung der Grammatik (wenn das Modul der sprachlichen Kenntnis zuungunsten anderer Module ausgedehnt wird oder als einziges System für die Sprachverwendung angesehen wird - wie ζ. B. in früheren Versionen der generativen Grammatik) noch eine Unterbewertung (wie in kommunikativen Konzepten holistischer Provenienz) ihrer Rolle im Kommunikations- und Interaktionsprozess gerecht. In diesem Zusammenhang steht auch das mancherorts kontrovers diskutierte Problem, ob die kommunikative Orientierung der Linguistik notwendigerweise auch zu einer neuen Art von Grammatik, zu einer „kommunikativen", „situativen" oder „pragmatischen Grammatik" führen müsse (vgl. Heibig 1986b, 14ff.; vgl. Art. 14, Abs. 3.7.). Gegen die Befürworter eines solchen Standpunktes hat Admoni (1979) — u. E. zu Recht - argumentiert, dass „Grammatik Grammatik bleibt", weil die kommunikativen Determinanten sich zwar auf die Grammatik auswirken und ihre „Projektionen" in der Grammatik haben, aber selbst nicht einfach grammatischer Natur sind. In der Tat sind nicht alle Ausdrucks-
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formen kommunikativ-pragmatisch motiviert oder auch nur markiert, wie umgekehrt auch nicht alle pragmatischen Faktoren einen Reflex in der Grammatik haben (vgl. Heibig 1979, 11 ff.). Die Partikeln ζ. B. sind in starkem Maße von pragmatischen Faktoren (der Sprechhandlung, des Gesprächsablaufs und der Textkonnexion) abhängig, folglich morphosyntaktisch und semantisch kaum vollständig zu erfassen (vgl. Heibig 1988b). Auf der anderen Seite entziehen sich Fragen der Konjugation, der Deklination sowie der Oberflächenkasus weitgehend pragmatischen Erklärungen. Insofern ist Vorsicht geboten bei Schlagwörtern wie „kommunikative" oder „pragmatische Grammatik", weil sie die Gefahr implizieren, Grammatik und Kommunikation zu vermischen oder zu identifizieren (und dabei die Grammatik zu überfordern, indem sie diese auf regelgeleitetes Verhalten überhaupt ausdehnen). Dass sich sprachsystematische (grammatische) und kommunikative (funktionale) Regeln nicht decken und in keinem 1:1-Verhältnis zueinander stehen, zeigt sich selbst im Bereich der „Satzarten" (d. h. der Unterscheidung von Aussage-, Frage-, Aufforderungssätzen u. a.), in dem man - schon von der Terminologie her - am ehesten eine „funktional-kommunikative" Erklärung erwarten könnte. In der Tat hat man lange Zeit geglaubt (und gelehrt), dass eine Frageintention immer durch einen Fragesatz, eine Aufforderungsintention immer durch einen Aufforderungssatz ausgedrückt werden usw. Inzwischen ist längst deutlich geworden, dass es keine direkte Entsprechung von Frage und Fragesatz, Aufforderung und Aufforderungssatz gibt. Wunderlich (1978, 181 ff.) hat mit Recht zwischen Fragesituation, Fragehandlung und Fragesatz unterschieden: Fragesituationen (in denen etwas „unklar" ist) müssen nicht notwendig zu Fragehandlungen führen (zu Aufforderungen an einen Adressaten, ein Informationsdefizit zu beheben), und Fragehandlungen müssen nicht notwendig mit Hilfe von (grammatischen) Fragesätzen ausgedrückt werden. Es ist gerade ein wesentliches Verdienst der Sprechtakttheorie gewesen, zu zeigen, dass ζ. B. Aufforderungen eben nicht nur in Aufforderungssätzen, sondern — in entsprechenden Kontexten grammatisch auch als Aussagesätze (Es zieht hier — als Aufforderung zum Schließen des Fensters) oder als Fragesatz (Könnten Sie mir Feuer geben?) formuliert werden können. In der Sprache gibt es nicht nur grammatische
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I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen
Regeln (die die Zuordnung von Form und Bedeutung betreffen), sondern auch kommunikative Regeln (die die Verwendung von sprachlichen Mitteln für bestimmte Sprechhandlungen regeln) - und beide Arten von Regeln sind nicht einfach aufeinander reduzierbar: (1) A: B: (2) A: B:
Kannst du mir sagen, wie spät es ist? *Ja (, das kann ich). Kannst du das Fenster öffnen? *Ja, ich kann das Fenster öffnen.
In beiden Fällen ist die Antwort von Β grammatisch richtig: Auf Entscheidungsfragen wird mit Sätzen, mit Satzäquivalenten oder mit Modalwörtern geantwortet. Aber in beiden Fällen sind die Antworten von Β kommunikativ inadäquat, weil in (1) als Antwort die konkrete Angabe der Uhrzeit, in (2) gar eine non-verbale Reaktion (das tatsächliche Öffnen des Fensters) erwartet wird. Der grammatische Satz als Entscheidungsfrage (von A) wird — im entsprechenden Kontext - kommunikativ für eine Sprechhandlung der Aufforderung verwendet. In Analogie zur Sprachwissenschaft entstand auch im Fremdsprachenunterricht eine „Entzweiung" durch die alternative Orientierung auf die beiden Stichwörter „Grammatik" oder „Kommunikation". Wie durch die kommunikativ-pragmatische Wende in der Linguistik eine Abkehr von der (ausschließlichen oder primären) Systemorientierung erfolgte, so wurden im Fremdsprachenunterricht die (älteren) grammatikalisierenden Übersetzungsmethoden abgelöst durch (Jüngere) kommunikative Methoden. Diese Ablösung war motiviert durch die praktischen Bedürfnisse des Fremdsprachenunterrichts, vor allem durch den Umstand, dass die grammatikalisierenden Übersetzungsmethoden bestenfalls zu Kenntnissen über die Sprache, aber kaum zu kommunikativen Fähigkeiten und Fertigkeiten in der zu lernenden Sprache führten, also die Lernenden in der Regel nicht zur Sprachbeherrschung, zur Verwendung der Fremdsprache in der tatsächlichen Kommunikation führten. Diese berechtigte Umorientierung (mit dem Ziel des Erwerbs einer „kommunikativen Kompetenz") führte nun freilich häufig zum entgegengesetzten Extrem: Die Grammatik wurde unterbewertet, oft sogar in ihrem Wert für den Fremdsprachenunterricht bezweifelt, ihr Anteil am Unterricht minimiert, ihr Charakter bisweilen auch verschleiert (vgl. Heibig 1991, 7ff.; 1997c, 264 ff.).
Gegen diese neue Vereinseitigung sind in jüngster Zeit immer mehr Zweifel artikuliert worden. Es ist vor kurzschlüssigen Verabsolutierungen des Kommunikationsgedankens gewarnt worden (vgl. ζ. B. Gnutzmann/Stark 1982, 20; Reinecke 1985, 17ff.), die den Zusammenhang der kognitiven und kommunikativen Funktion der Sprache missachten, die Relevanz des Sprachsystems unterbewerten sowie die Prozesse des Muttersprach- und Fremdsprachenerwerbs weitgehend gleichsetzen. Diese Skepsis — auch bei Anerkennung einer letztlich kommunikativen Orientierung des Fremdsprachenunterrichts und der „kommunikativen Kompetenz" als dessen Ziel ist schon deshalb berechtigt, weil - auch wenn im Fremdsprachenunterricht eine volle Sprachbeherrschung wie beim Muttersprachler als Ziel angestrebt wird - die Wege zu diesem Ziel bei Muttersprach- und Fremdsprachenerwerb verschieden sind: Die areflexive Beherrschung als Ziel bedeutet für den Fremdsprachenunterricht nicht automatisch auch einen areflexiven Erwerb als Mittel (das hängt von unterschiedlichen Lernsituationen ab und gilt keineswegs - im Unterschied zum natürlichen Erwerb der Muttersprache - für die meisten Formen des institutionalisierten Fremdsprachenerwerbs im Unterricht). Dazu kommt, dass der Begriff der Kommunikation oft allzu stark auf die aktive Kompetenz (meist sogar auf die mündliche Kommunikation nur in einfachen Alltagssituationen) eingeschränkt und damit auch verengt worden ist - mit dem Ziel des Zustandekommens der Kommunikation „um jeden Preis". Kommunikation ist zweifellos mehr und umfassender, schließt auch die Rezeption, Dialog sowie Texte aus Massenmedien, Belletristik und Wissenschaft ein, die ein weit höheres Maß an sprachlichem Wissen erfordern. Die unangemessene Aversion gegen die Grammatik (auf Grund einer extremen Kommunikationsorientierung) führte vielfach auch zu der falschen Alternative „grammatische Regeln oder kommunikativer Fremdsprachenunterricht" (vgl. Heibig 1987). Diese Alternative ist deshalb falsch, weil grammatische Regeln objektiv in der Sprache selbst gelten (unabhängig von ihrer Beschreibung durch die Linguisten und auch von ihrer Beherrschung durch die Sprecher), weil sie deshalb von den Linguisten (und zwar so genau und so vollständig wie möglich) abgebildet werden müssen und auch von den Sprechern (und zwar ebenso vollständig und genau wie möglich) beherrscht, d. h. in ihrer „subjektiven" oder
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2. Linguistischer Ansatz
„mentalen Grammatik" erworben und interiorisiert werden müssen. Das wird deutlich in „Abweichungen": (3) *Er springte über den Bach. (4) *Er besuchte jeden Tag. (5) * Peter stirbt manchmal. Es ist offenkundig, dass in (3) eine morphologische Regel (der Konjugationsart: regelmäßig vs. unregelmäßig), in (4) eine syntaktische Regel (der Valenz) und in (5) eine semantische Regel (Kompatibilität von semantischen Merkmalen) verletzt sind - , sämtlich also Regeln, die in der Sprache selbst enthalten sind, von Linguisten ermittelt und vom Lernenden erworben werden müssen. Damit hängt die alte Streitfrage nach dem Wert (oder Unwert) der Grammatik für den Fremdsprachenunterricht zusammen. Ihre unterschiedliche Beantwortung ergibt sich vor allem aus der Mehrdeutigkeit dessen, was als „Grammatik" bezeichnet wird. Gewiss wird man den Wert der Grammatik für den Fremdsprachenunterricht als gering veranschlagen, wenn man unter Grammatik das bloße Lernen von Konjugations- und Deklinationstabellen, eine logisierende Satzanalyse im traditionellen Sinne oder ein universelles logisches System versteht (vgl. Fries 1945, 27 ff.). Wenn man jedoch Grammatik als Zuordnung von Formen und Bedeutungen (in den drei genannten verschiedenen Ausprägungsarten - in der Sprache selbst, im linguistischen Abbild und als mentale Grammatik im Sprecher) versteht, kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Grammatik für jeden (also auch für den kommunikativen) Fremdsprachenunterricht unverzichtbar ist. Eine ganz andere Frage ist es, wie dies geschieht (entweder explizit oder implizit über Patterns bzw. prototypisches Sprachmaterial), wann dies geschieht (geschehen sollte) und wie viel dazu nötig ist. Dies sind bereits spezielle Fragen didaktisch-methodischer Art, die von der gesamten Faktorenkomplexion des jeweiligen konkreten Sprachunterrichts abhängen, die aber die Grundfrage Pro oder Contra Grammatik im Fremdsprachenunterricht nicht tangieren. Und bei dieser Grundfrage gilt - vor allem für den Lehrer, erst recht für den Lehrbuchautor - , dass er die Fremdsprache nicht nur können, sondern auch kennen muss. Er muss nicht nur kommunikative Fähigkeiten und Fertigkeiten in der betreffenden Fremdsprache (in unserem Falle: des Deutschen), sondern auch (kognitiv) gute Kenntnisse über diese Sprache -
d. h. nicht zuletzt auch über das Sprachsystem - haben. Deshalb hat auch Glück (1994, 155f.) zu Recht, wenn auch sehr zugespitzt - betont, dass man Sprachen „immer noch lernt, indem man Vokabeln paukt und sich grammatische Strukturen erkämpft", „alles andere" komme dann später; die „Geschäftsgrundlagen" (d. h. Grammatik und Lexikon als Komponenten des Sprachsystems) blieben bei aller kommunikativen und interaktionalen Orientierung „unveränderbar". Das macht den „Kernbereich" der Disziplin der germanistischen Linguistik und auch der linguistischen Komponente von Deutsch als Fremdsprache aus — auch wenn sowohl die germanistische Linguistik als auch Deutsch als Fremdsprache bisweilen (nicht zuletzt auch durch die kommunikative Wende) in ihrem Kern eher „verrotteten", dafür an ihren Rändern blühten (vgl. Glück 1998, 5ff.) einerseits ein Symptom für die viel beschworene „Krise" der Germanistik, andererseits zum Schaden von Theorie und Praxis auch des Faches Deutsch als Fremdsprache. 6.
G r a m m a t i k vs. Lexikon
Mit Grammatik und Lexikon sowie ihrem Verhältnis zueinander ist ein weiteres Problem innerhalb des linguistischen Ansatzes benannt. Unumstritten ist gewiss, dass bei Sprachverwendung und Spracherwerb Grammatik und Lexikon notwendigerweise zusammenwirken. Strittig hingegen ist, wo die Grenze zwischen beiden Bereichen liegt, wie sie sich überhaupt zueinander verhalten und ob die Grammatik oder die Lexik für die Sprache und für den Fremdsprachenunterricht „wichtiger" seien. In der zuletzt genannten Frage gab (und gibt) es erhebliche Meinungsunterschiede: Für den Primat der Grammatik wurde (vor allem in strukturalistischer Tradition) argumentiert, weil die Grammatik als Basis der Strukturen am Anfang erworben werden müsse (während die Lexik darauf aufbaut und ihr Ausbau in langen Zeiträumen erfolge) (vgl. ζ. B. Fries 1945, 1 ff.). Umgekehrt gab es eine Vorrangstellung der Lexik vor allem unter dem Aspekt, dass sie für die Kommunikation unverzichtbar sei und man sich notfalls (wenn auch sehr elementar) allein mit Wörtern, aber nicht allein mit Grammatik verständigen könne. Diese Polarisierung hat ihre Ursache in der Vorstellung, dass es sich bei Grammatik
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I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen
und Lexik um die zwei grundlegenden Komponenten der Sprache (als Zeichensystem) handele, die sich einerseits notwendig ergänzen, die andererseits aber auch nebeneinander stehen oder sich gar gegenüberstehen. Nach dieser Vorstellung umfasst das Lexikon die Gesamtheit der Wörter als die für die Äußerung bereitstehenden „Elemente", die mit Hilfe der Grammatik durch bestimmte Regeln zusammengefügt werden. Dieser Vorstellung entsprechen auch viele Erfahrungen aus dem traditionellen schulischen Lernen von Fremdsprachen: Gewöhnlich wurde im Lehrbuch die Grammatik als isoliertes Regelwerk (oft sogar mit starker Betonung von Konjugations- und Deklinationsparadigmen) vermittelt, an späterer Stelle folgte dann das „Vokabular", dem ein Bezug zur Grammatik meist fehlte. Dieses herkömmliche Bild führte zu einem (zu) engen Verständnis von Gramatik (und brachte auf diese Weise die Grammatik im Fremdsprachenunterricht in Verruf) und wird auch jüngeren Einsichten über das Verhältnis von Grammatik und Lexikon nicht gerecht (vgl. Heibig 1988a, 1997d). Seit langem wird der Begriff der „Grammatik" in der Linguistik nicht mehr nur auf die Morphologie und Syntax bezogen, sondern auf die inneren Regularitäten des Sprachsystems insgesamt. Mindestens lassen sich heute - vom Umfang her - zwei unterschiedliche Konzepte von „Grammatik" erkennen: a) Grammatik im engeren Sinne als Lehre von den morphologischen und syntaktischen Regularitäten, die „die Bildung verschiedener Formen gleicher Wörter und ihre Verknüpfung zu Wortgruppen und Sätzen beschreibt" (Conrad 1985, 86), also — wie im traditionellen Sinne - nur die Morphologie und die Syntax umfasst (unter Ausschluss des Lexikons und der Semantik); b) Grammatik im weiteren Sinne als Abbildung des gesamten Sprachsystems, als Regelsystem, das die Zuordnung von Laut-(Form-) und Bedeutungsseite der Sprache generell betrifft, folglich die Menge der möglichen Sätze einer Sprache definiert und allen sprachlichen Produktions- und Rezeptionsprozessen zugrunde liegt; Grammatik umfasst hier nicht nur Morphologie und Syntax, sondern auch Phonetik/Phonologie, das Lexikon und die Semantik. Vereinfacht ausgedrückt: Semantik und Lexikon stehen beim engeren Konzept außerhalb der Grammatik (so dass die Vorstellung von
einer Gegenüberstellung von Grammatik und Lexikon einerseits, von Grammatik und Semantik andererseits entstehen konnte), beim weiteren Konzept jedoch innerhalb der Grammatik (so dass ihr Verhältnis zueinander neu durchdacht werden muss). Das jüngere und weitere Konzept setzte sich zunehmend durch, da das engere Konzept mit bestimmten Unzulänglichkeiten behaftet war, die das Verhältnis von Grammatik und Lexikon betreffen - mindestens unter zwei Aspekten: Einerseits entstand vielerorts die Vorstellung - da die Grammatik im engeren Sinne sowohl dem Lexikon als auch der Semantik gegenübergestellt wurde - , dass der Unterschied zwischen Grammatik und Lexik etwas zu tun habe mit dem Unterschied zwischen Grammatik und Semantik, dass er - im Extremfalle - sogar durch diesen Unterschied begründet werden könne. Eine solche Gleichsetzung ist schon deshalb nicht adäquat, weil sie die Voraussetzung implizieren würde, dass nur die Lexik, nicht aber die Grammatik über Bedeutung verfüge. In Wirklichkeit darf die Semantik keineswegs auf die lexikalischen Elemente beschränkt, sondern muss auch vielen Einheiten zugeschrieben werden, die im herkömmlichen (und engeren) Sinne als grammatisch bezeichnet werden. Das bedeutet wiederum nicht, dass alle morphosyntaktischen Einheiten über Bedeutung verfügen (die substantivischen Deklinationsklassen und die Rahmenbildung ζ. B. nicht), bedeutet auch nicht, dass ihnen immer in direkter Weise eine Bedeutung zugeschrieben werden muss, dass zwischen Form und Bedeutung immer ein 1:1-Verhältnis bestünde (vgl. ζ. B. das komplizierte Verhältnis von Tempusformen und Zeitbedeutungen, Modus und Modalität usw.). Dennoch darf die Semantik prinzipiell nicht auf die Wortbedeutung reduziert werden, darf zwischen Grammatik und Semantik weder eine scharfe Trennungslinie gezogen noch einfach ein Gleichheitszeichen gesetzt werden. Die Semantik trennt nicht Grammatik und Lexikon, sondern verbindet sie. Andererseits wird oft angenommen, dass die Gegenüberstellung von Grammatik und Lexikon funktional begründet sei, dass - vereinfacht ausgedrückt - die Lexik die Funktion habe, die Erscheinungen (im weitesten Sinne) zu bezeichnen, die Grammatik aber dazu diene, lexikalische Elemente zu Wortgruppen und Sätzen zu verknüpfen. Auch diese funktionale Begründung ist in mehrfacher Hinsicht anfechtbar: Eine Bezeichnungs-
2. Linguistischer Ansatz
funktion kommt zwar den Substantiven zu, aber nicht in gleicher Weise allen anderen Wortklassen, vor allem nicht den „Funktionswörtern" (bei den Konjunktionen und Präpositionen dominiert umgekehrt die Verknüpfungsfunktion). Vor allem jedoch ist offenkundig, dass mitunter dieselben Bedeutungen in einer Sprache grammatisch (d. h. morphosyntaktisch), in einer anderen Sprache lexikalisch ausgedrückt werden können oder müssen (so fehlt ζ. B. für den Artikel in slawischen Sprachen als Äquivalent eine grammatische Kategorie, hingegen für die Aktionsarten eine direkte grammatische Entsprechung im Deutschen). Selbst innerhalb einer Sprache können bestimmte Bedeutungen grammatisch und/oder lexikalisch ausgedrückt werden (die Bedeutung „Zukünftiges" ζ. B. durch die grammatische Form des Futur I oder durch eine lexikalische Adverbialangabe: Ich werde nach Frankreich fahren — Ich fahre morgen nach Frankreich). Grammatische und lexikalische Bedeutungen sind offensichtlich nicht so verschieden, dass auf diese Weise ein prinzipieller funktionaler Unterschied zwischen Grammatik und Lexikion) legitimiert werden könnte. Deshalb verwundert es nicht, dass es längst skeptische Stimmen gegen die herkömmliche Trennung und Gegenüberstellung von Grammatik und Lexikon gab. Es wurde darauf hingewiesen, dass „das Wörterbuch keinen anderen Stoff als die Grammatik" darstelle, vielmehr eher „die alphabetische Inhaltsangabe zu ihr" liefere (Schuchardt 1922, 127), dass die Grammatik kaum mehr als eine Menge von Verallgemeinerungen über einem guten Lexikon liefere (vgl. Wiegand 1985, 14f.). Für das Deutsche hat vor allem Glinz die übliche Unterscheidung zwischen Grammatik und Lexikon bezweifelt und gefragt, „ob es zwischen ihnen überhaupt eine sichere Grenze gibt oder nur der ,Grad der Einmaligkeit eines Gefüges' verschieden ist", ob die Grammatik nicht „nur die praktische Zusammenfassung dessen bedeutet, was sich in der Sprache an allgemeiner Struktur gegenüber den jeweiligen Einzelfallen abheben und zusammenfassen läßt" (Glinz 1961, 40, 393f., 477f.). Dahinter verbirgt sich die Einsicht, dass es sich nicht um einen funktionalen Unterschied zwischen den beiden Komponenten handelt, vielmehr um einen Unterschied im Aspekt (Allgemeines vs. Besonderes) und im Grad der Verallgemeinerung. Es ist teilweise derselbe Stoff, es sind teilweise dieselben Fakten, die unter unterschiedlichen
25 Aspekten dargestellt werden, die sich ihrerseits aus dem Grad der Verallgemeinerung ergeben. Auch in der jüngsten grammatiktheoretischen Diskussion (vor allem im Rahmen der generativen Grammatik) änderten sich die Erkenntnisse über das Verhältnis von Grammatik und Lexikon. Das ursprünglich als peripher angesehene und von der Syntax getrennte Lexikon trat in das Zentrum der Aufmerksamkeit, wurde nicht nur zu einer selbständigen, sondern sogar zu einer zentralen Komponente der Grammatik. Begründet wird diese neue Erkenntnis dadurch, dass sich der kompositioneile Aufbau der Grammatik in spezifischer Weise im Aufbau des Lexikons (d. h. in den Lexikon-Einträgen) reflektiert, dass auch das Lexikon (als Teil der Grammatik) die Zuordnung von Form und Bedeutung regelt und sich im Lexikon die an eine Lexikoneinheit gebundene Information auf die übrigen Repräsentationsebenen verteilt (vgl. Steinitz 1984, 1; 1985, lf.). Die Zuordnung der verschiedenen Komponenten der Grammatik erfolgt also in entscheidendem Maße mit Hilfe des Lexikons und drückt sich in der Struktur jedes Lexikon-Eintrags aus. Auf diese Weise (durch die Teilhabe an der Form-Bedeutungs-Zuordnung) erweist sich das Lexikon als (wesentlicher) Teil, als Komponente der Grammatik. Es unterscheidet sich von den anderen Komponenten nicht grundsätzlich und funktional, nicht durch die Spezifik seiner Einheiten und Regeln, sondern durch den anderen Aspekt und den anderen Grad der Verallgemeinerung sowie durch das spezifische Zusammenspiel von Informationen aus allen übrigen Repräsentationsebenen und die daraus resultierende spezifische Weise ihrer Bindung an eine Lexikoneinheit, d. h. ihrer Integration in einem gebündelten Lexikon-Eintrag (mit semantischen, syntaktischen, morphologischen und phonologischen Informationen). Diesen (eher theoretischen) Einsichten der Grammatik entsprechen ähnliche Forderungen und Praktiken der Lexikologen, Lexikographen und Grammatikographen. Lexikographen verlangen — mit Recht — „mehr Grammatik im Wörterbuch", eine Grammatik als integralen Bestandteil des Wörterbuchs. Das drückt sich gleichermaßen programmatisch wie salomonisch in dem Postulat von Schaeder (1981, 69) aus: „Die Beschreibung der grammatischen Regularitäten in einer Grammatik kann nicht ohne lexikalische Informationen, die Beschreibung der Le-
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I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen
xik nicht ohne grammatische Informationen gelingen." Dieser Zusammenhang ist längst auch deutlich geworden in jüngeren Grammatiken des Deutschen, vor allem solchen für Deutsch als Fremdsprache. Die Motivierung für solche „Grenzüberschreitungen" von der Grammatik (im engeren Sinne) zum Lexikon waren mehrfacher Art (vgl. Helbig/Buscha 1990, 193f.; Heibig 1997d, 8ff.):
Aspekt des Besonderen (von Einträgen zu Wörtern als Lexikoneinheiten) dargestellt. Der Zusammenhang ist offenkundig und lässt deutlich werden, dass es weder eine Grammatik ohne Lexikon noch ein Lexikon ohne Grammatik geben kann.
1) Schon unter linguistischem Aspekt genügte es nicht, nur „allgemeine" Regeln anzugeben. Diese Regeln mussten vielmehr spezifiziert werden in Richtung auf einzelne Subklassen von Wörtern oder - im Extremfall auf einzelne Wörter (auf die sie nur zutreffen). Das führte zur Angabe von umfangreichen Listen von Wörtern, die die Zutreffensmöglichkeiten von allgemeinen (grammatischen) Regeln exemplifizieren sollten (ζ. B. zur Rektion, zu den Funktionsverbgefügen usw.). Die Morphosyntax (als Grammatik im engeren Sinne) stieß an ihre Grenze und bedurfte der Spezifizierung durch lexikalische Einheiten. Wenn sich Grammatik und Lexikon wie das Allgemeine zum Besonderen zueinander verhalten, steht das Lexikon nicht schlechthin der Grammatik gegenüber, sondern die Grammatik (als Verallgemeinerung über dem Lexikon) setzt das Lexikon bereits voraus, wie andererseits das Lexikon die (notwendige) Spezifizierung der Grammatik (ihrer allgemeinen Regeln und Klassenbildungen) ist. 2) Unter dem Aspekt des Informationsund Lernwerts enthalten manche Grammatiken „Doppelungen", indem sie neben dem eigentlich grammatischen Befund (einer verallgemeinerten Klassenbildung nach morphologischen, syntaktischen und semantischen Merkmalen) dieselbe Information noch einmal - bezogen auf die jeweiligen Wörter (in Gestalt von alphabetischen Listen) - geben. So steht neben grammatischen Informationen zu den Ablautklassen der unregelmäßigen Verben eine alphabetische Liste dieser Verben (unter lexikalischem Aspekt), neben den grammatischen Informationen zu den Präpositionen und Konjunktionen jeweils eine alphabetische Liste dieser Wörter (vgl. Helbig/Buscha 1991, 37ff., 401 ff., 445fif.). Es handelt sich dabei eigentlich um LexikonFragmente, die man herkömmlicherweise nicht in der Grammatik erwartet. Die gleichen Sachverhalte werden einmal unter dem Aspekt des Allgemeinen (der grammatischen Klassenbildung), das andere Mal unter dem
Schließlich werden innerhalb des linguistischen Ansatzes (wie innerhalb der Linguistik überhaupt) Meinungsverschiedenheiten ausgetragen über den Ansatzpunkt bzw. Ausgangspunkt der Beschreibung, oft unter den Stichwörtern „Ausdrucks- vs. Inhaltsgrammatik" oder auch „formale vs. funktionale Grammatik" (vgl. auch Götze 1995; 1996). Allerdings wird der Terminus „Inhaltsgrammatik" in einem doppelten Sinne verstanden:
7.
Ausdrucks- vs. I n h a l t s g r a m m a t i k
1) „Inhalt" bezieht sich auf die gesamte inhaltliche Seite der Sprache, d. h. auf die (sprachinterne) Bedeutung und auf die (sprachexterne) Funktion ( = Intention, Sprechhandlung), d. h. auf das, was der Sprecher beabsichtigt, wenn er spricht. Beide Sachverhalte dürfen nicht identifiziert oder verwechselt werden: das, was die sprachliche Form (der „Ausdruck") bedeutet, und das, was der Sprecher mit der Äußerung meint bzw. intendiert ( = kommunikative Funktion). Der Begriff „Funktion" ist noch mehrdeutiger, so mehrdeutig, dass er geradezu zu einem „Joker" geworden ist, einem Schlagwort also, das man undifferenziert überhaupt nicht verwenden, sondern immer durch ein zusätzliches Attribut kennzeichnen sollte (vgl. Heibig 1968, 274ff.). Mindestens sind zu unterscheiden eine syntaktische Funktion (entweder distributionell-positionell oder im Sinne der Satzgliedfunktionen), eine semantische Funktion (im Sinne der innersprachlichen Bedeutung oder im Sinne der Bezeichnung von außersprachlichen Sachverhalten) und eine kommunikative Funktion (im Sinne von intendierten Sprechhandlungen oder im Sinne der Thema-Rhema-Gliederung). Deshalb erweist sich der Funktionsbegriff als allgemeines Schlagwort für eine bestimmte Zielsetzung und Orientierung wenig geeignet. Dazu kommt, dass unter „funktionaler Grammatik" höchst unterschiedliche Richtungen verstanden werden (vgl. Art. 14, Abs. 3.7.). Auf die Probleme, die aus dem Verhältnis des sprachlichen Ausdrucks zur (sprachexternen) kommunikativen Funktion erwachsen, wurde unter 5. in diesem Artikel hingewiesen.
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2. Linguistischer Ansatz
2) „Inhalt" bezieht sich bei anderen Autoren ausschließlich auf die (sprachinterne) Bedeutung (= semantische Funktion), schließt also die (sprachexterne) kommunkative Funktion, ist vielmehr eine Voraussetzung für diese. In diesem Sinne handelt es sich bei „Ausdruck" und „Inhalt" um die beiden Seiten des sprachlichen Zeichens, gleichsam um Synonyme zu „Form" und „Bedeutung". Unbestritten dürfte sein, dass es sich bei der Grammatik im weiteren Sinne um die wechselseitige Zuordnung von Formen (Ausdruck) und Bedeutungen (Inhalt) handelt - auch wenn sich die Grammatiker selbst dessen nicht immer bewusst sind (vgl. unter 6.). Diese wechselseitige Zuordnung muss von der Grammatik (dem wissenschaftlichen Abbild) beschrieben und im Fremdsprachenunterricht vermittelt sowie vom Lernenden erworben werden. Unbestritten dürfte heute auch sein, dass die Zuordnung zwischen Formen und Bedeutungen vielfach nicht direkt, sondern indirekt und vermittelt ist: So können ζ. B. den Tempusformen im Deutschen (ζ. B. Präsens, Perf., Fut. I) nicht in linearer Weise bestimmte Zeitbedeutungen zugeschrieben werden, den Modi des Verbs nicht immer klar umrissene Modalitätsbedeutungen sowie dem Reflexivpronomen sich nicht immer reflexive Bedeutungen. Wie es grundsätzlich zwischen sprachsystematischen Mitteln und Sprechakten/Intentionen keine direkten Beziehungen gibt (vgl. unter 5.), so gibt es auch zwischen der Ausdrucks- und Inhaltsseite der Mittel des Sprachsystems keineswegs immer direkte Zuordnungen. Daraus leitet sich die (umstrittene) Frage ab, ob man bei der linguistischen Beschreibung und der Vermittlung im Fremdsprachenunterricht von den Formen („Ausdrucksgrammatik") oder von den Bedeutungen („Inhaltsgrammatik") ausgehen solle. Beide Zugänge sind möglich und entsprechen weitgehend unterschiedlichen Benutzerkreisen von Grammatiken: „Produktionsgrammatiken" gehen den Weg vom Inhalt zum Ausdruck, „Rezeptionsgrammatiken" den umgekehrten Weg vom Ausdruck zum Inhalt (vgl. Art. 14 unter 2.6.). Beide Zugänge setzen voraus, dass beide Seiten (Formen und Bedeutungen) sehr differenziert beschrieben sind, damit sie überhaupt systematisch korreliert werden können. Neuerdings findet man oft einseitige Plädoyers für „Inhaltsgrammatiken" — bei gleichzeitiger Abwertung von „Ausdrucksgrammatiken", die vielfach als „rein formal"
abgestempelt werden. Diese Vorwürfe sind zum großen Teil unberechtigt, enthalten doch einige herkömmliche Grammatiken nicht nur Formbeschreibungen, sondern auch Angaben zu den Bedeutungen (wenn auch zumeist in unzureichender und vor allem unsystematischer Weise). Dies wiederum hängt von unserem Kenntnisstand über die Bedeutungsseite ab, der erst in den letzten Jahrzehnten beträchtlich breiter und tiefer geworden ist. Bei dieser Entwicklung ist zugleich deutlich geworden, wie kompliziert die Verhältnisse bei der Beschreibung der Bedeutungsseite sprachlicher Formen sind (ζ. B. ist für die Tempusbedeutungen oder für die semantischen Subklassen adverbialer Nebensätze ein äußerst diffiziler Beschreibungsapparat notwendig). Es dürfte nicht genügen, von einfachen „semantischen Feldern" (ζ. B. der Zeit — Temporalität/des Grundes = Kausalität oder der Art und Weise = Modalität) auszugehen und ihnen die entsprechenden formalen Ausdrucksmittel katalogartig zuzuordnen. Vielmehr bedarf dies u. a. einer präzisen Strukturierung dieser Felder (mit jeweiligen Zentren und Peripherien, abhängig vom Grad der Grammatikalisierung der betreffenden Ausdrucksmittel). Es drängt sich - für den Spracherwerb - zusätzlich die Frage auf, ob der Lernende tatsächlich den Weg über die Inhaltsseite wählt (also ζ. B. davon ausgeht, dass ein „unzureichender Grund" ausgedrückt werden soll, und danach die Ausdrucksmittel wählt) oder ob er nicht (eben weil die Struktur der Bedeutungsseite erheblichen Beschreibungsaufwand mit sich bringt) die Ausdrucksmittel von Ausgangs- und Zielsprache ohne diesen „Umweg" korreliert. Das ändert nichts daran, dass Grammatik immer die (zumeist indirekte) Zuordnung von Form (Ausdrucksseite) und Bedeutung (Inhaltsseite) zum Gegenstand hat, auch für den Bereich des Deutschen als Fremdsprache.
8.
Zentralitât der linguistischen Komponente
Trotz dieser Vielfältigkeit der linguistischen Komponente und trotz der genannten kontrovers diskutierten Probleme ist für den linguistischen Ansatz generell charakteristisch, dass für die Vermittlung des Deutschen als Fremdsprache von primärer und entscheidender Rolle die Sprache selbst ist, die Gegenstand der Vermittlung ist, also dasjenige, was vermittelt (erworben) wird. Erst von diesem
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I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen
Was hängt das Wie, hängen didaktisch-methodische Vermittlungsstrategien und -taktiken ab, weil Ablauf und Struktur von Erwerbsprozessen entscheidend von ihrem Gegenstand determiniert sind, und dieser Gegenstand ist in unserem Falle die deutsche Sprache (als Fremdsprache) (Götze 1997). In diesem Credo von der Zentralität der Sprache (der linguistischen Komponente) unterscheidet sich der linguistische Ansatz wesentlich von allen anderen Ansätzen, bei denen entweder das Schwergewicht auf dem Wie (des Erwerbs und der Vermittlung) liegt (didaktischer Ansatz) oder eine Verlagerung der Interessen auf landeskundlich-kulturwissenschaftliche (landeskundlicher Ansatz) bzw. auf literaturwissenschaftlichlinterkulturelle Inhalte (literaturwissenschaftlicher Ansatz) erfolgt. Damit verbunden ist oft eine Abkehr von der Sprache selbst und eine Abkoppelung von der linguistischen Komponente. Das gilt selbst für den didaktischen Ansatz, und zwar sowohl in seiner älteren als auch in seiner jüngeren Version: In der älteren Version stellte sich die Didaktik als eine Art (praktizistische) „Handwerkslehre" oder „Rezeptologie" dar, zu deren Charakteristik man an die kuriose Aussage erinnert wird (vgl. auch Dimowa 1993, 193f.): „Ich verstehe zwar wenig von Physik, weiß aber genau, wie man Physik zu unterrichten hat." Die jüngere Version geht zwar theoretisch wesentlich über diesen Praktizismus hinaus, fasst ζ. B. als Sprachlehr- und -lernforschung den (institutionalisierten) Fremdsprachenunterricht als eigenständigen Spezialfall des Spracherwerbs auf und bettet ihn in weiter reichende (auch psychologische) Zusammenhänge des Spracherwerbs ein. Dabei wird jedoch die Lehr- und Lernperspektive dominant gegenüber der zu vermittelnden Sprache, bisweilen so dominant, dass von der zu vermittelnden Sprache weitgehend abgesehen wird, also eine Abkoppelung von der linguistischen Komponente erfolgt: Die zu lernenden Sprachen werden sekundär (oder gar austauschbar), das Fach „Deutsch als Fremdsprache" verliert letztlich seine Spezifik (vgl. Edmondson 1998, Götze 1997). Es entsteht — um abermals ein bekanntes Bild zu gebrauchen - der Eindruck eines „Strickens ohne Wolle". Demgegenüber wird auch und gerade von der Praxis der Ruf wieder lauter, dass man sich vor allem auf das besinnen solle, was der Lehrer von Deutsch als Fremdsprache am dringendsten braucht: Wissen um die Sprache, die vermittelt werden soll — nicht zuletzt
auf Grund der Einsicht, dass es immer um eine Einzelsprache geht, nicht um Sprachen schlechthin (vgl. Glück 1998, 5). Harden (1995, 161 ff.) hat ζ. B. unter dem Stichwort „back to basics" zu Recht darauf hingewiesen, dass man zuerst wissen müsse, was erlernt und erworben werden muss, ehe man in Diskussionen über das Wie sinnvollerweise eintreten kann. Dem entspricht nicht nur das Credo des linguistischen Ansatzes, dem entsprechen auch die praktischen Erfahrungen der meisten Sprachlehrer (-lektoren). Das bedeutet weder eine ausschließliche Dominanz der linguistischen Komponente noch gar eine Rückkehr zur grammatikalisierenden Übersetzungsmethode. Das Plädoyer für solides, umfassendes und explizites Wissen über die deutsche Sprache für Deutsch als Fremdsprache (bedingt vor allem durch die Außenperspektive) bedeutet auch nicht notwendig, dieses Wissen dem Lernenden im Unterricht direkt zu präsentieren - schon gar nicht in linguistischer Weise (dies wäre dann tatsächlich eine erneute „Linguistisierung" des Unterrichts). Wohl aber müssen der Lehrer und der Lehrbuchautor — als nicht zu überspringende Vermittlungsinstanzen zwischen Linguistik und Unterricht - über dieses Wissen verfügen. Für sie genügt es nicht, wenn sie die zu vermittelnde Sprache nur (sprechen) können; sie müssen sie auch kennen. Sie brauchen nicht nur (sprachlich-kommunikative) Fähigkeiten und Fertigkeiten in der betreffenden Sprache, sondern auch (kognitiv) gute Kenntnisse über diese Sprache (vgl. Heibig 1993, 30; 1994, 95; 1997a, 106ff.). 9.
Literatur in Auswahl
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30
I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen
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(Deutschland) (Deutschland)
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3. Didaktisch-methodischer Ansatz
3. Didaktisch-methodischer Ansatz: Die lehr- und lernwissenschaftliche Perspektive 1.
2. 3. 4.
5. 6. 7.
1.
Zur Situation des Faches an den deutschsprachigen Hochschulen und im Schulbereich Germanistik und Deutschlehrerausbildung im nichtdeutschsprachigen Ausland Bezugspunkte und Dimensionen der lehrund lernwissenschaftlichen Orientierung Konturen der lehr- und lernwissenschaftlichen Ausrichtung des Faches Forschung im Fach Deutsch als Fremdsprache Grenzen einer berufsorientierten Deutschlehrerausbildung Literatur in Auswahl
Zur Situation des Faches an den deutschsprachigen Hochschulen und im Schulbereich
An den deutschsprachigen Hochschulen hat sich in den beiden letzten Jahrzehnten eine deutliche institutionelle Trennung der Fächer „Germanistik" und „Deutsch als Fremdsprache" vollzogen. Die Germanistik bildet Philologen (Magisterabschluss; Promotion) bzw. Lehrerinnen und Lehrer für Deutsch als Muttersprache (Lehramtsstudiengänge) aus. Wer dagegen ein Studienangebot in Deutsch als Fremdsprache belegt, verbindet damit im allgemeinen die Erwartung, zur Lehrerin bzw. zum Lehrer für Deutsch als Fremd- bzw. Zweitsprache qualifiziert zu werden. Untersuchungen zur Schwerpunktsetzung der Studienangebote im Bereich von Deutsch als Fremd- und Zweitsprache belegen, daß die überwiegende Zahl der Studienangebote lehrund lernwissenschaftlich ausgerichtet ist (vgl. Krumm 1994; Henrici 1994). Zu unterscheiden ist zwischen Studienangeboten in den Bereichen Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache. Eine Ausbildung für Deutsch als Fremdsprache bezieht sich auf die Vermittlung des Deutschen im nichtdeutschsprachigen Ausland, während eine Lehrerausbildung in Deutsch als Zweitsprache auf den Deutschunterricht in deutschsprachiger Umgebung vorbereitet. Die unterschiedlichen gesellschaftlich-politischen Rahmenbedingungen von Fremd- und Zweitsprachenunterricht (ζ. B. rechtlicher und sozialer Status der Lernergruppen), der institutionellen Vorgaben (ζ. B. Status als Schulfach;
Lehrpläne und Lehrmaterial; Lehrerausbildung), der Merkmale der Lernergruppen (ζ. B. Muttersprache, soziokulturelle Prägung) und der Lernsituation (eingebettet in die zielsprachige Umgebung oder ausserhalb des deutschsprachigen Raums) führen zu ζ. T. ganz unterschiedlichen Konzepten der Didaktik und Methodik des Fremd- bzw. Zweitsprachenunterrichts Deutsch und folglich auch zu unterschiedlichen Perspektiven und Schwerpunktsetzungen bei der Ausbildung von Lehrer/innen für Deutsch als Fremd- bzw. Zweitsprache (vgl. Neuner 1995a). In den öffentlichen Schulen in Deutschland, insbesondere im Bereich der Grundschule und der Hauptschule, ist die Zahl von Schülern nichtdeutscher Muttersprache beträchtlich - laut Statistik lebte 1990 über eine Million schulpflichtiger ausländischer Kinder in der Bundesrepublik (Neumann 1995, 95), in städtischen Ballungsgebieten steigt sie nicht selten über 50 % der Gesamtschülerzahl. Dazu kommen die Kinder deutschstämmiger Aussiedler aus mittel- und osteuropäischen Ländern bzw. den Nachfolgestaaten der UdSSR, die ihrem Rechtsstatus nach zwar Deutsche sind, jedoch oft mit denselben sprachlichen und sozialpsychologischen Problemen der Integration zu kämpfen haben wie schulpflichtige Kinder mit dem Status „Ausländer" (ζ. B. Kinder von Arbeitsmigranten, von Asylsuchenden oder Kriegsflüchtigen). Eine Reihe von Bundesländern hat deshalb ein obligatorisches Studienelement „Deutsch als Zweitsprache" in die Studiengänge für Lehrer/innen für den muttersprachlichen Deutschunterricht eingeführt (ζ. B. Nordrhein-Westfalen) bzw. die Möglichkeit eröffnet, die Lehrbefähigung für das Fach „Deutsch als Fremd- und Zweitsprache" im Rahmen einer Erweiterungsprüfung im Lehramtsstudium zu erwerben (ζ. B. Hessen). Man kann im lehr- und lernwissenschaftlich ausgerichteten Studienangebot des Faches Deutsch als Fremdsprache unterscheiden zwischen • grundständigen Studienangeboten (Hauptoder Nebenfach im Magisterstudium; Erweiterungsprüfung für das Lehramt).
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I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen
• Zusatz- und Aufbaustudiengängen, die in der Regel ein abgeschlossenes Germanistikstudium voraussetzen. • Dazu kommen im „Lehrgebiet Deutsch als Fremdsprache" Sprachkurse in Deutsch als Fremdsprache zur Vorbereitung auf die Hochschulzulassungsprüfung für ausländische Studienbewerber bzw. studienbegleitende Sprachkursangebote. 2.
Germanistik und Deutschlehrerausbildung im nichtdeutschsprachigen Ausland
Bei den entsprechenden Studiengängen an Hochschulen in nichtdeutschsprachigen Ländern ist die Trennung der Studiengänge für Germanistik (Fremdsprachenphilologie) und Deutschlehrerausbildung nicht selbstverständlich. Oft versteht man unter „Deutsch als Fremdsprache" im Bereich des Germanistikstudiums das sprachpraktische Lehrangebot, d. h. das Angebot an Deutschkursen für die Studierenden der Germanistik. Es bestehen in den vielen Ländern, deren Hochschulen Studiengänge für Germanistik anbieten, sehr unterschiedliche Vorstellungen, was die Vorbereitung auf den Deutschlehrerberuf angeht: Vorfindbar sind Konzepte, • die keinen Unterschied zwischen Germanisten- und Deutschlehrerausbildung machen: Wer das Germanistikstudium absolviert hat, kann als Deutschlehrer eingesetzt werden; • die eine Profilbildung in der letzten Phase des Germanistikstudiums vornehmen bzw. ein Studienelement zur Didaktik/Methodik des Deutschunterrichts im Abschlußsemester anbieten; • die die Deutschlehrerausbildung in eine Phase nach dem Germanistikstudium verlegen; • die eine klare institutionelle Trennung von Germanistikstudium (an der Universität) und Deutschlehrerausbildung (an Pädagogischen Hochschulen bzw. Fremdsprachenkollegs) vornehmen. In diesen Konzepten ist die lehr- und lernwissenschaftliche Orientierung am deutlichsten verwirklicht, es besteht jedoch die Gefahr einer Abwertung des Status der Deutschlehrerausbildung gegenüber der Germanistenausbildung (vgl. Blamberger/Neuner 1995).
3.
Bezugspunkte und Dimensionen der lehr- und lernwissenschaftlichen Orientierung
Die Ausgangsfrage bei der Planung eines lehr- und lernwissenschaftlich konzipierten Germanistikstudiums lautet: Welche Qualifikationen müssen künftige Deutschlehrer/innen für ihre Berufsausübung (Deutschunterricht erteilen) haben? Bei der curricularen Bestimmung der Deutschlehrerausbildung müssen eine Reihe von Ebenen unterschieden werden, die eng miteinander verflochten sind: • die interkulturelle und die transnationale Ebene, • die institutionelle Ebene, • die fachlich-inhaltliche Ebene, • die unterrichtliche Ebene. 3.1. Die in ter kulturelle und die transnationale Dimension des fremdsprachlichen Deutschunterrichts Wer eine Fremdsprache lernt, muss sich mit einer fremden Welt auseinandersetzen, gleichgültig, ob die neue Sprache als Fremdsprache in der eigenen Umgebung gelernt wird oder ob das Erlernen dieser Sprache als Zweitsprache in der zielsprachlichen Umgebung erfolgt. Fremdsprachenlernen kann eine faszinierende „Entdeckungsreise in die fremde Welt" sein, es kann aber auch zu Verunsicherung führen: Sachverhalte, die in der eigenen Welt selbstverständlich sind, können im soziokulturellen Kontext der neuen Sprache anders, verzerrt, missverständlich und unverständlich erscheinen. Neues muss verarbeitet werden, Vertrautes findet sich in der fremden Welt nicht mehr (Müller-Jacquier 1999). Fremdsprachenlernen erschließt aber nicht nur eine neue Welt, es hat auch Rückwirkungen auf die Wahrnehmung und das Bewusstsein von der eigenen Welt, die als Bezugswelt dient. Indem es Lernende in eine neue Welt einführt, macht es ihnen deutlich, dass neben ihrer eigenen Welt andere Welten bestehen, in denen die Menschen ihr Leben nach anderen „Spielregeln" (Wertsystemen; Routinen; Ritualen) und in anderen sozialen Bezügen (Institutionen) gestalten (Krumm 1995, 156f.). Die interkulturelle Dimension ist deshalb für alle Ebenen und Bereiche des Lehrens und Erlernens der Fremdsprache konstitutiv. Fremdsprachenlernen ist jedoch nicht nur geprägt von der subjektiven Auseinandersetzung von Eigenwahrnehmung und Fremderfahrung, sondern auf einer übergeordneten
3. Didaktisch-methodischer Ansatz
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Ebene auch von transnationalen Beziehungen. Das Verhältnis von Ausgangs- und Zielsprachenland bestimmt nicht nur die Frage, ob eine bestimmte Sprache als Fremdsprache in den Fächerkanon der Schule aufgenommen wird und welche Stellung sie im Rahmen anderer Fremdsprachen innehat, sondern es kann auch nachhaltig das „Bild" des Zielsprachenlandes prägen (Auswahl und Perspektivierung soziokultureller Inhalte) und maßgeblich die Haltungen und Einstellungen der Lernenden gegenüber der Zielsprache und der Zielsprachenkultur beeinflussen. Bezugswissenschaften der Fremdsprachenlehrerausbildung sind deshalb auf dieser Ebene die eigene wie auch die zielsprachliche Soziokultur und ihr historisch gewachsenes und aktuelles Wechselverhältnis (Soziologie; Politik etc.).
Qualifikationen für die kompetente Berufsausübung sind jedoch nicht nur fachtheoretische Kenntnisse, sondern auch praktisches Können, das sich sowohl auf die Beherrschung der Fremdsprache als auch auf das Unterrichtenkönnen bezieht. Die Beschäftigung mit der Unterrichtspraxis (Vorbereitung, Durchführung und Evaluation von Unterricht) gehört deshalb zu den Kernpunkten der Fachausbildung. Bei der Deutschlehrerausbildung im Ausland dient ein Teil der Ausbildungszeit der Erweiterung sprachpraktischer Kompetenz (Alltagssprache; Sprache des Unterrichts; Fachsprache etc.). Bezugswissenschaften für die Ebene des fremdsprachlichen Fachunterrichts sind deshalb vor allem die Spracherwerbsforschung und die Erforschung dessen, was im Klassenzimmer geschieht, wenn die Fremdsprache vermittelt wird (L-2 classroom research).
3.2. Die institutionelle Dimension des fremdsprachlichen Deutschunterrichts Gesteuerter Fremdsprachenunterricht vollzieht sich im institutionellen Kontext (etwa: Schule). Grundlegende und übergreifende Aspekte institutionellen Lehrens - ζ. B. übergreifende Zielsetzungen (welche Kenntnisse, Fertigkeiten und Einstellungen sollen an die nachkommende Generation vermittelt werden? Welche Qualifikationen werden zum Leben gebraucht?) und Bedingungen - (ζ. B. organisatorische Bedingungen: Einteilung in Klassen und Gruppen nach bestimmten Kriterien, etwa von Alter oder Leistung; Einsatz bestimmter Lehrmedien und Anwendung bestimmter Lehrverfahren) - beeinflussen den Fachunterricht nachhaltig. Sie gehören deshalb zu den Gegenständen der Lehrerausbildung. Bezugswissenschaften sind in diesem Bereich etwa allgemeine Pädagogik und Schulpädagogik; allgemeine Didaktik und Lerntheorie.
3.4. Die fachspezifische Dimension — der Bezug zu den germanistischen Fachwissenschaften Da im Bezug zu den unmittelbaren Fachwissenschaften (Literatur-, Sprach- und Landeswissenschaften) der Unterschied zwischen der Germanisten- und der Deutschlehrerausbildung besonders deutlich wird, muß dieser Aspekt eingehender dargestellt werden. Die folgende Gegenüberstellung lässt das Profil der Deutschlehrerausbildung klarer hervortreten (vgl. Neuner 1995).
3.3. Die Ebene des Fachunterrichts Fremdsprachenunterricht ist zum einen geprägt von übergreifenden Rahmenbedingungen (vgl. 3.1. und 3.2.), zum anderen von fachspezifischen Vorgaben (vgl. 3.4.) und Inhalten. Kennzeichnend für den Fachunterricht sind aber nicht nur diese fachspezifischen Vorgaben und Inhalte, sondern auch die Prozesse des Fremdsprachenlehrens und -erlernens, die sich in unterrichtlicher Interaktion (Lehr- und Lernverhalten) manifestieren.
з.4.1. Germanistenausbildung Ziel der Germanistenausbildung - etwa in einem Magisterstudiengang - ist die Vermittlung eines möglichst umfassenden Fachwissens in Verbindung mit der Entwicklung eines spezifischen Methodenbewussteins (Forschungsansätze und -perspektiven) in den germanistischen Fachdisziplinen. Das Lehrangebot des traditionellen Germanistikstudiums ist also von der Wissenssystematik der germanistischen Teilgebiete her konzipiert — der Literaturwissenschaft und der Sprachwissenschaft. In der Germanistik im Ausland kommt als weiteres Teilgebiet das der Landeswissenschaften deutschsprachiger Länder hinzu. Die Studierenden weisen zum Ende des Studiums ihre Qualifikation als Germanisten и. a. durch eine Magisterarbeit nach, in der ein ausgewähltes Thema aus den genannten fachwissenschaftlichen Bereichen „nach den Regeln der Kunst" (Darstellungsweisen; Forschungsmethoden) bearbeitet wird.
34
I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen
3.4.2. Aufgliederung des Germanistikstudiums auf der Grundlage der Wissenssystematik des Faches: Literaturwissenschaft Allgemeine Literaturwissenschaft Terminologie (etwa: Gattungslehre; Grundbegriffe zu Epik, Lyrik und Dramatik) Methodologie (etwa: Interpretationsund Forschungsmethoden) Literaturgeschichte gegliedert nach Epochen/Gattungen Sprachwissenschaft Systematische Aspekte (etwa: Syntax) Sprachnormative Aspekte Historische Aspekte Methodologie Landeswissenschaften (in der Auslandsgermanistik) Systematische Aspekte (etwa: Institutionen- und Realienkunde) Historische Aspekte Methodologie In der historischen Entwicklung des Faches dominierte die Literaturwissenschaft, genauer: die Literaturgeschichte. Diese Vorrangstellung der Literaturwissenschaft ist bis heute in vielen Ländern im Germanistikstudium erhalten geblieben. Sprachwissenschaft wurde zunächst nur als Sprachgeschichte angeboten, deren Befunde oft aus den Dokumenten der literarischen Zeugnisse der einzelnen Epochen ermittelt wurden. Landeswissenschaften hatten in diesem Konzept insbesondere eine Funktion als Zulieferer von vor allem kulturhistorisch orientierten Hintergrundinformationen zur Literaturgeschichte. Zum anderen hatte dieses Fachgebiet die Aufgabe der Vermittlung von Realien- und Institutionenkunde. Anzumerken ist, dass die Wissensbestände und die Teilgebiete der Germanistik sich in den letzten Jahrzehnten deutlich ausgeweitet haben. Dabei vollzog sich nicht nur eine Expansion der Gegenstandsbereiche - etwa im Einbezug der Literatur der Hör- und SehMedien; der Trivialliteratur, der Kinder- und Jugendliteratur; der Pragma- und Textlinguistik - , sondern ζ. T. auch ein perspektivenwechsel der Forschung - ζ. B. von der Analyse der Gegenstände auf die Erforschung ihrer Wirkung (etwa in der Rezeptions- und Leserforschung) bzw. ihrer Verwendung (etwa: Pragmalinguistik und Textpragmatik).
Schon allein diese Entwicklungen im Fach selbst zwingen die Germanistik heute dazu, Ziele und Inhalte ihrer Studiengänge permanent zu überdenken und ihren Stellenwert im Rahmen erweiterter Studiengangkonzepte — etwa im Bereich der Medien-, Kultur- und Kommunikationswissenschaften — neu zu formulieren (vgl. Seeba 1995; Dirscherl 1995). 3.4.3. Fachinhalte der Deutschlehrerausbildung Aus der Kumulierung germanistischen Fachwissens ergibt sich nicht „von selbst" eine sinnvolle Deutschlehrerausbildung. Zunächst ist festzustellen, dass fachliches Wissen für den künftigen Lehrberuf sehr viel mehr an Kenntnissen umfasst als nur germanistische Studieninhalte, nämlich auch Kenntnisse, die den übergreifenden interkulturellen und institutionellen Bezugsebenen zuzuordnen sind (etwa aus der Soziologie; der Psychologie; der Pädagogik und Didaktik, vgl. 3.1. und 3.2.) und Kenntnisse, die sich auf die Grundlagen des Lehrens und Erlernens von Fremdsprachen beziehen und der unterrichtlichen Ebene zuzuordnen sind (etwa zum Spracherwerb; zu den Faktoren und Prozessen des Lehrens und Lernens im institutionellen Kontext (vgl. 3.3.) (vgl. Henrici 1992). Zwar haben auch in einem Deutschlehrerstudium die germanistischen Fachinhalte tragende Funktion. Aber das anders geartete lehr- und lernwissenschaftliche Erkenntnisinteresse führt zu einer anderen Perspektivierung, Auswahl und Gewichtung dieser Fachinhalte. Dabei spielen zum einen übergreifende interkulturelle und institutionelle, zum anderen unterrichtliche Fragestellungen eine Rolle (etwa: Bezug zur Welt der Zielsprache; die Bestimmung allgemeiner und fachspezifischer Lehrziele und Lehrmethoden). Auch ist deutlich, dass sich das Erkenntnisinteresse der Deutschlehrerausbildung nicht nur auf a) Gegenstände des Lehrens und Lernens bezieht, sondern auch auf b) die Bedingungen
und
c) die Prozesse des Lehrens und Lernens umfaßt, u. z. sowohl die diachronische Perspektive (historische Entwicklung und Wandel) als auch die synchronische Perspektive (Ermittlung gegenwärtig feststellbarer Phänomene). Das Deutschlehrerstudium geht deshalb in besonderer Weise auf diejenigen Aspekte germanistischer Fachwissenschaft ein, die in der
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3. Didaktisch-methodischer Ansatz
Fachpraktischer Bereich
SprachprakHsche Ausbildung
/ / / / Fachtheoretischer Bereich
- , Unterrichtspraktikum
\ Theorie und / } Praxis des v. /fremdsprachlichen^ Deutschunterrichts
Bezugswissenschaften 1 Germanistik: - Literaturwissenschaften
. \
7
\
- Linguistik - Landeskunde deutschsprachiger Länder
/
/ \
I \ I
Bezugswissenschaften III - Pädagogik
/
- allgemeine Didaktik -etc.
/ //
Bezugswissenschaften II - eigene Literatur/Linguistik/Landeskunde - Muttersprachenunterricht
Abb. 3.1: Bezugspunkte der Ausbildung
Entwicklung des fremdsprachlichen Deutschunterrichts eine tragende Rolle gespielt haben und im Rahmen gegenwärtiger Konzeptionen des Lehrens und Erlernens der Fremdsprache Deutsch von besonderer Bedeutung sind (Auswahl und Schwerpunktsetzung bei den germanistischen Lehrinhalten). So ist es beispielsweise nicht das Ziel, etwa im sprachwissenschaftlichen Bereich systematisch alle Beschreibungsverfahren der Grammatik der deutschen Sprache darzustellen, sondern es geht um die Frage, welche Grammatikmodelle für das Lehren und Erlernen der Fremdsprache Deutsch in der historischen Entwicklung ihrer Fachdidaktik in besonderer Weise berücksichtigt wurden und in der gegenwärtigen fachdidaktischen Konzeptbildung eine besondere Rolle spielen. Das kann ggf. dazu führen, dass aus didaktischer Perspektive neuartige Beschreibungsverfahren entwickelt werden (ζ. B. Signalgrammatik), wodurch Forschungsimpulse auch von der Fremdsprachendidaktik an die Linguistik entstehen können. Aus diesen Überlegungen lässt sich das folgende Modell der Bezugspunkte curricularer Planung der Deutschlehrerausbildung entwickeln (vgl. Abb. 3.1. Bezugspunkte der Ausbildung). 4.
Konturen der lehr- und lernwissenschaftlichen Ausrichtung des Faches
Aus dem strukturierenden Leitinteresse der Deutschlehrerausbildung — der wissenschaft-
lichen Beschäftigung mit den theoretischen Grundlagen und den praktischen Verfahren des institutionellen Lehrens und Erlernens der Fremdsprache Deutsch — lassen sich Themenbereiche und Aufgabenfelder ableiten, die für das Deutschlehrerstudium konstitutiv sind. 4.1.
Kernbereich Theorie und Praxis des fremdsprachlichen Deutschunterrichts 4.1.1. Aspekte des Lehrens (synchronisch/ diachronisch): • Bedingungen (politisch-gesellschaftlich-interkulturelle; institutionelle; pragmatische; etc.) des fremdsprachlichen Deutschunterrichts • übergreifende und fachspezifische Leitvorstellungen/Lehrziele; curriculare Planung • Lehrinhalte (fachliches Wissen in den genannten Bezugswissenschaften) und Progression der Lehrstoffe • Lehrmethoden des Fremdsprachenunterrichts • Unterrichtsmedien • Lernkontrollen • Planung, Durchführung und Evaluation des Unterrichts 4.1.2. Aspekte des Lernens: • Muttersprachen- und Fremdsprachenerwerb • Lerner/Lernergruppe (Lernermerkmale, ζ. B. eigene Sprache und Soziokultur sowie ihr Bezug zur Zielsprache und -soziokultur; Wissen und Erfahrung; Motivation und Interesse; etc.)
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I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen
• Aspekte des Lernprozesses (etwa: Lerntraditionen: Lerntechniken und -Strategien; Lernerautonomie) 4.2. Die Integration der germanistischen Fachinhalte In praktisch allen oben genannten Teilbereichen sind wichtige Aspekte der Bezugswissenschaften in gebündelter Form vorfindbar. In den folgenden Beispielen soll die Integration der germanistischen Fachwissenschaften bei der curricularen Planung verdeutlicht werden. 4.2.1. Linguistische Aspekte in der Deutschlehrerausbildung Beispiele: • Sprachbeschreibungsmodelle, die für die Entfaltung der Lehrmethoden wichtig waren/sind (etwa: Schulgrammatik; Strukturalismus; Pragmalinguistik; Dependenzgrammatik) • Kontrastive Sprachanalyse (Sprachsysteme und Sprachgebrauch) • Fehleranalyse und -bewertung • Linguistische Aspekte der Entwicklung fremdsprachlicher Fertigkeiten und Systeme Beispiel 1: Bereich der Fertigkeiten: Leseverstehen • textlinguistische Aspekte (Merkmale geschriebener Sprache/Sprachregister/Textsorten) • psycholinguistische Aspekte (Wahrnehmung/Speicherung/Aktivierung; Verhältnis von Verstehen und Äusserung) Beispiel 2: Bereich der Sprachsysteme: Wortschatzarbeit • Struktur des Lexikons und Wortschatzlernen • Sprachzeichen und -bedeutung im interkulturellen Lernprozess (eigene Sprache Fremdsprache) • Auswahl und Abstufung des Wortschatzes (Grundwortschatz — Aufbauwortschatz, Wortschatzprogression) 4.2.2. Literaturwissenschaftliche Aspekte in der Deutschlehrerausbildung Beispiele: • Literaturgeschichte „von der Gegenwart zur Vergangenheit" (themenorientiert) • Gegenwartsliteratur; • kurze Formen fiktionaler Texte; • Kinder- und Jugendliteratur.
4.2.3. Landeswissenschaften Beispiele: • systematische Aspekte (Strukturen/Institutionen/Wertsysteme etc.); • historische Aspekte (neuere Geschichte); • vergleichende Aspekte (Wechselbeziehungen/Vergleich der deutschsprachigen Länder untereinander); • pragmatische Aspekte (Alltagsphänomene/ Routinen/Rituale); • methodologische Aspekte (interkultureller Ansatz/Vorurteilsforschung etc.). 4.3. Zur inhaltlichen Verknüpfung der einzelnen Teilgebiete der Deutschlehrerausbildung Auch bei der Deutschlehrerausbildung besteht die Gefahr eines relativ unverbundenen Nebeneinander einzelner Teildisziplinen. Vom übergreifenden Leitinteresse der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Theorie und Praxis des fremdsprachlichen Deutschunterrichts ergeben sich jedoch Ansatzpunkte einer Integration. Sie ist nicht nur wegen der oft herrschenden Zeitknappheit geboten, sondern trägt sicher auch dazu bei, die Studienmotivation der Teilnehmer zu erhöhen, weil einsichtig gemacht werden kann, warum Kursschwerpunkte gesetzt werden, wie sich die einzelnen Lehrveranstaltungen in das Gesamtkonzept der Ausbildung einfügen und welche Bedeutung die Kursinhalte für die spätere berufliche Tätigkeit haben. Beispiele für inhaltliche Verknüpfung: • Literatur und Landeskunde - literarische Landschaften - Literatur und Kunst - thematisch orientierte Literaturgeschichte • Literatur und Linguistik - Textlinguistik fiktionaler Texte - Sprachstil/Register fiktionaler Texte • Linguistik und Landeskunde - Dialekte/Soziolekte - öffentlicher und privater Sprachgebrauch - kontrastive Aspekte (Sprachgebrauch) • Linguistik und Lerntheorie - sprachliche Entwicklungsstadien beim Spracherwerb - sprachliche Progression im Fremdsprachenlernprozess - Wahrnehmung/Speicherung/ Aktivierung von (Fremd-)Sprache • In der sprachpraktischen Ausbildung ergibt sich eine Verknüpfung aller Aspekte,
3. Didaktisch-methodischer Ansatz ζ. Β. in der Textauswahl und Aufgabenstellung in den Sprachkursen. • Ähnlich ist es bei der Vorbereitung, Durchführung und Evaluation von Unterrichtspraktika. Im konkreten Unterricht sind die einzelnen Fachaspekte immer in gebündelter und integrierter Form vorzufinden.
5.
Forschung im Fach Deutsch als Fremdsprache
5.1. Forschungsgegenstände und Problemfelder Deutschlernen wurde lange Zeit mit der Vermittlung einer „Sprachlehre des Deutschen" gleichgesetzt. Die Forschung bezog sich dabei • auf die Beschreibung der Elemente der Sprachlehre (etwa Phänomene der Grammatik, des Wortschatzes, der Aussprache und der Rechtschreibung); • auf die Entwicklung von Vorschriften zum Vermittlungsverfahren (Lehrmethoden). Die Tatsache, dass es in der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts immer wieder Neuansätze bei der Beschreibung des „Sprachlehrstoffes" wie auch bei der Formulierung von Lehrmethoden (etwa der Grammatik-Übersetzungs-Methode; der Direkten Methode; der Audiolingualen Methode; der Kommunikativen Didaktik; vgl. Neuner/ Hunfeld 1993) gab, macht deutlich, dass es eine eindeutige, einfache und für alle Zeiten gültige Beschreibung dessen, was im Fremdsprachenunterricht zu lernen ist (Lehrziele) und wie man das zu Lehrende am besten vermittelt (Lehrmethoden), nicht gibt, sondern, dass das Lehren und Erlernen von Fremdsprachen ein dynamischer — und in seinen Ergebnissen weder eindeutig vorherbestimmbarer noch vorprogrammierbarer — Prozess ist, der von einer Vielfalt komplexer Faktoren beeinflusst wird. Dazu gehören externe Faktoren wie sie etwa im Bereich institutionellen Unterrichts erkennbar sind (ζ. B. vorgegebene Ziele und Lehrmethoden; Situation in der Klasse bzw. Lerngruppe, die Einfluss nimmt auf Verhalten im Unterricht; das Verhältnis und die unterrichtliche Interaktion von Lehrenden und Lernenden) und interne Faktoren (ζ. B. Interesse und Motivation am Erlernen der Fremdsprache; Haltungen und Einstellungen der Welt der Zielsprache gegenüber; aber auch psychische Befindlichkeit; Konzentrationsfähigkeit etc.).
37 Die Formulierung, die Fremdsprachendidaktik sei die Wissenschaft „vom Lehren und Lernen fremder Sprachen in einem institutionellen Zusammenhang" (Christ/Hüllen 1995, 7), verweist auf fünf zentrale Gegenstandsbereiche fremdsprachendidaktischer Forschung: a) Untersuchung des Fremdsprachenlehrers und des Vorgangs des Lehrens fremder Sprachen; b) Untersuchung des Lerners und des Lernprozesses; c) Untersuchung sprachkontrastiver und interkultureller Aspekte; d) Untersuchung der Sprache des Unterrichts als Medium des Unterrichts und als Inhalt des Unterrichts; e) Untersuchung des institutionellen Zusammenhangs des Sprachlehrens und -erlernens. Deutlich wird bei dieser Auflistung, dass der Fremdsprachenunterricht bzw. die konkrete Unterrichtssituation von einer Fülle von offen zutage tretenden oder verdeckt wirksamen - Faktoren beeinflusst wird. Dies verweist auf eine der grundlegenden Schwierigkeiten, mit denen sich fremdsprachendidaktische Forschung auseinander setzen muss: um zu forschen, muss ein Aspekt — oder eine begrenzte Zahl ausgewählter Bereiche — aus dem komplexen Gesamtzusammenhang herausgelöst werden. Dabei besteht die Gefahr, dass sich der Einzelaspekt, dem das Interesse gilt, in seiner Bewertung verselbständigt und zu einer Fehleinschätzung seines Stellenwerts im Gesamtzusammenhang führt. Zu verweisen ist auch auf die Tatsache, dass sich bei der Komplexität und Interaktion der vielfaltigen Faktoren Fremdsprachenunterricht oft nicht nach den Gesetzen der Logik verhält, sondern eher als chaotisches System konstituiert ist, das schon bei einer kleinen Veränderung der Faktorenkonstellation nicht vorherbestimmbare Auswirkungen zeigt. Das erklärt die Erfahrungen vieler Lehrender, dass keine Unterrichtsstunde der anderen gleicht und dass Unterrichtsplanung, die in der einen Klasse zu guten Ergebnissen führt, in der nächsten Klasse „nicht ankommt", dass eine auch noch so gründlich vorbereitete Unterrichtsstunde „schieflaufen" kann, wie auch andererseits improvisierte Stunden „sehr gut laufen" können. Weder der Unterrichtserfolg noch das Verhalten der Lernenden sind programmierbar. Aus diesem Grund lassen sich auch empirisch gewonnene Daten, die immer an einem
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I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen
ganz konkreten hens gewonnen ganz bestimmte beziehen, nicht nern.
Fall des Unterrichtsgeschewerden und sich auf eine Konstellation der Faktoren ohne weiteres verallgemei-
5.2. Forschungsmethoden 5.2.1. Zur Hermeneutik des Fremdsprachenunterrichts Die Aussage, dass die Fremdsprachendidaktiker zunächst wenig über ihre wissenschaftlichen Methoden und ihr Methodenverständnis reflektierten und dass ihre methodischen Ansätze zwischen den Polen „deskriptiv" und „normativ" bewegten (Christ/Hüllen 1995, 4), trifft auch für die Erforschung des fremdsprachlichen Deutschunterrichts zu. Die Gründe hierfür liegen zum einen in den institutionellen Vorgaben: Fremdsprachenunterricht war in Europa bis nach dem 2. Weltkrieg ein Privileg höherer Bildung und ist es bis heute noch in vielen Ländern der Welt. In seinen Genuss kam eine relativ kleine Elite leistungshomogener Schüler. Zum anderen wurde der Unterricht in den modernen Fremdsprachen im Anschluss an die Tradition des Unterrichts der „alten Sprachen" (Griechisch und Latein), die jahrhundertelang den schulischen Fremdsprachenunterricht dominiert hatten, weniger als Vorbereitung auf „internationale Kommunikation", sondern eher als „Geistesschulung" (durch Anleitung zu ordnendem Denken mit Hilfe der Grammatikvermittlung) und „Teilhabe an der geistigen Bildung" verstanden (über die Beschäftigung mit literarischen Zeugnissen der Fremdsprache bzw. mit Texten, die übergreifende Bildungs- und Erziehungsziele repräsentierten). Unter diesen fest gefügten gesellschaftlich-institutionellen Rahmenbedingungen bezog sich fremdsprachendidaktische Forschung in erster Linie auf die Entfaltung der Lehrstoffperspektive (Lehrziele; Progression der Lehrstoffe; Überprüfung der Lehrziele) und der Entwicklung von Vorschlägen zur Unterrichtsgestaltung (Lehrmethoden). Hermeneutische Verfahren sind im Bereich der Fremdsprachenforschung vor allem bei der Erforschung curricularer Aspekte des Lehrens mit Erfolg anwendbar (etwa: Erforschung der Faktoren und Zusammenhänge der Lehr- und der Lehrstoffperspektive des Fremdsprachencurriculums wie ζ. B. Bestimmung und Wandel der Lehrziele, der Lehrmethoden und -medien - insbesondere auch der Lehrwerke — sowie des Zusammenhangs von Zielen und Prüfungen). Sie dienen der Be-
stimmung der Entfaltung des „geistigen Seins und Sollens" des Fremdsprachenunterrichts. Dabei ist als Bezugsfeld für den Forscher nicht die aktuelle Realität des Unterrichts von Interesse, die Bemühungen gelten vielmehr der Frage, wie dieser „künftige Zustand", in dem die vorgefassten Ziele verwirklicht sind, zu beschreiben und auf welchem Weg dieser „Sollzustand" zu erreichen ist. 5.2.2. Empirische Forschung In der Erforschung des fremdsprachlichen Unterrichts finden deshalb empirische Ansätze, wie sie in der Psychologie und der Soziologie entwickelt wurden, erst in jüngerer Zeit - vor allem im Zusammenhang mit der Entwicklung der Sprachlehr- und Lernforschung seit dem Anfang der 70er Jahre - in nennenwertem Umfang Berücksichtigung (Bausch/ Christ/Hüllen/Krumm (Hrsg.), 1984). Empirische Forschung beschäftigt sich vor allem mit den Prozessen des Lehrens und Lernens im unterrichtlichen Handlungsfeld. Dabei wird - in einem bewußten Wechsel der Perspektive — vor allem die Lernenden in den Blickpunkt gerückt (z. B. Einfluß von gruppenspezifischen und individuellen Lernermerkmalen auf den Lernprozess und Lernerfolg; Erforschung psycholinguistischer Aspekte - etwa der Entwicklung der Lernersprache (interlanguage); der mentalen Aufnahme, Speicherung/Verarbeitung und Aktivierung von Daten beim unterrichtlichen Lernen; des Verstehensprozesses; der Lernprozesse im Klassenzimmer - ; Lerntechniken und -Strategien; affektive Komponente des Lernens). Da das unterrichtliche Lernen von Fremdsprachen als ein komplexes Geschehen verstanden wird, als „[...] das Ergebnis des Zusammenwirkens zahlreicher Faktoren [...], die sich sowohl auf die Lehr- und Lernbedingungen im Klassenzimmer als auch auf psychologische und soziale Komponenten ausserhalb des Klassenzimmers beziehen und die selbstverständlich in engem Bezug zum Lerngegenstand zu sehen sind" (Bausch/Krumm 1995, 9), muss empirische Forschung interdisziplinär und integrativ angelegt sein. Empirsche Forschung kann sich auf unterschiedliche Aspekte beziehen (Grotjahn 1995, 457): a) die Beschreibung von beobachtbaren Prozessen, die sich in einem bestimmten Zeitabschnitt vollziehen (z. B. Interaktionsbeschreibungen) im Lehr- und Lerngeschehen);
3. Didaktisch-methodischer Ansatz
b) die Beschreibung der zu einem bestimmten Zeitpunkt vorliegenden Resultate (Produkte) beobachtbarer Prozesse (ζ. B. Fehlerbeschreibungen); c) die Beschreibung beobachtbarer Resultate nichtbeobachtbarer, individueller, mentaler Prozesse (ζ. B. Vorgänge im Gedächtnis, Erforschung von Haltungen und Einstellungen). Zwei erkenntnisleitende Interessen der empirischen Forschung lassen sich angeben: a) die Entwicklung einer begründeten Theorie des Fremdsprachenunterrichts; b) die Überprüfung bestehender Unterrichtspraxis, die ggf. zu einer Bestätigung bzw. zu Veränderung führt. Bei allzu hoch gesteckten Erwartungen an empirische Forschung ist zu berücksichtigen, dass bei der Entwicklung einer in sich konsistenten Theorie des Fremdsprachenunterrichts zunächst die Vielzahl komplexer Faktoren im einzelnen und in ihrem Wechselverhältnis zueinander beschrieben werden muss (vgl. Königs 1983) und dass alle empirisch gewonnenen Befunde in diese Theorie rückgebunden werden müßten, wenn sie sich nicht verselbständigen sollen. Deutlich wird an dieser Stelle, dass empirische Forschung — u. z. sowohl die Datenerhebung als auch die Datenanalyse und -auswertung - stets von hypothetischen Annahmen zur Struktur der Realität geprägt ist, die ganz entscheidend nicht nur den Blick auf die Realität beeinflussen, sondern auch die Forschungsmethoden und Beobachtungsinstrumente, die zur Anwendung kommen. Daraus ergibt sich auch, dass eine direkte Ableitung von Handlungsempfehlungen zur Verbesserung des konkreten Unterrichts aus den Resultaten empirischer Forschung nicht ohne weiteres möglich ist. Zu den Wegbereitern empirisch fundierter Arbeiten zur Lernprogression im Bereich Deutsch als Fremd- und Zweitsprache zählen u. a. das Projekt „Pidgin Deutsch" (Heidelberg) aus den 70er Jahren (vgl. Sankoff (Hg.), 1978) und das Projekt „Zweitsprachenerwerb italienischer, spanischer und portugiesischer Arbeiter" (ZISA), in dem Spracherwerbsstufen untersucht werden (vgl. Pienemann 1981; Clahsen/Meisel/Pienemann 1983). In den letzten Jahren hat sich an der Universität Bielefeld eine „Arbeitsgruppe Fremdsprachenerwerb" konstituiert, die erste Ergebnisse unterrichtlicher Interaktionsanalyse bereitge-
39 stellt hat (Arbeitsgruppe Fremdsprachenerwerb Bielefeld 1995; Henrici 1995; Aguado (Hg.) 2000). Dass empirische Forschung im Bereich Deutsch als Fremdsprache bis heute über erste Ansätze hinaus noch nicht gediehen ist und dass bisher nur Einzelaspekte bearbeitet worden sind, hat eine Reihe von Ursachen, die nicht nur darin begründet sind, dass das Fach als Hochschulfach noch nicht sehr lange besteht und in der Gründungsphase die vorhandenen Energien sich auf andere Arbeitsbereiche konzentrieren musste. Die Ursachen sind sicher auch in den schon erwähnten Denktraditionen und Einstellungen im pädagogischen Bereich zu suchen, die es mit sich bringen, dass sich die Fachleute eher mit „Unterricht, wie er sein soll" als mit „Unterricht, wie er tatsächlich ist", beschäftigen. Zu Recht verweist Krumm (1996) darauf, dass Vorstellungen von Fremdsprachenunterricht, wie sie in der Sprachlehrforschung und Fremdsprachendidaktik bestehen, z. T. ganz erheblich von den Vorstellungen abweichen, die Lernende und Lehrende mit in den Unterricht bringen. 5.2.3. Die Erforschung der Bedingungen des fremdsprachlichen Deutschunterrichts Man kann drei Bereiche von Erkenntnisinteressen unterscheiden, die den Ansatz unterschiedlicher Wissenschaftsmethoden kennzeichnen: „In den Ansatz der empirisch-analytischen Wissenschaft geht ein technisches, in den Ansatz der historisch-hermeneutischen Wissenschaft ein praktisches und in den Ansatz kritisch orientierter Wissenschaft ein emanzipatorisches Erkenntnisinteresse ein" (Habermas 1971, 55). Fremdsprachendidaktische Forschung muss immer wieder eine Integration der drei ganz unterschiedlichen Erkenntnisinteressen zu leisten versuchen. Sie kann vor allem auf die „dritte Dimension" nicht verzichten, die sich mit den Interessen und Triebkräften beschäftigt, die hinter den im aktuellen Unterricht beobachtbaren Phänomenen und den diesen Unterricht bestimmenden „Gegebenheiten' stehen. Es ist nicht ohne weiteres zu erwarten, dass die Ergebnisse der Sprachlehrforschung zu einer Veränderung der bestehenden Unterrichtspraxis führen, wenn sie nicht auch die Bedingungen, die die gegenwärtige Praxis prägen (etwa gesellschaftlich-politische Bedingun-
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I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen
gen), zum Gegenstand ihrer Forschungen macht. Die Erforschung des institutionellen Fremdsprachenunterrichts kann auch wegen ihrer Einbettung in übergreifende pädagogische Zusammenhänge nicht darauf verzichten, die Frage nach dem „tieferen Sinn" des Lehrens und Erlernens von Fremdsprachen zu stellen und eine Antwort auf die Frage zu suchen, welchen spezifischen Beitrag der Fremdsprachenunterricht zur Entfaltung des wechselseitigen Verstehens und der Verständigung (Konfliktbewältigung/Friedensforschung) und zur Entwicklung des Individuums (Identitätsaushandlung, -bildung und -balance) leistet. 6.
Grenzen einer berufsorientierten Deutschlehrerausbildung
Eine der Gefahren einer vornehmlich an der Berufsperspektive orientierten Deutschlehrerausbildung besteht darin, dass sie sich auf eine „Handwerkslehre" beschränkt, in der das „berufliche Können", d. h. das sprachpraktische Training und die Lehrmethodik im Vordergrund stehen. Solch eine Einschränkung der Ausbildungsinhalte würde das Fach Deutsch als Fremdsprache zu einer Anwendungsinstanz machen, die die (germanistischen) Bezugswissenschaften auf die Lehrstoffe des Schulfaches reduziert und vereinfacht, den Anforderungen der jeweiligen Lernstufe anpasst und Unterrichtsverfahren zu ihrer Vermittlung aufzeigt. Die Folge wäre nicht nur eine einseitige Dominanz der Lehrstoffperspektive, die den Lehrenden keinen pädagogischen Handlungsspielraum mehr lässt, sondern auch ihre Anpassung an die „jeweils herrschenden" Vorschriften zu übergeordneten Zielvorgaben, zu Unterrichtsplanung und -gestaltung. Ziel der Deutschlehrerausbildung kann aber nicht die „Produktion von Fachmarionetten mit Scheuklappen sein, die blind jedem Herrn dienen", künftige Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer müssen vielmehr in ihrem Studium Gelegenheit zur Entfaltung vielfaltiger Qualifikationen bekommen: (1) als Fachfrau/Fachmann in ihrem Fachgebiet. Dazu gehören neben dem fachlichen Wissen und Können auch übergreifende Qualifikationen, die später in der Berufspraxis nicht weniger wichtig sind als Fachwissen, wie beispielsweise Kooperations- und Kommunikationsfahigkeit; Eigeninitiative und Selbständigkeit; die
Fähigkeit, Probleme zu lösen und Verantwortung zu übernehmen; (2) als Pädagogin/Pädagoge, die Hilfestellung zum „Lebenlernen" in einer sich ständig wandelnden Welt und zum aufgeschlossenen und toleranten Umgang mit der Welt der Zielsprache geben können; (3) als Menschen, die sich durch das Studium in ihrer personalen und sozialen Identität wie auch in ihren geistig-kreativ-ästhetischen Dimensionen weiterentwickeln können. Dabei spielt gerade die Beschäftigung mit Fragestellungen der fachlichen Bezugswissenschaften, die über das Technische, das Praktisch-Nützliche und „Funktionale" hinausgehen, eine wesentliche Rolle. 7.
Literatur in Auswahl
Aguado, Karin (Hg.) (2000): Zur Methodologie in der empirischen Fremdsprachenforschung, Hohengehren. Arbeitsgruppe Fremdsprachenerwerb Bielefeld (1996): Fremdsprachenerwerbsspezifische Forschung. Aber wie? Theoretische und methodologische Überlegungen. In: DaF 33/3, 144-155. Bausch, K.-Richard; Herbert Christ; Werner Hüllen u. a. (Hg.) (1984): Empirie und Fremdsprachenunterricht. Arbeitspapiere der 4. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts, Tübingen. —; - ; Frank G. Königs (Hg.) (1996): Erforschung des Lehrens und Lernens fremder Sprachen. Arbeitspapiere der 16. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts, Tübingen. - ; Hans-Jürgen Krumm (1995): Sprachlehrforschung. In: Karl-Richard Bausch; Herbert Christ; Hans-Jürgen Krumm (Hg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht, 3. Aufl. Tübingen und Basel, 7 - 1 3 . Blamberger, Günter; Gerhard Neuner (Hrsg.) (1995): Reformdiskussion und curriculare Entwicklung in der Germanistik. Internationale Germanistentagung Kassel 1995. DAAD Bonn. Clashen, H.; J. Meisel; M. Pienemann (1983): Deutsch als Zweitsprache: der Spracherwerb ausländischer Arbeiter. Tübingen. Christ, Herbert; Werner Hüllen (1995): Fremdsprachendidaktik. In: Karl-Richard Bausch; Herbert Christ; Hans-Jürgen Krumm (Hg.); Handbuch Fremdsprachenunterricht, 3. Aufl., Tübingen/Basel, 1-7. Dirscherl, Klaus (1995): Kulturraumstudien in Deutschland — das Passauer Modell des Diplomkulturwirts. In: Blamberger/Neuner (Hg.), 39—52. Dittmar, Norbert (1981): On the verbal organization of L2 tense marking in an elicited translation task by Spanish immigrants in Germany. In: Studies in Second Language Acquisition 3, 136—164.
41
4. Landeskundlicher Ansatz Ellis, Rod (1985): Understanding Second Language Acquisition, Oxford.
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— (1994): The Study of Second Language Acquisition, Oxford.
Neumann, Ursula (1995): Zweitsprachenunterricht Deutsch. In; Bausch/Christ/Krumm (Hg.), 3. Aufl., 95-99.
Grotjahn, Rüdiger (1995): Empirische Forschungsmethoden: Überblick. In; Bausch/Christ/Krumm (Hg.) 3. Aufl., 457-461. Habermans, Jürgen (1971): Technik und Wissenschaft als ,Ideologie', Frankfurt, 155. Henrici, Gert (1992): Die Kontur des Fachs Deutsch als Fremdsprache, Ein Vorschlag. DaF2, 67-71.
Neuner, Gerhard (Hg.) (1993): Regionale und regionenübergreifende Perspektiven der DaF-Kehrerausbildung, Kassel. — (1995a): Deutschlernen in deutschsprachiger Umgebung - Fragen und Aspekte der Entwicklung einer Zweitsprachendidaktik. In: Kilian/Neuner/Schmitt (Hg.) 25-41.
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— (1995b): Grundlagen und Prozesse der Curriculumentwicklung in der Ausbildung ausländischer Deutschlehrer — einige Anmerkungen. Irr Blamberger/Neuner, 85—96.
— ; Uwe Koreik (Hg.) (1994): Deutsch als Fremdsprache. Wo warst Du, wo bist Du, wohin gehst Du?, Hohengehren.
- ; H a n s Hunfeld (1993): Methoden des fremdsprachlichen Deutschunterrichts. Eine Einführung, München (Fernstudieneinheit).
Kast, Bernd; Hans-Jürgen Krumm (Hg.) (1994): Neue Wege in der Deutschlehrerausbildung. Sondernummer von FD.
Pienemann, M. (1981): Der Zweitsprachenerwerb ausländischer Arbeiterkinder, Bonn.
Kilian, Volker; Gerhard Neuner; Wolfgang Schmitt (Hg.) (1995): Deutsch als Zweitsprache in der Erwachsenenbildung, München. Königs, Frank (1983): Normenaspekte im Fremdsprachenunterricht, Tübingen. - (1991): Sprachlehrforschung: Konturen und Perspektiven. In: NM, Jg. 44, H. 2, 75-83. Krumm, Hans-Jürgen (Hg.) (1994): Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Eine Übersicht über Studiengänge an deutschsprachigen Hochschulen, Hamburg/Wien. - (1995): Interkulturelles Lernen und interkulturelle Kommunikation. In: Bausch/Christ/Krumm (Hg.) 3. Aufl., 156-161.
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(Deutschland)
4. Landeskundlicher Ansatz 1. 2. 3.
5.
Vorbemerkung Soziokulturelles Wissen und Landeskunde Konzeptionen von Landeskunde in der Geschichte des Faches Der landeskundliche Ansatz als inhaltüches Prinzip Literatur in Auswahl
1.
Vorbemerkung
4.
Während beim linguistischen Ansatz vom Sprachsystem (vgl. Art. 2), beim didaktisch-
methodischen von den Akteuren im Lehrund Lernprozess ausgehend (vgl. Art. 3) das Fach strukturiert und konturiert wird, lässt sich ein adäquater Bezugspunkt und Gegenstandsbereich für inhaltsbezogene Konzepte im Fremdsprachenunterricht nicht definieren. Theoretisch herrscht Einigkeit, dass sprachliche (und kommunikative) Kompetenz ein Wissen über die Soziokultur der fremden Sprache beinhalten muss, weswegen Harald Weinrich (1980) darin die dritte „Kompo-
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I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen
nente" des Fachs sieht — und unbestritten ist bei den Praktikern, dass soziokulturelles Wissen im Unterricht moderner Fremdsprachen beständig mitvermittelt wird. Weder lässt sich nun daraus der Schluss ziehen, dass man sich mit einer impliziten Vermittlung zufrieden geben kann, noch folgt daraus, dass beim Sprachlernen jedes Thema, sei es aus Texten im Unterricht zu erschließen oder in Lehrzielen gefordert, expliziter Gegenstand sein muss. Denn nicht nur Fachwissenschaftler und Praktiker beanspruchen den Fremdsprachenunterricht inhaltlich zu gestalten, sondern auch die Curricula - Planer, deren Leitziele für die schulische Erziehung in allen Fächern immer auch die Begegnung und den Umgang mit Fremden oder Fremdem thematisieren. Da durch den Fremdsprachenunterricht darüber hinaus ein „Landesbild" vermittelt wird, sorgen sich schließlich auch Politik und interessierte Öffentlichkeit darum, ob „ihr" Staat richtig dargestellt oder die Wettbewerbsfähigkeit „ihrer" Wirtschaft ins rechte Licht gerückt wird. Gleichzeitig existieren in der öffentlichen Meinung „Landesbilder" von den anderen, die mit dem Eigenbild verglichen und zur Wertung herangezogen werden. Die Frage nach der inhaltlichen Gestaltung des Fremdsprachenunterrichts wird als Auseinandersetzung um Begriff und Inhalt der Landeskunde geführt. Dabei ist diese auf unterschiedlichen Ebenen zu betrachten: - als Gegenstandsbereich der Forschung, — als Inhalt in der Ausbildung der Lehrenden, - als thematische Progression im Unterricht und — als Ergebnis staatlicher Fremdsprachenpolitik. 2.
Soziokulturelles Wissen und Landeskunde
Das im engeren Sinne sprachliche Wissen und das Vermögen, Sprechen in einer fremden Sprache strategisch vorzubereiten und auszuführen, wird ergänzt durch die Fähigkeit, die individuellen, sozialen, kulturellen und politischen Bedingungen der fremden Sprache und den Alltag der Muttersprachler wahrzunehmen und zu verstehen. Von der Soziologie und der Sozialpsychologie werden diese als Soziokultur gefasst. Die Fremdsprachendidaktik in den deutschsprachigen Ländern und noch stärker
einzelne Fachdidaktiken wie die für Deutsch als Fremdsprache verwenden mehrheitlich „Landeskunde" als umfassenden Terminus für die soziokulturellen Gegenstände und Bezüge. Allerdings bleiben der Bedeutungsumfang des Forschungsgegenstandes wie die Methoden der Vermittlung umstritten, wenn auch des öfteren die Kontroversen nur den Namen „Landeskunde" zu betreffen scheinen. 2.1. Der Gegenstand In der Diskussion um den Gegenstand der Landeskunde im Fremdsprachenunterricht wurde von verschiedenen Perspektiven und Zielsetzungen aus eine nicht unbeträchtliche Zahl an Begriffen für divergierende Ansätze gebraucht, die sich zwei grundlegenden Betrachtungsweisen zuordnen lassen: Für informationsbezogene Ansätze ist Landeskunde bestimmt als „die geographischen, ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Verhältnisse in Deutschland, deren Geschichte und Begriffe" (Reinbothe 1997, 505), als eine Enzyklopädie Deutschlands, die umfassende „Kunde vom Land". Derartige Konzepte leiten die Themen des Fremdsprachenunterrichts deduktiv aus der jeweiligen Fachsystematik einschlägiger Wissenschaftsdisziplinen ab, die als Referenz- oder Bezugswissenschaften für soziokulturelles Wissen definiert sind; Landeskunde wird mehr oder wenig eigenständig und ergänzend neben dem Sprachunterricht vermittelt. Integrative Modelle bestimmen Landeskunde als Teil des Sprachlernprozesses, als diejenigen „soziokulturellen Bedingungen", unter denen die Lernenden der fremden Sprache und Kultur begegnen, wenn ihnen die fremde Sprache in ihrem ursprünglichen Verwendungszusammenhang vorgestellt wird" (Buttjes 1995, 142); diese Begegnungen sind vor dem Hintergrund eigener Kultur- und Spracherfahrungen zu interpretieren und jeweils spezifisch zu „erkunden". Darunter fallen alle Ansätze, die den Gegenstandsbereich der Landeskunde durch Analyse des Verhältnisses von Sprache und Kultur, der Zielgruppe und/oder des Lernortes sowie der Unterrichtspraxis bestimmen. Da die Begegnungen mit dem „Fremden" als durch die Sprache vermittelt gesehen werden, ist die thematische Situierung und landeskundliche Reflexion als Prinzip unmittelbar in den Prozess des Sprachlernens integriert.
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4. Landeskundlicher Ansatz
2.2. Der Begriff Der Begriff der Landeskunde wird nicht nur für ganz unterschiedliche Modelle und Teilbereiche des gesteuerten Sprachunterrichts, sondern auch in der Forschung und Lehre zur Kennzeichnung des soziokulturellen Wissens und teilweise der Methoden zur Erforschung des Verhältnisses von Soziokultur und Sprache verwendet. Auch das Teilgebiet in der Aus- und Fortbildung von Fremdsprachenlehrern wird damit bezeichnet. 2.3. Landeskunde und Curriculum Mit seiner Aufnahme in den Kanon der Studiendisziplinen und Unterrichtsfächer sieht sich der institutionalisierte Unterricht moderner Fremdsprachen den Forderungen der (Bildungs-)Politik gegenüber. Die in den Lehrplänen formulierten allgemeinen Erziehungs- und Bildungsziele für die künftigen Staatsbürger sowie der geforderte Umgang mit gesellschaftspolitischen Leitbildern wurden und werden an den Fremdsprachenunterricht in der Regel als Forderungen an die Landeskunde gestellt. Die direkte Funktionalisierung des Fremdsprachenunterrichts für politische Zwecke orientiert sich ebenfalls an den Ergebnissen aus dem Vergleich der eigenen Kultur mit derjenigen der fremden Sprache. 2.4. Ebenen der Landeskunde Versucht man nun die verschiedenen Termini für das soziokulturelle Wissen im Fach Deutsch als Fremdsprache den beschriebenen Aspekten zuzuordnen, zeigt sich, dass viele fast unterschiedslos allen Ebenen zugeordnet werden: „Landeskunde" bezeichnet einen Teilbereich der Forschung, den Kanon soziokulturellen Wissens, ein (Teil-)Fach in der Ausbildung und eine Perspektive beim Erlernen der Sprache. Es geht im folgenden also nicht darum, eindeutige Zuordnungen zu finden, sondern die Übersicht für den historischen Rückblick zu erleichtern: - Eine Landeskunde, die Informationen über die geografischen, historischen, politischen Gegebenheiten usw. in der Ausbildung oder neben dem Sprachunterricht im engeren Sinne vermittelt, wird als Realienkunde, Deutschlandwissen oder Deutschlandkunde mit einer komplementären Auslandskunde, als „eigentliche" Landeskunde (s. Linguolandeskunde) oder, mit deutlich eingeschränk-
tem Bedeutungsumfang, auch als Institutionenkunde bezeichnet. - Erweitert oder ergänzt wurde diese kognitiv bestimmte Landeskunde um eine Leutekunde, die speziell den Alltagsbereich (das Alltagswissen) erfasst. Das Kontextwissen bezeichnet ebenfalls die landeskundlichen Fakten, die getroffene Auswahl und deren Vermittlung, und wird texttheoretisch begründet. - In der Forschung sowie der Ausbildung von Lehrern und Philologen hat sich der aus der Auslandsgermanistik kommende Begriff der German Studies (jetzt auch: European Studies), als Civilisation allemande, Deutschlandstudien (bzw. -Wissenschaften), oder allgemeiner für die Didaktik der neueren Fremdsprachen als Länderkunde und Landeswissenschaft etabliert. Integrierte Ansätze von Landeskunde greifen teilweise wieder zurück auf den Begriff der Kulturkunde (auch: Landes- und Kulturkunde), in der Forschung dann entsprechend als Landes- und Kulturwissenschaften bzw. Cultural Studies. Handlungsorientierte Ansätze wie die erlebte Landeskunde definieren sich vom Lernort her bzw. suchen ihre Inhalte für die jeweilige Zielgruppe zu bestimmen. Ebenfalls am Erfahrungshorizont der Lernenden, speziell den Begegnungssituationen mit dem „Fremden" setzen Modelle einer interkulturellen Landeskunde an. - Linguolandeskunde und landeskundliches Lernen als Bedeutungsermittlung schließlich beziehen sich konkret auf die im Unterricht behandelten Wörter, um ihre Funktion in der dahinter stehenden Soziokultur zu ermitteln.
3.
Konzeptionen von Landeskunde in der Geschichte des Faches
Verschiedentlich wurde betont, dass der Blick in die Vergangenheit der Landeskundediskussion überraschend viele Parallelen zu gegenwärtigen Diskussionen aufweist (Schröder 1981, 33), dass die historische Analyse durchaus aktuelle Argumentationshilfen geben kann. Für das 19. und die erste Hälfte des 20. Jhs. wird fast ausschließlich auf Ergebnisse der „realistischen Bildung" und auf die „Realien" im Rahmen der allgemeinen Didaktik moderner Fremdsprachen in der Schule zurückzugreifen sein; Forschungen, wie das Deutsche außerhalb des deutschen
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I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen
Sprachraums unterrichtet wurde, fehlen. Des weiteren werden Fragen nach den Realien im (Sprach-)Unterricht in Zusammenhang gebracht mit dem Ringen um die Bildung. Die Untersuchungsergebnisse aus Arbeiten über das Englische (Raddatz 1977) oder das Französische als Fremdsprache (Melde 1987) sind für Deutsch als Fremdsprache zum Teil eigene Vorgeschichte, die bis in die Gegenwart wirken kann. Als Zäsur kann man die Jahre nach der Gründung des deutschen Nationalstaates 1871 ansehen: Nun wird es wichtig, nicht nur die Rolle der modernen Fremdsprachen im nationalen Schulwesen neu zu reflektieren, sondern auch mit dem Aufbau einer auswärtigen Kulturpolitik zu beginnen, in deren Rahmen auch das Deutsche in den Kolonien der neuen Weltmacht unterrichtet werden sollte. In der mittelalterlichen Welt waren fremde Sprachen wenigen vorbehalten: Herrschern, geistlichen und bald auch weltlichen Gelehrten, zuletzt Reisenden und Händlern, der sich herausbildenden Klasse der Bürger. Latein war Bildungsgut und Verkehrssprache der geistlichen und weltlichen Eliten. Noch schlossen sich kommunikativer Gebrauch der Sprache und idealistische Ziele wie die Entwicklung der Persönlichkeit nicht aus, wie auch umgekehrt die praktische Verwertbarkeit des Lateinischen seine Funktion als Bildungsgut nicht beeinträchtigte. Erst mit Beginn der Neuzeit, im Zuge der Erfolge der Naturwissenschaften und ihrer radikal neuen Weltsicht, konnten sich die Muttersprachen neben den klassischen Sprachen speziell seit dem Humanismus durchsetzen. Mit der Überwindung der feudalen Strukturen und dem Entstehen der Nationalstaaten wurde ein realistischer und praktischer Unterricht als Bürgerrecht propagiert. Für den ökonomischen Aufstieg war nun nicht mehr die Herkunft und Bildung, sondern die Nützlichkeit der yiwjbildung das Maß. 3.1. Realienkunde und Bildungswerte Die informationsbezogene Landeskunde hatte und hat es schwer, sich vom Odium positivistischer Datensammlung und materialistischer Verengung zu befreien. Im Schulstreit der ersten Jahrzehnte nach der Reichsgründung sprachen speziell in Deutschland die Verfechter einer „humanistischen Bildung" den Realschulen und deren Fächerkanon, neben den naturwissenschaftliche Disziplinen vornehmlich den modernen Fremd-
sprachen, einen Bildungswert ab. Die Verfechter einer „realistischen Ausbildung" in den modernen Fremdsprachen suchten diesen, oft nach den vorgegebenen Kriterien der Altphilologen, nachzuweisen: Jede moderne Sprache könne ebenso formale Fähigkeiten bilden wie eine alte, die Kenntnis fremder Länder und Menschen gehöre für eine aufstrebende Weltmacht zur Allgemeinbildung ihrer Bürger und die praktische Notwendigkeit etwa des Englischen als Verkehrs- und Handelssprache stehe im nationalen Interesse. Letztlich aber verhalfen der Modernisierungsschub und die umfassende Funktionalisierung und staatliche Organisation des gesamten Ausbildungssektors, dem sich auch das Gymnasium nicht mehr entziehen konnte, der realistischen Ausbildung zu ihrer nachhaltigsten Legitimation; das verlangte von den Fremdsprachendidaktikern, ihre Fächer für die damalige „Globalisierung", den Konkurrenzkampf mit den europäischen Industrienationen, vorzubereiten. Dem sollte — im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts — die möglichst umfassende Auflistung von Realien über die anderen Nationen dienen. Die Auswahl dieses Wissens wurde weder sozialwissenschaftlich aus dem Verhältnis von Sprache und Gesellschaft noch fachdidaktisch aus der Bedeutung soziokulturellen Wissens im Prozess des Sprachlernens begründet, sondern mit ökonomischen oder (bildungs-)politischen Zielen. Deutlich dominiert die inhaltliche Komponente den Sprachunterricht: Kenntnis von Staat und Gesellschaft und Verständnis des „fremden Volkstums", aber auch ein Bewusstsein von der „Zusammengehörigkeit der europäischen Völker" sollen das natürliche Ergebnis sein (vgl. Raddatz 1977, 17). Utilitaristische Erwartungen an den Sprachunterricht können also ebenso von national-abgrenzenden wie von völkerverbindenden Positionen aus formuliert werden - beide allerdings nicht als integrative Modelle für den Fremdsprachenunterricht. Die genaue Kenntnis des „Fremden" und seines „Wesens" wird die Grundlage bilden zum Vergleich mit dem „Eigenen", dessen Ergebnisse dann nationalistisch umgedeutet werden können. Aber ebenso lässt sich die entgegengesetzte Forderung nach Solidarität und Verständigung unter den „Völkern" von außen herantragen. Historisch zeigt sich, dass schon vor dem Weltkrieg das Fremde als Folie benutzt wird, um den Wert des eigenen Volkes zu zeigen.
4. Landeskundlicher Ansatz
Der landeskundliche Kanon sollte dafür eine Sammlung aller relevanten Fakten bereitstellen, in einer Progression vom Wissen um den Alltag, um „Land und Leute", über die wichtigsten Faktoren aus Geographie und Geschichte bis zu den sozialen, ökonomischen und politischen Verhältnissen. Das Sprachlernen wird dadurch in die Lage versetzt, Texte zu Alltagsthemen bereitzustellen allerdings sollen mit zunehmendem Sprachverständnis auch Texte der jeweiligen Nationalliteratur oder die Viten der bekanntesten Künstler, Wissenschaftler und Politiker verwendet werden, um daraus im Gefolge der gerade modernen Wissenschaft Psychologie den „Charakter" des anderen Volkes, den „Nationalcharakter" zu bestimmen. Man kann bei diesem Kanon nicht von einem Curriculum oder Lehrplan für Landeskunde sprechen, zu sehr beschränkten sich derartige Aufzählungen darauf, die politischen Vorgaben zu erfüllen. Der eigene, im Zuge eines sich stärker artikulierenden deutschen Nationalbewusstseins immer positiver gesehene Nationalcharakter, bald das „Wesen" des deutschen Volkes genannt, sollte umgekehrt weltweit Sympathie für Deutschland und seine ökonomische und politische Expansion wecken. Gefordert wird dies in der „Geheimen Denkschrift des Auswärtigen Amtes über das deutsche Auslandschulwesen" vom April 1914: „... in größerem Umfang als bisher ... richtige Vorstellungen von Deutschland in fremden Völkern verbreiten und möglichst weite Kreise mit deutscher Art und Bildung vertraut machen" (zitiert nach Ammon 1991, 530). Neben den bestehenden Auslandschulen zur Bewahrung des Deutschen, die meist Kindern von Auswanderern oder deutschen Arbeitsmigranten offenstanden, und neben Schulen des jeweiligen Landes mit einem Sprachschwerpunkt Deutsch, wurden „Propagandaschulen" zur Verbreitung deutscher Sprache und deutschen Wesens gegründet für nicht-deutschsprachige Ausländer. Eine kritische Auseinandersetzung mit den damaligen Lehrplänen oder Lehrwerken liegt uns nicht vor, aber deren Aufbau sich vorzustellen fällt nicht schwer: Neben einem grammatiklastigen Sprachlehrwerk eines der damals so genannten „Realienbücher", in dem das Land, seine Bewohner und der deutsche Nationalcharakter positiv dargestellt sind. Die Realienkunde als praktisch-instrumentelle Landeskunde konnte natürlich die gesellschaftlich in sie gesetzten „Erwartungen"
45 oder gar Aufgaben im 1. Weltkrieg nicht erfüllen, trotzdem bot dies den Grund für die grundsätzliche Kritik und letztlich auch die Abkehr der reformwilligen Bildungsplaner vom realistischen Unterricht überhaupt: Nicht mehr nachvollziehbar heute der Glaube, die gegenseitige Kenntnis der Sprache entspreche schon einer Verständigung oder die Bereitstellung von Realien könne direkt bei kriegerischen Auseinandersetzungen nützen. Die Kritik aber wendet sich nicht gegen die inhaltlich und methodisch fragwürdige Funktionalisierung, sondern verlangt nur eine andere. 3.2. Kulturkundliche Konzepte Die für eine praktische Sprachbeherrschung getroffene Auswahl - aktuell, realistisch, Verständigung vorbereitend - wird einer völlig anderen Perspektive unterworfen: „Es ist vielmehr so, dass kulturkundlicher Unterricht nichts anderes bedeutet als eine neue Einstellung des ganzen Unterrichts, ein anderes Gerichtetsein in der Methode, eine Verschiebung des Gesichtspunktes nach einer anderen Seite hin ... (zur) „kulturkundlichen Durchdringung", um „an der fremden Volksart zum Bewusstein unserer eigenen Art (zu) kommen" (Strohmeyer 1928, 201 ff.). Damit erfährt nicht nur die Persönlichkeitsbildung in der neohumanistischen Tradition ihre Renaissance, verdrängt Sprachbetrachtung den Gebrauch der Fremdsprache, sondern die schon vor und vor allem mit dem 1. Weltkrieg artikulierte „nationale Erziehung" vereinnahmt den Unterricht. Zur Spiegelung des eigenen im fremden Nationalcharakter werden fremdsprachige Äußerungen auf eine verschwommene Volksseele hin durchforstet. Wiederum sind es vulgarisierte Versatzstücke der Psychologie, mit deren Hilfe man „den Charakter" der anderen zu beschreiben sucht. Legitimiert wird auch die Kulturkunde, weil sich unterschiedlichste politische Forderungen an sie stellen lassen: Jenen liberalen Kräften, die schon von der Realienkunde eine bessere Kenntnis der fremden Gesellschaft, einen „europäischen Gemeinsinn" (vgl. Schröder 1981, 41) gefordert hatten, stehen national bewusste Pädagogen gegenüber, deren „Wesensschau" eine weitergehende Funktionalisierung des Fremdsprachenunterrichts geradezu herausfordert. In den deutschen Auslandsschulen schien dieses Konzept einer Besinnung auf die eigenen Werte am ehesten eine Bewahrung der deutschen Sprache und Kultur zu garantie-
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I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen
ren, die nach dem verlorenen Krieg zwar in einigen Ländern in den Lehrplan aufgenommen wurden, nicht selten aber unter umgekehrten Vorzeichen als Negativfolie in einem ebenfalls kulturkundlich geprägten Deutsch als Fremdsprache-Unterricht dienten. Den Nationalsozialisten musste die Kulturkunde als besonders geeignet erscheinen, wissenschaftlich verbrämte (Sprach-)Propaganda ihrer rassistischen Theorien zu werden. Die Wesens- konnte sich zur Ämekunde weiterentwickeln: Das „Wesen" oder der „Nationalcharakter" musste aus den Äußerungen in den fremdkulturellen Texten und Zeugnissen erschlossen werden, einer „Rasse" waren Menschen per definitionem zugehörig, der höhere Rang der „arischen Herrenrasse" vor den „andersrassigen Sklavenvölkern" schien spätestens ab 1939 im Krieg durchgesetzt. Alle Äußerungen einer anderen Soziokultur wurden nur noch in ein Bild von der fremden Kultur und dem anderen Menschen mit „typischen Rassemerkmalen" eingeordnet, so dass jeweils mit dem edlen, guten Deutschen ein treuloser, böser Anderer verglichen werden konnte. Weder ist bisher erforscht, wie die liberalen Pädagogen mit idealistisch-kosmopolitischen Anschauungen verschwanden, noch, welche Verfechter der Kulturkunde an den Plänen beteiligt waren, mit denen in den besetzten Ländern das „Deutschtum" durchgesetzt werden sollte. Geplant war ein Deutsch als Fremdsprache-Unterricht, der mit rassistischen Begründungen in unterschiedlichem Umfang den zukünftigen Arbeitssklaven zugedacht war: Als Amtssprache war generell Deutsch vorgesehen bzw. wurde noch während des Krieges eingeführt, bei „arischen Völkern" als Muttersprache, bei den „slawischen" als reduzierte Befehlssprache; mit den Bildern und Texten der eigenständigen Deutschlandkunde in Magazinen und pseudo-wissenschaftlichen Propagandaschriften sollte ein positives Bild der deutschen „Herrenrasse" vermittelt werden (Ammon 1991, 534). Verschiedene Länder, etwa in Skandinavien, strichen das Fach Deutsch aus den Lehrplänen, in den USA dagegen sollten German Studies verwertbare Erkenntnisse über den Kriegsgegner liefern. Das
Fortleben kulturkundlicher
Ansätze
nach 1945 verdankte sich zunächst der politisch-administrativen Einflussnahme der alliierten Siegermächte, die ihre demokratischen, kulturellen und pädagogischen Standards in einem Re-Edukations-Programm dem deut-
schen Volk vermitteln wollten. Als der von allen Fächern geforderte Beitrag zur politischen Bildung ersetzte die Kulturkunde das völkisch interpretierte Wesen durch einen positiv verstandenen Nationalcharakter, um so einen Beitrag zur Völkerverständigung zu leisten. Der Fremdsprachenunterricht im westlichen Besatzungsgebiet knüpfte direkt an die idealistisch-kosmopolitischen Ansätze der Kulturkunde in der ersten Hälfte der Weimarer Republik an, die Zeit „dazwischen" wurde als „Betriebsunfall", verursacht durch politisch motivierte Forderungen nach praktischer Verwertbarkeit der erworbenen sprachlichen und soziokulturellen Kenntnisse, gewertet und verdrängt. Die Rückbesinnung auf die neohumanistische Persönlichkeitsbildung sah in der von neuem dominierenden Grammatik-Übersetzungs-Methode das adäquate Mittel formaler Geistesschulung. Im Vordergrund stand das einer strengen grammatischen Progression folgende Lehrwerk, dessen Texte nicht authentisch waren, sondern auf bestimmte Phänomene der Grammatik hin konstruiert und typisiert. Als erstes einsprachiges Deutsch als Fremdsprache-Lehrwerk dieser Epoche prägte „Schulz/Griesbach: Deutsche Sprachlehre für Ausländer (1955)" den Unterricht im In- und teilweise auch Ausland, aber auch die Didaktik und Methodik des Deutschen als Fremdsprache. Landeskundlich-informierende Texte im Anschluss an die Lektionen bezogen sich in Übereinstimmung mit den generellen Erziehungszielen häufig auf den Bereich Staat und Politik, waren allerdings primär zur Erweiterung des Vokabulars gedacht. Meist erst im Unterricht für Fortgeschrittene trat neben den Sprachunterricht die Lektüre und Interpretation der Werke der Klassiker, um Werte wie Völkerverständigung, Freiheit und Toleranz zu fördern. Häufig trat aber die Literatur ganz an die Stelle der Landeskunde. Vor allem in der Auslandsgermanistik und an den deutschen Auslandschulen wuchs die Bedeutung der Lektüre und der Literaturwissenschaft. Deutsch als Fremdsprache hatte fast überall einen schweren Rückschlag erlitten, auch wenn das Fach in einigen nationalen Curricula außerhalb der von Deutschland besetzten Gebiete erhalten geblieben war. Wenn landeskundliche Inhalte nicht vollständig fehlten, dann klammerten sie aktuelle Situation aus und stellten das „bessere Deutschland" der Geschichte oder der Emigration
4. Landeskundlicher Ansatz
dar. Um das Deutsche als Fremdsprache gleich nach Kriegsende wieder einzuführen, hätte es der Mittlerorganisationen bedurft, die teilweise aber als nazistisch eingestuft und noch verboten waren. Erst nach dem ökonomischen Aufschwung und der politischen Anerkennung für den westdeutschen Teilstaat wurde Deutsch als Fremdsprache in den 50er Jahren vor allem bei den europäischen Nachbarn im Westen wieder attraktiver. Die Vermittlung eines positiven Landesbildes der Bundesrepublik als demokratischem Mitglied der Völkergemeinschaft war eines der Ziele der Kulturpolitik des 1951 wieder gegründeten Auswärtigen Amtes; diese „Aufgabe" wurde der Landeskunde übertragen. In der DDR und in Osteuropa stieg Russisch zur ersten Fremdsprache auf. 3.3. Linguistische und pädagogische Perspektiven der Landeskunde nach 1965 Nur die Rückbesinnung auf das kulturkundliche Bildungsideal schien in den Nachkriegsjahren die Gewähr zu bieten, einer neuerlichen Funktionalisierung des Fremdsprachenunterrichts zu entgehen. Man beschränkte sich auf die Vermittlung von Sprachkompetenz und klammerte möglichst alle gegenwartsbezogenen Inhalte zugunsten ewiger menschlicher Werte aus. In den entsprechenden Lehrplänen tauchte Landeskunde als Fach oder Bereich allenfalls mit dem Hinweis auf die „implizite" Landeskunde auf. In den 60er Jahren wurde für den gesamten Bildungsbereich Kommunikation zu einem der wichtigsten Ziele erklärt, die besondere Bedeutung der (Fremd-)Sprache hierfür betont. Die Grammatik-Übersetzungs-Methode wurde abgelöst von den audiolingualen und audiovisuellen Methoden eines Fremdsprachenunterrichts mit behavioristisch oder strukturalistisch begründetem und gestaltetem Sprachtraining (vgl. Art. 82 und 86). Der Zweckbestimmung entsprechend beschränkte sich die Beschäftigung mit der Soziokultur auf die Zuordnung bestimmter Redeabsichten zu verallgemeinerten ahistorischen Alltagssituationen; nicht um die Sprache auf ihren kulturellen Bedeutungsgehalt zu beziehen, sondern um die sprachlichen Drills leichter zu vermitteln. Nie zuvor war die Situierung der Sprache so radikal negiert worden wie im texttheoretisch legitimierten Ausschluss der Inhalte und ihrer Definition als Kontext-Wissen (Picht 1995, 67). War Realienkunde noch als notwendiger, wenn auch
47 getrennter Teil des Fremdsprachenunterrichts gesehen worden, so sollte das „Kontextwissen" aus dem Wissensbestand anderer wissenschaftlicher Disziplinen abgerufen werden. Auch die 1973 erschienene „Didaktik der Landeskunde" von Erdmenger/Istel (1973) begründet auf der Grundlage des neuen Lernziels Kommunikationsfahigkeit die Rolle der Landeskunde sprachimmanent als Hilfswissenschaft', die lediglich dazu dient, einzelne Begriffe verständlich zu machen, aber keinen systematisch aufgebauten Themenbereich darstellt. Im Zuge der Auseinandersetzungen um eine Reform von Gesellschaft und Bildungssektor — der „mündige Bürger" als oberstes Ziel, Teilhabe an der „gesellschaftlichen Kommunikation" als Weg - wurde jedoch der (Sprach-)Unterricht nicht nur methodisch neu bestimmt. Vielmehr setzte die Kritik auch an der vermeintlich neutralen und apolitischen Literatur- bzw. Kulturkunde an, um diese mit dem Konzept der „Politischen Bildung" zu verknüpfen: Fremde Sprachen sind ein Mittel zur Emanzipation des einzelnen, indem sie ihn befähigen, gleichberechtigt an der gesellschaftlichen Kommunikation und Interaktion teilzuhaben. Als Inhalte des Sprachunterrichts werden nicht mehr bloße Kenntnisse vermittelt, sondern das für den Erwerb einer kommunikativen Kompetenz notwendige soziokulturelle Wissen soll situationsgerecht erarbeitet werden. Allerdings blieben diese Forderungen dem Sprachunterricht zunächst äußerlich, da die Voraussetzung fehlte, die Klärung der wechselseitigen Beziehung von Sprache und Soziokultur. Für Deutsch als Fremdsprache fehlte darüber hinaus auch noch der wissenschaftliche Rahmen, da sich eine Fachdidaktik erst zu entwickeln begann. So konnten sich Praktiker und Lehrwerkautoren nur an den anderen Philologien orientieren. In der Romanistik etablierte sich das „Deutsch-Französische Institut", in dem mit den Methoden der Sozialwissenschaften Gegenstand und Stellenwert soziokulturellen Wissens beim Sprachlernen bestimmt wurden. Aus der Einsicht, dass es eine Kommunikation an sich nicht geben kann, sondern diese Angehörige verschiedener Kulturen zusammenführt und nur so Sinn vermitteln kann, wird diese zu einer „transnationalen Kommunikationsfähigkeit" erweitert und Landeskunde so neu legitimiert als integrierender Bestandteil der Fremdsprachendidaktik (Picht 1995, 70).
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I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen
Begünstigt durch bildungspolitische Reformen, die ideologiekritische Durchforstung der universitären Disziplinen sowie der Schulfächer und forciert durch eine neue Generation von Lehrwerken, schwindet die Dominanz des linguistischen Konzepts, und eine sozialwissenschaftlich begründete Landeskunde kann sich durchsetzen, so dass sogar von „Landeskundisierung" gesprochen wurde. Eine wesentliche Bedingung für deren verstärkte Förderung war auch in der neuen Außenpolitik begründet, die als ihre „dritte Säule" den Kultur- und Sprachaustausch zum Programm einer neuen Selbstdarstellung der aktuellen Erfolge der BRD erhob, bis 1989 in Systemkonkurrenz mit der DDR. In den Ländern des ehemaligen Ostblocks wurde der Fremdsprachen- wie jeder andere Unterricht von einer (gesellschaftlichen) Grundorientierung abgeleitet, aus der sich die Methode des Lehrens und Lernens entwikkelte. Von daher erklärt sich der hohe Stellenwert der Landeskunde, vor allem in der Lehrerausbildung dieser Länder bis heute. Die sowjetische Fremdsprachendidaktik unterschied zwischen „Landeskunde als Lehrdisziplin" mit einem „Wissen in systematisierter Form" (Zuckova 1986, 30) und der „Linguolandeskunde", die „kommunikativ und damit stets redeorientiert ist" (ebd.) und „mit linguistischen Mitteln extralinguistische Inhalte" (Zuckova 1986, 30) ausdrücken will. Besonders zu berücksichtigen sind lexikalische Einheiten oder Ausdrücke (auch Sprichwörter) des Deutschen ohne Entsprechungen in anderen Sprachen, weil sich in ihnen die politischen und sozialen Verhältnisse (ζ. B. Aktivist—Arbeitnehmer) in den damaligen beiden deutschen Staaten widerspiegeln. Als oberstes Lernziel wird eine „Friedliche Koexistenz der Völker" gefordert. Natürlich spielte hierbei für die D D R ein eigenes, von der BRD unterscheidbares „Landesbild" zur Legitimation des zweiten deutschen Staates eine besondere Rolle, ausgedrückt durch die frühe Forderung von Dietrich Herrde, „Landeskunde als integrierter Bestandteil des Fremdsprachenunterrichts" und als „Unterrichtsprinzip" zu betrachten (Herrde 1971, 321). In einem späten Beitrag zu neuen Entwicklungen in der Landeskunde DDR fasst Rainer Bettermann dies zusammen als „die Einheit von Erziehung und Ausbildung und die Einheit lk. spezifischer und gesamtgermanistischer Zielstellung", um die „objektive Realität des Landes", die „fachspezifische
Zielebene" und die „fachspezifische Adressatenebene" zu integrieren (Bettermann 1989, 324). 3.4. Integration von Sprach- und Kulturlernen Die „Landeskundediskussion" könnte man seit ihren Anfängen als Abfolge exklusiv behaupteter Ansätze kennzeichnen, als „Pendelbewegungen" von realistischen zu idealistischen Zielen, von anwendbarem Wissen zu individueller Bildung, von Fertigkeiten zu Fähigkeiten, von pädagogisch zu politisch legitimierten oder gesetzten Zielen — und vice versa. In ihr spiegelt sich mithin nicht nur die Entwicklung der Fremdsprachenphilologie und des Fremdsprachenunterrichts, sondern sie ist immer auch der Indikator für den Grad der Abhängigkeit der Erziehungsziele von den Einflüssen aus Politik und Gesellschaft. Landeskunde wurde durch linguistische Ansätze entweder aus dem Fach als Kontext ausgeschlossen oder als „Anwendungsbereich" einer Bezugswissenschaft ebenfalls nicht unmittelbar in den Prozess des Sprachenlernens integriert. Mit der „Kommunikativen Wende" im Fremdsprachenunterricht werden die Parameter landeskundlichen Lernens als Bezugssystem von Sprache, sozialer Interaktion und gesellschaftlichem Rahmen definiert (Neuner 1997, 40). Landeskunde als Ansatz wird für das Fach nur wirksam, wenn sie soziokulturelles Wissen, kommunikative Situationen als integrierende Perspektiven von Unterricht und Sprache einer konkreten Gesellschaft zusammenführt. Die Differenzierung nach einer kognitiven, kommunikativen und interkulturellen Landeskunde (Weimann/Hosch 1993) hat heuristischen Wert, kann aber nicht als eine Progression - „von den Fakten zum Verstehen" - gesehen werden, sondern benennt Schwerpunktsetzungen, wie die einer informationsorientierten, aber auch kontrastiven Landeskunde, die für bestimmte Lernorte oder Zielgruppen dominieren. Einen frühen linguistischen Versuch, soziokulturelles Wissen in den Sprachunterricht zu integrieren, legte Bernd-D. Müller (1981) mit „Konfrontative Semantik" vor. Er zeigt, dass Wörter und Begriffe einer Sprache keine Äquivalente in der anderen haben müssen und erst zu verstehen sind, wenn sie als Einzelelement am entsprechenden Ort der fremden Soziokultur eingeordnet werden können
4. Landeskundlicher Ansatz
(funktionales Äquivalent); dies vollzieht sich in der Konfrontation mit der eigenen, wodurch dem Vergleich als Verfahren im Fortgang der Erkenntnis von Differenzen und Ähnlichkeiten besondere Bedeutung zukommt (vgl. Linguolandeskunde). Dieser Ansatz hat sowohl in der Forschung, in der Ausbildung der Fremdsprachenlehrer wie im Unterricht des Deutschen als Fremdsprache Folgen gezeitigt, so im Rahmen des „Interkulturellen Ansatzes", im „Fernstudienprojekt", den Lehrwerken „Sichtwechsel" und „Sprachbrücke". Das weitgehend multidisziplinäre Konzept von Picht und anderen im Umfeld des deutsch-französischen Instituts versuchte, von den Inhalten her die Totalität fremder Kultur zu erfassen, indem nicht mehr nur nach einer „Leitwissenschaft" gesucht wurde, sondern nach Bezugswissenschaften (dokumentiert in umfänglichen Fachbiografien für den DAAD). Das „Tübinger Modell einer integrativen Landeskunde" von Mog und Althaus (vgl. Mog 1992) entwickelt den multidisziplinären Entwurf im Sinne eines „interdisziplinären Projekt(s)" (Picht 1995, 69) weiter. Vertreter vor allem sozialwissenschaftlicher Disziplinen analysieren von ihren unterschiedlichen Perspektiven aus Gegenstände, die nicht mehr aus dem Gesamt der Kultur, sondern aus Erfordernissen beim Erlernen fremder Sprachen deduziert werden. Zurückgegriffen wurde dabei auf die Ergebnisse der Stereotypenforschung, die in der romanistischen und anglistischen Philologie bereits in die Curricula aufgenommen waren. Der interdisziplinäre Ansatz wurde exemplarisch ergänzt durch ein regional-spezifisches Vergleichsverfahren der deutschen mit der amerikanischen Soziokultur, das auf andere Ausgangssprachen und Soziokulturen übertragen werden kann. Die Frage der Kulturkunde nach Landesbildern und Nationalcharakter wird entideologisiert und ein didaktisches Vergleichsverfahren zur Analyse der Voraussetzungen von Verstehen und sogar Verständnis des Anderen an seine Stelle gesetzt. „Regionalisierung" differenziert die konkreten Bedingungen des Unterrichts entsprechend dem Lernort; im Lehrwerk „Typisch deutsch"? wird das Verfahren am Beispiel des Deutsch als Fremdsprache-Unterrichts in Polen angewandt (vgl. Behal-Thomsen u. a. 1993). Diese Versuche, ausgehend vom sprachbzw. inhaltsbezogenen Ansatz her Sprachund Kulturlernen zu integrieren, beurteilen Firges/Melenk eher kritisch, da nicht „große
49 Entwürfe" (Firges/Melenk 1995, 515) für eine Integration relevant seien, sondern die Inhalte des Sprechens im Unterricht, die zur Erarbeitung von Wörtern und Themen gebraucht werden. Diese Inhalte finden sie im Alltagswissen, das die Lernenden als eigenes mitbringen und zu dem sie Zugang haben. In der Konfrontation von fremder und eigener Sprache und Kultur wird ausgewählt, was die kommunikative Kompetenz inhaltlich füllt. Allerdings wird das „Alltagswissen" wieder wie das Kontextwissen außerhalb des Unterrichts gesehen bzw. als alleiniger Inhalt der Landeskunde behauptet (zur Kritik: Picht 1995, 68). Mit der Wiederaufnahme der Grunddaseinsfunktionen und des durch sie definierten Alltags der Individuen erscheinen diese als handelnde. Zum einen wird der „Königsweg" beim Erwerb von Fremdsprachen - die direkte Begegnung mit Land und Leuten des Zielsprachenlandes — in vielfaltigen Formen der erlebten Landeskunde umgesetzt: Schüler- und Studentenaustausch, Seminare zur „Erlebten Landeskunde" für Lehrende als unmittelbare Begegnungssituationen (vgl. Art. 96). Zum anderen gehören mittelbare Begegnungen, also Kontakt und Kommunikation mittels verschiedenster Medien als indirekte oder simulierte inzwischen in vielen Schulen zum Repertoire. Die weiterhin vornehmlich kognitiven Modelle von Landeskunde in Lehrwerken und im Curriculum erfahren hier eine handlungsorientierte Erweiterung, wobei allerdings noch zu klären bleibt, wie Weltwissen und (Unterrichts-)Erfahrungen der Lernenden einbezogen werden können. Die hier diskutierten Ansätze reflektieren in erster Linie den Bezug von (gesprochener) Sprache und Soziokultur, mithin inirakulturell die Beziehung von Subjekt und Objekt des Spracherwerbs. Diese Sichtweise wird erweitert durch Konzepte einer Landeskunde, welche die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, resp. die Veränderung derselben, zum Ausgangspunkt wählen. Als eine Reaktion auf die Entwicklung auch der Bundesrepublik zu einer immer stärker multikulturell geprägten Gesellschaft seit Beginn der massenhaften Arbeitsimmigration aus der Peripherie Europas (und angrenzenden außereuropäischen Regionen) ab den 60er Jahren entwickelte sich das Fach Deutsch als Zweitsprache (vgl. Art. 5), ebenso wie eine Diskussion um die Integration der Arbeitsmigranten (und der Asylsuchenden) entbrannte. Innerhalb einer
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Soziokultur galt es nun, verschiedene kulturelle Identitäten zu akzeptieren, wobei dem gegenseitigen Wissen um die „fremde" größte Bedeutung zukam. Von verschiedenen Disziplinen - Pädagogik, Entwicklungspsychologie, Ethnologie - aus wurden das Aufeinandertreffen von „Fremden", Individuen aus verschiedenen Kulturen, analysiert und interkulturelle Vergleiche angestellt (vgl. Art. 87 und 100). Besonders im Fremdsprachenunterricht wurden „Interkulturelles Lernen" und „Interkulturelle Kommunikation" rezipiert, während In- und Auslandsgermanistik die „Interkulturelle Germanistik" als eine „Fremdkulturwissenschaft" oder „Xenologie" weiterentwickeln, die von Alois Wierlacher, der „Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik" (GIG) und einem Kreis um das „Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache" (1975ÍF.) zum Paradigma erhoben wird. Auch im Bereich der Sprachwissenschaft und der Sprachlehrforschung finden sich Konzepte mit dem Epitheton „interkulturell", so dass die Warnungen vor einem inflationären Gebrauch, bloßen Umbenennungen bekannter Sachverhalte oder gar einem „Paradigmenwechsel" (Rosier 1993; Krumm 1995) berechtigt scheinen. Interkulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht reagiert auf eine sich verändernde, zunehmend mehrsprachige Welt, in der immer mehr Menschen zu immer mehr Begegnungen und Grenzüberschreitungen gezwungen sind (Krumm 1995, 159). Diese Begegnungen müssen so offen gestaltet werden, dass sie frei von Angst vor dem Verlust der eigenen ebeso wie der Dominanz der anderen Identität erlebt werden können. Thimme sieht diese „Stilisierung des Interkulturellen zu einem Ansatz, der diesen von anderen Ansätzen der Landeskunde trennt" (Thimme 1996, 29), nicht gerechtfertigt, da Interkulturalität als ein übergeordnetes Lernziel die soziale und affektive Dimension jeglicher Erziehung betont. Als Bestandteile interkultureller Ansätze in der Landeskunde benennt Pauldrach demzufolge die konfrontative Semantik, die „Alltagskultur", die „Fremdperspektive" und die „Rückbezüglichkeit des Blickes auf das Fremde" (Pauldrach 1992, 12 f.). Die ABCD-Thesen gehen zurück auf eine Arbeitsgruppe mit Mitgliedern aus den beiden deutschen Staaten, aus Österreich und der Schweiz aus dem Jahre 1988, also noch mit Beteiligung der DDR; als Konzept orientieren sie sich an der historischen Situation,
dass Deutsch in verschiedenen Staaten und Regionen Muttersprache ist. Aufgrund der damaligen Dominanz westdeutscher Landeskunde verlangten die „kleineren Länder" einen gerechteren Anteil. Um nicht mit einer kaum noch zu bewältigenden Stoffmenge von hoher Komplexität und Differenziertheit den Unterricht völlig zu überfrachten, wird Landeskunde nicht als eigener Gegenstandsbereich, sondern als ein „Prinzip" (ABCD-Thesen, 60) für den Unterricht gesehen. Das aus der damaligen Situation heraus verständliche additive Verfahren der gleichberechtigten und gleichgewichtigen Berücksichtigung aller deutschsprachigen Länder verdeckte die methodischen Fortschritte des Konzepts, das einen integrierten Landeskundeunterricht, mit Aktivitäten der Lernenden außerhalb des Klassenraums, historisch und regional situiert und am konkreten Kulturaustausch interessiert, fordert. Im Anschluss an die ABCD-Thesen und mit der Kritik an der weitgehend nur additiven Verknüpfung der deutschsprachigen Länder, formulierte die D-A-CH-(L)-Arbeitsgruppe (unter Beteiligung von Liechtenstein) das Konzept einer differenzierenden Landeskunde, die von der Tatsache verschiedener deutschsprachiger Länder, darin verschiedener Regionen ausgeht. Der binnenkontrastive Vergleich, der exemplarisch auf zwei, drei oder die vier Länder mit Deutsch als Muttersprache zurückgreift, hebt die Konfrontation zwischen zwei „fremden" Kulturen auf, lässt Varianten und unterschiedliche Perspektiven zu und ermöglicht die Adaption für den fremdkulturellen Vergleich. Wieder aufgenommen werden die didaktisch-methodischen Grundsätze der ABCD-Thesen, vor allem die Projekt- und Handlungsorientierung, die vom Lernenden und seinem Weltwissen ausgehen. Eine genaue Analyse der jeweiligen Zielgruppe und des Lernortes differenzieren eine meist universell gedachte Landeskunde, die als „erlebte", „erlebbare" oder „virtuelle" (vgl. Art. 96) lernerorientiert drei umfassende Lernzielbereiche formuliert: „Sozio-kulturelle Sensibilisierung und Perspektivenwechsel", „Vermittlung von Strategien zum selbständigen Wissenserwerb" und „Methoden und Verfahren zur Integration von Vor(Welt)Wissen, Wahrnehmung und neuem Wissen" (Hackl 1998, 6), die in den Spracherwerb zu integrieren sind, selbst aber auch integrierend wirken.
4. Landeskundlicher Ansatz
4.
Der landeskundliche Ansatz als inhaltliches Prinzip
Die unterschiedlichen Aspekte, einzelnen Themenbereiche und Teilgebiete der Landeskunde, ergänzt durch künftige Aufgaben, sind an ihrem Ort beschrieben (vgl. Kap. XVII, Art. 118). In der folgenden Zusammenfassung und einem Ausblick richtet sich das Augenmerk auf einen inhaltlichen Ansatz im Fremdsprachenunterricht, spezieller auf den Beitrag der Landeskunde zur Strukturierung und Konturierung des Faches Deutsch als Fremdsprache. Die grundlegende Aufgabenstellung, die sich in der historischen Konstitution der Fachwissenschaft und der Fachdidaktiken herausgebildet hat, formuliert Peter Groenewold (1997, 56) wie folgt: „Landeskundliche Theoriebildung muss von der Grundsituation des Fremdsprachenunterrichts ausgehen und die Komponenten Sprache, Gesellschaft und Unterricht miteinander vermitteln". Landeskunde als inhaltliches Prinzip im Fremdsprachenunterricht erforscht demnach die gesellschaftlichen Anforderungen, untersucht die didaktischen Voraussetzungen eines integrierten Sprach- und Kulturlernens sowie dessen konkrete Inhalte. 4.1. Landeskundliches Lernen Integriertes landeskundliches Lernen unterscheidet sich von einer impliziten Landeskunde, da es die übrigen Lernfelder des Fachs beeinflusst, „integrierend wirkt". Der inhaltliche Ansatz kann nur strukturieren, wenn er nicht auf eine Menge an Informationen und auf die Funktion, Materialien für den Erwerb sprachlicher Regularien und die Erprobung kommunikativen Verhaltens bereitzuhalten, reduziert wird. Auf der anderen Seite kann Landeskunde in den Prozess des Sprachlernens erst dann integriert sein, wenn sie nicht nur dazu dient, übergreifende pädagogische Ziele und gesellschaftliche Leitvorstellungen zu proklamieren, sondern diese für das Sprach-Kultur-Lernen begründet und operationalisiert. Abhängig von Zielgruppe, Altersstufe und Lernumgebung wird soziokulturelles Wissen in der ersten Phase des Spracherwerbs eher Texte für diesen bereithalten, die Wahrnehmung der Soziokultur hinter den fremden Wörtern dagegen wird allenfalls in der Muttersprache thematisiert werden können, wenn deren Verwendung im Fremdsprachenunterricht nicht tabuisiert ist. Treffen eigene Identität und neue Welterfahrung in einer offenen
51 Lernsituation aufeinander, so kann daraus die weitere Motivation erwachsen, sich mit dem „Fremden" zu beschäftigen und das „Eigene" zu reflektieren. Diese Erfahrung von Fremd und Eigen, von verschiedenen Perspektiven und Methoden der Wahrnehmung, muss über einzelne Themen und Gegenstandsbereiche der fremden Soziokultur hinaus bewusst gemacht und zu Strategien im Umgang entwickelt werden. Direkten Begegnungen in den Zielsprachenländern gehen vielfaltige Zwischenschritte von „Kennen Lernen", „Simulieren" und „Erlebbar" voraus. Die soziokulturellen Inhalte beim Spracherwerb lassen sich nicht aus der Systematik des gesamten Wissens über die Zielkultur ableiten, ebenso wenig aber auch aus den Interessen und den Erwartungen der Lernenden oder den Leitzielen einer Gemeinschaft. In der didaktischen Analyse als Voraussetzung der Unterrichtsplanung und -gestaltung müssen Lernort und Lernumgebung, gesellschaftliche und individuelle Lernvoraussetzungen sowie die Lernziele und -erwartungen vermittelt werden: - im Curriculum wird der Beitrag des landeskundlichen Ansatzes als Perspektive soziokultureller Wahrnehmung in den allgemein-pädagogischen, fachlichen und sozialen Leitvorstellungen bestimmt; da es konkrete Lernsituationen analysiert, kann es nicht ein Curriculum für Landeskunde geben, sondern nur spezielle für verschiedene Zielsprachenund Herkunftskulturen; - die kognitiven, kommunikativen und affektiven Ziele des Fremdsprachenunterrichts müssen mit entsprechenden Zielvorgaben anderer Fächer verknüpft werden und in einen interdisziplinären Unterricht münden; - landeskundliches Lernen bezieht das Wissen der Lernenden um Sprache, Sozialisation und Fremdheitserfahrung ein; - die Wahrnehmungen, aus denen der Einzelne sein Weltwissen aufbaut, sind in ihrer individuellen, sozialen und (inter-)kulturellen Prägung bewusst zu machen, damit wirkende Perspektiven erkannt und in bewusste Strategien zum Umgehen mit ihnen umgesetzt werden; - landeskundliches Lernen sieht die Lernenden als Subjekte des Unterrichts, es realisiert sich deswegen als ganzheitliches Lernen, handlungsorientiert und partnerschaftlich; für viele Länder ist hierbei die nicht geringe Spannung zwischen traditionellen Lern- und Lehrmethoden und den neuen eines offenen Unterrichts zu beachten (vgl. Art. 106);
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I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen
- Landeskunde ist der Bereich des Fremdsprachenunterrichts, in dem die Lernenden die Trennung von Sprache und Kultur erleben, in dem aber durch Begegnungen und Formen der erlebbaren Landeskunde schulische und außerschulische Realität zusammengeführt werden; - projektorientierte Arbeitsformen werden dieser Zielsetzung gerecht, sie integrieren sprachliches und soziokulturelles Wissen im kommunikativen Handeln und könnten zu einer eigenständigen Unterrichtsform für das Erlernen fremder Sprachen und das Verständnis anderer Kulturen weiterentwickelt werden; - generative Themen beziehen die Lernenden in die Themenauswahl und die Unterrichtsplanung bzw. -gestaltung ein; sie vermitteln vorhandenes Wissen und vorläufige Annahmen mit Recherchen zu einer immer besser verstehbaren fremden Welt; - die wachsende Menge landeskundlicher Informationen erfordert die frühzeitige Vermittlung von Strategien der Recherche und der persönlichen Auswahl anhand nachvollziehbarer Kriterien; - ein besonderes Augenmerk wird auf die Entwicklung einer virtuellen Landeskunde zu richten sein (vgl. Art. 96); - kontrastive Verfahren sind als Methoden zur reflektierten Wahrnehmung anderer Kulturen und Sprachen zu erlernen, nicht als Instrumente, um diese zu „werten"; - Landeskunde des Deutschen als Fremdsprache bezieht sich nicht auf eine Nation; die Methode des binnenkontrastiven Vergleichs, wie im D-A-CH-Konzept entwickelt, stellt ein spezielles Modell für einen differenzierten Unterricht dar; - Lehrmaterialien sowie landeskundliche Themen und Inhalte in Lehrwerken müssen auf die Zielgruppe, den Lernort, die pädagogischen Traditionen und in reflektierter Form auf gesellschaftliche Leitziele nicht nur der deutschsprachigen Länder bezogen sein; - die direkte Begegnung im Zielsprachenland sollte im Sinne einer gemeinsamen (europäischen) Kulturentwicklung für die Lernenden obligatorisch, muss aber für weiter entfernte Länder durch indirekte Begegnungssituationen ebenfalls möglich sein. 4.2. Soziokulturelles Wissen in der Aus- und Fortbildung von Deutschlehrern Ein inhaltlich strukturierter Fremdsprachenunterricht braucht Lehrende, die nicht Fähigkeiten unterrichten, sondern Begegnungen in-
szenieren und moderieren, damit die Lernenden den Nutzen von Kompetenzen einsehen können und sich diese erarbeiten. Da sich eine Soziokultur dynamisch entwickelt, können die Lehrenden nicht in einem Ausbildungsgang ein sicheres Wissen erwerben, mit dem sie in der Folge den Unterricht inhaltlich-thematisch gestalten. Sie müssen vielmehr Strategien erwerben, entwickeln und erproben, wie mit Informationen umzugehen, wie fremde und eigene Wahrnehmungen zu vermitteln und Erscheinungen verschiedener Soziokulturen von verschiedenen Perspektiven aus zu vergleichen sind (vgl. Art. 115). Während sie unterrichten, entwickeln sie diese weiter, wie auch die Lernenden sich in diesem Prozess aktiv beteiligen. Allerdings werden sich Lehrende über diesen dynamischen Wissenszuwachs durch Vermittlung mit den bereits vorhandenen eigenen Vorstellungen hinaus ein Raster, eine Wissenssystematik aufbauen, die sich auf seine Ausgangsvoraussetzungen bezieht, aber auch die Grundlage bildet, individuelle Vorstellungen und thematische Wünsche der Lernenden im Gesamtzusammenhang der Soziokultur zu verorten. Hierfür sind die Methoden und Ergebnisse der informationsbezogenen (kognitiven) Landeskunde zu adaptieren. Um Begegnungen gestalten zu können, sollten Lehrende des Deutschen als Fremdsprache nicht nur einem deutschsprachigen Land „begegnet" sein bzw. im Rahmen einer Fortbildung als erlebte Landeskunde „begegnen". Für in den deutschsprachigen Ländern ausgebildete Lehrkräfte sollte ein Forschungs- und Lehraufenthalt in einem der Herkunftsländer obligatorisch sein. Da prinzipiell die Ausbildungsgänge von Deutsch als Fremdsprache-Lehrern in den deutschsprachigen Ländern von denen im Ausland verschieden sind, lassen sich, ähnlich wie im Unterricht und in der Forschung, einige gemeinsame Entwicklungen bzw. Forderungen beschreiben (vgl. Art. 115): - die Ausbildung von Fremdsprachenlehrern zu Sprach- und Kulturmittlern muss sich zunehmend auf Mehrsprachigkeit einstellen, nicht die Kenntnis einzelner Soziokulturen; sondern das Wissen, wie man sich über verschiedene informiert, wird wichtig sein; — der thematische Rahmen der Ausbildung muss durch den ständigen Bezug zur „Praxis", i.e. die eigene gesellschaftliche Wirklichkeit, die „Begegnungen" mit anderen Soziokulturen, die Zielsprache als fremde, den philologischen Teil situieren;
4. Landeskundlicher Ansatz
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- die Komepetenz, Unterricht zu planen, setzt eine praxisnahe didaktische Forschung durch die angehenden Lehrenden voraus, damit sie ihre verschiedenen Lerngruppen analysieren, Ausgangs- und Zielsprache vergleichen und die beiden Kulturen im Kontrast wahrnehmen können; - die Prinzipien, die im gesteuerten Fremdsprachenunterricht gelten, müssen auch Grundlage der Lehrerausbildung sein: integrativ, fächerübergreifend, interkulturell, binnenkontrastiv sowie handlungsorientiert (vgl. Badstübner-Kizik; Radziszewska 1998); - das Projekt wird die bevorzugte Form sein, in der sich eigene Recherchen und Forschung, Praxisbezug und Lehre vereinen lassen; - besonders beim individuellen Aufbau einer Wissenssystematik zur eigenen und zielsprachigen Soziokultur muss deutlich werden, dass damit nicht die Unterrichtsgegenstände entwickelt werden; sollten während der Ausbildung keine Begegnungen mit mehreren deutschsprachigen Ländern möglich sein, könnte dies eine Fortbildung in einer entsprechenden Form erlebter Landeskunde nachholen; - um Begegungen inszenieren und moderieren zu können, müssen Lehrende einer Fremdsprache ihre eigenen Begegnungen analysieren können.
verschiedenen Ziel- und Altersgruppen und für unterschiedliche Lernziele bestimmen lassen. Hierfür stellen andere Wissenschaften entsprechende analytische und methodische Verfahren bereit, derer sich Landeskunde bedient. Es geht nicht um eine Leitwissenschaft oder diverse Bezugs- bzw. Hilfswissenschaften, sondern um einen interdisziplinären Diskurs, wie dies „im Modell einer integrativen Landeskunde" bei Mog/Althaus (vgl. Mog 1992) vorgeschlagen wird. Die Inhalte landeskundlichen Forschens, Lehrens und Lernens sind nicht aus der Systematik einzelner Wissenschaften (Philo-, Sozio-, Polito- oder Psycho· usw. logie) zu deduzieren, sondern deren wissenschaftliche Analytik und didaktische Methoden sind bei der Beantwortung der fachdidaktisch begründeten Fragestellungen heranzuziehen. Die Gegenstände landeskundlicher Forschung finden sich in der Analyse der Geschichte inhaltlicher Ansätze im Fremdsprachenunterricht (als besonderes Desiderat die Ansätze außerhalb der deutschsprachigen Länder), der Klärung des Verhältnisses von Sprache, Unterricht und Erziehung sowie Soziokultur und der Erprobung geeigneter Modelle zur Beschreibung und zum Vergleich von Erscheinungen einer Soziokultur im Verhältnis zu den Akteuren; dazu kommen:
4.3. Interdisziplinäre Forschung
- inhaltliche Ansätze in der Geschichte des Deutsch als Fremdsprache-Unterrichts inund außerhalb der deutschsprachigen Länder unter Einschluss der DDR; Formen der Wahrnehmung fremder Soziokulturen und Perspektivenwechsel (Krumm 1998, 526); Modelle zur historischen, soziologischen etc. Beschreibung von Soziokulturen am Beispiel der deutschsprachigen Länder und Entwicklung eines binnenkontrastiven Vergleichsverfahrens (s. Hackl 1998, et al., v. a. 8 ff); - exemplarische Vergleiche eines Landes oder einer Region mit einem oder mehreren deutschsprachigen Ländern, die sich auf binnenkontrastive Fragestellungen ebenso beziehen wie sie neue aufwerfen; Bestimmung des Prozesses der „tertiären Sozialisation" (Doyé 1992, 5), des stabilisierenden und modifizierenden Einflusses auf die Identitätsbildung; - ideologiekritische Überprüfung der politisch legitimierten Erziehungsziele, diachron und synchron (Schüle 1983);
Die Frage, ob Deutsch als Fremdsprache eine philologische, didaktische oder sozialwissenschaftliche Disziplin oder nur ein Praxisbezug „etablierter" Wissenschaften ist, zielt auf die Definition eines Gegenstandsbereiches. Die implizierte Trennung des Objekts vom Subjekt verliert dann ihren heuristischen Wert, wenn damit auch die individuelle Perspektive und der Zugriff auf einen Gegenstand aus dem Blick geraten. Landeskunde hat sich zwar mit dem gesamten „Bedingungsgefüge" (Neuner 1997, 40) oder den einzelnen „Bezügen" von Sprache auf Gesellschaft (Buttjes 1995, 142) zu beschäftigen, die sich aber erst in den „Begegnungen" (s. Kap. 98) der intra- und interkulturellen Kommunikation von Individuen mittels Sprache manifestieren, sprachlich und sozial. Begegnungen als Praxis von Kommunikation sind von der Landeskunde nicht als Objektbereich „zu ver-künden", sondern landeskundliche Forschung hat „zu erkunden", wie sich diese an verschiedenen Lernorten, bei
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I. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen
Einfluss von Europäisierung und Globalisierung, Chancen der Internationalisierung, Gefahren der Dominanz (Röttger 1998); die Möglichkeiten und der Einfluss des Fremdsprachenunterrichts im Rahmen internationaler Verständigung und Friedenssicherung, als Teil einer antiimperialen Sprachund Kulturpolitik; Erforschung von Strategien zur Informationsaufnahme, -evaluation und -Selektion sowie zur Erhebung soziokultureller Daten. 5.
Literatur in Auswahl
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55 und
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Hans Simon-Pelando, München ( Deutschland)
II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte 5. Entwicklungen des Unterrichts in Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache in Deutschland 1. 2. 3. 4. 5.
Definitionen Geschichtliches Deutsch als Fremdsprache im Inland Deutsch als Zweitsprache Schluss
6.
Literatur in Auswahl
1. Definitionen Die Unterscheidung zwischen Deutsch als Fremdsprache (DaF) und Deutsch als Zweitsprache (DaZ) wird als Unterscheidung typischer Lernsituationen verstanden: Ein überwiegend schulförmiger Erwerb, eine meist instrumenteile Motivation, ein „mittleres" Lernalter und eine deutliche Distanz zu Erstsprachgebrauch und Erstsprachkompetenz kennzeichnen das fremdsprachliche, starke Anteile „natürlichen" Erwerbs, sozialer Druck, breite Streuung des Lernalters und lebensweltliche Zweisprachigkeit das zweitsprachliche Lernen (Reich 1997; vgl. Art. 62). Mit Zwischenformen und Übergängen ist durchweg zu rechnen. Die sprachgeographische Situierung spielt eine Rolle dabei: DaF wird typischerweise, wenn auch nicht ausschließlich, im Ausland, DaZ im Inland gelernt. Die folgende Darstellung bezieht sich jedoch für beide Lernsituationen nur auf den Inlandsbereich. Dadurch verringert sich deren Unterscheidbarkeit, und es kommt hinzu, dass die darzustellenden Aktivitäten zwar meist recht eindeutige Arbeitsschwerpunkte haben, aber trotzdem nicht strikt entsprechend der DaF-DaZ-Unterscheidung institutionalisiert sind. Die Darstellung orientiert sich dementsprechend in erster Linie an den Lernsituationen und den ihnen zugeordneten Arbeitsfeldern, in zweiter Linie aber an Institutionen, deren Aufgaben dann von Fall zu Fall das zugeordnete Arbeitsfeld auch überschreiten können. Da eine systematische Institutionenkunde nicht beab-
sichtigt ist (das ist die Aufgabe von Art. 141), wird die Unterscheidung von Geldgeber, Mittler, Organisator und Träger nicht zu Gliederungszwecken benutzt. Bei der Berücksichtigung einzelner Institutionen wird pragmatisch verfahren. Der Inlandsbereich ist für den vorliegenden Artikel mit dem Wort „Deutschland" bezeichnet, einem bekanntlich vieldeutigen Begriff. Berücksichtigt werden die Bundesrepublik Deutschland (BRD) und die Deutsche Demokratische Republik (DDR), im geschichtlichen Teil auch das Deutsche Reich als Vorgängerstaat. Dargestellt wird der Unterricht mit „primären" Zielgruppen; die Fortbildung von Multiplikatoren, also von Germanisten und Deutschlehrern des In- wie des Auslandes, wird nicht eigens behandelt (vgl. hierzu Art. 115). Entwicklungen des Unterrichts selbst können immer nur in einer indirekten Weise erfasst werden, da die unterschiedlichen Aktivitäten nicht direkt greifbar sind, sondern bestenfalls über Berichte und Dokumentationen, normalerweise aber nur über institutionelle, organisatorische und personelle Veränderungen, über Analysen von Lehr- und Lernmitteln und von didaktischen Publikationen erschlossen werden können. Dies gilt auch für den vorliegenden Artikel. 2.
Geschichtliches
Informationen über DaF/DaZ reichen fast so weit zurück wie die Informationen über die deutsche Sprache überhaupt. Die ersten Zeugnisse sind althochdeutsche „Reisesprachführer" für Leute romanischer Erstsprache, die in germanischsprachigem Gebiet unterwegs waren (Ehrismann 1966, 259 f. und 264-266), und es ist davon auszugehen, dass diese Tradition eines schriftlich unterstützten
5. Entwicklungen des Unterrichts in Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache
natürlichen Zweitspracherwerbs des Deutschen das ganze Mittelalter und die Neuzeit hindurch angehalten hat; leider ist diese Tradition ungenügend erforscht. Es scheint, dass eine Institutionalisierung entsprechender Vermittlungstätigkeiten im Inland praktisch erst im 20. Jh. stattgefunden hat. Eine ganz andere Art inländischen Unterrichts in DaZ entwickelte sich mit der Verbreitung des Hochdeutschen im niederdeutschen Sprachgebiet (seit dem 16. Jh.), woran die Schulen neben Kirche und Verwaltung einen wesentlichen Anteil hatten (vgl. Herrmann-Winter 1995). Im 19. Jh. hat diese Tradition ihre Fortsetzung gefunden im deutschsprachigen Unterricht für die sorbische und die dänische, vor allem aber für die polnische und kaschubische Minderheit, sowohl in deren ursprünglichen Siedlungsgebieten im Osten des Reiches als auch — seit den 1880er Jahren - in dem sich industrialisierenden Einwanderungsgebiet an der Ruhr (Glück 1979). Da der Germanisierung der „nicht deutschen Volksteile" im Zeitalter des Nationalismus allgemeinpolitische Bedeutung zugeschrieben wurde, bemühte man sich, bewährte deutsche Lehrer für die deutschsprachige Unterweisung der Minderheitenschüler einzusetzen, und es entstanden erste Versuche einer systematisierenden Didaktik des DaZ, einschließlich einer bedachten („utraquistischen") Verbindung von Sach- und Sprachlernprozessen (Schwarz 1905, als ein Beispiel). Die Germanisierungsbestrebungen in den während des Zweiten Weltkriegs annektierten Gebieten dürfen in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben; sie wurden von den nationalsozialistischen Politikern als „Anschluss" von Volksdeutschen und germanophonen Bevölkerungsteilen konzipiert und im Sinne einer „inneren" Sprachbildungspolitik betrieben (Amnion 1991, 534-536; Hansen 1994, 91-106). In vermittelter und gebrochener, oft unbewusster Weise wirken diese Traditionen auch in den Unterricht des DaF/DaZ nach dem Zweiten Weltkrieg hinein. Die genauere Aufarbeitung dieser Zusammenhänge ist jedoch ein Forschungsdesiderat. 3.
Deutsch als Fremdsprache im Inland
Die wesentlichen Arbeitsfelder der fremdsprachlich orientierten Deutschvermittlung im Inland sind die außeruniversitäre Erwachsenenbildung, die Programme internationaler
57
Zusammenarbeit und internationalen Austausche und das Ausländerstudium, jeweils mit offenen Rändern. 3.1. Außeruniversitäre Erwachsenenbildung Inlandskurse allgemeinsprachlichen Charakters für ausländische Nachfrager waren nach dem Zweiten Weltkrieg die ersten DaF-Aktivitäten im Inland. Sie werden heute von einer Vielzahl von Trägern angeboten, unter denen das Goethe-Institut eine herausragende Position einnimmt. Die größeren Träger haben je eigene didaktische Profile ausgebildet, wozu in unterschiedlicher Intensität und Qualität auch Qualifizierungsmaßnahmen für die Lehrkräfte (vgl. Art. 115) und die Produktion didaktischer Materialien (vgl. Art. 105) gehören. 3.1.1. Die Inlandskurse des Goethe-Instituts Tätigkeiten im Inland, nicht Auslandsaktivitäten, stehen am Beginn der Nachkriegsgeschichte des Goethe-Instituts. „Meist an kleinen, idyllisch gelegenen Städten" (so das Jahrbuch des Goethe-Instituts 1995/96, 17) wurden ab 1952 Intensivkurse zum Erwerb grundlegender Deutschkenntnisse für ausländische Studienbewerber, Techniker und Ingenieure angeboten, die rege Nachfrage fanden; in rascher Folge wurden daraufhin auch in größeren Städten Inlandsinstitute gegründet, die 1959 bereits die Zahl 15 erreichten (1996: 18 Institute). Die Nachfrage blieb jedoch nicht unbeeinflusst von der politischen Großwetterlage. Dem Anstieg auf über 20.000 Teilnehmer pro Jahr folgte zu Beginn der 80er Jahre ein auffälliger Rückgang; dem Wiederanstieg auf über 28.000 Teilnehmer ein gravierender Einbruch seit dem Jahr 1992 (Amnion 1991; Goethe-Institut 1996; von Faber 1994). (Es sei angemerkt, dass die hier und im Folgenden mitgeteilten Teilnehmerzahlen nur bedingt miteinander vergleichbar sind. Genau genommen müssten jeweils Kursdauer und Wochenstundenzahl mit berücksichtigt und in Teilnehmerstunden umgerechnet werden, um Vergleichbarkeit herzustellen; im Rahmen des vorliegenden Artikels ist dies jedoch nicht zu leisten.) Zusammensetzung und Interessen der Teilnehmer an den Goethe-Inlandskursen haben sich im Lauf der Jahrzehnte erheblich differenziert. Mitte der 90er Jahre werden außer den achtwöchigen Standardkursen aller Stufen auch kürzere Intensivkurse, Spezialkurse für Führungskräfte (Manager, Diplomaten, Journalisten), studienvorbereitende Kurse für Sti-
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
pendiaten, Prüfungsvorbereitungskurse, Lehrerfortbildungskurse, Deutschkurse für Aussiedler und spezielle Kinder- und Jugendprogramme angeboten. In didaktischer Hinsicht waren die frühen Jahre geprägt durch die in den Inlandskursen entwickelte und gepflegte Verbindung einer einsprachig direkten mit einer grammatisch systematisierenden Vorgehensweise und allgemeinen, sozusagen inhaltsneutralen Sprachkompetenzen als Ziel. In der Folge haben die Entwicklungen des DaF-Unterrichts im Ausland (woran die seit den 60er Jahren übernommenen bzw. neu gegründeten Auslandseinrichtungen des Goethe-Instituts einen erheblichen Anteil haben) mehr und mehr auf den Inlandsbereich zurückgewirkt. Im Goethe-Institut selbst sorgte eine zentrale Koordination für ein hohes Maß an Qualität und Aktualität des Unterrichts in beiden Bereichen. In den didaktischen Entwicklungsarbeiten des Instituts lassen sich einige durchgehende Tendenzen feststellen: das Interesse an aktuellen unterrichtstechnologischen Entwicklungen, das mit heute bescheiden anmutenden Hinweisen zur Nutzung von Tonbandgeräten begann und in der Einrichtung von „Mediotheken" zum selbstgesteuerten Lernen seinen jüngsten Ausdruck gefunden hat; dann die Diversifikation der Unterrichtsmethoden, insbesondere durch die Aufnahme audiolingualer, pragmatischer und kommunikativer Verfahren, ergänzt um kognitive und interkulturelle Elemente; die Entwicklung eines hochdifferenzierten Lehrplan- und Prüfungssystems; und schließlich die Konzeption der Spracharbeit als „Teil der kulturpolitischen Gesamtkonzeption des Instituts" (Goethe-Institut 1998, 12), seit den 70er Jahren auf der Grundlage eines „erweiterten Kulturbegriffs", dessen Grenzen jedoch in den 90er Jahren in die Diskussion geraten sind (vgl. Sartorius 1996). 3.1.2. Sonstige Anbieter DaF in der außeruniversitären Erwachsenenbildung wird auch von einer Fülle weiterer Organisationen teils gemeinnütziger, teils kommerzieller Art angeboten. Sie lassen sich in drei Kategorien einteilen: Zum einen gibt es Träger, die DaF als (notwendigen) Bestandteil einer im Übrigen auf fachliche Ziele ausgerichteten Qualifikation anbieten; sie spielen für das Gesamtangebot und die Entwicklung des Unterrichts nur eine geringe Rolle. Zum andern existiert ein umfangrei-
cher Markt privater Sprachenschulen, die Kenntnisse in international bedeutsamen Sprachen, darunter eben auch DaF, vermitteln. Auf diesem Markt konkurrieren kleinere Einzelbetriebe von lokaler Bedeutung mit großen Organisationen, die schuleigene Didaktiken und Lehrmaterialien für allgemeinsprachliche DaF-Kurse entwickelt haben; die inlingua-Schulen und die Berlitz-Schulen in Deutschland sind hier als die beiden wichtigsten Beispiele zu nennen. Die dritte Kategorie bilden Einzelunternehmen unterschiedlicher Größe und Rechtsform, die in der DaF-Vermittlung den Hauptzweck ihrer Tätigkeit sehen. Diese behaupten sich am Markt vor allem durch die Ausbildung spezifischer Profile, sei es hinsichtlich der Herkunftsländer, aus denen die Teilnehmer kommen, sei es hinsichtlich fachlicher, vor allem wirtschaftlicher und technischer Inhalte (vgl. insgesamt Fremdsprache Deutsch 1993; FaDaF 1997). 3.2. Deutschunterricht im Feld der kulturellen, wirtschaftlichen und technischen Zusammenarbeit Mit dem vorstehend beschriebenen Arbeitsfeld verflochten, zugleich aber durch ein spezifisches Lernerprofil deutlich davon unterschieden ist das Arbeitsfeld DaF im Kontext internationaler Zusammenarbeit und internationalen Austausches. Nicht wenige Träger von Qualifikations- und Austauschprogrammen unterstützen vorbereitenden oder begleitenden Deutschunterricht in Deutschland, führen ihn aber nicht oder nur ζ. T. selbst durch, so ζ. B. der Deutsche Akademische Austauschdienst, der Pädagogische Austauschdienst, das Deutsch-Französische Jugendwerk oder die Rheinisch-Westfälische Auslandsgesellschaft. Sie beauftragen entweder selbst einen Sprachkurs-Träger oder überlassen den Stipendiaten die Wahl eines geeigneten Anbieters. Andere Organisationen dagegen bieten fachliche, sprachliche und kulturelle Qualifikation „aus einer Hand" an. Ein herausragendes Beispiel für „Angebote aus einer Hand" stellt der Verbund der Carl Dulsberg Gesellschaft (CDG) mit den Carl Dulsberg Centren (CDC) dar. Ausländische Nachwuchs- und Führungskräfte, welche Qualifikationsangebote der CDG in Deutschland wahrnehmen, erhalten ein spezifisches Angebot zum Deutschlernen (welches aber auch anderen Nachfragern offensteht). Es wird durchgeführt von den im Jahre 1962 gegründeten CDC an 5 inländischen Kollegs, mit rd. 500 Teilnehmern pro Monat. Das An-
5. Entwicklungen des Unterrichts in Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache
gebot umfasst einmonatige Intensivkurse auf 8 Lernstufen, vom Anfangerniveau bis zur Mittelstufe (mit eigenen Zertifikaten), und Spezialkurse (Vorbereitung auf die DSH, Wirtschaftsdeutsch, Ferien-Sprachkurse für Jugendliche, Fortbildungs-Seminare für Deutschlehrer). Das didaktische Grundkonzept basiert auf der Kombination von Gruppenunterricht, individueller Arbeit in den Mediotheken und Freizeit- und Kulturprogramm. Ein besonderer Akzent liegt entsprechend den Interessen der Hauptzielgruppe auf der Hinführung zu wirtschaftlichen und technischen Fachtexten, produktiv und rezeptiv; für den Übergang von der allgemeinsprachlichen zur fachsprachlichen Unterweisung wurde ein eigenes Lehrwerk entwickelt (vgl. Schneider 1989). In der DDR gab es für jährlich etwa 1000 ausländische Jugendliche, die zu Facharbeitern ausgebildet wurden, 5-monatige Intensivkurse in deutscher Sprache, über deren Konzept jedoch keine genaueren Kenntnisse vorliegen. 3.3. Studienvorbereitender und studienbegleitender Deutschunterricht Wer in Deutschland studieren will, muss vor Aufnahme des Studiums an einer deutschen Universität oder Fachhochschule den Nachweis der dafür erforderlichen deutschen Sprachkenntnisse erbringen. Deren Niveau ist durch die Rahmenordnung der Hochschulrektorenkonferenz (1995) für die „Deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang ausländischer Studienbewerber" (DSH; früher: Prüfung zum Nachweis deutscher Sprachkenntnisse, PNdS) festgelegt (vgl. Art. 84). Grundsätzlich können diese Kenntnisse an beliebigen Institutionen erworben werden, doch sind an den Hochschulen oder in enger Verbindung mit ihnen Einrichtungen entstanden, die sich dem studienvorbereitenden Deutschunterricht in spezieller Weise widmen und ζ. T. darüber hinausgehend sprachliche Unterstützung während des Studiums offerieren. In der BRD sind dies die Studienkollegs und die Lehrgebiete DaF; in der DDR war es das Herder-Institut. 3.3.1. Der Deutschunterricht an den Studienkollegs Ausländische Bewerber, welche die Zugangsberechtigung zu einem Hochschulstudium erst im Inland durch die „Prüfung zur Feststellung der Eignung ausländischer Studienbewerber für die Aufnahme eines Studiums an Hoch-
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schulen der Bundesrepublik Deutschland" erwerben, können sich an den Studienkollegs auf diese Prüfung vorbereiten. Die Prüfung enthält sprachliche, mathematische und fachliche (natur-, wirtschafts-, sozialwissenschaftliche) Anteile; der sprachliche Teil ist der DSH äquivalent. Die Studienkollegs sind schulartig organisierte Lehrinstitute, teils selbständig, teils den Hochschulen an- oder eingegliedert, teils Dienststellen der Bundesländer, die den Kultusministerien unterstehen. Sie wurden seit 1959 eingerichtet. In der Mitte der 90er Jahre arbeiten Studienkollegs in allen Bundesländern, an insgesamt 34 Standorten. Die jährliche Teilnehmerzahl (einschließlich Vorkurse) stieg bis 1980 auf rund 3800 an, ging dann bis 1985 deutlich zurück, erreichte 1992 über 4000 und ist seither wieder im Fallen begriffen (DAAD/FaDaF 1999; Jansen 1996). Die Kollegiaten verbleiben im Regelfall zwei Semester an den Kollegs, ihre Ausbildung fußt auf einer Rahmenordnung der Kultusministerien. Der Deutschunterricht beansprucht etwa ein Drittel der zur Verfügung stehenden Lernzeit, setzt allgemein-sprachliche Kenntnisse (mindestens der Grundstufe II) voraus und soll zu dem für ein Fachstudium erforderlichen Niveau der Deutschkenntnisse (Abschluss der Mittelstufe) führen. Dem allgemeinen Ziel der fachbezogenen Studierfähigkeit gemäß nimmt die Einführung in Wortschatz, Grammatik und Textsorten der Fachsprachen breiten Raum ein, wobei dem Leseverstehen von Fachtexten besondere Bedeutung zukommt. 3.3.2. Die Lehrgebiete DaF an den Hochschulen Aus unterstützenden Maßnahmen für ausländische Studierende und Studienbewerber, die anfangs vor allem von den Akademischen Auslandsämtern, aber auch von den Germanistik-Seminaren und anderen universitären Einrichtungen bereitgestellt wurden, entstanden in den 60er Jahren an größeren deutschen Hochschulen kontinuierliche Aktivitäten, die seit Beginn der 70er Jahre nach festerer Organisation verlangten. Damit verbunden war die Forderung, die bis dahin bloß „technisch" betriebene Sprachvermittlung wissenschaftlich zu fundieren, d. h. sie mit Forschungs- und Ausbildungsaufgaben zu koppeln. Diese Bestrebungen erhielten mächtigen Nachdruck durch die vom Deutschen Akademischen Austauschdienst betriebene Gründung des Arbeitskreises Deutsch als
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
Fremdsprache (1971; seit 1989: Fachverband Deutsch als Fremdsprache); die wesentlichen Forderungen konnten in den nachfolgenden Jahren weitgehend durchgesetzt werden. Mitte der 90er Jahre existieren Lehrgebiete DaF an so gut wie allen deutschen Universitäten und an zahlreichen Fachhochschulen, wenn auch dem Umfang der jeweiligen Aufgaben entsprechend in sehr unterschiedlichem Ausbaustand. Organisatorisch sind sie zum größten Teil angegliedert an Sprachenzentren, Germanistische Institute oder Akademische Auslandsämter, zum kleineren Teil sind sie selbständige wissenschaftliche Einrichtungen im Rahmen der Fakultäten oder Fachbereiche (DAAD/FaDaF 1999). Die von ihnen wahrgenommenen Aufgaben im Bereich der praktischen Vermittlung deutscher Sprachkenntnisse umfassen studienvorbereitende und studienbegleitende Angebote. Das Eingangsniveau für die vorbereitenden Kurse wird von den Hochschulen selbst bestimmt; die Möglichkeiten reichen von bloßen Vorbereitungskursen auf die DSH bis hin zu vollständigen Angeboten ab der Grundstufe I bis zum Abschluss der Mittelstufe. Die Grundstufenkurse haben naturgemäß allgemeinsprachlichen Charakter, während die Mittelstufenkurse in der Regel auch studienbezogene Sprachfahigkeiten (Vortragsnotizen, Exzerpte, Versuchsprotokolle, Referate etc.), ζ. T. auch schon fachsprachliche Qualifikationen (vor allem Leseverstehen von Fachtexten), vermitteln. In den studienbegleitenden Angeboten finden sich Kurse zur Vertiefung der studienbezogenen Sprachfähigkeiten (Analyse und Produktion wissenschaftlicher Texte), Kurse zur fachlichen Kommunikation (meist nach Fächergruppen zusammengefasst) und zur landeskundlichen und literarischen Weiterbildung. Durch Fachtagungen, Jahrestagungen, Rezensionen und Publikationen wird die didaktische Entwicklung in diesem Gebiet vom Fachverband DaF, auch im Dialog mit den Deutschlektoren im Ausland und den außeruniversitären DaF-Anbietern, konsequent und auf breiter Basis vorangetrieben. Die von ihm in Verbindung mit dem DAAD herausgegebene Zeitschrift „Info DaF" ist ein wichtiges Organ aktueller Information und Diskussion im Arbeitsfeld. 3.3.3. Deutsch für ausländische Studierende in der DDR In der DDR wurden die Aufgaben, die in der alten BRD den Studienkollegs oblagen, seit
den 50er Jahren vom Institut für das Ausländerstudium (seit 1961: Herder-Institut) der Universität Leipzig wahrgenommen, das als „Vorstudienanstalt für ausländische Studierende in der DDR" jährlich bis zu 1500 Studienbewerber, vor allem aus Entwicklungsländern, in 10-monatigen Intensivkursen sprachlich auf ihr Fachstudium vorbereitete und während ihres Grundstudiums begleitete. Später wurden auch Graduierte aufgenommen und in Kursen von bis zu 5 Monaten Dauer auf weiterführende Studien vorbereitet. Zugleich fungierte das Institut seit dem Ende der 70er Jahre als „Leitinstitut" für den Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht an verschiedenen Universitäten und Pädagogischen Hochschulen der DDR mit studienbegleitendem Deutschunterricht. Die didaktische Konzeption, die sich in mehreren aufeinander folgenden Lehrwerken und in didaktischen Publikationen, vor allem in der Zeitschrift „Deutsch als Fremdsprache", niedergeschlagen hat, war auf eine Verbindung von allgemeinsprachlicher und fachsprachlicher Ausbildung, ergänzt durch Landeskunde der DDR, gerichtet. Kennzeichnend war ein kognitiver Zugang über das Sprachsystem, der jedoch in den 80er Jahren durch kommunikative Erwägungen erweitert wurde, und eine an der sowjetischen Lernund Gedächtnispsychologie orientierten Methodik (vgl. Blei 1997). Nach der Wende wurde der inländische Aufgabenbereich nach westdeutschen Vorstellungen reorganisiert. Das Herder-Institut wurde teilweise (mit seinen studienvorbereitenden Aufgaben) in das neu gegründete Studienkolleg Sachsen überführt, für den außeruniversitären Erwachsenenunterricht wurde der eigene Verein inter-DaF gegründet (Hipp 1990/1994; Wenzel 1995). Mitte der 90er Jahre existieren Lehrgebiete Deutsch als Fremdsprache an 12 Hochschulstandorten und Studienkollegs an 8 Hochschulstandorten der ehemaligen DDR (DAAD/FaDaF 1999). 3.4. Sommerkurse Rund 50 Universitäten und Fachhochschulen in der Bundesrepublik Deutschland bieten während der Semesterferien im Sommer Kurse für deutsche Sprache, Literatur und Landeskunde an, die von ausländischen Studierenden und sonstigen Interessenten besucht werden. Sie haben üblicherweise eine Dauer von 3 - 4 Wochen und werden von den Teilnehmern selbst oder durch Stipendien fi-
5. Entwicklungen des Unterrichts in Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache
nanziert. Durchgeführt werden Sprachkurse aller Lernstufen, es überwiegen jedoch die Fortgeschrittenen-Kurse der Mittel- und Oberstufe. Typisch sind Verbindungen des Deutschlernens mit einer bestimmten Sachthematik, vor allem aus dem Bereich der Wirtschaft, vielfach aber auch aus den Bereichen der deutschen Gegenwartskultur oder der jeweiligen regionalen Kultur und Geschichte (vgl. insgesamt DAAD 2000). 4.
Deutsch als Zweitsprache
Die hauptsächlichen Arbeitsfelder des Deutschen als Zweitsprache bilden der Deutschunterricht für ausländische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen (DfaA), der Deutschunterricht im Rahmen der Eingliederungsmaßnahmen für erwachsene Aussiedler und die Deutschförderung für Schüler aus Migrantenfamilien an öffentlichen Schulen. In der DDR gab es für die Vertragsarbeitnehmer einen berufsbegleitenden Deutschunterricht im Umfang von etwa 200 Lernstunden. Von den schulischen Aktivitäten abgesehen, die Teil des staatlichen Bildungssystems sind, lebt die Arbeit in diesem Bereich von Subventionen. Die kennzeichnende institutionelle Struktur ist die einer Ausschreibung öffentlicher Mittel, um die sich dezentral Träger von Sprachkursen bewerben. Diese sind jedoch in der Regel auf die eine oder andere Weise an zentrale Organisationen angebunden, welche die zur didaktischen Entwicklung, zur Sicherung der Kursqualität und zur Qualifikation der Lehrkräfte notwendigen Arbeiten leisten, welche nicht lokal erbracht werden können. Die größeren Träger bieten in der Regel Deutschlernmöglichkeiten für verschiedene Zielgruppen an; es ist also auch nicht ungewöhnlich, dass sie mit mehr als einer der zentralen Organisationen zusammenarbeiten. Es sei noch einmal darauf hingewiesen, dass die Grenzen zu DaF im Inland fließend sind. 4.1. Die Volkshochschulen und das Deutsche Institut für Erwachsenenbildung Kurse in DaZ gehören (allerdings meist unter dem generalisierten Oberbegriff „Deutsch als Fremdsprache") seit Jahrzehnten zum Grundangebot der über 1000 Volkshochschulen (VHS) in der Bundesrepublik Deutschland. Entwickelt hat sich dieses Angebot in größerem Umfang erst mit der Arbeitsmigration
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der 60er und 70er Jahre; seine heutige Ausgestaltung ist in hohem Maße von den Gegebenheiten und dem Engagement der VHSLeitungen vor Ort abhängig. Umfang, Anspruch und Differenzierungsgrad der Kurse variieren daher erheblich. Üblich ist eine zeitliche Gliederung nach VHS-Semestern, viele Kurse begnügen sich mit ein bis zwei Doppelstunden pro Woche und führen dann in vier bis sechs Semestern zum Zertifikat DaF; an den größeren VHS werden aber in der Regel auch Mittelstufenkurse, Intensivkurse und zielgruppenspezifische Kurse angeboten. Als Beispiel eines hochdifferenzierten Programms sei das Angebot der VHS Frankfurt für den Herbst 1996 skizziert: Die allgemeinen Kurse umfassen Grundstufenkurse auf vier und Mittelstufenkurse auf zwei Niveaus, ferner Vorbereitungskurse zum Zertifikat und zur Zentralen Mittelstufenprüfung sowie zum Kleinen und zum Großen Sprachdiplom und zur DSH; Grund- und Mittelstufenkurse gibt es auch in Intensivform. Zielgruppenspezifische Angebote sind eingerichtet für Frauen und für Jugendliche, und noch spezieller für Türkinnen, Japanerinnen und Koreanerinnen und für iranische Jugendliche, sowie zur Alphabetisierung von Schreibunkundigen oder Schreibungewohnten. Themenspezifische Kurse verbinden Deutschlernangebote mit Berufsorientierung und Berufsvorbereitung, der Behandlung von Wirtschaftstexten oder literarischen Texten, mit Museumsbesuchen, Laientheater, Kochkursen (Stadt Frankfurt am Main 1996, 236273). Die zentral geführte Statistik der VHS in der Bundesrepublik weist für das Kalenderjahr 1995 rd. 236000 Belegungen von DAZKursen nach. Das bedeutet einen leichten Rückgang gegenüber dem Höchststand von fast 250000 Belegungen im Jahre 1993, auf mittlere Frist gesehen aber immer noch eine Vervielfachung gegenüber den 70er und frühen 80er Jahren. Das „Deutsche Institut für Erwachsenenbildung" (DIE; früher Pädagogische Arbeitsstelle des Volkshochschulverbandes, PAS) sieht seine Aufgabe in der Vermittlung zwischen wissenschaftlicher Forschung und pädagogischer Praxis. Im Bereich DaZ hat die PAS seit 1976 an der Entwicklung von didaktischen Materialien gearbeitet, die dazu dienen sollten, lineare Lehrgangsstrukturen des herkömmlichen DaF-Unterrichts aufzubrechen und die meist verwendeten fremdsprachdidaktisch angelegten Lehrwerke zu ergänzen um
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
offene Verfahren, die der Lebenssituation in Deutschland und den höchst unterschiedlichen Voraussetzungen der Teilnehmer Rechnung tragen (Fortsetzungsgeschichten, gruppeneigene Texte, Sprachlernspiele usw.). In neuerer Zeit wird vor allem die didaktische Entwicklung zielgruppenspezifischer Kursangebote vorangetrieben, ζ. B. Hauptschulabschlusskurse für ausländische junge Erwachsene, Deutsch für Arbeitslose als Hilfe zum beruflichen Wiedereinstieg u. ä. Erhebliche Bedeutung hat die Arbeit der PAS bzw. des DIE für die Ausgestaltung des Zertifikats DaF (seit 1969), das vom Volkshochschulverband und dem Goethe-Institut gemeinsam entwickelt wurde und als Grundstufen-Abschlussprüfung im In- und Ausland fungiert. Die Inhalte der Zertifikatsprüfung haben selbstverständlich Einfluss auf die Unterrichtsinhalte, und in diesem Sinne stellt das Zertifikat eine der wichtigsten Klammern zwischen dem DaF- und dem DaZ-Bereich dar. Das DIE hat darüber hinaus die Entwicklung inlandsspezifischer Prüfungen betrieben: Der „Grundbaustein DaF", der etwa den halben Lernweg zum Zertifikat markiert, ist besonders für die Zielgruppe der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen (vgl. Abschnitt 4.3.) von Bedeutung; die Sprachstandsanalyse, deren Niveau zwischen Grundbaustein und Zertifikat liegt, richtet sich vor allem an die Absolventen der Aussiedlerkurse (vgl. Abschnitt 4.4.1.). 4.2. Sonstige Anbieter DaZ-Kurse werden von zahlreichen weiteren Organisationen gemeinnützigen Charakters angeboten; zu ihnen zählen der Internationale Bund für Sozialarbeit, die Wohlfahrtsverbände, kommunale, kirchliche und gewerkschaftliche Einrichtungen und einzelne Vereine. Zielgruppen sind Jugendliche und Erwachsene aus den Gruppen der Aussiedler und der Arbeitsmigranten, in geringem Umfang auch aus den Gruppen der Flüchtlinge und Asylberechtigten. Es kann unterschieden werden zwischen Sprachkursen, die Teil beruflicher Eingliederungsmaßnahmen sind, und solchen, in denen das Lernen der deutschen Sprache einziger oder überwiegender Zweck des betreffenden Bildungsangebots ist (für einen Überblick vgl. FaDaF 1997). In den beiden folgenden Abschnitten wird auf die Zielgruppen der Aussiedler und der ausländischen Arbeitnehmer gesondert eingegangen.
4.3. Die Sprachverbandskurse Die unterrichtlichen Aktivitäten im Arbeitsfeld DfaA werden koordiniert durch den Sprachverband Deutsch für ausländische Arbeitnehmer e. V., der 1974 gegründet wurde und dem u. a. das Bundesarbeitsministerium, die Bundesanstalt für Arbeit, der Volkshochschulverband und die Bundesländer als Mitglieder angehören. Der Sprachverband fördert mit Mitteln des Bundesarbeitsministeriums zielgruppenspezifische Sprachkurse mit 70000 bis 80000 Teilnehmern jährlich, die von zahlreichen Trägerorganisationen durchgeführt werden. „Große" Träger sind die Volkshochschulen, der Internationale Bund für Sozialarbeit und die Arbeiterwohlfahrt; eine Stärke des Sprachverbands besteht aber gerade darin, dass auch zahlreiche „kleine" Träger, die geeignet sind, spezifische Bedürfnisse vor Ort abzudecken, zum Zuge kommen (zur Arbeit des Sprachverbands insgesamt vgl. Fürs Leben ... 1989; Kaufmann 1995, Sprachverband 1998; Social Consult 1999). Zu Beginn gab es nur einen geförderten Kurstyp: den Allgemeinen Deutschkurs für erwachsene ausländische Arbeitnehmer, der ganz der audiovisuellen Unterrichtsmethode verpflichtet war. Die weitere Entwicklung war gekennzeichnet durch eine Differenzierung nach Lernstufen und Kursformen (Allgemeine Sprachkurse, Intensivkurse, Alphabetisierungskurse, Kurse zur Vorbereitung auf den Grundbaustein zum Zertifikat DaF), wobei zusätzlich eine Spezifizierung auf bestimmte Zielgruppen (Jugendliche, Frauen) ermöglicht wurde. Zur didaktischen Qualität der Kurse trägt der Sprachverband bei, indem er Mindestausstattungen vorschreibt, Unterrichtsanregungen vielfaltiger Art publiziert und aufgrund eigener Analysen Lehrwerksempfehlungen ausspricht (vgl. Behrend-Roth u. a. 1990). Diese Arbeit hat wesentlichen Anteil an der Entwicklung einer spezifischen Zweitsprachendidaktik im Erwachsenenbereich, die sich an den Verbalisierungsbedürfnissen und der (bilingualen und bikulturellen) Alltagswirklichkeit der Lerner orientiert, sie als bewusst handelnde Personen anspricht und kommunikative Akzeptabilität ihres Deutschgebrauchs zum Ziel hat (Barkowski u. a. 1980). Eigens zu nennen sind die Kriterien zur Lehrwerksbegutachtung (Barkowski u. a. 1986), die beiden Zeitschriften „Deutsch lernen" und „Bildungsarbeit in der Zweitsprache Deutsch" (bis 1991: „Bildungsarbeit mit ausländischen Jugendli-
5. Entwicklungen des Unterrichts in Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache
chen"), die Materialien zur Alphabetisierung Erwachsener und zum berufsbezogenen Deutschunterricht. Mit der vom Sprachverband unterstützten Entwicklung der Videoserie „Korkmazlar" ist auch eine Perspektive zur Überwindung des Gegensatzes von kursförmigem („schulartigem") Lernen und dem Lernen an und in der Sprachwirklichkeit aufgezeigt worden. 4.4.
Deutschkurse für erwachsene Aussiedler 4.4.1. Allgemeine Sprachkurse Für neuzuwandernde Aussiedler mit geringen oder fehlenden Deutschkenntnissen finanziert die Bundesanstalt für Arbeit Intensivkurse von ursprünglich acht bis zehn Monaten, seit 1993 sechs Monaten Dauer, die als Eingliederungshilfe verstanden werden. Ursprünglich sollten die (länger dauernden) Kurse im günstigen Falle bis zum Zertifikatsniveau führen - eine Zielvorstellung, die sich als kaum erfüllbar erwiesen hat. Die Durchführung liegt bei verschiedenen Trägern (Volkshochschulen, Internationaler Bund für Sozialarbeit, private Sprach-Institute u. a.), die sich um die entsprechenden Zuschüsse bei den Arbeitsämtern bewerben. Die Teilnehmerzahlen unterliegen starken Schwankungen, abhängig von den Phasen und dem jeweiligen Umfang der Zuwanderung; sie belaufen sich seit 1992 (bei 6-monatiger Kursdauer) auf rd. 100000 jährlich (Info-Dienst Deutsche Aussiedler, Heft 82, 29). Das von einem Team des Goethe-Instituts ausgearbeitete Curriculum für den 6-MonateKurs verbindet einen pragmatisch orientierten Sprachaufbau mit allgemeinen Themen der sozialen Integration (Hubatsch/Köchling 1990). Das vom Bundesinstitut für Berufsbildung durchgeführte Projekt „Weiterbildung von Aussiedlern unter besonderer Berücksichtigung fachübergreifender Kompetenzen" strebt dagegen eine engere Verbindung mit berufsorientierenden und -qualifizierenden Lernprozessen an (Kühn 1995). Für jugendliche Aussiedler hat das Land Rheinland-Pfalz ein Konzept integrierter Sprachförderung vorgelegt (SIL 1992). Für den Aussiedlerunterricht gibt es eine Reihe spezifischer Unterrichtsmaterialien, die das Deutschlernen vor allem mit Themen der sozialen Integration verbinden. Ein ungelöstes didaktisches Problem der Unterrichtspraxis wie der Materialien ist die Frage der Einbeziehung von mitgebrachten Deutschkenntnissen, manchmal archaischer und oft
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dialektaler Prägung, welche die Aussiedler als Angehörige deutscher Minderheiten in den Herkunftsländern bewahrt haben (wenn auch in höchst unterschiedlichem Umfang) und die sie als sprachliche Ressource in ihr Leben in der Bundesrepublik Deutschland einbringen möchten und sollten. 4.4.2. Kurse für Akademiker Für Spätaussiedler, Asylberechtigte und Kontingentflüchtlinge bis zum Alter von 30 Jahren, die in der BRD ein Hochschulstudium aufnehmen oder fortsetzen wollen, vergibt die Otto-Benecke-Stiftung Beihilfen zu Orientierungs- und Eingliederungsmaßnahmen, die aus Mitteln des Bundesfamilienministeriums finanziert werden. Einen wesentlichen Anteil hieran haben die studienvorbereitenden Deutschkurse, welche die notwendigen Sprachkenntnisse für den Bereich eines Sonderlehrgangs zur Erlangung der Hochschulreife (Spätaussiedler), für den Besuch eines Studienkollegs (Asylberechtigte und Kontingentflüchtlinge) oder bei entsprechender Vorbildung für die direkte Aufnahme oder Fortsetzung eines Studiums vermitteln. Die Kenntnisse sollen dem Abschluss der Mittelstufe bzw. der DSH entsprechen; entsprechende Abschlussprüfungen werden von der Stiftung zentral verwaltet und unter ihrer Aufsicht durchgeführt. Die Kurse hatten ursprünglich eine Dauer von acht Monaten, auch sie wurden 1993 auf sechs Monate gekürzt, weitere Einschränkungen werden befürchtet. 1996 sind zwölf Träger, die über eine Gesamtzahl von rd. 1900 Kursplätzen verfügen, mit der Durchführung beauftragt. Für Spätaussiedler und Kontingentflüchtlinge im Alter zwischen 30 und 50 Jahren, die im Herkunftsland eine Hochschulausbildung abgeschlossen haben, organisiert die Stiftung aus Mitteln des Bundesbildungsministeriums Eingliederungsmaßnahmen, zu denen auch, soweit erforderlich, Sprachkurse gehören können, die auf den allgemeinen Deutschkursen für Aussiedler aufbauen. Auch hier handelt es sich um Intensivkurse mit einer Dauer von ursprünglich bis zu acht Monaten, die 1993 auf drei Monate gekürzt wurden — angesichts der heterogenen (fachlichen und sprachlichen) Voraussetzungen der Teilnehmer und des angestrebten Ziels (Abschluss auf Mittelstufenniveau) eine bedauerliche Entwicklung. 1997 ist dieses Angebot auf einige eng definierte Zielgruppen (Bewerber für Ergänzungsstudien, Wissenschaftler, Mediziner) eingeschränkt worden, in geeignetem
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
Umfang können auch 3-monatige Fachsprachenkurse für Naturwissenschaftler, Ärzte und Ökonomen angeboten werden. 1996 laufen die spezifischen Aufbaukurse nach den Vorgaben der Stiftung bei acht verschiedenen Trägern mit etwa 600 bis 800 Teilnehmern pro Jahr; die Zahl der Bewerber übersteigt die Zahl der zur Verfügung stehenden Plätze bei weitem. Zum didaktischen Konzept gehören die Kombination von gemeinsamem Gruppenunterricht und Arbeit in Kleingruppen, die nach Sprachstand differenziert sind, sowie die Verbindung der Ziele allgemeinsprachlicher kommunikativer Kompetenz mit studienbezogenen Sprachfähigkeiten, fachsprachlicher Qualifikation (in sehr unterschiedlichen Disziplinen) und Fähigkeiten der Textinterpretation. 4.5. Deutsch als Zweitsprache an öffentlichen Schulen Der Deutschunterricht für Schüler aus den einheimischen Sprachminderheiten hat in der Gegenwart „muttersprachlichen" Charakter. Der Deutschunterricht an Auslandsschulen in Deutschland, ζ. B. den Schulen der hier stationierten ausländischen Streitkräfte, hat fremdsprachlichen Charakter und folgt den Lehrplänen der Herkunftsländer. Beide Arbeitsfelder sind darum in die vorliegende Darstellung nicht aufgenommen worden. Darzustellen bleibt der Deutschunterricht für Schüler aus Immigrantenfamilien, zu denen - entsprechend den drei Hauptphasen der Einwanderung — die drei Gruppen der Kinder und Enkel von „Gastarbeitern" (seit den 60er Jahren), der Kinder von Aussiedlern (seit den 70er Jahren) und der Kinder von Flüchtlingen (seit den 80er Jahren) gehören. Seit 1965 führen die Bundesländer Statistiken über die „ausländischen Schüler", d. h. über Schüler nicht deutscher Staatsangehörigkeit. Anfanglich konnten diese noch als Annäherungen an eine Aussage über spezifische sprachliche Bildungsvoraussetzungen interpretiert werden; doch ist dies in der Gegenwart vor allem aufgrund von Vorgängen der sprachlichen Assimilation einerseits, der Berechtigungseinbürgerungen von Aussiedlern andererseits längst nicht mehr der Fall. Eine sachgerechtere Schulstatistik ist nicht entwickelt worden. Die Zahl der ausländischen Schüler an den allgemeinbildenden deutschen Schulen (das sind im Wesentlichen die Lernenden der ersten und dritten Gruppe) beträgt 1996 rund
940 000; hinzu kommen rund 230 000 ausländische Jugendliche an den beruflichen Schulen (KMK 1997). Die Zahl der Schüler aus Aussiedlerfamilien kann nur geschätzt werden; sie dürfte um die 400 000 liegen (Grundlage der Schätzung: Schüleranteil an den Zuwandernden, vgl. Dietz 1996, 10-13). Wie viele dieser Schüler Bedarf an einer spezifischen Unterrichtung des Deutschen als Zweitsprache haben und wie viele davon eine solche Förderung tatsächlich erhalten, ist derzeit nicht zu ermitteln. Die Bundesrepublik Deutschland leistet sich hier ein beträchtliches Maß an Unkenntnis. Seit der zweiten Hälfte der 60er Jahre bis in die 80er Jahre hinein wurden „Vorbereitungsklassen" eingerichtet, die der Intention nach das fachliche Lernen im Medium der Herkunftssprache fortführen und zugleich die für eine Integration in die Regelklassen erforderlichen Deutschkenntnisse vermitteln sollten. Dieses organisatorische Modell ist im Hinblick auf beide Ziele gescheitert, einmal weil die erforderlichen Investitionen in die Qualität des Unterrichts ausblieben, und zum andern weil das Modell den Kräften sozialer Segregation als Spielball überlassen wurde (vgl. Boos-Nünning 1981). Die derzeit gültigen Erlasse der Bundesländer sehen neben der umstandslosen Aufnahme in eine altersentsprechende (oder eine niedrigere) Klasse eigene vorschulische Angebote oder Eingangsklassen für Schulanfänger, Aufnahmeklassen, Eingliederungskurse für „Seiteneinsteiger", zusätzlichen Förderunterricht und die Verwendung regulären Förderunterrichts für die Festigung der Deutschkenntnisse bilingualer Schüler vor (Röhr-Sendlmeier 1986; Palt u. a. 1998). Ansätze zu einer spezifischen Didaktik des DaZ entwickelten sich in diesem Arbeitsfeld in einer diskontinuierlichen Weise. In der Praxis gab und gibt es mehr oder minder intuitive, mehr oder minder gelungene Versuche der Übertragung von Methoden des (primarschulischen, muttersprachlichen) Deutschunterrichts auf Deutsch als Zweitsprache. In der Materialproduktion (vgl. Isgören-Engin 1993) und in didaktischen Veröffentlichungen (vgl. Pommerin 1977; Rabitsch 1981; Bohn 1982) verbindet sich Praxiserfahrung mit der Adaption jüngerer Entwicklungen der Deutschdidaktik an die neue Zielgruppe. Gegenläufige Tendenzen, die von der Sprachdidaktik, ζ. T. auch von der Schulaufsicht ausgegangen sind und „von oben" auf die Praxis einzuwirken versuchten, ver-
5. Entwicklungen des Unterrichts in Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache
schrieben sich einer fremdsprachlichen Orientierung, sei es in einer kognitiv-kontrastiven (Meyer-Ingwersen u. a. 1977), sei es in einer kommunikativen Linie (Reich 1976; Akademie ... 1979). Einen weiterführenden Ansatz, herausgefordert durch das Ungenügen der beiden genannten „einseitigen" Orientierungen, aber auch durch die Provokationen der Forschung zum „natürlichen" Zweitspracherwerb (mit Bezug auf Lernende im Schulalter: Pienemann 1981), hat Wilms (1984) formuliert. Er fordert die Verbindung von vier Prinzipien: Konzentration auf sinnvolle kommunikative Interaktion; sprachsystematische Arbeit, die an Kommunikation anknüpft, aber ihrer eigenen Logik folgt; stärkere Betonung des Inhalts- oder Mitteilungsaspekts der Sprache; verstärkte Nutzung authentischer Lesetexte für die Sprachvermittlung. Textorientierte Spracharbeit hat eine zentrale Funktion in diesem Konzept; eine exemplarische Ausarbeitung hat Wilms selbst (1986) vorgelegt, eine systematische Ausarbeitung steht noch aus. Einige Bundesländer haben Lehrpläne für den Unterricht DaZ an staatlichen Schulen ausgearbeitet: Bayern (1978/84), Berlin (1982, „Unterrichtseinheiten" für den Deutschunterricht in Vorbereitungsklassen), NordrheinWestfalen (1982 für die Zielgruppe der Kinder ausländischer Arbeitnehmer, 1990 für Aussiedlerkinder); Hamburg (1992, „Richtlinien"), Thüringen (1995, „Empfehlungen"), Sachsen (1996, Vorläufiger Lehrplan für Vorbereitungsklassen, Vorbereitungsgruppen, Förderkurse). Die administrativen wie die universitären Bemühungen konzentrieren sich auf den DaZ-Unterricht in spezifischen Organisationsformen. Zweitsprachenförderung im Regelunterricht (aller Fächer) findet sehr viel weniger Beachtung; wichtige Anstöße hierzu kommen aus dem Bereich der Berufsbildung (vgl. Sprachliches Lernen ... 1989; SIL 1992), von einer breiten Durchsetzung kann aber weder dort noch im Bereich der Allgemeinbildung die Rede sein. Insgesamt wird DaZ an staatlichen Schulen zu sehr als Sondermaßnahme, zu wenig als dauerhafte Aufgabe des Bildungssystems gesehen. Es ist nur in ungenügender Weise in Fächerkanon und Stundentafel eingebunden; Lehrplanentwicklung und Lehrmittelproduktion bleiben hinter dem für andere Fächer erreichten Standard zurück; die Herausbildung von Fachlehrern wird durch rasch wechselnde Einsätze, prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Defizite im Lehrerbildungssystem erschwert, wenn nicht blockiert.
5.
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Schluss
Die Geschichte des Unterrichts von DaF und DaZ im Inland spielt im Wesentlichen in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. In diesem Zeitraum ist — aufs Ganze gesehen - eine starke quantitative Zunahme von Angebot und Nachfrage zu konstatieren. Genaue Zahlen lassen sich zwar kaum angeben, doch kann man im Durchschnitt mit etwa einer halben Million inländischer Deutschlernender jährlich rechnen. Mitte der 90er Jahre sind die Teilnehmerzahlen an den verschiedenen Institutionen rückläufig, teils aufgrund nachlassender Nachfrage, teils aufgrund gekürzter Subventionen. Für die Mehrzahl der Lernenden existieren passende institutionelle Unterrichtsangebote, auch in der Fläche. Die beschämende Ausnahme bildet die Gruppe der Asylbewerber, deren Deutschlernen politisch bewusst nicht unterstützt wird. Aufs Ganze gesehen ist auch ein hohes Maß an Differenziertheit erreicht. Zielgruppenspezifische Kurse - untergliedert nach Alter, Geschlecht, Bildungsniveau und fachlichen Interessen — existieren nicht nur im privatwirtschaftlichen, sondern auch im subventionierten Bereich. Durch soziogeographische Bedingungen wird jedoch die Zugänglichkeit des so differenzierten Angebots eingeschränkt; das Gefalle zwischen den Großstädten und den ländlichen Gebieten wirkt sich in spürbarer Weise aus. Von einer eigenen „Inlands-Didaktik" kann man nicht sprechen; es ist auch fraglich, ob es wünschenswert wäre, dergleichen anzustreben. Der Inlandsbereich partizipiert in breiter Weise sowohl an den didaktischen Entwicklungen im DaF-Bereich allgemein (vgl. die Zeitschriften „Zielsprache Deutsch", „Fremdsprache Deutsch" u. a.), als auch an der international orientierten DaF-Lehrwerksproduktion (vgl. Art. 105). Dies gilt auch für das Arbeitsfeld der fachsprachlichen, insbesondere der wirtschaftssprachlichen Unterweisung und für den DaF/DaZUnterricht im Kindesalter (vgl. die Zeitschrift „PRIMÄR") Der Inlandsbereich partizipiert schließlich auch an dem Prozess der Standardisierung von Lernzielen, der sich in einem differenzierten internationalen Zertifizierungswesen (vgl. Art. 84) niedergeschlagen hat. Aus der allgemeinen Forderung nach Zielgruppenorientierung des Unterrichts resultieren jedoch auch einige Besonderheiten der in-
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
ländischen Didaktik-Entwicklung, vor allem im DaZ-Bereich. Sie betreffen zunächst die soziokulturelle Fassung der im Sprachunterricht angeschnittenen Themen und Inhalte; hier ist namentlich in den Arbeitsfeldern DfaA und Aussiedler-Kurse eigenständige Entwicklungsarbeit geleistet worden. Sie betreffen zum Zweiten die vertiefte Beschäftigung mit bestimmten Herkunftssprachen, einschließlich der Kontraste zum Deutschen; zu nennen sind hier insbesondere das Türkische, das Russische und das Polnische. Sie betreffen drittens die Methodik eines Sprachunterrichts mit Menschen, die sich Deutsch weniger aus freier Wahl als aus sozialer Not aneignen und oft nur eine geringe formale Bildung als Voraussetzung dafür mitbringen („lernungewohnte Lerner"). Erstaunlicherweise ist diejenige didaktisch-methodische Aufgabe, die DaF im Inland und DaZ gemeinsam haben, nämlich die optimale Abstimmung des Kurslernens mit dem Lernen an und in der Sprachwirklichkeit, in Forschung und Entwicklung bisher nur punktuell angegangen worden (Knebler 1995 als ein Beispiel), obwohl in der Praxis zahlreiche Ansätze und Erfahrungen dazu zu finden sind (vgl. Kilian u. a. 1995). Was die Qualität der Unterrichtsangebote betrifft, so ist die Entwicklung von Standards hierfür noch wenig fortgeschritten, doch sind Ansätze dazu gemacht (vgl. Schneider 1998). Deutlich erkennbar ist ein sozial determiniertes Qualitätsgefalle, das sich mehr als in allem anderen in den höchst unterschiedlichen Beschäftigungsbedingungen der Lehrkräfte und entsprechenden Unterschieden ihrer Professionalität bemerkbar macht (vgl. Gaddatsch 1991; Paleit 1994; Art. 115). Im internationalen Vergleich ist der Unterricht von DaF und DaZ in Deutschland weit weniger entwickelt als der Unterricht von Englisch als Fremd- und Zweitsprache in den englischsprachigen Ländern. Er kann sich aber mit dem Inlandsunterricht anderer international bedeutsamer Sprachen durchaus messen, auch wenn etwa im Bereich des Migrantenunterrichts die skandinavischen Länder, oder im Bereich der Wirtschaftssprache die französischsprachigen Länder einen höheren Standard erreicht haben. 6.
Literatur in Auswahl
Akademie für Lehrerfortbildung Dillingen (1979): Deutsch für Kinder ausländischer Arbeitnehmer.
Unterrichtspraktische Hilfen zum Lehrplan „Deutsch als Fremdsprache". Donauwörth. Ammon, Ulrich (1991): Die internationale der deutschen Sprache. Berlin.
Stellung
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5. Entwicklungen des Unterrichts in Deutsch als Fremd- und Deutsch als Zweitsprache
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68
II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
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Hans H. Reich, Landau in der Pfalz (Deutschland)
6. Entwicklungen des Deutschunterrichts in nicht deutschsprachigen Ländern 1.
2. 3. 4. 5. 6. 7.
1.
Begriffsdifferenzierungen: ,Deutsch als Muttersprache' (DaM) - ,als Fremdsprache' (DaF), deutschsprachige Länder' Deutsche Auslandsschulen Deutsch als Fremdsprache an Schulen Deutsch als Fremdsprache und Germanistik an Hochschulen Erwachsenenbildung Zur Rolle und Entwicklung des Deutschunterrichts in einzelnen Ländern Literatur in Auswahl
Begriffsdifferenzieningen ,Deutsch als Muttersprache' (DaM) — ,als Fremdsprache' (DaF), deutschsprachige Länder'
Deutschunterricht kann erteilt werden als Muttersprache, als Nationalitätensprache, als Zweitsprache oder als Fremdsprache. Dabei muss man unterscheiden zwischen der Stellung der Sprache im Schulcurriculum und ihrer Stellung für ein Individuum. So kann Deutsch beispielsweise für ein Individuum Muttersprache sein und gleichzeitig curriculare Fremdsprache. Dies ist etwa der Fall für einen erst kürzlich aus einem deutschsprachigen Land in die USA ausgewanderten Jugendlichen, dessen Muttersprache Deutsch ist, der dort an einer Schule den Deutschunterricht besucht, wobei die curriculare Stellung des Deutschen die einer Fremdsprache ist. Deutsch wird in diesem Fall in einer Art und Weise unterrichtet, die für Lernende angemessen erscheint, für die Deutsch individuelle Fremdsprache ist. Dies sind im Wesentlichen Lernende, die zu Hause kein Deutsch gelernt haben und auch ansonsten in keiner deutschsprachigen Umgebung leben. Letzteres unterscheidet sie von Lernenden mit Deutsch als Zweitsprache. Beispiele sind die Kinder von nicht deutschsprachigen Arbeitsmigranten in deutschsprachigen Ländern. Sie
werden hier nicht weiter behandelt. Eine neuere Entwicklung ist Deutsch als Nationalitätensprache für Lernende, die sich einer deutschen ethnischen Minderheit eines Landes zuordnen, aber ihre deutschen Sprachkenntnisse mehr oder weniger verloren haben. Trotz des Sprachverlustes steht solchen Lernenden auf Grund ihrer deutschen Nationalität die deutsche Sprache näher als Lernern von Deutsch als Fremdsprache (vgl. Földes 1992). Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf die nicht deutschsprachigen Länder. Dazu gehören diejenigen Länder nicht, in denen die Muttersprachler des Deutschen die Bevölkerungsmehrheit bilden, nä.mlich die Bundesrepublik Deutschland, Österreich, Liechtenstein und die Schweiz. Wenn man die Länder als Ganze nimmt, gehört die gesamte Schweiz nicht dazu; wegen des in der Schweiz für die Amtssprachen geltenden Regionalprinzips kann man allerdings die deutschsprachige Schweiz von der französisch-, italienisch· und rätoromanischsprachigen unterscheiden und nur erstere ausnehmen. Entsprechend kann man bezüglich der deutschsprachigen Gemeinschaft in Ostbelgien und der Provinz Bozen-Südtirol in Norditalien verfahren; die Bevölkerungen beider Landesteile sind mehrheitlich Muttersprachler des Deutschen, so dass nur Belgien bzw. Italien ohne diese Teilgebiete zum Gegenstand unserer Betrachtung gehören. In allen genannten Ländern ist Deutsch entweder nationale Amtssprache (Deutschland, Österreich, Liechtenstein, Schweiz) oder regionale Amtssprache (deutschsprachige Gemeinschaft in Belgien, Provinz Bozen-Südtirol in Italien). Auch in Luxemburg ist Deutsch nationale Amtssprache, neben Französisch und Letzeburgisch, es ist jedoch nicht Muttersprache der Bevölkerungsmehrheit, sondern dies ist das Letzeburgische (vgl. zu den Ländern mit
6. Entwicklungen des Deutschunterrichts in nicht deutschsprachigen Ländern
Deutsch als Amtssprache, Ammon 1991, 5 2 85). Daher gehört Luxemburg durchaus zu dem hier zu betrachtenden Gegenstandsbereich.
2.
Deutsche Auslandsschulen
Die deutschen Auslandsschulen werden im Bericht der Bundesregierung über die deutsche Sprache in der Welt (1985, 4, 8) charakterisiert als die „ältesten Einrichtungen zur Verbreitung der deutschen Sprache im Ausland" und „das kostspieligste, wegen ihrer Langzeitwirkung aber auch das wirksamste Instrument zur Verbreitung der deutschen Sprache im Ausland". Diese Schulen bilden zwar nur einen kleinen, aber einen besonders wichtigen Teil derjenigen Schulen, in denen im Ausland Deutsch gelernt wird. Ihr gemeinsames spezifisches Merkmal besteht darin, dass sie besondere Beziehungen zu einem deutschsprachigen Land pflegen, die meisten zu Deutschland, einige aber auch zur Schweiz (16 im Jahre 1990) und zu Österreich (3 im Jahre 1990). Sie orientieren sich zumindest teilweise an den Bildungsvorstellungen eines deutschsprachigen Landes, was sich unter anderem daran zeigt, dass sie Zertifikate verleihen oder Schulabschlüsse ermöglichen, die in einem deutschsprachigen Land anerkannt werden, oder dass sie Lehrmaterialien und pädagogische Beratung aus einem deutschsprachigen Land beziehen. Innerhalb der deutschen Auslandsschulen lassen sich verschiedene Typen unterscheiden. Eine brauchbare Typologie für die deutschen Auslandsschulen Deutschlands liefert der Bericht der Bundesregierung über Stand und Entwicklung der deutschen Schulen im Ausland (1988, 16): (1) Begegnungsschulen: In ihnen überwiegen fremdsprachige Schüler, die mit der deutschen Sprache und Kultur bekannt gemacht werden. Ihre Zahl 1986: 47 mit insgesamt 43 339 Schülern. (2) Europäische Schulen: Sie entsprechen am ehesten dem Gedanken der gleichberechtigten Begegnung von Sprachen und Kulturen, der in der Außenpolitik Deutschlands seit den 70er Jahren zunehmendes Gewicht erlangt hat. Ihre Anzahl 1986: 9 mit insgesamt 12185 Schülern. Zwei der Schulen haben ihren Standort in Deutschland (Karlsruhe, München), die übrigen im europäischen Ausland. Nur für Erstere ist Deutsch notwendigerweise Unterrichtssprache. Für Letztere
69
ist Deutsch eine aus insgesamt fünf Wahlpflichtfremdsprachen; nur wenn Deutsch als erste davon gewählt wird, ist es zugleich Unterrichtssprache. (3) Deutschsprachige Auslandsschulen (auch Expertenschulen)'. Sie sind gedacht für Kinder von vorübergehend im Ausland weilenden Deutschen (Botschaftsangehörige, Mitarbeiter deutscher Firmen), nicht für Kinder des Gastgeberlandes. Zu ihnen gehören jedoch nicht die privaten Firmenschulen, die von im Ausland tätigen Privatfirmen aus Deutschland betrieben werden und gewöhnlich nur vorübergehend bestehen. Ihre Anzahl im Jahre 1986: 42 mit insgesamt 7305 Schülern. (4) Schulen mit verstärktem Deutschunterricht: Hier ist Deutsch — im Gegensatz zu den zuvor genannten Typen - meist nicht Unterrichtssprache, sondern nur obligatorisches zentrales Schulfach. Dieser Schultyp ist hauptsächlich für Nicht-Deutschsprachige gedacht. Ihre Anzahl im Jahre 1986: 27 mit insgesamt 17274 Schülern. (5) Sprachgruppen- und Siedlerschulen·. Sie dienen der Erhaltung und Pflege von Deutsch als Muttersprache bei deutschsprachigen Minderheiten. Meistens ist Deutsch auch Unterrichtssprache, zusätzlich zur Mehrheitssprache. Ihre Anzahl im Jahre 1986: 117 mit insgesamt 33 944 Schülern. (6) Sonnabendschulen: Es handelt sich um Zusatzeinrichtungen neben der Regelschule, die dem Erhalt oder der Wiederbelebung der Muttersprache Deutschstämmiger dienen sollen. Ihre Zahl im Jahre 1986: 94 mit insgesamt 15254 Schülern. Die Gesamtzahl der deutschen Auslandsschulen belief sich also im Jahre 1986 auf 336 mit insgesamt 129 301 Schülern (vgl. für einen Gesamtüberblick über das deutsche Auslandsschulwesen in neuerer Zeit Werner 1988, 109-208). Die deutschen Auslandsschulen dürfen nicht einfach gleichgesetzt werden mit den sonstigen deutschsprachigen Schulen in den nicht deutschsprachigen Ländern. Letztere haben im Gegensatz zu Ersteren keinen Bezug zum Schulwesen eines deutschsprachigen Landes. Die Geschichte der deutschsprachigen Schulen in den nicht deutschsprachigen Ländern reicht weit zurück — im Grunde bis ins späte Mittelalter, die Zeit der Entstehung deutscher Sprachinseln in Osteuropa. Ein Beispiel sind die Siebenbürger Sachsen im Gebiet des heutigen westlichen Rumänien. Auch in Nordeuropa sind schon in der frühen
70
II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
Neuzeit deutschsprachige Schulen entstanden. Ein Beispiel bildet die deutschsprachige St.-Petri-Schule in Kopenhagen, die auf eine über 400jährige kontinuierliche Geschichte zurückblickt. Die Massenauswanderungen aus dem deutschen Sprachgebiet im 18. und 19. Jh. führten dann in allen Haupteinwanderungsregionen zur Gründung deutschsprachiger Schulen, vor allem in Russland, Nordund Südamerika sowie in Australien. Die Geschichte der eigentlichen deutschen Auslandsschulen beginnt erst nach der Gründung des Deutschen Reichs im Jahre 1871. Äußeres Zeichen ist die Einrichtung eines ständigen Haushaltstitels für ihre Förderung, des Reichsschulfonds im Jahre 1878. Kurze Zeit danach, nämlich 1881, entstand als zusätzliche private Förderungsquelle der Allgemeine deutsche Schulverein, der 1901 umbenannt wurde in Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA), der noch heute besteht. Seit 1906 gibt es auch ein eigenes Referat im Auswärtigen Amt für die deutschen Auslandsschulen. Das deutsche Auslandsschulwesen entwickelte sich rasch und wurde schon bald als wichtiges Mittel zur Förderung der deutschen Sprache und Kultur im Ausland verstanden. Dies wird deutlich in der gezielten Förderung eines neuen Schultyps, der „Propagandaschulen". Sie unterscheiden sich von den ursprünglichen deutschen Auslandsschulen, die für ausgewanderte Muttersprachler des Deutschen gedacht waren, dadurch, dass sie ausdrücklich nicht deutschsprachige Ausländer aufnahmen. Allerdings hatte das Wort Propaganda zur damaligen Zeit (vor dem I. Weltkrieg) nicht die heutige negative Konnotation, die es wohl erst infolge des nationalsozialistischen Wortmissbrauchs gewonnen hat. Seine wesentliche Bedeutung war einfach Verbreitung', womit der Hauptzweck der betreffenden Schulen bezeichnet war, nämlich, der Verbreitung deutscher Sprache und Kultur im nicht deutschsprachigen Ausland zu dienen. Dass diese Zielsetzung gleichwohl als hoch politisch gewertet wurde, lässt sich daraus schließen, dass die deutschen Auslandsschulen kurz vor dem I. Weltkrieg in einer Geheime[n] Denkschrift des Auswärtigen Amtes über das deutsche Auslandsschulwesen erfasst wurden (ungekürzter Abdruck in Düwell 1976, 268-370). Diese Bestandsaufnahme erfasste insgesamt 878 Schulen mit 56201 Schülern. Sie dürfen wiederum nicht verwechselt werden mit den damaligen deutschsprachigen Schulen im Ausland, deren Zahl weit größer war. Schon in
der Geheimen Denkschrift werden sechs unterschiedliche Typen von deutschsprachigen Schulen im Ausland ausdrücklich von der Bestandsaufnahme ausgenommen, wie ζ. B. alle deutschsprachigen Schulen in den deutschen Kolonien, in den nicht deutschsprachigen Gebieten Österreich-Ungarns, in Russland, den Vereinigten Staaten sowie die meisten in Australien, Südafrika und Brasilien einschließlich sämtlicher deutschen Privatschulen. Allein die Schülerzahl in den deutschsprachigen Schulen der USA wird für die Zeit um 1900 auf 549800 geschätzt (Kloss 1966, 234). Solche Zahlen lassen den ungeheuren Schrumpfungsprozess in den deutschsprachigen Schulen im Verlauf unseres Jahrhunderts ahnen. Während die deutschen Schulen nach dem I. und nach dem II. Weltkrieg weitgehend wiedererstanden sind, ist dies bei den deutschsprachigen Schulen im Ausland nicht der Fall. Zu ihrer Auflösung bzw. vollständigen Integration in das jeweilige nationale Schulsystem hat sicher die aggressive deutsche Auslandspolitik beigetragen, jedoch auch - und vermutlich noch mehr — die Sprachanpassung der ausgewanderten Deutschen an ihre mehrheitssprachliche Umgebung. Heute hat sich die Zahl der deutschsprachigen Schulen im Ausland der Zahl der deutschen Auslandsschulen weitgehend angenähert. Ihr Bestand ist — nicht zuletzt auf Grund der Förderung durch die deutschsprachigen Länder - verhältnismäßig gefestigt. Eine neuere Entwicklung sind internationale Schulpartnerschaften zwischen Schulen im nicht deutschsprachigen und Schulen im deutschsprachigen Ausland. Auch diese Partnerschaften, von denen es mittlerweile Hunderte, wenn nicht Tausende, geben dürfte, festigen das Deutschlernen in den jeweiligen Auslandsschulen.
3.
Deutsch als Fremdsprache an Schulen
Es gibt umfassende Erhebungen zum Deutsch als Fremdsprache-Unterricht an Schulen nicht deutschsprachiger Länder, und zwar (1) in den Jahren 1982/83, deren Befunde veröffentlicht sind im Bericht der Bundesregierung über die deutsche Sprache in der Welt (1985, 28-47), und (2) in den Jahren 1993/94, die bisher unveröffentlicht dem Goethe-Institut und dem Auswärtigen Amt vorliegen und für diesen Bericht freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurden.
6. Entwicklungen des Deutschunterrichts in nicht deutschsprachigen Ländern Über weitere unvollständige Erhebungen und ihre Befunde wird berichtet in Ammon 1991 (432-436) und 1993 sowie in Sturm 1987, Götze 1987 und für Europa in Eurydice 1989. Für die beiden umfassenden Erhebungen wurden die Daten einzelner Länder über die Auslandsvertretungen Deutschlands gesammelt. Einen Überblick über die Befunde liefert Tabelle 6.1. Die spaltenmäßige Einteilung in drei Ländergruppen nach dem Umfang des Deutschlernens folgt dem Bericht 1985. Offenkundig handelt es sich dabei nicht um eine disjunktive Klassifikation. Trotz der Überlappungen liefert die Einteilung jedoch wenigstens grobe Anhaltspunkte. Leider lässt sich der Gegenüberstellung der Zahlen meistens keine Entwicklungstendenz entnehmen, da für die Erhebung von 1982/83 in der Mehrzahl der Fälle nur Prozentzahlen vorliegen. Gemeint sind damit Prozentanteile der Deutschlernenden an der Gesamtzahl der fremdsprachenlernenden Schüler. Es handelt sich in so gut wie allen Fällen um Sekundarstufenschüler, denn auf der Primarstufe wird nur in Ausnahmefallen Deutsch als Fremdsprache gelernt, und dann auch nur von sehr kleinen Schülergruppen. Diese sind in die hier wiedergegebenen Zahlen einbezogen. Tabelle 6.1. kann man entnehmen, dass im Erhebungszeitraum 1982/83 in mindestens 87 Ländern Deutsch als Fremdsprache unterrichtet wurde; im Erhebungszeitraum 1993/ 94 dagegen in mindestens 101 Ländern. Bei oberflächlicher Betrachtung ergibt sich daraus eine Vermehrung um 15 Länder. Dabei muss man allerdings berücksichtigen, dass sich gerade in zwei für das Deutsch als Fremdsprache-Lernen wichtigen Regionen die Länderzahl erheblich erhöht hat, nämlich im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, wo aus einem Staat zwölf Staaten geworden sind, im Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens, wo ein Staat in vier, und der einstigen Tschechoslowakei, die in zwei Staaten geteilt wurde. Auf der anderen Seite gibt es für 1993/94 einige unzweifelhafte Erhebungslücken, und zwar für Belgien und Luxemburg, für die keine Zahlen vorliegen, obwohl dort ohne Zweifel Deutsch als Fremdsprache gelernt wird; in Luxemburg ist Deutsch sogar Unterrichtssprache. Ob die Anzahl der Deutsch als Fremdsprache-Lernenden an Schulen weltweit insgesamt zugenommen hat, lässt sich nicht ohne weiteres beantworten. Sie wurde in einer Erhebung der Bundesregierung Ende der 70er Jahre auf 16 353000 geschätzt (Sprachatlas
71
1979). Für den Erhebungszeitraum 1982/83 wurde sie auf 15079640 geschätzt und für den Erhebungszeitraum 1993/94 scheint sich die Zahl auf 15179289 zu belaufen, wobei die Summierung wegen der Erhebung zu verschiedenen Jahren methodisch bedingte Unsicherheiten birgt. Diese Zahlen vermitteln insgesamt den Eindruck beträchtlicher Stabilität. Die detaillierte Betrachtung der Situation verrät allerdings, dass sich dahinter eine Zunahme der Lernerzahlen in Mittel- und Osteuropa (ausgenommen Russland) und eine Abnahme vor allem in den höher entwikkelten westlichen Industrieländern, aber auch Ländern wie Brasilien und Russland (Mitteilung Hardarik Blühdorn), verbirgt, deren Plus- und Minustendenzen sich ungefähr ausbalancieren. Diese Entwicklung beinhaltet auch die Tendenz einer noch stärkeren Konzentration des Deutsch als FremdspracheLernens auf Europa. Es ist günstig, dass statistische Erhebungen vorliegen, die - wenigstens bis zu einem gewissen Grad - Aufschluss liefern über die quantitative Entwicklung des Deutsch als Fremdsprache-Lernens in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts (vgl. Tabelle 6.2). Tabelle 6.2 lässt sich vor allem entnehmen, dass Deutsch in Europa auch schon früher einen höheren Anteil unter den Fremdsprachen hatte als weltweit und dass es zu bestimmten Zeiten auffällige Einbrüche in der Entwicklung gegeben hat (vgl. auch Thierfelder 1938, 1957). Die gegensätzliche Entwicklung von Französisch und Deutsch zwischen den beiden Zeitpunkten 1913 und 1920 ist vor allem auf tiefgreifende Verschiebungen in den angelsächsischen Ländern, insbesondere in den USA, infolge des I. Weltkrieges, zurückzuführen. Vor dem I. Weltkrieg war Deutsch in den USA die mit Abstand meistgelernte Fremdsprache. So stehen im Jahre 1910 den 216869 Deutschlernenden nur 90591 Französischlernende gegenüber. Infolge des I. Weltkrieges und der dadurch veränderten US-amerikanischen Fremdsprachenpolitik schlägt das Verhältnis zwischen beiden Fremdsprachen um. 1922 sind es nur noch 13 385 Deutschlernende gegenüber nicht weniger als 345 650 Französischlernenden. Auch Spanisch übertrifft Deutsch nach dem I. Weltkrieg und entwickelt sich dann im Weiteren zur meistgelernten Fremdsprache in den USA. Ob Deutsch heute noch weltweit als Schulfremdsprache an dritter Stelle liegt, ist fraglich. Möglicherweise wird es vom Spanischen
72
II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
Tab. 6.1: Deutsch als Fremdsprache an Schulen weltweit auf Grund von Erhebungen von 1982/83 und 1993/94 A n Schulen überwiegend vertreten
A n zahlreichen Schulen vertreten
Europa Albanien Belgien Bulgarien Dänemark Finnland Frankreich Großbritannien Irland Island Italien Jugoslawien Bundesrepublik Jug. Kroatien Mazedonien Moldau Slowenien Slowakei Luxemburg Niederlande Norwegen Polen Rumänien Schweden Schweiz (nicht deutschsprachiger Teil) Tschechien Tschechoslowakei Türkei UdSSR Belarus Estland Georgien Litauen Lettland Russ. Föderation Ukraine Ungarn
Europa Portugal
1982/83 1993/94 5,7 Τ 1,3%
Amerika Brasilien Chile Kanada USA
0,6% 1,6% 1,4% 2,7%
Afrika Kamerun Elfenbeinküste Mali Asien/Ozeanien Australien Indonesien Kasachstan Kirgisien Korea Tadschikistan Turkmenistan Usbekistan
1982/83 1993/94 0,2 Τ — 13,6% 122 Τ 130 Τ 150 Τ 217 Τ 78% 111,5 Τ 19% 1449 Τ 2% 126,4 Τ 5,7% 94,5 Τ 56% 7Τ 5,2% 40,2 Τ 440 Τ -
— —
—
—
88% 35% 48,5% 32% ? 46,4%
62 Τ 142 Τ 8Τ 56,7 Τ 209 Τ 389 Τ -
661 Τ -
1364 Τ 283,8 Τ 209 Τ
100%
—
—
737.5 Τ
50% 11% 23%
—
—
257 Τ 60 Τ 172 Τ 91 Τ 72,3 Τ 4.205 Τ 834 Τ 538,5 Τ
— — —
—
12,4% 10% 27% 25,4% 9% 5,7% —
-
7,6 —
-
Afrika Algerien 1,3% Benin 0,9% Madagaskar 1,7% Namibia 8,6% Obervolta 17,4% Senegal 4,1% Südafrika 5,4% Togo 4% Zentralafrikanische Republik 6,5%
58,8 Τ 22,5 Τ 28 Τ 350 Τ ? 4Τ 10Τ 2,6 Τ —
8,4 Τ 15,6Τ 9,9 Τ 2Τ
Mittlerer Osten Ägypten
2,3%
71 Τ
Asien/Ozeanien Afghanistan Neuseeland
1,1% 4%
9Τ
150 Τ -
105 Τ 99,1 Τ 20,9 Τ 165 Τ 250 Τ 734 Τ 150 Τ 526,4 Τ 270 Τ 75 Τ 500 Τ
-
A n einigen Schulen vertreten Europa Griechenland Malta Spanien Zypern Amerika Argentinien Bolivien Costa Rica Dominikan. Republik El Salvador Ecuador Guatemala Haiti Jamaica Kolumbien Mexiko Nicaragua Paraguay Peru Uruguay Venezuela Afrika Angola Äthiopien Burundi Burkina Faso Gabun Ghana Kenia Kongo Lesotho Marokko Mauretanien Niger Ruanda Sierra Leone Swasiland Tansania Tunesien Uganda Zaire Zimbabwe Mittlerer Osten Bahrein Iran Jordanien Kuweit Libanon Oman Sudan Vereinigte Arabische Emirate Asien/Ozeanien China Hongkong Indien Japan Malaysia Mongolei Nepal Pakistan Philippinen Singapur Sri Lanka Taiwan Thailand Vietnam
. Τ = tausend (B : 0,2 Τ = 200) — = keine Zahlenangabe in Quellen oder keine Erhebung
1982/83 0,2% 3% 0,01% 4%
1993/94 20 Τ 2,7 Τ 25 Τ 2,3 Τ
2Τ 1% 0,6 Τ
17,7 Τ 0,8 Τ 0,4 Τ
0,01% 0,02% —
0,09% 0,07% 0,08%
-
0,6 Τ 2,2 Τ 1Τ 0,01 Τ -
1,6% 0,04%
3,8 Τ 3,4 Τ 0,4 Τ 7,8 Τ 5,9 Τ 1,8 Τ 2Τ
-
0,01 Τ
-
0,01% -
1% -
0,01% 0,1 τ
-
-
7,3 Τ 1,3 Τ 0,2 Τ 1,8 Τ
2,1 0,1% 1,9% 0,02% 0,02% 0,4% —
0,13 Τ 0,03 Τ 0,4% 0,15% 0,04% 0,3 Τ 0,8% 0,001% 0,05% -
2,9% —
0,8% -
—
0,01% 0,02% 0,06% 0,08% — — —
0,01 Τ 0,001 0,02% 0,7 —
0,01% -
—
-
4,5 Τ 0,06 Τ 0,1 Τ —
—
-
11,7 Τ 2Τ —
0,1 Τ 0,03 Τ 0,6 Τ 0,1 Τ 0,03 Τ 1,3 Τ 0,04 Τ 0,7 Τ 0,13 Τ 0,2 Τ 1Τ —
4Τ 0,4 Τ 1Τ 0,04 Τ — -
0,4 Τ 1Τ 0,03 Τ 2,5 Τ 0,2 Τ
6. Entwicklungen des Deutschunterrichts in nicht deutschsprachigen Ländern
73
Tab. 6.2: Anteile der Fremdsprachen an den Unterrichtsstunden in den Schulen zwischen 1908 und 1938 in Prozent (nach Fränzel 1939,110-115)
Englisch Französisch Deutsch Italienisch Spanisch Sonstige
Europa Weltweit Europa Weltweit Europa Weltweit Europa Weltweit Europa Weltweit Europa Weltweit
1908
1913
1920
1923
1928
1932
1938
20,7 43,3 42,1 27,3 20,7 15,2 1,0 0,6 4,2 4,4 11,3 9,2
20,7 43,9 42,1 26,7 20,7 15,4 1,0 0,4 4,2 4,4 11,3 9,2
20,8 44,0 46,2 29,4 16,0 11,1 1,1 0,5 4,6 5,9 11,3 9,1
25,4 45,9 39,4 26,9 24,3 13,6 1,6 0,7 5,6 6,3 3,7 6,6
25,6 46,6 39,0 26,5 24,6 13,6 1,8 0,7 5,3 6,0 3,7 6,6
25,7 46,4 37,3 25,1 25,6 13,0 1,8 0,7 5,2 5,2 4,4 9,6
30,9 48,0 31,2 23,3 23,1 12,0 3,4 1,3 7,0 5,5 4,4 9,6
übertroffen. Im größeren Pazifischen Raum wird außerdem das Japanische heute mehr gelernt als das Deutsche. Daneben gewinnen verschiedenenorts bislang nur wenig beachtete Fremdsprachen an Bedeutung und werden gewissermaßen zu Konkurrenten des Deutschen, insbesondere Chinesisch, Arabisch, Portugiesisch und Indonesisch. Gesonderte Betrachtung verdient die Entwicklung in Osteuropa. In keiner Region der Welt hat Deutsch einen so großen Anteil am Fremdsprachenunterricht wie in Mittel- und Osteuropa — wenn man von geographisch sehr begrenzten Sonderfallen absieht wie Luxemburg (Deutsch staatliche Amtssprache) oder die französischsprachige Schweiz (Deutsch erste Fremdsprache). Das Deutschlernen hat in Mittel- und Osteuropa einen Schub erfahren durch die Auflösung der Sowjetunion und die Entstehung neuer unabhängiger Staaten (vgl. ζ. B. Götze 1996). In den Schulen dieser Staaten wurde fast ausnahmslos das zuvor obligatorische Russisch zu einer Wahlpflicht-Fremdsprache degradiert; gleichzeitig erhielten weitere Sprachen den Status von Wahlpflicht-Fremdsprachen, vor allem Deutsch, Englisch und Französisch. In fünf Staaten ist Deutsch zur meistgewählten Schulfremdsprache geworden, nämlich (Prozent der Gesamtschülerzahl, die dort Deutsch wählten, jeweils in Klammern): in der Tschechischen Republik (52%), in Ungarn (47%), in der Slowakischen Republik (47%), in Kasachstan (46%) und in Georgien (45% — pari passu mit Englisch) (Zahlen für 1994; Erhebung des Auswärtigen Amts). Allerdings ist für ganz Mittel- und Osteuropa Deutsch nur die zweithäufigst gelernte
Fremdsprache hinter Englisch, aber deutlich vor Französisch. Dies lässt sich Tabelle 6.3 entnehmen. (Bei pari passu-Platzierung von zwei Sprachen wurde für die Ermittlung der Rangordnung beiden Sprachen der Wert Vi zugeschrieben.) Die Zahlen für Russisch sind unklar und wurden deshalb weggelassen; sicher scheint nur, dass sie insgesamt weit hinter denen für Deutsch liegen. Tab. 6.3: Fremdsprachen-Schüler in Mittel- und Osteuropa und in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) 1994 (in Mio.)
1. 2. 3. GesamtPlatz Platz Platz zahl Englisch 14,5 Deutsch 4,5 Französisch 2
7 12 2
4 17
21,2 Mio. 11,4 Mio. 6,7 Mio.
Länder mit erstem Platz für Englisch: Armenien, Aserbaidschan, Bulgarien, Estland, Georgien (pari passu mit Deutsch), Kirgisistan, Lettland, Litauen, Polen, Russland, Tadschikistan, Turkmenistan, Ukraine, Usbekistan, Weißrussland. Länder mit erstem Platz für Französisch: Moldau, Rumänien.
4.
Deutsch als Fremdsprache und Germanistik an Hochschulen
An den Hochschulen muss man das Studium der deutschen Sprache und Literatur, also das Germanistikstudium, unterscheiden vom praktisch ausgerichteten Erlernen des Deutschen (Deutschlernen bzw. spezieller Deutsch
74
II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
als Fremdsprache-Lernen). Der Unterschied zeigt sich bisweilen auch deutlich darin, dass Germanisten die deutsche Sprache zumindest mündlich nicht unbedingt gut beherrschen, während Sprachlerner unter Umständen keine Kenntnisse der deutschen Literatur haben. Die Bezeichnung Deutschstudierende an Hochschulen umfasst im Weiteren beide Kategorien: Germanisten und Deutsch als FremdspracheLerner. In Ländern, in denen Deutsch als Fremdsprache an Schulen und an Hochschulen angeboten wird, entwickeln sich die Lernerzahlen in der Regel auf beiden Ebenen einigermaßen parallel. Dies belegen zahlreiche, auch indirekte Einzelbeobachtungen; repräsentative Langzeituntersuchungen liegen allerdings nicht vor. So weist Lévy (1950/52, 224-228) darauf hin, dass in Frankreich in der Zeit nach dem I. Weltkrieg die Deutsch als Fremdsprache-Lernenden an Hochschulen und Schulen gleichermaßen hinter die Lerner von Englisch als Fremdsprache zurückgefallen sind. Entsprechendes lässt sich Angaben von KIoss (1971, 118-121) in Bezug auf die USA entnehmen, wo Deutsch bis 1917 an den Hochschulen wie an den Schulen meistgelernte bzw. -studierte Fremdsprache war, während es danach auf beiden Ebenen von Französisch und später auch von Spanisch überflügelt wurde. Nicht-parallele Entwicklungen der Proportionen finden sich natürlich dort, wo Deutsch als Fremdsprache in einer der beiden Ebenen neu eingeführt oder ganz eliminiert wurde. Ein Beispiel für Letzteres ist Japan, wo Deutsch als Fremdsprache bis zum Ende des I. Weltkrieges auf allen Gymnasien vertreten war, aber danach praktisch aus dem Schulbereich verschwand — wenn man vom Fortbestehen als bloßes Wahlfach in heute gerade noch ungefähr 90 Oberschulen absieht (Itoi 1994; Hirataka 1994). Als Folge der grundsätzlichen Einschränkung des Fremdsprachenunterrichts in den Schulen auf das Englische in Japan hat die Zahl der Deutsch als Fremdsprache-Lernenden an den Schulen in der Zeit nach dem II. Weltkrieg drastisch abgenommen, während ihre Zahl an den Hochschulen zugenommen hat. Letzteres hängt mit der allgemeinen Zunahme des Fremdsprachenunterrichts in der neueren Zeit zusammen, die auch für Japan zu verzeichnen ist. Man kann davon ausgehen, dass Länder mit Deutsch als Fremdsprache an den Schulen in aller Regel auch Deutsch als Fremdsprache an den Hochschulen aufweisen. Die-
ser Zusammenhang wird auch durch den Bericht der Bundesregierung (1985) bestätigt, der nur neun kleine Länder ausweist, in denen Deutsch als Fremdsprache zwar auf der Schule, aber nicht auf der Hochschule gelernt wird. Dagegen ist die umgekehrte Sachlage, dass nämlich Deutsch als Fremdsprache nicht auf der Schule, sondern erst auf der Hochschule angeboten wird, häufiger. Sie wird im Bericht der Bundesregierung (1985, 28-47) für immerhin 21 Länder festgestellt, und zwar: Lateinamerika: Afrika: Nahost: Asien:
Bahamas, Costa Rica, Ecuador, Kuba, Nicaragua, Panama; Angola, Guinea, Liberia, Mosambik, Nigeria; Irak, Israel, Kuwait, SaudiArabien, Syrien; Bangladesch, Birma, China/ Taiwan, Laos, Malaysia.
Sofern es an den Hochschulen sowohl Germanistik als auch Deutsch als FremdspracheUnterricht gibt, sind die Teilnehmerzahlen in der Germanistik in aller Regel geringer. So wird im Bericht der Bundesregierung (1985) die weltweite Gesamtzahl der Germanisten auf 91 533, die der Sprachlerner dagegen auf 1,3 Mio. geschätzt. Diese Proportionen dürfen allerdings nicht zu dem Fehlschluss verleiten, dass das Angebot der Germanistik immer mit dem Angebot praktischer Sprachkurse einhergehe. Vor allem in Ländern, die schon auf der Schule ein breites Deutsch als Fremdsprache-Angebot vorzuweisen haben, scheinen praktische Sprachkurse auf der Hochschule bisweilen nur noch eine geringe Rolle zu spielen. So weist der Bericht der Bundesregierung (1985) immerhin 16 Länder aus, in denen zwar Germanistikstudien, aber keine Deutsch als Fremdsprache-Kurse an den Hochschulen angeboten werden. Zwischen Germanistik und Sprachlernen besteht auch heute noch vielfach ein eigentümliches Spannungsverhältnis. Für die Germanisten ist der praktische Sprachunterricht vielfach die häufigste Berufsperspektive; jedoch werden sie mitunter gerade dafür unzureichend ausgebildet. Wenn sich diese Diskrepanz in neuerer Zeit auch zunehmend verringert, so besteht sie dennoch vielerorts fort oder wird zumindest nicht konsequent und nicht mit voller Bereitschaft der Beteiligten abgebaut (vgl. ζ. B. Nakajima 1994). Das praktische Sprachlernen zeigt in neuerer Zeit
6. Entwicklungen des Deutschunterrichts in nicht deutschsprachigen Ländern
einen weit stärkeren Zuwachs als das Germanistikstudium. Als Hauptmotiv lässt sich die Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen zum deutschen Sprachgebiet, einschließlich des Tourismus aus dem deutschen Sprachgebiet, ausmachen bzw. die im Zusammenhang damit stehenden Berufsaussichten (vgl. Glück 1992; Ammon 1991, 150-211, 331 — 360). 5.
Erwachsenenbildung
Gemeint ist hier der Bereich außerhalb der (schon in 4. behandelten) Hochschulen, der allerdings wegen seiner Heterogenität kaum überschaubar ist. Er umfasst die Sprachkurse einerseits in den Massenmedien (Radio, Fernsehen) einschließlich des Selbststudiums mittels verschiedener Medien (Lehrbücher, Tonund Bildkassetten), andererseits im vielfältigen personalen Unterricht (im direkten Kontakt mit Lehrpersonen), in staatlichen Zusatzbildungsinstituten (Entsprechungen zur Volkshochschule), in Kulturinstituten deutschsprachiger Länder (Goethe-Institut u. a.), im berufsbezogenen Fremdsprachenunterricht (ζ. B. die Carl-Duisberg-SprachZentren), im Fremdsprachenunterricht von Betrieben sowie in privaten Sprachschulen. Punktuelle Daten lassen die zahlenmäßige Größe dieses vielfältigen Bereichs ahnen. So werden ζ. B. für Japan die Teilnehmer an Radio- und Fernseh-Deutsch als FremdspracheKursen auf jährlich rund 400000 geschätzt (Stuckenschmidt 1989, 19) oder bieten von den mindestens 7500 privaten Sprachschulen in Japan immerhin rund 17%, also ca. 1275, Deutsch als Fremdsprache-Kurse an (Noro 1994, 314-315). Die Bundesregierung kennt die meist verhältnismäßig großen Zahlen von Deutsch als Fremdsprache-Medienkursen und unterstützt im Rahmen der Förderung der deutschen Sprache die Entwicklung von Radio- und Fernseh-Deutsch als Fremdsprache-Kursen. ' Im Angebot von Deutsch als Fremdsprache für die Erwachsenenbildung spielen auch die Sprachkurse der Kulturinstitute Deutschlands und Österreichs eine wichtige Rolle, vor allem die des Goethe-Instituts. Die Teilnehmerzahlen haben im Verlauf der letzten Jahrzehnte ziemlich kontinuierlich zugenommen. Sie lagen beim Goethe-Institut 1967 bei rund 65 000 und 1994 bei über 145 000. Allerdings gibt es auch partiell rückläufige Ent-
75
wicklungen, wie ζ. B. bei den 16 Goethe-Instituten im Inland einen Rückgang der Teilnehmerzahlen um 20% im Berichtszeitraum 1993/94, der unter anderem durch die Angst vor Ausländerfeindlichkeit in Deutschland bedingt gewesen sein dürfte (vgl. Jahrbuch des Goethe-Instituts 1993/94, 7). Bemerkenswerte Zunahmen verzeichnen fachlich spezialisierte Sprachkurse, vor allem in Wirtschaftsdeutsch und in Deutsch für Touristen. Der Versuch, einen weltweiten Überblick über das Deutsch als Fremdsprache-Lernen an Privatschulen zu gewinnen, wäre eine Sisyphusarbeit, nicht nur wegen der Vielzahl und Heterogenität der Institute, sondern auch wegen ihrer teilweise erheblichen Fluktuation. Nicht alle Lerner an solchen Privatschulen sind Erwachsene, jedoch dürften sie den größeren Teil ausmachen. Den enormen Umfang des Deutsch als Fremdsprache-Lernens an Privatschulen verraten schon einzelne Zahlen, die nur verhältnismäßig kleine Teilmengen bilden dürften. So wurden an den Instituten der Berlitzschule, allerdings der weltweit größten privaten Sprachschule, im Jahre 1995 nicht weniger als 411 770 Deutsch als Fremdsprache-Unterrichtsstunden erteilt. Damit rangierte Deutsch immerhin an dritter Stelle aller Fremdsprachen hinter Englisch (3202775 Stunden) und Spanisch (449991 Stunden), noch vor Französisch (391711 Stunden). Die von den Berlitzschulen geführte Statistik liefert auch einen Überblick über die Entwicklung und die regionale Verteilung des Deutsch als Fremdsprache-Lernens im Vergleich zu anderen großen Fremdsprachen. Sie ist wiedergegeben in Tabelle 6.4. Die Rangordnung der Sprachen richtet sich dabei nach den jüngsten verfügbaren Zahlen (1995). Wie man sieht, ist der Gesamtanteil von Deutsch in den letzten Jahren stabil geblieben (genauer lag er 1995 bei 8,3%). Auch Spanisch hat sich praktisch nicht verändert (1995 9,1%). Englisch hat noch einmal etwas zugenommen (1995 64,7%), während Französisch merklich zurückgegangen ist (1995 7,9%). Chinesisch macht sich als neue Größe bemerkbar und hat sogar das Japanische überholt (1,279% gegenüber 1,272%), dessen Anteil erstaunlicherweise zurückgegangen ist. Bei der regionalen Verteilung fällt besonders auf, dass Deutsch seinen Schwerpunkt deutlich in Europa hat. Die Konzentration auf Europa zeigt Deutsch als Fremdsprache auch in den Bereichen von Schule und Hochschule.
76
II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
Tab. 6.4: Anteile der Sprachen an den Unterrichtsstunden der Berlitz-Sprachschulen in Prozent
Regionale Verteilung
Englisch Spanisch Deutsch Französisch Italienisch Chinesisch Japanisch Niederländisch Portugiesisch Russisch Sonstige
6.
Anfang Europa der 70er Jahre 1989 1995 1989 1995
Nord amerika 1989 1995
Lateinamerika 1989 1995
Fernost
42 12 12 25
12 62 23 34 36
21 12 6 5 3
27 12 2 4 2
30 2 7 7 3
-
-
-
-
63 9 8 11 3 -
2 1 1
-
-
9
2
65 9 8 8 2 1 1 1 1 1 2
37 24 64 54 58 -
9 96 28 -
25
35 22 79 58 65 5 10 90 29 53 52
Zur Rolle und Entwicklung des Deutschunterrichts in einzelnen Ländern
6.1. Methodische Vorbemerkung Beschreibungen des Deutschunterrichts in verschiedenen Ländern sollten sich zum Zwecke der Vergleichbarkeit an einem einheitlichen Beschreibungsschema orientieren. Dieses sollte alle Komponenten enthalten, die für die Erklärung der Entwicklung des Deutschunterrichts in einem Land relevant sind. Ein solches Vorgehen kann hier nur als Desiderat formuliert werden. Einerseits gibt es derzeit noch keine gesicherten Erkenntnisse darüber, welche Komponenten einer solchen Beschreibung für die Erklärung der Entwicklung des Deutschunterrichts in einem Land relevant sind, ganz zu schweigen von Möglichkeiten der Gewichtung dieser Relevanz. Dies zeigt sich auch an der Verschiedenheit der Zugriffe in den vorliegenden Versuchen von Gesamtbeschreibungen des Deutschunterrichts für einzelne Länder. Man vergleiche diesbezüglich nur etwa Lévy (1950/ 51) für Frankreich, Vaagland (1991; Kurzfassung 1988) für Norwegen oder Ortmanns (1993) für Großbritannien. Andererseits fehlen vergleichbare zuverlässige Daten für fast alle denkbaren relevanten Komponenten. Die empirischen Lücken dürften teilweise durch theoretische Lücken bedingt sein, da mangels eines fundierten Beschreibungsschemas keine länderübergreifenden Datenerhebungen stattfinden konnten. Auch die weltumspannenden Erhebungen des Auswärtigen Amtes, wie sie
—
53 4 36 -
36
14 59 14 31 26 23 58 10 47 43 27
1
-
-
30
18
-
-
25
1989 1995
38
24 2 5 7 7 73 31
-
-
6 -
1
14
ζ. B. im Bericht der Bundesregierung
7 4 21
(1985)
dargestellt werden, bleiben sehr an der Oberfläche, da sie sich auf Lernerzahlen und Fördermaßnahmen von Seiten deutschsprachiger Länder beschränken. Insbesondere fehlt es an länderübergreifenden Motivations- und Bedarfsuntersuchungen, die genaueren Aufschluss darüber liefern würden, aus welchem Grund Deutsch gelernt wird und welchen Bedarf, vor allem in der Berufswelt, es an Deutschkenntnissen gibt. Wegen dieser Lücken bleiben die folgenden Hinweise trotz teilweiser Absicherung durch Daten weitgehend impressionistisch. Bei der Auswahl der folgenden Staaten wurde darauf geachtet, dass Merkmale variieren, an deren Bedeutsamkeit für das Deutschlernen kein ernsthafter Zweifel besteht: (a) Der technologische Entwicklungsstand des Landes: Für Angehörige von weniger entwickelten Ländern dienen Deutschkenntnisse nach wie vor als Schlüssel zu technologischen und wissenschaftlichen Informationsquellen, während dies bei hochentwickelten Ländern kaum mehr der Fall ist. Dies zeigt sich ζ. B. daran, dass bei Gaststudierenden in den deutschsprachigen Ländern, die aus weniger entwickelten Ländern kommen, die Ingenieurwissenschaftler überwiegen, bei Gaststudierenden aus hochentwickelten Ländern dagegen die Kulturwissenschaftler. (b) Das Vorhandensein einer deutschen Ethnie oder einer deutschsprachigen Minderheit: Solche Personen haben bisweilen spezifische Motive, Deutsch zu lernen, die mit Begriffen wie ,Bewahrung der ethnischen Identi-
6. Entwicklungen des Deutschunterrichts in nicht deutschsprachigen Ländern
tät' oder , Spracherhaltung' umrissen werden können. In Ländern ohne entsprechende Minderheiten fehlen diese Motive. (c) Intensität der Kontakte zu deutschsprachigen Ländern: Solche intensiven Kontakte bestehen normalerweise auch im Falle der geographischen Nachbarschaft zu den deutschsprachigen Ländern, außer bei politisch bedingten Barrieren (ζ. B. „Eiserner Vorhang"). Im Falle intensiver Kontakte ist die Motivation zum Deutschlernen durchschnittlich höher, nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen, als beim Fehlen solcher Kontakte. (d) Traditioneller Umfang des Deutschlernens: Eine große Tradition des Deutschlernens hat ihre eigengesetzliche Trägheit und bewirkt weiterhin Deutschlernen in größerem Umfang, auch wenn die ursprünglichen Gründe für das Deutschlernen nicht mehr oder nicht mehr im gleichen Ausmaß wie vordem existieren. Dies ist nicht nur dadurch begründet, dass die vorhandenen Deutschlehrer für ihre Weiterbeschäftigung kämpfen, sondern auch dadurch, dass das Deutschlernen zu einem Teil der Kultur des Landes geworden ist. Daraus regeneriert sich ein fortdauernd stärkeres Interesse am Erlernen dieser Sprache, als wenn keine entsprechende Tradition existiert. (e) Sprachkonstellation des Landes: Die Mutter- und Amtssprachen und die anderen Fremdsprachen: Im Falle mehrerer nationaler Amtssprachen müssen Schüler oft zunächst einmal die anderen nationalen Amtssprachen, die nicht ihre Muttersprache sind, als Fremdsprache erlernen. Damit bleibt für zusätzliche Fremdsprachen weniger Spielraum. Je nachdem, ob Deutsch zu diesen anderen nationalen Amtssprachen gehört oder nicht, wird es beim Fremdsprachenlernen stärker bevorzugt oder mehr zurückgedrängt. So ist Deutsch ζ. B. in der französischsprachigen Schweiz als Teil eines Staates, in dem Deutsch nationale Amtssprache ist, erste Fremdsprache; in Belgien, wo Deutsch nur regionale Amtssprache ist, steht es dagegen eher hintenan. Die Belgier lernen zunächst einmal die jeweils andere nationale Fremdsprache (die Flamen Französisch, die Wallonen Niederländisch), danach gewöhnlich Englisch und erst dann vielleicht Deutsch. In der nachfolgenden Länderskizze wird vor allem auf diese Faktoren rekurriert, aber teilweise auch auf andere; die detaillierte Darstellung ihrer Wirksamkeit oder ihrer Gewichtung ist jedoch mangels einschlägiger Kenntnisse ausgeschlossen.
77
6.2. Ungarn Ungarn gehört zu den wenigen Ländern, in denen Deutsch meistgelernte Schulfremdsprache ist (557292 Deutschlernende gegenüber 519743 Englischlernenden im Jahre 1994, nach Zahlen des Auswärtigen Amtes) (vgl. auch Art. 160). Allerdings dominiert Deutsch nur an den „Grundschulen" (1.-8. Klasse), für die 1992/93 46% Deutschlerner gegenüber 31% Englischlernern ausgewiesen werden. Deutsch rangiert auch unter den angegebenen Fremdsprachenkenntnissen an erster Stelle; 1986 wurden in einer Befragung bei 7,8% der Bevölkerung Deutschkenntnisse, bei 3% Russischkenntnisse, bei 1,9% Englischkenntnisse und bei 0,8% Französischkenntnisse festgestellt (Bassola/Bradean-Ebinger 1987, 355). Dagegen sind es am Gymnasium im gleichen Erhebungszeitraum nur 33% Deutschlerner gegenüber 43% Englischlernern (Mitteilung Csaba Földes). (Die Zahlen für Russisch und Französisch liegen beide Male weit niedriger.) Auch an den Hochschulen wird mehr Englisch als Deutsch gelernt. Die Unterschiede zwischen den Schulformen reflektieren die verschiedenartige Funktion der Sprachen: Deutsch dient dem Kontakt zu den deutschsprachigen Ländern; Englisch fungiert hingegen als vorrangige internationale Wirtschafts- und Wissenschaftssprache, die auf dem Gymnasium und erst recht an den Hochschulen wichtiger ist. Entsprechende Unterschiede lassen sich auch für andere mittel- und osteuropäische Länder feststellen. Der bemerkenswerte Rang der deutschen Sprache in Ungarn ist einerseits bedingt durch die Nachbarschaft zu den deutschsprachigen Ländern und die dadurch möglichen intensiven Kontakte. Andererseits wirkt darin sicher die traditionelle Verbundenheit mit dem deutschsprachigen Raum aus der Zeit der k. u. k.-Monarchie nach. Dementsprechend wird das Deutschlernen außer durch Deutschland besonders kräftig durch Österreich gefördert, das in Budapest ein Kulturinstitut unterhält, das Deutschkurse anbietet, sowie ein Gymnasium mit Deutsch als Unterrichtssprache. Eine besondere Rolle für das Deutschlernen spielt außerdem die Minderheit „deutscher Nationalität", deren Zahl auf rund 220 000 geschätzt wird. Für diese Minderheit wird Deutsch neuerdings weder als Mutternoch als Fremdsprache angeboten, sondern als Nationalitätensprache (vgl. Földes 1992). Deutsch ist für die deutsche Nationalität in-
78
II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
sofern nicht mehr ohne weiteres Muttersprache, als beträchtliche Teile der Jugendlichen keine oder nur rudimentäre Kenntnisse haben - in Pécs (Fünfkirchen) fanden sich bei einem Fünftel der Jugendlichen keine, bei einem weiteren Viertel nur rudimentäre Deutschkenntnisse, und ein weiteres Drittel hatte „Verständnis- und Ausdrucksschwierigkeiten" (Nelde/Vandermeeren/Wölck 1991, 120). Deutsch ist für die Ungarndeutschen aber auch nicht Fremdsprache im gleichen Sinn wie für die übrigen Ungarn, denn sie finden daran so etwas wie ihre ethnische Identität, auch wenn sie die Sprache nicht mehr beherrschen. Sie sind daher anders, und in der Regel in höherem Maße, motiviert zum Deutschlernen. Diesem Umstand versucht das Lernen und Studium für Deutsch als Nationalitätensprache Rechnung zu tragen. Dafür wurden und werden auch besondere Lehrmethoden entwickelt, die einerseits die spezifischen Einstellungen der Lernenden zur deutschen Sprache und andererseits ihre noch vorhandenen Sprachkenntnisse berücksichtigen. Ein Beispiel für Letzteres ist die „dialektophone Methode" (Földes 1992, 91), mit der an den häuslichen Dialekt angeknüpft werden soll. 6.3. Türkei Die deutsche Sprache hat in türkischen Erziehungsinstitutionen eine lange Tradition, als deren Beginn meist das Gründungsjahr der Deutschen Schule in Istanbul, 1868, genannt und in deren Zusammenhang gewöhnlich auch das traditionsreiche österreichische St.Georgs-Gymnasium in Istanbul erwähnt wird. In den 30er Jahren dieses Jhs. wurde Deutsch auch wichtige Unterrichtssprache an türkischen Universitäten, da dort zahlreiche vor dem Nationalsozialismus geflohene deutsche Wissenschaftler lehrten, die des Türkischen nicht mächtig waren (Emmert 1987, 61 f.). Dessen ungeachtet spielte Deutsch in früheren Zeiten im Vergleich zu Französisch, und später im Vergleich zu Englisch, eine eher untergeordnete Rolle. Allerdings nähern sich die Lernerzahlen an den Schulen für Deutsch Anfang der 80er Jahre denen für Französisch an; für 1982/83 werden 340000 Deutschschüler, 350000 Französischschüler und 1,62 Mio. Englischschüler gezählt (Knöß 1986, 241). Im Verlauf der 80er Jahre verdrängte das Deutsche dann schließlich das Französische auf den dritten Platz und ist seitdem die zweithäufigst gelernte Fremdsprache in der Türkei (vgl. auch Art. 164).
Das wachsende Interesse an der deutschen Sprache ist teilweise wissenschaftlich-technologisch bedingt; für das sich noch entwickelnde Land Türkei dienen Deutschkenntnisse als wichtige Informationsquelle für den fortgeschrittenen Stand von Wissenschaft und Technologie, und für türkische Studierende bieten die Hochschulen in den deutschsprachigen Ländern attraktive Ausbildungsmöglichkeiten. Eine noch wichtigere Rolle für das zunehmende Deutschlernen spielen allerdings die wirtschaftlichen Kontakte zwischen der Türkei und den deutschsprachigen Ländern. Eine wesentliche Komponente dieser Kontakte ist die Arbeitsmigration. Sie entwickelt sich, grob gesprochen, in zwei Phasen: In den 70er Jahren wandern Millionen von türkischen Arbeitsmigranten in die deutschsprachigen Länder, und seit den 80er Jahren wandern beträchtliche Teile von dort wieder zurück in die Türkei. Andere Teile bleiben dauerhaft in den deutschsprachigen Ländern. Zunächst stimulierte die Aussicht auf Migration aus der Türkei in die deutschsprachigen Länder das Deutschlernen. Seit ungefähr der Mitte der 80er Jahre spielen dagegen die Remigranten eine immer wichtigere und heutzutage sogar die beherrschende Rolle im Deutschunterricht in der Türkei (vgl. ζ. B. Polat/Tapan 1996; TrefFers-Daller/ Daller 1995; Sieben 1994). Schon in der zweiten Hälfte der 80er Jahre entstehen Reintegrationsschulen für die Remigranten aus den deutschsprachigen Ländern, in denen Deutsch Unterrichtssprache ist, zumindest in einem Teil der Fächer (Emmert 1987, 67). Diese Reintegrationsschulen sind von den traditionellen Gymnasien mit Deutsch als Unterrichtssprache in einem Teil der Fächer zu unterscheiden, von denen es 1988 insgesamt 10 gab (die deutsche und die österreichische Schule in Istanbul, ein staatliches türkisches Gymnasium in Istanbul und sieben Privatschulen in verschiedenen Städten (Werner 1988, 141-143). Vor allem an den Hochschulen werden die Germanistik und der Unterricht in „Deutsch als Fremdsprache" teilweise vollständig von den Rückkehrern dominiert; man könnte geradezu von einem spezifischen Lehr-Lern-Typ „Deutsch als Rückkehrersprache" (DaR) sprechen - neben den zuvor schon erwähnten Typen Deutsch als Fremdsprache (DaF), Deutsch als Nationalitätensprache (DaN) und Deutsch als Zweitsprache (DaZ) (vgl. Abschnitt 1.). Eine spezifische Konzeption für diesen Typ wird zwar seit einigen Jahren an türkischen Università-
6. Entwicklungen des Deutschunterrichts in nicht deutschsprachigen Ländern
ten diskutiert, sie scheint aber noch nicht in ausgereifter Form vorzuliegen. Dessen ungeachtet ist es zugleich ungewiss, wie es mit dem Deutschstudieren weitergehen soll, wenn die Remigranten in Zukunft ausbleiben. - Anwendungsmöglichkeiten für Deutschkenntnisse gibt es außerhalb des Lehrbetriebs vor allem in der Tourismusbranche. 6.4. USA In den USA gibt es weit mehr Hochschulen mit Deutschabteilungen als in allen deutschsprachigen Ländern zusammengenommen. Für 1989 werden solche Abteilungen für 271 Hochschulen ausgewiesen, und zwar mit insgesamt 2350 Lehrkräften. Diese Zahlen sind beeindruckend, auch wenn es sich bei den Abteilungen meist nicht um eine vollausgestattete Germanistik handelt, sondern überwiegend um praktische Sprachlehre im Rahmen von Modern Language Studies oder u m
German Studies, in denen landeskundliche Studienbausteine im weitesten Sinn eine gewichtigere Rolle spielen als das Sprachlernen. Im Gegensatz zu diesen beeindruckenden Zahlen stehen die seit Jahren wiederholten Lageberichte, nach denen das Deutschlernen und -studieren mehr oder weniger kontinuierlich abnimmt (vgl. ζ. B. Lützeler 1990). Einen Stimmungsumschwung hat es nur in der Zeit nach der deutschen Vereinigung, also Anfang der 90er Jahre, gegeben, als das Deutschlernen einen unerwarteten Boom erlebte. Inzwischen ist die Stimmungslage unter den US-amerikanischen Germanisten und Lehrenden von Deutsch als Fremdsprache wieder mindestens so pessimistisch wie in den Jahren davor (vgl. auch Art. 143). Diese Stimmung ist nicht unbegründet, sie wird genährt durch tatsächlich sinkende Lernerzahlen. So ist die Zahl der Deutsch-Studierenden an den Hochschulen von 1990 bis 1995 um 28% gesunken, von 133 348 auf 96263. Auch an den Schulen, in denen ohnehin nur verhältnismäßig wenig Deutsch gelernt wird, zeigt sich eine abnehmende Tendenz. Als Ursachen für die ungünstige Entwicklung spielen verschiedene Faktoren zusammen, deren Gewichtung allerdings gesonderter empirischer Untersuchung bedürfte: (a) Die weiterhin zunehmende Dominanz des Englischen als Welt-Lingua franca, auf Grund derer vielen englischsprachigen Personen das Erlernen von Fremdsprachen ziemlich überflüssig erscheint. — Allerdings lässt sich damit nicht erklären, dass in den USA in den letzten Jahren die Lernerzahlen für an-
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dere Fremdsprachen teilweise beträchtlich gestiegen sind, vor allem für Japanisch, Chinesisch und Arabisch. (b) Die wachsende wirtschaftliche und politische Bedeutung außereuropäischer Sprachgemeinschaften. - In Bezug auf die genannten Sprachen braucht nur daran erinnert zu werden, dass Japan inzwischen ein fast doppelt so hohes Bruttosozialprodukt erreicht hat wie alle deutschsprachigen Länder zusammengenommen, dass für China prognostiziert ist, es werde in absehbarer Zeit die USA wirtschaftlich überholen und die gewichtigste ökonomische Macht der Welt sein, und dass die arabischen Länder spätestens seit der Ölkrise ebenfalls als bedeutsame Wirtschaftsmächte von sich reden gemacht haben. Die politische Bedeutsamkeit des Chinesischen und Arabischen zeigt sich unter anderem auch daran, dass beide Amtssprachen der Vereinten Nationen sind, das Deutsche dagegen nicht. (c) Die mangelnde wissenschaftliche und technologische Attraktivität des Deutschen für hochentwickelte Industrieländer. - Sie ist nicht nur bedingt durch den tatsächlichen wissenschaftlich-technologischen Rückstand der deutschsprachigen Länder gegenüber den USA, sondern auch durch den Umstand, dass die Wissenschaftler und Techniker der deutschsprachigen Länder über ihre wichtigsten Neuerungen mehr und mehr in englischer statt in deutscher Sprache publizieren. Dadurch verliert ein vormals wichtiges Motiv für das Erlernen der deutschen Sprache, nämlich Zugang zum fortgeschrittensten Wissenschaftsstand zu gewinnen, mehr und mehr an Boden. Als vorherrschende Motive bleiben wissenschaftshistorische sowie kultur- und geisteswissenschaftliche Interessen, denen die neuentwickelten German Studies, in denen Deutsch in Verbindung mit Geschichtswissenschaft, Soziologie und anderen kulturund geisteswissenschaftlichen Fächern studiert wird, Rechnung zu tragen suchen (vgl. Kleinfeld 1990). In der Entwicklung interdisziplinärer Forschungs- und Ausbildungsrichtungen hat die US-amerikanische Germanistik teilweise auch für die Germanistik anderer Länder befruchtende Problemstellungen gefunden (vgl. Lützeler 1990 und die Beiträge in Trommler 1989). Ein speziell auf die Einwanderer aus den deutschsprachigen Ländern zugeschnittener Deutschunterricht scheint in den USA bislang nicht konsequent
80
II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
entwickelt zu werden. Dies ist für Außenstehende erstaunlich angesichts der Tatsache, dass die Immigranten aus den deutschsprachigen Ländern die größte Herkunftssprachgruppe in den USA bilden und dass der Deutschunterricht lange Zeit in erster Linie Muttersprachunterricht für diese Immigranten war (vgl. Frank 1985). Wenn auch ein auf die deutschen Immigranten bezogener Deutschunterricht grundsätzlich anders auszusehen hätte als der Unterricht als „Nationalitätensprache" in Ungarn (vgl. Abschnitt 6.2.), da die Immigranten aus den deutschsprachigen Ländern in den USA keine gesonderte Nationalität bilden, so könnte es doch Parallelen geben. So ließe sich insbesondere anknüpfen an der teilweise noch vorhandenen Herkunftsidentität und damit verbundenen spezifischen Motivation für das Deutschlernen. Die Motive für das Deutschlernen bei amerikanischen Schülern oder Studierenden sind allem Anschein nach vielfältig und großenteils diffus, was unter anderem damit zusammenhängt, dass Deutschkenntnisse außerhalb der Lehrberufe selten als berufliche Qualifikation gefordert sind. 6.5. Japan In Japan ist Deutsch vermutlich noch immer die zweithäufigst gelernte Fremdsprache, wenngleich der Abstand gegenüber Englisch überwältigend und gegenüber den nachfolgenden Fremdsprachen geringfügig ist (vgl. auch Art. 168). Im Gegensatz zum Englischen wird es praktisch nur auf der Hochschule gelernt - abgesehen von der Wahlmöglichkeit an einigen wenigen Oberschulen. Bis 1991 war der Stand der Deutschstudien an den Hochschulen relativ gesichert, da bis dahin das Studium einer zweiten Fremdsprache (neben Englisch) obligatorisch war. Eine Hochschulreform im Jahr 1991 stellt es nun den einzelnen Hochschulen oder sogar den einzelnen Fachbereichen frei, auf die Forderung einer zweiten Fremdsprache zu verzichten. Einige Hochschulen haben von dieser Möglichkeit schon Gebrauch gemacht und weitere werden vermutlich folgen. Dies ist einer der Gründe, warum japanische Deutschlehrende ihr Fach ähnlich bedroht sehen, wie es oben für die USA geschildert wurde (vgl. die Beiträge in Ammon 1994). In der Tat treffen die Faktoren, die oben als Ursachen für das abnehmende Interesse am Deutschlernen in den USA genannt wurden, mutatis mutandis auch auf Japan zu: geringe Hoffnung auf wirklich interessante technolo-
gische oder wissenschaftliche Informationen in deutschsprachigen Texten, die zunehmende wirtschaftliche Wichtigkeit anderer Sprachräume und damit auch ihrer Sprachen, die wachsende Dominanz von Englisch als Welt-Lingua franca. Der zweitletzt genannte Umstand macht sich bemerkbar vor allem im zunehmenden Interesse am Chinesischen, das - im Gegensatz zu früheren Jahren - neuerdings bei Sprachkursen in Fernsehen und Radio mehr als doppelt so viele Interessenten findet wie Deutsch oder Französisch (Befunde für 1994 in Okamura 1995). Der oben zuletzt genannte Faktor wirkt auf Japan — obwohl es selbst ein nicht-englischsprachiges Land ist - offenbar so, dass das Erlernen anderer Fremdsprachen als des Englischen fast als überflüssig bewertet wird. Entsprechend sind die Motive japanischer Deutschlernender mindestens ebenso diffus wie diejenigen der US-amerikanischen Deutschlernenden (vgl. Honda 1994; Bauer 1989). Deutschunterricht und das Deutschlernen haben im heutigen Japan eine lange Tradition, die bis zum Ende des 19. Jhs. zurückreicht, weil sich die damalige japanische Regierung bei ihren Modernisierungsbestrebungen wesentlich am deutschen Kaiserreich als Modell orientierte. Dieses entsprach politisch eher den konservativen Bestrebungen des Tenno-Reiches (vgl. Naka 1994) und zugleich auch den technologischen und wissenschaftlichen Modernisierungsabsichten, denn die deutschsprachigen Länder konnten sich damals technologisch und wissenschaftlich durchaus mit den angelsächsischen messen (vgl. zur Kombination beider Motive Ammon 1992). Die Rolle des deutschen Kaiserreichs als staatspolitisches Modell hat sich ζ. B. dahingehend ausgewirkt, dass große Teile des deutschen Rechtswesens, vor allem des öffentlichen Rechts, übernommen wurden (Mori 1994). Die Vorbildfunktion der deutschen Wissenschaft schlug sich z. B. in den Einflüssen auf die japanische Medizin nieder, die so weit gingen, dass bis in die jüngste Vergangenheit sogar die Krankenkarteien der praktizierenden Ärzte in deutscher Sprache geführt wurden (Kakinuma 1994). In beiden Berichten gewinnen neuerdings, wie auch ansonsten, die USA und die englische Sprache zunehmend an Bedeutung, was zu Lasten der deutschsprachigen Länder und der deutschen Sprache geht. Für Japaner ist die deutsche Sprache heute in erster Linie von wirtschaftlichem Interesse; die große Tradition verliert trotz aller Beständigkeit
6. Entwicklungen des Deutschunterrichts in nicht deutschsprachigen Ländern
allmählich an Gewicht. Die Stellung von Deutsch als Fremdsprache in Japan dürfte daher maßgeblich von der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung der deutschsprachigen Länder abhängen. 6.6. China Die Einschätzung des Deutschlernens in diesem Land, das sich zumindest wirtschaftlich fulminant entwickelt, divergieren und erscheinen auf den ersten Blick sogar widersprüchlich (vgl. auch Art. 167). Der Vorsitzende des Chinesischen Germanistenverbandes, Zhu (DAAD 1989, 16), urteilte ζ. B.: „Wenn anderswo in der Welt von einem Zurückgehen der deutschen Sprache die Rede ist, ist in China sicher das Gegenteil der Fall." Demgegenüber wurde in einer detaillierten Analyse des Deutschlernens in China dieses als „Kunst des Drachentötens" charakterisiert, die zwar schwierig und aufwendig zu lernen, aber vielfach anschließend ohne praktischen Wert sei (Hess 1992). Bei genauerer Betrachtung besteht zwischen beiden Einschätzungen kein Widerspruch. Tatsächlich wurde das Deutschlernen, insbesondere in der Form des studienbegleitenden praktischen Sprachunterrichts, in den 80er Jahren in China beträchtlich ausgeweitet. Dies geschah durch zentrale staatliche Bildungsplanung, die offenbar motiviert war durch das Interesse der chinesischen Regierung an intensiveren Kontakten zu den deutschsprachigen Ländern. Als Folge dieser Planung wurden Studierende vielfach dazu gezwungen, Deutsch zu wählen, insbesondere dann, wenn sie die Eingangsprüfungen zum begehrten Englischstudium nicht bestanden. Am Ende des Deutschstudiums hat sich dann häufig gezeigt, dass Deutschkenntnisse als Qualifikation für attraktive Berufe wenig Wert hatten. Nur zusätzlich zu Englischkenntnissen waren sie wirklich gefragt. In China war und ist es indes üblich, Deutsch als einzige Fremdsprache zu lernen — anders als beispielsweise in Japan, wo die Studienabsolventen immer auch über Englischkenntnisse verfügen. Dies war kein Problem, solange auch der Zugang zur Berufswelt planwirtschaftlich geregelt war. Mit der Einführung der Marktwirtschaft in diesem Bereich in den 80er Jahren gerieten dann jedoch die Deutschlerner, die keine weitere Fremdsprache beherrschten, vielfach in Schwierigkeiten. Nach einer Erhebung des Goethe-Instituts finden Absolventen von Deutschstudien am ehesten Arbeit als Übersetzer oder Dolmet-
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scher (26%), im Tourismus (22%), im Außenhandel (19%) und in Auslandsämtern (9%) (Kahn-Ackermann 1991, 35) sowie natürlich im Lehrbetrieb, hauptsächlich an den Hochschulen. Studienbegleitend wird Deutsch häufig von Studierenden technischer Fächer gelernt, vor allem an technischen Hochschulen (vgl. Fluck 1985). Der Nutzen scheint auf der Hand zu liegen: Techniker aus China können von der Technologie in den deutschsprachigen Ländern noch manches lernen; außerdem eröffnet sich für sie die Chance, an der Hochschule eines deutschsprachigen Landes zu studieren, wenn auch die Aussichten gering sind. Allerdings erfahren viele dieser Studierenden bald den Mangel an deutschsprachiger Fachliteratur - vor allem im Vergleich zum Englischen - auf Grund der schon erwähnten Neigung deutschsprachiger Fachleute, in fast jeder wissenschaftlichen Disziplin selbst mehr und mehr auf Englisch zu publizieren. Inwieweit unter diesen Umständen die studienbegleitenden Deutschstudien der verschiedenen Fachrichtungen weiterentwickelt werden können, bleibt abzuwarten. Auch im Falle Chinas könnte sich auf längere Sicht das Interesse an der deutschen Sprache weitgehend auf die Möglichkeit wirtschaftlicher Kontakte reduzieren. Im Vergleich zu Japan hat das Deutschlernen in China eine weit begrenztere Tradition, vor allem im Verhältnis zur Größe des Landes. Einzelne Traditionsstränge reichen allerdings zurück bis in die Wilhelminische Zeit: 1898 pachtete das Deutsche Reich das Gebiet Kiautschou mit der Hauptstadt Tsingtau auf 99 Jahre. Allerdings musste es bereits 1914 an Japan abgetreten werden. Ein weiteres Beispiel ist die 1907 in Shanghai gegründete Tongji Medizinische Schule, der 1912 eine technische Abteilung hinzugefügt und die 1927 zur Universität wurde. Ihre Tradition wird heute fortgesetzt an der Medizinischen Hochschule Wuhan, deren Studierende immer noch Deutsch lernen und in deren Umfeld auch eine Schule mit Deutsch als Fremdsprache fortbesteht (vgl. He 1994; auch Hernig 1995). 7.
Literatur in Auswahl
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Stellung
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(Deutschland)
7. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in Deutschland 1. Anfänge 2. Neubeginn und Tendenzen nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland 3. Deutsch als Fremdsprache an den Universitäten der Bundesrepublik Deutschland 4. Organisationen und Adressatengruppen 5. Zeitschriften und Informationsorgane 6. Entwicklung des Faches Deutsch als Fremdsprache in der DDR 7. Deutsch als Fremdsprache nach der deutschen Einigung
8. Theoretische Klärungsprozesse 9. Kulturbegriff 10. Literatur in Auswahl 1.
Anfange
Deutsch als Fremdsprache ist ein Kind der Praxis. Seit Jahrzehnten wurde im Ausland wie im Inland Deutsch an Nichtmuttersprachler unterrichtet: Der Aufschwung der deutschen Auslandsschulen im 18. und 19. Jh., das Deutsche Institut für Ausländer
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
an der Berliner Universität (vgl. 6.1.) sowie die Gründung der Deutschen Akademie Vorläufer des Goethe-Instituts - markierten wichtige Punkte in der Pflege des Deutschunterrichts. Freilich wurde diese Arbeit in der Vergangenheit häufig durch nationalistische und völkische Theorie und Töne beeinflusst und während der Nazizeit vollständig dominiert. Es dauerte Jahre, bis dieses unselige Erbe nach 1945 überwunden werden konnte.
2.
Neubeginn und Tendenzen nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland
1951 wurde die erste Unterrichtsstätte des Goethe-Instituts e. V. in Bad Reichenhall eröffnet; ihr folgten in den nächsten Jahren zahlreiche andere im Bundesgebiet. 1952 wurde das Goethe-Institut offiziell in München gegründet. Die Zahl ausländischer Kursteilnehmer und -teilnehmerinnen wuchs beständig und erreichte ihren Höhepunkt nach der deutschen Einigung im Jahre 1991 mit insgesamt über 25 000 Studierenden. Die Kurse gliedern sich in Grund-, Mittel- und Oberstufe; Methodenpluralismus kennzeichnet die Curricula und Sprachkurse: Die Lehrwerke der ersten Generation (50er/60er Jahre) waren der grammatikalisierenden Übersetzungsmethode verpflichtet und vermittelten die traditionelle Schulgrammatik (als Beispiel sei die „Deutsche Sprachlehre für Ausländer" von Schulz/Griesbach genannt); in der zweiten Generation (70er Jahre) dominierten die direkten Methoden bei Betonung der gesprochenen Sprache (beispielhaft steht hierfür „Deutsch als Fremdsprache" von Braun/Nieder/Schmöe). Nach der „pragmatischen Wende" des Fremdsprachenunterrichts entstanden Lehrwerke der dritten Generation (80er Jahre), die sprachliches Handeln als Teil sozialen Handelns vermitteln sollten und kommunikative Kompetenz statt formaler Sprachbeherrschung anstrebten. Im Mittelpunkt standen häufig die Sprechakte und deren sprachliche Ausgestaltung im Deutschen. Als Beispiel sei das Lehrwerk „Deutsch aktiv" von Neuner u. a. genannt. Ein Perspektivenwechsel trat in den achtziger Jahren mit der Entwicklung einer fremdkulturellen Hermeneutik (vgl. Art. 124) ein; der bislang ausschließlich vertretenen Eigenperspektive wurde die Fremdperspek-
tive - die Sicht von außen - hinzugefügt, um mit Hilfe dieser kulturvergleichenden Methode zum interkulturellen Dialog beizutragen. Ein typisches Lehrwerk dieser vierten Generation ist „Sprachbrücke" von Mebus u. a. Zugleich entstanden zahlreiche regionale Lehrwerke mit dem Ziel, den Lernbedingungen und Sprachproblemen in unterschiedlichen Regionen auf dem Globus besser zu entsprechen. Die neunziger Jahre sind geprägt von unterschiedlichen didaktischen Modellen, die aber insgesamt durch einen verstärkten kognitiven Ansatz geprägt sind. Paradigmatisch dafür stehen die Lehrwerke „Stufen" von Vorderwülbecke und „Wege" von Neuf-Münkel/Eggers. Zugleich ist das Bemühen deutlich, Erkenntnisse der Zweitspracherwerbsforschung und Lernpsychologie im fremdsprachigen Deutschunterricht umzusetzen (vgl. Götze 1995a). Neben allgemeinsprachliche Kurse trat in den 80er Jahren zunehmend der fachsprachliche Unterricht, um die Lernenden auf ihre künftigen Studien der Naturwissenschaften, Kultur- und Ingenieurwissenschaften an deutschen Hochschulen vorzubereiten. In den späten 80er Jahren ging die Zahl der Deutschlernenden an den Goethe-Instituten im Ausland zurück; Ursachen waren der mit Ausnahme der Länder Mittel-, Ost- und Südosteuropas sowie einzelner Länder Asiens — weltweite Rückgang der deutschen Sprache, die hohen Gebühren der Sprachkurse, ausländerfeindliche Aktionen in Deutschland sowie die sinkende Bedeutung Deutschlands als Studienort für ausländische Bewerber. Eine gezielte berufspraktische Ausbildung der Lehrenden begann am Goethe-Institut erst relativ spät. 1962 wurde die „Arbeitsstelle für wissenschaftliche Didaktik" (AWD) in der Münchner Zentralverwaltung eingerichtet, die dringend benötigte Grundlagen für Lehrmaterialien (Grammatiken, Fachwortschatzlexika, Phonetik, Didaktisierung linguistischer Forschungsergebnisse) erarbeitete. 1971 folgte die „Zentrale Ausbildungsunterrichtsstätte" zur Ausbildung zukünftiger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie zur Fortbildung bereits angestellter Dozenten des Goethe-Instituts. Damit war eine kontinuierliche professionelle Aus- und Fortbildung gesichert. Leider verfügte das Goethe-Institut 1991 einen Einstellungsstopp und schloss zugleich die Ausbildungsunterrichtsstätte.
7. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in Deutschland
3.
Deutsch als Fremdsprache an den Universitäten der Bundesrepublik Deutschland
Die Einrichtung eines germanistischen Studiengangs ausschließlich für ausländische Studierende an der Heidelberger Universität (1970), der bis heute besteht, markiert den Startpunkt der akademischen Auseinandersetzung mit dem Deutschen als Fremdsprache in der Bundesrepublik. Ihm folgten seit 1974 Fortbildungskurse für ausländische Deutschlehrer und Germanisten, die gemeinsam von den Hochschulen, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst sowie dem Goethe-Institut angeboten wurden. Die Anwerbung ausländischer Arbeiter und ihrer Familienangehörigen in den fünfziger und sechziger Jahren veränderte das Fach von Grund auf. Türken, Italiener, Griechen, Spanier, Portugiesen und andere ausländische Arbeiter lernten Deutsch, um in der Bundesrepublik Deutschland leben und überleben zu können. Im Gegensatz zum fremdsprachlichen Deutschunterricht traditioneller Prägung waren Kurse gefragt, die Anleitungen zum sprachlichen Handeln boten: Sprachdidaktik, Sprachpsychologie und Sprachsoziologie waren fortan, neben der Linguistik, die bestimmenden Bezugswissenschaften. Innerhalb weniger Jahre, beginnend 1978 an der Ludwig Maximilians-Universität München, wurden zahlreiche Lehrstühle und Professuren für Deutsch als Fremdsprache an bundesdeutschen Universitäten eingerichtet; in Lehre und Forschung ging es vor allem um die Themen Sprachvergleich L1—L2 und didaktische Konsequenzen, Lehrwerkanalyse und Lehrwerkbeurteilung, Zweisprachigkeit unter den Bedingungen der Migration, Lernen und/oder Erwerben der Zweitsprache Deutsch, Landeskunde und Literatur im fremdsprachlichen Deutschunterricht. Eine Vielzahl von Aufbau-, Zusatz- und Ergänzungsstudiengängen sowie Magister- und Promotionsstudien entstand in Augsburg, Bayreuth, Bielefeld, Bochum, Hamburg, Kassel, Nürnberg, Saarbrücken u. a.; in der Folge teilte sich das Fach auch an den Hochschulen der alten Bundesrepublik in zwei Bereiche: Deutsch als Fremdsprache als das unterrichtlich gesteuerte Lehren und Lernen der deutschen Sprache jenseits des deutschen Sprachraums sowie Deutsch als Zweitsprache als das Nebeneinander von unterrichtlich gesteuertem Lehren und Lernen sowie (außerunterrichtlich) ungesteuertem Erwerben des Deutschen innerhalb
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der Sprachgrenzen. Die Bezeichnungen einschlägiger Studiengänge variierten: Deutsch als Fremdsprache, Deutsch als Zweitsprache, Auländer-/Migrationspädagogik, Interkulturelle Germanistik und Interkulturelle Kommunikation. Angesiedelt wurden und werden die Studien in unterschiedlichen fachlichen Kontexten, wodurch sich zugleich Schwerpunktbildungen ergaben: In der Sprachlehrforschung oder Fremdsprachendidaktik, der germanistischen oder allgemeinen Sprachwissenschaft, der Literaturwissenschaft oder auch der Erziehungswissenschaft (vgl. Henrici/Koreik 1994; Krumm 1994). Vor allem zwei Kontroversen prägten die theoretische Diskussion der achtziger Jahre und führten zu einer Klärung von Standpunkten: zum einen die Bedeutung des muttersprachlichen Unterrichts (Türkisch, Griechisch, Italienisch, usw.) im Rahmen des Unterrichts für Kinder der ethnischen Minderheiten, zum zweiten die Auseinandersetzung um die Rolle der Interkulturellen Germanistik. Eine Reihe von Vereinen der ethnischen Minderheiten zusammen mit deutschen Sprachwissenschaftlern und Didaktikern hatte 1983 das Memorandum zum muttersprachlichen Deutschunterricht vorgelegt und darin die an der Schwellenniveauhypothese (Cummins 1978) orientierte Auffassung vertreten, das ausländische Kind müsse zuerst in seiner Erstsprache (Muttersprache) lesen und schreiben lernen und eine gewisse Sicherheit erreichen, ehe es in der Zweitsprache Deutsch alphabetisiert werden könne. Werde diese Reihenfolge umgekehrt, drohe doppelte Halbsprachigkeit und Verlust der Identität (vgl. Memorandum zum muttersprachlichen Unterricht in der Bundesrepublik Deutschland). Die Gegner dieses Ansatzes argumentieren, der gemeinsame Deutschunterricht mit deutschen Kindern und die Erstalphabetisierung in der Zweitsprache Deutsch seien vorrangig, um der Ghettoisierung vorzubeugen und die Kinder ethnischer Minderheiten in die multikulturelle Gesellschaft zu integrieren (vgl. Götze 1995b). Als Ergebnis der Kontroverse war eine Annäherung der Standpunkte zu erkennen: Pflege der Erstsprache und gemeinsames interkulturelles Lernen schließen sich nicht aus, sondern können einander befruchten. Ziel eines solchen Unterrichts Deutsch als Zweitsprache ist somit, dass die deutschsprachige Mehrheit und ethnische Minderheiten gemeinsam und voneinander lernen, um Vorurteile und rassistische Ansätze zu überwinden.
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
Die Interkulturelle Germanistik (vgl. Wierlacher 1987) verstand Deutsch als Fremdsprache im Sinne einer hermeneutischen Literaturwissenschaft aus der Fremdperspektive - also von außen - , um fremde und eigene Sicht von Rezeptionsprozessen zusammenzubringen und besseres gegenseitiges Verstehen zu ermöglichen. Teilweise vehemente Kritik war die Antwort (vgl. Zimmermann 1980). 1983 schuf die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) ein Schwerpunktprogramm „Sprachlehrforschung" und damit zum ersten Mal die Möglichkeit, intensiv Probleme des Lehrens und Lernens von Fremdsprachen zu erforschen. Sechs der zwanzig geförderten Projekte waren dem Fach Deutsch als Fremdsprache verpflichtet (vgl. Koordinierungsgremium 1977). Die aktuelle Diskussion ist vor allem geprägt durch das Bemühen um ein Profil der Disziplin Deutsch als Fremdsprache, wobei einerseits ihr fremdsprachenwissenschaftlicher Standpunkt (Henrici 1996), zum anderen die Besonderheit als eigenständiger Teilbereich der Germanistik (Götze/Suchsland 1996) betont wird (vgl. 8.). Daneben werden Α-Linie (auslandsorientierte Richtung) und M-Linie (migrationsbezogene Ausrichtung) unterschieden (Glück 1991); Henrici (1996) nennt vier Schwerpunktsetzungen, die in unterschiedlichen Studiengängen an deutschen Hochschulen ihren jeweiligen Ausdruck fänden: — eine linguistische Ausrichtung — eine sprachlehr-/lernwissenschaftliche (didaktisch/methodische) Ausrichtung — eine landeskundliche/kulturwissenschaftliche Ausrichtung — eine literaturwissenschaftliche Ausrichtung. 4.
Organisationen und Adressatengruppen
Die wichtigsten Organisationen des Deutschen als Fremdsprache in Deutschland sind: — Goethe-Institut zur Pflege der deutschen Sprache im Ausland und zur Förderung der internationalen kulturellen Zusammenarbeit e. V. — Deutscher Akademischer Austauschdienst (DAAD) — Zentralstelle für das Auslandsschulwesen (ZfA)
- Studienkollegs und Lehrgebiete der Hochschulen — Carl Dulsberg Centren, Otto-Benecke-Stiftung sowie zahlreiche öffentliche (Deutscher Volkshochschulverband), kirchliche (Diakonisches Werk, Caritas) und private (Berlitz u. a.) Sprachinstitute. Die Haupttätigkeit der Kultur- und Spracharbeit des Münchner Goethe-Instituts liegt im Ausland; in Deutschland dominiert die Spracharbeit: Ende 1996 wurden an 18 Instituten insgesamt etwa 23000 ausländische Studierende unterrichtet. Zusammen mit der Ludwig Maximilians-Universität München sowie dem Deutschen Volkshochschulverband entwickelte das Goethe-Institut zudem zahlreiche Prüfungen (vgl. Art. 84) sowie Lehrmaterialien (vgl. Art. 105). In Sommerund Sonderkursen werden ausländische Deutschlehrer fortgebildet. Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) in Bonn entsendet regelmäßig Dozentinnen und Dozenten für deutsche Sprache und Literatur weltweit an Hochschulen sowie führt Fortbildungen für ausländische Lehrerinnen und Lehrer und Universitätsdozenten durch. Weiterhin lädt er ausländische Gastwissenschaftler zu Studienaufenthalten ein. Die Zentrale für das Auslandsschulwesen (ZfA) in Köln entsendet Lehrerinnen und Lehrer an deutsche Auslandsschulen, an denen sie Deutsch sowie Fachunterricht erteilen. Für Lehrende, die noch keine feste Stelle an einer deutschen Schule haben, tut dies der Pädagogische Austauschdienst (PAD). Die Studienkollegs und Lehrgebiete der Hochschulen bereiten ausländische Studienbewerber und -bewerberinnen sprachlich auf das künftige Studium vor. Darüber hinaus werden Sprachkurse auf unterschiedlichem Niveau und mit verschiedenartigen Lehr- und Lernzielen an öffentlichen, kirchlichen und privaten Institutionen angeboten. Auf Grund der drastischen Kürzung öffentlicher Subventionen in jüngster Zeit ist die Zahl der Kursteilnehmer wie der Kurse zurückgegangen. 1971 konstituierte sich der Arbeitskreis Deutsch als Fremdsprache (AKDaF) der Studienkollegs und Lehrgebiete, zwei Jahre später wurde er dem Deutschen Akademischen Austauschdienst integriert. Seit Mai 1990 heißt die Organisation Fachverband Deutsch als Fremdsprache (FaDaF); sie ist Mitglied im Internationalen Deutschlehrerverband
7. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in Deutschland
(IDV). Seit 1974 werden regelmäßig die Informationen Deutsch als Fremdsprache (InfoDaF) herausgegeben, weiterhin die Materialien Deutsch als Fremdsprache seit 1975 zu methodischen und didaktischen Problemen sowie, seit wenigen Jahren, der Informationsdienst FaDaF aktuell. Jährlich werden Fachtagungen zu unterschiedlichen Themen wie Spracherwerb, Prüfungen, Sprachpolitik usw. veranstaltet. Daneben existiert die Fachgruppe Deutsch als Fremdsprache im Fachverband Moderne Fremdsprachen (FMF), die eigene Sektionssitzungen zu theoretischen und praktischen Fragestellungen im Rahmen der FMF-Kongresse abhält.
5.
Zeitschriften und Informationsorgane
Neben den bereits erwähnten Publikationen, die Fachinterne wie Fachexterne ansprechen, existiert eine Reihe von Fachzeitschriften. Der Hueber-Verlag gibt die Zielsprache Deutsch — Zeitschrift für Unterrichtsmethodik und angewandte Sprachwissenschaft heraus; der Sprachverband für ausländische Arbeitnehmer e. V. publiziert die Zeitschrift Deutsch lernen, die Klett Edition Deutsch Fremdsprache Deutsch. Für die deutschen Auslandsschulen gibt es Der deutsche Lehrer im Ausland. Wesentlich für die Diskussion in der Disziplin ist das seit 1975 erscheinende Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache. Daneben erscheinen Beiträge zum Deutschen als Fremdsprache in einschlägigen germanistischen und fachdidaktischen Zeitschriften.
6.
Entwicklung des Faches Deutsch als Fremdsprache in der DDR
6.1. Zur Institutionalisierung des Faches In Ostdeutschland lassen sich die Anfänge des Faches Deutsch als Fremdsprache bis ins vorige Jh. zurückverfolgen, denn bereits im 19. Jh., verstärkt jedoch zu Beginn des 20. Jh.s, übernahmen private Stiftungen die Ausbildung und Betreuung ausländischer Studierender, die im Laufe der Zeit durch ein differenziertes System Studien- und berufsqualifizierender Deutsch als FremdspracheKurse an verschiedenen deutschen Hochschulen ergänzt und erweitert wurden. So blieb beispielsweise am Deutschen Institut für Ausländer, dem DIA der Berliner Universität, der Sprachunterricht nicht nur auf studien-
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und sprachvorbereitende Aufgaben beschränkt, sondern das Fach Deutsch als Fremdsprache existierte bereits als Ausbildungsfach, das mit einem Diplom abgeschlossen werden konnte (vgl. Günther 1987, 813). Etwa 300 ausländische Studierende erhielten am DIA zwischen 1923 und 1933 einen in ihren Heimatländern anerkannten Berufsabschluss für das Lehramt Deutsch als Fremdsprache. Zum Studienprogramm gehörten die Fächer: Sprachpraxis, Linguistik, Literaturwissenschaft, Landeskunde und Methodik sowie Hospitationen und praktische Lehrproben an Berliner Schulen. Diese sprachpraktischen Erfahrungen und fachtheoretischen Grundlagen hätten den Neubeginn nach 1949 in der DDR durchaus erleichtern können, wenn nicht das Erbe der Weimarer Republik aus politischen Gründen verweigert worden wäre, was u. a. dazu führte, dass der Beginn des fremdsprachigen Deutschunterrichts in der DDR nach Leipzig verlagert wurde. Seit 1951 studierten dort die ersten elf Ausländer in der Abteilung Ausländerstudium der Karl-Marx-Universität, aus der 1956 wegen der immer größer werdenden Zahl ausländischer Deutschlernender ein Institut wurde, das 1961 den Namen Herder-Institut — Vorstudienanstalt für ausländische Studierende in der DDR und Stätte zur Förderung deutscher Sprachkenntnisse im Auland (HI) erhielt. Aus der Vorstudienanstalt, die im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens vornehmlich studienvorbereitende Ziele verfolgte, entwickelte sich allmählich ein Lehrund Forschungszentrum, das sowohl für das In- und auch das Ausland eine für DDR-Verhältnisse einmalige Entwicklungsperspektive geboten bekam (vgl. Porz 1972, 15 ff.). Fachhistorisch betrachtet nahm Deutsch als Fremdsprache in der DDR zunächst die Konturen einer sprachpraktischen Lehrdisziplin ein, die sich eng an den gesellschaftlichen Vorgaben, den Bildungs- und Erziehungszielen, -inhalten und -methoden des allgemeinen Fremdsprachenunterrichts für die Hochschulstufe orientierte, auf Erfahrungen aus dem Muttersprachenunterricht der sowjetischen Fremdsprachenmethodik zurückgriff und institutionell weitgehend auf das HerderInstitut konzentriert war. Mit der Herausgabe eines Fachorganes 1964, der Zeitschrift Deutsch als Fremdsprache, der Gründung einer Forschungsabteilung 1967 und der Einrichtung des ersten Deutsch als Fremdsprache-Lehrstuhls im deutschsprachigen Raum 1969 (für Gerhard Heibig) wurden relativ
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
frühzeitig institutionelle und personelle Entwicklungsbedingungen geschaffen, die sowohl eine theoriegeleitete und -begleitende Sprachausbildung möglich machten als auch eine eigenständige fachwissenschaftliche Profilierung in den Teildisziplinen Methodik, Linguistik, Phonetik und Landeskunde anstrebten. Die Erweiterung des fachlichen Aufgabenspektrums in den 70er und 80er Jahren führte zu Aktivitäten in Lehre und Forschung in allen ostdeutschen Hochschulen (teilweise auch Fachschulen), die Germanisten und/ oder Deutschlehrer ausbildeten bzw. für den Deutsch als Fremdsprache-Unterricht bei ausländischen Studierenden verantwortlich waren. Dazu gehörte: - der (schon traditionelle) studienvorbereitende/-begleitende Deutschunterricht, - das germanistische Ausländerstudium im Voll- und Teilzeitrhythmus, - die verschiedenen Varianten kursorischer Fortbildung ausländischer Germanisten, Dolmetscher, Lehrer im In- und Ausland. Dem Herder-Institut Leipzig mit seinen nahezu 300 Mitarbeitern oblagen noch spezielle Aufgaben, wie beispielsweise die Lehrmaterialentwicklung, die Aus- bzw. Weiterbildung deutscher Deutsch als Fremdsprache-Lehrkräfte, die Zusammenarbeit mit internationalen Deutschlehrerverbänden und die Lehrprogrammerarbeitung, sofern nicht zentrale Gremien dafür zuständig waren. Die Erweiterung der Deutsch als Fremdsprache-Profile in Lehre und Forschung, die eine Antwort auf den wachsenden und differenzierten Bedarf an Deutsch als Fremdsprache im In- und Ausland waren, führten 1978 zur Gründung des Instituts für Weiterbildung ausländischer Deutschlehrer an der Pädagogischen Hochschule Potsdam und 1983 des Instituts für Deutsche Fachsprache an der Technischen Universität Dresden. Zeitgleich erfolgte der Auf- und Ausbau von weiteren Deutsch als Fremdsprache-Lehrstühlen/Lehrbereichen an einigen Hochschulen, u. a. an der Humboldt-Universität Berlin, der Friedrich Schiller-Universität Jena, der Technischen Universität Karl-Marx-Stadt, der Pädagogischen Hochschule Dresden. Nach der deutschen Einigung erfolgte an den ostdeutschen Universitäten, Hoch- und Fachschulen ab 1990 eine schrittweise Neustrukturierung des Faches Deutsch als Fremdsprache sowohl in der Lehre und Forschung als auch in der materiellen und personellen Ausstattung ana-
log zur Institutionalisierung des Faches in den westlichen Bundesländern (vgl. Blei 1994, 287 ff.). 6.2. Entwicklungen im Bereich der Lehre Ein wesentlicher Bestandteil des Ausländerstudiums in der DDR war die Sprachvorbereitung, sprachliche Studienbegleitung und Betreuung ausländischer Bürger (vgl. Kaiser 1987, 20ff.). Dabei ging es zum einen um eine solidarische Unterstützung der Partner im Osten und einiger neugegründeter Nationalstaaten bei der Heranbildung ihrer nationalen Intelligenz und zum anderen um die Gewährleistung einer effizienten sprachpraktischen Ausbildung. Ziel des studienvorbereitenden Deutschunterrichts war, die ausländischen Bewerber zu befähigen, erfolgreich ein Studium an einer Hoch- oder Fachschule aufnehmen zu können, was sowohl eine allgemeinsprachliche als auch eine fachlich-fachsprachliche Vorbereitung in einem Gesamtumfang von etwa 1000 Stunden bei einer Spezialisierung in fünf Vorbereitungsrichtungen einschloss (vgl. Studienplan 1984, 5 ff.). Für diesen Deutschunterricht wurden im Laufe der Jahre lerner- und handlungsbezogene Lehr- und Prüfungsmaterialien erarbeitet sowie Curricula erstellt, die als Integrationskonzept für einen allgemeinsprachlichen, fachlichen und fachsprachlichen Unterricht fungierten. In den 80er Jahren bewährte sich zunehmend die Differenzierung in eine Grund- und Oberstufenausbildung, die den Sprachkundigenabschluss IIa vorsah und gleichzeitig die Zulassung zum Studium bedeutete (vgl. Lehrprogramme 1981, 5ff.). Danach setzte der studienbegleitende Deutschunterricht ein. Er unterstützte die Studierenden bei der sprachkommunikativen Bewältigung ihrer Studienanforderungen (vgl. Lehrprogramm 1985, 5ff.). An über 30 Hoch- und Fachschulen erteilten hauptamtliche Lehrkräfte diesen obligatorischen Unterricht in einem Umfang von 180-240 Stunden über vier Semester. Für etwa 2000 Studierende pro Jahr endete diese Ausbildung mit einem Hochschulzertifikat (vergleichbar mit der Oberstufenprüfung des Goethe-Instituts). Übergreifendes Bildungskonzept war eine institutionalisierte und sprachpraktisch akzentuierte Ausbildung, die dem Sprachlernenden Erfolgsgarantien bei der Ausübung verschiedenster Tätigkeiten innerhalb typischer Studien· und späteren Berufsanforderungen bot. In den 60er Jahren begann an der KarlMarx-Universität Leipzig der allmähliche
7. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in Deutschland
Ausbau eines Germanistikstudiums für ausländische Studienbewerber. Mitte der 80er Jahre waren es bereits 140 Studierende pro Jahr, die sich an den Universitäten Berlin, Greifswald, Jena, Leipzig oder Rostock im Fach Germanistik immatrikulieren ließen. Hinzu kamen ca. 550 zukünftige Deutschlehrer und Germanisten, die ein Teilstudium absolvierten, sowie ca. 250 Studierende, die im Rahmen einer Aspirantur, eines Zusatzstudiums bzw. auf kommerzieller Basis eine germanistische Ausbildung in der DDR erhielten. Das Vollzeitstudium dauerte 5 Jahre. Es gliederte sich in 3 Phasen: - zwei Jahre Grundstudium mit einem relativ hohen Anteil an Sprachunterricht (ca. 1000 Stunden); dazu kamen germanistische und allgemeinbildende Fächer sowie Praktika und Exkursionen; - zwei Jahre Hauptstudium mit fachwissenschaftlicher Spezialisierung in den Richtungen Sprach-, Literaturwissenschaft, Dolmetschen/Übersetzen, Methodik Deutsch als Fremdsprache; - ein Jahr Diplomarbeits- und Prüfungsphase. Die Ausbildungscurricula des Studienganges Auslandsgermanistik lassen das Bemühen erkennen, berufsrelevante Theorie-Praxis-Beziehungen zum strukturbildenden Prinzip zu erheben, um sowohl fachgegenstandsadäquat als auch praxisorientiert auszubilden zu können (vgl. Studienplan 1974/1982, 5 ff.). Das Teilstudium umfasste zumeist ein Semester und war Bestandteil des Studienplanes Germanistik der Herkunftsländer in Anpassung an die DDR-Verhältnisse. In der Regel absolvierten die ausländischen Studierenden, die in der Mehrzahl aus den Nachbarländern kamen, ein Semester im 3. Studienjahr an einer DDR-Hochschule. Sie studierten gemeinsam mit den deutschen Lehramtsbzw. Germanistikstudenten zuzüglich ergänzender Lehrveranstaltungen zur DDR-Landeskunde, Sprachpraxis sowie einer aktiven Teilnahme am kulturellen Rahmenprogramm. Die Unterschiede zur Ausbildung der DDR-Germanisten in beiden Ausbildungsformen lagen im Wesentlichen darin, dass die inhaltlichen Schwerpunkte differenziert und einige Lehrgebiete im Studienablauf anders platziert waren. Für alle galt jedoch das gleiche Studienziel: eine intensive sprachpraktische Ausbildung mit der Aneignung solider, Studien- und berufsrelevanter wissenschaftlicher Kenntnisse zu verbinden.
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Eine Hauptform beruflicher Fortbildung von ausländischen Deutschlehrern, Germanisten und Studierenden der Germanistik waren die Internationalen Hochschulferienkurse (IHFK). Die ersten fanden 1959 statt. Sie wurden nach und nach an allen Deutsch als Fremdsprache-profiladäquaten Hoch- und Fachschulen angeboten. Nach Spezialisierungsrichtungen und Umfang differenziert, gliederten sie sich in sprach- und literaturwissenschaftliche, fachsprachliche, fremdsprachenmethodische sowie landeskundliche Kurse von kurz-, mittel- bzw. längerfristiger Dauer (2 Wochen bis 5 Monate). Im Zentrum der Fortbildung standen solche globalen Ziele wie die Konkretisierung des Landeskundebildes der DDR, die Vermittlung fachwissenschaftlicher Anregungen für die Unterrichtspraxis Deutsch als Fremdsprache und vor allem die allseitige Förderung des fremdsprachlichen Könnens, die die Aktualisierung und Erweiterung kommunikativ-relevanten Wissens ebenso einschloss wie deren situativangemessene Verwendung. Insgesamt nahmen von 1959 bis 1989 mindestens 45000 Deutschlehrer, Germanisten und Studierende der Germanistik an Sprachkursen in der DDR teil. In den 80er Jahren gab es zudem verschiedene Sonderkurse, ζ. B. landeskundliche Kurzkurse, die zwischen den nationalen Sprachlehrerverbänden oder über die Liga der Völkerfreundschaft mit ausländischen Freundschaftsgesellschaften vereinbart wurden. Die Sektion Deutsch als Fremdsprache beim Komitee für den Sprachunterricht in der DDR verstand sich als Vermittlungs- und Koordinierungsinstanz zwischen der staatlichen Administration im Lande und den nationalen Deutschlehrer- bzw. Germanisten- und Fremdsprachenlehrerverbänden im Ausland. Sie wirkte u. a. bei der Vorbereitung und Durchführung der Internationalen Deutschlehrertagungen mit (1969 in Leipzig, 1977 in Dresden), organisierte sechs Internationale Lehrbuchautorensymposien und vermittelte Experten für internationale Kongresse, Konferenzen bzw. an ausländische Bildungseinrichtungen, wo vor Ort bei der Erforschung, Pflege und Verbreitung der deutschen Sprache und Kultur Unterstützung gewünscht wurde. Diese leisteten in einem beträchtlichen Umfang auch die elf Deutschlektorate an den auswärtigen Kultur- und Informationszentren der DDR sowie die sechs Bilateralen Germanistenkommissionen .
90 6.3.
II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
Entwicklungen im Bereich der Forschung 6.3.1. Vom Neubeginn zur Etablierung (1951/60-1970) Als nach mehrjähriger Vorbereitung 1964 die erste Nummer einer Zeitschrift für Theorie und Praxis des Deutschunterrichts für Ausländer (Zeitschrift DaF\ Herausgeber: HerderInstitut) erschien, trat Deutsch als Fremdsprache erstmalig ins öffentliche Bewusstsein fachwissenschaftlicher Publizität. Neben aktuellen Beiträgen über gesellschaftliche Ereignisse des Landes gaben die Rubriken Sprachwissenschaft, Methodik, Landeskunde, Literatur, Phonetik, Fachsprache und Fremdsprachenpsychologie nähere Einblicke in die theoriebildenden Grundlagen der Teildisziplinen und ihrer Beziehungen zu anderen Wissenschaften. Hinzu kamen Berichte über fachwissenschaftliche Ereignisse des In- und Auslandes und Bibliographien zu einschlägigen Neuerscheinungen, die Beilage Sprachpraxis sowie Übersichten zu aktuellen Lehrmaterialien. Zuvor hatten ostdeutsche Verlage, vor allem der Verlag Enzyklopädie und das Bibliographische Institut Leipzig, sowie universitäre Hausdruckereien für einen bescheidenen Wissenstransfer über erste Erfahrungen im fremdsprachigen Deutschunterricht gesorgt und die erforderlichen Lehr- und Übungsmaterialien produziert (vgl. u. a. Deutsch - Ein Lehrbuch für Ausländer; Teil 1, 1958). Im Mittelpunkt der didaktisch-methodischen Veröffentlichungen der 60er Jahre standen - neben der Wortschatzarbeit zum fachsprachlichen Unterricht und zu Themen der DDR-Landeskunde die Übungssysteme. Übergreifendes Ziel war der Erwerb fremdsprachlichen Wissens über die deutsche Sprache und die Entwicklung fremdsprachigen Könnens im Gebrauch der deutschen Sprache. Die Arbeit an den Fertigkeiten Hören und Mitschreiben, Lesen und Sprechen setzte in der Regel bei einer Auflistung von Lernerschwierigkeiten und lehrmethodischen Problemen ein, die mit konzeptionellen Vorschlägen für eine erfolgversprechende Unterrichtsgestaltung einhergingen. Das Zentrum bildeten Übungsvorschläge zur Aneignung, Festigung, Systematisierung und Anwendung phonetischer, grammatischer und lexikalischer Kenntnisse (vgl. Deutsch für Fortgeschrittene 1969). Die Konzepte sprachsystemorientierter Übungstypologien wurden ergänzt und erweitert durch thematische Diskussionen über die Modellierung, Algo-
rithmisierung und Programmierung von Übungsarten und -folgen zur Entwicklung fremdsprachigen Könnens. Erfahrungen aus dem allgemeinen Fremdsprachenunterricht, vornehmlich aus dem Russischunterricht, und Traditionen der sowjetischen Fremdsprachenmethodik lieferten Begründungen für die Legitimation des lehrpraktischen Vorgehens und regten didaktische Reflexionen über den Transfer auf das Deutsche als Fremdsprache an. Die theoretische Basis der meisten fachdidaktischen Beiträge und Unterrichtsmaterialien bildete jedoch die sprachwissenschaftliche Forschung dieses Jahrzehnts, besonders die internationalen Entwicklungen der generativen Grammatik Chomskys und deren Anwendung auf einzelne Bereiche der deutschen Grammatik (vgl. Studia Grammatica 1963 ff.). Weitreichende Wirkungen gingen von traditionellen und funktionalen Beschreibungen der deutschen Sprache aus (besonders Jung 1953; Erben 1959; Schmidt 1965; Heibig/ Schenkel 1969). Vor allem die Arbeiten auf dem Gebiet der Valenztheorie (Heibig 1971) und der Valenzlexikographie (Sommerfeld/ Schreiber 1974/1977) boten Deutsch als Fremdsprache-Lehrern und -Lernern nicht nur einen sprachlogisch-begründbaren Erklärungsmechanismus für die Abhängigkeit von Satzgliedern, sondern auch ein umfangreiches Repertoire an Valenzbeschreibungen zu deutschen Verben, Substantiven und Adjektiven. Neben strukturalistischen, transformationstheoretischen und funktionalen Konzepten wurden ebenfalls kybernetische Modellvorstellungen und Auffassungen der Systemtheorie für den Fremdsprachenunterricht genutzt. Ausdruck dafür waren u. a. programmierte Lehrmaterialien, mit deren Einsatz im Sprachlabor eine gewisse Erwartungseuphorie einherging, die mit sichtbaren Fortschritten im Fertigkeitsbereich rechnete. Die Enttäuschung über das erreichte Niveau hielt sich insofern in Grenzen, als im fremdsprachigen Deutschunterricht der DDR eine eher zögerliche Aufnahme und Verarbeitung des amerikanischen Strukturalismus' erfolgte. Das lag offenbar weniger an der perspektivischen Weitsicht der Didaktiker oder an den schwer zugänglichen linguistischen Grundlagen für fremdsprachenerwerbliche Applikationen, sondern wohl eher an der Haltung federführender ostdeutscher Linguisten. Sie nahmen — im Vergleich zu westdeutschen Kollegen - ein eher distanziertes, aber dennoch produktives Verhältnis gegenüber inter-
91
7. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in Deutschland
nationalen Entwicklungen ein. Indem sie bewusst an die humanistischen Traditionen der deutschen Philologie anknüpften, halfen sie indirekt eine Linguistisierung des Fremdsprachenunterrichts zu vermeiden. Den entscheidenden Vorlauf für die begonnene fachliche Profilierung des Deutsch als Fremdsprache lieferte in diesem Zeitabschnitt die nationale Grammatikforschung, indem ihr der „Übergang von der empirischen Sprachwissenschaft zu einer theoriegeleiteten Linguistik" (Heibig 1991, 67) gelang. Damit waren wesentliche Voraussetzungen für eine theoriebegleitende Lehrpraxis und für eine wissenschaftliche Fundierung sprachlicher Vermittlungsinhalte gegeben.
Sprachtheorie und -praxis, von Bewusstheit und Imitation, von Sprache-Sprechen und Sprachtätigkeit u. a. m. Die Einbeziehung von Erkenntnissen potentieller Referenz- und Bezugswissenschaften des Deutschen als Fremdsprache förderte das Verständnis für dessen interdisziplinär-integrativen Charakter, wobei die Grammatiktheorie zwar ihre Basisfunktion beibehielt, aber um die Dimension der Tätigkeit/Handlung erweitert wurde. Die von Helbig/Buscha 1972 verfasste Deutsche Grammatik erwies sich als unentbehrliche Grundlage zur wissenschaftlichen Fundierung des fremdsprachigen Deutschunterrichts, der Lehrmaterialproduktion sowie der Fremdsprachendidaktik überhaupt. Dieses Handbuch
6.3.2. Von der Etablierung zur Differenzierung (1970-1980) Die bereits Anfang der 70er Jahre einsetzende Fachdiskussion über Platz und Rolle der Grammatik im Fremdsprachenunterricht und um deren Verhältnis zu Methodik, Sprachwissenschaft und Sprachpraxis sowie zu Psychologie und Fremdsprachentheorie fand nunmehr ihre Fortsetzung unter dem verstärkten Einfluss der kommunikativen Wende. Die methodischen Beiträge handelten von den Zielen, Inhalten und Methoden der Arbeit an phonetischen, grammatischen und lexikalischen Kenntnissen, versuchten terminologische Klarheit in das Begriffsinstrumentarium der Methodik des Fremdsprachenunterrichts zu bringen, stellten Beziehungsrelationen zwischen Wissensaneignung und Könnensentwicklung im Fremdsprachenunterricht zur Diskussion und boten eine Fülle fachmethodischer Anregungen zur (Weiter-)Entwicklung der vier verschiedenen Fertigkeiten in Texten der Alltags- und Fachkommunikation. Die linguistischen Beiträge reichten von speziellen Untersuchungen zur Morphologie (Infinitivkonstruktionen, Modalverben, Präpositionen, Partikeln usw.) über die Syntax (Tempusformen, Dialog- und Gesprächsstrukturen, Valenz-, Semantikund Satzmodelle) bis zu ausgewählten lexikologischen Schwerpunkten (Wortbildungsarten, konfrontative Wortschatzarbeit, lexikalisch-semantische Felder). Außerdem standen dem Fach Deutsch als Fremdsprache wesentliche Einsichten in den Charakter sprachlicher Kommunikation und Tätigkeit zur Verfügung, die zur Erklärung fachrelevanter Forschungsfragen herangezogen werden konnten, wie beispielsweise die zum Verhältnis von Kommunikation und Kognition, von
für
den Ausländerunterricht
bot
Vorteile, die andere traditionelle Grammatiken nicht aufweisen konnten, wie ζ. B. einen hohen Grad an Explizitheit des Regelapparates, eine Einteilung der Wortarten nach distributioneilen Kriterien, die Beschreibung von Satzmustern und Valenzmodellen sowie die Aufnahme zahlreicher Wortlisten und Schemata zur Verdeutlichung grammatischer Funktionen. Aber auch die Forschungsergebnisse neuer Fachdisziplinen, wie beispielsweise die der Textlinguistik, die „in der DDR vor allem von Isenberg, Heidolph, Steinitz, Agricola, Pfütze u.a." (Heibig 1986, 154) erarbeitet wurden, sollten nachhaltige Wirkungen auf den Fremdsprachenunterricht haben. Dafür gab es verschiedene Gründe: Zum einen ist es die gemeinsame Erfahrung von Sprachwissenschaftlern und Deutsch als FremdspracheLehrern gewesen, dass es eine Vielzahl von sprachlichen Erscheinungen gab, deren Erklärbarkeit innerhalb der Satzgrenze nicht befriedigte, z. B. Pronominalisierungen, Satzgliederung, anaphorische und kataphorische Elemente. Zum anderen herrschte Übereinstimmung darin, dass sprachliche Kommunikation in aller Regel mittels Texten realisiert wird. Außerdem legte die ganzheitliche Betrachtung des Textes den Gedanken interdisziplinärer Kooperation nahe, wie sie auch in verschiedenen Forschungszentren in der Zusammenarbeit von Linguisten, Mutterund Fremdsprachenmethodikern, Journalisten, Pädagogen, Psychologen und anderen Fachvertretern über Jahrzehnte praktiziert wurde(vgl. Textlinguistik 1970ff.). Die Beiträge zur Unterrichtstheorie im Fremdsprachenunterricht wurden in diesem Jahrzehnt im Wesentlichen von Hochschullehrern der Russisch- und Englischmethodik geleistet. Im
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
Mittelpunkt der theoriebildenden Grundsatzartikel standen Themen, die von übereinzelsprachlicher Relevanz waren, wie: - das Verhältnis der Teildisziplinen innerhalb einer Fremdsprachenwissenschaft, ζ. B. Rolle und Platz der Grammatik, Beziehung der Linguistik zur Methodik, zum Sprachunterricht, zur Landeskunde und Psychologie - die Präzisierung der Ziele, Inhalte und Methoden innerhalb eines fremdsprachigen Lehr- und Lernprozesses, ζ. B. Stufen und Zielbilder der Sprachbeherrschung, Stoffauswahl und -aufbereitung, Textbeschaffenheit und -arbeit, Übungssysteme/ -arten/-typen/-abfolgen und - die Bestimmung des Stellenwertes der Unterrichtsmethoden innerhalb der Faktorenkomplexion eines kommunikativen Fremdsprachenunterrichts (einschließlich der Darstellung von Methoden/Verfahren zur Vermittlung und Aneignung von Sprachkenntnissen sowie zur Entwicklung von Fähigkeiten/Fertigkeiten in allen Zieltätigkeiten). Mit der Theorienbildung zu übereinzelsprachlich relevanten Planungs-, Aneignungs- und Anwendungsaspekten von Fremdsprachen gingen Verständigungen über die Konturen der Teildisziplinen des Deutsch als Fremdsprache einher, die zu einer Ausdifferenzierung fachgegenstandsspezifischer Anteile der Linguistik, Didaktik, Phonetik, Landeskunde, Literaturwissenschaft und Fremdsprachenpsychologie innerhalb des Lehr- und Forschungsprofils von Deutsch als Fremdsprache führten. Teils flössen die neuen Ansprüche des kommunikativen Fremdsprachenunterrichts direkt in die Überarbeitung bewährter Lehrmaterialien der 60er Jahre ein (ζ. B. Deutsche Konversation mit Modellen 1; 1979), teils erhielten sie fachsprachlich-orientierte Modifikationen (ζ. B. Deutsch — Ein Lehrbuch für Ausländer. Einführung in die Fachsprache Physik, Chemie, Biologie', 1975) oder fanden ihren konzeptionellen Niederschlag in den Curricula der Aus-, Fort- und Weiterbildung im Deutschen als Fremdsprache, in den Forschungsplänen der Universitäten und Hochschulen, in den Themen der Graduierungsarbeiten und schließlich auch in einer sich allmählich durchsetzenden kommunikativen Lehrpraxis. Wesentliche Ansatzpunkte fortschreitender fachwissenschaftlicher Differenzierung des
Deutschen als Fremdsprache waren in diesem Jahrzehnt: — die lernerbezogene linguistische Beschreibung der deutschen Sprache, die auf Gebrauchsregeln in der Oberflächenstruktur abzielte und Normen standardsprachlicher Verwendung auf der Satzebene vermittelte, - die Erklärbarkeit und beginnende lehrpraktische Ausnutzung semantisch-funktionaler und systemhaft-struktureller Beziehungen in Texten bzw. sprachlichen Äußerungen und die Erfassung sowie Beschreibung einzelner Komponenten des komplexen Lehr- und Lernprozesses als Voraussetzung für die Entwicklung einer umfassenden Theorie des Lehrens und Lernens von Deutsch als Fremdsprache. 6.3.3. Von der Differenzierung zur Konturierung (1980-1990) Für die theoretische Klärung des Wissenschaftsfaches Deutsch als Fremdsprache waren in den 80er Jahren besonders die Entwicklungen innerhalb der Bezugs- und Referenzwissenschaften von Bedeutung. Im Zentrum interdisziplinärer Fachdiskurse standen Auseinandersetzungen mit der Dialektik von Sprachtätigkeit und Sprachsystem im Spracherwerbsprozess, das Verhältnis von Kognition und Kommunikation zum Lernen und die Ausnutzung kommunikativ- und kognitiv-orientierter Sprachbeschreibungen für die Theorie und Praxis des Deutschen als Fremdsprache. Die Erkenntnis, dass Sprache in die komplexen Zusammenhänge der kommunikativen Tätigkeit und gesellschaftlichen Interaktion eingebettet ist, führte nicht nur in der Linguistik zu einer Ausweitung ihrer Gegenstandsbereiche und zum Entstehen fremdsprachenerwerbsrelevanter Teildisziplinen (wie ζ. B. die Sprechakttheorie, funktional-kommunikative Sprachbeschreibung, handlungsorientierte Textanalyse, Soziolinguistik, Psycholinguistik), sondern auch zu einer Neubewertung der Tätigkeits-, Lern- und Gedächtnistheorien. Quantitativ erbrachte sie eine deutliche Zunahme an wissenschaftlichen Publikationen, die eine weitere Ausdifferenzierung von Untersuchungsansätzen zur Erklärung und Beherrschung fremdsprachiger Erwerbsprozesse bedeutete. Qualitativ konzentrierten sich die Untersuchungsgegenstände/-themen auf eine interdisziplinäre theoretische Fundierung der Teildisziplinen des Deutschen als
7. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in Deutschland
Fremdsprache, auf didaktische Anwendungen von Sprachbeschreibungstheorien, auf Prinzipien, Inhalte, Methoden und Modelle des Spracherwerbs im Allgemeinen und fachsprachlichen Unterricht sowie auf Bausteine einer komplexen Lehr- und Lernmitteltheorie. Diese Klärung schloss zum einen das Fortwirken traditioneller Komponenten der Konstituierung von Deutsch als Fremdsprache ein, ζ. B. von Teilerkenntnissen der Valenztheorie, Grammatik- und Lexikographie, der allgemeinen Fremdsprachendidaktik u. a. m. Zum anderen öffnete sie sich gegenüber den Forschungsansätzen/-perspektiven neuer Fachdisziplinen. Die wechselseitigen Wirkungen lassen sich u. a. an der bereits Mitte der 70er Jahre einsetzenden PrinzipienDiskussion und den nachfolgenden einzelwissenschaftlichen Ausdifferenzierungen ihrer inhaltlichen Ansprüche erkennen. Die Methodischen Prinzipien (Apelt 1980, 3 ff.) sollten dem Lehrenden eine Hilfe sein, einen erfolgreichen kommunikativen Fremdsprachenunterricht zu erteilen. Als Leitlinien für den Deutsch als Fremdsprache-Unterricht wurden ζ. B. in der ersten und zu DDR-Zeiten einzigen veröffentlichten Didaktik des Fremdsprachenunterrichts - Deutsch als Fremdsprache (Desselmann/Hellmich 1981, 28 ff.) außer schulpolitischen und allgemeinen pädagogischen Erziehungs- und Bildungsaufgaben fremdsprachendidaktische Prinzipien für Zielkonzeptionen, Stoffauswahl und Prozessgestaltung formuliert. Wenngleich auch Prozess und Ergebnisse der Prinzipien-Diskussion ein sprachdidaktisch lineares Denken und Handeln im DDR-Fremdsprachenunterricht verhindern sollten, so reduzierte sich deren tatsächliche Wirkung auf den Status von Postulates deren Operationalisierung in der Praxis noch nicht zu bewältigen war, wohl aber in der fachwissenschaftlichen Reflexion kritisch verarbeitet wurde. Sie förderte u. a. die Herausbildung eines deduktiv-multifaktoriellen Fachdenkens einer ganzen Wissenschaftlergeneration und verstärkte das Interesse an einer globalen Gesamttheorie von der sprachlichen Tätigkeit. Einige Fachvertreter glaubten diesen Anspruch in der funktional-kommunikativen Sprachbeschreibung (FKS) verwirklicht zu sehen, denn diese stellte sich das Ziel, das „Zusammenwirken der sprachlichen Mittel der verschiedenen Ebenen des Sprachsystems und ihre wechselseitige Bedingtheit und Abhängigkeit unter dem Aspekt der intendierten kommunikativen Leistung" (FKS 1981, 11/ 12) zu erfassen.
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Für die Lehre und Forschung im Deutschen als Fremdsprache ergab sich daraus die Erwartung, die Regeln des Sprachsystems und die des Sprachgebrauchs sowohl funktional interpretieren als auch lehr- und lerntheoretisch ausnutzen zu können. Diesem Anliegen kam die funktional-kommunikative Sprachbeschreibung insofern entgegen, als sie eine sprachsystem- und - tätigkeitsbezogene Erfassung der für Typen kommunikativen Handelns (ζ. B. Empfehlen, Berichten, Zusammenfassen) und ihren sprachlichen Produkten (ζ. B. die Textsorten: Referenz, Tagungsberichte, Resümee) relevanten Sprachmittel und Gestaltungsprinzipien anstrebte. Sie versprach, den Kommunikationsbedürfnissen/-erfordernissen erwachsener Lerner innerhalb der DDR, spezifischen Aus- und Fortbildungsformen und der darauf ausgerichteten Forschungstätigkeit entgegenzukommen. Auf der Planungsebene, insbesondere in der curricularen Arbeit, erwies sich die Erfassung und Beschreibung handlungsrelevanter Sprachmittel/-strukturen als wertvolle Orientierung für die Auswahl und Systematisierung des Sprachstoffes; vor allem zur Entwicklung produktiver Fertigkeiten (vgl. Wir diskutieren', Kommunikationsverfahren in Wissenschaft und Technik). Auf der Prozessebene bildeten die Stufenmodelle der sowjetischen Lern- und Gedächtnispsychologie (Leontjew 1979, 101 ff.; Galperin 1980, 77 ff.) die Integrationsbasis für aufgabenbezogene Sprachstoffstrukturierungen zur systematischen Weiterentwicklung sprachkommunikativen Könnens (Lehrmaterialreihe des IWD). Allerdings bestätigte die lehrpraktische Nutzung von Ergebnissen der funktionalkommunikativen Sprachbeschreibung im Sprachunterricht immer wieder die Grenzen kommunikativ-linguistischer Beschreibungen sprachlichen Handelns, die den „Weg vom globalen Kommunikationsmodell zum Sprachsystem ... ohne Entwicklung spezifischer (grammatischer) Teiltheorien" (Heibig 1991, 72) gehen wollten, aber so ihren Anspruch auf eine sprachtätigkeits- und - systembezogene Theoriebildung nicht einlösen konnten. Ende der 80er Jahre führten internationale Anforderungen und Entwicklungen zu neuen Konzepten in Ausbildungsfachern/-programmen (ζ. B. Auslandsgermanistik für Mutterjprac/i/er/fachspezifische Informatik). Die interkulturelle Orientierung spiegelte sich in der Landeskunde durch eine verstärkte Einbeziehung kulturkontrastiver Komponenten wider. Die Lernerorientierung erhielt in der
94
II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
sprachpraktischen und phonetischen Aus-, Fort- und Weiterbildung eine deutliche Betonung, indem Lernstrategien/-techniken zur Selbststeuerung individueller Erwerbsprozesse bewusst gemacht und zunehmend in die Lehrwerke integriert wurden. In der Unterrichtstechnologie begann der Übergang zum video- und computergestützten Fremdsprachenlernen. Das Bemühen einzelner Fachvertreter um eine internationale Perspektive der Fachprofilierung und um deren bedarfsgerechten Ausbau im nationalen Rahmen konnte allerdings weder die Tatsache einer weitgehenden Isolierung von der internationalen Fachkommunikation und -publizistik ausgleichen noch eine flächendeckende Neuorientierung in der Lehre, Forschung sowie Fort- und Weiterbildung im Deutschen als Fremdsprache auslösen; ganz zu schweigen vom Abstand materiell-technischer Ausstattung der Deutsch als Fremdsprache-Institutionen im Vergleich zu westeuropäischen Standards. Ohne Zweifel beförderte jedoch die Zunahme internationaler Kontakte in diesem Jahrzehnt staatliche Maßnahmen zur Herauslösung des Faches aus der Bevormundung traditioneller Wissenschaften, insbesondere der germanistischen Literaturwissenschaft in ihrer historisch-philologischen Ausrichtung. Auch trug die Anerkennung des Faches und seiner Vertreter im Ausland zur Stärkung einer einzelwissenschaftlichen Identität im Inland bei, so dass zunehmend eine Veränderung der Situation eingefordert wurde.
7.
Deutsch als Fremdsprache nach der deutschen Einigung
Nach 1989 ist auf allen Ebenen ein starker Wunsch zur Überwindung des bislang Trennenden zu beobachten. Sowohl bei der Besetzung der verantwortlichen Funktionen in den Verbänden wie bei der inhaltlichen und organisatorischen Ausgestaltung von Studiengängen in den Beitrittsländern kooperierten Fachvertreter und -Vertreterinnen aus Ostund Westdeutschland zumeist vertrauensvoll miteinander. Von Bedeutung sind daneben vor allem Erklärungen zur Sprachpolitik und zur internationalen Bedeutung der deutschen Sprache. So heißt es in der Dresdner Erklärung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache aus dem Jahre 1995, „Die politisch Verantwortlichen werden aufgefordert - das Deutsche im europäischen Sprachenwettbewerb durch seine Verwendung in
den europäischen Institutionen als gleichberechtigte Arbeits-, Verkehrs- und Verhandlungssprache zu stärken. - Eine Fachausbildung Deutsch als Fremdsprache für Beschäftigte in europäischen Institutionen zu entwickeln. - Das Bewusstsein zu stärken, dass Deutsch eine international gepflegte Publikationssprache und internationale Kongresssprache ist. - Den Erwerb der deutschen Sprache als Fremd- und Zweitsprache im In- und Ausland zu fördern (Dresdner Erklärung 1995). Die Bedeutung der deutschen Sprache und das Prinzip Mehrsprachigkeit werden damit ausdrücklich betont. Im Bereich des Goethe-Instituts wurde die Einigung als Chance begriffen, in den neuen Bundesländern neue Institute zu eröffnen. Als erstes war dies Dresden im Jahre 1996, im Jahre 1997 kam Weimar hinzu, wo erstmals vor allem ein starker Anteil kultureller Informationen in den Kursen zu registrieren ist. Insgesamt bietet das Goethe-Institut neue Typen von Sprachkursen an: Superintensivkurse mit 40 Unterrichtseinheiten pro Woche, Sonderkurse (Firmenkurse, Senioren-, Jugend- und Kinderkurse) sowie verstärkt Fachsprachenkurse. Das Institut verzeichnet 1996/97 nach Jahren der Stagnation erstmals wieder eine erhöhte Nachfrage nach Sprachkursen.
8.
Theoretische Klärungsprozesse
Nach Jahren eines stürmischen Aufbruchs ist die Disziplin Deutsch als Fremdsprache in Forschung und Lehre in eine Phase der Konsolidierung und inhaltlichen Klärung eingetreten. Charakteristisch dafür ist die engagierte Diskussion in der Fachzeitschrift „Deutsch als Fremdsprache": Im Wesentlichen geht es bei der Forschung um die Punkte: -
Das Verhältnis des Deutschen als Fremdsprache zu den Bezugs- bzw. Grundlagenwissenschaften wie Germanistische Linguistik, Lernpsychologie, Soziologie, Sprachlehrforschung, Kultur- und Landeskunde sowie Neurowissenschaften. - Das Verhältnis der Teilbereiche der Disziplin untereinander: Didaktik, angewandte Linguistik, Literaturwissenschaft und Landeskunde.
7. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in Deutschland
- Ist die Disziplin ein Teilbereich der Germanistik (gewissermaßen ihr „viertes Standbein") oder ein fremdsprachenwissenschaftliches Fach? - Wie lassen sich Erkenntnisse der Forschungen zum ungesteuerten Erwerb des Deutschen als Zweitsprache auf den (gesteuerten) Unterricht übertragen? - Welcher Kulturbegriff liegt dem Prinzip der Interkulturellen Erziehung im Fach Deutsch als Fremdsprache zu Grunde? (vgl. Blei 1994; Götze/Suchsland 1996; Henrici 1996; Königs 1996; Heibig 1997; Hirschfeld 1997; Neuner 1997; Glück 1998) Dabei hat sich weit gehende Einigkeit über die folgenden Punkte herauskristallisiert: - Deutsch als Fremdsprache ist ein einheitliches Fach, in dessen Mittelpunkt die Theorie und Praxis des Erwerbens/Lernens und Lehrens der Fremdsprache Deutsch steht. - Den grundständigen Studiengängen und nicht den Aufbau- und Ergänzungsstudiengängen des Faches gehört die Zukunft, um die Disziplin akademisch fest zu etablieren. - Das Fach hat gleichrangige Theorie- und Praxisanteile. - Deutsch als Fremdsprache steht als eigenständige Disziplin im Schnittpunkt zahlreicher Bezugswissenschaften und ist somit kein Anwendungsgebiet einer dieser Disziplinen. - Deutsch als Fremdsprache sollte seine Eigenständigkeit selbstbewusst verteidigen und sich nicht durch andere Fächer und/oder modische Entwicklungen vereinnahmen lassen. - Deutsch als Fremdsprache dient der Völkerverständigung und dem Dialog der Kulturen. Keine Einigkeit besteht in der Frage, ob Deutsch als Fremdsprache als „viertes Standbein" Teil der Germanistik (Götze/Suchsland 1996) oder aber ein fremdsprachenwissenschaftliches bzw. -didaktisches Fach (Henrici 1996; Königs 1996; Neuner 1997) sei. Uneinig verläuft die Diskussion auch darüber, ob Deutsch als Fremdsprache eine wissenschaftliche Disziplin aufgrund der vier Kriterien Gegenstand, Erkenntnisinteresse, Forschungsmethoden und Theoriebildungsprozesse sei oder nicht. Die Diskussion ist im Jahre 2000 weiter im Gang.
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In der Lehre geht es vor allem um die Entwicklung neuer Kurstypen (Intensivkurse, fachsprachliche Kurse, Senioren-, Jugendund Kinderkurse) sowie um video- und computergestützte Deutschkurse. 9.
Kulturbegriff
Als Lernprinzip gilt grundsätzlich das interkulturelle Lernen, also das auf der Basis der Gleichrangigkeit der Kulturen sowie des erweiterten KulturbegrifFs organisierte wechselseitige Lernen von Angehörigen unterschiedlicher Kulturen. Dabei ist, ebenso wie in der Forschung, der KulturbegrifF in die Diskussion geraten. War es seit den 70er Jahren nahezu umstritten, dass der erweiterte Kulturbegriff — Kultur als die Summe aller Hervorbringungen der menschlichen Physis wie des Geistes — das intellektuelle Rüstzeug der Aktivitäten im Deutschen als Fremdsprache lieferte (Götze 1995b), plädierte der Generalsekretär des Goethe-Instituts, Joachim Sartorius, für einen ästhetisch akzentuierten und damit engeren KulturbegrifF, der seinen Niederschlag in der Programmarbeit wie in einem stärker literarisch orientierten Sprachunterricht an Ausländer im In- und Ausland finden solle (Sartorius 1996). Die Diskussion hält an. In 10 Thesen zur Auswärtigen Kulturpolitik äußerte sich Bundesaußenminister Kinkel 1997 zu Zielsetzungen der zukünftigen Arbeit. Danach sollen die Kulturarbeit im Ausland deutlicher als bisher von wirtschaftlichen Interessen des Landes bestimmt sein, die bisherige relative Autonomie der Goethe-Institute zugunsten der Entscheidungen der Botschafter weiter eingeschränkt werden, repräsentative Kulturereignisse statt kontinuierlicher Zusammenarbeit mit den Partnern im Gastland dominieren, Spracharbeit mit regionalen Schwerpunkten (Mittelosteuropa und Russland, Asien) im Mittelpunkt stehen, der Wissenschaftleraustausch gefördert und die Mittlerorganisationen (Goethe-Institut u. a.) organisatorisch „verschlankt" werden (Kinkel 1997). Das hieße im Klartext eine Abkehr von den Leitvorstellungen der auswärtigen Kulturpolitik, wie sie Ralf Dahrendorf (Dahrendorf 1970) entwickelt hatte und denen das Goethe-Institut und die Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen Jahren ihre Glaubwürdigkeit und ihre Erfolge verdankten.
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10.
II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
Literatur in Auswahl
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(Deutschland) (Deutschland)
8. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache und des Deutsch als Fremd- und Zweitsprache-Unterrichts in Österreich 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Einleitung Periodisierung Entwicklungen in der Zeit vor 1945 Der Zeitraum von 1945 -1980 Die Gründerphase von Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache in Österreich ab Anfang der 80er Jahre Deutsch als Fremdsprache in den 90er Jahren Offene Fragen und Ausblick Literatur in Auswahl
1.
Einleitung
Die Geschichte des Faches Deutsch als Fremdsprache in Österreich ist jung, denn das Fach konnte sich im Kontext des österreichischen Bildungssystems endgültig erst Anfang der 90er Jahre etablieren. Ungeachtet dessen existierte lange zuvor bereits eine größere Zahl von Aktivitäten und Institutionen. Zu unterscheiden ist dabei zwischen der Ent-
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
wicklung von Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache, die auf Grund unterschiedlicher organisatorischer Zuständigkeiten im Ausbildungsbereich ab Anfang der 80er Jahre eine voneinander weitgehend unabhängige Entwicklung genommen haben. Der Begriff „Deutsch als Fremdsprache" wird im Folgenden zugleich als Oberbegriff für beide Bereiche verwendet. 2.
Periodisierung
Nimmt man eine vorsichtige Periodisierung der Entwicklungsphasen von Deutsch als Fremdsprache in Osterreich vor, lassen sich zeitlich vier Abschnitte erkennen: 1) Die Zeit vor 1945, die durch eine Fortschreibung der Situation am Ende der k. u. k. Monarchie gekennzeichnet war; 2) Der Zeitraum 1945— 1980, der in die erste Wiederaufbauphase der Universitäten bis etwa 1962 und in die Konsolidierungsphase bis Ende der 70er Jahre unterteilt ist. Dieser Zeitraum ist markiert durch die Gründung des Österreichischen Auslandsstudentendienstes (ÖAD) im Jahre 1962 und die darauf folgende Dominanz dieser Organisation bis etwa 1980, die erst durch studentische Proteste und durch die allmähliche Änderung der Organisationsstrukturen nach und nach gemildert wurde; 3) Die Gründerphase von Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache in Österreich fällt in die Zeit von 1979-1990, in der intensiv an verschiedenen Orten und Institutionen versucht wurde, für die aufgetretenen Probleme mit nicht deutschsprachigen Kindern in den Schulen und für den Bedarf an ausgebildeten Deutsch als FremdspracheLehrern und Lektoren Lösungen zu finden. 4) Die Zeit seit 1990 ist als die endgültige Periode der Etablierung von Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache anzusehen. Einschneidende Ereignisse waren einerseits die Gründung des Hochschullehrgangs Deutsch als Fremdsprache in Graz, die Einrichtung zweier Lehrkanzeln (jeweils in Wien und Graz) sowie die Einführung des Zusatzlehrplans Deutsch als Zweitsprache für Pflichtschulen. Diese Abschnitte sollen im Folgenden charakterisiert werden.
3.
Entwicklungen in der Zeit vor 1945
Die sprachnationalistischen Auseinandersetzungen ab etwa 1880 und der Umstand, dass Deutsch in allen Gebieten (außer in Ungarn)
an allen Pflichtschulen der Habsburger-Monarchie unterrichtet wurde, verhinderten die Ausbildung und Etablierung von Ansätzen eines Faches Deutsch als Fremdsprache in den letzten Jahrzehnten des Bestehens der Monarchie. Dies geschah trotz der Tatsache, dass noch 1923/24 35% der Hörer an österreichischen Universitäten Ausländer und 19% aller Hörer solche mit nicht deutscher Muttersprache waren. Der Hauptgrund war, dass die meisten Studenten bereits gute bis sehr gute Deutschkenntnisse hatten, wenn sie mit dem Studium begannen. Die Vermittlung von Deutsch in zweisprachigen Gebieten der Monarchie erfolgte außerdem so gut wie ausschließlich durch zweisprachige Lehrer, die ihren Unterricht tageweise abwechselnd in Deutsch und in den jeweiligen Sprachen der Nationalitäten durchführten und in der Regel gute Kenntnisse in beiden Sprachen aufwiesen. In der Ersten Republik kam es nicht zuletzt auf Grund der politischen Umstände zu einem schnellen Rückgang der Zahlen nicht deutschsprachiger Studierender. Zeitgenössische Berichte aus der Zeit von 1890-1935 sprechen vom starken Assimilationsdruck, dem besonders die Einwanderer aus dem heutigen Tschechien und der Slowakei ausgesetzt waren (vgl. dazu John/Lichtblau 1990). Da Österreich außerdem zu einem außenpolitisch inaktiven und auf sich bezogenen Kleinstaat geworden war, verhinderte dies (im Gegensatz zu Deutschland, wo 1932 der Vorläufer des Goethe-Instituts gegründet worden war) jeden Ansatz zur Herausbildung von Deutsch als Fremdsprache, so dass vor 1945 keinerlei Aktivitäten vorhanden waren. Wesentlich war auch der Umstand, dass Österreich im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern außerhalb Europas keine Territorien besaß und wirtschaftlich auf Mitteleuropa orientiert war, so dass es von Seiten der traditionellen Außenbeziehungen keine unmittelbare Notwendigkeit gab, Institutionen für die Vermittlung von Fremdsprachenkenntnissen im Deutschen einzurichten.
4.
Der Zeitraum von 1945 - 1 9 8 0
4.1. Die Studienvorbereitung ausländischer Studierender als Beginn des Deutschen als Fremdsprache in Österreich Deutsch als Fremdsprache kommt in diesem Zeitraum vorerst überhaupt nur im Bereich der Studienvorbereitung nicht deutschspra-
8. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in Österreich
chiger Studierender vor. Denn nach der ersten Aufbauphase, die bis zur Unabhängigkeit des Landes im Jahre 1955 reichte, kam es universitär zu einem rapiden Anstieg ausländischer Hörer. Dies hing vor allem damit zusammen, dass die österreichischen Universitäten auf viele Studenten aus südosteuropäischen Ländern eine große Anziehungskraft ausübten. Viele der angestrebten Studien gab es in deren Heimatländern nicht oder, auf Grund der Kriegsereignisse, nicht mehr. Vor allem technische Studien und Studien an Kunst- und Musikhochschulen waren bei ausländischen Hörern stark gefragt. Ihr Anteil betrug um 1960 im Durchschnitt aller Universitäten rund 30%, an manchen Technischen Universitäten wie in Graz und an den Kunst- und Musikhochschulen sogar 50% und mehr. Dies veranlasste die Universitäten zur Gründung des Österreichischen Auslandsstudentendienstes (ÖAD), der vor allem beauftragt wurde, die ausländischen Studierenden zu betreuen und Deutschkurse einzurichten, da es zu erheblichen Schwierigkeiten bei der Integration der nicht deutschsprachigen Studierenden gekommen war. In der Folge wurden nach und nach in allen Universitätsstädten die sog. „Vorstudienlehrgänge" gegründet. Sie sind damit die älteste Institution, an der in Österreich Deutsch als Fremdsprache-Unterricht kontinuierlich erteilt wird, und entsprechen in vielem den Studienkollegs in Deutschland. Heute bestehen jedoch nur mehr die Vorstudiengänge in Graz und Wien. Der Österreichische Auslandsstudentendienst gab aber nicht nur Deutschunterricht, es wurden dieser Organisation auch die Verwaltung von Stipendien und der anderen Auslandsaktivitäten der österreichischen Universitäten übertragen, was dieser Organisation im universitären Kontext eine zentrale Position einbrachte. Eine ihrer Aufgaben war es unausgesprochen auch, den als zu massiv empfundenen Zustrom ausländischer Studierender zu drosseln. Mittels ihres schulisch organisierten Unterrichts und einer rigiden Organisation erfüllten die Vorstudienlehrgänge eine gewisse Zeit auch diese Funktion. Denn die nicht deutschsprachigen Studierenden mussten nicht nur Deutschkenntnisse nachweisen, um das Studium aufnehmen zu können, sondern darüber hinaus — je nach Herkunftsland - in verschiedenen Fächern viele Nachprüfungen und damit faktisch eine zweite Matura ablegen, was zu jahrelangen Studienverzögerungen führte und das Stu-
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dium in Österreich schwierig und unattraktiv machte. Hinzu kam, dass die am Vorstudienlehrgang unterrichtenden Lehrer in keiner Weise auf den Unterricht in Deutsch als Fremdsprache bzw. jenen mit nicht deutschsprachigen Lernern vorbereitet waren, da entsprechende Ausbildungen fehlten. All das führte für viele nicht deutschsprachige Studierende zu erheblichen Schwierigkeiten. 4.2. Probleme im Bereich der Studienvorbereitung und Lösungsversuche Im Jahre 1974 kam es auf Grund dieser Missstände zu massiven studentischen Protesten und, nach wochenlangen Streiks, zu einer organisatorischen Neuordnung durch die Errichtung interuniversitärer Kommissionen, die in Wien bereits 1977 sowie in Graz 1982 ihre Arbeit aufnahmen. An den anderen Universitätsorten blieb die Situation jedoch unverändert. Dieser Zeitpunkt markiert auch den Anfang vom Ende der Dominanz des Österreichischen Auslandsstudentendienstes, der den Bereich Deutsch als Fremdsprache für sich reklamierte und jede Etablierung des Faches Deutsch als Fremdsprache an den Universitäten bis Ende der 80er Jahre im Zusammenspiel mit den mit ihm verbundenen Beamten des Wissenschaftsministeriums erfolgreich verhinderte. Lange Zeit trug dazu auch der Umstand bei, dass die traditionelle Germanistik kein Interesse an Deutsch als Fremdsprache zeigte. Das erklärt möglicherweise, warum von der Internationalen Deutschlehrertagung, die 1971 in Salzburg stattgefunden hatte, keine Impulse zur Etablierung von Deutsch als Fremdsprache in Österreich ausgingen. Die Periode der 60er und 70er Jahre ist daher durch die ausschließliche Dominanz des Österreichischen Auslandsstudentendienstes und das völlige Fehlen von Aktivitäten der österreichischen Germanistik in Bezug auf die Etablierung von Deutsch als Fremdsprache gekennzeichnet, was angesichts ihrer extrem starken historisch-linguistischen und literarischen Ausrichtung nicht überrascht. Deutsch als Fremdsprache gab es im Zeitraum 1960-1980 universitär nur in schulisch gestalteten Kursen des Österreichischen Auslandsstudentendienstes, in so genannten „Sprachkursen für Hörer aller Fakultäten" und außeruniversitär (wenn auch zuweilen mit Universitäten verbunden) in vereinzelten Sommerkursen und in ganz wenigen privaten Sprachschulen. Vor der Errichtung der Vor-
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
Studienlehrgänge gab es die Möglichkeit zum Deutschlernen lediglich im Rahmen der so genannten „Sprachkurse für Hörer aller Fakultäten", die teilweise auch weiter bestanden bzw. an neugegründeten Universitäten wie in Klagenfurt erst später eingerichtet wurden. Das Ausbildungsangebot betrug zwischen vier und 40 Semesterwochenstunden. Kennzeichnend für die Situation der Studienvorbereitung ausländischer Studierender war die organisatorische und strukturelle Heterogenität, die sich bis heute nicht geändert hat. In Innsbruck und Klagenfurt existieren dafür Hochschullehrgänge, in Salzburg Deutschkurse am Germanistikinstitut, in Wien und Graz Vorstudienlehrgänge und in Linz Kurse am Sprachzentrum der Universität. Ein bundeseinheitlicher Ausbildungsrahmen fehlt, da die Studienvorbereitung in den autonomen Verfügungsbereich der jeweiligen Universität fallt und hinsichtlich des Stundenausmaßes und der Anforderungen der sog. Hochschulsprachprüfung verschieden geregelt wird. Weitgehende Übereinstimmung besteht zwischen den Vorstudienlehrgängen in Graz und Wien, die Mitte der 80er Jahre entsprechende Ausbildungspläne verabschiedeten (vgl. u. a. Muhr 1984) und in Wien von etwa 700 und in Graz von etwa 300 Studierenden besucht werden. 4.3. Deutsch als Zweitsprache ab den 70er Jahren In der Folge des Wirtschaftsaufschwungs Anfang der 70er Jahre kam es auch in Österreich zu einem starken Anwachsen ausländischer Arbeitskräfte, die überwiegend aus dem damaligen Jugoslawien und aus der Türkei stammten. Kennzeichnend für die Situation der Ausländerbeschäftigung in Österreich war ihre regionale Konzentration auf Vorarlberg, den Großraum Salzburg, Linz und Wien. In den entsprechenden Bundesländern kam es in der Folge daher auch zu ersten Problemen mit den nicht deutschsprachigen Kindern der sog. „Gastarbeiter". Bereits 1973 reagierte das Bundesland Salzburg auf diese Situation mit der Einrichtung so genannter „bunter Klassen", in welchen die nicht deutschsprachigen Kinder einer Schule gemeinsam unterrichtet wurden. Das Modell war jedoch wenig effektiv und wurde bald wieder aufgegeben. Erschwerend kam hinzu, dass weder Schulen noch Schulgesetze auf Kinder ohne Deutschkenntnisse vorbereitet waren und alle Maßnahmen bis Ende der 80er Jahre daher provisorisch als sog. „Schul-
versuche" eingerichtet werden mussten. Mit dem weiteren Zuzug ausländischer Arbeitskräfte und der Polenkrise Anfang der 80er Jahre verschärfte sich die Situation in den städtischen Ballungszentren weiter, so dass ab Anfang der 80er Jahre umfassende schulische Integrationsmaßnahmen für nicht deutschsprachige Kinder notwendig wurden.
5.
Die Gründerphase von Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache in Österreich ab Anfang der 80er Jahre
5.1. Der Aufbau einer Lehrerausbildung Deutsch als Fremdsprache Die 80er Jahre können als Pionierjahre von Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache in Österreich angesehen werden. An verschiedenen Orten und in verschiedenen Bereichen wurden Anstrengungen zur Etablierung des Faches unternommen. Kennzeichnend für die Situation von Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache war, dass es eine große Zahl von Deutsch als Fremdsprache-Lernern und eine größer werdende Zahl schulischer und außerschulischer Deutsch als Fremdsprache-Aktivitäten gab, Ausbildungseinrichtungen für Deutsch als Fremdsprache-Lehrer und Einrichtungen zur Integration nicht deutschsprachiger Schüler und Zuwanderer jedoch fehlten. Ein weiteres Problem war, dass Österreich auf Grund zahlreicher bilateraler Kulturabkommen eine stetig größer werdende Zahl von Auslandslektoren (Mitte der 80er Jahre waren es bereits etwa 70 Lektoren) entsandte, die beauftragt waren, im jeweiligen Land „österreichische Literatur und deutsche Sprache" zu vermitteln, ohne dass jedoch eine entsprechende institutionelle und materielle Unterstützung in Form von Lehrmaterialien und Serviceeinrichtungen vorhanden gewesen wären. Anders als in der Bundesrepublik Deutschland oder in der DDR waren in Österreich zu dieser Zeit drei Ministerien (Außen-, Wissenschafts- und Unterrichtsministerium) für die Auslandskultur zuständig. Auch fehlte eine entsprechende Vorbereitung auf den Auslandseinsatz in Form einer Deutsch als Fremdsprache-Ausbildung (einwöchige Einschulungskurse gab es zwar an der Universität Klagenfurt, sie waren aber nicht ausreichend). All das führte zu wiederholter Kritik und zu Auseinandersetzungen mit den zuständigen Ministerien. Erschwerend kam
8. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in Österreich
hinzu, dass eine explizit formulierte Auslandskulturpolitik in Form einer parlamentarisch abgesicherten Entschließung fehlte. Die Bemühungen konzentrierten sich daher vor allem darauf, eine Etablierung des Faches durch Einrichtung von Lehrerausbildungseinrichtungen zu erreichen. Um die Wende zu den 80er Jahren hatte sich in den städtischen Ballungszentren außerdem der Integrationsdruck auf die Pflichtschulen verstärkt und andererseits kam es in verschiedenen Universitätsstädten wie Klagenfurt, Graz, Wien und Salzburg zur Einrichtung von Universitätsabkommen für Deutschlernende. Diese waren zwar häufig aus touristischen Gründen eingerichtet worden, wurden von einer jüngeren Generation engagierter Universitätslehrer jedoch als Chance zum Aufbau von Lehrerausbildungseinrichtungen für Deutsch als Fremdsprache und zur akademischen Etablierung des Faches erkannt. Die Verbindung zwischen Sommerkursen und Lehrerausbildung gelang in substantiellem Ausmaß vorerst aber nur in Klagenfurt und Graz, in gewisser Hinsicht auch in Innsbruck, wo der Einfluss der Zweisprachigkeitssituation in Südtirol spürbar wurde. Ein wesentliches Hindernis für die Errichtung einer Deutsch als Fremdsprache-Lehrerausbildung war das tiefe Unverständnis auf Seiten der zuständigen Ministerien. Ein weiteres Problem bestand darin, dass die Auslandslektoren im Zuge ihrer Bewerbung um ein Lektorat stets ein Forschungsthema präsentieren mussten, an dem sie während ihres Auslandsaufenthaltes arbeiten sollten. Diese Argumentation ließ eine Deutsch als Fremdsprache-Lehrerausbildung als überflüssig erscheinen, da die Lektorate auf drei Jahre befristet sein sollten und ihre Tätigkeit nicht primär der Vermittlung des Deutsch als Fremdsprache gewidmet sein sollte, sondern dem bei der Bewerbung angegebenen Forschungsvorhaben, das aber für kaum jemanden die wirkliche Motivation für einen Auslandsaufenthalt darstellte. Schon dieses Detail zeigte, wie hemmend die Politik des zuständigen Wissenschaftsministeriums für die Errichtung einer universitären Deutsch als Fremdsprache-Lehrerausbildung war, das stets danach trachtete, das Monopol des Österreichischen Auslandsstudentendienstes im Bereich Deutsch als Fremdsprache aufrechtzuerhalten. Man kann heute rückblickend feststellen, dass die 80er Jahre von der Auseinandersetzung zwischen engagierten Universitätslehrern und der Ministerialbürokratie (und dem mit ihr aufs
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engste verbundenen Österreichischen Auslandsstudentendienst) gekennzeichnet waren. Im Mittelpunkt dieses Machtkampfes stand die Weigerung, Deutsch als Fremdsprache an den Universitäten in Form von organisatorisch regulär verankerten Lehrerausbildungen zu etablieren. Allerdings hatten die Auseinandersetzungen auch ihr Gutes, da die Germanistikinstitute auf den Bereich Deutsch als Fremdsprache aufmerksam wurden und diesen als Zukunftschance erkannten. Im Jahre 1985 kam es auf Grund einer gemeinsamen Initiative von Graz, Wien und Klagenfurt zu einem ersten Treffen der Gesamtstudienkommission Germanistik, bei dem die Einrichtung eines Studiums Deutsch als Fremdsprache besprochen wurde. Am Ende standen elf gesamtösterreichische Kommissionstreffen, die im April 1987 schließlich zur Formulierung eines gemeinsamen Ausbildungsplans führten. Er sah ein viersemestriges Aufbaustudium mit rund 40 Semsterwochenstunden und einer Abschlussprüfung vor, das im Anschluss an ein philologisches Studium (in erster Linie ein Lehramtsstudium) zu absolvieren und mit einem staatlich anerkannten Diplom verbunden gewesen wäre (vgl. Muhr 1987). Die Gründe für die Wahl dieses Ausbildungsganges waren (nach langen Diskussionen) die starke Abhängigkeit des österreichischen Arbeitsmarktes für Lehrer im Allgemeinen und von Deutsch als Fremdsprache-Lehrern im Besonderen von staatlich vergebenen Stellen sowie die stark eingeschränkten Arbeitsmöglichkeiten im nicht-staatlichen Bereich. Hinzu kommt, dass Lektorenstellen zeitlich befristet sind (fünf Jahre) und eine Reintegration von Personen ohne Lehrbefahigung für den Unterricht an österreichischen Schulen fast unweigerlich in die Arbeitslosigkeit geführt hätte. Die künftigen Deutsch als Fremdsprache-Lehrer sollten daher möglichst eine Lehramtsprüfung haben und die Deutsch als Fremdsprache-Kenntnisse als Zusatzqualifikation erwerben, um mehrere berufliche Standbeine zu haben. Zur Einrichtung eines entsprechenden Ausbildungsganges kam es jedoch trotz der gemeinsamen Initiative nicht, da das zuständige Ministerium aus Kostengründen lediglich bereit war, diese an zwei Universitätsstandorten einzurichten. Keines der fünf Germanistikinstitute wollte jedoch zurückstehen. Zu diesem Zeitpunkt gab es einzelne Lehrveranstaltungen zur Deutsch als Fremdsprache-Lehrerausbildung in Innsbruck, Salzburg, Klagenfurt und
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
Graz. Während Klagenfurt auf eine gewisse Kontinuität im Ausbildungsbereich verweisen konnte, aber über relativ wenige Lehrveranstaltungen verfügte, existierte in Graz bereits seit dem Studienjahr 1988/89 ein Deutsch als Fremdsprache-Studiengang im Ausmaß von 22 Semesterwochenstunden, der allerdings keinen offiziellen Status hatte, da die Verankerung im Rahmen eines Studiengesetzes fehlte. Einen Umschwung zu Gunsten der Etablierung der Deutsch als Fremdsprache-Ausbildung brachte erst die IX. Internationale Deutschlehrertagung in Wien 1989 und die im selben Jahr stattfindende „Wende" in Osteuropa. Beide „Ereignisse" machten unmissverständlich deutlich, dass Österreich auf dem Gebiet Deutsch als Fremdsprache nach wie vor über keine gesetzlich abgesicherte Lehrerausbildung verfügte und keine einzige Deutsch als Fremdsprache-Lehrkanzel vorweisen konnte, zugleich aber einem enormen Bedarf an qualifizierten Deutsch als Fremdsprache-Lehrern gegenüberstand, den es in keiner Weise erfüllen konnte (allein im Jahre 1990 wurden vierzig neue Lektorenstellen in Osteuropa eingerichtet). Auf Grund der geänderten Rahmenbedingungen und der Tatsache, dass in Graz de facto bereits ein Studiengang bestand, kam es 1990 zur Errichtung des „Hochschullehrgangs Deutsch als Fremdsprache" in Graz, der mit dem Wintersemester 1990/91 seinen Betrieb aufnahm, bis heute besteht und nach wie vor die einzige formalisierte Deutsch als Fremdsprache-Lehrerausbildungseinrichtung auf Universitätsebene in Österreich ist. Seine Einrichtung steht in engem Zusammenhang mit der Arbeitsgruppe Deutsch als Fremdsprache Graz, die 1983—1991 am Institut für Germanistik bestand und sich zuerst vor allem um die Verbesserung des Deutsch als Fremdsprache-Unterrichts am Vorstudienlehrgang Graz und um die Einstellung und Ausbildung neuer Lehrkräfte bemühte. Dies geschah einerseits durch die Einrichtung von Lehrveranstaltungen zur Lehrerausbildung Deutsch als Fremdsprache sowie die Einrichtung der Sommerkurse für Entwicklungshilfe-Stipendiaten der Republik Österreich, die es möglich machten, unterrichtspraktische Fertigkeiten zu erwerben. An diesen Kursen nahmen in manchen Jahren bis zu 80 Stipendiaten und 30 Lehrkräfte teil. Diese Symbiose von Theorie und Praxis führte sehr bald zur Ausbildung einer größeren Zahl von Lehrerinnen, die einerseits im Vorstudienlehrgang und
an anderen Institutionen Arbeit fanden und bald auch in den Lehrveranstaltungen zur Lehrerausbildung und in Fortbildungsseminaren in osteuropäischen Ländern tätig waren, wo nach der „Wende" kommunikative Methoden des Fremdsprachenunterrichts von großem Interesse waren. Ein ähnliches System der Verbindung von Sommerkurs und Lehrerausbildung bestand auch in Klagenfurt. Auch der Vorstudienlehrgang Wien erwies sich nicht zuletzt auf Grund seiner großen Zahl von Studierenden (etwa 700) und Lehrern als wichtige Institution für die Etablierung von Deutsch als Fremdsprache in Österreich. An der Universität Innsbruck wiederum bestanden enge Verbindungen zu Südtirol, da diese Universität zugleich als südtiroler Landesuniversität fungiert. Dies bewirkte ein deutliches Engagement in Richtung auf kontrastive Linguistik und Zweisprachigkeitsforschung. In Salzburg und Wien gab es zwar seit langer Zeit einen Sommerkurs, in Wien darüber hinaus auch Ganzjahreskurse in Form von „Internationaler Wiener Hochschulkurse". Diese wirkten jedoch nicht auf die Etablierung des Deutsch als Fremdsprache ein. 5.2. Die Gründung des Österreichischen Lehrerverbandes Deutsch als Fremdsprache Ein wichtiger Impuls für Deutsch als Fremdsprache in Österreich ging auch von der Gründung des Österreichischen Lehrerverbands Deutsch als Fremdsprache im Jahre 1984 aus, der 1985 seine erste Jahrestagung abhielt und sich seither kontinuierlich und mit Erfolg um die Belange von Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache bemüht. Ein erster Höhepunkt dieser Arbeit war die erfolgreiche Durchführung der IX. Internationalen Deutschlehrertagung in Wien 1989, die für Deutsch als Fremdsprache in Österreich den endgültigen Durchbruch brachte. Die ÖDaF-Mitteilungen sind das Kommunikationsorgan für die östereichische Fachszene. 5.3. Deutsch als Zweitsprache in den 80er Jahren Während sich die strukturelle Situation von Deutsch als Fremdsprache gegen Ende der 80er Jahre schrittweise verbesserte, stagnierte jene von Deutsch als Zweitsprache weitgehend. Das hat nicht unwesentlich mit der Trennung zwischen Pflichtschullehrer- und Gymnasiallehrerausbildung zu tun. Erstere
8. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in Österreich
erfolgt traditionellerweise an den Pädagogischen Akademien, ist schulpraktisch ausgerichtet und ist dem Unterrichtsministerium unterstellt, während Letztere an den Universitäten durchgeführt wird, vor allem theorieund wissensbezogen aufgebaut ist und im Wissenschaftsministerium ressortiert. Für jeden Schultyp (Volks-, Haupt-, Sonderschule und Mittelschule) ist eine eigene Lehramtsprüfung notwendig, so dass die gegenseitige Durchlässigkeit der Ausbildungssysteme so gut wie nicht gegeben ist, was die Zusammenarbeit der verschiedenen Lehrerausbildungsinstitutionen massiv erschwert. Der Kenntniserwerb im Bereich Interkulturelles Lernen und Deutsch als Zweitsprache wurde daher in die Lehrerfortbildungsinstitute verlegt, was von den bereits unterrichtenden Lehrern vielfach dankbar angenommen wurde. Das gilt auch für die Schulberatungsstelle für Ausländer in Wien und das Interkulturelle Zentrum am Pädagogischen Institut Wien, die Hilfestellungen anboten. Mit dem Studienjahr 1981/82 wurde an den Pädagogischen Akademien auch das Wahlfach „Interkulturelles Lernen" eingerichtet, das künftigen Lehrern die Möglichkeit geben sollte, sich im Rahmen ihrer Ausbildung zum Pflicht- oder Sonderschullehrer auf den Unterricht mit nicht deutschsprachigen Schülern vorzubereiten. Dieses Fach besteht bis heute und umfasst Lehrveranstaltungen im Ausmaß von insgesamt 12 Semesterwochenstunden, die auf zwei bis vier Semester verteilt werden. Es ist für Pflichtschullehrer nach wie vor die einzige Möglichkeit, fremdsprachendidaktische Kenntnisse und Verfahren zur Integration nicht deutschsprachiger Kinder im Rahmen der regulären Ausbildung an Pädagogischen Akademien zu erwerben. Sowohl der Umfang der Ausbildung als auch der Charakter eines freiwilligen Zusatzfaches bleiben jedoch problematisch, da es heute fast keine Pflichtschule ohne nicht deutschsprachige Kinder gibt. In den Schulen selbst gab es Schwierigkeiten, die größer werdende Zahl von nicht deutschsprachigen Kindern in den Unterrichtsprozess zu integrieren. Dies hatte mit der großen Konzentration auf einige wenige städtische Ballungsgebiete wie Wien, Salzburg, Linz, Wels sowie den Großraum Feldkirch (Vorarlberg) zu tun. Das Bundesland Vorarlberg löste dieses Problem einfach, indem es die nicht deutschsprachigen Schüler doppelt zählte, die Höchstzahl der Schüler pro Klasse senkte und so eine relativ rei-
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bungslose Integration erreichte. Wesentlich problematischer war die Situation in Wien, wo der Ausländeranteil besonders groß ist und seit Mitte der 80er Jahre etwa 75% der in Österreich eingeschulten nicht deutschsprachigen Kinder zur Schule gehen. Der durchschnittliche Ausländeranteil an Pflichtschulen stieg dort von 12,9% (11 889 Schüler) im Schuljahr 1981/82 auf 31,1% (24763 Schüler) im Jahre 1992/93 (vgl. dazu Österreichisches Institut für Bildungsforschungs-Info 1/ 1993). Hinzu kommen noch hohe Konzentrationen innerhalb des Stadtgebiets selbst: In fünf Wiener Gemeindebezirken lag der durchschnittliche Anteil nicht deutschsprachiger Schüler bei 50% und darüber. Im selben Jahr besuchten insgesamt 55 000 Schüler nicht deutscher Muttersprache Österreichs Pflichtschulen, (davon allerdings nur 6858 die Unterstufe der Gymnasien), was durchschnittlich einem Anteil von 18% entspricht. Anfang der 80er Jahre wurden, besonders in Wien, daher in vermehrter Zahl so genannte „Begleitlehrer" eingestellt, die den Klassenlehrern helfen sollten, das Problem der Vermittlung von Deutschkenntnissen parallel zum regulären Unterricht zu lösen. Das wurde teilweise auch erreicht; eine große Untersuchung, die Mitte der 80er Jahre vom Institut für Höhere Studien zur Situation der Gastarbeiter durchgeführt wurde (vgl. Bauböck u. a. 1985, Fischer 1987), ergab jedoch, dass die schulischen Maßnahmen in keiner Weise adäquat waren. Am deutlichsten wurde dies am hohen Anteil ausländischer Kinder in Sonderschulen (in Wien durchschnittlich 40%), die eigentlich als spezielle Schulform für die Integration behinderter Kinder, nicht aber für das Nachholen von Sprachkenntnissen konzipiert war und im österreichischen Schulsystem stigmatisiert ist. Die Studie ergab außerdem, dass nur 24% der nicht deutschsprachigen Schüler einen Hauptschulabschluss in der vorgesehenen Zeit von neun Schuljahren erreichten, ein Drittel schloss die Schule mit einer um ein Jahr verkürzten und ein Viertel sogar mit einer um zwei Jahre verkürzten Schulbildung ab. Auch war der Anteil nicht deutschsprachiger Kinder im so genannten „2. Klassenzug" (bis Mitte der 80er Jahre) und später in den 2. und 3. Leistungsgruppen der Hauptschule extrem hoch (bis zu 70%, vgl. Fischer 1987), was überwiegend in der mangelnden und ineffizienten Vermittlung des Deutschen begründet war. Die Berufschancen solcherart „Ausgebildeter" waren entsprechend gering und führten
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
einerseits zur Einrichtung von Zusatzkursen der Arbeitsämter, andererseits nahmen die Klagen derart überhand, dass auch die Schulverwaltungen reagieren mussten und Anfang der 90er Jahre ein Reformschub eingeleitet wurde, der nicht zuletzt auch durch den enormen Zustrom an ausländischen Kindern in der Folge des Krieges in Ex-Jugoslawien notwendig wurde und zu einer Einrichtung und Neustrukturierung des Unterrichts mit nicht deutschsprachigen Kindern führte. Gegen Ende der 80er Jahre war die Situation von Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache in Österreich durch eine rasante Entwicklung und zahlreiche Maßnahmen und Aktivitäten gekennzeichnet, die in den vorangegangenen Jahren vorbereitet worden waren und jetzt zum Tragen kamen. 6.
Deutsch als Fremdsprache in den 90er Jahren
6.1. Die Folgen der „Wende" in Osteuropa Mit der „Wende" in Osteuropa beginnt auch die bislang letzte Entwicklungsphase von Deutsch als Fremdsprache in Österreich, die als Etablierungsphase charakterisiert werden kann und sowohl die Errichtung einer universitären Deutsch als Fremdsprache-Lehrerausbildung als auch die Einrichtung zweier Lehrkanzeln und einer Reihe weiterer Institutionen mit sich brachte. Im Deutsch als Zweitsprache-Bereich erfolgte die Fixierung des Bereichs „Interkulturelles Lernen" durch Zusatzlehrpläne und die Einführung zahlreicher neuer Unterrichtsmodelle. 6.2. Die Entwicklung von Deutsch als Zweitsprache in den 90er Jahren Die rechtliche Situation der Integration nicht deutschsprachiger Kinder blieb bis 1992 unbefriedigend, da erst in diesem Jahr der Zusatzlehrplan „Deutsch für Kinder mit nicht deutscher Muttersprache" eingeführt und außerdem über eine Reihe neuer und positiver Gesetzesbestimmungen klare Regelungen für die Integration ausländischer Kinder geschaffen wurden. Die stark ansteigende Zuwanderung in der Folge des Jugoslawienkrieges und europaweiter Flüchtlings- und Migrantenströme zwang die Schulbehörden zu Integrationsmaßnahmen. Die stark ansteigenden Zahlen nicht deutschsprachiger Schüler in allen Schultypen und auf allen Schulstufen machten ein Abgehen vom zuvor
praktizierten „Gastarbeiter"-modell notwendig, das so tat, als ob die nicht deutschsprachigen Kinder lediglich ein vorübergehendes „Problem" darstellten. Deutlichstes Indiz dafür war die bis zum Jahre 1992 gültige Rechtslage, derzufolge alle Einschulungsmaßnahmen nicht deutschsprachiger Schüler als Schulversuch eingerichtet werden mussten und die Anzahl der in diesem Rahmen eingeschulten Kinder 10% der Gesamtzahl aller Schüler nicht überschreiten durfte (was zuletzt allerdings ignoriert wurde). Ab 1992 wurden diese Schulversuche in das Regelschulwesen übertragen (vgl. Satzke/Antoni/ Seitz/Reumüller 1992) und ein Lehrplanzusatz „Interkulturelles Lernen" eingeführt, der dieses zum allgemeinen Unterrichtsprinzip erhob und auch die Förderung der Muttersprache^) verankerte. Wesentlich ist, dass dieser Zusatzlehrplan lediglich sehr allgemein formulierte inhaltlich-diaktische und lernorganisatorische Grundlagen und Rahmenbedingungen definierte, nicht aber bestimmte Modelle festlegte. Letzere sollten durch autonome Entscheidungen der Schulen bzw. eigene Erlasse der jeweiligen Bundesländer umgesetzt werden. Weiters wurde ein bundeseinheitliches Förderausmaß festgelegt, das 0,83 Stunden pro außerordentlichem Schüler und Woche und 0,33 Stunden pro ordentlichem Schüler betrug. Ein akzeptables Ausmaß an zusätzlichem Deutschunterricht für ein nicht deutschsprachiges Kind kam im Rahmen dieses Systems allerdings nur zustande, wenn eine ausreichende Anzahl von Kindern in einer Schule vorhanden war und dadurch der Einsatz einer zusätzlichen Lehrkraft möglich wurde. Dies war an Wiener Schulen auf Grund des hohen Ausländeranteils durchgehend der Fall, nicht jedoch in den ländlichen Gebieten der anderen Bundesländer. Während in Wien häufig das Modell der „Integrativen Ausländerbetreuung" mit Team-teaching angewendet wurde, das bei einem mehr als 50%igen Ausländeranteil pro Schule und Woche sogar bis zu 18 Stunden Deutschunterricht zusätzlich ermöglichte (Fahnl 1995), waren in den nicht-städtischen Gebieten meistens Begleitlehrer für den IKL-Unterricht tätig, die als eine Art moderner Wanderlehrer bis zu sechs Schulen betreuten und oft weite Anfahrtswege in Kauf nehmen mussten. Das Fehlen von Empfehlungen bzw. Festlegungen von Unterrichtsmodellen für die Einschulung nicht deutschsprachiger Pflichtschulkinder entpuppte sich damit nicht als Gestaltungsmöglichkeit innerhalb der
8. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in Österreich
Schulautonomie, sondern als Lücke in einem sonst zeitgemäßen und fortschrittlichen Lehrplan. Der Versuch, dieses Manko abzugleichen und in der Steiermark einen Rahmenplan für den Unterricht mit nicht deutschsprachigen Kindern einzuführen, der in Städten interkulturelle Schwerpunktschulen und zeitlich begrenzte, einleitende Deutsch-Intensivkurse vorsah, scheiterte an der Schulbürokratie und an Lehrern, die meinten, darin ein Segregationsmodell zu erblicken: Dies trotz der Tatsache, dass dieses Modell mit Erfolg an einer Schule mit hohem Ausländeranteil erprobt wurde und das Wiener Modell „Integrative Ausländerbetreuung" im Kern dieselben Maßnahmen setzte. Tatsächlich setzte sich in Bezug auf die Formen der schulischen Ausländerintegration in Österreich eine Gruppe von Didaktikern durch, die im gemeinsamen Leben von deutschsprachigen und nicht deutschsprachigen das oberste Ziel sah, um Segregation zu vermeiden. Dieser an sich richtige Ansatz wurde jedoch durch die schulische Praxis widerlegt: Bei einem geringen Ausländeranteil kommt durch die ProKopf-Wochenstundenanzahl nur eine niedrige Zahl zusätzlicher Deutschstunden und damit eine viel zu geringe Förderung des Zielsprachenlernens zustande, die auch durch die ständige Anwesenheit unter deutschsprachigen Schülern nicht ausgeglichen werden kann. An Schulen mit hohem Ausländeranteil (besonders an städtischen Hauptschulen) und in den dritten Leistungsgruppen ist hingegen der umgekehrte Effekt festzustellen: Die weitgehende Abwesenheit deutschsprachiger Schüler entzieht dem gemeinsamen sozialen und sprachlichen Lernen die notwendige andere Hälfte und wird somit unmöglich. Derzeit ist nicht zuletzt auf Grund von Sparmaßnahmen im Bildungsbereich keine Verbesserung der Situation oder eine gesetzliche Lösung der Probleme in Sicht. Das Herausnehmen der nicht deutschsprachigen Schüler aus dem Unterricht und der stundenweise unterrichtsparallele Deutschunterricht mit Begleitlehrern wird daher in den nächsten Jahren auch weiterhin das am häufigsten angewendete Modell der Integration ausländischer Kinder in Österreich sein. Nicht unerwähnt darf allerdings bleiben, dass erfolgreiche Versuche zur zweisprachigen Alphabetisierung durchgeführt und in einer größer werdenden Zahl von Schulen bilinguale Unterrichtsformen eingeführt wurden. Zur Positivseite gehört auch, dass muttersprachlicher Unterricht in Türkisch und den Spra-
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chen Ex-Jugoslawiens möglich ist und in der Regel gut angenommen wird. Damit wurden gegenüber der Situation in den 80er Jahren erhebliche Fortschritte im Bereich Deutsch als Zweitsprache in Österreich erzielt, doch bestehen unzweifelhaft noch schulorganisatorische Defizite (vgl. Gauß u. a. 1994; 1995). Insgesamt ist jedoch durch eine intensive Lehrerfortbildung eine starke Sensibilisierung der Schulen für die Belange der nicht deutschsprachigen Kinder festzustellen. Ein nach wie vor offenes Defizit bleibt die Verankerung der Ausbildung zum interkulturellen Lehrer als fester Bestandteil jeder Pflichtschullehrerausbildung, dem jedoch Kostengründe entgegengehalten werden. 6.3. Die Entwicklung von Deutsch als Fremdsprache in den 90er Jahren Insgesamt verlagern sich die Deutsch als Fremdsprache-Aktivitäten mit Beginn der 90er Jahre immer mehr nach Graz und Wien, was ursächlich mit den dort errichteten Lehrkanzeln zusammenhängt. Besonders in Graz war es durch das Engagement einiger Kommissionsmitglieder, die den Vorstudienlehrgang leiteten, im Zusammenspiel mit der Germanistik zur Einstellung neuer Lehrerinnen gekommen, die im Rahmen der 1983 gegründeten „Arbeitsgruppe Deutsch als Fremdsprache" nach und nach eine Ausbildung bekamen. Der Hochschullehrgang Deutsch als Fremdsprache setzte die Arbeit der Arbeitsgruppe Deutsch als Fremdsprache nahtlos fort und bot eine Ausbildung im Umfang von 27 Semesterwochenstunden an Pflicht- und weiteren zehn Semesterwochenstunden an Wahlfachveranstaltungen an. Innerhalb von nur zwei Jahren zählte der Hochschullehrgang 130 Studierende und 35 Lehrkräfte, von denen mehr als die Hälfte aus dem Ausland kam. Die primäre Zielrichtung ist nach wie vor die Ausbildung von Lehrern, die später als Auslandslektoren bzw. als Lehrer in Privatschulen und weiterführenden Schulen unterrichten. Schon 1990 wurde die Einrichtung von je einer Lehrkanzel für Deutsch als Fremdsprache in Wien und Graz bewilligt, da die Ereignisse in Osteuropa die Notwendigkeit für die universitäre Etablierung von Deutsch als Fremdsprache deutlich gemacht hatten. Die Besetzung erfolgte 1993 (Wien) bzw. 1995 (Graz). Dies setzte zweifelsohne den positiven Schlusspunkt unter die gut 15jährigen Bemühungen um die Etablierung von Deutsch als Fremdsprache an Österreichs
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
Universitäten (vgl. Krumm 1994). Die Universitäten Graz und Wien sind heute im Wesentlichen auch die Zentren mit den meisten Aktivitäten und dem größten Angebot von Lehrveranstaltungen zur Lehrerausbildung. Auch in Wien werden Lehrveranstaltungen zur Lehrerausbildung angeboten, die als Wahlfacher bzw. Studienschwerpunkte innerhalb eines regulären Germanistikstudiums fungieren. Nicht zuletzt deshalb werden, von Wien ausgehend, Versuche unternommen, im Rahmen des Germanistikstudiums einen Studienzweig Deutsch als Fremdsprache zu etablieren. Die Zahl der Lektorenstellen geht inzwischen deutlich zurück. Unmittelbar nach der „Wende" waren allein in Osteuropa 40 neue Stellen geschaffen worden, so dass 1995 mit insgesamt 170 Lektoren ein Höchststand erreicht wurde. Mittlerweile sind diese Stellen in den angrenzenden Reformländern teilweise wieder abgebaut, die Gesamtzahl der Lektorenstellen ist auf etwa 130 gekürzt worden. 6.4. Neugründungen von Deutsch als Fremdsprache-Vermittlungsinstitutionen Als wesentlich für die Etablierung von Deutsch als Fremdsprache in Österreich erwies sich, dass es in den Jahren 1991-1993 im Umkreis der drei für die Auslandskultur zuständigen Ministerien zur Gründung einer Reihe von wichtigen Institutionen kam. Dazu gehören der Verein „KulturKontakt", der sich intensiv um die Lehrerfortbildung in Osteuropa kümmert, insgesamt 12 Bildungsbeauftragte in ebensoviele Länder entsandte und in zwei Jahren (1995 und 1996) nicht weniger als 450 Projekte (viele davon auch in anderen Bereichen als Deutsch als Fremdsprache) durchführte. Weiters wurde die „Koordinationsstelle für bilinguale Schulen" gegründet, die sich vor allem um die zahlreichen bilingualen Schulen bemüht, die in den letzten Jahren in den Nachbarländern entstanden sind. Das „Interkulturelle Zentrum" wiederum versucht Aufklärungsarbeit im Inland zu betreiben und Schulen mit Materialien und Referenten zum interkulturellen Lernen zu versorgen sowie den Schüleraustausch zu fördern. Es kam auch zur Gründung dreier österreichischer Schulen in Budapest, Bratislava und Prag sowie zu einer starken Ausweitung der Entsendung österreichischer Lehrer in Schulen der Nachbarländer. Schließlich lässt sich eine starke Zunahme der Zahl von Lehrerfortbildungsseminaren feststellen, die vor allem von der Abteilung
„Kultur und Sprache" des Unterrichtsministeriums eingerichtet wurden und mehrwöchige Kurse von Lehrergruppen aus verschiedenen Ländern umfasst, um Österreich in dieser Zielgruppe sprachlich, kulturell und landeskundlich besser bekannt zu machen. Auch das vom Europarat in Graz eingerichtete „Europäische Fremdsprachenzentrum" hängt mit dieser Gründerphase zusammen. 6.5. Das Österreichische Sprachdiplom und die Berücksichtigung des Österreichischen Deutsch Als bahnbrechender Schritt ist jedoch die Erstellung des „Östereichischen Sprachdiploms" anzusehen, das 1994 vorgestellt wurde. Es wird mittlerweile an über 40 Prüfungszentren eingesetzt und ist insofern paradigmenbildend, als damit der Plurizentrizität des Deutschen konsequent Rechnung getragen und den nationalen Varietäten ein fester Stellenwert im Deutsch als Fremdsprache-Unterricht eingeräumt wird. Auch hat es im Testformat zahlreiche kommunikative Prinzipien des Prüfungsdesigns verwirklicht und diesbezügliche Forderungen des 1995 publizierten „Framework" des Europarats vorweggenommen. Gerade die Frage, welches Deutsch denn in Österreich im Deutsch als FremdspracheUnterricht zu vermitteln ist, stellte sich angesichts der Existenz österreichischer Besonderheiten als zentral heraus. Sie wurde jedoch im Sinne des plurizentrischen Konzepts und einer Didaktik des Deutschen plurizentrischer Sprache beantwortet, was zweifelsohne einen Richtungswechsel bedeutet, nachdem sich noch 1992 leitende Beamte der Kulturabteilung gegen die Einbeziehung des Österreichischen Deutsch in die Auslandskulturarbeit ausgesprochen hatten. Die Frage des Österreichischen Deutsch und der Plurizentrizität des Deutschen wird innerhalb der österreichischen Germanistik nach wie vor heftig diskutiert (vgl. dazu Muhr/SchrodtAViesinger 1995, Muhr/Schrodt 1997), doch besteht über die Berechtigung des plurizentrischen Konzepts weitgehende Einigkeit, da sich die unterschiedliche sprachliche Realität der deutschsprachigen Länder einfach nicht ignorieren lässt. Mit dem Österreichischen Sprachdiplom ist ein wichtiger Schritt zur Anerkennung dieser Realität getan, da dessen Prüfungen stets Texte aus den drei deutschsprachigen Staaten enthalten. Mittlerweile wurde das Prüfungssystem auch um eine Wirtschaftssprachprüfung ergänzt, so dass
8. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in Österreich
mit dem Österreichischen Sprachdiplom ein umfassendes Prüfungssystem bis zur Mittelstufe zur Verfügung steht. Die letzte der Neugründungen ist das „Österreich Institut", das 1996 die Durchführung der Sprachkurse an den österreichischen Kulturinstituten und einer Reihe anderer Institutionen übertragen bekam und damit auf österreichischer Seite (in ungleich kleinerem Rahmen) Funktionen erfüllt wie das Goethe-Institut in Deutschland. Damit kann die institutionelle Etablierung des Faches Deutsch als Fremdsprache in Österreich als vorerst abgeschlossen betrachtet werden.
7.
Offene Fragen und Ausblick
Ein wesentliches Problem besteht derzeit noch in der Aufteilung der Kompetenzen für die Auslandskulturarbeit auf drei Ministerien (Außen-, Wissenschafts- und Unterrichtsministerium). Schmerzlich bemerkbar macht sich das Fehlen eines klaren Konzepts für die Auslandskulturarbeit. Die organisatorische und inhaltliche Zersplitterung hat nicht zuletzt dort eine ihrer Ursachen. Vielfach bleibt ihre Formulierung einzelnen Fachabteilungen von Ministerien vorbehalten. Offen ist auch die Frage, ob die Deutsch als FremdspracheLehrerinnenausbildung in Form eines Studienzweigs im Rahmen der Germanistik etabliert werden soll. Im Grunde gelten dieselben Rahmenbedingungen wie 1987, als die Gesamtstudienkommission Germanistik ihre Beratungen abschloss. Ein völlig ungelöstes Problem ist auch das Fehlen österreichbezogener Deutschlehrwerke und adäquater Lehrmaterialien für den Deutsch als Zweitsprache-Unterricht. Insgesamt lässt sich feststellen, dass das Fach Deutsch als Fremdsprache heute in Österreich als etabliert und im Kontext der Germanistik als anerkannt anzusehen ist. Das ist angesichts der oft fruchtlosen Bemühungen in vorangegangenen Jahrzehnten nicht selbstverständlich und daher um so erfreulicher.
8.
Literatur in Auswahl
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9. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache und des Deutsch als Fremd- und Zweitsprache-Unterrichts in der Schweiz 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Einführung Zur Sprachensituation in der Schweiz Deutsch als Zielsprache Lehrerausbildung Lehrmittel in der Schweiz Zukunftsperspektiven Literatur in Auswahl
1.
Einführung
Die (auch deutschsprachige) Schweiz wird in einem etwas unpräzisen Sprachgebrauch zur Gruppe der deutschsprachigen Staaten gezählt. Sie nimmt aber darin eine Sonderstellung ein a) durch ihre Viersprachigkeit und b) durch den Stellenwert des Dialekts. Deutsch als eine der vier Landessprachen ist als Fremdsprache in den verschiedenen Schultypen und -stufen unterschiedlich repräsentiert (zur Situation des Deutschen in der Schweiz vgl. Art. 51). In der Fremdsprachendidaktik wird im Allgemeinen zwischen Fremd- und Zweitsprache unterschieden. Es gibt unterschiedliche Kriterien für diese Differenzierung, die
sich teilweise ausschließen. Die folgenden drei Kriterienpaare werden häufig zur Unterscheidung benutzt: 1. Natürlich erworben vs. institutionell gesteuert gelernt, also aus natürlichen Kommunikationssituationen sich ergebend im Gegensatz zu Lernen unter Einfluss bewusster, meist institutioneller Steuerungsmechanismen. 2. Lernen im Inland vs. Lernen im Ausland, d. h., im ersten Fall sind die Länder der Zielsprache Ausland, während sich der Lernende im zweiten Fall in einem deutschsprachigen Land befindet: Deutsch ist Umgebungssprache. 3. Eine dritte Differenzierung nennt Rosier unter Bezugnahme auf Edmondson/ House: „Zu diesen beiden Differenzierungen kann jedoch noch eine dritte treten, dann nämlich, wenn man fragt, ob die neue Sprache eine ,für das Leben (und Überleben) in einer bestimmten Gesellschaft unverzichtbare Rolle spielt'. Spielt die neue Sprache bei der Erlangung, Auf-
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9. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in der Schweiz
rechterhaltung oder Veränderung der Identität der Lernenden eine wichtige Rolle und ist sie unmittelbar kommunikativ relevant, dann bezeichnet man sie als ,Zweitsprache', ansonsten eher als Fremdsprache'." (Rosier 1994, 8) Deutsch als Fremdsprache wird üblicherweise gebraucht als Begriff für den sprachlichen Lerngegenstand Deutsch nicht deutschsprachiger Lernender, die institutionell gesteuert im Ausland Deutsch lernen und für die diese Sprache nicht unmittelbar kommunikativ relevant ist. Deutsch als Zweitsprache bezeichnet üblicherweise ebenfalls den sprachlichen Lerngegenstand Deutsch nicht deutschsprachiger Lernender, aber in deutschsprachiger Umgebung, eher ungesteuert, und die Sprache ist für sie unmittelbar kommunikativ relevant. Diese Unterscheidung ist für ein mehrsprachiges Land mit dem Deutschen als einer Landessprache problematisch, da es hier häufig zu Kontaktsituationen kommt, in denen die gelernte Fremdsprache sehr wohl kommunikativ relevant ist. Deutsch wird als Fremdsprache — ebenso wie Französisch und Italienisch - an Schweizerinnen und Schweizer vermittelt, die sich nicht im eigentlichen Sinne fremd sind. Deshalb spricht man in der Schweiz auch genauer von erster, zweiter etc. Landessprache, wobei unter erster Landes-
sprache die jeweilige Muttersprache verstanden wird. Wir werden uns in diesem Artikel dennoch an der eingebürgerten Unterscheidung orientieren, die ja schon im Titel gemacht wird, und schreiben im Folgenden Deutsch als Fremdsprache, wenn wir die an nicht deutschsprachige Schweizer vermittelte Sprache Deutsch meinen, und Deutsch als Zweitsprache, wenn sie an ausländische Personen vermittelt wird. 2.
Zur Sprachensituation in der Schweiz
2.1. Mehrsprachigkeit Die Schweiz ist als einziger der deutschsprachigen Staaten mehrsprachig und hat vier unterschiedliche Landessprachen: Deutsch, Französisch, Italienisch, Rätoromanisch. Daneben gibt es zahlreiche weitere Nicht-Landessprachen. Die vier Sprachgruppen der Schweiz leben in relativ homogenen Sprachgebieten, die durch Sprachgrenzen voneinander getrennt sind. Im Bereich der Alpen sind sie meist geografisch bedingt, im sogenannten Mittelland gilt dies nur teilweise. Wir unterscheiden im Folgenden die Deutschschweiz, die französischsprachige West- oder Welschschweiz (auch Romandie), die italienischsprachige
Tab. 9.1: Die grössten Hauptsprachengruppen der Schweiz Nicht-Landessprachen
Landessprachen absolut
in % der Gesamtbevölkerung
1. Spanisch 2. Südslawisch 3. Portugiesisch 4. Türkisch 5. Englisch 6. Albanisch 7. West- und Ostslawisch 8. Arabisch 9. Niederländisch 10. Skandin. Sprachen 11. Ungarisch 12. Griechisch 13. Rumänisch 14. Afrik. Sprachen 15. Finnisch Andere
116818 110270 93 753 61320 60786 35 853 17 823 17 721 11895 9 533 8491 7487 3 704 3 683 2411 52002
1.7 1.6 1.4 0.9 0.9 0.5 0.3 0.3 0.2 0.1 0.1 0.1 0.1 0.1 0.04 0.8
Total Nicht-Landessprachen
613 550
8.9
Quelle: Bundesamt für Statistik, Volkszählung 1990
absolut
in % der Gesamtbevölkerung
Deutsch Französisch Italienisch Rätoromanisch
4 374694 1 321 695 524116 39632
63.6 19.2 7.6 0.6
Total Landessprachen
6260137
91.1
1. 2. 3. 4.
110
II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
Südschweiz (Kanton Tessin und drei italienischsprachige Täler im Kanton Graubünden) und Romanischbünden (die Gebiete des Kantons Graubünden, in denen Rätoromanisch gesprochen wird). Sprachgruppen/Sprachgrenzen in der Schweiz
1. Französisch, 2. Deutsch, 3. Italienisch, 4. Rätoromanisch Sprachgruppen/Sprachgrenzen im Kanton Graubünden
la. Mehrheit Rätoromanisch, lb. Mehrheit Deutsch, 2. Italienisch, 3. Deutsch Abb. 9.1.
(Zu den verschiedenen Sprachregionen der Schweiz siehe Bickel/Schläpfer 1994 [alle Sprachregionen]; Haas 1988; Löffler 1997 [Deutschschweiz], Kolde/Näf 1996; Knecht/ Py 1997 [Westschweiz]; Lurati 1982; Bianconi 1995; Bischofsberger 1997 [italienischsprachige Schweiz]; Solèr 1997 [rätoromanische Schweiz].) Die Sprachgrenze Deutsch/Französisch bzw. Deutsch/Italienisch steht seit dem Spätmittelalter mehr oder weniger fest, diejenige zwischen Deutsch und Rätoromanisch hat sich in den vergangenen hundert Jahren deutlich zu Gunsten des Deutschen verschoben (Niederhauser 1997, 1837). Die Volkszählung
von 1990 bestätigte die Stabilität der Sprachgebiete Deutsch, Italienisch, Französisch auch für die jüngste Vergangenheit (vgl. Franceschini 1996). Einer der wichtigsten Gründe für die Stabilität der Sprachgrenzen ist das sogenannte Territorialprinzip. Es besagt, „daß auf einem Gemeinde- oder Kantons(teil)gebiet nur eine Sprache als Schul- oder Amtssprache gelten d a r f (Löffler 1997, 1855). Dabei dominiert das historische Element das statistische, d. h., die geschichtlich bedingte (sprachliche) Zusammensetzung einer Gemeinde kann nicht verändert werden, z. B. auch nicht durch Zuzug von Anderssprachigen (Haas 1988, 1367-69). 2.2. Sprachenpolitik In Artikel 116 der Bundesverfassung (dem sogenannten Sprachenartikel) wird die Viersprachigkeit der Schweiz festgehalten. Nach längerer Diskussion von Revisionsvorschlägen wurde in der Abstimmung vom 10. März 1996 die folgende Fassung beschlossen: 1. Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch sind die Landessprachen der Schweiz. 2. Bund und Kantone fördern die Verständigung und den Austausch unter den Sprachgemeinschaften. 3. Der Bund unterstützt Massnahmen der Kantone Graubünden und Tessin zur Erhaltung und Förderung der rätoromanischen und der italienischen Sprache. 4. Amtssprachen des Bundes sind Deutsch, Französisch und Italienisch. Im Verkehr mit Personen rätoromanischer Sprache ist auch das Rätoromanische Amtssprache des Bundes. Das Gesetz regelt die Einzelheiten (Bundesverfassung). Die mehrsprachige Schweiz muss besondere sprachpolitische Anstrengungen unternehmen, damit diese Mehrsprachigkeit erhalten werden kann. Grundziel einer schweizerischen Sprachenpolitik ist die Erhaltung der viersprachigen Schweiz. Als Teilziele, die in unserem Zusammenhang von Bedeutung sind, können wir festhalten: - Grundsätzliche Gleichberechtigung der vier schweizerischen Landessprachen, - Förderung der sprachlichen Vielfalt der Schweiz, - Vermeidung von Konflikten durch eine entsprechende Kulturpolitik: Erhaltung von Sprachgebieten, möglichst Wahrung der Stabilität von Sprachgrenzen, Wahrung des Sprachenfriedens,
9. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in der Schweiz
- Sicherstellung einer wirksamen Verständigung zwischen den vier Sprach- und Kulturgemeinschaften über eine ausreichende gegenseitige Beherrschung ihrer entsprechenden Standardsprachformen (nach: EDI 1989a, XIV-XV). Sprachpolitik wird in der Schweiz wegen der Mehrsprachigkeit primär als innenpolitische Angelegenheit betrachtet, anders als ζ. B. im Vergleich mit Österreich und der Bundesrepublik, deren Sprachpolitik auch auf die Förderung und Verbreitung der deutschen Sprache im Ausland abzielt. 2.3. Die deutsche Sprache in der Schweiz 2.3.1. Deutschschweiz Auch wenn das Deutsche in der Schweiz Thema eines besonderen Handbuchartikels ist (vgl. Art. 51), bedarf es zum Verständnis der Entwicklung des Faches Deutsch als Fremdsprache einiger grundlegender Informationen. In der Bundesrepublik Deutschland und auch in Österreich unterscheiden wir zwischen geschriebener und gesprochener Standardsprache bzw. Schrift- und Umgangssprache. Im süddeutschen und österreichischen Raum gibt es ein Kontinuum zwischen den verschiedenen Dialekten und der Umgangssprache, aber die Umgangssprache ist im Allgemeinen nicht identisch mit dem Dialekt. In der Deutschschweiz hingegen besteht eine Diglossiesituation: Geschrieben wird Standarddeutsch (genauer heißt es: geschriebenes Schweizerhochdeutsch), gesprochen wird in sehr vielen Kommunikationssituationen Dialekt. Nach Kolde (1981) wird häufig von .medialer Diglossie' gesprochen: „die Wahl der einen oder andern Sprache hängt heute fast nur noch vom Ausdrucksmedium ab" (Haas 1982, 106; zur Problematik des Begriffs »mediale Diglossie' vgl. Werlen 1998). Im Alltag nennen die Bewohner der Deutschschweiz die gesprochene und geschriebene Standardsprache (das Schweizerhochdeutsch) meist,Schriftdeutsch'. Seit einigen Jahren gibt es Auflösungserscheinungen der klaren Diglossiesituation. Die Mundart dringt stärker in Domänen ein, die vorher eindeutig der Hochsprache vorbehalten waren, dies sowohl im schriftlichen als auch im mündlichen Ausdruck. Als Beispiel hier z. B. dialektale Werbung, E-Mails (als schriftliches Medium stark an der gesprochenen Sprache orientiert; zur komplexen Situation Mundart-Standardsprache vgl. Haas 1986).
111
2.3.2. Westschweiz und italienischsprachige Schweiz Für das Fach Deutsch als Fremdsprache in den nicht deutschsprachigen Landesteilen ist die Diglossie-Situation oft problematisch. In den Empfehlungen der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) für Deutsch als Fremdsprache in der französischsprachigen Schweiz wird explizit festgehalten: „Die spezielle Lage der deutschsprachigen Schweiz mit ihrer typischen Mundart-Schriftsprache-Situation soll miteinbezogen werden" (EDK 1987, 15; für die Situation bis 1985 siehe Zellweger 1987; Merkt 1989 a). Dennoch erwerben die Lernenden von Deutsch als Fremdsprache bzw. Deutsch als Zweitsprache häufig eine Sprachform, die in der Schweiz von Sprechern der Muttersprache in Alltagssituationen selten verwendet wird. Die besondere Situation der medialen Diglossie, zusammen mit einem Vordringen der Dialekte in immer mehr Domänen, führt innerhalb der Schweiz häufig zu Irritationen. Dies einerseits bei den Westschweizern und Tessinern, andererseits aber auch bei deutschen Migranten. Die Gründe liegen u. a. in den unterschiedlichen Einstellungen und Normen, die aus dem System der jeweiligen Muttersprache übernommen werden. In sprachpolitischen Diskussionen wird daher oft der Mundartgebrauch in der Deutschschweiz als Hauptgrund für Verständigungsprobleme zwischen Deutsch- und Westschweiz genannt. In der Westschweiz sind die Mundarten (patois) schon seit dem 19. Jh. praktisch ausgestorben. Diese Tatsache und die Überbetonung des Normcharakters der Sprache in der Schule schlagen sich in deutlich negativen Spracheinstellungen gegenüber dem Mundartgebrauch in der Deutschschweiz nieder. Diese Einstellungen beziehen sich auch oft generell auf das Deutsche in der Schweiz. Die italienischsprachige Schweiz hingegen kennt Mundarten. Während vor einigen Jahrzehnten noch der Gebrauch der Mundart vorherrschte, ist in den letzten Jahrzehnten ihre Verwendung deutlich auf privatere Domänen eingeschränkt. Zwar haben die Mundarten (im Gegensatz zur Westschweiz) eine starke Lebenskraft bewahrt, sie geniessen aber in der Einstellung der Sprecher kein hohes Ansehen (im Gegensatz zur Deutschschweiz; Lurati 1982). Im Gegensatz zur Westschweiz sind die Einstellungen in der italienischsprachigen Schweiz gegenüber dem
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
Mundartgebrauch in der Deutschschweiz wesentlich weniger negativ. Nicht der Mundartgebrauch an sich wird kritisiert, sondern die breite Verwendung im Alltag. 2.4. Sprachen im Schweizer Schulsystem Ohne hier auf das äusserst komplexe Schweizer Schulsystem genauer eingehen zu können, müssen jedoch einige charakteristische Grundzüge für den (Fremd-)Sprachunterricht skizziert werden. In der betont föderalistischen Schweiz liegt die Kulturhoheit bei den einzelnen Kantonen, das heißt, diese tragen die Verantwortung für den Unterricht während der obligatorischen Schulzeit. Es gibt kein zentrales Kultusministerium, sondern nur einen Zusammenschluss der kantonalen Erziehungsdirektoren zu der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK). 1970 haben die Kantone einem „Konkordat über die Schulkoordination" zugestimmt und damit der Förderung einer effektiven Koordination des Schulwesens. Die Reform des Fremdsprachenunterrichts (bzw. des Unterrichts der Landessprachen) in der Schweiz brachte zumindest zwei Ergebnisse: Sie führte nach 1975 u. a. dazu, dass mit dem Fremdsprachenunterricht in allen Kantonen in der 3., 4. oder 5. Primarklasse begonnen wird (sogenannter Frühbeginn) und dass der Unterricht weitgehend auf kommunikative Lernziele ausgerichtet wurde (vgl. EDK 1975): In den romanischsprachigen Gebieten des dreisprachigen Kantons Graubünden wird in den ersten drei Jahren rein rätoromanisch unterrichtet. Ab der 4. Primarklasse gibt es dann zwei Stunden Deutschunterricht, und ab der 5. Primarklasse werden einzelne Fächer auf Deutsch unterrichtet. Da die Begriffsvielfalt eher verwirrt, sprechen wir im Folgenden vereinfachend nur
noch von LI (= erste Landessprache, Muttersprache), L2 (= zweite Landessprache) und L3 (= weitere Fremdsprache bzw. dritte Landessprache). Die Schweiz kennt eine zumeist sechsjährige Primarstufe, an die sich eine meist dreijährige Sekundarstufe I anschliesst. Mit diesen insgesamt neun (gelegentlich auch zehn) Jahren ist die obligatorische Schulzeit abgedeckt. Die Sekundarstufe II dauert derzeit noch einmal vier Jahre und schliesst mit der Matura ab. In den meisten Kantonen der Westschweiz und im Tessin wird in der vierten Primarklasse mit dem L2-Unterricht begonnen: in der Westschweiz mit Deutsch. In der ersten Klasse der Sekundarstufe I beginnt dann der Unterricht in L3. Im Tessin war bis 1997 Französisch als L2 und Deutsch als L3 obligatorisch, Englisch konnte also erst als dritte Fremdsprache gewählt werden. Seit 1997 ist in diesem Kanton die Wahl von L2 und L3 relativ frei: Als L2 kann zwischen Deutsch und Französisch gewählt werden, entsprechend kann dann für L3 zwischen Deutsch, Französisch, Englisch und einer weiteren Sprache entschieden werden. Erste Erfahrungen zeigen, dass trotz dieser Freiheit in vielen Fällen Deutsch (und Französisch) gewählt werden. Die neue Maturitäts-Anerkennungs-Verordnung (MAV), die 1995 in Kraft trat, sieht eine Verkürzung der Sekundarstufe II auf drei Jahre vor. Die MAV hat ausserdem spezifische Konsequenzen für das schulische Sprachenlernen: a) Neben den Erwerb von Kenntnissen (Wortschatz, Grammatik) tritt gleichzeitig die Betonung von Fähigkeiten und Einstellungen (Kompetenzen). b) Zweisprachige Abschlüsse werden möglich.
Tab. 9.2: Zum Fremdsprachenlernen an Schweizer Schulen 1. Landessprache
Deutschschweiz Westschweiz Tessin/Italienischbünden Romanischbünden
1. Fremdsprache 2. Landessprache
2. Fremdsprache oder 3. Landessprache
Im Weiteren LI
Im Weiteren L2
Im Weiteren L3
Deutsch
Französisch
Englisch oder Italienisch
Französisch
Deutsch
Englisch oder Italienisch
Italienisch
Französisch
Deutsch
Rätoromanisch
Deutsch
Französisch
9. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in der Schweiz
Die Kantone werden ausserdem aufgefordert, anstelle der bisherigen zweiten Landessprache mindestens zwei Landessprachen anzubieten (Babylonia 3, 1996). 3.
Deutsch als Zielsprache
Ich verwende den Begriff Deutsch als Zielsprache als Oberbegriff für Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache. Deutsch als Zielsprache richtet sich in der Schweiz an drei unterschiedliche Zielgruppen: 1. Eine der drei anderssprachigen Gruppen der Schweizer Bevölkerung (Deutsch als L2 oder L3). Diese Zielgruppe ist spezifisch für die Schweiz. 2. Ausländische Lernende, die sich zum Deutschlernen in der Deutschschweiz aufhalten. 3. Ausländische Bewohner der Schweiz (Deutsch als Zweitsprache). 3.1.
Deutsch als Fremdsprache
3.1.1. Allgemein Von Deutsch als Fremdsprache im Sinne von L2 bzw. L3 kann man nur in der nicht deutschsprachigen Schweiz sprechen. Es gelten dafür gewisse Gemeinsamkeiten, die sich von den Bedingungen für Deutsch als Zweitsprache deutlich unterscheiden: a) verhältnismässig homogenes Zielpublikum (gleiche oder vergleichbare alters-, kultur- und sprachspezifische Voraussetzungen), b) Förderung der interkulturellen Verständigung in einem mehrsprachigen Land, c) institutionelle Vermittlung bei beschränktem Kontakt mit der anderen Sprachwirklichkeit, d) kontrastive, kommunikative und kognitive Lehrmethoden mit teilweiser Ausrichtung auf schriftliche Dokumente (nach Merkt 1994, 46). Die Situation des Deutschunterrichts in den obligatorischen Schulen der Westschweiz und des Tessins bis 1989 wird konzentriert zusammengefasst in Merkt 1989a. Dokumentiert sind die Bemühungen um eine Koordination des Deutschunterrichts, die Stundendotierungen für Deutsch in den verschiedenen Kantonen und die Empfehlungen der Erziehungsdepartemente, die Treffpunkte zwischen obligatorischer und postobligatorischer Schulzeit (vgl. EDK 1987).
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In die starre Regelung der Abfolge der Fremdsprachen an Schweizer Schulen ist in den letzten Jahren Bewegung gekommen: Sensibilisert durch den Versuch des Kantons Zürich, Englisch statt Französisch als L2 anzubieten, beauftragte die EDK eine Expertengruppe, ein „Sprachkonzept Schweiz" auszuarbeiten. Durch dieses soll eine flexiblere Sprachenwahl an den Schulen möglich werden, wobei die Bedürfnisse eines mehrsprachigen Landes unter ausdrücklichem Bezug auch auf Migrationssprachen berücksichtigt werden müssen (EDK 1998). 3.1.2. Kindergarten Auch in der Schweiz finden seit einigen Jahren Versuche mit mehrsprachigem Unterricht statt. Daher gibt es inzwischen mehrere Initiativen, bei denen schon im Kindergarten mit „Sachunterricht" in der anderen Sprache begonnen wird (ζ. B. in den mehrsprachigen Kantonen Freiburg, Wallis, Bern und Graubünden, aber auch in verschiedenen privaten Kindergärten in Zürich und Basel). Es handelt sich hierbei nicht um Sprachunterricht, bei dem die andere Sprache als Fach unterrichtet wird, sondern die Kindergarten-Aktivitäten geschehen in der anderen Sprache, Deutsch ist also Immersionssprache (vgl. Vetter 1993; EDK 1993; Brohy 1996). 3.1.3. Primarschule Wie schon kurz angedeutet, beginnt der Deutsch als Fremdsprache-Unterricht in der Westschweiz meist in der vierten Primarklasse. Von der Idee her ist dabei an eine spielerische Sensibilisierung für die andere Landessprache ohne Notendruck gedacht. In der Praxis ist dies freilich inzwischen oft nicht mehr der Fall. Die schon unter Kindergarten erwähnten Versuche mit einem Immersionsunterricht haben dazu geführt, dass eine Reihe von Projekten im Primarbereich mit Deutsch als Fremdsprache in der ersten Klasse beginnen bzw. an den Immersionsbeginn im Kindergarten anschließen (z. B. im Wallis; zu Immersionsversuchen in der Schweiz vgl. Merkt 1993; Brohy 1996; zum Immersionsunterricht in Sierre/Siders: Vetter 1993). Eine positive Sonderrolle spielt hier der Kanton Graubünden, wo in den Gebieten Romanischbündens schon seit Jahrzehnten Immersionsunterricht praktiziert wird, ohne diesen jedoch so zu nennen. Nachdem der Kindergarten rein Romanisch geführt wird, ist dann die Unterrichtssprache durchgehend
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
Tab. 9.3: Stundentafeln der (deutsch-, italienisch- und romanischsprachigen) Volksschulen in Graubünden Deutschsprachiger Schultypus
Italienischsprachiger Schultypus
Romanischsprachiger Schultypus
Kindergarten
Kindergartensprache: Deutsch (Assimilation fremdsprachiger Kinder)
Kindergartensprache : Italienisch (Assimilation fremdsprachiger Kinder)
Kindergartensprache: Romanisch (Assimilation fremdsprachiger Kinder)
Primarschule 1. bis 6. Schuljahr (=SJ)
Unterrichtssprache: • Deutsch Zweitsprache (obligat.): • Italienisch (4.-6. SJ) und/oder • Romanisch (4.-6. SJ bzw. 1.-6. SJ)
Unterrichtsprache: • Italienisch Zweitsprache (obligat.): • Deutsch (4.-6. SJ)
Unterrichtssprache: • Romanisch Zweitsprache (obligat.): • Deutsch (4.-6. SJ)
Realschule und Sekundärschule 7. bis 9. Schuljahr (=SJ)
Unterrichtssprache: • Deutsch Zusätzlich obligatorisch: • Italienisch oder • Französisch Fakultativ: • Italienisch (7./8./9. SJ) • Romanisch (7./8./9. SJ) • Französisch (8./9. SJ) • Englisch (8./9. SJ)
Unterrichtssprache: • Italienisch Zusätzlich obligatorisch: • Deutsch • Französisch
Unterrichtssprache : • Deutsch Zusätzlich obligatorisch: • Romanisch • Italienisch oder • Französisch Fakultativ: • Deutsch (8./9. SJ) • Französisch (8./9. SJ) • Englisch (8./9. SJ)
Fakultativ: • Französisch (8./9. SJ) • Deutsch (8./9. SJ) • Englisch (9. SJ) • Latein (7./8./9. SJ)
(aus: Babylonia 3 (1998) 49)
Romanisch. Mit Beginn der vierten Primarklasse kommt dann Deutsch als erste Fremdsprache hinzu. Ab dem 7. Schuljahr wechselt dann die Unterrichtssprache ins Deutsche, ausser in Biologie und im Fach Romanisch. „Für die deutsch- und anderssprachigen Schülerinnen bedeutet dies eine frühe totale Immersion ins Romanische. [...] Für die romanischsprachigen Schülerinnen bedeutet dies eine späte Immersion ins Deutsche." (Carigiet 1998, 47) Französisch wird dann ab der 7. Klasse als L3 gelernt, Italienisch und Englisch sind bisher nur Wahlfacher (Carigiet 1998). 3.1.4. Sekundarstufe I In den cycles d'orientation, den Schulen der Sekundarstufe I in der Romandie, wird der Unterricht Deutsch als L2 auf der Primarschule aufbauend weitergeführt. Dies geht nicht immer ganz problemlos ab, da für den Unterricht auf der höheren Stufe häufig andere Prinzipien zu Grunde gelegt werden. Die eher spielerische Sensibilisierung der Primarschule weicht zunehmend eher kommunikativ-kognitiven Ansätzen. Dazu kommt selbstverständlich auch der stärkere Notendruck.
In der italienischsprachigen Schweiz beginnt auf dieser Schulstufe der Unterricht in Deutsch als L3 (früher obligatorisch, inzwischen als Wahlmöglichkeit). (Flügel 1992) 3.1.5. Sekundarstufe II Zur Sekundarstufe II gehören in der Schweiz: a) die gymnasialen Maturitätsschulen, b) Berufsschulen, die zur sogenannten Berufsmaturität führen (Ergänzung der Berufslehre, die zum prüfungsfreien Übertritt in das 1. Semester eines Fachhochschullehrgangs berechtigt), c) die kantonalen Lehrerseminare (Ausbildung zu Lehrerinnen und Lehrern auf den Niveaus Kindergarten und Primarstufe; der entsprechende Abschluss gilt zusammen mit mehrjähriger Berufspraxis als Maturaäquivalent). Die kantonalen Lehrerseminare werden derzeit in Fachhochschulen verwandelt, was deutliche Veränderungen nach sich ziehen wird. (Zum Deutschunterricht in der Westschweiz im 20. Jh. vgl. das entsprechende Kapitel in: von Flüe-Fleck 1994, 101-120; zum Tessin: Flügel 1992)
9. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in der Schweiz
3.1.6. Privatschulen Wie in anderen Staaten existiert in der Schweiz eine ganze Reihe von Privatschulen. Was den Fremdsprachenunterricht in der Schweiz betrifft, haben sie in den vergangenen Jahren oft eine Pionierrolle übernommen: Wenn man vom langjährigen zweisprachigen Unterricht in Romanischbünden absieht, so waren es Privatschulen, die ζ. B. mit Immersionsunterricht experimentiert haben (vgl. Moser 1993). 3.1.7. Universitäten Die Germanistik an den Westschweizer Universitäten (Lausanne, Genf, Neuenburg) ist nach klassischem Muster ausgerichtet, wobei sie dem Umstand kaum Beachtung schenkt, „dass die meisten Absolventen eines Studiums der Germanistik als Deutschlehrer berufstätig werden" (Merkt 1990/1994, 49). Einem Bereich Deutsch als Fremdsprache wird, ähnlich wie bei der Auslandsgermanistik, eine ,Zubringerfunktion' zuerkannt, ein eigentlicher Fachbereich mit eigenständiger Funktion wird aber dabei erst selten wahrgenommen. Da die Fertigkeiten in der Fremdsprache nach der Matura im Allgemeinen für ein Germanistikstudium nicht ausreichend sind, beinhalten studienbegleitende Deutsch als Fremdsprache-Kurse Übersetzungsübungen in und aus der Muttersprache sowie das Training studienspezifischer schriftlicher Textsorten und Sprech- bzw. Aussprachetraining. Es handelt sich hier also weitgehend um Stützkurse. In den letzten Jahren zeichnet sich zumindest in der Linguistik eine leichte Sensibilisierung für das Fach Deutsch als Fremdsprache ab: Es nehmen an den Westschweizer Universitäten Veranstaltungen zu, in denen Deutsch als Fremdsprache-spezifische Themen bearbeitet werden, so ζ. B. Fremd-/Zweitspracherwerb, Grammatik in Lehrwerken etc. An der zweisprachigen Universität Freiburg/Fribourg gibt es seit 1973 ein Institut für deutsche Sprache, welches sich ausschliesslich Deutsch als Fremdsprache widmet; seit 1996 verfügt es auch über eine Deutsch als Fremdsprache-Professur. Deutsch als Fremdsprache an der Universität Freiburg steht auch in Zusammenhang mit der Zweisprachigkeit dieser Universität und der damit verbundenen Notwendigkeit, studienbegleitende und studienspezifische Sprachlehrveranstaltungen für die Studiensprache Deutsch (und natürlich auch Französisch) anzubieten. Seit 1982/83 gibt es einen spezifischen Ausbildungsgang für die
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Unterrichtenden des Deutschen als Fremdsprache an Westschweizer Schulen der Sekundarstufe I. Eine Besonderheit der Universität Freiburg sind zweisprachige Abschlüsse. So kann momentan an der Rechtswissenschaftlichen und an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät das Studium mit einem zweisprachiges Lizenziat (Deutsch-Französisch) abgeschlossen werden. Es gibt dafür besondere Regelungen, nach denen zwischen 20% und 25% des Studiums und der Examina in der jeweils anderen Studiensprache absolviert werden müssen. In den Diplomen wird ein solcher zweisprachiger Abschluss dann speziell ausgewiesen. Auch an verschiedenen Abteilungen der Philosophischen Fakultät sind solche zweisprachigen Abschlüsse möglich (ζ. B. in den Fächern Geschichte und Philosophie). Bis zum Jahr 2001 ist ein weiterer Ausbau der Zweisprachigkeit geplant. So sollen ab dann an allen Fakultäten zweisprachige Studien und Abschlüsse möglich sein. Die Rahmenbedingungen, die eine Kommission erarbeitet hat, werden derzeit an den einzelnen Fakultäten beraten. Dazu gehören: a) Drei unterschiedliche Möglichkeiten zweisprachigen Studierens: - Zweisprachiges Lizenziat/Diplom, - Studium und Prüfungen in beiden Sprachen, - Studium in beiden Sprachen, Prüfungen ausschließlich in der ersten Studiensprache. b) Für das zweisprachige Lizenziat/Diplom soll gelten: Mindestens 40% des Studiums und der (mündlichen und schriftlichen) Prüfungen in der zweiten Studiensprache. c) Ein Fachsprachenkonzept für die jeweils zweite Studiensprache. (Zum Zweisprachigkeitskonzept der Universität siehe Langner 1997.) Als voruniversitäre Einrichtung gibt es in Freiburg noch die Yorbereitungskurse auf das Hochschulstudium in der Schweiz — eine Stiftung, die gemeinsam von der Eidgenossenschaft und den Universitäten der Schweiz getragen wird. Ähnlich wie die Studienkollegs in Deutschland oder die Vorstudienlehrgänge in Österreich bereitet diese Einrichtung ausländische Studienbewerber mit einem Hochschulreifezeugnis ihres Landes auf ein Studium an einer Schweizer Hochschule vor. Als eines von fünf Fächern gilt obligatorisch Deutsch (oder Französisch) als Fremdsprache.
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
3.1.8. Erwachsenenbildung In der Erwachsenenbildung müssen wir in der mehrsprachigen Schweiz zwischen der Deutschschweiz und den nicht deutschsprachigen Landesteilen unterscheiden. Nur in der Westschweiz und im Tessin handelt es sich bei Deutschkursen der Erwachsenenbildung hauptsächlich um Deutsch als Fremdsprache. In der gesamten Schweiz gibt es verschiedenste Einrichtungen der Erwachsenenbildung, die - häufig in einer großen Vielfalt von Kursangeboten - auch Fremdsprachenkurse anbieten. Neben verschiedenen Privatinstitutionen sind dies vor allem die Volkshochschulen und die Migros-Klubschulen. Es handelt sich bei dem Angebot an Fremdsprachenkursen zumeist um extensive Kurse. 3.1.9. Austausch Austauschprogramme verschiedener Art haben in der Schweiz eine lange Tradition. Dies liegt selbstverständlich an den vier verschiedenen Sprach- und Kulturgruppen und an einer Sprachpolitik, die darauf abzielt, das Zusammenleben dieser Gruppen zu verbessern. Vor allem vier unterschiedliche Austauschformen spielen in der Schweiz eine Rolle: 1. 2. 3. 4.
individueller Schüleraustausch, kollektiver Klassenaustausch, Lehrlingsaustausch, Austausch von Lehrpersonen.
Dabei kann sich die Dauer des Kontaktaufenthaltes von einigen Tagen bis hin zu einem Jahr erstrecken. Die ersten drei Austauscharten werden gesamtschweizerisch und international von der 1976 gegründeten c/z-Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit koordiniert und organisiert (EDK 1992). Der internationale Lehrerinnen- und Lehreraustausch (ILA-WBZ), der der Weiterbildungszentrale für Mittelschullehrer in Luzern angeschlossen ist, koordiniert dagegen den internationalen Austausch von Lehrpersonen. Die in den letzten Jahren stärker werdende Belastung des Zusammenlebens der verschiedenen Sprachgruppen (einige Stichworte dafür sind: Diglossiesituation in der Deutschschweiz, unterschiedliche politische Ziele in Bezug auf Europa, wirtschaftliche Dominanz der Deutschschweiz) hat dazu geführt, dass die Anstrengungen für ein Zusammentreffen der Sprachgruppen vermehrt wurden. Daraus gewann auch der Austauschgedanke einen neuen starken Auftrieb.
Verschiedene Publikationen (Babylonia 3, 1997; Mitteregger/Racine 1993) und die Zeitschrift Le Trait d'union widmen sich ausschliesslich den verschiedenen Austauschmöglichkeiten. Zentraler Gedanke der Austauschpädagogik ist die Sensibilisierung in Richtung auf ein Verständnis der anderen Sprachgruppe. Eine Besonderheit im zweisprachigen Kanton Freiburg ist das sogenannte „zehnte fremdsprachliche Schuljahr": Das neunte (letzte) Schuljahr der obligatorischen Schulzeit wird an einer Schule mit jeweils anderer Unterrichtssprache wiederholt. 3.2. Deutsch als Zweitsprache 3.2.1. Allgemeines Die Schweiz hat einen relativ hohen Prozentsatz ausländischer Wohnbevölkerung (am 31. 12. 1995: 18,9%). Man unterscheidet zwischen ausländischen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen, die mehr oder weniger lange im Land leben werden, und Flüchtlingen/Asylbewerbern. Die Gruppe der Flüchtlinge und Asylbewerber, aber teilweise auch die ausländischen Arbeitnehmer, sprechen oft nicht die im jeweiligen Landesteil gesprochene Landessprache. So ergibt sich die Frage nach der sprachlichen Integration und somit nach einem Angebot an Sprachkursen. Wichtigste Lernziele von Sprachkursen für Flüchtlinge und Asylbewerber sind das Sprechen und das Hörverstehen. In der Deutschschweiz zeigt sich deutlich das Problem der medialen Diglossie. Eigenentwicklungen von Lernmaterialien versuchen diese Situation zu berücksichtigen (z. B. Nodari 1985; 1994). In der Regel lernen die ausländischen Kinder in der Schule Schweizerhochdeutsch und den jeweiligen Dialekt auf der Strasse. Dass die sprachliche Integration der Kinder durch ihre Familiensprache teilweise behindert wird und dadurch bei der Entwicklung einer kulturellen Identität und beim Zweitspracherwerb Probleme auftreten, ist jedoch kein alleiniges Problem der Schweiz. Es gibt daher an einzelnen Schulen Kurse zur Förderung der Erstsprache als Grundlage zum leichteren Erwerb von Deutsch als Zweitsprache. Die komplexe Sprachsituation der Deutschschweiz ist nicht einfach in Lehrwerke zu integrieren, da die gesprochenen Dialekte Varianten sind, die nur regional verwendet werden. Eine Möglichkeit damit umzugehen besteht darin, als Zielsprache das Schweizerhochdeutsch unter explizitem Einbezug von Dialektverstehen vorzusehen.
9. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in der Schweiz
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Eine weitere - zusätzliche - Möglichkeit ist das Hörverstehenstraining unter Einbezug der rezeptiven Kompetenz für Dialektverstehen (siehe EDK 1987). Eine solche Forderung ist bisher leider selten realisiert worden. Dieser Ansatz würde bedeuten, dass für die Verständigung zwischen Deutschschweizern und ausländischen Sprechern die Einheimischen Dialekt sprächen, während die ausländischen Kommunikationspartner Standarddeutsch verwendeten. (Ein Lehrwerk mit diesem Ansatz ist Müller/Wertenschlag 1985.) Eine dritte Möglichkeit bietet das Konzept „Dialektlernen für erste Kontaktsituationen", wobei die jeweilige Regionalvariante gelernt würde. Die für eine Integration in ein Land ebenfalls wichtigen kulturellen, landesund sozialkundlichen Besonderheiten erfordern noch mehr selbstentwickelte Lehrmittel, die die Alltagsgegebenheiten eines Landes oder einer Region reflektieren.
Asylbewerber und Flüchtlinge richten. Zumeist sind dies kantonale Zentren, verschiedene Hilfswerke, wie ζ. B. die Caritas, das Hilfswerk der Evangelischen Kirche der Schweiz (HEKS), aber auch Arbeiterhilfswerke, die Heilsarmee etc., die sich um die (sprachliche) Integration dieses Personenkreises kümmern. Dabei werden zumeist selbsterstellte Lehrmaterialien eingesetzt (Beispiele hierzu siehe unter 4.). Weitere Angebote in diesem Bereich sind:
3.2.2. Öffentliche Schulen Deutsch als Zweitsprache an öffentlichen Schulen gibt es einerseits als Stützkurse zur sprachlichen und kulturellen Integration von Kindern ausländischer Arbeitnehmer und Flüchtlinge. Für fremdsprachige Kinder mit einer im Heimatland abgeschlossenen obligatorischen Schulzeit werden andererseits auch sprachliche Integrationskurse angeboten, die diesen Kindern die Suche nach einer Lehrstelle erleichtern sollen. An den Berufsschulen gibt es vereinzelt Kurse für Deutsch als Zweitsprache, aber bis heute kein eigentliches Konzept, obwohl der Anteil der nicht deutschsprachigen Berufsschüler stark ansteigt. Eine Grundschwierigkeit neben dem Problem Mundart/Standardsprache stellt in den Normalklassen der Regelschulen die teilweise große sprachliche und kulturelle Heterogenität der Gruppen dar sowie die immer knapper werdenden finanziellen Mittel für solche Kurse bei teilweise stark steigenden Prozentzahlen von Ausländerkindern in Primarschulen und Schulen der Sekundarstufe I (Allemann-Ghionda 1988).
Ein grosses Problem für die Arbeit in diesem Bereich ist die Tatsache, dass es in der Schweiz keine zentrale Arbeitsstelle für die Koordination der vielfältigen Initiativen gibt, wie dies in Deutschland der Sprachverband für ausländische Arbeitnehmer darstellt.
3.2.3. Erwachsenenbildung Bei den Deutschkursen der Erwachsenenbildung in der Deutschschweiz handelt es sich in den meisten Fällen um Deutsch als Zweitsprache. Es gibt neben den in Abschnitt 2.1.8. erwähnten Volkshochschulen und MigrosKlubschulen eine Vielzahl von Einrichtungen, deren Sprachkurse sich besonders an
- Spezielle Arbeitslosenkurse: Auf Grund eines Gesetzes können Arbeitslose, die Weiterbildungskurse besuchen, länger Arbeitslosenunterstützung beanspruchen. - Alphabetisierungskurse (besonders für Frauen) in Deutsch als Zweitsprache. - Berufsbezogene Sprachkurse vor Ort (ζ. B. im Spital). - Sprachbegleitung: eine Person als sprachlicher Lernbegleiter.
3.3. Verbände für Deutsch als Fremdsprache/ Deutsch als Zweitsprache In der Schweiz gibt es drei Interessenverbände für Unterrichtende im Bereich Deutsch als Fremdsprache/Deutsch als Zweitsprache. In der SPASRI (Société des Professeurs d'Allemand de la Suisse Romande et Italienne), einer Untergruppierung des Vereins Schweizerischer Gymnasiallehrer (VSG), haben sich die Unterrichtenden des Deutschen als Fremdsprache der Gymnasien (in der Schweiz Mittelschulen genannt) zusammengeschlossen. 1986 wurde dann der Arbeitskreis Deutsch als Fremdsprache in der Schweiz (AKDaF) gegründet, der allen Personen offensteht, die im Bereich Deutsch als Fremd-/Zweitsprache tätig sind. Sehr viele seiner Mitglieder arbeiten in privaten Institutionen der Erwachsenenbildung, in der Flüchtlingsbetreuung und in Arbeitslosenkursen. Der jüngste und kleinste Verband ist der LEDAFIDS (Verein der Lektorinnen und Lektoren Deutsch als Fremdsprache in der Schweiz), 1987 gegründet, in dem die Unterrichtenden für Deutsch als Fremdsprache an den Schweizer Hochschulen zusammengefasst sind. An fast allen Schweizer Hochschulen gibt es Deutsch als Fremdsprache-Unter-
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
richtende, teilweise zur Vorbereitung und Begleitung von ausländischen Studierenden (Deutschschweiz), teilweise zur Unterstützung nicht deutschsprachiger Schweizer, die Germanistik studieren (siehe Abschnitt 2.1.). Alle drei Verbände sind Mitglied im Internationalen Deutschlehrerverband (IDV) und haben häufig an den verschiedenen Internationalen Deutschlehrertagungen (IDT) auch organisatorisch mitgearbeitet. So wurde die IDT Bern 1986 von der SPASRI mitgetragen, und die IDT 2001 in Luzern wird u. a. von allen drei Verbänden geplant und organisiert. 4.
Lehrerausbildung
Die Ausführungen von Müller (1990/94) und seine Einschätzungen galten bis vor wenigen Jahren. Inzwischen wird der Bereich der Lehrerausbildung für Kindergarten und Primarstufe neu gestaltet. 4.1. Kindergarten und Primarstufe Die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer für Kindergarten und Primarstufe war bisher kantonal unterschiedlich geregelt: In vielen Kantonen geschah sie an kantonalen Lehrerseminaren im Anschluss an die obligatorische Schulzeit, in einigen Kantonen an den Universitäten. Der Abschluss berechtigte zum Unterricht auf den entsprechenden Stufen und der Abschluss der kantonalen Lehrerseminare zusammen mit einer mehrjährigen Berufspraxis auch zu einem anschließenden Studium an den Schweizer Hochschulen. Die Diskussion der letzten Jahre um die Errichtung von Fachhochschulen hat zu Überlegungen geführt, nach denen die kantonalen Lehrerseminare zu Pädagogischen Fachhochschulen ausgebaut werden sollen. Für die Ausbildung zu Unterrichtenden für Kindergarten und Primarstufe wird in Zukunft ein Maturaabschluss vorausgesetzt. Welche Konsequenzen diese Umstrukturierungen für den Deutsch als Fremd- und Zweitsprache-Unterricht der Zukunft haben werden, ist momentan noch nicht abzuschätzen. 4.2. Sekundarstufe I und II Die Ausbildung für zukünftige Deutschlehrer beider Sekundarstufen geschieht sowohl für LI als auch für L2 innerhalb der Germanistik an den Universitäten. An vielen Universitäten wird bei der Ausbildung nicht zwischen diesen beiden Schulstufen unterschieden,
während an einigen Hochschulen eine spezielle Ausbildung für die Sekundarstufe I existiert, auch für die Fremdsprachenlehrer und im besonderen Fall für die Lehrer des Deutschen als Fremdsprache auf dieser Stufe. An der Universität Freiburg gibt es auch ein Ergänzungsfach Deutsch als Fremdsprache für Deutschsprachige, die anschließend in der Sekundarstufe I an einer Schule mit französischer Unterrichtssprache unterrichten wollen. Für die Sekundarstufe II gibt es hingegen bisher keine spezifische Ausbildung für Deutsch als Fremdsprache. An der Universität Freiburg kann aber seit 1997 Deutsch als Fremdsprache innerhalb der Germanischen Philologie gewählt werden. Immer noch unterrichten in der Westschweiz und im Tessin auf der Sekundarstufe I oft und auf der Sekundarstufe II weitgehend Lehrer und Lehrerinnen, welche nur auf den Unterricht „Deutsch als Muttersprache" vorbereitet sind. Es besteht dabei die Gefahr, „dass Lernschwierigkeiten von Fremdsprachigen nicht oder nur ungenügend erkannt werden" (Müller 1990/94, 239). 4.3. Private Aus- und Weiterbildungsstätten für Unterrichtende Deutsch als Fremd- und Zweitsprache Neben der öffentlichen Lehrerausbildung gibt es in der Schweiz eine Vielzahl von privaten Schulen und halbprivaten Einrichtungen für die Ausbildung von Unterrichtenden, auch für den Bereich Deutsch als Fremd-/Zweitsprache. Müller (1990/94) kommt zu der Einschätzung, dass von diesen Institutionen häufig „die Anforderungen für ein künftiges FULehrerprofil [FU = Fremdsprachenunterricht, M. L.] um einiges ernster genommen werden als von staatlichen Ausbildungsstellen" (Müller 1990/94, 243). So wurde hauptsächlich von Unterrichtenden an solchen privaten Institutionen 1997/98 ein „Anforderungsprofil DaF/DaZ-Lehrer/in" erarbeitet. Auch bei den privaten Ausbildungsstätten gibt es große Unterschiede zwischen den einzelnen Kantonen. Hier eine gewisse Auswahl von Einrichtungen zur Aus- und Weiterbildung von in diesem Bereich Unterrichtenden: — bask GmbH, Bern (Berufsbegleitende Ausbildung für Sprachkursleitende in der Erwachsenenbildung), — AEB Zürich (Akademie für Erwachsenenbildung), — Klubschulen Migros, Einführungskurs für Sprachkursleitende,
9. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in der Schweiz
- Pestalozzianum Zürich: ZALF — Zusatzausbildung für Lehrkräfte von NichtDeutschsprachigen, - Pro Didacta: ADEFA - Ausbildungsgang für Deutschlehrer von fremdsprachigen Jugendlichen und Erwachsenen, - SAL - Schule für Angewandte Linguistik Zürich, - Forum Sprache-Unterricht Luzern/Zug (nur Weiterbildung), - Abteilungen bzw. Amter verschiedener Direktionen (Amt für Berufsbildung bei der Direktion der Volkswirtschaft des Kantons Zürich/Lehrerfortbildung Kanton Luzern/Pädagogische Arbeitsstelle Kanton St. Gallen), Berner Konferenz für Erwachsenenbildung, Verein zur Förderung der beruflichen Weiterbildung (VFBW/ ADEFA) (Informationen zu diesen Einrichtungen in: Rundbrief 34, 1997). Teilweise schliessen diese Einrichtungen mit Diplomen für Fremdsprachenlehrer ab. 5.
Lehrmittel in der Schweiz
Schon seit Beginn des 20. Jhs wird in der Schweiz, auch im Bereich des Fremdsprachenunterrichts, zumeist mit Schweizer Lehrmitteln gearbeitet (Briod 1915; Rochat/Lohmann 1931; zur Situation bei den Lehrmitteln in der Westschweiz vgl. von Flüe-Fleck 1994). Die in diesen Schweizer Lehrwerken vermittelte Standardnorm des Deutschen orientierte) sich häufig am Binnendeutschen und entsprach daher selten der komplexen Sprachsituation in der Deutschschweiz (zum Umgang mit unterschiedlichen Sprachvarietäten vgl. Klotz/Sieber 1994; Beispiele für Schweizer Deutsch als Fremdsprache-Lehrwerke: Birbaum u. a. 1987ff.; Gfeller 1992; Lang u. a. 1983 ff.; Uhlig u. a. 1961 ff.). 5.1. Lehrmittel für öffentliche Schulen Speziell in der Westschweiz ist man im Bereich der Auswahl von Lehrwerken sehr umsichtig. Seit 1962 gibt es eine Koordination der Westschweizer Kantone für die Schule. Speziell für das Fach Deutsch (als L2) waren die großen Unterschiede zwischen den Schulsystemen eher hemmend, so dass von FlüeFleck mit Recht festhält: „Von einem koordinierten Deutschunterricht kann jedenfalls im Jahr 1992, nach gut zwanzig Jahren Arbeit, nur sehr bedingt gesprochen werden." (von Flüe-Fleck 1994, 118)
119
Schon Ende der siebziger Jahre gab es Überlegungen in der Westschweiz zur Konzeption eines Lehrwerkes Deutsch als Fremdsprache für die besonderen Bedürfnisse des Unterrichts auf der Primarstufe. Eine eher spielerische Sensibilisierung sollte dabei zentral sein. So wurde zu Beginn der achtziger Jahre der sogenannte Cours romand (Lang u. a. 1983ff.) für die vierte, fünfte und sechste Primarklasse geschaffen. Die Überlegungen im Zusammenhang mit der ,kommunikativen Wende', eine wachsende Unzufriedenheit über die starke Deutschlandlastigkeit der bisher in der Sekundarstufe I verwendeten Lehrwerke und die Notwendigkeit eines problemlosen Anschlusses an den Cours romand führten zur Entwicklung des Westschweizer Lehrwerkes Unterwegs Deutsch (Birbaum u. a. 1987ff.). Neben einem deutlichen Bezug auf die Schweizer Realität (Texte aus der Schweiz, Schreibanlässe innerhalb der Schweiz, Vorbereitung von Schüleraustausch etc.) kommen auch die anderen deutschsprachigen Staaten zu Wort. Leider muss hier vermerkt werden, dass Unterwegs Deutsch kein Lehrwerk für die gesamte Westschweiz ist, denn einzelne Kantone sind sehr früh aus der Koordination ausgestiegen. So werden heute neben dieser neueren Eigenproduktion durchaus noch ältere Lehrwerke eingesetzt, die vor der kommunikativen Wende konzipiert worden sind. Sowohl der Cours romand als auch Unterwegs Deutsch sind inzwischen keine modernen Lehrwerke mehr, und wieder gab es gemeinsame Überlegungen der Westschweiz zur Schaffung eines modernen Lehrwerks. Neue Erkenntnisse aus der Forschung zur Fremdsprachendidaktik sollten in die Konzeption einfliessen: Modularität, Möglichkeit von Immersionsunterricht/-phasen, Stärkung des eigenverantwortlichen Lernens (Transparenz, Lösungsschlüssel, Selbstevaluationsangebote) etc. (zu Perspektiven einer neuen Lehrwerkkultur im Bereich Fremdsprachen siehe Nodari 1995; zur Modularität Lenz 1995; Merkt 1994). Im Mai 1998 ist die Entscheidung zumindest für die nächsten Jahre gefallen: Es wird kein Westschweizer Deutsch als Fremdsprache-Lehrwerk geben. Bis spätestens 2001/ 2002 werden sowohl für die Primarstufe als auch für die Sekundarstufe I Lehrwerke aus Deutschland bzw. Großbritannien eingeführt. Obwohl in diesen Lehrmitteln die Schweiz als Thema oder als Unterrichtsge-
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
genstand praktisch nicht vorkommt, ist keinerlei Bearbeitung hinsichtlich der landeskundlichen und sprachlichen Situation der (Deutsch-)Schweiz vorgesehen. Vor dem Hintergrund umfangreicher Überlegungen zur Funktion eines modernen Westschweizer Deutsch als FremdspracheLehrwerkes (siehe von Flüe-Fleck 1994; Nodali 1995) kann man diese Entscheidung nur als verpasste Gelegenheit bezeichnen. Dies erstaunt um so mehr, wenn man bedenkt, dass sich bei internationalen Lehrwerken die Berücksichtigung der verschiedenen deutschsprachigen Länder immer stärker durchsetzt (vgl. Abschnitt 5.5). Auch im internationalen Prüfungsbereich Deutsch als Fremdsprache wird immer stärker ein Ansatz verfolgt, der der Plurizentrik des deutschsprachigen Raums Rechnung trägt. Demnach sollen auch in Deutschprüfungen Texte aus Österreich und der Schweiz vorkommen (vgl. Art. 129: Absatz: Internationale Kooperationen zur Landeskunde der deutschsprachigen Länder). 5.2. Lehrmittel für Ausländer, Flüchtlinge, Asylbewerber und deren Kinder Die spezifische Situation in der Deutschschweiz mit ihren schon mehrfach erwähnten Eigenheiten führte zur Entwicklung einer ganzen Reihe von Lehrmaterialien für die Zielgruppe Ausländer/Flüchtlinge/Asylbewerber. Zum grossen Teil verdanken diese ihre Existenz dem persönlichen Einsatz einzelner Lehrender, aber auch dem Engagement verschiedener kantonaler Einrichtungen und Hilfswerke, die sich die Integration dieser Zielgruppe zur Aufgabe gemacht haben. Es sind häufig sogenannte „graue Papiere", einfach und preisgünstig gemacht. In Einzelfällen sind dies Materialien für spezifische Sprachgruppen, meistens aber für verschiedene Ausgangssprachen und -kulturen. Vor allem für die Kinder und Jugendlichen dieser Zielgruppen, die öffentliche Schulen besuchen, sind im Auftrag von größeren Deutschschweizer Kantonen auch offizielle Lehrbücher entstanden, die auf die Deutschschweizer Wirklichkeit abzielen, zumindest was die landeskundlichen und kulturellen Informationen betrifft, so z. B. Deutsch für fremdsprachige Kinder (Nodari 1985) oder Kontakt (Nodari 1994), die zudem teilweise recht neue fremdsprachendidaktische Ansätze integrieren. Das Problem des Dialekts als gesprochener Umgangssprache der Deutschschweiz wird aber auch in diesen Lehrwerken nicht in befriedigender Weise berücksichtigt.
Dennoch Lehrwerke sprachlichen sogenannten
leisten diese Materialien und einen wichtigen Beitrag zur und kulturellen Integration der „zweiten Ausländergeneration".
5.3. Lehrwerke für Dialekt Da in der Deutschschweiz in der mündlichen Kommunikation fast ausschliesslich Dialekt verwendet wird, gibt es schon seit langer Zeit Lehrmaterialien zum Dialektlernen (siehe Baur 1941/1971). Hier müssen wir grundlegend unterscheiden zwischen Lehrmaterialien, die die produktive Verwendung der Mundart zum Ziel haben (Zwicky 1987; Feuz-Thurnheer 1988; Feuz 1998), und solchen, welche nur auf das Hörverstehen abzielen, für die produktive Seite aber Standarddeutsch voraussetzen (Müller/Wertenschlag 1985). Lehrwerke mit dem Lernziel Dialektsprechen vermitteln zumeist einen der grossräumigeren Dialekte, wie z. B. das Berndeutsche. Ein Lehrwerk zum Dialekthörverstehen wie Müller/Wertenschlag (1985) setzt Kenntnisse in der deutschen Standardsprache voraus und baut auf diesen auf. Das Problem der verschiedenen Dialekte wird durch die Berücksichtigung großräumiger Dialekte gelöst, die auf den Kassetten und im Lehrbuch vermittelt werden. Solche Lehrmittel setzen aber Kommunikationssituationen voraus, in denen die Dialektsprechenden bei der Mundart bleiben, während der Fremdsprachige sich der Standardsprache bedient. Dies ist jedoch eine Situation, die häufig von Dialektsprechern als unnatürlich empfunden wird. Ein Erfolg eines solchen Ansatzes stellt sich nur ein, wenn der Anderssprachige darauf besteht, dass der Kommunikationspartner im Dialekt bleibt. 5.4. Spezielle Lehrwerke Neben den genannten Lehrmaterialien müssen hier noch einige Lehrmaterialien erwähnt werden, die für spezifische Bedürfnisse erstellt wurden: Für das Gastgewerbe und die Hôtellerie eine in der Schweiz wichtige Branche, in der recht viele ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigt sind — wurden in den letzten Jahren zwei schweizspezifische Lehrmaterialien entwickelt: Hôtellerie und Gastronomie (Clalüna 1988) und der Fernkurs Deutsch à la carte (Clalüna 1993). Im Vordergrund steht hierbei die Fachsprache dieser Branche, die sich vor allem im Wort-
9. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in der Schweiz
schätz deutlich von derjenigen der Bundesrepublik unterscheidet. Für den Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht in der Weiterbildung konzipiert ist Wyss (1997). Bovet/Künzle (1996) ist für das spezifische Hörtraining auf der Grundstufe ausgelegt. 5.5. Internationale Lehrwerke Zum Ende dieses Überblicks über die Deutsch als Fremdsprache-Lehrwerksituation in der Schweiz sollten wir noch darauf hinweisen, dass sich seit 1995 eine gewisse Veränderung bei den kommerziellen, überregionalen Lehrwerken abzeichnet: Schweizer Autoren arbeiten mit deutschen und österreichischen Kollegen zusammen. Es ist dies sozusagen ein dritter Schritt innerhalb einer länger andauernden Entwicklung: 1. Bis weit in die achtziger Jahre gab es viele überregionale Lehrwerke, die von deutschen Autoren verfasst wurden und nur die deutsche Wirklichkeit widerspiegelten, also die anderen deutschsprachigen Länder ignorierten (hierzu genauer Art. 126). 2. Abgelöst wurde diese Situation durch Lehrwerke, die zumindest teilweise auf die anderen deutschsprachigen Staaten eingingen. 3. Seit 1995 gibt es Autorenteams aus den verschiedenen deutschsprachigen Staaten, die gemeinsam Lehrwerke konzipieren. Hör- und Lesetexte aus den verschiedenen deutschsprachigen Regionen, in denen die Unterschiede in Aussprache und Betonung zum Ausdruck kommen, daneben ein Wortschatz, der die Unterschiede der Varianten einer plurizentrischen Sprache ins Bewusstsein bringt sowie neueste Ansätze der Fremdsprachendidaktik und der interkulturellen Kommunikation prägen diese Lehrwerke (Beispiele für diesen Ansatz sind: Müller u. a. 1996/98; Häublein 1995; Vorderwülbecke 1995/98). 6.
Zukunftsperspektiven
Im Bereich Deutsch als Zweitsprache ist für die nächsten Jahre ein weiterer Einbezug der Interkulturellen Pädagogik dringend erforderlich (siehe Poglia u. a. 1995). Es fehlen in der Schweiz, abgesehen von einigen abgeschlossenen Pilotversuchen, Projekte zur zweisprachigen Alphabetisierung. Der Bereich der berufsbezogenen Kurse für Deutsch als Zweitsprache sowie der fachbezo-
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genen und arbeitsplatzbezogenen Sprachkurse sollte in Zukunft weiter ausgebaut werden. Die Aus- und Weiterbildung der Fremdsprachlehrer sollte für Deutsch als Fremdund Zweitsprache intensiviert und für manche Schulstufen erst geschaffen werden (ζ. B. für die Berufsschulen und für die Sekundarstufe II). Ein Konzept für die Einbeziehung des Dialekts besonders für den Bereich Deutsch als Zweitsprache ist von großer Dringlichkeit. Eine zentrale Arbeitsstelle für Deutsch als Zweitsprache in der Schweiz ist nötig und könnte die äußerst vielfaltigen Aktivitäten und Projekte koordinieren sowie ζ. B. einem in der Diskussion befindlichen Anforderungsprofil für Lehrer größeres Gewicht verleihen. Bisher gibt es keinen gesamtschweizerisch anerkannten Studiengang. In einem mehrsprachigen Land mit vier ebensolchen Kantonen wird sich in den nächsten Jahren sicherlich der Immersionsunterricht weiterentwickeln. Nach den Erfahrungen im Ausland (Kanada, Luxemburg etc.) und im Inland mit einzelnen Privatschulen, die einen solchen Unterricht praktizieren, ist in verschiedenen Kantonen auch die öffentliche Schule in Bewegung geraten. So gibt es ζ. B. in den Kantonen Wallis und Bern schon Projekte im Bereich Kindergarten, Primarschule und Sekundarstufe I. Vereinzelt wird auch auf der Sekundarstufe II experimentiert (ζ. B. Kollegium St. Michael in Freiburg). Die Zukunft sollte aber eine breite Palette solcher Schulen auch in anderen Kantonen bringen. Die Überlegungen für den zukünftigen Deutschunterricht in der Westschweiz schliessen solche Ideen für Immersionsunterricht oder Immersionsphasen neben traditionellem Fremdsprachenunterricht ein. Im Tessin wird auf der Gymnasialstufe seit einem Jahr zweisprachig Französisch/Italienisch unterrichtet. Diese Erfahrungen sollen 2001 zu Versuchen mit Deutsch/Italienisch führen (Scuola cantonale superiore di commercio in Bellinzona). Die neue Professur Deutsch als Fremdsprache an der Universität Freiburg berechtigt zu Hoffnungen auf einen Gymnasiallehrer-Studiengang Deutsch als Fremdsprache, zumindest für die Kantone, deren Lehrerausbildung an dieser Hochschule stattfindet. Ausserdem wäre ein Zusatzstudiengang zur Weiterbildung schon im Beruf stehender Lehrer wünschenswert. Ein echter Lehrstuhl für Deutsch als Fremd-/Zweitsprache könnte diesem Fach
122
II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
(ähnlich wie in Deutschland und inzwischen auch in Österreich) grösseres akademisches Gewicht verleihen, dringend nötige Forschungsprojekte in diesem Bereich in der Schweiz in Gang bringen und dem Schulunterricht neue Impulse geben. Die für 2001 geplante Erweiterung des zweisprachigen Studienangebots und der zweisprachigen Abschlüsse an der Universität Freiburg muss in Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Fakultäten und dem seit dem 1. 10. 1999 existierenden Lern- und Forschungszentrum Fremdsprachen konkretisiert werden. Dabei spielt auch die Anerkennung/Zertifizierung von während des Studiums erworbenen Fremdsprachenkenntnissen eine große Rolle. Weitere überregional/international einsetzbare Lehrwerke sollten in Kooperation von Fachleuten der verschiedenen deutschsprachigen Länder erstellt werden. Dabei sollte weiter von den bisher üblichen Klischees über die Schweiz abgerückt und die verschiedenen Regionen des deutschsprachigen Raumes mit ihren interessanten Besonderheiten in ein Gesamtkonzept integriert werden. Vielversprechend ist in dieser Hinsicht bereits die Kooperation der deutschsprachigen Länder im Bereich der Revision internationaler Deutsch als Fremdsprache-Diplome (derzeit Zertifikat Deutsch/Zentrale Mittelstufenprüfung) und die begonnene trinationale Zusammenarbeit bei der Revision der Kontaktschwelle Deutsch als Fremdsprache (threshold level) und der Niveaus darunter und darüber ( waystagelvantage) im Rahmen des Europarates. Die Kooperation von Fachleuten der Schweiz mit solchen aus Deutschland und Österreich in der Lehrerweiterbildung sollte sowohl innerhalb der Schweiz als auch im Ausland weiter verstärkt werden. Vom Europäischen Sprachenportfolio (ESP) (Schweizer Version), welches seit 1999 und noch bis 2001 erprobt wird, erhoffen wir uns starke Impulse einerseits für die mehrsprachige Schweiz (vgl. EDK 1998, Sprachenkonzept Schweiz), andererseits auch für die Realisierung eines vielsprachigen Europas. Das ESP ist ein Dokument, „das dazu dient, die Kenntnisse in verschiedenen Sprachen sichtbar zu machen und zu dokumentieren" (EDK 1999, Informationsbroschüre, 1). Es soll einerseits als Informationsinstrument dienen (Vorzeigefunktion), andererseits ein Arbeitsinstrument sein, das zum Sprachenlernen motiviert und die Selbständigkeit der Lernenden fördert. Das ESP liegt seit Januar
1999 auf Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch vor und wurde in verschiedene weitere europäische Sprachen übersetzt. 7.
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10. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in nichtdeutschsprachigen Ländern I: Europäische Perspektive 1. 2. 3.
5. 6.
Einleitung Deutsch in Europa Entwicklungslinien der europäischen , Auslandsgermanistik' Germanistik und Deutsch als Fremdsprache in einzelnen Ländern Ausblick Literatur in Auswahl
1.
Einleitung
4.
Seit der historischen Zäsur des Jahres 1989, die das Ende der Nachkriegszeit und der Tei-
lung Europas markiert, hat der Prozess der europäischen Einigung eine völlig neue Dynamik entwickelt. Die Schaffung des europäischen Binnenmarktes 1993, der EU-Beitritt der bis dahin neutralen Länder Österreich, Schweden und Finnland 1995 und vor allem die Einführung einer gemeinsamen Währung in elf europäischen Ländern am 1. Januar 1999 sind Meilensteine auf dem Weg zu dem gemeinsamen Haus' Europa, das Politiker seit den 80er Jahren immer wieder gefordert haben. Auch die Länder des mittleren und
10. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache I: Europäische Perspektive
östlichen Europa, die sich seit der politischen Wende von 1989 in einem schwierigen politischen und ökonomischen Transformationsprozess befinden, werden in absehbarer Zeit zur europäischen Union gehören. Verhandlungen zum EU-Beitritt einiger mittel- und osteuropäischer Reformstaaten sind im Gang, von einer Erweiterung auf bis zu 26 Länder ist gelegentlich die Rede. Aber die Einigung Europas wird auf Dauer nur gelingen, wenn die politische und ökonomische Integration mit einer geistigkulturellen verbunden wird, wenn die neuen Möglichkeiten und Chancen, die das geeinte Europa seinen Bürgern bietet, auch mit einer entsprechenden europäischen Kompetenz' eben dieser Bürger einhergehen (vgl. Dethloff 1993, 6). Kenntnisse nicht nur des Englischen, sondern mehrerer Fremdsprachen sowie interkulturelle bzw. transnationale Kommunikationsfahigkeit sind wichtige Bestandteile einer solchen europäischen Kompetenz, die der kulturellen und sprachlichen Vielfalt des zusammenwachsenden Europa gerecht werden soll. In diesem hier nur grob skizzierten politischen Rahmen ist die Entwicklung des Faches Deutsch als Fremdsprache in Europa heute zu sehen. Die folgende Übersicht geht von der Bedeutung der deutschen Sprache als Muttersprache, Amtssprache und Fremdsprache in Europa aus und beschreibt dann allgemeine Entwicklungstendenzen des Faches Deutsch als Fremdsprache bzw. der Germanistik. Den Abschluss bilden detaillierte Darstellungen der Situation in vier ausgewählten west- bzw. osteuropäischen Ländern, an denen sich aktuelle Tendenzen auf exemplarische Weise veranschaulichen lassen. 2.
Deutsch in Europa
2.1. Deutsch als Muttersprache und Amtssprache Unter den etwa 80 in Europa gesprochenen Muttersprachen nimmt das Deutsche mit ca. 91,5 Millionen Sprechern nach dem Russischen (135 Mio.) und mit deutlichem Abstand vor Französisch (58 Mio.) und Englisch (55 Mio.) den zweiten Rang ein (vgl. Haarmann 1993, 53ff.). Den Status einer Amtssprache auf nationaler Ebene genießt das Deutsch in Deutschland (mit ca. 76 Mio. Sprechern), in Österreich (ca. 7,6 Mio.) und im Fürstentum Liechtenstein (ca. 30000), wo Deutsch einzige Amtssprache ist, sowie in Luxemburg
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und in der Schweiz (ca. 4 Mio.), wo es außer Deutsch auch andere Amtssprachen gibt. Regionale Amtssprache ist Deutsch darüber hinaus im östlichen Belgien und im italienischen Südtirol (vgl. Ammon 1991, 58 ff. und 66ff.). Als Muttersprache deutschsprachiger Minderheiten ohne offiziellen Status spielt Deutsch in Ostfrankreich (Elsass-Lothringen; ca. 1,2 Mio. Sprecher), im südlichen Dänemark (Nordschleswig, ca. 20000) und in den ehemals deutsch besiedelten Gebieten Polens (ca. 700000) und Tschechiens (150000) eine gewisse Rolle. Hinzu kommen die deutschen Siedlungsgebiete in Russland bzw. der ehemaligen Sowjetunion, Ungarn und Rumänien, die allerdings als Verbreitungsgebiete des Deutschen als Mutter- und Nationalitätensprache im Zuge der Aussiedlung der deutschstämmigen Bevölkerung an Bedeutung verloren haben. 2.2. Deutsch als Verkehrssprache Die vergleichsweise hohe Zahl an Muttersprachensprechern konnte dennoch den Bedeutungsverlust des Deutschen als Verkehrssprache in der 2. Hälfte des 20. Jh.s nicht verhindern. Im 19. Jh. und bis zum 2. Weltkrieg galt das Deutsche weit- und europaweit als die Wissenschafts- und Bildungssprache. In den 20er und 30er Jahren noch war es als Sprache der Naturwissenschaften zumindest gleichrangig mit dem Englischen (vgl. Ammon 1991, 251 ff.), und auch in den Geistesund Sozialwissenschaften wurden deutschsprachige Publikationen auf der ganzen Welt anerkannt und rezipiert. Auf Grund der politischen Dominanz Deutschlands und Österreichs im östlichen Mitteleuropa fungierte das Deutsche zudem hier als Lingua Franca und als Sprache der gebildeten Oberschicht. Nach 1945 ging die Bedeutung der deutschen Sprache als Verkehrssprache deutlich zurück; sie erlebte einen „Funktions- und Wertewandel von einer internationalen Wissenschaftssprache zu einer Wirtschaftssprache von regionaler Geltung" (Földes 1996, 371). Insbesondere als Publikations-, Vortrags- und Konferenzsprache der Wissenschaft scheint das Deutsche heute gegenüber dem Englischen auch im deutschsprachigen Raum kaum noch konkurrenzfähig zu sein (vgl. Ammon 1991, 254f.). Dies gilt vor allem für das westliche Europa, weniger für die ehemals sozialistischen Länder in Mittel- und Osteuropa, wo das Deutsche seine angestammte Position als Verkehrssprache und
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
Lingua Franca nicht nur der Wissenschaft noch stärker behaupten konnte. Eine empirische Erhebung von Ammon noch vor der politischen Wende von 1989 deutet allerdings auch hier auf einen Trend zu Ungunsten des Deutschen und zu Gunsten insbesondere des Englischen als Verkehrssprache hin (vgl. Ammon 1991, 126 ff.). Zuverlässige empirische Daten zur Bedeutung des Deutschen als Verkehrssprache in Europa liegen derzeit kaum vor. Unter dem Titel „Deutsch in Europa" hat ein zwischen 1991 und 1995 durchgeführtes und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes Projekt der Universität Duisburg anhand repräsentativer Erhebungen die Verwendung des Deutschen (im Vergleich zu anderen Sprachen) in Kommunikationssituationen zwischen Sprechern verschiedener Muttersprachen in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik untersucht. Die Resultate dieses Forschungsprojekts, zur Zeit erst teilweise publiziert (vgl. Ammon 1993; Glück 1992; Schloßmacher 1996), bestätigen im Wesentlichen das oben Gesagte. So weist etwa die Untersuchung von Stellenanzeigen in wichtigen europäischen Tages- und Wochenzeitungen und der darin formulierten Anforderungen an die Sprachkenntnisse der Bewerber auf einen signifikanten Unterschied zwischen West- und Osteuropa hin: „Während in Westeuropa Englisch die überwiegend dominierende Verkehrssprache des Wirtschaftslebens ist und das auch weit hinter Englisch zurückliegende Französisch vor Deutsch rangiert, hat Englisch in Osteuropa keine so deutlich dominante Stellung. Vielmehr ist Deutsch in Osteuropa neben Englisch (noch?) eine durchaus gewichtige Verkehrssprache" (Ammon 1993, 44). 2.3. Deutsch als Arbeitssprache in europäischen Institutionen Die Diskrepanz zwischen der quantitativ starken Präsenz des Deutschen als Muttersprache und seiner geringen Bedeutung als Verkehrssprache in Europa zeigt sich auch in den europäischen Institutionen, insbesondere den Institutionen der Europäischen Union. Unter rein quantitativen und ökonomischen Gesichtspunkten ist Deutsch innerhalb der EU die weitaus gewichtigste Sprache, zumal seit dem EU-Beitritt Österreichs 1995. Dem entspricht die faktische Bedeutung der deutschen Sprache als Arbeitssprache in den verschiedenen EU-Gremien jedoch nicht. Zwar ist Deutsch schon seit Beginn des europä-
ischen Einigungsprozesses im Jahr 1958 eine der zunächst vier, seit 1995 elf Amts- und Arbeitssprachen der EG bzw. EU; zwar gelten alle elf Amtssprachen offiziell als gleichberechtigt, faktisch kann aber von einer Gleichberechtigung nicht die Rede sein. Eine Reihe empirischer Untersuchungen seit Anfang der 90er Jahre (Haselhuber 1991; Gehnen 1991; Mohr/Schneider 1994), insbesondere eine größere Erhebung von Michael Schloßmacher, die im Rahmen des oben erwähnten Forschungsprojekts „Deutsch in Europa" entstanden ist (Schloßmacher 1996), belegen die eindeutige Dominanz des Französischen und — seit dem EG-Beitritt Großbritanniens 1973 - des Englischen, mit einer gewissen Tendenz zur Bevorzugung des Englischen gegenüber dem vor allem bei EU-Beamten heute noch vorherrschenden Französisch. Das Deutsche nimmt im Vergleich aller elf Amts- und Arbeitssprachen zwar den dritten Platz ein, spielt aber tatsächlich weder als Arbeitssprache bei Konferenzen noch als Verkehrssprache bei formellen und informellen Kommunikationssituationen eine nennenswerte Rolle. Auch in dem bereits 1949 gegründeten Europarat, dem mit derzeit 40 weitaus mehr europäische Länder angehören als der EU und in dem außer den westeuropäischen auch die meisten mittel- und osteuropäischen Länder vertreten sind, spielt Deutsch eine vergleichsweise bescheidene Rolle. Anders als in der EU genießen im Europarat nur Englisch und Französisch Amtssprachenstatus. Die 1970 (zusammen mit Italienisch) erfolgte Anerkennung des Deutschen als Arbeitssprache des Europarats kann über ihre faktische Zweitrangigkeit in dieser gesamteuropäischen Institution nicht hinwegtäuschen (vgl. Ammon 1991a, 80). Die Gründe für die im Vergleich zu ihrer quantitativen und ökonomischen Bedeutung relativ schwache Stellung der deutschen Sprache als Verkehrs- und Arbeitssprache in Europa sind sicher vielfaltig. Politische Aversionen gegenüber dem Deutschen auf Grund der Vergangenheit (vgl. Ammon 1991a, 81) mögen noch eine Rolle spielen, sind aber, wie die Arbeit von Schloßmacher zeigt, empirisch tatsächlich kaum nachweisbar (vgl. Schloßmacher 1996, 169). Wichtiger scheint dagegen das geringe Ansehen, das die deutsche Sprache bei den Deutschen selbst genießt und das bei vielen Vertretern des Faches Deutsch als Fremdsprache insbesondere in den Ländern Mittel- und Osteuropas auf wenig Verständ-
10. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache I: Europäische Perspektive
nis stößt (vgl. Földes 1996, 379). Der zweifellos wichtigste Grund für die Schwäche des Deutschen als europäische Verkehrssprache in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik ist aber die vergleichsweise geringe Verbreitung des Deutschen als Fremdsprache, vor allem im westlichen Teil Europas. Die Bemühungen der Bundesregierung, die Stellung des Deutschen in den europäischen Institutionen zu verbessern, sollten sich daher auf die Förderung deutscher Sprachkenntnisse im Rahmen einer europäischen Fremdsprachenpolitik konzentrieren. 2.4. Deutsch als Fremdsprache und europäische Mehrsprachigkeit Von den weltweit etwa 20 Millionen Menschen, die nach Angaben des Auswärtigen Amtes in den verschiedensten Bildungsinstitutionen Deutsch als Fremdsprache lernen, leben drei Viertel in Europa (vgl. Thiedemann 1996, 24). Deutsch ist, wie Ammon schon 1993 festgestellt hat, „schwerpunktmäßig eine europäische Schulfremdsprache" (Ammon 1993a, 14). Die Tendenz zur Konzentration des Deutschlernens in Europa hat sich in den vergangenen Jahren noch verstärkt, einmal infolge des abnehmenden Interesses an europäischen Sprachen außerhalb Europas, zum andern aber auch infolge des Deutsch-Booms in den Staaten Mittel- und Osteuropas seit der politischen Wende von 1989. Innerhalb der EU nimmt das Deutsche mit ca. 3 Millionen Lernenden den dritten Rang der Schulfremdsprachen ein, vor Spanisch mit ca. 1,4 Millionen, aber doch mit deutlichem Abstand zum Französischen (9 Mio.) und vor allem zum Englischen mit etwa 30 Millionen Lernenden (Zahlen nach Ammon 1993a; 14; Zahlen für Deutsch auf Grund neuerer Angaben zu den neuen EUMitgliedern Finnland und Schweden aktualisiert). Erweitert man die Perspektive über die EU hinaus auf Gesamteuropa und bezieht man insbesondere die Länder Mittel- und Osteuropas ein, so stellt sich die Lage der Fremdsprache Deutsch weitaus günstiger dar. Rechnet man die Angaben aus einer neuen Erhebung des Auswärtigen Amtes zu allen Ländern des östlichen Europa einschließlich der ehemaligen Sowjetunion (mit Ausnahme der mittelasiatischen Republiken sowie Armeniens und Aserbaidschans, zu denen Angaben fehlen) und des ehemaligen Jugoslawien (mit Ausnahme Bosniens, wozu keine Angaben vorliegen) zusammen, so ergibt sich eine Zahl von ca. 10 Millionen Deutschler-
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nenden an mittel- und osteuropäischen Schulen. Zwar kann sich das Deutsche in manchen dieser Länder (v. a. in Ungarn) auch gegenüber dem Englischen sogar als erste Fremdsprache behaupten, dennoch zeichnet sich auch hier eine deutliche Tendenz zu Gunsten des Englischen ab, die aber vorläufig vor allem zu Lasten des Russischen und nur teilweise des Deutschen geht. Den 10 Millionen Deutschlernern in dieser Region stehen deutlich über 20 Millionen Englischlernende gegenüber. Der weltweite Trend hin zum Englischen und weg von allen anderen (Fremd-)Sprachen ist auch in Europa ungebrochen und wird sich auch in Zukunft fortsetzen. In einigen Ländern vor allem Westund Nordeuropas (so in den Niederlanden, in Dänemark und in Norwegen) ist Englisch obligatorische erste und daher auch häufig einzige Fremdsprache, ähnlich administrative Maßnahmen zur Förderung der Englischkenntnisse sind auch anderswo im Gespräch, etwa in Frankreich und einigen osteuropäischen Ländern. Die eindeutige Dominanz des Englischen in einer Region, deren Eigenart gerade in ihrer sprachlichen und kulturellen Vielfalt besteht, hat in den vergangenen Jahren lebhafte Diskussionen über eine angemessene europäische Fremdsprachenpolitik ausgelöst. Dabei besteht Einigkeit darin, dass dem Erlernen von Fremdsprachen in einem zusammenwachsenden Europa in der Zukunft eine noch größere Rolle zukommen wird als heute. Bei aller Unterschiedlichkeit der vorgeschlagenen fremdsprachenpolitischen Konzepte (vgl. Bosch 1997) besteht doch auch darüber hinaus weitgehend Konsens, dass nicht der Beschränkung auf eine Fremdsprache, die in diesem Fall zweifellos die europa- und weltweite Leitsprache Englisch wäre, sondern einer individuellen Mehrsprachigkeit die Zukunft gehören wird. Nicht in der Konkurrenz zum Englischen, sondern im Kontext einer europäischen Mehrsprachigkeit wird auch das Deutsche seinen Platz als eine der wichtigsten europäischen Sprachen behaupten können.
3.
Entwicklungslinien der europäischen ,Auslandsgermanistik'
Das Studium der deutschen Sprache, Literatur und Landeskunde an Hochschulen außerhalb des deutschsprachigen Raums steht in engem Zusammenhang mit der Präsenz der
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
deutschen Sprache an den Schulen der betreffenden Länder. An Schulen werden die vor allem sprachlichen Grundlagen gelegt, auf denen das Studium aufbauen kann; die Schulen bieten den Absolventen aber in der Regel auch am ehesten eine Berufsperspektive als Deutschlehrer. Insofern gilt, dass sich nur da, wo der Deutschunterricht an Schulen vertreten ist, auch die Hochschulgermanistik gut entwickeln kann (vgl. Ammon 1991, 456 f.). Nach dem Bericht der Bundesregierung zur Stellung der deutschen Sprache in der Welt gab es zu Beginn der 80er Jahre in nahezu allen europäischen Ländern (Ausnahmen sind die Kleinstaaten Andorra, Vatikan, Malta und Zypern) germanistische Studiengänge (vgl. Auswärtiges Amt 1985, 62fF.). Was oben für die deutsche Sprache als Fremdsprache gesagt wurde, gilt entsprechend auch für die Germanistik: Sie ist vor allem eine europäische Wissenschaft und ein europäisches Studienfach. 3.1. ,Inlandsgermanistik' ,Auslandsgermanistik' Die Germanistik außerhalb des deutschsprachigen Raums orientierte sich in der Vergangenheit sowohl in Bezug auf die Gegenstände und Methoden der Forschung als auch in Bezug auf Struktur und Inhalte der Studiengänge an der muttersprachlichen Germanistik in den deutschsprachigen Ländern. Seit etwa Anfang der 80er Jahre ist allerdings eine weltweite Tendenz zur Emanzipation und zur Besinnung auf die je eigenen kulturellen und bildungspolitischen Rahmenbedingungen germanistischen Forschens und Lehrens zu beobachten — eine Tendenz, die ursprünglich vor allem von den zielsprachenfernen Ländern außerhalb Europas ausging, wo die wissenschaftliche Beschäftigung mit europäischen Sprachen und Kulturen unter den Bedingungen einer postkolonialen Besinnung auf das Eigene zunehmend fragwürdig und legitimationsbedürftig wurde. Ahnliche Emanzipationstendenzen sind aber längst auch in der europäischen Germanistik spürbar, wenn auch unter gänzlich anderen Voraussetzungen als etwa in Afrika oder Asien. Ein Vergleich zwischen inner- und außerdeutschen germanistischen Curricula, wie er beispielsweise auf der internationalen Germanistentagung des DAAD 1995 in Kassel vorgenommen wurde, zeigt, dass „die innerdeutsche Germanistik [...] als Bezugs- und Orientierungsmodell für die ausländische Germa-
nistik an Bedeutung verloren hat" (Blamberger/Neuner (Hg.) 1996, 5). Die Gründe für diese Entwicklung sind sicherlich weniger in den Bemühungen der ,interkulturellen Germanistik' zu suchen, die Vielfalt der kulturspezifischen , Blickwinkel' auf Deutsches und die deutschsprachigen Länder stärker zur Geltung zu bringen. Eher schon dürfte der von Anthony Stephens aus australischer Perspektive beklagte Jargon deutschsprachiger germanistischer Publikationen (vgl. Stephens 1996) und der erstaunliche Provinzialismus der muttersprachlichen Germanistik eine Rolle gespielt haben, die die erforderliche Internationalisierung ihrer Inhalte und Forschungsperspektiven bis heute weitgehend verweigert und die darum für die internationale Germanistik als Ansprechpartnerin von immer geringerem Interesse ist. Die letztlich entscheidenden Ursachen für die beschriebene Entwicklung sind aber nicht so sehr in der Germanistik selbst als in den (bildungs-)politischen Rahmenbedingungen zu suchen, unter denen sich germanistisches Forschen und Lehren heute in Europa behaupten muss. Diese Bedingungen aber sind in den meist der EU angehörenden Ländern des westlichen, südlichen und nördlichen Europa gänzlich anders als in den ehemals sozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas, weshalb eine separate Darstellung an dieser Stelle geboten scheint. 3.2. Westeuropa Die westliche Welt stand seit den frühen 80er Jahren im Zeichen des Neoliberalismus, mit den bekannten Implikationen: Rückführung der Staatsquote, Sanierung der öffentlichen Haushalte und zum Teil dramatischer Anstieg der Arbeitslosenzahlen. Dies wirkte sich auf die europäischen Bildungsinstitutionen unter anderem dadurch aus, dass an staatlichen Schulen vielfach deutlich weniger Lehrer eingestellt wurden als früher. Die angestammte Berufsperspektive vieler geisteswissenschaftlicher' und insbesondere fremdsprachenphilologischer Fächer ging verloren, was wiederum zu teilweise deutlich rückläufigen Zahlen bei Neueinschreibungen für diese Fächer führte. Einige der auf Grund dieser Entwicklungen um ihr Überleben kämpfenden Deutschabteilungen der Universitäten vor allem in West- und Nordeuropa, aber auch beispielsweise in der Türkei (vgl. Baici 1997), waren zu flexiblen Reaktionen gezwungen und entwickelten neue, stärker berufsqualifizierende Studiengänge, mit denen sie den ge-
10. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache I: Europäische Perspektive
wandelten Arbeitsmarktbedingungen und der gestiegenen Nachfrage nach unmittelbar praxis- und berufsrelevanten Ausbildungsinhalten gerecht zu werden versuchten. Traditionell philologische und insbesondere literaturwissenschaftliche Inhalte treten in diesen neuen Studiengängen gegenüber praktischen Sprach- und vor allem Fachkenntnissen aus den Bereichen Wirtschaft, Recht oder Tourismus, aber auch landeskundlichen Kenntnissen in den Hintergrund. Das in den USA entstandene Konzept der ,German Studies' mit seinen primär politik- und sozialwissenschaftlichen Inhalten gewinnt auch in Europa zunehmend an Einfluss und droht die traditionell philologischen Studiengänge auf den Rang von Orchideenfachern zurückzudrängen. Ein Germanistikstudium gänzlich ohne Literatur ist heute etwa an manchen Universitäten in Großbritannien schon Alltag, und diese Tendenz wird sich in den kommenden Jahren auch in anderen europäischen (wie außereuropäischen) Ländern weiter verstärken. 3.3. Mittel- und Osteuropa Gänzlich anders als in den westlichen Ländern Europas verlief die Entwicklung der Germanistik in Mittel- und Osteuropa, also in den Ländern des ehemals sozialistischen Lagers einschließlich des ehemaligen Jugoslawien und Albaniens (vgl. zum Folgenden König (Hg.) 1995). Nach der Eingliederung der meisten dieser Länder in den sowjetischen Machtbereich in der Nachkriegszeit wurden die Bildungsinstitutionen nach sowjetischem Vorbild umgestaltet. In der Germanistik wurden fünf] ährige Diplomstudiengänge eingeführt, die, neben den bekannten ideologischen Inhalten, traditionell philologisch orientiert waren und den Absolventen ausschließlich den Weg in den Lehrerberuf eröffneten, ohne dass dafür im Studium entsprechende berufsqualifizierende Lehrveranstaltungen vorgesehen waren. Nach der politischen Wende 1989 bzw. 1991 wurde das sowjetische System der Hochschulausbildung vielfach abgeschafft und durch ein am angloamerikanischen Modell orientiertes mehrstufiges System ersetzt. An die Stelle des alten Diploms tritt als erster akademischer Grad und berufsqualifizierender Abschluss der Bachelor (nach drei oder vier Jahren), an den sich ein ein- oder zweijähriges wissenschaftliches Aufbaustudium anschließen kann, das mit einem dem ameri-
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kanischen Master entsprechenden Grad abgeschlossen wird. Nach der relativ schnell und auf administrativem Weg erfolgten formalen Änderung der gesamten Hochschullandschaft wurden an vielen Deutschabteilungen des östlichen Europa und unter maßgeblicher Beteiligung ausländischer, d. h. vor allem deutscher Lektoren und Gastdozenten ehrgeizige Reformprojekte initiiert, die der formalen Modernisierung nunmehr auch eine inhaltliche folgen lassen wollten. Nicht zuletzt als Reaktion auf die dramatisch veränderten Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt für Absolventen fremdsprachlicher Fächer verfolgten diese Reformprojekte meist das Ziel einer stärkeren Professionalisierung der Studiengänge. Nicht mehr nur die germanistische Fachsystematik sollte die Studieninhalte bestimmen, vielmehr sollten die Anforderungen der künftigen berufspraktischen Tätigkeit weitaus mehr Gewicht bekommen, als dies in den traditionellen Studiengängen der Fall war. Neben einer Ausbildung als Dolmetscher und Übersetzer wurden neue Curricula insbesondere für die Ausbildung von Deutschlehrern entwickelt, die die herkömmlichen philologischen Inhalte des Studiums zumindest durch eine Ausweitung und Modernisierung der fremdsprachendidaktischen Anteile ergänzen wollten. Die meisten der in einschlägigen Publikationen (vgl. ζ. B. Altmayer 1995; Gehrmann 1993; Koreik 1997) beschriebenen Reformprojekte scheinen in der Praxis wenig erfolgreich zu sein. Viele Reformvorhaben scheiterten an den übergeordneten Instanzen der nunmehr gänzlich autonomen Universitäten oder aber konnten aus eher pragmatischen Gründen, ζ. B. Mangel an einschlägig qualifiziertem Lehrpersonal oder einfach an Geld, nicht umgesetzt werden. Ein nicht unerheblicher Widerstand gegen Reformen aber kam und kommt auch von den Germanisten selbst, die eine so weitgehende Professionalisierung und Entphilologisierung ihres Fachs, wie es viele der an westlichen Vorbildern orientierten und die eigenkulturellen Traditionen weitgehend vernachlässigenden Reformen vorsahen, nicht mittragen wollten. Erfolgversprechende Ansätze einer Erneuerung der Deutschlehrerausbildung sind daher vielfach eher von neu gegründeten Lehrerkollegs etwa in Polen zu erwarten als von einer inneren Reform der traditionellen Germanistik (vgl. Krumm 1996 und 1999). Die herkömmliche deutsche Philologie hat heute an vielen Deutschabteilungen Mittel-
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
und Osteuropas noch einen guten Ruf, wie etwa ein Blick in die seit der ,Wende' vom DAAD betreuten germanistischen Jahrbücher der ungarischen {Jahrbuch der ungarischen Germanistik), polnischen (Convivium), tschechischen und slowakischen (Brücken), der russischen (Das Wort) oder der baltischen (Triangulum) Germanistik zeigt. Die historische Sprachwissenschaft beispielsweise ist hier gut vertreten, und auch die altehrwürdige geistesgeschichtliche Literaturinterpretation wird gepflegt. Hier scheinen auch die Diskussionen um eine ,interkulturelle Germanistik' auf fruchtbaren Boden zu fallen, denn in einigen Ländern der Region besinnt man sich zunehmend auf die multikulturelle Tradition und auf das reichhaltige kulturelle Erbe, das die deutschsprachige Bevölkerung etwa in der Ukraine, im Baltikum oder in Ungarn hinterlassen hat - ein Erbe, das heute vielfach als Teil der eigenen Tradition aufgefasst wird. Hier eröffnen sich auch einer philologischen und sich als ,interkulturell' begreifenden Germanistik in ,Mitteleuropa' neue und sinnvolle Perspektiven, die zu einer neuen Identitätsbildung in dieser europäischen Kernregion beitragen können (vgl. Altmayer 1995a; Grucza 1995; Vajda 1995).
4.
Germanistik u n d Deutsch als Fremdsprache in einzelnen L ä n d e r n
Den bisherigen, eher allgemein gehaltenen Ausführungen über aktuelle Entwicklungstendenzen des Faches Deutsch als Fremdsprache bzw. der Germanistik in Europa sollen nun detaillierte Darstellungen zur Situation in vier ausgewählten europäischen Ländern folgen. Dabei ist die Auswahl von Frankreich, Großbritannien, der Niederlande sowie Ungarns einerseits dadurch begründet, dass das Deutsche als Fremdsprache in diesen Ländern von besonderer Bedeutung ist und/oder auf eine längere Tradition zurückblicken kann. Andererseits aber versteht sich die Auswahl auch als exemplarisch, da sich gerade an diesen Beispielen die ζ. T. widersprüchlichen Tendenzen des Faches verdeutlichen lassen. Gemeinsam ist allen ausgewählten Ländern der Anpassungsdruck, der seit 1989 von den veränderten politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen auf die Bildungsinstitutionen im Allgemeinen und den Fremdsprachenunterricht im Besonderen ausgeht. Unterschiedlich, auch unterschiedlich erfolgreich, sind jedoch die Reaktionen
der Institutionen in den verschiedenen Ländern. Während sich beispielsweise in Frankreich mit seinem stark zentralistischen Bildungssystem gewisse Beharrungstendenzen zeigen, haben Schulen und Universitäten in Großbritannien und den Niederlanden teilweise sehr flexibel auf die neuartige Herausforderung durch zurückgehende Schüler- und Studentenzahlen im Fach Deutsch reagiert. Ungarn schließlich steht hier stellvertretend für die besonders schwierige Situation in Mittel· und Osteuropa, die bei aller wachsenden Heterogenität der Region derzeit doch noch zu viele Ähnlichkeiten bei der Umgestaltung der Bildungssysteme aufweist, als dass die detaillierte Darstellung dieser Entwicklung etwa auch noch in Polen oder im Baltikum an dieser Stelle gerechtfertigt wäre. 4.1. Frankreich Trotz der wechselvollen Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen im 20. Jh. spielte die deutsche Sprache im schulischen Fremdsprachenunterricht in Frankreich immer eine relativ große Rolle (vgl. Art. 155). Zwar sank der Anteil deutschlernender Schüler von 25—27% in den 20er und 30er Jahren infolge Nationalsozialismus, Krieg und Besatzung bis 1945 auf nahezu Null, die rasche und positive Entwicklung der Beziehungen zwischen Westdeutschland und Frankreich nach dem Krieg führte aber in den 50er und 60er Jahren zu einer Neubelebung des schulischen Deutschunterrichts (vgl. Martin 1987, 28 f.). Seit dieser Zeit ist der Anteil deutschlernender Schüler bei ca. 15% in etwa konstant geblieben. Nach Erhebungen des Auswärtigen Amtes ist die absolute Zahl der Deutschlernenden an französischen Schulen sogar von ca. 1 Mio. (1982/83) auf ca. 1,5 Mio. (1993/94) gestiegen. Innerhalb der Europäischen Union ist Frankreich damit das Land mit der höchsten Zahl deutschlernender Schüler: auch dies sicherlich ein Indiz für die besondere Rolle des deutsch-französischen Verhältnisses in Europa. Mit ca. 1,5 Mio. Lernenden ist Deutsch nach Englisch mit ca. 5 Mio. die zweitwichtigste Fremdsprache in Frankreich, teilt sich diesen Rang aber mit dem Spanischen, das ebenfalls von etwa 1,5 Mio. Schülern gelernt wird (mit deutlichem Übergewicht in den südwestlichen Landesteilen, wohingegen das Deutsche gegenüber dem Spanischen im Norden und Osten dominiert, David 1993, 247f.). Während das Deutsche als 2. Fremdsprache gegenüber dem Spanischen landesweit zu-
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rückgeht, kann es sich als 1. Fremdsprache mit einem Anteil von ca. 15% (gegenüber Englisch mit ca. 80%) behaupten, während das Spanische als 1. Fremdsprache so gut wie keine Rolle spielt. Abgesehen von der spezifischen Bedeutung des Deutschen als Nationalitätensprache in Lothringen und im Eisass hat dies vor allem damit zu tun, dass Deutsch als besonders schwierige Sprache gilt und daher im Rahmen des auf Elitebildung angelegten französischen Bildungswesens als „verschleiertes Selektionsmittel" (David 1993, 243) fungiert. Diese Tendenz zur Elitebildung ist insbesondere im Hochschulbereich deutlich erkennbar, der durch das traditionelle, noch in die napoleonische Zeit zurückgehende Nebeneinander von Elitehochschulen (Grandes Ecoles) und Universitäten geprägt ist. Während die Grandes Ecoles, aus denen der Führungsnachwuchs in Wirtschaft, Verwaltung und Forschungsinstitutionen des Landes rekrutiert wird, schwere Aufnahmeprüfungen vornehmen, die eine zweijährige Vorbereitungszeit {classes préparatoires) nach dem Abitur voraussetzen, stehen die meisten Universitäten allen offen, kennen weder Aufnahmeprüfungen noch andere Auswahlkriterien wie etwa einen Numerus Clausus. Dies hat zur Folge, dass die leistungsfähigsten Abiturienten auf die Elitehochschulen streben, die ihren Absolventen attraktive und in der Regel gut bezahlte Arbeitsplätze garantieren können, während die Universitäten unter Massenandrang und einem schwächeren Leistungsprofil ihrer Studierenden zu leiden haben und sich dagegen mit einer rigorosen Auslese während des Studiums und mit attraktiveren Studienangeboten zur Wehr setzen (vgl. Ewert/Lullies 1984, 192f.; Krebs 1994). Die durchweg fach- und berufsorientierten Studiengänge der Grandes Ecoles sehen zwar einen obligatorischen Anteil an Fremdsprachenunterricht vor, wobei sich das Deutsche auf Grund seines schon erwähnten Status' als schwierige Sprache erstaunlich gut behaupten kann (vgl. Jung 1993); germanistische Studiengänge sind aber - sieht man von den lehrerausbildenden Ecoles Normales Supérieures ab - in der Regel an den Universitäten angesiedelt. Nach einer nicht repräsentativen und in ihren Ergebnissen daher wohl nicht ganz zuverlässigen Umfrage der DAAD-Außenstelle Paris waren im Studienjahr 1997/98 an 40 Universitäten mit germanistischem Angebot etwa 16000 Studierende eingeschrieben,
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fast die Hälfte (44%) davon allerdings in den neuen, 1976 eingeführten praxis- und berufsorientierten LiL4-Studiengängen (Langues Etrangères Appliquées — Angewandte Fremdsprachen), nur etwa 56% in der traditionellen Germanistik (Langues et Civilisations Etrangères-Allemand; LCE). Die LEA-Studiengänge wurden in den 70er Jahren als Reaktion auf die Konkurrenz der Elitehochschulen und auf die zunehmende Akademikerarbeitslosigkeit als berufsqualifizierende Alternative zu den herkömmlich philologischen Fremdsprachenstudiengängen eingerichtet. Die Absolventen werden hier für Berufswege außerhalb von Schule und Hochschule ausgebildet, etwa in Tourismus, Wirtschaft oder Lokalverwaltung. Zwei Fremdsprachen sind obligatorisch, eine dritte kann zusätzlich gewählt werden, wobei der Unterricht eine starke fachsprachliche Komponente besitzt. Hinzu kommen Lehrveranstaltungen zu fachlichen, etwa rechts-, wirtschafts- oder verwaltungswissenschaftlichen Fragen sowie obligatorische Praktika in Wirtschaft und Verwaltung, vorzugsweise in den jeweiligen Zielsprachenländern. Auch die Landeskunde {civilisation allemande) spielt eine hervorgehobene Rolle. Die radikale Entphilologisierung und die Anpassung an die Anforderungen des Arbeitsmarktes in den LEA-Studiengängen ist nicht unumstritten, bei den Studierenden erfreuen sich diese Studienangebote jedoch einer wachsenden Beliebtheit. Über die tatsächlichen Chancen der LEA-Absolventen auf dem Arbeitsmarkt in- und außerhalb Frankreichs liegen allerdings keine verlässlichen Angaben vor (vgl. Schneilin 1986, 12f.; zur Kritik vgl. Hofmann 1993, 378ff.). Die Ausgliederung der praxis- und berufsorientierten LEA-Studiengänge aus den traditionellen Fremdsprachenphilologien hat deren Modernisierung nicht gefördert, eher sah man sich zu einer stärkeren Absicherung und Verfestigung traditioneller Orientierungen herausgefordert. Den Absolventen der fremdsprachenphilologischen Germanistik bieten sich Arbeitsmöglichkeiten vor allem im Lehrberuf, was allerdings neben dem universitären Abschluss {licence bzw. maîtrise) noch das Bestehen eines nationalen ,Wettbewerbs' {concours) voraussetzt. Frei werdende Lehrerstellen an Schulen werden ausschließlich nach den Resultaten dieser Fachprüfungen {CAPES — Certificat d'Aptitude Professionnelle au Professorat de l'Enseignement du Second degré bzw. Agrégation) vergeben, was
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
zur Folge hat, dass sich die Programme der Lehramtsstudiengänge weitgehend an den Programmen der ,concours' orientieren. In der Germanistik ist vor allem aus diesem Grund eine deutliche Dominanz der Literatur gegenüber anderen Teilbereichen des Faches wie der Linguistik oder der Landeskunde zu verzeichnen. Hinzu kommt, dass Literatur auf eher traditionelle Weise vermittelt wird, meist in Form von Vorlesungen oder travaux dirigés, und dass der Kanon vor allem Texte vom späten 18. bis zum frühen 20. Jh. vorsieht, die zeitgenössische Literatur dagegen eher unterrepräsentiert ist (Schneilin 1986, 14; Zeyringer 1991). Pädagogische oder (fremdsprachen-)didaktische Anteile kennt das Germanistikstudium an französischen Universitäten schließlich so gut wie gar nicht. Seit Mitte der 80er Jahre kam es zu anhaltenden Diskussionen über die nachlassende Qualität des Schulunterrichts, was das französische Erziehungsministerium schließlich zu einer Reform der Lehrerausbildung veranlasste. Landesweit wurden zu Beginn der 90er Jahre 26 sogenannte IUFM {Instituts Universitaires de Formation des Maîtres — Universitätsinstitute für Lehrerbildung) gegründet, die die angehenden Lehrer nach bestandenem CAPES in einer einjährigen Praxisphase auf ihre Berufstätigkeit vorbereiten. Außerdem wurde eine berufsbezogene Teilprüfung (épreuve sur dossier) in das Programm zur Erlangung des CAPES aufgenommen (vgl. Ott 1994). 4.2. Großbritannien Seit der Einführung moderner Fremdsprachen in den Unterricht britischer secondary schools zu Beginn des 20. Jh.s führt die deutsche Sprache hier eher ein Schattendasein (vgl. Art. 149). Dies hat seine Ursache nicht nur darin, dass sich Schüler im Mutterland der Weltsprache Englisch prinzipiell für Fremdsprachenkenntnisse weniger begeistern lassen als anderswo, sondern vor allem in der traditionellen und bis heute ungebrochenen Dominanz des Französischen als erster und vielfach einziger Fremdsprache. Nach einer Statistik des britischen Erziehungsministeriums lernten in den achtziger Jahren nur ca. 5% der britischen Schüler Deutsch (gegen 87% Französisch) (vgl. Sandford 1986, 4), nach dem Bericht der Bundesregierung zur Stellung der deutschen Sprache in der Welt waren es 1982/83 sogar nur 2%, was besagt, dass etwa 88000 Schüler an britischen Sekundärschulen Deutsch lernten (vgl. Auswär-
tiges Amt 1985, 62). Legt man die Zahl der Abschlussprüfungen (General Certificate of Education — Ordinary Level: GCEO) des britischen Sekundarschulwesens in den einzelnen Fächern als Indikator zu Grunde, lässt sich allerdings eine etwas freundlichere Entwicklung ablesen. So stieg die Zahl der GCEO-Prüfungen im Fach Deutsch von 1951 (dem Jahr der Einführung des GCEO) bis zu Beginn der 80er Jahre mehr oder weniger kontinuierlich von etwa 10000 auf 53000 an. Dieser deutliche Zuwachs wird in seiner Bedeutung etwas relativiert durch den gleichzeitigen Anstieg der Prüfungen in Fremdsprachen generell (von ca. 120000 1951 auf ca. 265000 1980), dennoch ist ein proportionaler Zugewinn des Deutschen in dieser Zeit unverkennbar. Im Vergleich aller an britischen secondary schools' unterrichteten Fremdsprachen einschließlich der alten Sprachen hat Deutsch seit den 70er Jahren dem kontinuierlich zurückgehenden Lateinischen den zweiten Platz abgenommen und diesen auch gegenüber dem Spanischen klar behauptet. Zwar ist die Dominanz des Französischen (mit ca. 166000 GCEO-Prüfungen 1980) nach wie vor ungebrochen; das Verhältnis hat sich jedoch von etwa 1:8 zu Beginn der 50er zu etwa 1:3,5 zu Beginn der 80er Jahre zu Gunsten des Deutschen verschoben (Zahlen nach Ortmanns 1993, 167f.). Diese Tendenz ist noch deutlicher erkennbar, wenn man die Zahlen der Ober Stufenprüfung (General Certificate of Education — Advanced Level: GCEA) zu Grunde legt, die in der Regel als Voraussetzung für ein Studium des entsprechenden Faches gilt. Auch hier ist ein Anstieg von ca. 2000 im Jahr 1951 auf etwa 9000 im Jahr 1983 zu verzeichnen; der Anteil der ALevel-Prüfungen in Deutsch an den Prüfungen in allen Fremdsprachen ist im gleichen Zeitraum um ca. 120% gestiegen, während der Anteil der Französisch-Prüfungen mit etwa 14% nur geringfügig gewachsen ist beides im Übrigen zu Ungunsten des Lateinischen, dessen Anteil um 78% gesunken ist (Zahlen nach Ortmanns 1993, 173f.). In der Mitte der 80er Jahre weisen alle statistischen Angaben einen deutlichen Abwärtstrend aus, der sich aber nicht allein auf Deutsch, sondern auf das Interesse an Fremdsprachen überhaupt bezieht. Mit Beginn der 90er Jahre lässt sich jedoch an allen britischen Bildungsinstitutionen ein neu erwachtes Interesse zumindest am Deutschen verzeichnen; inwieweit es sich dabei um ein auf die Fremdsprache Deutsch beschränktes
10. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache I: Europäische Perspektive
Phänomen handelt, ist anhand der zugänglichen Daten nicht zu erkennen. So weist die neue Erhebung der Bundesregierung zur Situation der deutschen Sprache in der Welt für 1993/94 eine Zahl von 126400 Deutschlernenden an britischen Sekundärschulen (gegenüber 88000 1982/83) aus. Auch die Zahl der Deutschstudierenden an britischen Hochschulen, die in den 80er Jahren gegen Null tendierte und eine erhebliche Legitimationskrise der britischen Germanistik verursachte, steigt in der Zwischenzeit landesweit wieder deutlich an (vgl. Kolinsky 1994, 26ff.). Die nahe liegende Frage, ob es sich bei dieser kleinen Aufwärtsentwicklung des Schul- und Studienfaches Deutsch um eine kurzfristige und vorübergehende Reaktion auf die politische Entwicklung der Jahre 1989/90 handelt oder um einen tiefer motivierten Wandel des Ansehens von Fremdsprachen im Allgemeinen und der Fremdsprache Deutsch im Besonderen, kann zur Zeit nicht beantwortet werden. Immerhin aber stellt das gestiegene Interesse am Deutschen bei Schülern und Studenten einen höchst aufschlussreichen Gegensatz zu dem von Teilen der politischen Führungselite und der Medien im Jahr 1990 kolportierten Bild vom hässlichen und bedrohlichen Deutschen dar (zum Deutschlandbild in Großbritannien vgl. Kettenacker 1991; zum Deutschlandbild insbesondere britischer Studierender vgl. Hortmann 1993). Eine vergleichbare Entwicklung wie der Deutschunterricht an Schulen nahmen in den 80er Jahren auch die germanistischen Studiengänge an britischen Universitäten: Nach einer Phase der Expansion in den 70er Jahren geriet die Germanistik seit etwa 1980 in eine Krise, die vor allem durch zwei Faktoren bedingt war. Zum einen führte die Deregulierungspolitik der konservativen Regierung zu empfindlichen Haushaltskürzungen im universitären Bereich; Einsparungen von bis zu 40% des Etats innerhalb eines Jahres waren bei manchen Universitäten zu verkraften, was insbesondere zu Lasten der geisteswissenschaftlichen Fächer ging. In der Germanistik ist in dieser Zeit ein Stellenverlust beim Lehrpersonal von landesweit etwa 30% zu verzeichnen (vgl. Durreil 1992, 27). Zum andern ging die Zahl der Studierenden des Faches zur gleichen Zeit so drastisch zurück, dass an einigen Abteilungen zeitweise überhaupt keine Neuaufnahmen zu registrieren waren (vgl. Kolinsky 1994, 26). Beide Entwicklungen haben sich seit Anfang der 90er Jahre wieder umgekehrt, die
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Zahl der Studierenden weist wieder steigende Tendenz auf, und eine Reihe von Stellen auf Professoren- und .Lecturer'-Ebene konnten zwischenzeitlich neu eingerichtet und besetzt werden. Allerdings ist die britische Germanistik aus der Krise der 80er nicht unverändert hervorgegangen. Die politisch durchgesetzte Koppelung der Finanzierung der Universitäten und Colleges an die Zahl der Studierenden und die Qualität der Forschung hat einen heilsamen Anpassungsdruck hervorgebracht, der in der Germanistik zu einer stärkeren Berücksichtigung der Interessen der Studierenden und des Arbeitsmarktes führte. Zwar lassen sich auf Grund der weitgehenden Selbstständigkeit der einzelnen Universitäten und ihrer German Departments kaum allgemein gültige Aussagen über die sehr heterogenen Studiengänge machen. Dennoch ist eine deutliche Entwicklung weg von den traditionellen philologischen Inhalten und hin zu den neuen combined studies, der Verbindung des Deutschstudiums mit vor allem sozialwissenschaftlichen Fachstudien, überall erkennbar. Eine herausragende Rolle bei dieser Entwicklung spielen die neuen praxis- und berufsorientierten German Area Studies oder ein-
fach German Studies, Studiengänge also, bei denen die literarisch-philologische Komponente einerseits zu Gunsten einer Aufwertung des Sprachunterrichts und andererseits zu Gunsten im weitesten Sinne landeskundlicher, d. h. etwa politik-, rechts- oder wirtschaftswissenschaftlicher Inhalte zurückgedrängt wurde. Zwar stößt die Entwicklung zu einer „literaturlosen Germanistik" (Sandford 1986, 3) nicht überall auf Zustimmung; auch sind gewisse Defizite insbesondere im Forschungsprofil des neuen multidisziplinären Faches ,German Studies' unübersehbar (vgl. Reeves 1990; 1992). Dennoch spricht vieles dafür, dass nicht der traditionellen philologischen Ausrichtung der Germanistik, sondern den weitgehend entphilologisierten , German Studies' die Zukunft an britischen Universitäten - und nicht nur dort - gehören wird. 4.3. Niederlande Als relativ kleines Land mit intensiven Kontakten zu den Nachbarn in Wirtschaft, Handel und Tourismus sind die Niederlande in noch höherem Maße auf die Ausbildung von Fremdsprachenkenntnissen angewiesen als die großen EU-Länder wie Deutschland, Frankreich oder Großbritannien (vgl. Art. 153). Der objektive ,Bedarf, insbesondere an Deutschkenntnissen in Wirtschaft und Ver-
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
waltung, spiegelt sich allerdings in der schulischen Situation nicht immer angemessen wider. Die Bedeutung der Fremdsprache Deutsch in den Niederlanden ist rückläufig, allerdings nimmt sie hier nach wie vor ungefährdet den 2. Rang nach Englisch und deutlich vor Französisch ein. Andere Fremdsprachen spielen in den Niederlanden praktisch keine Rolle. Als Indikator für die Popularität von Deutsch gelten in den Niederlanden heute die Zahlen der Schüler weiterführender Schulen, die Deutsch neben den Pflichtfächern Niederländisch und Englisch und - je nach Schulform - 2 - 4 weiteren Fächern in ihr ,Examenspaket' aufnehmen (vgl. Beersmans 1987, 39). Nach einer von der Stichting Platform Duitsland durchgeführten repräsentativen Erhebung haben sich 1997 in den drei Schulformen des allgemeinbildenden Sekundarbereichs (mavo, havo, vwo) zwischen 37 und 40% für Deutsch und 20-34% für Französisch entschieden. Im Schuljahr 1973/74 hatten die Zahlen für alle drei Schulformen zusammen noch bei 65% gelegen und sind bis 1982/83 auf 57% zurückgegangen. Der negative Trend setzte sich in den 80er und 90er Jahren fort: in der mavo (etwa vergleichbar mit der deutschen Hauptschule) von 55% 1989 auf 49% 1997, in der havo (Realschule) von 45 auf 37 und in der vwo (Gymnasium) von 46 auf 43% im gleichen Zeitraum. Lediglich in der Ende der 80er Jahre eingeführten neuen weiterbildenden Berufsschule vbo war die Tendenz gleichbleibend, allerdings mit 19% auf eher bescheidenem Niveau (Zahlen nach: Schalkwijk 1998, 9ff.). Die Ursachen für das abnehmende Interesse am Deutschen und an allen Fremdsprachen außer dem Englischen dürften nicht zuletzt auf bildungsadministrative Maßnahmen, vor allem auf die Abschaffung des Pflichtfachcharakters der drei modernen Fremdsprachen im Zuge der Bildungsreform von 1968, zurückzuführen sein. Die Beschränkung auf nur noch eine Fremdsprache im Pflichtfachkatalog führt in der Regel zu einer weiteren Bevorzugung des Englischen — eine Entwicklung, die zu der Politik der Mehrsprachigkeit in Europa in einem eklatanten Widerspruch steht. Welche Rolle die Spezifik des Deutschlandbildes für das schwindende Interesse an der Fremdsprache Deutsch spielt, lässt sich kaum empirisch belegen. Eine Untersuchung von 1993 (der sog. ,ClingendaelBericht') schien zunächst die schlimmsten Befürchtungen über das negative Deutschlandbild unter niederländischen Jugendlichen
zu bestätigen. Allerdings zeigt die oben erwähnte Erhebung von 1997, dass einige Ergebnisse des seinerzeit auch in Deutschland viel diskutierten Clingendael-Berichts doch deutlich relativiert werden müssen. Weit über 60% der niederländischen Schüler haben demnach kein negatives, sondern ein neutrales oder positives Bild vom Nachbarn im Osten (vgl. Schalkwijk 1998, 7). Die sich bereits in den 80er Jahren deutlich abzeichnende negative Entwicklung der Fremdsprache Deutsch hat in den Niederlanden zur Gründung zweier Stiftungen (Stichting ter bevordering van de duitse taal in Nederland — Stiftung zur Förderung der deutschen Sprache in den Niederlanden; Stichting Duitslandstudies - Stiftung Deutschlandstudien) geführt, die sich die Förderung der deutschen Sprache und des Wissens über Deutschland in den Niederlanden zum Ziel gesetzt haben. Beide Stiftungen, die sich 1997 zur Stichting Platform Duitsland zusammenschlossen, versuchen über die direkte politische Beeinflussung, über öffentlichkeitswirksame Aktivitäten oder auch durch die Entwicklung didaktischer Materialien Einfluss auf die niederländische Sprachenpolitik zu nehmen. Das Studienfach Deutsch bzw. Germanistik gibt es an niederländischen Universitäten seit der 2. Hälfte des 19. Jh.s, als erstmals ein germanistischer Lehrstuhl an der Universität Groningen eingerichtet wurde. Erst seit den 20er Jahren ist die Germanistik ein voll anerkanntes Universitätsstudium mit allen akademischen Abschlussmöglichkeiten. Dabei werden an den Universitäten traditioneller Weise Deutschlehrer für die höheren Klassen (Sekundarstufe II) ausgebildet, daneben gibt es eine nicht-akademische Ausbildung für Deutschlehrer der unteren Klassen, die von Fachhochschulen durchgeführt wird (vgl. Schönau 1992, 466f.). Das Germanistikstudium an den sechs niederländischen Universitäten ist bisher eher traditionell philologisch ausgerichtet. Einer einjährigen ,propädeuse' mit sprachpraktischem Schwerpunkt schließt sich die dreijährige ,doctoralfase' an, in der sprach- und literaturwissenschaftliche sowie landeskundliche Lehrveranstaltungen absolviert werden. Auch in dieser zweiten Studienphase findet noch Sprachunterricht statt, der die Studierenden zu einem ,near native'-Niveau führen soll. Die eigentliche Lehrerausbildung schließt sich in Form eines einjährigen Zusatzstudiums mit allgemein pädagogischen und fach-
10. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache I: Europäische Perspektive
didaktischen Inhalten an das philologische Fachstudium an. Ganz anders, nämlich von vornherein berufs- und praxisorientiert, verläuft das Studium an den pädagogischen Fachhochschulen. Auch hier dauert das Studium vier Jahre; es wird bisher nur ein Fach studiert, was aber demnächst zu Gunsten eines zweiten Unterrichtsfachs geändert werden soll. Die Inhalte des Studiums, also etwa Sprachwissenschaft, Literatur und Landeskunde, sind stark didaktisch orientiert und zudem eng mit dem eigentlichen Sprachunterricht verzahnt. Aufgrund demographischer Entwicklungen wurden in den Niederlanden seit etwa Mitte der 70er Jahre kaum noch Lehrer in den Schuldienst eingestellt; es kam zu einer nicht unerheblichen Arbeitslosigkeit unter den Absolventen der Lehramtsfächer. Die dadurch fehlende Berufsperspektive wirkte sich auf die Zahlen der Studierenden dieser Fächer negativ aus, nicht zuletzt die DeutschStudiengänge an den Universitäten und Fachhochschulen waren dadurch zum Teil in ihrer Existenz bedroht. Zwar wurde bisher noch keine germanistische Abteilung an einer der Universitäten geschlossen, überall aber wurde, bedingt nicht zuletzt durch die Koppelung der Hochschulfinanzierung an die Zahl der Studierenden, drastisch gekürzt, vor allem beim Personal. Die Deutsch-Abteilungen waren zur Anpassung an die veränderten Bedingungen, d. h. zur Schaffung neuer attraktiver und (arbeits-)marktorientierter Studienangebote, gezwungen. So wurde zum einen das Sprachlehrangebot auf unterschiedlichen Niveaus und mit unterschiedlichen Zielsetzungen stark ausgeweitet. Zum andern wurden Studiengänge wie Europäische Studien oder Deutschlandstudien geschaffen, die zu den herkömmlichen philologischen Fächern in Konkurrenz traten. In den 80er und 90er Jahren wurden an drei Universitäten (Amsterdam, Groningen, Nijmegen) interdisziplinäre Forschungszentren für Deutschlandstudien eingerichtet, die im Wesentlichen sozial- und wirtschaftswissenschaftlich oder historisch ausgerichtet sind und bei denen die herkömmliche Germanistik allenfalls eine Nebenrolle spielt. Es zeichnet sich in den Niederlanden eine Tendenz ab, wie sie auch schon in Frankreich und besonders in Großbritannien beobachtet wurde. Die klassischen philologischen Inhalte des Germanistikstudiums, vor allem die Literaturwissenschaft, verlieren zunehmend an Kredit. Die traditionelle sprachlich-literarische Bildung scheint nicht
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mehr die vorrangige Aufgabe des Studiums fremdsprachenphilologischer Disziplinen zu sein. An ihre Stelle treten .verwertbare' Kenntnisse und Fertigkeiten wie etwa spezifische Fremdsprachenkenntnisse oder auch kulturelles Wissen. Man mag dies bedauern (vgl. Bormann 1995), aufhalten wird man es nicht. 4.4. Ungarn Das Deutsche hat als Fremdsprache, Verkehrssprache und Nationalitätensprache in Ungarn eine lange Tradition. Bedingt vor allem durch eine offensive Sprachenpolitik der habsburgischen Doppelmonarchie im 18. und 19. Jh. konnte sich das Deutsche hier als Staatssprache und als Verkehrs- und Publikationssprache der Gebildeten und Intellektuellen etablieren (vgl. auch Art. 160). Die Minderheit der Ungarndeutschen war um die Wende zum 20. Jh. mit ca. 2 Millionen Menschen (nach Bassola 1995, 224) die nicht nur zahlenmäßig bedeutendste Minderheitengruppe des Landes. An den ungarischen Schulen war Deutsch die bei weitem wichtigste (lebende) Fremdsprache (vgl. Földes 1993, 218 f.). Diese Situation änderte sich dramatisch durch den politischen Systemwandel in Ungarn nach 1945. Die deutschsprachige Minderheit wurde weitgehend vertrieben oder hat in den Folgejahren das Land verlassen, ihre Zahl wird heute allgemein mit nur noch ca. 220000 Menschen angegeben (Bassola 1995, 225). In den nach sowjetischem Muster umgestalteten Bildungsinstitutionen wurde Russisch als Pflichtfremdsprache eingeführt, lediglich an den vierklassigen Gymnasien und an den Hochschulen bestand die Möglichkeit, neben dem obligatorischen Russisch eine weitere Fremdsprache zu lernen, und hier spielte dann auch das Deutsche neben dem Englischen und anderen westlichen Sprachen noch eine gewisse Rolle. Die ideologisch motivierte und an den tatsächlichen Bedürfnissen eines sprachlich von seiner Umgebung weitgehend isolierten Landes völlig vorbeigehende Fremdsprachenpolitik führte zu geradezu katastrophalen Ergebnissen. Nach einer Ende der 80er Jahre erstellten Statistik verfügten zu dieser Zeit nur 4,6% der Ungarn über Fremdsprachenkenntnisse - eine Zahl, mit der Ungarn vor Albanien den zweitletzten Platz in Europa einnimmt (vgl. Manherz u. a. 1998, 4). Schon vor der politischen Wende von 1989 sah man sich daher zu einschneidenden Maßnahmen in der Bildungspolitik gezwungen. 1989
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
wurde Russisch als Pflichtfremdsprache abgeschafft, mit der Folge, dass das Interesse am Russischen innerhalb weniger Jahre auf nahezu Null zurückgegangen ist, während gleichzeitig die Nachfrage nach Unterricht in den westlichen Sprachen, und hier fast ausschließlich Englisch und Deutsch, enorm gestiegen ist. Nach Angaben des ungarischen Bildungsministeriums von 1997 ist die Zahl der Deutsch lernenden Schüler aller Schultypen von Primarstufe bis Sekundarstufe II von etwa 300000 im Schuljahr 1990/91 auf 560000 im Schuljahr 1996/97 gestiegen, seit 1994 allerdings mit stagnierender Tendenz. Gleichzeitig ist die Zahl der Englischlerner von 270000 auf 537000 gestiegen, mit kontinuierlich steigender Tendenz (Zahlen nach Manherz u. a. 1998, 14). Vergleicht man jedoch die Zahlen für Deutsch und Englisch nach ihrer Verteilung auf die verschiedenen Schulformen (achtklassige Grundschule, Fachmittelschule, Gymnasium) und nach ihrer regionalen Verteilung (städtische vs. ländliche Regionen), so zeigt sich ein signifikanter Unterschied in der sozialen Funktion der beiden Schulfremdsprachen: Während Deutsch eher in kleineren Orten und in der Grundund Fachmittelschule dominiert, wird Englisch vor allem in größeren Städten und am Gymnasium sowie an Hochschulen gewählt. Englisch gilt in akademischen Kreisen als Bildungssprache, die Modernität symbolisiert, und wird vorwiegend aus Prestigegründen gewählt, wohingegen Deutsch eher aus pragmatischen Gründen der Berufsorientierung gelernt wird. Die geographische Nähe und die politische und vor allem wirtschaftliche Bedeutung des deutschsprachigen Raums für Ungarn wirkt sich hier in besonderer Weise aus: 40% des ungarischen Außenhandels und 70% des Tourismus werden mit den deutschsprachigen Ländern realisiert, deutschsprachige Presse und deutschsprachiges Fernsehen sind in Ungarn problemlos erreichbar, was den unmittelbaren Praxisbezug der deutschen Sprache noch verstärkt (Földes 1992, 32f.; Paul 1996, lllf.). Eine spezifische Bedeutung kommt dem Deutschen in Ungarn auch heute noch als Sprache der deutschen Minderheit bzw., nach ungarischem Sprachgebrauch, der deutschen Rationalität' im Lande zu. Zwar macht die deutsche Minderheit mit ihren ca. 220000 Angehörigen heute nur noch etwa 2% der Bevölkerung aus, dennoch genießt sie wie die anderen nationalen Minderheiten der Rumänen, Slowaken und Kroaten einen gesetzlich
geregelten Minderheitenschutz, der sich unter anderem in der Bereitstellung nationalsprachlicher staatlicher Bildungseinrichtungen auswirkt (vgl. Szende 1990 und 1990a). So standen der ungarndeutschen Minderheit im Schuljahr 1990/91 170 deutsche Kindergärten, 190 Grundschulen für die Klassenstufen 1—8 und vier Gymnasien zur Verfügung, wo zweisprachig unterrichtet wird (vgl. Földes 1992a, 260 ff.). In der Praxis des nationalitätensprachlichen Unterrichts zeigen sich jedoch zunehmend Probleme. Zum einen nämlich verfügt ein immer kleiner werdender Teil der deutschen Minderheit überhaupt noch über deutsche Sprachkenntnisse (nach Bassola 1995, 241 sind es derzeit nur noch 15%), was zur Folge hat, dass der »muttersprachliche' Unterricht tatsächlich eher Fremdsprachenunterricht ist und von einer wirklichen Zweisprachigkeit nicht die Rede sein kann. Zum andern aber entspricht die Ausbildung der in den Bildungseinrichtungen der deutschen Minderheit Tätigen derzeit kaum den Anforderungen, die an einen bilingualen Unterricht zu stellen wären. Neue, auf das spezifische Tätigkeitsprofil zugeschnittene Ausbildungsmodelle sind hier erst seit kurzer Zeit in der Diskussion (vgl. Földes 1992b und 1994). Auch im frendsprachlichen Deutschunterricht an schulischen und außerschulischen Bildungsinstitutionen stellt der Mangel an qualifizierten Lehrkräften für westliche Fremdsprachen das zur Zeit drängendste Problem dar. Das seit 1989 schnell wachsende Interesse an Deutsch- und Englischunterricht konnte von den relativ wenigen Lehrern für diese bis dahin eher unterrepräsentierten Fächer nicht befriedigt werden. Hinzu kam, dass sich durch die Öffnung der ungarischen Wirtschaft nach Westen und die Ansiedlung vieler westlicher Unternehmen für Fachkräfte mit guten Kenntnissen in Deutsch und/oder Englisch attraktive und gut bezahlte Arbeitsmöglichkeiten außerhalb des Bildungsbereichs boten, was den vorhandenen Mangel an Fremdsprachenlehrkräften an Schulen und Hochschulen noch weiter verschlimmerte. Um diesem Mangel wenigstens teilweise zu begegnen, wurden seit 1990 ca. 1000 der infolge der Abschaffung des Pflichtunterrichts in Russisch von Arbeitslosigkeit bedrohten Russischlehrer in nebenberuflichen Kontaktstudiengängen zu Deutschlehrern umgeschult (vgl. Bassola 1995, 237f.). Auch im Rahmen der Hochschulgermanistik wurden Reformen auf den Weg gebracht, die den veränderten Bedingungen des schuli-
10. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache I: Europäische Perspektive
sehen Deutschunterrichts nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ gerecht zu werden versuchen. Die Germanistik in Ungarn kann auf eine bis ins 18. Jh. reichende Tradition zurückblikken. Schon 1874 wurde in Budapest auf ausdrücklichen Wunsch von Kaiser Joseph II. der erste Lehrstuhl für Deutsch mit dem Ziel eingerichtet, zu einer besseren Verbreitung der deutschen Sprache in Ungarn beizutragen. Aber erst Ende des 19. Jh.s konnte die Germanistik in Budapest und an den Universitäten in Pécs (Fünfkichen), Debrecen und Szeged sich von politischen Abhängigkeiten befreien und ein eigenes wissenschaftliches Profil entwickeln. Die politische Entwicklung nach 1945 hatte für die ungarische Germanistik dramatische Folgen: 1949 wurde sie als Fachrichtung an allen Universitäten abgeschafft, erst im Zuge der Entstalinisierung nach 1953 bzw. 1956 wurden wieder neue germanistische Lehrstühle aufgebaut, wobei Forschung und Lehre von ideologischen Zwängen bestimmt waren. Mit dem enorm gestiegenen Interesse an Deutschunterricht in den Schulen erlebte auch die Hochschulgermanistik in Ungarn nach 1989 eine Zeit der Expansion und der strukturellen Veränderungen. 1992 wurde an der Universität Budapest ein Germanistisches Institut gegründet, das die bis dahin auf verschiedene Lehrstühle verteilten germanistischen Kompetenzen unter einem Dach zu bündeln versucht (vgl. Mádl 1995; Bernáth 1995). Wie in anderen sozialistischen Ländern gab es auch in der ungarischen Germanistik bis 1989 ausschließlich fünfjährige Ein-FachStudiengänge mit traditionell philologischer Ausrichtung, die in der Regel für eine Lehrtätigkeit in der Schule qualifizierten. Diese Studiengänge wurden nach 1989 von ideologischen Inhalten befreit und teilweise leicht modernisiert, ansonsten aber beibehalten. Als Alternative dazu wird beispielsweise an der Eötvös Lorand Universität Budapest (ELTE) seit 1990 ein dreijähriger Studiengang zur Ausbildung von Deutschlehrern angeboten, der von einem eigens zu diesem Zweck gegründeten Institut für Deutsch als Fremdsprache entwickelt wurde und der - im Gegensatz zum fünfjährigen Studiengang — nicht philologisch, sondern berufspraktisch angelegt ist. Neben der Sprachpraxis spielt die Fremdsprachendidaktik (, Sprachpädagogik') eine bedeutende Rolle, das integrierte und betreute Schulpraktikum erstreckte sich bis 1996 über ein ganzes Studienjahr (seitdem
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aus Kostengründen auf ein Semester reduziert), und auch die eher traditionellen Inhalte des Studiums wie Literatur und Linguistik werden nicht nach fachsystematischen, sondern berufspraktischen Gesichtspunkten unterrichtet (vgl. Zalán-Szablyár 1994; Petneki/Zalán-Szablyár 1993). Die sich hier abzeichnende sinnvolle Neuentwicklung scheint aber in allerjüngster Zeit von gewissen Tendenzen einer Rephilologisierung bedroht: Das ursprünglich eigenständige Institut für Deutsch als Fremdsprache wurde 1992 in das Institut für Germanistik an der ELTE integriert und hat damit seine Selbständigkeit eingebüßt. Es gibt weniger spezifische Lehrveranstaltungen für die Studierenden der dreijährigem Deutschlehrerausbildung, so dass die bisher deutlichen inhaltlichen Unterschiede zwischen philologischem und berufsorientiertem Studiengang zunehmend unkenntlich werden. Auch Versuche einer stärkeren Verzahnung beider Studiengänge tragen dazu bei, dass möglicherweise der Unterschied zwischen beiden bald nicht mehr qualitativ, sondern quantitativ sein, das fünfjährige Philologiestudium auf Grund seiner längeren Dauer aber ein größeres Ansehen genießen wird (vgl. Orosz 1994, 38). 5.
Ausblick
Die Perspektiven des Faches Deutsch als Fremdsprache in Europa haben sich mit den veränderten politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen seit 1989 zum Teil erheblich gewandelt. Die Dominanz der Weltsprache Englisch als erster und wichtigster Fremdsprache ist auch in Europa ungebrochen und unumkehrbar. Auch wenn das Deutsche sich in einigen Ländern Mittel- und Osteuropas derzeit noch auf gleichem Rang behaupten kann, wird sich in absehbarer Zeit auch hier das Englische weiter durchsetzen. Gleichwohl sind die Chancen für Deutsch als zweite Fremdsprache keineswegs schlecht. Zwar geht in einigen, vor allem west- und nordeuropäischen Ländern die Nachfrage nach Deutsch zurück, gleichzeitig steigt sie aber im südlichen (z. B. in Spanien und Griechenland auf allerdings niedrigem Niveau), vor allem aber im östlichen Europa teilweise deutlich an. Deutsch wird sich auch im 21. Jh. im Kontext einer an der Idee der Mehrsprachigkeit orientierten (Fremd-)Sprachenpolitik neben Französisch und Spanisch als eine der wichtigsten euro-
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
päischen Regionalsprachen behaupten können. Angesichts der zunehmenden Bedeutung von Regionalsprachen wie Spanisch in Nordamerika oder Chinesisch bzw. Japanisch in Ostasien wird sich die Schwerpunktbildung des Faches Deutsch als Fremdsprache in Europa weiter verstärken. Schließlich wird dem Deutschen im Zuge einer Förderung europäischer Nachbarsprachen in Grenzregionen in Zukunft ein größeres Gewicht zuwachsen, bedingt nicht zuletzt durch die zentrale Lage des deutschen Sprachraums (vgl. Neuner 1997, 6ff.). Was schließlich die Entwicklung der ,Auslandsgermanistik' an europäischen Hochschulen angeht, so wird sich der insbesondere durch die äußeren ökonomischen und finanziellen Rahmenbedingungen, aber auch durch fachimmanente Entwicklungen entstandene Trend zur Professionalisierung und Entphilologisierung des Faches mit einiger Wahrscheinlichkeit fortsetzen. Es bleibt zu hoffen, dass traditionelle Inhalte des Faches wie die Literaturwissenschaft dabei nicht einfach verschwinden, sondern ihren Ort innerhalb einer sich nunmehr kulturwissenschaftlich begreifenden Germanistik finden werden. 6.
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(Deutschland)
11. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in nichtdeutschsprachigen Ländern II: Außereuropäische Perspektive 1. 2. 3.
1.
Deutsch als Fremdsprache außerhalb Europas Bereiche und Schwerpunkte von Deutsch als Fremdsprache außerhalb Europas Literatur in Auswahl
Deutsch als Fremdsprache außerhalb Europas
Allgemein wird heute in der Fachwelt anerkannt und davon ausgegangen, dass Deutsch als Fremdsprache in außereuropäischen Ländern anders gewichtet und vermittelt werden muss als in Europa. In vielen Ländern außerhalb Europas spielt Deutsch als Sprache im akademischen Bereich, in der Kultur, in der Wirtschaft und im Berufsleben überhaupt nur eine unbedeutende Rolle. Es lassen sich in den einzelnen Kontinenten, Regionen und Ländern verschiedene Situationen, Traditionen und Schwerpunkte beobachten, die sich auf die Stellung und die Ausrichtung von Deutsch als Fremdsprache auswirken. Von
welcher Warte aus man das Fachgebiet auch überblicken mag, immer wird man bemerken, wie unterschiedlich die Bedingungen sind, unter denen Deutsch als Fremdsprache in der Welt unterrichtet wird. In Ländern mit einer historisch bedingten starken Bindung an Europa und einer beachtlichen Einwanderung von deutschsprachigen Minderheiten, wie z. B. Nordamerika und das südliche Lateinamerika (Argentinien, Brasilien, Chile), mussten sich andere Traditionen und Institutionen entwickeln als in Asien oder Afrika. Der Schwerpunkt dieser Übersicht liegt in der Erwachsenenbildung, vor allem im universitären Bereich. 1.1. D a s Verhältnis von Germanistik und Deutsch als Fremdsprache In allen Regionen hat sich Deutsch als Fremdsprache in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s in unterschiedlichem Ausmaß als Fach im Austausch mit den Entwicklungen in den deutschsprachigen Ländern definiert und
11. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache II: Außereuropäische Perspektive
etabliert. Aber bevor es das akademische Fach gab (seit Ende der sechziger Jahre), war der Deutschunterricht in vielen akademischen und schulischen Institutionen präsent. Außerhalb Europas gilt bis heute: Ein Germanistikstudium ohne Unterricht in Deutsch als Fremdsprache ist selten, d. h., fast immer werden Übungen zur Verbesserung der Sprachkenntnisse angeboten, denn in vielen Ländern beginnt das Deutschlernen erst mit der Aufnahme des Universitätsstudiums. Das gilt selbst in einem Einwandererland wie Kanada: „Studierende, die zwar Deutsch studieren wollen, aber kaum Deutsch an der Schule gelernt haben, verbringen einen großen Teil ihrer universitären Ausbildung mit dem bloßen Sprachenlernen" (Hufeisen 1996, 178). Aus der außereuropäischen Perspektive ist die - mit Vorliebe in Thesenform geführte - Diskussion um das Selbstverständnis des Faches nicht von vorrangiger Bedeutung, wie ζ. B.: „Deutsch als Fremdsprache ist ein eigenständiges Fach innerhalb der Germanistik, das Eigen- und Fremdperspektive verbindet." (Götze/Suchsland 1996, 69) gegen: „Deutsch als Fremdsprache ist nicht zwangsläufig Bestandteil der Germanistik." (Königs 1996, 195) Das komplexe Verhältnis von Deutsch als Fremdsprache und Germanistik belegt der Bericht der Bundesregierung über die Stellung der deutschen Sprache in der Welt (1985), auf den sich auch Ammon (1991, 544 ff.) im Kapitel 12.4 über „DaF und Germanistik an Hochschulen nicht-deutschsprachiger Länder" bezieht. Demnach kann man in mehr als zwanzig Ländern in Lateinamerika, Afrika, Nahost und Asien mit Deutsch als Fremdsprache oder Germanistik erst an der Hochschule beginnen. Dazu kommen mehr als zehn Länder, in denen die Zahl der Deutschlernenden in Sprachenzentren an den Hochschulen wesentlich höher ist als an allgemeinbildenden Schulen und erst recht als an Germanistischen Abteilungen. In Ländern wie Bolivien, Ecuador, Ghana, Guinea, Zaire, Libanon, Kuweit, Syrien oder Bangladesch kann man nur Deutschkurse belegen, aber kein Germanistikstudium absolvieren. Logischerweise wird in solchen Ländern auch an den Schulen kein Deutsch gelernt, während umgekehrt in Ländern mit relativ gut etabliertem Deutschunterricht in den Schulen (USA, Kanada, Indonesien, Südkorea, Australien, Argentinien, Südafrika, vgl. Bericht der Bundesregierung 1985) auch die Germanistik an den Universitäten ihre Daseinsberechtigung vor allem in der Ausbildung von
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Deutschlehrern sieht. In diesen Fällen sollte eine methodisch-didaktische Spezialisierung zur Ausbildung der Absolventen gehören, aber oft kann sich eine auf Deutschlehrerausbildung und Angewandte Linguistik orientierte Auslandsgermanistik wegen des explizit oder implizit ausgesprochenen Vorwurfs der mangelnden „Wissenschaftlichkeit" nur schwer gegen traditionelle Studiengänge durchsetzen. Dass Curriculumentwicklungen, die sich an den realen Gegebenheiten und Notwendigkeiten der einzelnen Länder orientieren, sowohl für die Germanisten- als auch für die Deutschlehrerausbildung (mit einer stärkeren Betonung des Deutschen als Fremdsprache, der Pädagogik, der Spracherwerbstheorien und der Kommunikationswissenschaften) berechtigt sind, setzt sich mehr und mehr in der Fachdiskussion durch (vgl. Neuner 1987, 1993, 1996). Auch die Trennung zwischen dem Prestige und den Aufgaben der Dozenten und Professoren, je nachdem, ob sie sich in Forschung und Lehre, Gebieten der traditionellen Germanistik oder dem Fach Deutsch als Fremdsprache in allen seinen Bezügen zur Sprachlehr- und -lernforschung widmen, ist nicht so strikt wie in deutschsprachigen Ländern, wo die Dozenten für Deutsch als Fremdsprache oft glauben, sich mühsam gegen überhebliche Attitüden in der traditionellen Germanistik behaupten zu müssen (Henrici 1996, 69). In vielen Ländern Lateinamerikas wären ohne die Sprachenzentren und Lehrerausbildungsprogramme, die noch Deutsch anbieten, aus manchen Universitäten herkömmliche Germanistik-Abteilungen verschwunden oder sie wären nie eingerichtet worden. Eine völlig andere Entwicklung hat die Germanistik in den USA genommen: Auf dem Weg aus dem Dilemma der in den 70er Jahren gelegentlich schon totgesagten Germanistik und der Fremdsprachen an amerikanischen High Schools und Hochschulen haben germanistische Abteilungen eine Art Überlebensstrategie entwickeln müssen, die notgedrungen aus den traditionellen Lehrinhalten hinausgeführt hat zu einer innovativen Konzeption des Faches, das sich auf der Grundlage von Theorien und Erkenntnissen über Multikulturalität, Postmoderne und Postkolonialismus neu definieren musste. Die interdisziplinären „German Studies" haben an einigen amerikanischen Elite-Universitäten ein neues Selbstbewusstein entwickelt (Seeba 1996, 34) und eine Universität wie Berkeley kann es sich leisten, die von hochkarätigen Germani-
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
sten vertretenen Bereiche der Angewandten Linguistik und des Deutschen als Fremdsprache praktisch als Hilfswissenschaften einzustufen, die auf dem Weg zum PhD in „German Studies" nicht einmal als „credits"-würdig gelten. 1.2. Das Verhältnis von Inlandsgermanistik und Auslandsgermanistik Generell sind verschiedene Grade des Austausches und der Interdependenz zwischen außereuropäischer Germanistik (einschließlich Deutsch als Fremdsprache) und der Germanistik in den deutschsprachigen Ländern zu beobachten. Auf Grund der intensiveren Kommunikationsmöglichkeiten, der verbesserten Ausstattung der Bibliotheken, der Präsenz auf Kongressen und des Aufenthalts in deutschsprachigen Bildungseinrichtungen haben Lehrer des Deutschen als Fremdsprache und Germanisten heutzutage vielfaltige Möglichkeiten, sich über die Entwicklung des Faches Deutsch als Fremdsprache auf dem Laufenden zu halten. Beim Aufbau von Studiengängen Deutsch als Fremdsprache, Germanistik und Deutschlehrerausbildung richtete man sich früher oft nach Modellen aus den deutschsprachigen Ländern, aber „in jüngster Zeit ist die Entwicklung eigener und regionenspezifischer Schwerpunktsetzungen in Lehre und Forschung zu erkennen" (Götze/ Pommerin 1995, 360). Allgemein lässt sich sagen, dass die Entwicklung des Faches Deutsch als Fremdsprache in der sog. Dritten Welt etwas langsamer vor sich geht als in Europa (Ehlich 1994, 7, gebrauchte für das Verhältnis von Inlands- und Auslandsgermanistik das Bild von „Tross" und „Nachhut") und dass die Fachdiskussionen weniger intensiv und weniger polemisch geführt werden; Deutsch wird mit anderen Sprachen an manchen Universitäten, wie z. B. in Mexiko an der UNAM, bewusst als linguistische und kulturelle Alternative zum Englischen angeboten; und in der Forschung wird an sprachvergleichenden, sprachdidaktischen, komparatistischen, rezeptionsorientierten und literaturdidaktischen Themen und Problemen gearbeitet, ohne sich von schnell wechselnden Moden allzu abhängig zu machen. Denn es ist doch der Vorteil der zeitlichen und räumlichen Distanz, dass neuere Strömungen, die in den Metropolen der Germanistik hohe Wogen schlagen mögen, als sanftere Dünung abebbend und gewissermaßen geläutert an die Strände ferner Kontinente plätschern. Wer in Europa einen Stein ins Wasser wirft, kann
nicht erwarten, dass die sich konzentrisch ausbreitenden Wellen jedermann in der weiten Welt noch die Sicht nehmen. Dies ist der Tenor nicht weniger Publikationen aus außereuropäischen Perspektiven, die teilweise auch in Deutschland zur Kenntnis genommen werden (müssen). So zogen Blamberger/ Neuner (1996, 5) aus der Internationalen Germanistentagung in Kassel 1995 das Fazit, dass „die aktuellen deutschen Debatten um die disziplinäre Identität der Germanistik außerhalb Deutschlands kaum Widerhall finden", dass die innerdeutsche Germanistik für die ausländische Germanistik an Bedeutung verloren habe und die traditionelle Germanistik auf Grund der von Land zu Land verschiedenen kulturellen Kontexte zunehmend von interdisziplinären „German Studies" und dem Fach Deutsch als Fremdsprache (Lehrerausbildung; Fachsprache) abgelöst werde. Noch drastischer fallt das Urteil Seebas aus, wonach in den USA die deutsche Germanistik oft für konventionell und belanglos gehalten werde und - schlimmer noch - aus amerikanischer Sicht der aktuelle kulturelle Beitrag Deutschlands „auf den Rang einer exotischen Provinz für Feldstudien reduziert" wurde (Seeba 1996, 34). Von den repräsentativen Vertretern der deutschen Germanistik, die in Sachen Deutsch als Fremdsprache seit Jahrzehnten in und um die Welt reisten, wurde oft mit großer Selbstsicherheit und ohne genaue Kenntnis der örtlichen Verhältnisse der Eindruck vermittelt, sie hätten Lösungen für alle Probleme der Auslandsgermanistik parat. Dass das Fach Deutsch als Fremdsprache in den deutschsprachigen Ländern selbst um seine Legitimierung kämpfen musste (Henrici 1996, 69), dass es lange für „noch sehr entwicklungsbedürftig", aber „entwickelbar" gehalten wurde (Glück 1989, 86), war den meisten Deutschlehrern im außereuropäischen Ausland nicht unbedingt geläufig. Ein zunehmendes Selbstbewusstsein der Auslandsgermanistik auch in den Ländern der sog. Dritten Welt ist seit mehreren Jahren zu beobachten; das lässt sich u. a. daran ablesen, dass nun auch — wie es in Kanada und den USA längst der Fall ist - in Ländern wie Mexiko, Argentinien, Chile, Brasilien die pädagogische Verbindungsarbeit des Goethe-Instituts nicht mehr entwicklungs- sondern partnerschaftsorientiert ist. Die inländischen Experten kommen aus den Universitäten und Schulen, das Goethe-Institut und der DAAD stellen Mittel für Veran-
11. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache II: Außereuropäische Perspektive
staltungen und Gastdozenturen bereit und fördern damit den Austausch unter Gleichgestellten. 1.3. Einige Zentren für Deutsch als Fremdsprache, ihre Geschichte und ihre Traditionen Mit dem zunehmenden Austausch zwischen Germanisten und Deutschlehrern aus aller Welt, dank Informationsdiensten, Fachzeitschriften, Bestandsaufnahmen, zahlreichen Kongressberichten und Buchpublikationen zur Geschichte der Germanistik und des Deutschunterrichts in allen Teilen der Welt, wird immer deutlicher, dass sich Deutsch als Fremdsprache, trotz des Rückgangs von Schüler- und Studentenzahlen in einigen Ländern, als Fach weltweit konsolidiert hat (vgl. Art. 143if.). Im Folgenden wird es nicht möglich sein, einen kompletten Überblick zu geben. Die Darstellung der Geschichte und Traditionen einiger Zentren mag exemplarisch für die Vielfalt der Gegebenheiten stehen, in denen Deutsch als Fremdsprache an Universitäten, Schulen und im außerschulischen Bereich betrieben wird. In Asien sind China (Art. 167), Indien (Art. 165), Japan (Art. 168) und Korea (Art. 166) die Länder mit den meisten Deutschabteilungen und Deutschlernenden an Universitäten und ebenfalls im außerschulischen Bereich (Goethe-Institute). Bemerkenswert ist aber auch die Dynamik des Deutschunterrichts in Indonesien (Art. 169) und Thailand, wo auf eine Aktualisierung der germanistischen Curricula mit Blick auf „eine instrumentelle Basis für die Ausübung eines späteren Berufs" (Saengaramruang 1996, 288), die Deutschlehrerausbildung und die Ausarbeitung eigener Lehrmaterialien großen Wert gelegt wird. Indonesien ist einer der seltenen Fälle eines außereuropäischen Landes, wo Deutsch nach dem Krieg verstärkt als 2. Fremdsprache an den Oberstufen der Gymnasien eingeführt wurde. An der Entwicklung geeigneter Lehrwerke, welche die universalistisch konzipierten ablösen sollten („Regionalisierung heißt vielmehr die Devise!"; Strauss 1985, 180), haben sowohl in Indonesien als auch in Thailand (Schalbruch 1987, 137 ff.) deutsche Mittlerorganisationen und Universitäten beratend mitgewirkt. Der Erfolg der Zusammenarbeit zwischen Vertretern spezifischer Wissenschaftskonzeptionen wird dabei unterschiedlich gewertet, je nach der Sensibilität der Beteiligten gegenüber anders gearteten kulturel-
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len Traditionen. Gerade im Bereich von Deutsch als Fremdsprache ist die Reflexion über die Möglichkeiten und Lücken der „interkulturellen Kommunikation" und der „interkulturellen Germanistik" noch längst nicht abgeschlossen. Für die Entwicklung des Faches Deutsch als Fremdsprache in China und das stetig wachsende Interesse am Deutschlernen sei u. a. auf Ammon (1991, 503 ff.) verwiesen, für die Situation des Deutschen als Fremdsprache in einigen anderen Ländern auch auf Sturm (1987, 249ff.), Götze (1987, 232ff.) und die zahlreichen Länderberichte ζ. B. im Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache und in der Zeitschrift Informationen Deutsch als Fremdsprache. In Japan war bis etwa 1970 Deutsch aus bildungs- und wissenschaftsgeschichtlichen Gründen fest in den Universitäten verankert, aber mit der sinkenden Bedeutung des Deutschen als Wissenschaftssprache müssen sich die Lehrenden des Faches Deutsch als Fremdsprache und die Sprachinstitute an die sich wandelnden Motivationen der Studenten anpassen (Kutsuwada/Mishima/Kouji 1987, 76ff.; Ammon 1991, 495 ff.), was zu intensiven „Reformdiskussionen" (Sugitani 1996) geführt hat. In Indien müsse man sich wundern, dass überhaupt eine Fremdsprache wie Deutsch gelernt werde (Ammon 1991, 500). Immerhin wurden in Pune, „der Wiege der indischen Germanistik" (Kuntz 1996, 55), schon 1975 60 Jahre Deutschunterricht gefeiert. Bedarf an Deutsch als Fremdsprache und Germanistik in Indien gibt es bis heute: Deutsch für Wirtschaft und Technik (ein Gebiet, auf dem seit den 70er Jahren auch DAAD-Lektoren in Indien gearbeitet haben), Deutsch für internationale Beziehungen, Tourismus, Auswanderung, Gegengewicht zu dem dominierenden englischen Einfluss, Berufsziel Deutschlehrer. Aber selbst im letztgenannten Fall sind die Berufsbilder nicht besonders klar (Ammon 1991, 502 f.). Dies scheint in einem gewissen Widerspruch zu stehen zu dem exzellenten Niveau einiger Repräsentanten der indischen Germanistik, von denen die meisten in Deutschland studiert haben. Von ihnen werden die „Möglichkeiten und Grenzen" der German Studies in Indien (Ganeshan 1990, 187 f.) nicht verschwiegen: verschwommene Ausbildungsziele, schwache Motivation, fehlendes literarisches Vorwissen, fehlende fremdsprachliche und fremdkulturelle Kompetenz, Konzeptionslosigkeit der literarischen Studien. Viele der Probleme und Forderungen aus indischer Sicht gelten
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
ebenso für andere Schwellenländer und Länder der sog. Dritten Welt: Die wenigsten Deutschlerner werden je ein deutschsprachiges Land persönlich kennen lernen; den entsandten Lehrkräften aus Europa fehlt es oft an „interkultureller Kompetenz"; Literaturstudien sollten nur komparatistisch betrieben werden; die Beschäftigung mit deutscher Sprache und Kultur ist ein Weg zur „Eigenbesinnung", zu „Anschlussmöglichkeiten" zwischen Indien und Europa. So gesehen kann in Indien das periphere Fach „German Studies" eine zentrale Bedeutung erhalten (Ganeshan 1990, 194). In manchen Teilen des frankophonen Afrika lässt sich einerseits die Geschichte der Germanistik und damit von Deutsch als Fremdsprache aus dem französischen Erziehungssystem der Kolonialzeit heraus erklären (Prinz 1989, 181). Entsprechendes gilt für die englischen Traditionen. Andererseits haben sich an afrikanischen Universitäten lehrende Dozenten seit der Unabhängigkeit ihrer Länder und der Gründung von Deutschabteilungen mit der deutschen Germanistik auseinandergesetzt (Sadji 1984, 75ff.), ohne die spezielle Situation einer „Entwicklungsgermanistik" in der sog. Dritten Welt zu übersehen: „Deutscher Literaturunterricht in der Dritten Welt ist ein elitäres Unterfangen" und „Der Deutschunterricht in der Dritten Welt leidet unter den generellen Bedingungen des NordSüd-Gefälles" (Ihekweazu 1984, 102). Dies mögen Gründe dafür sein, warum im Rahmen der Deutschstudien in Afrika der Beitrag der „Interkulturellen Germanistik" zum Fach Deutsch als Fremdsprache besonders kritisch beleuchtet und sensibel auf eine mögliche Bevormundung, auf das Verhaftetsein im europäischen Individualismus und auf koloniale Klänge in den Begriffen „Fremdperspektive", „Kulturmündigkeit", „Weltoffenheit", „eigen· und fremdkulturelle Kompetenz" abgeklopft wurde (Zimmermann 1989, 15ff.; Welz 1986, 169). Der Deutsch als FremdspracheLehrer wird deutsche Sprache und Kultur immer vor dem Hintergrund der Kolonisierung, kulturellen Entfremdung und Identitätsproblematik einerseits und der Übernahme westlicher Wertsysteme durch die Gebildeten andererseits vermitteln müssen. Und es kann nicht genug betont werden, dass akademische Modelle, die von Gelehrten in Deutschland entwickelt wurden, damit noch längst nicht in Entwicklungsländern funktionieren: „Die Germanistik in vielen Ländern der Dritten Welt hat einfach ganz andere Probleme, als
sich die interkulturellen Fremdheitskundler in der fernen Bundesrepublik vorstellen können." (Glück 1989, 86) In Lateinamerika stand bei der Neu- und Wiedergründung germanistischer Abteilungen in einigen Ländern (ζ. B. Argentinien, Brasilien, Chile, Mexiko) zunächst die Literaturwissenschaft im Vordergrund, da die meisten Germanisten Literaturwissenschaftler waren. Mit dem zunehmenden Interesse an der Linguistik und der Angewandten Linguistik sowie der Aufwertung und Konstituierung des Deutschen als Fremdsprache als Studienfach fand in zahlreichen Ländern Lateinamerikas seit den 70er Jahren eine Umgewichtung der Deutschstudien statt. Wie in vielen anderen außereuropäischen Ländern ist eine extreme Spezialisierung auf ein Gebiet, eine Epoche, einen Autor, wie dies in den deutschsprachigen Ländern oft noch der Fall ist, in Lateinamerika nicht möglich. Und dies ist auch eine berufliche Chance für alle, die im Bereich Deutsch als Fremdsprache tätig sind: Die Zusammenarbeit mit anderen Sprachabteilungen ist die Regel, manchmal ist es sogar die einzige Überlebenschance für den Deutschunterricht. Da ausgebildete Germanisten oft (auch) Deutsch als Fremdsprache unterrichten, sind sie an der sprachlichen und methodisch-didaktischen Ausbildung ihrer Studenten, von denen viele Deutschlehrer werden, beteiligt. Diese Aspekte stehen heutzutage in den Curricula der Lehrerausbildungsinstitute im Vordergrund, zusammen mit der Übersetzer- und Dolmetscherausbildung (ζ. B. in Argentinien, Kuba und Venezuela), und die Literaturwissenschaft und Landeskunde kommen im Grundstudium manchmal etwas zu kurz. Nicht so im Postgraduiertenbereich, wo in den entsprechenden Studiengängen (ζ. B. in der vergleichenden Literaturwissenschaft) im Allgemeinen ein hohes Niveau sowohl in der Kenntnis neuerer Literaturtheorien als auch der neueren deutschen Literatur festzustellen ist. Trotzdem kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die traditionellen Germanistikabteilungen in Lateinamerika nur verhältnismäßig wenige Studenten zum akademischen Abschluss führen. In vielen Ländern kann man an Schulen und sogar an Universitäten unterrichten, ohne einen Abschluss gemacht zu haben. Deutsch als Fremdsprache lebt vor allem dank der Sprachenzentren, der „Deutschen Schulen" und der Goethe-Institute. In Argentinien gibt es etwa 20 Universitäten mit Deutschabteilungen, in Brasilien ebenfalls
11. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache II: Außereuropäische Perspektive
etwa 20, von denen 16 ein Curriculum für die Ausbildung von Deutschlehrern anbieten. In Chile (vgl. Art. 148) haben etwa 10 Universitäten Deutschabteilungen, aber nur in Santiago und Concepción kann man Germanistik studieren, teils mit Schwerpunkt Deutschlehrer- und Übersetzerausbildung. In Mexiko (vgl. Art. 145) kann man in Sprachenzentren von etwa 20 Universitäten Deutsch als Fremdsprache lernen, aber nur an der UNAM in Mexiko-Stadt Germanistik studieren. Eine Spezialisierung für Deutschlehrer bieten die Sprachenzentren der UNAM und des Polytechnikums an. In Venezuela und Kolumbien kann man ebenfalls nur in der jeweiligen Hauptstadt ein volles akademisches Studium „Letras Alemanas" absolvieren, ebenso in Lima (Peru), wo auf Grund der politischen Situation über lange Jahre hinweg nur eine Universität („Ricardo Palma") bis zum Diplomdolmetscher führte. In Kuba hat die DDR 30 Jahre lang eine hervorragende Aufbauarbeit für Deutsch und Germanistik an Universitäten und Abendschulen geleistet. Davon profitieren die Universität Havanna und andere berufsbildende Einrichtungen noch heute. Nach der Wende 1989/90 hat das Goethe-Institut die pädagogische Verbindungsarbeit übernommen. Gerade in Lateinamerika waren deutsche Mittlerorganisationen immer sehr wichtig für die Pflege der Sprache und der Kontakte zu den deutschsprachigen Minderheiten, welche ihr soziales Netz oft um die Schulen herum geknüpft hatten (Entsprechendes gilt für die Schweizer Schulen) und in Handel und Industrie der einzelnen Länder eine wichtige Rolle spiel(t)en. Kaum ein Staatsbesuch in Lateinamerika, wo nicht die Schulen im Programm der Politiker vorgesehen wären. Die „deutschen Schulen" — meistens Begegnungsschulen - sind in vielen Regionen die einzigen, an denen man Deutsch lernen kann. (Und sie haben wie andere ausländische und Privatschulen unter den einheimischen Eliten immer noch großes Prestige.) Trotz der Einwanderertradition, der gegenseitigen Wirtschaftsinteressen und der immer noch relativ großen Bedeutung des Deutschen ist das Angebot ständig zurückgegangen. Aber im Bildungskanon des Sekundarschulbereichs hat Deutsch keine Tradition, so dass Deutsch als Fremdsprache vor allem im Erwachsenenbereich und oft berufsbezogen gelehrt wird: Hier kommt den Goethe-Instituten, den Sprachenzentren an den Universitäten und den (relativ wenigen) Germanistikabteilungen hohe Bedeutung zu.
2.
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Bereiche und Schwerpunkte von Deutsch als Fremdsprache außerhalb Europas
Die Orientierung der außereuropäischen Germanistik an derjenigen der deutschsprachigen Länder hatte über Jahrzehnte hinweg den Vorrang literaturwissenschaftlich orientierter Curricula zur Folge, mit einer damit einhergehenden Vernachlässigung linguistischer und fachdidaktischer Themen, Fragestellungen und Forschungsgebiete. In Nordamerika und Australien z. B. wurden zwischen 1930 und 1950 viele Deutschabteilungen an Universitäten von Emigranten aufgebaut und von ihnen geprägt. Die allermeisten dieser Professoren waren Literaturwissenschaftler. Auch in anderen Regionen, in denen germanistische Abteilungen unter ganz anderen Bedingungen eingerichtet wurden, so z. B. in Japan und Brasilien (vgl. Art. 168 u. 146), überwogen Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft bis in die sechziger Jahre hinein - und dies, obwohl die Vermittlung linguistischer, landeskundlicher, sprach- und literaturdidaktischer Kenntnisse - eben Deutsch als Fremdsprache - im Vordergrund stand oder hätte stehen sollen. In vielen Fällen wurden Sprachkurse bereits vor der Einrichtung von germanistischen Abteilungen erteilt, wie immer wieder im Rückblick auf die Entstehung der „Germanistik in ..." berichtet wird. Beispiele dafür unter vielen sind Mexiko und Thailand. In manchen Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas entstanden Deutschabteilungen und Sprachenzentren ab den fünfziger Jahren in enger Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik Deutschland, der DDR und Österreich, mit Institutionen wie dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) (Lektoren, Stipendien für Germanisten, Gastprofessoren) und dem Goethe-Institut (Pädagogische Verbindungsarbeit, Stipendien für Deutschlehrer). In diesen Fällen (z. B. Universitäten in Kairo, Mexiko-Stadt, Buenos Aires, Campinas, Shanghai) standen Spracharbeit, Angewandte Linguistik und Lehrerausbildung im Vordergrund. Im Unterschied zu Europa wurde in vielen außereuropäischen Ländern unter dem Druck, viele praktische Probleme der Ausbildung in den Griff zu bekommen, die Sprachlehr- und -lernforschung über Jahrzehnte hinweg vernachlässigt. Das zeigte sich unter anderem in der geringeren Anzahl von Publikationen.
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
Seit etwa zwei Jahrzehnten wird dieser Rückstand langsam aufgeholt und es gibt Gebiete, wie ζ. B. die Entwicklung der „German Studies", die Erforschung fremdkulturellen Verstehens und der interkulturellen Kommunikation, wo die außereuropäische Germanistik wichtige Anregungen und Beiträge geleistet hat. 2.1. Sprachkurse Deutsch als Fremdsprache außerhalb Europas betrifft vorrangig den Erwachsenenbereich. Zwar gibt es Länder mit eindrucksvollen Schülerzahlen im Sekundarbereich (vgl. 1.1.); und wie wichtig dieser ist, zeigt sich in der Förderung des Auslandsschulwesens durch die Bundesrepublik Deutschland. Nach Ammon (1991, 434 f.) wird Deutsch in etwa der Hälfte der 172 Länder angeboten, und zwar im Allgemeinen nur „an einigen Schulen"; „überwiegend vertreten" war Deutsch 1988 an außereuropäischen Schulen nur in Kamerun, Elfenbeinküste, Mali, Australien, Indonesien und Südkorea, „an zahlreichen Schulen" in Brasilien, Chile, Kanada, den USA, Neuseeland und in zehn Ländern Afrikas. Für diese Schulen gilt, dass Deutsch für die meisten Schüler Fremdsprache ist, und das trifft heutzutage auch für die deutschen Auslandsschulen zu. Entsprechend hat sich die Zahl der Deutschkurse und die der dafür benötigten Lehrer erhöht. Aber weltweit gesehen wird Deutsch vor allem aus mannigfaltigen beruflichen Gründen (ζ. B. Wirtschaft und Tourismus), zu Studienzwecken und aus kultureller Neugier gelernt. Hier spielen die Goethe-Institute eine große Rolle, aber sie können bei weitem nicht die Nachfrage bewältigen. Deshalb sind außer privaten Sprachinstituten (ζ. B. Berlitz) die an den Universitäten entstandenen Sprachenzentren besonders wichtig geworden. Sie haben vielerorts eine größere Bedeutung erlangt als die traditionellen Germanistikabteilungen, weil von vielen Universitäten verlangt wird, dass Hörer aller Fakultäten Fremdsprachenkenntnisse erwerben. Für das Studium moderner Fremdsprachen gibt es dagegen wenig Interesse, weil in den Schulen außer für Englisch kaum Sprachlehrer gebraucht werden. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den an universitären Sprachenzentren und den an anderen Sprachinstituten organisierten Kursen besteht darin, dass auch zunehmend an Universitäten der sog. Dritten Welt die Lehre mit der For-
schung in Deutsch als Fremdsprache verbunden wird. Während früher in vielen Regionen die pädagogische Verbindungsarbeit des Goethe-Instituts, DAAD-Lektoren oder entsandte Experten das inhaltliche Wissen vermittelt haben, ist heute vielmehr weltweit eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Fachleuten vor Ort zu beobachten, welche die Forschungsschwerpunkte in der Angewandten Linguistik/Deutsch als Fremdsprache bestimmen. Dazu gehören die Entwicklung von Lehrwerken und Lesekursen; Spracherwerbsforschung, Sprachvergleich, autonomes Lernen; didaktische Grammatik, Übersetzungsprobleme, interkulturelle Hermeneutik; Curriculumentwicklung, Sprachpolitik, Lehreraus- und -fortbildung. Auch in den außereuropäischen Ländern haben die Bemühungen zugenommen, moderne Medien für den Deutschunterricht nutzbar zu machen. Abgesehen von den USA, Kanada und Japan sind Schwellenländer wie Brasilien, Indien, Malaysia und Mexiko besonders aufgeschlossen, Selbstlernzentren und computergestützten Unterricht einzurichten. In der Mitte der neunziger Jahre wurden dortige Universitätsinstitute konsequenter an Internet und E-Mail angeschlossen als vergleichbare mitteleuropäische Institutionen. 2.2. Lehreraus- und -fortbildung Auch in diesem Bereich gibt es grundsätzliche Unterschiede zwischen dem traditionellen Germanistik- und dem Deutsch-als-Fremdsprache-Studium in Europa und außerhalb Europas. In den deutschsprachigen Ländern führt das Studienfach Germanistik gewöhnlich zum Staatsexamen und zum Beruf des Deutschlehrers an allgemeinbildenden Schulen. Erst im Referendariat wird die wissenschaftliche Ausbildung durch eine methodisch-didaktische ergänzt. Mit der Gründung von Studiengängen Deutsch als Fremdsprache kam man dann seit den siebziger Jahren dem Desiderat nach, Deutsch als Fremdsprache- und Deutsch als Zweitsprache-Lehrer für das Ausland wie das Inland auszubilden. Außerhalb Europas führt die Ausbildung in Germanistik in den meisten Fällen zu einer Berufstätigkeit im Fach Deutsch als Fremdsprache an Schulen oder Universitäten. Die Einsicht, dass ein traditionelles, literaturwissenschaftlich ausgerichtetes Germanistikstudium nicht unbedingt auf die Anforderungen vorbereitet, die auf künftige Deutschlehrer zukommen, hat in vielen Ländern zu einer Erweiterung oder Umstrukturierung in Rieh-
11. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache II: Außereuropäische Perspektive
tung auf ein stärker praxisorientiertes Curriculum geführt. Diese Diskussion ist übrigens auch innerhalb des nicht deutschsprachigen Europas in Gang, besonders in den osteuropäischen Ländern. Ein wesentlicher Unterschied besteht in den sprachlichen Voraussetzungen, die z. B. Studenten in der sog. Dritten Welt für den Lehrberuf mitbringen, welche — wie gesagt — oft erst an der Universität anfangen Deutsch zu lernen. Diese Komponente muss in die Entwicklung der Curricula eingebracht werden. Man kann nicht umhin, von den jeweiligen Gegebenheiten auszugehen; darüber scheint inzwischen Konsens zu herrschen: „Die Entwicklung von Curricula ist im Kern stets von den Studienund Lernbedingungen, den Fächerstrukturen sowie den personellen Kapazitäten und Schwerpunkten abhängig, die jeweils vor Ort bzw. in einem bestimmten Land oder in einer bestimmten Region gegeben sind." (Bausch 1996, 97) Eine solide Deutschlehrerausbildung muss demnach anders aussehen als ein herkömmliches Germanistikstudium. Dieser Erkenntnis wurde gegen Ende des 20. Jh.s an vielen Sprachenzentren und Deutschlehrerseminaren gefolgt, in der sog. Dritten Welt oft unbekümmert ob der verehrungswürdigen Tradition germanistischer Lehrstühle. Ohne den „Ballast" mittelalterlicher Literaturkenntnisse, der historischen Sprachwissenschaft und oft leider auch des Kanons der klassischen Literatur und ihrer Nachfolgerinnen (mit der damit einhergehenden Gefahr der inhaltlichen Ausdünnung des Studiums) wurden Curricula entwickelt, deren zentrale Inhalte sind: Methoden des Fremdsprachenunterrichts, Grundlagen der Angewandten Linguistik, Psycholinguistik und Spracherwerbstheorien, Lehrwerkanalyse, Entwicklung von Lehrmaterialien, Medienkunde, Kultur- und Sprachvergleich. Dass dieser Ansatz sinnvoll ist, wurde auch aus der Perspektive der Inlandsgermanistik bestätigt. Neuner (1993, 23 f.) zieht aus den Gegebenheiten und Tendenzen der Deutschlehrerausbildung in Europa Folgerungen, die auch für die Situation außerhalb Europas bedenkenswert sind: a) in der Linguistik Vergleich der eigenen Sprache mit der Zielsprache Deutsch, b) in der Literaturwissenschaft komparatistische Ansätze: Vergleich der eigenen mit der deutschsprachigen Literatur, c) in der Landeskunde Kenntnis der historischen Beziehungen und Alltagskultur im Vergleich, d) in der Sprachlehr- und -lernforschung: Traditionen im eigenen Land und in den deutschspra-
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chigen Ländern. Beispiele dafür, wo solche Tendenzen mit landesspezifischer Ausrichtung in die Praxis umgesetzt und auch bei der Lehrerfortbildung berücksichtigt werden, sind Thailand (Otrakul 1996, 45Iff.), Brasilien (Sartingen/Stahr 1996), Kamerun (Ngatcha 1996, 323 ff.), Algerien (Hami 1996) und die Mongolei (Kuhn 1996, 55ff.). In Nordamerika und Neuseeland gibt es andere Ansätze, Deutsch-Curricula in Richtung auf German Studies, Applied Linguistics, European Studies zu aktualisieren (Hufeisen 1995; Lopdell 1996). In Lateinamerika sind die bereits erwähnten Umstrukturierungen an Deutschlehrerausbildungszentren in Argentinien, Chile, Venezuela und Mexiko zu spüren. Dort und in anderen Ländern ist die Revision der Curricula ebenso im Gange wie in Europa. Vor allem der mangelhafte historische, literaturgeschichtliche und sprachliche Kenntnisstand der Studenten gebietet es, Basisinformationen zu vermitteln, akademische Arbeitstechniken beizubringen, didaktische, psychologische und pädagogische Aspekte in den Vordergrund zu rücken und nur allmählich, besonders im Postgraduiertenstudium, zum wissenschaftlichen Höhenflug anzusetzen. Selbst für die relativ gut etablierte Germanistik in Brasilien forderte Rosenthal (1980, 312) eine von der deutschen Germanistik grundverschiedene Studienplanung und Didaktik. Auch in China steht im Mittelpunkt des vierjährigen Studiums der Spracherwerb, und die vielen Germanistikabsolventen finden nur schwer einen Arbeitsplatz — es sei denn, sie verbinden die fremdsprachliche Ausbildung mit technischem Fachwissen (Hess 1993, 61). 2.3. Regionale Lehrwerkentwicklung In vielen Teilen der Welt gab es - ganz im Gegensatz zu Europa, wo viele Länder längst eine eigene Deutschlehrwerktradition entwikkelt hatten - bis in die 70er Jahre hinein keine landesspezifischen Lehrwerke für Deutsch als Fremdsprache. Ausnahmen bildeten z. B. die USA und Japan, wobei es in Japan üblich war, dass viele Lehrstuhlinhaber für ihr Institut eigene Lehrbücher publizierten, in denen lange die Übersetzungsmethode vorherrschte. Modernere Ansätze des audiovisuellen, kommunikativen und interkulturellen Unterrichts fanden nur langsam Eingang in japanische Deutschlehrwerke, und eine gewisse Orientierungslosigkeit ist noch heute zu spüren (Slivensky 1995, 352).
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
In Afrika, Asien und Lateinamerika wurden vorwiegend Lehrwerke verwendet, die in Deutschland erarbeitet und vor allem vom Goethe-Institut eingeführt worden waren. Lehrwerke aus der DDR waren im Wesentlichen auf die sog. sozialistischen Länder beschränkt; österreichische Lehrwerke eroberten erst in den 90er Jahren Marktanteile. Im Zuge der Verwissenschaftlichung des Faches Deutsch als Fremdsprache und einer zunehmenden Professionalisierung wuchsen in vielen Regionen der Wunsch und die Notwendigkeit, eigene Lehrwerke zu erarbeiten (vgl. Art. 106). Die in deutschsprachigen Ländern konzipierten und publizierten Lehrwerke wurden lange wie selbstverständlich in die ganze Welt exportiert, obwohl sie an vielen ortsspezifischen Erwartungen und Themen vorbeigingen. In der Regel waren sie nicht sprachvergleichend angelegt, ignorierten die Lehr- und Lerntraditionen eines Landes oder einer Region und waren nicht auf den Ausbildungs- und Wissensstand der Lehrkräfte ausgerichtet. Manchmal berührten sie Tabus und widersprachen sozialen Normen, verwendeten eurozentristische Darstellungen und Interpretationen, thematisierten Kulturunterschiede, Alterität und Fremdperspektiven nicht - hier machen sich also Gesichtspunkte geltend, die seit den achtziger Jahren zunehmend in das Bewusstsein von Lehrwerkautoren und Verlegern gedrungen sind. In den verschiedenen Bildungseinrichtungen stand man nun vor der Entscheidung, ob man eigene Lehrwerke entwickeln, schon existierende adaptieren, Lizenzausgaben publizieren oder ergänzende Zusatzmaterialien erarbeiten sollte. Alle vier Wege wurden beschritten, am wenigsten der eigener Lehrwerke, sieht man von den recht intensiven Publikationsaktivitäten auf dem Gebiet der Fachspracheniesekurse ab, die ζ. B. in Argentinien, Brasilien, Mexiko, China, Indien ausgearbeitet wurden. Für die Entwicklung eigener Grund- und Mittelstufenlehrwerke fehlten in vielen Fällen die finanziellen Mittel, oft auch entsprechend ausgebildete Autoren, und mit den stetig wachsenden Ansprüchen, der Konkurrenz auf dem Lehrmittelmarkt und der zunehmenden Perfektionierung in der Herstellung entfiel in vielen Regionen eine eigene Produktion von Deutschlehrwerken. So ging die Initiative zur Entwicklung regionaler Lehrwerke wieder einmal von den deutschsprachigen Ländern aus, nicht zuletzt aus kulturpolitischen Überlegungen. Bei der Verwirkli-
chung von solchen Projekten sind viele Gesichtspunkte zu berücksichtigen: Soll das Konzept der Region kulturell, politisch oder sprachlich definiert werden und rechtfertigt die Zahl der Lerner überhaupt ein adressatenspezifisches Lehrwerk (Götze 1994, 244)? Nur in relativ wenigen Fällen fiel die Entscheidung für die Entwicklung regionaler Lehrwerke, während die Mehrheit der Deutschkurse weiterhin mit den in Europa entstandenen Lehrwerken bestritten wird. Eine Zwischenlösung stellen lehrwerkbegleitende zweisprachige Glossare und kontrastive Arbeitsbücher (ζ. B. Deutsch-Spanisch, Deutsch-Brasilianisch zum Lehrwerk Sprachbrücke) dar. Beispiele für die Zusammenarbeit zwischen deutschen Institutionen und ihren Partnern in verschiedenen Teilen der Welt sind die für das frankophone Westafrika konzipierten Lehrwerke Yao lernt Deutsch und Ihr und wir, das in Indonesien entstandene Lehrbuch für die indonesischen Oberschulen Kontakte Deutsch und das deutsch-chilenische Lehrwerk Wegweiser. In dem letztgenannten Fall entschied man sich für das 1994 abgeschlossene Projekt, weil es aus inhaltlichen und strukturellen Gründen schwer war, ein für Lateinamerika geeignetes Lehrbuch für den Deutsch als Fremdsprache-Unterricht mit Jugendlichen zu finden. Wie problematisch es aber bleibt, bei der Verwirklichung eines regionalen Lehrwerks deutsche Interessen mit der jeweils einheimischen Perspektive zu verbinden, zeigen eine Untersuchung über die Rezeption von Yao lernt Deutsch (Ngatcha 1994, 70) und die kritischen Anmerkungen zur Darstellung landeskundlichen Wissens in Ihr und wir von Gouaffo (1996, 472 ff.). 2.4. Interdisziplinäre, interkulturelle, internationale Ansätze Wie sich aus dem Bisherigen ergibt, befinden sich das Fach Deutsch als Fremdsprache und die Germanistik in außereuropäischen Ländern und Kulturen in einem dynamischen Veränderungsprozess, möglicherweise sogar stärker als in den deutschsprachigen Ländern selbst. Der Austausch mit diesen ist einerseits selbstverständlich geworden, andererseits kann man einen wachsenden Abstand zu ihrem Wissenschaftsbetrieb und die Verfolgung regionenspezifischer Ziele beobachten. Die dargestellten Bereiche und Schwerpunkte des Deutschen als Fremdsprache sind nicht die einzigen, in denen sich die Forschung und Lehre weiterentwickeln und konsolidieren.
11. Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache II: Außereuropäische Perspektive
Anhand der Situation des Deutschen als Fremdsprache in Lateinamerika seien noch einige wichtige Gebiete und Tendenzen erwähnt, die man mit ihren Varianten auch in anderen Regionen vorfindet. Meistens ist Deutsch an lateinamerikanischen Universitäten ein kleines Studienfach; seine Stellung ist aber relativ stabil, besonders im Sprachunterricht. Soweit Deutsch als Fremdsprache als wissenschaftliches Fach betrieben wird, steht es im engen Austausch und in Konkurrenz mit anderen Fremdsprachenphilologien, wird interdisziplinär betrieben und hat sich zunehmend mit den Entwicklungen der amerikanischen Angewandten Linguistik und den German bzw. Cultural Studies auseinanderzusetzen. Dies zeigt sich deutlich an der Aktualisierung der germanistischen Studiengänge und der Curricula in Angewandter Linguistik in den Magisterund Doktorstudien, wie z. B. an der UNICAMP in Campinas, Brasilien, oder an der UNAM, Mexiko (vgl. Blühdorn/Sartingen/ SielafF 1996). In dem Magisterstudium in Angewandter Linguistik und der Lehrerausbildung an der Universität Mexiko absolvieren Studenten verschiedener Fremdsprachen gemeinsam einen Teil der Kurse. Dazu gibt es Seminare, die speziell den Sprach- und Kulturvergleich zwischen Mutter- und Zielsprache zum Inhalt haben. Der Forschungsbeitrag aus deutschsprachigen Ländern wird immer im internationalen Kontext gesehen. Ein aktueller Trend in der Lehreraus- und -fortbildung ist die Forderung nach Fernstudiengängen und der Einsatz moderner Medien. Die wachsende Bedeutung der Angewandten Linguistik im Vergleich mit der traditionellen Philologie spiegelt sich in neugegründeten interdisziplinären Zeitschriften wie Trabalhos de Lingüística Aplicada (Campinas) und Estudios de Linguistica Aplicada (UNAM), wider und diese zeigen den Rahmen, in dem das Fach Deutsch als Fremdsprache sich entwickelt. In den letzten Jahren ist das Bewusstsein dafür gewachsen, dass die Übersetzerausbildung ausgebaut werden müsste, wie überhaupt die Nachfrage nach berufsbezogenen Kursen steigt. Übersetzer braucht man für alle Bereiche, aber in den wenigsten Ländern der Region - oder höchstens in den Hauptstädten - gibt es formale Studiengänge mit einem akademischen Abschluss. Übersetzen ist oft mehr eine Frage des Könnens und des Marktes als der nachgewiesenen Diplome. Einen guten Überblick über den Stand der
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Übersetzerausbildung in Lateinamerika, die Inhalte und die zu entwickelnden Kompetenzen gibt Lauterbach (1996a und 1996b). In der Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik liegt es nahe, deutschsprachige Werke komparatistisch zu behandeln: Rezeptionsstudien, Wirkungsästhetik, imagologische Untersuchungen. Was in der Komparatistik schon immer der Fall war, sollte auch für die Germanistik angestrebt werden: Deutschsprachige Literatur kann nur kulturspezifisch gelesen werden, wenn es gelingt, den jeweiligen Verstehenshorizont zu beschreiben. Deutsche Literaturgeschichte und Literaturdidaktik sollte nicht ohne Bezug auf die literatischen Traditionen der Region betrieben werden. Die Verknüpfung von Germanistik, Lateinamerikanistik und Komparatistik kann nicht genug gefordert werden. Dass sie in mehreren lateinamerikanischen Universitäten praktiziert wird, zeigen Zeitschriften wie Boletín de Literatura Comparada (Mendoza, Argentinien), Pandaemonium Germanicum (Säo Paulo, Brasilien) und Anuario de Letras Modernas und Poligrafías (UNAM). Der Nachholbedarf an Studien über die Literaturbeziehungen zwischen Lateinamerika und den deutschsprachigen Ländern ist immens, und an systematischer Projektarbeit bleibt noch viel zu tun. Einen Einblick in interkulturelle Thematik und Beispiele für komparatistische Studien geben Barth u . a . (1992) und Cziesla/Engelhardt (1996). Die von der Interkulturellen Germanistik angeregten Fragestellungen und Diskussionen wurden zwar aufgegriffen, aber es haben sich keine Zentren herausgebildet, die einer besonderen Schule verpflichtet wären. Die Berufspraxis ist interkulturell; Sprache, Landeskunde und Literatur sind das Fremde, dem man sich zu nähern sucht. Der Austausch unter den Ländern und Regionen nimmt stetig zu. In den letzten zehn Jahren wurden z. B. in Argentinien, Brasilien, Chile, Kuba, Guatemala und Mexiko Deutschlehrerverbände gegründet, die meistens dem Internationalen Deutschlehrerverband angeschlossen sind. Der lateinamerikanische Germanistenverband (ALEG) wird zunehmend seiner Mittlerfunktion gerecht mit Tagungen in Mendoza (1991), Mexiko-Stadt (1994), und Concepción (1998). Einblick in die Entwicklung von Deutsch als Fremdsprache und Germanistik in Lateinamerika geben Rall/Rall (1996a) und Rosenthal/Fleischer (1974).
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II. Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte
Regionale Deutschlehrertagungen fanden in Havanna (1990) und Stanford (1995) statt. Die Tagung in Stanford war die erste, die gemeinsam von Germanisten aus Nord-, Mittel· und Südamerika organisiert und besucht wurde. Auch Publikationen werden zahlreicher ausgetauscht als früher, mehrere Deutschlehrerverbände geben ihre Verbandszeitschriften heraus (ζ. B. Projekt, Säo Paulo, und Info AM PAL, Mexiko) und das Interesse an überregionaler Zusammenarbeit wächst. Die aufgezeigten Tendenzen lassen sich ähnlich in den übrigen Regionen beobachten, wie die Aussage von A m m o n über die Deutschlehrer und Germanisten zeigt: „Sie haben ein starkes berufliches Interesse daran, daß ihr Fach floriert und bilden daher gewissermaßen eine Lobby für die Fächer Deutsch und Germanistik und damit auch für die deutsche Sprache in ihrem Land". (Ammon 1991, 507 f.) Kurz, Deutsch als Fremdsprache ist am Ende des zweiten Jahrtausends längst noch nicht am Ende.
з.
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(Mexiko)
III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem 12. Das deutsche Lautsystem 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Laute und Lautsystem Merkmale der Lautsprache Die Lautsegmente Phonotaktik Prosodien Phonologie Literatur in Auswahl
1.
Laute und Lautsystem
Unter ,Laut' verstehen wir jedes Segment, in das sich eine lautsprachliche Äußerung auditiv zerlegen lässt, die aus einer mit den Artikulations- und Phonationsorganen erzeugten Kette von Schallsignalen besteht. ,Laut' ist ein linguistisch nicht definierter Begriff und daher überall dort anwendbar, wo eine Spezifizierung (ζ. B. Phon, Variphon, Allophon, Orthophon, Phonem, Serienelement usw.) nicht erwünscht oder nicht möglich ist. Entsprechend kann unter ,Laut' auch eine Klasse einander ähnlicher Segmente verstanden werden. Unter , Lautsystem' wird die systematische Zusammenfassung der Laute einer gegebenen Sprache und ihrer Interrelation verstanden. Häufig werden aber über die Segmente hinausgehend - wie auch hier - diejenigen Merkmale mitverstanden, die die einzelnen Laute überlagern, so dass in diesem erweiterten Sinn unter .Lautsystem' alle in der lautsprachlichen Kommunikation zu beobachtenden Phänomene zusammengefasst werden. Darstellungen des deutschen Lautsystems sind meist eingegrenzt auf den Bereich der Standardlautung (vgl. Art. 13); andere Lautungsebenen werden nur insoweit erwähnt, als die in ihnen repräsentierten Varietäten tendenziell Eingang in die Norm gefunden haben. Phonostilistische und emotionale Aussprachevarietäten bleiben ebenso unberücksichtigt wie regionale. 2.
Merkmale der Lautsprache
Wie bereits angedeutet, lassen sich die in der lautsprachlichen Kommunikation bei der
Analyse des Sprechkontinuums zu beobachtenden Phänomene ganz grob zwei Arten zuordnen: (1) Phänomene, die sich auf einzelne Glieder der Lautkette (Segmente) beziehen, sind dem segmenteilen Bereich zuzurechnen. (2) Phänomene, die sich auf die Lautkette als Ganzes (oder auf größere Teile der Kette) beziehen und die einzelnen Glieder überlagern, gehören zum suprasegmentellen Bereich. Hinzu treten solche Phänomene, die an der Segmentfuge, d. h. an den Schnittstellen zwischen zwei Gliedern der Kette, zu beobachten sind. Entsprechend den drei Manifestationsbereichen der Lautsprache bieten sich drei verschiedene Ebenen der phonetischen Beschreibung an: (1) auf der Grundlage der Erzeugung (Genese, Produktion) der Lautsprache mit den Mitteln der artikulatorischen Phonetik·, (2) auf der Grundlage der Übertragung der Lautsprache (vom Sender zum Empfänger) mit den Mitteln der akustischen Phonetik und (3) auf der Grundlage des Empfangs der Lautsprache (Rezeption, Perzeption) mit den Mitteln der auditiven Phonetik. Zwar werden häufig zur Lautbeschreibung Begriffe aus der auditiven Phonetik (wie hart, weich, muet, mouillé, liquid, sonorant, scharf, spitz usw.) gebraucht, doch entstammen die meisten Beschreibungsparameter dem Bereich der artikulatorischen Phonetik. Erst die instrumentelle akustische Sprachanalyse (v. a. mit Hilfe des Sonographen) hat — insbesondere im Rahmen der Distinctive Feature Theory - auch eine Reihe akustischer Beschreibungsparameter in die Phonetik eingeführt. Diese Parameter werden zwar in instrumentalphonetischen Analysen und bei der Erstellung von Merkmalmatrizes verwen-
153
12. Das deutsche Lautsystem
det, jedoch kaum bei Lautbeschreibungen in phonetischen Handbüchern und überhaupt nicht zur Lautbeschreibung in Lexika und Sprachlehrwerken. Aus diesem Grund und aus Gründen, die mit dem Erwerb einer fremden Aussprache zusammenhängen, wird hier das Repertoire der in der artikulatorischen Phonetik verwendeten Termini zur Lautbeschreibung verwendet. 3.
Lautsegmente
Zur Klassifikation der Laute unter paradigmatischem Aspekt werden üblicherweise die Parameter des Artikulationsortes und der Artikulationsart herangezogen. Die Artikulationsart wird im Wesentlichen durch den Grad der Behinderung des Luftstroms bestimmt. Da alle Laute des Deutschen durch Ausatmen von Luft entstehen, ist entscheidend, welche Hindernisse der Luftstrom auf seinem Weg von der Lunge in die Atmosphäre überwinden muss. Im Hinblick auf die im Deutschen gegebenen Artikulationsmöglichkeiten sind insgesamt sechs Grade der Behinderung und damit sechs Artikulationsarten zu unterscheiden: (1) Bei einer völligen Unterbrechung des Luftstroms durch Verschluss im Mundraum und gleichzeitigen Abschluss des Nasenraums (Hebung des Gaumensegels) entstehen Verschlusslaute (Plosive). (2) Bei einer dauerhaften Unterbrechung des Luftstroms im Mundraum und gleichzeitiger Öffnung des Nasenraums (Senkung des Gaumensegels) entstehen Nasenlaute (Nasale). (3) Bei einer periodischen Unterbrechung des Luftstroms entstehen Zitterlaute (Vibranten). (4) Bei einer Engebildung im Mundraum, wobei im Bereich der Enge durch die dort herrschende höhere Fließgeschwindigkeit der Luft ein Reibegeräusch erzeugt wird, entstehen Reibelaute (Frikative). (5) Bei einer Behinderung des Luftstroms in der Mundmitte, aber gleichzeitigem freien Ausgleiten des Luftstroms an den Seiten entstehen Seitengleitlaute (Laterale). (6) Bei freiem Ausgleiten des Luftstroms (auch in der Mundmitte) ohne Behinderung entstehen Vokale. Neben dem Grad der Behinderung, durch den die Artikulationsart der Laute bestimmt wird, ist für die Klassifizierung der Artikulationsort
Nasenraum weicher Gaumen harter Gaumen Zahndamm Oberlippe Oberzähne Unterlippe Zunge Zäpfchen
Glottis
Abb. 12.1: Artikulationsorgane, soweit sie für die Bildung deutscher Laute relevant und im Text erwähnt sind (aus: Kelz 1995, 17).
bestimmend. Vom Grundsatz her ist es jeweils ein (flexibler) Artikulator, der sich bei der Artikulation einer (festen) Artikulationsstelle mehr oder weniger stark nähert. Dabei sind allerdings physiologische Grenzen gesetzt. Aus dem physiologisch Möglichen wählt jede Sprache - so auch das Deutsche - eine begrenzte Zahl von Artikulationsorten aus. Bei den Plosiven und Nasalen gibt es im Deutschen drei Artikulationsorte: Unterlippe - Oberlippe (bilabiale), Zungenspitze Zahndamm (alveolare) und Zungenrücken hinterer Gaumen (velare Artikulation). Frikative können im Deutschen an folgenden Artikulationsorten gebildet werden: Unterlippe — obere Schneidezähne (labio-dentale), Zungenspitze - Zahndamm (alveolare), Zungenspitze - hinterer Zahndamm (palato-alveolare), Zungenrücken - vorderer Gaumen (palatale), Zungenrücken - hinterer Gaumen (velare) und Zungenwurzel - Zäpfchen (uvulare Artikulation). Die physiologischen Möglichkeiten für die Bildung von Vibranten sind auf zwei Artikulationsorte begrenzt. Im Deutschen kommen beide vor: Vibration der Zungenspitze (apikale) und Vibration des Zäpfchens (uvulare Artikulation). Im Deutschen kommt nur ein Lateral vor. Der Artikulationsort wird bestimmt durch den Kontakt Zungenspitze-Zahndamm (alveolare Artikulation). Vokale können nur in einem eng begrenzten Teil des Mundraums gebildet werden: durch mehr oder weniger große Hebung des vorderen Zungenrückens gegen den vorderen Gaumen (Vorderzungenvokale), des mittleren Zungenrückens gegen den mittleren Gaumen (Mittelzungenvokale) und des hinteren
154 Zungenrückens gegen den hinteren Gaumen (Hinterzungenvokale). Weitere wichtige Mittel zur Lautunterscheidung sind der Spannungsgrad (der Artikulationsmuskulatur) und die Stimmbeteiligung; danach unterscheiden wir stimmhafte und stimmlose Laute, Fortes und Lenes. Neben der Stimmkorrelation (stimmhaft ~ stimmlos) spielt für das Verstehen der Laute also auch die Spannungskorrelation (gespannt ~ ungespannt) eine Rolle. Lenes werden bei geringer Spannung mit schwachem Geräusch erzeugt, Fortes bei kräftiger Spannung mit starkem Geräusch. Plosive und Frikative können im Deutschen als Lenis oder als Fortis artikuliert werden. Auch bei den Vokalen spielt der Spannungsgrad eine Rolle; allerdings entfällt hier das Geräusch. Stimmhafte Laute werden von einem Stimmton begleitet. Der Stimmton wird durch eine Vibration der Stimmbänder an der Glottis erzeugt. Plosive und Frikative können im Deutschen sowohl stimmhaft als auch stimmlos sein. Nasale, Laterale und Vibranten kommen im Deutschen nur stimmhaft vor. Auch Vokale sind stimmhaft. Spricht man jedoch einen Vokal stimmlos aus, so entsteht ein ,Hauchlaut'. Alle derartigen ,stimmlosen Vokale' fassen wir als eine Gruppe zusammen, die wir im Deutschen als /h/ betrachten. Man kann also sagen, dass die Lautkette bestehend aus Ihl + Vokal (an anderen Stellen kommt Ihl im Deutschen nicht vor) ein Laut ist, der durchgehend alle artikulatorischen Merkmale des jeweiligen Vokals enthält, dessen erster Teil stimmlos und dessen zweiter stimmhaft ist. Man nennt dies auch den behauchten Vokaleinsatz. Wegen der (wenn auch geringen) Reibung im glottalen Bereich erscheint der ,Hauchlaut' Ihl in der IPATabelle unter dem Artikulationsort ,glottal'. Neben dem behauchten Vokaleinsatz ist ein weiterer für das Deutsche kennzeichnend: der harte Vokaleinsatz. Vor der eigentlichen Vokalartikulation verschließen die Stimmlippen den Luftstrom, und es kommt zu einem explosionsartigen Einsetzen des Vokals. Wir sprechen daher vom Glottisverschluss oder vom ,Knacklaut'. Er tritt regelmäßig am Wortanfang vokalisch anlautender Wörter — wie in Eis, aus, in, oder - auf. Präfixe werden durch den Knacklaut abgetrennt, Suffixe jedoch nicht: beenden, erarbeiten ~ Bauer, frohe. Damit ergeben sich folgende Laute des Deutschen (deren Lautwerte im folgenden mit den Zeichen der IPA in eckigen Klammern gekennzeichnet werden):
III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem
3.1. Plosive Bei den Plosiven sind Fortisplosive und Lenisplosive zu unterscheiden. Sie stehen einander paarweise gegenüber. Im Deutschen sind Fortisplosive immer stimmlos, Lenisplosive im Auslaut und nach stimmlosen Konsonanten ebenfalls stimmlos, sonst stimmhaft. Lenisplosive sind [b] (bilabial), [d] (alveolar) und [g] (velar). Fortisplosive sind [p] (bilabial), [t] (alveolar) und [k] (velar). Ferner kann bei Plosiven noch die Aspiration hinzutreten. Es handelt sich bei der Aspiration um einen stärkeren Lufthauch, der unmittelbar der Lösung des Verschlusses folgt. Lenisplosive sind im Deutschen generell nicht aspiriert: bohren, dir, Gala. Fortisplosive sind aspiriert (wie in Poren, Tier, kahl), wenn kein Frikativ vorausgeht und kein anderer Plosiv folgt (wie in Sporen, Stier, Skala, Akt, Abt). 3.2. Nasale Nasale sind im Deutschen immer stimmhaft. Nasale sind [m] (bilabial) wie in mit, immer, Arm, [n] (alveolar) wie in nie, Winter, Sinn und [η] (velar) wie in Inge, eng. 3.3. Frikative Frikative kommen als Lenes und als Fortes vor. Im Deutschen sind Fortisfrikative immer stimmlos, Lenisfrikative meist stimmhaft, können aber nach stimmlosen Konsonanten entstimmt sein. Fortisfrikative sind [f] (labiodental) wie in fein, Phase, Vater, Affe, auf, naiv, [s] (alveolar) wie in Skala, Masse, Straße, Fuß, Eis, [)] (palato-alveolar) wie in Schule, Asche, Chef, [ç] (palatal) wie in Chemie, Eiche, euch, [x] (velar) wie in machen, Buch und [χ] (uvular). Lenisfrikative sind [v] (labio-dental) wie in Wein, Vase, ewig, November, [z] (alveolar) wie in sein, Rasen, [3] (palato-alveolar) wie Genie, Journalist, Dschungel, [j] (palatal) wie in jetzt, Yacht und [κ] (uvular). Die beiden uvularen Frikative werden später noch ausführlich behandelt und mit Beispielen belegt. Der (stimmhafte) palatoalveolare Lenisfrikativ [3] kommt nur in Fremd- und Lehnwörtern vor. Umgangssprachlich kommt im Deutschen außerdem ein (stimmhafter) velarer Lenisfrikativ [γ] zwischen zwei Vokalen vor, von denen einer ein Hinterzungenvokal sein muss, wie in Wagen, Bogen, Agathe. 3.4. Lateral Der Lateral ist im Deutschen immer stimmhaft. Er wird alveolar gebildet. Beispiele: [1]: leicht, alle, mal.
155
12. Das deutsche Lautsystem
m
η
Fortis-
Ρ
t
k
Lenis-
b
d
g
Vibranten
glottal
uvular
velar
r
Mittelzungenvokale ungerundet
Hinterzungenvokale gerundet
ungerundet
gerundet
hohe
i:
y:
u:
mittelhohe
I
Y
υ
mittlere
e:
0
3
o:
ε. ε
oe
Β
3
tiefe
a, a:
Die Vokalwerte sind im Deutschen unter den folgenden beiden Gesichtspunkten ungleich verteilt:
R
ν
ζ
3
i
V
κ
Fortis-
f
s
f
Ç
X
X
h
t
Abb. 12.2: Zusammenfassung des Deutschen.
Vorderzungenvokale
Abb. 12.3: Zusammenfassung der Vokalwerte des Deutschen.
0
Lenis-
Lateral
hinten) und nach der Form der Lippen (rund ~ nicht-rund) klassifiziert. Während im Deutschen die Hinterzungenvokale immer gerundet und die Mittelzungenvokale immer ungerundet sind, kommen die Vorderzungenvokale sowohl gerundet als auch ungerundet vor. Insgesamt sind fünf Stufen der Zungenhöhe zu unterscheiden, wobei die Zungenhöhe mit dem Öffnungsgrad des Mundes (d. h. dem Lippenabstand) korreliert: Hohe Vokale sind relativ geschlossen, tiefe Vokale relativ offen. Die fünf Öffnungsgrade verteilen sich auf Vorder-, Mittel- und Hinterzungenvokale wie folgt: Hinterzungenvokale [u] wie in Mus, [u] wie in muss, [o] wie in Ofen und [o] wie in offen-, Mittelzungenvokale [a] wie in bitte, [b] wie in bitter und [a] wie in kam, Kamm-, ungerundete Vorderzungenvokale [i] wie in Miete, [i] wie in Mitte, [e] wie in wen und [ε] wie in wenn, hätte, Käse; gerundete Vorderzungenvokale [y] wie in süß, [y] wie in flüssig, [0] wie in König und [ce] wie in können.
mitteltiefe palatal
palato-alv.
labio-dental
Nasale
alveolar
bilabial
3.5. Vibranten Yibranten sind im Deutschen ebenfalls stimmhaft. Zwar gibt es zwei Artikulationsorte, an denen im Deutschen Vibranten gebildet werden, durch Vibration der Zungenspitze am Zahndamm (apikal) und durch Vibration des Zäpfchens an der Zungenwurzel (uvular), doch sind die beiden Vibranten im Deutschen austauschbar; sie sind freie Varianten. Ob die eine oder andere Variante gesprochen wird, ist für das Sprachverstehen unerheblich und gibt allenfalls Auskunft über die sprachliche Heimat des Sprechers. Die phonetischen Zeichen hierfür sind [r] für apikales und [r] für uvulares R, doch wird in den meisten Lexika nur [r] verwendet. Neben der Aussprache des R als Vibrant kommt im Deutschen heute immer häufiger die Aussprache als (uvularer) Frikativ vor. Das ,Reibe-R' wird v. a. prävokalisch und nach kurze Vokalen, insbesondere in der Stellung vor Konsonanten, wie in Korb, Kerie, Arm, Torf, Kurve, geworden, Kern, Kerl, Ferse, Marge, Mark, beigen, Kirche artikuliert. Als weitere Besonderheit ist eine Tendenz zur stimmlosen Aussprache des frikativen R vor stimmlosen alveolaren und palatoalveolaren Frikativen und Plosiven festzustellen, wie in hart, Kurs, kurz, Marsch.
der Konsonanten
3.6. Vokale Die Vokalwerte werden im Deutschen nach dem Grad der Zungenhebung (hoch ~ tief), nach der Richtung der Zungenlage (vorn ~
(1) unter dem Gesichtspunkt der Betonung: Die beiden Zentralvokale, das geschlossene [a] und das offenere [b], kommen nur in unbetonten Silben vor, alle übrigen Vokalwerte sowohl in betonten als auch in unbetonten. (2) unter dem Gesichtspunkt der Dehnung: Sechs Vokalwerte sind in betonter Stellung immer lang: [i:], [y:], [u:], [e:], [0:] und [o:]. Zwei Vokalwerte kommen sowohl lang als auch kurz vor: [ε] und [ε:], [a] und [a:]. Die übrigen Vokalwerte sind immer kurz.
156 4.
III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem
Phonotaktik
Für die Beschreibung des Lautsystems einer Sprache sind aber nicht nur die einzelnen Laute unter paradigmatischem Aspekt, sondern auch die Möglichkeiten ihrer Verknüpfung unter syntagmatischem Aspekt zu berücksichtigen. Die Untersuchung der syntagmatischen Aspekte eines Lautsystems ist Aufgabe der Phonotaktik. In den phonotaktischen Regeln sind die Distributions- und Kombinationsmöglichkeiten für die Laute einer Sprache zusammengefasst. Die Verteilung und Verknüpfung der Einzellaute auf der syntagmatischen Achse ist nicht nur unter Aspekten der Kommunikationserleichterung zwischen Muttersprachlern von Bedeutung, sondern auch für die Ausspracheschulung. Grundsätzlich ist die Kombination von Vokalen und Konsonanten im Deutschen frei, während die Kombination von Konsonanten miteinander und die Kombination von Vokalen miteinander besonderen Regeln unterliegen, die hier nicht im Einzelnen erläutert werden sollen.
ten [pf], [ts] und [tj] wie in Apfel, Kopf, Zeit, sitzen, Satz, Deutsch, klatschen. In Lehn- und Fremdwörtern kommt außerdem [d3] (das stimmhafte Leniskorrelat von [tj]) vor, wie in Dschungel, Adagio. Vokalkombinationen - genauer: die Gleitbewegung von einem Vokalwert zu einem anderen - werden Diphthonge genannt. Die
4.1. Silbenstruktur Allein die Silbenstruktur einsilbiger Morpheme weist im Deutschen bereits eine beträchtliche Vielfalt auf. Beispiele: ν (oh); κ ν (du, so, wie); κκν (Knie, froh, Schnee)·, κκκν (zwo, sprüh, Stroh)·, ΝΚ (an, ihn, all); KVK (Ton, Ball, Tip); κ κ ν κ (frag, Klang, Blick, zehn); κκκνκ (Spross, Strahl, Zweck); νκκ (Ost, Ulk, Arm, elf, acht); κνκκ (West, Mark, Kurs, Milch, sechs, Jagd, gelb); κκνκκ (Frost, flix, Kraft, Gracht, Knopf, stark); κκκνκκ (Strand, zwölf); VKKK (Obst, Axt); KVKKK (Markt, sanft, Furcht, Herz, Papst); κκνκκκ (Schmerz, Knirps); κκκνκκκ (Strumpf); VKKKK (Ernst); ΚΝΚΚΚΚ (Herbst). Statt ν kann an einigen Stellen auch w stehen: w (Ei, au); K W (Bau, bei, neu); ΚΚΝΝ (grau, schlau, Blei); KKKW (Spreu, zwei); WK (ein, aus, euch); KWK (Beil, faul, neun, weit); KKWK (braun, klein, Zeug); KKKWK (Streik, zweit, Spleiß); KWKK (meist, Haupt, Feind, Kauz, Faust); KKWKK (Freund). An Morphemgrenzen kann es zu einem ,Konsonantenstau' kommen, wie ζ. B. in Marktstrategie oder Herbststurm mit insgesamt sechs Konsonanten. 4.2. Lautkombination Zu den häufigen Konsonantenkombinationen, die sich phonotaktisch wie Einzellaute verhalten, gehören im Deutschen die Affrika-
Abb. 12.4: Darstellung der Vokalqualitäten und Bewegungsvokale im Vokalviereck.
157
12. Das deutsche Lautsystem
wichtigsten sind [ai], [au] und [OY] wie in Eis, Kaiser, aus, heute, Käufer. Daneben gibt es eine Gruppe von Vokalkombinationen, deren letztes Element immer der offene Zentralvokal [e] ist. Diese sind [ie], [ys], [UF], [e^], [0F] und [OB] wie in Tier, Tür, Tour, Teer, Törchen, Tor. 4.3. Lautdistribution Von den zahlreichen Distributionsregeln des Deutschen seien hier nur einige wichtige als Beispiele genannt: (1) Stimmhafte Lenes (Frikative und Plosive) kommen am Silbenende im Deutschen nicht vor. Die morphologischen Lenes werden in diesen Positionen entstimmt und zu ihren Fortiskorrelationen. Diese Lautveränderung nennen wir ,Auslautverhärtung': [b] [p]: Loben ~ Lob, [d] ->· [t]: Räder ~ Rad, [g] ->· [k]: tagen ~ Tag, [z] [s]: hausen ~ Haus, [v] -»• [f]: naive ~ naiv. (2) Während die Nasale [m] und [n] in allen Positionen vorkommen, ist die Distribution des [η] defizitär: Der velare Nasal kommt nicht am Wortanfang, nicht nach Konsonanten und nicht nach langen Vokalen vor. (3) Der velare Frikativ [x] kommt ebenfalls nicht am Wortanfang und nicht nach Konsonanten sowie nicht nach Vorderzungenvokalen vor. Umgekehrt kommt der palatale Frikativ [ç] nicht nach Hinterzungenvokalen vor. (4) /j/ kommt nur initial vor, außer in Lehnund Fremdwörtern (einschließlich solcher aus dem Niederdeutschen wie Koje, Boje), wo es auch medial vorkommt. Final kommt /j/ nicht vor. (5) Der Lenisfrikativ [z] und der Fortisfrikativ [s] stehen in teilkomplementärer Distribution. Am Wortanfang kommt der Fortis nur vor Konsonanten, der Lenis nur vor Vokalen vor, am Silbenende kommt nur der Fortis vor, intervokalisch kommt nach kurzen Vokalen ebenfalls nur der Fortis vor; lediglich nach langen Vokalen können beide Laute stehen (wie in reisen ~ reißen, Muse ~ Muße). (6) Die Konsonantenkombinationen [ft] (wie stehen) und [fp] (wie in spielen) kommen nur am Anfang des Wortstamms vor, während die Kombinationen [st] (wie in Lust) und [sp] (wie in Wespe) in medialer und finaler Stellung vorkommen.
5.
Prosodien
Zu den wichtigsten suprasegmentalen Merkmalen gehören die Intonation (Tonhöhenbewegung), die Akzentuierung (Veränderung der Lautstärke) und die Rhythmik (zeitliche Anordnung des Sprechkontinuums). 5.1. Akzentuierung Akzentuierung ist die Heraushebung einzelner Teile des Sprechkontinuums, meist Silben, mit dem Mittel der Lautstärke und durch größere Spannung. Regeln werden meist für das Wort oder den Satz angegeben. Wir sprechen daher von Wort- und Satzakzent. Während die temporale und melodische Gestaltung des Einzelwortes je nach Sprechsituation variieren kann, ist die Akzentsilbe vorgegeben (und in Wörterbüchern festgehalten). Die Wortakzentuierung wird im Deutschen durch zahlreiche Regeln bestimmt. Grundsätzlich hat man zwischen der Akzentuierung von Wörtern des Erbwortschatzes und denen des Fremdwortschatzes zu unterscheiden. Ferner ist zu unterscheiden zwischen der Akzentuierung von einfachen Wörtern, von Komposita und von Wörtern mit Affixen. Für die Wörter des Erbwortschatzes gilt im Deutschen vornehmlich die ,Stammbetonung'. Dies bedeutet, dass die erste Silbe eines Wortstamms akzentuiert ist und dann auch akzentuiert bleibt, wenn Affixe hinzutreten oder weitere Wortstämme angefügt werden. Beispiele: schreiben ~ Schreibtisch ~ verschreiben ~ unterschreiben ~ Schreibmaschine ~ Beschreibung, Gold ~ goldene ~ vergolden ~ Goldschmied ~ Goldarmband. Präfixe und Suffixe sind im Allgemeinen unbetont. Ausnahmen bilden Präfixe wie ein-, aus-, vor-, an-, ab-, her-, hin-, mit-, zu- usw. Sie sind immer betont. Betonte Präfixe finden wir bei vielen Verben (nämlich den brennbaren Verben', z. B. führen ~ vorführen ~ zuführen) und bei deren substantivischen Ableitungen (wie z. B. einsteigen ~ Einstieg, aussteigen ~ Ausstieg, abfahren ~ Abfahrt, ankommen ~ Ankunft, herkommen ~ Herkunft, vorfahren ~ Vorfahrt usw.). Manche Präfixe (wie z. B. über, unter, durch) können betont oder unbetont sein. In vielen Fällen lassen sich dadurch Bedeutungen unterscheiden (z. B. einen Text übersetzen ~ ans andere Ufer übersetzen). Viele Präfixe kommen überwiegend betont vor, wie z. B. un- (ungenau, unschön, aber auch: unmöglich,
158 unglaublich), miss- (Missverständnis, Missernte, aber: missbrauchen, misstrauen) und ur(Ursache, Unvald, Urkunde, aber auch: wrsprünglich). Von der Regel, nach der die erste Stammsilbe zu akzentuieren ist, wird fernerhin abgewichen, wenn betonte Suffixe angefügt werden, wie ζ. B. Bäcker ~ Bäckerei, Bank ~ Bankier, sowie bei Anfügung des Suffixes -ig an das Suffix -haft wie ζ. B. in wahr ~ wahrhaft ~ wahrhaftig (analog dazu auch: lebend ~ lebendig). Bei Komposita ist generell zu unterscheiden zwischen Determinativ-Komposita (wie ζ. B. Bücherschrank, Hochhaus, Liegewagen, Fahrzeug), die auf dem ersten Teil, und Kopulativ-Komposita (wie ζ. B. blaugrün, rosami), die auf dem zweiten Teil betont sind. Nach dem Muster der Kopulativ-Komposita werden sehr viele Orts- und Eigennamen betont, wie z. B. Sachsen-Anhalt, MayerSchalburg, Neunkirchen-Seelscheid, RottachEgern, aber auch: Travemünde, Bremerhaven, Bayrischzell, Mühlhausen, Oberkassel, Bergzabern, Hohenzollern usw. Für dreigliedrige Komposita gilt die gleiche Regel: Determinativ-Komposita sind auf der ersten Silbe betont, wenn das Grundwort selbst ein Kompositum ist, z. B. Lastkraftwagen, Fachhochschule, Uhrenarmband. Ist jedoch in dem dreigliedrigen Kompositum ein Kopulativ-Kompositum enthalten, so liegt die Akzentuierung auf diesem, z. B. Schwarzweißfilm. Ebenso werden betont: Dreikäsehoch, Rotkreuzschwester. Auch hier gilt Entsprechendes wieder für viele Ortsnamen, wie z. B. Mönchengladbach, Schenklengsfeld. Bei der Bildung von Komposita aus Partikeln (Adverbien und Präpositionen) wie in hinzu, sogar, wieso, heraus, vorüber ist das letzte Element betont, und bei der Kompositabildung von Adjektiven, bei denen das Bestimmungswort nicht wörtlich gemeint ist, sondern der Verstärkung dient, wie in eiskalt, mausetot, hundemüde usw., sind beide Elemente gleichermaßen betont. Die Regel der ,Stammbetonung' gilt nicht für den deutschen Fremd- und Lehnwortschatz. Hier werden meist die Akzentmuster der Ausgangssprachen übernommen. Beispiele: Doktor ~ Doktoren ~ Doktorat, physisch ~ Physik ~ physikalisch, Foto ~ Fotograf ~ Fotografìe. Bei Abkürzungen wird immer der letzte Buchstabe betont, sofern einzeln buchstabiert wird: EU, AG, VHS, USA, BGB, GmbH, OSZE, StGB, UNHCR. Abkürzungen, die
III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem
als Wort gelesen werden, und Akronyme werden vorwiegend auf der vorletzten Silbe betont: UNO, BAFöG, NATO, UNESCO, Mit ropa (aber: Unicef). Der Wortakzent ist im Deutschen in vielen Fällen distinktiv: August ~ August, Tenor ~ Tenor, durchbrechen ~ durchbrechen, Blindekuh ~ blinde Kuh. Silben, die den Wortakzent tragen, sind auch potenzielle Träger des Satzakzents. Allerdings kann mit der Wahl der akzentuierten Silbe auch ein bestimmtes Implikat verbunden sein, wie die folgenden Beispiele zeigen: Ich Ich Ich Ich Ich Ich Ich
habe habe habe habe habe habe habe
ihr ihr ihr ihr ihr ihr ihr
den den den den den den den
Ball Ball Ball Ball Ball Ball Ball
zurückgeworfen. zurückgeworfen. zurückgeworfen. zurückgeworfen. zurückgeworfen. zurückgeworfen. zurückgeworfen.
5.2. Intonation Die Vielfalt der im Deutschen möglichen Intonationsweisen lässt sich hier nicht ausbreiten, doch können deutlich drei Grundtypen unterschieden werden: die steigende Intonation, die fallende Intonation und die ebene Intonation. Entscheidend für die Ausprägung der Intonationskontur ist die Position der Silbe, die den Satzakzent trägt. Sie liegt bei der steigenden Intonation auf der tiefsten Tonstufe und bei der fallenden Intonation auf der höchsten Tonstufe. Dies gilt nur, sofern weitere Silben im Satz folgen. Diese liegen bei der steigenden Intonation auf der höchsten und bei der fallenden Intonation auf der tiefsten Stufe. Die Silben vor dem Satzakzent liegen in beiden Fällen auf der mittleren Stufe. Liegt der Satzakzent auf der ersten Silbe des Satzes, so entfallt die mittlere Stufe; liegt er auf der letzten Silbe des Satzes, so bewegt sich die Tonhöhe innerhalb dieser Silbe von der höchsten zur tiefsten Stufe bei der fallenden Intonation und von der tiefsten zur höchsten Stufe bei der steigenden Intonation. Damit ergeben sich insgesamt die folgenden Muster (s. Abb. 12.5). Die Regeln für die Anwendung der steigenden, fallenden und ebenen Intonation sind komplex, lassen aber folgende Grundaussagen zu: (1) Aussagesätze werden in der Regel mit fallender Intonation gesprochen. (Abweichungen davon sind häufig in der Kom-
159
12. Das deutsche Lautsystem
- J la
(6) Wird die Wortfrage (Beispiel: Wohin fahrt ihr im Urlaub?) mit fallender Intonation gesprochen, so dient sie der Informationsabfrage; wird sie dagegen mit steigender Intonation gesprochen, so signalisiert sie Zweifel oder Missverstehen.
f
2a
3a
I 2b
lb
—
\
J
\
VL
2c
lc
\
V
ld
3b
::::/:: - S 2d
3c -
—
3d
Abb. 12.5: Zusammenfassung der Grundkonturen der deutschen Intonation: 1 = fallende, 2 = steigende, 3 = ebene Intonation; a = mit Vor- und Nachlauf, b = ohne Vorlauf, c = ohne Nachlauf (Satz endet mit akzentuierter Silbe; die Tonhöhenbewegung wird in dieser Silbe realisiert), d = Satz besteht nur aus einer (akzentuierten) Silbe.
(2) (3)
(4)
(5)
munikation mit Kindern und Tieren zu hören.) Aufzählungen werden in der Regel mit ebener Intonation gesprochen. Bei Aufforderungen (wie etwa Setzen Sie sich!) kann der Grad der Freundlichkeit aus der Intonation abgelesen werden: Bei ebener Intonation klingt die Aufforderung teilnahmslos, bei fallender Intonation direkt, fast befehlend, bei steigender Intonation zuvorkommend, freundlich. Eine Frageintonation gibt es im Deutschen nicht. Vielmehr ist zwischen verschiedenen Arten von Fragesätzen zu unterscheiden, zunächst zwischen Satzfragen und Wortfragen. Bei Satzfragen ist ferner die Syntax zu beachten. Steht bei einer Satzfrage das Verb an der ersten Stelle (Beispiel: Fährt er heute nach Bonn?), kann der Satz mit steigender oder fallender Intonation gesprochen werden; steht es dagegen an 2. Stelle (Beispiel: Er fährt heute nach Bonn?), so muss die steigende Intonation verwendet werden, da der Satz sonst als Aussage verstanden würde.
5.3. Rhythmik Jede Sprache organisiert die zeitliche Anordnung der Elemente des Sprechkontinuums in ihrer eigenen Weise. Die Rhythmik ist ein wichtiges Mittel in der Kommunikation der Muttersprachler untereinander; sie prägt die Hörerwartung und kann so die Kommunikation erleichtern. Da durch diese Phänomene jedoch innerhalb einer Sprache keine Bedeutungen unterschieden werden, blieb dieser Aspekt in der phonetischen Beschreibung (und als Folge davon auch in der Ausspracheschulung) weitgehend unberücksichtigt. Für eine gute Aussprache ist jedoch beachtenswert, dass ein ,fremder Akzent' bei nicht adäquater Rhythmik sofort erkannt wird, auch wenn Segmente, Intonation und Akzentuierung richtig gesetzt sind. Die rhythmische Gliederung der deutschen Sprache ist durch seine Akzentorientierung gekennzeichnet. Während ζ. B. in den ,silbenzählenden' Sprachen eine gleichmäßige Verteilung der Silben auf der zeitlichen Achse des Sprechkontinuums erfolgt, die Abstände von Silbe zu Silbe ungefähr gleich sind und somit die Takte als rhythmische Einheiten jeweils eine Silbe beinhalten, ist im Deutschen die Verteilung der Silben auf der zeitlichen Achse recht ungleich. Im Deutschen sind die Abstände von Akzent zu Akzent ungefähr gleich — ungeachtet der Zahl der nichtakzentuierten Silben. Das bedeutet auch, dass jeder Takt nur eine akzentuierte, aber eine beliebige Zahl nichtakzentuierter Silben enthält. Dies hat zur Folge, dass für die Artikulation der unbetonten Silben unterschiedlich viel Zeit zur Verfügung steht, je nachdem, wieviele unbetonte Silben sich in einem Takt befinden. Bei entsprechend großer Silbenzahl führt dies im Deutschen zur quantitativen und qualitativen Reduktion, zur regressiven und progressiven Assimilation, zur Tilgung von Lauten und zu verschiedenen Formen von ,Verschleifungen'. Zu den quantitativen Reduktionen gehört v. a. die Kürzung langer Vokale ([i:] in wieder, [i] in wiederholen). Ein Beispiel für qualitative Reduktion ist die Abschwächung des Vollvokals zum Zentralvokal in der Tonsenke (und -* [ant]). Die Elision betrifft ζ. B. das [a] in
160
III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem
den Endsilben -el, -en, -em. Gerät dabei das [n] in die Nachbarschaft eines Plosivs, wird meist assimiliert: η -* [m] {haben), η [η] {Haken). Derartige Lautveränderungen können für Nicht-Muttersprachler zunächst ein Hindernis beim Hörverstehen sein. 6.
Phonologie
Zur Beschreibung des Lautsystems einer Sprache gehört nicht nur die Feststellung der phonetischen Phänomene, sondern auch deren Deutung in Bezug auf den Stellenwert innerhalb des Systems. Dies im Einzelnen festzustellen, ist Aufgabe der Phonologie. Während die Phonetik die Lautsprache unter dem Aspekt ihrer Substanz betrachtet, richtet die Phonologie ihr Augenmerk auf die Funktion der erzeugbaren Laute innerhalb der Sprache. Eine phonologische Untersuchung kann deshalb immer nur auf eine Einzelsprache bezogen sein. Die Entscheidung für die Zuordnung von unterschiedlich artikulierten Lauten zu Lautklassen ist nicht ausschließlich von ihrer phonetischen Ähnlichkeit abhängig, sondern auch von der Frage, ob sie in einer gegebenen Sprache die Funktion erfüllen, Bedeutungen unterscheiden zu können oder nicht. Zwei Laute, die beim Austausch des einen durch den anderen innerhalb einer Lautkette zu verschiedenen Bedeutungen der so erzeugten Wörter führen, müssen verschiedenen Klassen angehören. Solche Lautklassen nennen wir Phoneme. Das einfachste Mittel zum Nachweis der Phonemdifferenzierung ist die Bildung eines Minimalpaares; das sind paarweise angeordnete Lautketten, bei denen jeweils nur ein Glied verschieden ist, wie ζ. B. in Wein ~ fein, Leben ~ loben, Flug ~ frug, Männchen ~ Menschen. Die bedeutungsunterscheidende Funktion der Phoneme ist die Grundlage jeder phonologischen Beschreibung. Phoneme sind daher als Lautklassen definiert, deren Mitglieder austauschbar sind, ohne dass sich die Bedeutung des Wortes in der gegebenen Sprache ändert. Stehen diese Mitglieder in verschiedenen lautlichen Umgebungen, so sprechen wir von Allophonen (so kommt ζ. B. im Deutschen ein nichtaspiriertes Ρ nach Frikativen vor, während sonst vor Vokalen nur das aspirierte Ρ steht). Allophone stehen also in komplementärer Distribution. Stehen die Laute hingegen in paralleler Distribution, d. h. kommen sie in
gleicher lautlicher Umgebung vor (wie ζ. B. das Zungenspitzen-R und das Zäpfchen-R im Deutschen, freilich in der Regel bei verschiedenen Sprechern), so sprechen wir von Variphonen. Unter funktionalem, phonologischem Aspekt lassen sich die Laute des Deutschen wie folgt zusammenfassen: Die Lenisplosive Ibi, /dl, /g/ stehen in Opposition zu den Fortisplosiven /p/, Iti, IkJ. Zwar ist diese Opposition im Auslaut aufgehoben, doch kann sie initial und medial bedeutungsdifferenzierend wirken. Beispiele: Bein ~ Pein, Blatt ~ platt, eben ~ Epen. Deich ~ Teich, Dronen ~ thronen, Kader ~ Kater. gern ~ Kern, Gram ~ Kram, Egge ~ Ecke. Labio-dentale Frikative stehen initial ebenfalls in Opposition: wie ~ Vieh. Final ist die Opposition aufgehoben. Medial kommt der Lenisfrikativ nur selten {ewig, Löwe), hauptsächlich in Lehn- und Fremdwörtern {November, Provision, Klavier) vor. Auf die teilkomplementäre Distribution der beiden S-Laute - IzJ bzw. Isl - wurde bereits verwiesen. Lediglich in intervokalischer Position nach langen Vokalen und nach Diphthongen können durch die Spannungsund Stimmkorrelation Bedeutungen unterschieden werden (Beispiele s. o.). Der (stimmhafte) velare Lenisfrikativ ist als Allophon des Igl zu werten; dieses Allophon kommt umgangssprachlich nur intervokalisch in der Nachbarschaft dunkler Vokale vor (Beispiele s. o.). Die beiden (stimmlosen) dorsalen Fortisfrikative stehen in komplementärer Distribution: Der velare Frikativ [x] kommt nur nach dunklen Vokalen vor {Dach, Lache, Koch, Kuchen, Frucht, Bauch), während der palatale Frikativ [ç] an den übrigen Stellen vorkommt: nach hellen Vokalen {ich, riechen, Eiche, echt, Ächzen, euch, Bäuche, Köche, Küche, Bücher), nach Konsonanten {manche, Milch, durch) und am Anfang eines Morphems {Chemie, China und in dem Diminutiv-Sufïïx -chen). Im Diminutiv-Suffix wird ch nach dieser Regel auch dann palatal artikuliert, wenn das vorausgehende Morphem auf einen dunklen Vokal endet (wie in Frauchen). Wie bereits ausgeführt, werden die stimmlosen Vokale' unter phonologischem Gesichtspunkt zu einer funktionalen Einheit, dem Phonem IhJ zusammengefasst. Ob dem Knacklaut [*>] auch ein phonematischer Status zukommt, ist strittig. Er kommt regelmä-
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12. Das deutsche Lautsystem
ßig vor betonten Vokalen im Anlaut eines Wortstammes oder Präfixes vor. IM und Irl werden häufig in phonologischen Analysen unter dem Begriff .Liquide' zusammengefasst, da sie ähnliche Merkmale aufweisen und in vielen Sprachen in komplementärer Distribution stehen. Im Deutschen stehen sie jedoch in Opposition (Rast ~ Last, Kragen ~ klagen, Warze ~ Walze, Herr ~ hell). Während das Phonem IU in der Standardlautung keine umgebungsbedingten Varianten aufweist, ist die Realisation des Phonems Irl im Deutschen recht unterschiedlich. Auf die grundsätzliche Unterscheidung — bedingt durch zwei verschiedene Artikulationsstellen (apikal und uvular) — wurde bereits hingewiesen, ebenso auf die Tendenz zur frikativen Aussprache, insbesondere bei gedecktem R'. Strittig ist jedoch die Zuordnung des geschriebenen < r ) nach langen Vokalen wie in Tür, Tier, Tor, Teer usw., was in manchen Analysen zur Bezeichnung ,vokalisches R' geführt hat. Fasst man dieses vokalisierte Irl als Allophon des R-Phonems auf, dann haben die ,zentrierenden Diphthonge' keinen Phonemstatus; vielmehr sind die jeweils ersten Elemente (die gespannten Vokale) Allophone des jeweiligen Monophthongs. Bei einem solchen Ansatz würde allerdings auch der offene Zentralvokal seinen phonematischen Status verlieren; er stünde dann in komplementärer Distribution zum geschlossenen Zentralvokal. Von den drei Nasalen des Deutschen kommen zwei - nämlich Ini und Imi — in allen Positionen vor; es wurde bereits darauf verwiesen, dass die Verteilung des velaren Nasals defizitär ist. Der velare Nasal steht zwar in komplementärer Distribution zu Ihl (ersterer kommt nur final und medial, letzterer nur initial vor), doch würde sich aufgrund der geringen Ähnlichkeit der beiden Laute eine Zusammenfassung zu einem Phonem verbieten. Ob den drei Affrikaten des Deutschen ein eigener phonematischer Status zukommt, ist strittig; unstrittig hingegen ist der phonematische Status der drei (dezentrierenden) Diphthonge. Den dreizehn monophthongischen Vokalqualitäten entsprechen unter Berücksichtigung der Vokalquantität fünfzehn vokalische Phoneme. Nach der Zungenhöhe sind die Vokalwerte auf fünf Ebenen angeordnet. Dabei fällt auf, dass in betonter Stellung die Vollvokale der Ebenen 1, 3 und 5 lang, die auf den Ebenen 2 und 4 kurz sind. Dieses System wird jedoch an zwei Stellen durchbrochen:
(1) Es gibt im Deutschen sowohl ein langes /a:/ als auch ein kurzes lai (Bahn ~ Bann, fahl ~ Fall, raten ~ Ratten, Lachen ~ lachen). Viele Phonetiker beschreiben den Unterschied zwischen den beiden Phonemen nicht nur auf der Basis der Quantität, sondern auch auf der der Qualität: Danach ist kurzes /a/ weiter vorn, langes /a:/ weiter hinten gesprochen. Konsequenterweise wird im ( Großen) Wörterbuch der deutschen Aussprache der kurze Vokal mit [a] und der lange Vokal mit [α:] transkribiert. Hingegen transkribiert der DUDEN einheitlich mit [a] bzw. [a:], der SIEBS einheitlich mit [α] bzw. [α:]. (2) Der Vokalwert [ε] kommt in süddeutscher Aussprache als Kurzvokal und als Langvokal vor, in norddeutscher Aussprache nur als Kurzvokal. Wörter wie Käse, Mädchen, Säge werden in süddeutscher Aussprache mit [ε:] und in norddeutscher Aussprache mit [e:] ausgesprochen. Dies hat zur Konsequenz, dass das phonematische System des Deutschen auf der Grundlage der süddeutschen Aussprache ein Phonem mehr aufweist als auf der Grundlage der norddeutschen Aussprache. Zusammenfassend ergeben sich damit folgende Phoneme für das Deutsche: Ibi, Idi, Igl (mit den Allophonen [g] und [γ]), /ρ/ (mit den Allophonen [p] und [ph]), Iii (mit den Allophonen [t] und [th], Ikl (mit den Allophonen [k] und [kh]), Imi, Ini /η/, Irl (mit den Variphonen bzw. Allophonen [r], [r], [k] und [χ]), IV, Iii, Ivi, /s/, /z/, lp, / 3 /, /j/, Ixl (mit den Allophonen [ç] und [x]), Iii, IYI, /υ/, /ε/, lœl, hl, lai, /a:/, li:l (mit den Allophonen [i:] und [ie]), ly:l (mit den Allophonen [y:] und [yn]), /u:/ (mit den Allophonen [u:] und [ub], /e:/ (mit den Allophonen [e:] und [eB]), /ε:/ (nur in süddeutscher Aussprache), Aa/ (mit den Allophonen [0] und [ob]), lo:l (mit den Allophonen [o:] und [ob]), hl (mit den Allophonen [a] und [b]), /ai/, /au/ und /oy/. 7.
Literatur in Auswahl
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und angewandte
Phonetik.
162
III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem
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Heinrich P. Kelz, Bonn (Deutschland)
13. Die Standardaussprache des Deutschen 1. 2. 3. 4.
Begriff und Geschichte Forschungsstand, Probleme Merkmale der Standardaussprache Literatur in Auswahl
1.
Begriff und Geschichte
Zu den drei Standardvarietäten des Deutschen in Österreich, der Bundesrepublik Deutschland und der deutschsprachigen Schweiz gehören auch Varianten einer Standard-Aussprache. Der Begriff Standardaussprache ist umstritten. Viele Linguisten beschreiben mit ihm musterhafte Ausspracheformen, • deren Akzeptanzareal weit über dasjenige dialektaler und umgangssprachlicher Ausspracheformen hinausreicht und Merkmal der Identität einer Nation oder Kulturgemeinschaft sein kann, • die beim Sprechen der Standardsprache in öffentlichen Bereichen, z. B. in Rundfunkund Fernsehsendungen, auf der Bühne, im Bildungswesen und in den Kirchen, verwendet werden,
• die viele Sprachbenutzer emotional positiv bewerten, weil ihr Gebrauch uneingeschränkte Verständlichkeit und einen Gewinn an sozialem Prestige verspricht. Neben dem Begriff Standardaussprache sind für das Deutsche u. a. auch die Begriffe Aussprache des Schriftdeutschen, Bühnenaussprache, Hochsprache und allgemeine deutsche Hochlautung verwendet worden. Diese Bezeichnungen sind nicht vollkommen synonym. Hinter ihnen stehen verschiedene seit dem letzten Viertel des 19. Jh.s unternommene Versuche, überregional akzeptierte Ausspracheformen, die neben denen der zahlreichen Dialekte und Umgangssprachen gebraucht wurden, für einzelne Länder oder unterschiedliche Kommunikationsbereiche zu vereinheitlichen. Das Vorbild für solche Versuche war die Vereinheitlichung der Schreibung im Deutschen Reich. Dessen Landesregierungen hatten bereits 1872, also nur ein Jahr nach der Reichsgründung, eine unifizierende amtliche Regelung der Orthographie angemahnt. Sie kam nach zweimaligem Anlauf 1902 zustande und wurde von Österreich und der Schweiz übernommen. Eine verein-
13. Die Standardaussprache des Deutschen
heitlichende Kodifizierung der Aussprache lag also nahe. Ohnehin hatten Pädagogen, Theaterleute und Grammatiker seit langem eine „reine" Aussprache gefordert, die nach einem Wort Goethes frei von Provinzialismen sein sollte (vgl. Mangold 1985, 1495f.). Dabei wurde immer wieder auf den Zusammenhang zwischen Schreibung und Aussprache hingewiesen. Insbesondere ging es um die Frage, welche Lautwerte die einzelnen Buchstaben haben sollten. Im 17. und 18. Jh. fiel die Antwort der Sprachgelehrten unterschiedlich aus und war meist von ihrer landschaftlichen Herkunft abhängig (vgl. Kurka 1980, I f f ) . Gegen Ende des 18. Jh.s beruhigte sich die Auseinandersetzung. Es wurde nun zumeist das niederdeutsche Lautsystem bevorzugt. Das wachsende Gewicht Preußens im Deutschen Bund und die daraus folgende Verlagerung des politischen Schwergewichts nach Norddeutschland unterstützte diese Entwicklung. Den ungeteilten Beifall der Süddeutschen, Österreicher und Schweizer fand sie allerdings nicht. Für das Niederdeutsche sprach jedoch, dass seine in bestimmten Positionen und in einigen Landschaften gebrauchten Lautunterscheidungen die orthographischen Unterscheidungen gut wiedergeben können. In verschiedenen Büchern zur Vortragskunst und zum Sprachunterricht waren solche Laut-Buchstaben-Beziehungen Teil der „Pronunciation". Die erste systematische Darstellung veröffentlichte 1885 der Marburger Professor Wilhelm Viëtor (1850-1918). Er hatte zuvor in überwiegend zu Preußen gehörenden Städten und Landschaften mehrere philologisch geschulte Studenten und Lehrer schriftlich nach Aussprachegewohnheiten befragt, 17 Fragebögen zurückerhalten und deren Aussagen als Kodifizierungsgrundlage genommen. Seine Schrift hieß: „Die Aussprache der in dem Wörterverzeichnis für die deutsche Rechtschreibung zum Gebrauch in den preussischen Schulen enthaltenen Wörter". Titel und Erscheinungsjahr zeigen, dass dieses Werk zunächst eine Unifizierung in Preußen anstrebte und dass seine Wortauswahl von orthographischen Gesichtspunkten bestimmt war. Dennoch kann es als das erste deutsche Aussprachewörterbuch bezeichnet werden. Es beschrieb im „Wörterverzeichnis" erstmals die Aussprache für rund 4000 Wörter mit einer phonetischen Umschrift und enthielt neben den Ausspracheregeln mit ausführlichen Kommentaren in späteren Auflagen auch eine komplette Darstellung der Laut-Buch-
163 staben-Beziehungen. Obwohl dieses Regelwerk als Ergänzung zur preußischen Schulorthographie angelegt worden war, wollte es Viëtor nicht nur für die Schule, sondern allgemein für das Sprechen der Gebildeten angewandt wissen. Als Musteraussprache betrachtete er wie andere Sprachwissenschaftler vor und nach ihm die Aussprache der Bühne, weil in ihr und der gehobenen Sprache des Vortrage die mundartlichen Eigentümlichkeiten bereits beseitigt und weitgehend einheitliche phonetische Realisationen ausgebildet worden wären. Für diese Aussprache sei charakteristisch, dass die hochdeutschen Formen der Schriftsprache mit niederdeutschen Lauten gesprochen würden. Viëtor bezog sich hierbei in erster Linie auf die Frikative und Plosive, die vom Schauspieler nicht nur durch „weiche" oder „harte" Artikulation, sondern gleichzeitig auch durch Stimmhaftigkeit bzw. Stimmlosigkeit unterschieden würden. Seine Beschreibung war im übrigen bemerkenswert realistisch und nahm ζ. B. in folgenden Punkten das Ergebnis späterer phonetischer Untersuchungen vorweg: (1) Die Aspiration der Fortisplosive ist nur vor und nach betontem Vokal die Regel; lediglich „bei besonders bestimmter und deutlicher Aussprache" (1885, 9) ist sie unabhängig von der Position für jeden Plosiv zu fordern. (2) Die meisten Vokale sind gleichzeitig nach Quantität und Qualität zu unterscheiden. Die langen [i: ο:] ζ. B. sind geschlossen (mit kleinerer oraler Öffnung), die kurzen [i o] dagegen sind offen (mit etwas größerer oraler Öffnung) zu bilden. Das lange A [a:] und das kurze A [a] sind dagegen nur an der verschiedenen Quantität zu erkennen, so dass für die Transkription auch nur ein Α-Symbol benötigt wird. (3) Lange Vokale können in unbetonten Silben verkürzt werden, hierbei „bleibt die Qualität bei sorgfältiger Aussprache unverändert" (1885, 9). (4) Auch die Reduzierung von -el, -em, -en und -er zu silbischem /, m, η und r ließ er zu, untersagte aber die koartikulatorisch bedingte Assimilation von [n] an vorausgehenden labialen bzw. gutturalen Plosiv zu [ιμ] bzw. [ή]. Im übrigen kodifizierte er im Morphem für die Verbindung < ng ) [η] statt [qk] sowie für < sp st > vor akzentuiertem Vokal [fpjt] statt [sp st]. Er entschied damit, auch aus sprachgeschichtlichen Gründen, gegen den Gebrauch auch in Teilen Norddeutschlands. Diese Festlegungen gelten bis heute. Dagegen wurde der Vorschlag, < g > ζ. Β. in Siege und Sieg als [j] und [ç] so-
wie in Tage und Tag als [g] und [x] zu spre-
164 chen, von den nachfolgenden Kodifikatoren verworfen. Viëtors Schrift erschien später unter dem Titel „Die Aussprache des Schriftdeutschen". Gemessen an der Zahl der Auflagen muß ihre Wirkung beträchtlich gewesen sein. Die letzte, von Ε. A. Meyer herausgegebene 13. Auflage erschien 1941. Viëtor hat 1912 zusätzlich ein „Deutsches Aussprachewörterbuch" veröffentlicht, in dem er etwa 45000 Stichwörter nach seinen Regeln phonetisch transkribierte. In diesem Buch greift er weniger auf das Niederdeutsche als vielmehr auf ein Ausspracheideal zurück, „das allen gebildeten deutschen Sprechern im Norden wie im Süden vorschwebt" und dem die Umgangssprache von Hannover oder Berlin nicht genügt (1912, VI). Als Gewährsleute nennt er Sprachwissenschaftler aus Nordund Süddeutschland sowie aus Österreich. Auch das Aussprachewörterbuch erlebte mehrere Auflagen. Der orthoepische Neuanfang nach dem 2. Weltkrieg wurde aber nicht durch die Arbeiten Viëtors bestimmt, sondern durch die von Theodor Siebs 1898 erstmals herausgegebene „Deutsche Bühnenaussprache" und ihre Nachauflagen. Der Grund hierfür ist in dem institutionellen Rückhalt zu suchen, den Siebs (1862—1941) seiner Kodifizierung zu geben verstand. Es gelang ihm nämlich, 1898 eine Beratung „zur ausgleichenden Regelung der deutschen Bühnenaussprache" zu organisieren, an der drei hochrangige Vertreter des Deutschen Bühnenvereins und neben ihnen zwei weitere Sprachwissenschaftler, der damals bedeutendste deutsche Phonetiker Eduard Sievers und der Österreicher Karl Luick, teilnahmen. Für die Ergebnisse der Beratung erlangte Siebs im Laufe der Jahre nicht nur die Zustimmung des Deutschen Bühnenvereins und der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger, sondern auch die des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins und der Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner. Sein Buch, zunächst nur ein Ergebnisbericht über die Kodifizierungsberatungen und erst nach 1908 durch Einfügung eines Wörterverzeichnisses mit phonetischer Umschrift ein reguläres Aussprachewörterbuch, wurde dadurch allseitig bekannt. Der „Siebs", wie das Buch später bezeichnet wurde, erschien - nach 1922 unter dem Titel „Deutsche Bühnenaussprache Hochsprache" - bis 1930 in 15 Auflagen, obwohl er von Wissenschaftlern und Praktikern wiederholt bemängelt wurde. Diese Kodifizierung sollte „für Bühnen- und Schulzwecke ... in ganz
III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem
Deutschland" und Österreich sowie für die Deutschlernenden „im Auslande ... die mustergültige Aussprache" schaffen (Siebs 1898, 6f.). Um zu sichern, dass der Schauspieler speziell beim Versdrama im höchsten Grade verständlich spricht, wurde vorgeschrieben, äußerst präzise zu artikulieren und für die einzelnen Phoneme jeweils nur eine einzige Realisationsvariante zu verwenden (vgl. Stock 1996a, 47ff.). Die durch Akzentuierung, Lautumgebung und Position verursachte Dynamik der Phonemrealisation mit ihren Assimilationen, Reduktionen und Elisionen blieb unberücksichtigt. Aus dem gleichen Grunde wurde auch die lautliche Anpassung an der Wortgrenze wie die an der Silbengrenze untersagt. Nur beim Zusammentreffen gleicher oder homorganer Konsonanten durfte koartikuliert werden. Ziel war die „reine und vollständige Aussprache jedes einzelnen Wortes" durch die regelgerechte Artikulation aller „Laute der einzelnen Worte" (Siebs 1930, 83f., gesperrt). Dies zeigt sich in fast allen Regeln. Während Viëtor beispielsweise die Behauchung von der Akzentuierung abhängig gemacht hatte, forderte der „Siebs", dass jeder einzelne Fortisplosiv zu behauchen ist (1898, 60 ff.). Die Siebskommission kodifizierte also eine extrem überartikulierte und unnatürliche Aussprache, die die Kommunikativität des Schauspielers zwangsläufig herabsetzen musste. Nach Auffassung Viëtors (1912, VIII) und vieler anderer Zeitgenossen wirkte diese Artikulation in der Alltagskommunikation „geziert und daher lächerlich" und wurde „nicht einmal von jedem Schauspieler" erreicht. Untersuchungen von frühen Plattenaufnahmen berühmter Mimen bestätigten diese Aussage (vgl. E.-M. Krech 1961, 24ff.). Für eine allgemeine Musteraussprache war diese Kodifizierung also untauglich. Wie Viëtor, der als Korrespondent an der Siebsschen Kodifizierung mitgearbeitet hatte, wandte sich auch Karl Luick (1865-1935), Mitglied der Siebskommission und Vertreter der österreichischen Linguistik, bereits 1900 entschieden gegen eine Übertragung der Siebsschen Regeln auf die Schule. Auch lehnte er grundsätzlich alle Regelungen ab, die die Kommission für die zahlreichen Wörter mit schwankender Aussprache („namentlich für das Schwanken in Vokalqualitäten" — Siebs 1958, 20) getroffen hatte. Dies wäre nach dem Gebrauch in einer der Umgangssprachen entschieden worden und die Kommission hätte hierfür keine ausreichenden Erfahrungen gehabt. Dabei ist sicher von Be-
13. Die Standardaussprache des Deutschen
deutung gewesen, dass die Besonderheiten Österreichs, wie übrigens auch die der Schweiz, in der „Bühnenaussprache" von 1898 nur sehr selten erwähnt wurden. Luick hielt zwar die Kodifizierung einer Bühnenaussprache für berechtigt, die Siebssche Ausspracheform aber bezeichnete er — offensichtlich wegen ihrer unrealistischen Überhöhung - ausdrücklich als „abstraktes Bühnendeutsch". Dementsprechend setzte er für den Aussprachestandard situative (phonostilistische) Varianten an. Neben der „höchsten, verfeinertsten Sprechweise", die nur im „Drama höchsten Stils" verwendet werden könne, gäbe es die „Vortragssprache" mit einer gewissen Tendenz zur Bühnenaussprache und die „gebildete Umgangs- oder Verkehrssprache", die stärker als die Vortragssprache von der Lautung der jeweiligen Mundarten beeinflusst werde. Nach Luicks Auffassung werden also diese situativ-stilistischen Varianten mit Ausnahme der Bühnenaussprache auch areal variiert, und zwar im Groben zunächst den Ländergrenzen folgend. In der Schule sollten - jeweils landschaftsgebunden - die „sorgfaltigsten" Lautformen der Umgangssprache und einige Formen der Vortragssprache vermittelt werden; fremde nicht in der Landschaft gebrauchte Ausspracheformen würden „geziert oder lächerlich" klingen. Für den Bereich des Niederdeutschen träfe dies allerdings nicht zu, hier würde die Schriftsprache als fremde Sprache gelernt und demzufolge schriftnah artikuliert, was die Orientierung der Siebsschen Kodifizierung auf diese Ausspracheform erkläre (Luick 1900, 257fr.). Unter dem Titel „Deutsche Lautlehre. Mit besonderer Berücksichtigung der Sprechweise Wiens und der österreichischen Alpenländer" veröffentlichte er 1904 eine orthoepische Phonetik, in der er als Reaktion auf den „Siebs" die Schul- und Vortragssprache Österreichs kodifizierte. Vom „Siebs" unterschied sich diese Kodifizierung u. a. durch folgende Empfehlungen: (1) Bei anlautenden Vokalen kann statt des „festen" Einsatzes der „leise" Einsatz gebraucht werden. (2) In verschiedenen Gegenden Österreichs wird das postvokalische Irl als dunkler Vokal realisiert; in dem dabei entstehenden Diphthong wird der erste Vokal verdunkelt; ein vibrierendes R muß nur nach den kurzen Vokalen und den beiden Α-Lauten gefordert werden. (3) [p t k] werden nicht in allen Positionen aspiriert, sondern nur im Anlaut. (4) [b d g] und auch [z] sind als Lenes zu sprechen, sie sind nicht stimmhaft, sondern
165 stimmlos. (5) In den Endungen -en, -el, -er wird das [a] außer nach Nasalen elidiert, dabei wird [n] nach labialen bzw. gutturalen Plosiven zu [rp] bzw. [ή] assimiliert. (6) Die Realisation der Endung -ig schwankt noch; in der Schule sollte vorerst [ik] gesprochen und [iç] nicht „befehdet" werden. Aus diesen Festlegungen werden die gegensätzlichen Auffassungen deutlich. Während Luick häufig auftretende Aussprachegewohnheiten zur Regel erhob, idealisierte Siebs die Realität, um eine Höchstnorm beschreiben zu können. In der Schweiz sind derartige Reaktionen auf die Siebssche Kodifizierung zunächst nicht zu erkennen. Leumann (1905) verteidigte gegenüber dem norddeutschen Standard nur die süddeutschen und nicht speziell die schweizerdeutschen Besonderheiten. Diese wurden erst 1911 durch Stickelberger beschrieben. Dessen Haltung ist einerseits durch das Bemühen um die Wahrung der nationalen Eigenart bestimmt und andererseits durch das Bewusstsein, dass der sprachliche Kontakt zum Nachbarland nicht beeinträchtigt werden dürfe (vgl. Ammon 1995, 55). Siebs reagierte auf die Publikationen von Luick, Leumann und anderen Autoren, die die orthoepischen Besonderheiten der Schulsprache ζ. B. auch in Sachsen und für deutschsprachige Gebiete im Ausland auflisteten, mit dem Vorschlag, die Schulverwaltungen dieser Gebiete müssten entscheiden, wieweit der Bühnenaussprache dennoch Rechnung zu tragen sei (Siebs 1930, 22). Die Entwicklung seit dem Ende des 2. Weltkrieges wurde durch die Gründung zweier Staaten in Deutschland beeinflusst. Als die in der Bundesrepublik ansässigen Erben von Theodor Siebs 1953 mit Fachleuten über eine erste Nachkriegsauflage des „Siebs" beraten wollten, schlugen Hans Krech und Irmgard Weithase aus der DDR vor, das Werk durch neue phonetische Untersuchungen zu fundieren und gründlich zu überarbeiten (vgl. H. Krech 1960). Diese Vorschläge wurden jedoch zurückgewiesen, weil „die Regelung der alten Bühnenaussprache im wesentlichen unverändert beibehalten" werden sollte (Siebs 1958, 6). Die ersten Neuauflagen glichen folglich weitgehend der von Siebs noch selbst besorgten Ausgabe von 1930. Dennoch waren die Herausgeber bemüht, auf die Veränderungen in der kommunikativen Realität einzugehen. Dies zeigte sich in der Veränderung einiger Ausspracheregeln, ζ. B. in der Anerkennung des Zäpfchen-R neben dem Zungenspitzen-R, insbesondere aber in
166
der Beachtung des Sprechens vor dem Mikrofon. Siebs hatte schon 1931 eine „Rundfunkaussprache" für den Gebrauch in den deutschen Sendeanstalten verfasst. Nunmehr wurde ein entsprechender Abschnitt auch in das Aussprachewörterbuch aufgenommen. Wegen der Mannigfaltigkeit der Sendungen verbot sich zwar die Formulierung spezieller Regeln und für Österreich und die Schweiz mussten sogar landschaftliche Besonderheiten konzidiert werden, trotzdem aber wurde die „Notwendigkeit eines besonders klaren, deutlichen und reinen Sprechens" hervorgehoben und festgestellt, dass „im Munde des erzogenen und geübten Sprechers ... auch die reine Hochsprache", also die Aussprache nach dem überhöhten Siebsschen Kodex, „natürlich und frei" wirke (Siebs 1958, 14f.). Im Übrigen wurde der bisher schon erhobene Geltungsanspruch wiederholt: Sowohl der Lehrer bei der Rezitation und beim Vortrag als auch der deutschsprechende Ausländer sollten nach den Regeln der Bühnenaussprache artikulieren (vgl. Siebs 1958, 9). Der österreichische und der schweizerdeutsche Standard wurden auch jetzt nicht beachtet. Es gab jedoch ein „Österreichisches Beiblatt", das im Auftrag des „Erweiterten Siebsausschusses" von einem Arbeitsausschuss unter Teilnahme mehrerer Universitätsprofessoren beschlossen und von F. Trojan verfasst worden war. Es enthielt Richtlinien „für den unterrichtenden Vortrag in Österreich ... insbesondere für die Zwecke der österreichischen Schule" und sollte die Sprechweise dort in „ungleich höherem Maße", als dies Luick 1904 vorgesehen hatte, der Siebsschen Hochsprache annähern. Einige Abweichungen aber sollten bei den Lauten und der Wortakzentuierung erlaubt sein. Die Universitätssprecherzieher jedoch, die in dem verantwortlichen Arbeitsausschuss offenbar nur durch Trojan vertreten waren, distanzierten sich von dieser Regelung. Sie sahen die Grundlage ihrer Arbeit in der „Pflege der reinen Hochsprache". Immerhin aber erklärten sie sich bereit, die Richtlinien des Beiblatts den Lehramtskandidaten wissensmäßig zu vermitteln. Eine solch enge Anlehnung an den Siebs wurde in der Schweiz nicht befürwortet. Deren Vertreter beharrten auf einer größeren Zahl von nationalen Aussprachebesonderheiten. Eine Zusammenstellung hierzu wurde 1957 von B. Boesch unter dem Titel „Die Aussprache des Hochdeutschen in der Schweiz" herausgegeben, und zwar im Auftrag der Schweizerischen Siebs-Kommission.
III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem
Diese Kommission, die wie die Siebs-Kommission in der Bundesrepublik u. a. aus Vertretern der Radiosender, der Bühnen, der Kirchen, der Universitäten und der Schulen zusammengesetzt war, wollte eine Aussprache empfehlen, die sich „klar abhebt von allem Mundartlichen" und in der sich „der Schweizer trotz allem in einer sympathischen Weise verrät". Eine derartige Abwandlung der Siebsschen Hochsprache sollte dem Sprecher durch „landschaftlich bestimmte Grenzen" ermöglicht werden; eine „Erfüllung der idealen Anforderungen" komme „von vorneherein nicht in Frage". Obwohl die SiebsHerausgeber dieses Verfahren ablehnten, wichen Boesch und seine Mitstreiter nicht zurück und wollten sogar typisch schweizerische Ausdrucksmomente wie Druckverteilung und Sprachmelodie berücksichtigt wissen (Boesch 1957, 15 ff.). Eine tiefgreifende Umarbeitung des Siebs wurde erst mit der 19. Auflage von 1969 vorgelegt. Das Buch hieß nunmehr „Siebs/Deutsche Aussprache/Reine und gemäßigte Hochlautung mit Aussprachewörterbuch" und zeichnete sich durch einige interessante Neuerungen aus. Erstmals enthielt es eine umfangreiche Liste mit Abweichungen von der Hochlautung, vor allem mit den landschaftlichen Eigenarten in Nord-, Mittel- und Süddeutschland sowie in Österreich und der Schweiz. Neu und bemerkenswert waren auch Ausführungen zum Phonemsystem der deutschen Hochlautung und zur Klanggestalt des Satzes, die jedoch für die orthoepische Beschreibung kaum genutzt wurden. Eine wirklich einschneidende Veränderung aber stellte die Kodifizierung einer „gemäßigten" neben einer „reinen Hochlautung" dar. Die „reine Hochlautung" entsprach der bisherigen Höchstnorm nach den Siebsschen Regeln. Die „gemäßigte Hochlautung" sollte dagegen eine reale überlandschaftliche Aussprache mit größerer Varianz abbilden und deshalb auch die „landschaftliche Hochlautung" Österreichs und der deutschsprachigen Schweiz einschließen (Siebs 1969, 6ff.). Die Regelung der gemäßigten Hochlautung ist erkennbar durch phonetische Untersuchungen angeregt worden, die in größerer Zahl durch Mitglieder der von Hans Krech (19ΜΙ 961) in Halle aufgebauten Forschungsgruppe durchgeführt worden waren und die dem 1964 in der DDR erschienenen „Wörterbuch der deutschen Aussprache" zugrunde lagen (vgl. Siebs 1969, 6f.). Diese Untersuchungen wurden jedoch ohne Beachtung der
13. Die Standardaussprache des Deutschen
phonetischen Gesetzmäßigkeiten rezipiert. So wurde etwa in der gemäßigten Hochlautung für /b, d, gl anlautend vor Vokal nicht generelle Stimmhaftigkeit wie in der reinen Hochlautung, sondern generelle Stimmlosigkeit gefordert (vgl. Siebs 1969, 107). Die Phonetiker hatten jedoch gefunden, dass Stimmlosigkeit bei Lenisplosiven nur nach Sprechpause und stimmlosen Konsonanten realisiert wird und die Stimmhaftigkeit in allen anderen Fällen erhalten bleibt. Ähnliche phonetisch abwegige Regelungen gab es auch zu anderen Ausspracheproblemen, so dass diese Siebs-Auflage eine massive Kritik auslöste (vgl. Krech/ Stock 1991) und das Buch seither nicht wieder aufgelegt wurde. Das hallesche Aussprachewörterbuch erschien bis 1982 in fünf Auflagen und zwei Lizenzausgaben, die letzte Auflage unter dem Titel „Großes Wörterbuch der deutschen Aussprache". Seine Mustersprecher waren nicht nur Schauspieler, sondern auch Rundfunksprecher, deren Aussprache in sehr umfangreichen Untersuchungen analysiert worden war. Seine Kodifizierung war demzufolge wirklichkeitsnäher und differenzierter als die des „Siebs". Dies zeigte sich insbesondere (1) in der Einführung zweier neuer Realisationsvarianten für Irl (Reibe-R und vokalisiertes R) und der Bestimmung ihrer Distribution; (2) in der Regelung der kontextabhängigen [a]-Elision für die Endungen -en und -el; (3) in der Beschreibung der Bedingungen für die Stimmlosigkeitsassimilation bei [ b d g v z j ] ; (4) in der Bestimmung der Positionen für stärkere oder schwächere Behauchung von [p t k]; (5) in den Angaben zum Auftreten des Neueinsatzes bei anlautenden Vokalen und zur Realisation dieses Neueinsatzes durch Glottisschlag. Für die orthoepische Betrachtung war dabei von Bedeutung, dass in den beiden letzten Komplexen nicht nur die Akzentbedingungen des Wortes, sondern auch die der Äußerung systematisch berücksichtigt wurden (Krech/Kurka/Stelzig 1964, 23 ff.). Das hallesche Aussprachewörterbuch kodifizierte eine situativ variable „Standardaussprache", die nicht nur für Theater und Rundfunk, sondern auch für die Schule und die öffentliche Rede gelten sollte. In seiner letzten Auflage (1982) stellte es erstmals stilistische Aussprachevarianten vor, und zwar (1) die der Rezitation und des feierlichen, festlichen Vortrage, (2) die des Vorlesens von Manuskripten im Rundfunk und von schöngeistiger Prosa sowie (3) die des sachlichen Gesprächs und des Vortrags mit geringem
167 Spannungsgrad. Außerdem enthielt es eine Liste von häufig gebrauchten synsemantischen Wörtern mit ihren reduzierten Formen (vgl. Krech/Kurka/Stelzig 1982, 73ff.). Wegen der politischen Verhältnisse konnten phonetische Untersuchungen, die die erforderlichen Sonderregeln für Osterreich und die Schweiz hätten fundieren können, bis zum Ende der DDR nicht durchgeführt werden. Bereits 1962 war als Band 6 in der Mannheimer Duden-Reihe das von Max Mangold und der Dudenredaktion erarbeitete „Duden Aussprachewörterbuch" erschienen. Es richtete sich in der Darstellung und Transkription der Stichwörter nach den Regeln der Siebsschen Bühnenaussprache, enthielt aber in der Einleitung neben Kapiteln zur „Nichthochlautung" (Umgangslautung und Überlautung) bereits vor der 19. Siebs-Auflage Bemerkungen zu einer „gemäßigten Hochlautung". Diese Lautungsstufe, die Mangold durch „verminderte Deutlichkeit und größere Toleranz" gekennzeichnet sah, wurde von der Bühnenhochlautung vor allem mit folgenden Merkmalen abgegrenzt: (1) Die unbetonten [i y u] werden vor Vokal in bestimmten Positionen unsilbisch gesprochen (ζ. B. [dia'lo:k] für Dialog). (2) Statt [e] kann in der nichtersten Silbe vieler Fremdwörter [s] gesprochen werden (ζ. B. [gena'rail] statt [gene'ra:l], (3) [ε] kann in den Vorsilben ver- und zer- durch [a] ersetzt werden. (4) Der Glottisschlageinsatz bei Vokalen im Silbenanlaut ist fakultativ. (5) In der Endung -iker kann [i] durch [i] ersetzt werden. (6) Auf die Behauchung bei den Fortisplosiven kann in vielen Fällen verzichtet werden. (7) Nach stimmlosen Obstruenten kann [z] durch [s] (ζ. B. ['apsa:ga]) ersetzt werden (Mangold/Dudenredaktion 1962, 39 ff.). Diese Regeln wurden zwar noch nicht im Wörterverzeichnis angewandt, sie zeigen aber dennoch, in welcher Weise sich Mangold bereits in der 1. Auflage seines Buches von der Siebsschen Kodifizierung absetzte. In der 2. Auflage von 1974 (3. Auflage 1990) gab er die nunmehr als „übersteigert" empfundene Bühnenaussprache gänzlich auf und ersetzte sie durch eine „allgemeinere Gebrauchsnorm", die bereits im Untertitel des Buches als „Standardaussprache" bezeichnet wurde. Bei der Beschreibung dieser Gebrauchsnorm stützte sich Mangold ausdrücklich auf das „Wörterbuch der deutschen Aussprache" und die ihm zugrunde liegenden „großangelegten, systematischen Untersuchungen" (Mangold/Dudenredaktion 1974, 5, 29). Er führte eine Reihe von Neuerungen
168
III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem
ein, im Wörterverzeichnis insbesondere die Transkription [b] für die Endung -er, ferner die /a/-Elision in den Endungen -en und -el nach Obstruenten. Die bei der /a/-Elision auftretende Assimilation des [n] an [p b] zu [m] und an [k g] zu [η] wurde allerdings nicht berücksichtigt; so wurde ζ. B. für Happen die artikulatorisch wenig wahrscheinliche Form ['hapç] statt ['hapip] transkribiert. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Jahre 1990 bot die Möglichkeit, die bisherigen Kodifikationen für den deutschländischen Standard zu überprüfen und mit einem neuen Regelwerk der Weiterentwicklung des phonetischen Denkens und dem heutigen Gebrauch der Standardaussprache gerecht zu werden. Eine Forschergruppe aus Halle und Köln nahm dieses Projekt in Angriff. 2.
Forschungsstand, Probleme
Die Varianten der deutschen Standardaussprache, die arealen sowohl wie die situativstilistischen, sind bisher in Österreich, der Bundesrepublik und der Schweiz nur ungleichmäßig untersucht worden. Unabhängig davon haben sich die Ansprüche an orthoepische Forschungen im Laufe der Zeit deutlich gewandelt. Um 1900 wurde den Kodifizierungen von Siebs und Luick bereits eine empirische Grundlage unterstellt, wenn die Autoren von „Beobachtungen" sprachen und gelegentlich einzelne Ergebnisse dieser Beobachtungen (vgl. ζ. B. Siebs 1898, 66; 1930, 40) mitteilten. Ein halbes Jahrhundert später forderte man dagegen methodisch fundierte Untersuchungen. Zu solchen Untersuchungen gehört: (1) eine repräsentative Auswahl von Mustersprechern für den vorgesehenen Geltungsbereich der Kodifizierung, (2) die auditive und instrumentelle Analyse einer größeren Zahl von Äußerungen dieser Sprecher und (3) die detaillierte Dokumentation der Ergebnisse. Besondere Schwierigkeiten bereitet die auditive Analyse. Erst wenn die Aufzeichnung einer Äußerung von erfahrenen Fachleuten mehrfach abgehört worden ist, kann mit verlässlichen Ergebnissen gerechnet werden. Das von Siebs geschilderte Verfahren, Schauspieler während der Aufführung zu beobachten, bietet keine Gewähr dafür, dass einzelne Artikulationsmerkmale wirklichkeitsgerecht erfasst werden. Die älteren Beobachtungsergebnisse mussten folglich überprüft werden, um gesicherte Daten als Kodifikationsgrundlage zu gewinnen.
In den letzten Jahrzehnten sind mehrfach überprüfende Untersuchungen zur Standardaussprache durchgeführt worden, in Österreich ζ. B. durch S. Moosmüller (1987) und M. Bürkle (1995), für den schweizerdeutschen Bereich etwa durch P. Panizzolo (1982) und A. Hofmüller-Schenk (1993) und für das deutschländische Deutsch u. a. durch F. Schindler (1974), M. Sperlbaum (1982) und die Mitglieder der halleschen Forschungsgruppe (vgl. die Aufstellung der experimentellen Untersuchungen in Krech/Kurka/Stelzig 1982, 141 f.). Alle diese Arbeiten bezogen sich zunächst fast ausschließlich auf die Artikulation der einzelnen Laute im Wort, beispielsweise auf die von der Lautumgebung und Position abhängige Realisation des /r/ (vgl. Ulbrich 1972) oder auf die Aspiration der Plosive im Deutschen (vgl. Lotzmann 1975). Schon bald aber reifte die Erkenntnis, dass eine realitätsbezogene Orthoepie nicht nur die Aussprache von isolierten Wörtern, sondern auch die von Äußerungen, also von Wortgruppen beschreiben müsse. In Äußerungen aber wird die Artikulation bei einer akzentzählenden Sprache wie dem Deutschen ähnlich stark wie im Wort selbst von der Akzentverteilung bestimmt. Der für solche Sprachen typische Sprechrhythmus führt u. a. dazu, dass akzentuierte Silben bzw. Wörter artikulatorisch und intonatorisch sehr deutlich von nichtakzentuierten Silben bzw. Wörtern abgesetzt werden, und zwar insbesondere durch Dehnung und präzise Artikulation der akzentuierten Silben einerseits und durch Schwächung, also reduzierte Artikulation der akzentlosen Silben andererseits. Die größte Schwächungstendenz zeigt sich dabei zwangsläufig in den vielfach einsilbigen synsemantischen Wörtern (ζ. B. Artikel und Pronomen), weil diese in der Regel pro- oder enklitisch an autosemantische Wörter angeschlossen werden und eine solche Einheit aus einer kontinuierlichen Artikulationsbewegung heraus als ein „phonetisches Wort" produziert wird. Meinhold (1973), Kohler (1977) und andere haben solche schwachen Formen und Lautschwächungen dargestellt. Meinhold (1973) und Ε. M. Krech (1996, 135ff.) haben darüber hinaus belegt, dass die Tendenz zur Lautschwächung zunimmt, wenn der Sprecher nicht reproduziert, also vorliest oder Gelerntes rezitiert, sondern wenn er ohne Vorlage frei produziert, sich also beispielsweise unvorbereitet in einem Gespräch äußert. Die bisherigen Untersuchungen lassen erkennen, dass die schweize-
169
13. Die Standardaussprache des Deutschen
rische, österreichische und deutschländische Variante der Standardaussprache partiell eigene Schwächungstendenzen und Reduktionsformen aufweisen. Gewisse Unterschiede bestehen auch in der Wortakzentuierung, insbesondere bei Lehnwörtern, Fremdwörtern und Namen. Für den Vergleich gibt es eine ausreichende Materialbasis; neben den vorhandenen Aussprachewörterbüchern können das von Back, Benedikt, Hornung und Pacolt herausgegebene „Österreichische Wörterbuch" (1985) sowie weitere lexikographische Darstellungen (vgl. Meyer 1989; Ebner 1980; sowie die Aufsätze in Wiesinger 1988) herangezogen werden. Um die Aussprache von Äußerungen vollständig darstellen zu können, müssen zusätzlich die Intonationsregeln, also die Regeln der Akzentuierung in Wortgruppen und der Melodisierung angegeben werden können. Für das deutschländische Deutsch liegen hierzu zahlreiche Untersuchungen vor (vgl. die Belege in Stock 1996b, 239 f.); für die beiden anderen Standardvarianten gibt es nur vereinzelte Darstellungen (vgl. z. B. Panizzolo 1982, 41 ff.). Bezüglich der Intonation besteht ein weiteres Problem darin, dass sich die Mehrzahl der Forscher bisher nur für die Intonation beim reproduzierenden Sprechen interessiert hat, also beispielsweise für das Vorlesen von Texten. Der Regelfall für den deutschsprechenden Ausländer ist aber das freie Sprechen im Gespräch, das durch einen spezifischen Intonationsgebrauch gekennzeichnet ist. Die Standardaussprache hat auch dafür Regeln, die jedoch erst ansatzweise ermittelt worden sind.
che Weise oder mit planmäßig variierter Artikulation produziert worden waren (vgl. die Zusammenfassung in Krech/Richter/Stock/ Suttner 1991, 79fif.). Auf gleiche Weise verfuhr Sylvia Moosmüller bei ihren „soziophonologischen" Untersuchungen zur Abgrenzung von Hochsprache und Dialekt in Österreich (vgl. Moosmüller 1991). Eine weitere soziophonetische Studie stammt von H. Takahashi (1996, 181 ff.), der 1993 über 300 Personen in der Bundesrepublik, in Österreich und der Schweiz zu Einstellungen gegenüber der Standardaussprache des Deutschen, ihrer Variation und ihrer Kodifizierung befragte. Schließlich führte auch die hallesch-kölnische Forschungsgruppe eine derartige Untersuchung mit rund 1600 Personen aus allen Sprachlandschaften der Bundesrepublik durch. Dabei wurden TV-Ausschnitte aus Nachrichtensendungen, Talk-shows, Interviews usw. von insgesamt 43 Sprechern mit unterschiedlichen Ausspracheweisen vorgeführt. Die Versuchspersonen wurden um Gefallensurteile zu diesen Ausschnitten gebeten und anschließend nach ihren Auffassungen zur Standardaussprache befragt. Die in diesen Tests erlangten Angaben gestatteten es, Aussagen zur phonetischen Form des deutschländischen Standards und zur Akzeptanz von standardnahen und standardfernen Aussprachevarianten in Nord und Süd sowie in verschiedenen Sprechsituationen zu formulieren (vgl. Stock/Hollmach 1996, 271 ff.).
Bei jeder Kodifizierung ist die Frage zu beantworten, durch welche Mustersprecher der vorgesehene Geltungsbereich vertreten werden soll. Die Entscheidungen hierzu können nur objektiviert werden, wenn eine größere Gruppe von Muttersprachlern nach ihren Erwartungsvorstellungen zur Aussprache befragt wird. Befragungen sind in der orthoepischen Forschung durchaus üblich. Bereits Viëtor hatte seine Kodifizierung auf eine solche Recherche gestützt und selbst Siebs verschickte 1907 an 200 Theater Fragebögen, um die „vielleicht kritischen Punkte" seiner Kodifizierung zu ermitteln (Siebs 1898, 13; 1930, 8). Nach 1970 führten auch hallesche Sprechwissenschaftler ausgedehnte soziophonetische Untersuchungen zu orthoepischen Gegenständen durch. Dabei wurden die Befragungen durch das Abhören von Sprachaufnahmen ergänzt, die entweder auf natürli-
In den Ländern mit Deutsch als Amtssprache richtet sich die Schreibung in den Schulen und Behörden seit langem nach einer vorgeschriebenen Orthographie. Die Aussprache dagegen ist niemals amtlich geregelt worden. Die in Aussprachewörterbüchern, Übungsbüchern und anderen Publikationen präsentierten Kodifikationen hatten stets nur empfehlenden Charakter. Dennoch bildete sich für einige Verwendungsgebiete ein Aussprachestandard mit deutlich erkennbaren arealen und situativ-stilistischen Varianten heraus. Diese Entwicklung gründete sich einerseits auf die in den Kodifikationen erkennbaren, oft uneinheitlichen Vorstellungen von einer musterhaften Aussprache und andererseits auf die davon beeinflussten Artikulationsgewohnheiten der in der Öffentlichkeit kommunizierenden Sprecher. Um unter diesen Bedingungen den Standard realitätsnah
3.
Merkmale der Standardaussprache
170 beschreiben zu können, muss man sich folglich vorzugsweise auf Analysen der Artikulationsgewohnheiten stützen. Kodifikationen sind sinnvollerweise nur dann zu beachten, wenn sie selbst auf solchen Analysen beruhen. Die Standardaussprache ist eine der Möglichkeiten, das deutsche Lautsystem mit seinen lautlichen und intonatorischen Einheiten zu realisieren. Die folgende Auflistung orientiert sich deshalb an der abstrahierenden Darstellung dieses Systems in Kapitel 12. Sie berücksichtigt vor allem Merkmale, die in der Orthoepiediskussion seit längerem umstritten sind oder die für die Unterscheidung der Varianten herangezogen werden müssen. Die deutschländische Variante wird mit D (dabei steht sD für den Süden, nD für den Norden), die österreichische mit Ö und die schweizerische mit S angezeigt. Die Angabe Red. kennzeichnet außerdem reduzierte Formen, die phonostilistische Funktion haben und situativ-stilistischen Aussprachevarianten zuzuordnen sind. Solche Varianten lassen sich grob nach mehreren Äußerungsweisen abstufen, die vom „Vorlesen" und „Rezitieren" bis zum unvorbereiteten „freien Sprechen" reichen. Reduzierte Formen sind mit unterschiedlichem Grad der Reduzierung vorzugsweise bei akzentlosen, schnell gesprochenen Wörtern zu beobachten. Sie können bereits beim Vorlesen oder Rezitieren auftreten und häufen sich beim mehr oder weniger freien Sprechen. Die volleren ungeschwächten Formen dagegen werden vorwiegend beim langsamen Sprechen und unter Akzent verwendet. Sie sind beim Vorlesen und Rezitieren sehr viel häufiger als im freien Sprechen und werden als Normalformen betrachtet. Genaue Literaturbelege sind aus Platzgründen nicht möglich. Plosive: (1) /ρ t kJ werden als Fortes (mit starker Spannung) realisiert. In akzentuierten Silben werden sie prävokalisch und im Wortauslaut auch postvokalisch aspiriert (kräftiges Hauchgeräusch bei Verschlusslösung). (2) Red.: Beim schnellen Sprechen besteht die Tendenz zur Lenisierung (Verringerung der Spannung, Wegfall der Aspiration). Folgen zwei verschiedene Plosive wie in Takt aufeinander, so wird der erste nicht gesprengt; folgen [m η 1], so wird der Verschluß nasal bzw. lateral gesprengt. Im Anlaut akzentuierter Silben wird der Plosiv in (ζ. B. Pferd) häufig elidiert; dies gilt weniger häufig auch für den Plosiv in < ts > wie in zu. In Wörtern wie und, sind, ist, nicht wird [t] sehr oft eli-
III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem
diert. (3) /b d g/ werden als Lenes (mit schwacher Spannung und schwachem Geräusch) realisiert. Sie sind nach stimmhaften Lauten stimmhaft, nach Sprechpause und stimmlosen Lauten dagegen stimmlos. sD, Ö, S haben eine verstärkte Tendenz zur Stimmlosigkeit. Im Silben- und Wortauslaut wie in regsam und Sieb werden /b d g/ infolge der sogenannten Auslautverhärtung als Fortes realisiert, also ['re:kza:m] bzw. [zi:p]. Ö und S haben in diesen Fällen im Wortauslaut keine Aspiration. (4) Für die Endung -ig wie in wenig hat nD [iç], sD, Ö und S [ik]. (5) Red.: Zwischen Vokalen ζ. B. in aber, -ige besteht die Tendenz zur Frikatisierung (Realisierung des Plosivs als schwach gespannter Reibelaut). Frikative: (1) / f s j ç x / werden als Fortes mit kräftigem Reibegeräusch, /ν ζ 3 j/ als Lenes mit schwachem Reibegeräusch realisiert. Die Lenes sind nach stimmhaften Lauten stimmhaft; nach stimmlosen Lauten besteht die Tendenz zur Stimmlosigkeit. sD, Ö, S: [ZV3] sind stimmlos mit einer Tendenz zur Fortisierung; in Ö sind jedoch Fremdwörter mit stimmhaftem [3] zu sprechen, z. B. à jour, Gelee,
Jackett,
Jury,
Regie,
Sujet.
S: Bei
Schreibung wird in „jüngeren Fremdwörtern" häufig [f] gesprochen, ζ. B. Advokat, Evangelium, Klavier, Konvikt, November, Proviant, provisorisch, Vagabund, Vagant, Veltlin, Ventil, Vikar, Visier, Vogesen, Vulkan.
(2) Wortanlautendes wird vor vorderem Vokal in nD als [ç], in Ö und auch in sD mehrfach als [k], in S als [x] gesprochen, ζ. B. Chemie, Cherub, China, Chinin, Chirurg, Chitin. S h a t [x] auch ζ. B. in Chaos, Charakter, Chor, Choral, Cholera, cholerisch, Chrom,
Chronik, Chronometer und inlautend auch in Melancholie, Orchester. D und Ö haben hierfür anlautend nur [k], inlautend hat D [k] und Ö [ç] neben [k]. (3) Red.: Die Fortes werden vielfach lenisiert, besonders vor [z] wie in gleichsam.
hl (1) nD: Prävokalisch und nach kurzen Vokalen wird für Irl nicht nur ein Zungenspitzen-R [r] oder Zäpfchen-R [R], sondern vorwiegend ein Lenis-Frikativ [κ], ein sogenanntes Reibe-R realisiert. Nach langem Vokal sowie in den Affixen er-, her-, ver-, zerund -er wird ein vokalisches R gesprochen. Nach [a:] wird das R elidiert. Das „vokalische R " [B] wird für Irl, hrl und in er-, her-, ver-, zer- für ΙετΙ verwendet. (2) Red. in nD: Das R wird auch nach kurzem Vokal vokalisiert, es entsteht ein Kurzdiphthong. (3) sD, Ö, S: Prävokalisch, nach kurzem Vokal und auch
13. Die Standardaussprache des Deutschen in anderen Positionen wird ein Vibrant, [r] oder [R], gesprochen. S hat stets einen Vibranten, auch nach langem Vokal im Auslaut. Vokale akzentuierter Silben: (1) Lange Vokale sind mit Ausnahme von [a: ε:] geschlossen, kurze offen. nD hat für [ε:] oft [e:]. S: [e: 0i o:] sind geschlossener als in D. Die hohen kurzen Vokale werden auch geschlossen gesprochen, also [i y u], die anderen kurzen Vokale werden weniger zentralisiert. (2) In einer Reihe von Wörtern weicht die Vokalquantität in D, Ö und S voneinander ab, ζ. B. D und Ö lang, S kurz: düster, knutschen; O und S kurz, D lang: Appetit, Dolomiten, Eremit, Erde, Fabrik, Geburt, Hospiz, Krebs, Liter, Miliz, Nische, Notiz, Parasit, Profit, Städte, Wucher u. a.; D und Ö kurz, S lang: Andacht, brachte, dachte, Gedächtnis, Nachbar, Rache, rächen, vierzig, Vorteil·, D und S lang, O kurz: Behörde, Husten, Schuster, D und S kurz, Ö lang: Bruch, Chef, Walnuß; Ö und S lang, D kurz: Geschoss, Rebhuhn. (3) Auch die Qualität variiert bei akzentuierten sowie bei nichtakzentuierten Vokalen in einigen Wörtern und Namen, z. B. D [Y y:], S [ι i:] in Ägypten, Asyl, Gymnasium, Gymnastik, Lydia, Mylius, Mythen, Pyjama (Nebenform mit [y]), Physik, Schwyz, Wyl, Zylinder, S und Ö [i i:] in Forsythie, Libyen, Pyramide, System (Ö auch mit [Y]). (4) Die Diphthonge [ae 00] des D klingen in S eher wie [aa 09], Die in S bei Namen auftretenden Verbindungen < ie, ue, üe > werden in den meisten Fällen als [is ua ya] gesprochen, z. B. in Dieth, Dietikon, Lienert, Rieter, Spier, Fueter, Hueb, Hueber; Büeler, Rüegg, Grüebler. Auch sD hat die Formen mit [uaya]. (5) Der Neueinsatz gilt für anlautende Vokale in Stamm- und Vorsilben. Er wird nach Sprechpause und in betonten Silben einer Wortgruppe (z. B. den 'Anfang machen) vorwiegend mit Glottisschlag realisiert; in unbetonten Silben einer Wortgruppe tritt der Glottisschlag seltener auf (z. B. einen 'Gast empfangen). Innerhalb der Wortgruppe wird der Neueinsatz in unbetonten Silben nach Vokal oder stimmhaften Konsonanten häufig aufgegeben (z. B. die Etüde). In Zusammensetzungen mit dar-, wor-, her-, hin-, vor- entfällt der Neueinsatz. Ö, S: In einigen Wörtern (z. B. beobachten, erinnern, Verein, vollenden) fehlt der Neueinsatz. Red.: Vor allem bei Synsemantika besteht die Tendenz zum Wegfall des Neueinsatzes und zu verstärkter Bindung. Vokale nichtakzentuierter Silben: (1) S: Nach Meyer (1989, 27) wird im Gegensatz zu D [a] in -en, -em, -el und -er „meist noch gesprochen". D: In den Endungen -en und -el
171 wird der Vokal [a] nach Plosiven, Frikativen, nach l\J und zur Hälfte auch nach Vokalen (in -el auch nach Nasalen, aber nicht nach Vokalen und [g 1 r]) elidiert. Die Plosive werden nasal bzw. lateral gesprengt, der Nasal bzw. [1] werden silbisch; [n] wird außerdem nach [p b] zu [m] und nach [k g] zu [q] assimiliert. O zeigt tendenziell die gleichen Erscheinungen. (2) Red. bei D im Gegensatz zu Ö: Die |a]-Elision in -en nimmt auch nach Nasalen zu; es kommt zu einer Ersatzdehnung des Nasals (z. B. [dein: kom:] für dehnen und kommen); gehäuft treten stark kontrahierte Formen auf, z. B. [ha:m ve:en] für haben und werden. (3) Die Vokale der nichtakzentuierten Synsemantika (Pronomen, Artikel, Präpositionen usw.) und die der nicht akzentuierbaren Affixe, insbesondere -bar, -sam, -tum zeigen in D und Ö die gleiche Schwächungstendenz (für S nur ungenaue Angaben): Lange geschlossene Vokale werden zuerst gekürzt und bei weiterer Reduktion auch qualitativ verändert; /dein/ kann so als [dein de-η dsn dan], /iman/ als [iinan i-η: in- in], /zi:/ als [ZÌI zi zi za] und /zaim/ als [zaim za-m zam] realisiert werden. Die Formen mit [a] gelten in D als umgangssprachlich, in Ö treten sie nicht auf. Wortakzentuierung: (1) In einer größeren Zahl von Lehn- und Fremdwörtern weichen die Wortakzentstellen in Ö, S und D bei wechselnden Übereinstimmungen voneinander ab, z. B. Ö 1. Silbe, S und D2. Silbe: Erlaucht, Muskat-, Ö und S 1. Silbe, D 3. Silbe: Äskulap, Hospital·, S 1. Silbe, Ö und D 2 . Silbe: Budget, Filet, Ö und S. 2. Silbe, D 1. Silbe: Sakko. (2) Besonderheiten zeigen sich vor allem in der Akzentuierung der Ortsnamen, weil die Akzentmuster für den Landesfremden nicht voraussagbar sind, z. B. S: Braun'wald, Ennen'da, St. Ni'klaus: Ö: Abfaltersbach, Feld'kirchen, Summe'raw, D: Lübbe'nau, München bernsdorf, Wol'lin. Melodisierung: Gegenüber D und Ö weicht die von vielen Schweizern gebrauchte Melodisierung auffällig ab. Wie die Verlaufsmuster in der Abbildung zeigen, liegt der Unterschied vor allem in der mit der letzten Satzakzentstelle beginnenden Endphase der Äußerungen. In S tragen vielfach die am Ende stehenden akzentlosen Silben eine lebhafte Melodiebewegung, wohingegen in D und Ö die Akzentsilben melodisch herausragen. Auch bei der Kennzeichnung der Frageformen können Unterschiede auftreten. Jedoch ist ein direkter Vergleich isolierter Äußerungen problematisch, weil die Melodisierung nicht nur von der Satzform, sondern auch
172
III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem
von kommunikativ-pragmatischen Erwägungen und der Art der Emotionalisierung abhängig ist. Die schweizerdeutsche Melodisierung wird von manchen Sprechern als situativ-stilistisches Mittel verwendet und im öf-
fentlichen Sprechen zurückhaltend eingesetzt. Die folgenden Beispiele zeigen die Melodisierung verschiedener Aussageweisen in der Gegenüberstellung von schweizerdeutschen und deutschländischen Formen.
Aussage
-
-
.
_ _
Λ
S
Da machen wir Ferien.
D
Da machen wir Ferien.
Nachdrückliche Aussage
-
——ζ
/
-
_
_—V
S
Ich komm auch vom Emmental!
D
— x_ Ich komm auch vom Emmentaft
S
Haben Sie gefunden, was er braucht?
D
Haben Sie gefunden, was er braucht?
S
Wo ist Herr Loos denn?
D
Wo ist Herr Loos denn ?
Entscheidungsfrage
Frage mit Fragewort
Abb. 13.1
13. Die Standardaussprache des Deutschen
173
Warnende Aufforderung
X S
Da dürfen Sie aber keine Zeit vertieren!
D
Da dürfen Sie aber keine Zeit verlieren!
S
Was Sie schon alles wissen?
D
Was Sie schon alles wissen?
S
Das ist aber merkwürdial
D
Das ist aber merkwürdig !
Verwunderte Feststellung
Erstaunter Ausruf
Abb. 13.1: Melodieverläufe in der schweizerdeutschen (S) und deutschländischen (D) Standardaussprache (akzentuierte Silben unterstrichen).
4.
Literatur in Auswahl
Amnion, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin/New York. Back, Otto; Erich Benedikt; Maria Hornung; Ernst Pacolt (Hg.) (1985): Österreichisches Wörterbuch. 36. Aufl. Wien. Boesch, Bruno (Hg.) (1957): Die Aussprache des Hochdeutschen in der Schweiz. Eine Wegleitung. Zürich.
Hofmüller-Schenk, Agnes (1993): Die Standardaussprache des Deutschen in der Schweiz. 2 Teile, Aarau etc. (Studienbücher Sprachlandschaft 5). Kohler, Klaus J. (1977): Einführung in die Phonetik des Deutschen. Berlin (Grundlagen der Germanistik 20). Krech, Eva-Maria (1961): Probleme der deutschen Ausspracheregelung. In: Hans Krech (Hg.): Beiträge zur deutschen Ausspracheregelung. Berlin, 9-47.
Bürkle, Michael (1995): Zur Aussprache des österreichischen Standarddeutschen. Die unbetonten Silben. Frankfurt/M. (Schriften zur deutschen Sprache in Österreich 17).
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(Deutschland)
175
14. Arten und Typen von Grammatiken
14. Arten und Typen von Grammatiken 1. 2. 3. 4.
Zum Begriff „Grammatik" Arten von Grammatiken Typen von Grammatiken Literatur in Auswahl
1.
Z u m Begriff „ G r a m m a t i k "
1.1. Grammatik als Objekt, als linguistisches Abbild und als mentale Realität Der Begriff „Grammatik" wird in unterschiedlicher Weise verstanden (vgl. Heibig 1972; 1981, 49 ff.) und bezieht sich auf drei Sachverhalte: a) auf die dem Objekt Sprache selbst innewohnenden Regeln, unabhängig von deren Erkenntnis/Beschreibung durch die Linguistik und unabhängig von deren Beherrschung durch Sprecher/Hörer; b) auf die wissenschaftlich-linguistische Beschreibung der der Sprache objektiv innewohnenden Regeln, d. h. auf die Abbildung von a); c) auf das dem Sprecher/Hörer interiorisierte Regelsystem, das sich im Kopf des Lernenden beim Spracherwerb herausbildet und auf Grund dessen dieser die betreffende Sprache beherrscht (= mentale oder subjektive Grammatik). Es handelt sich um unterschiedliche Sachverhalte (grob: a) existiert in Sprachtexten selbst, b) in Büchern, c) in Köpfen). Gegenstand dieses Beitrags ist b). 1.2. Grammatik im engeren und weiteren Sinne Nach dem Umfang müssen zwei Konzepte von Grammatik differenziert werden (vgl. Heibig 1988, 161): a) Grammatik im engeren Sinne als Lehre von den morphologischen und syntaktischen Regularitäten einer Sprache, als der Teil der Sprachwissenschaft, der die Bildung verschiedener Formen gleicher Wörter („Morphologie") und die Verknüpfung von Wörtern zu Wortgruppen und Sätzen („Syntax") zum Gegenstand hat - also unter Ausschluss des Lexikons (der Wortlehre) und der Semantik (der Bedeutungsseite), ja in komplementärer Gegenüberstellung zum Lexikon und zur Semantik; b) Grammatik im weiteren Sinne als Abbildung des gesamten Sprachsystems, als Re-
gelsystem, das die (vermittelten) Zuordnungsbeziehungen zwischen Lauten/Formen und Bedeutungen (Ausdrucks- und Inhaltsseite) beschreibt - unter Einschluss des Lexikons und der Semantik sowie der Phonologie/Phonetik. Das jüngere Konzept b) hat sich immer mehr durchgesetzt auf Grund der Einsicht, dass Bedeutung nicht nur den Wörtern, sondern auch den grammatischen Formen zukommt, dass die Semantik folglich Grammatik im engeren Sinne (= Morphosyntax) und Lexik nicht trennt, sondern verbindet (dieselben Bedeutungen können mitunter morphosyntaktisch und/oder lexikalisch ausgedrückt werden), dass Morphosyntax und Lexikon sich auch nicht prinzipiell voneinander unterscheiden, dass auch im Lexikon eine Zuordnung von Lauten/Formen und Bedeutungen erfolgt. Dennoch sind in diesem Handbuch aus Gründen der Darstellung — der Phonetik/Phonologie (Art. 12 und 13) und dem Lexikon (Art. 17, 18 und 19) eigene Artikel gewidmet. Aber die Grammatik wird - im Sinne von b) — nicht reduziert auf die bloßen (formalen) Verknüpfungsregeln, sondern umfasst Zuordnungsbeziehungen zwischen Formen und Bedeutungen generell. 2.
Arten von G r a m m a t i k e n
2.1. Abhängigkeit von verschiedenen Parametern Unter Arten von Grammatiken werden Beschreibungen des Objekts verstanden, die in unterschiedlicher Weise abhängig sind vom Objekt selbst, von dem Kenntnisstand über den abzubildenden Objektsbereich, den verfolgten Erkenntnisinteressen, dem gesellschaftlichen Zweck (ζ. B. Fremdsprachenunterricht, Übersetzung, Theoriebildung), den unterschiedlichen Benutzern (ζ. B. Linguisten, Lehrbuchautoren, Lehrer, Lerner) und den unterschiedlichen Benutzungssituationen (innerhalb des Fremdsprachenunterrichts ζ. B. als direktes Lehrbuch, als Leitfaden oder Handbuch). Nach diesen Parametern unterscheiden sich verschiedene Arten von Grammatiken (auch wenn sie nicht immer „rein" vorkommen, sondern eher „idealtypisch" zu verstehen sind.
176
III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem
2.2. Normative vs. deskriptive Grammatiken Normative (auch: präskriptive) Grammatiken wollen Wertungen vornehmen, wollen sagen, was richtig und falsch, was gut oder schlecht ist, enthalten Vorschriften und Normen, wollen vorschreiben, was sein
soll.
Demgegenüber sind deskriptive Grammatiken wertungsfrei (weder vorschreibend noch normierend); sie wollen - in der Regel ausgehend von Belegsammlungen - den vorhandenen Sprachgebrauch festhalten und kodifizieren, möchten beschreiben, was ist. Zwischen normativen und deskriptiven Grammatiken bestand in der Vergangenheit eine fast unüberbrückbar scheinende Kluft: Schulgrammatiken wurden als normativ angesehen (und deshalb von der Wissenschaft wenig ernst genommen), wissenschaftliche Grammatiken galten als deskriptiv. Der Unterschied zwischen beiden sollte jedoch nicht überbetont oder gar verabsolutiert werden: Auf der einen Seite ist im Grunde nicht die Grammatik selbst normativ, sondern nur ihr Gebrauch (so dass auch deskriptive Grammatiken normativ verwendet werden können). Auf der anderen Seite gehen manche Grammatiktheorien (vgl. 3.4.) heute (mit Recht) davon aus, dass die Grammatiken nicht nur Belege sammeln und beschreiben, sondern - vor allem - die diesen Belegen zugrundeliegenden Regeln erklären sollten. Damit sollten sie eine Basis für Bewertungen (ζ. B. grammatisch vs. ungrammatisch) abgeben, die indirekt auch für den Fremdsprachenunterricht unverzichtbar ist. 2.3. Diachronische vs. synchronische Grammatiken Diachronische Grammatiken erfassen die Sprache in zeitlich-historischer Veränderung, also ζ. B. vom Alt- über das Mittel- zum Neuhochdeutschen. Synchronische Grammatiken beschreiben dagegen die Sprache in ihrem Funktionieren zu einem bestimmten Zeitpunkt (ζ. B. die deutsche Sprache der Gegenwart). Während die Junggrammatiker des 19. Jh.s allein eine diachronische Grammatik für wissenschaftlich hielten (vgl. Paul 1898, 19 f.), hat sich das Verhältnis mit de Saussure (1931, 96fF.) umgekehrt, der nicht nur beide Richtungen getrennt, sondern auch die Wissenschaftlichkeit einer synchronischen Grammatik legitimiert (und sie der diachronischen Grammatik übergeordnet) hat. Allerdings wird man den von ihm postulierten antinomischen Gegensatz kaum aufrechterhalten kön-
nen, ist doch die Diachronie nichts als die Abfolge mehrerer Synchronien und die Synchronie ein Ausschnitt aus der diachronischen Abfolge (vgl. Heibig 1986a, 36f.). 2.4. Wissenschaftliche Grammatiken vs. Gebrauchsgrammatiken Von einem unterschiedlichen Benutzerkreis her werden wissenschaftliche Grammatiken und Gebrauchsgrammatiken unterschieden: Erstere wenden sich vornehmlich an Linguisten und an solche Nutzer, die Sprache vermitteln wollen, letztere sind „praxisbezogen" und richten sich an „gebildete Laien", die über kein linguistisches Spezialwissen verfügen. Als Musterbeispiel für eine solche Gebrauchsgrammatik (unabhängig von einem speziellen Benutzerkreis und von speziellen Benutzungssituationen) kann die DudenGrammatik (1995) angesehen werden. Auf der Basis desselben Objektsbereichs und derselben grammatiktheoretischen Grundlage kann einerseits eine wissenschaftliche Grammatik (Grundzüge einer deutschen Grammatik 1981) und andererseits eine Gebrauchsgrammatik (Flämig 1991) erarbeitet werden. 2.5. Problem- vs. Resultatsgrammatiken Mit dem in 2.4. genannten Unterschied ist oft, aber nicht notwendig verbunden der Unterschied zwischen einer Problem- und einer Resultatsgrammatik (vgl. Helbig/Buscha 1984, 17f.). Im Unterschied zu einer Problemgrammatik werden in einer Resultatsgrammatik nur Ergebnisse präsentiert, wird nicht erörtert, wie die Autoren (auch in Auseinandersetzung mit anderen Autoren) zu ihren Resultaten gekommen sind, werden die Beschreibungsverfahren nicht explizit entwickelt, begründet und problematisiert. Problemgrammatiken müssen nicht notwendig vollständig sein, basieren in der Regel aber auf einer einheitlichen theoretischen Grundlage - im Unterschied zu Resultatsgrammatiken, die (da auf Vollständigkeit bedacht) oft Einsichten verschiedener Grammatiktheorien nutzen. Diese Unterscheidung deckt sich weder einfach mit der zwischen wissenschaftlichen und Gebrauchsgrammatiken (obwohl Problemgrammatiken immer wissenschaftliche Grammatiken sind) noch mit der zwischen Mutterund Fremdsprachengrammatik (obwohl für den Lerner im Fremdsprachenunterricht eine Resultatsgrammatik im Mittelpunkt stehen muss).
14. Arten und Typen von Grammatiken
2.6. Produktions- vs. Rezeptionsgrammatiken Manchmal wird (ζ. B. Heringer 1988) zwischen einer Produktions- und einer Rezeptionsgrammatik unterschieden. Eine solche Unterscheidung wird freilich nicht von allen Richtungen akzeptiert, vor allem nicht von jenen, die mit Chomsky (1969, 13 ff.) davon ausgehen, dass die Grammatik die Kompetenz des idealen Sprechers/Hörers zu modellieren habe und deshalb neutral gegenüber Sprecher/Hörer sei, die ihrerseits von der Grammatik erst in der Performanz Gebrauch machen. Produktive und rezeptive Grammatiken stellen zwar die gleichen Sachverhalte dar und benutzen auch die gleiche Beschreibungssprache, unterscheiden sich aber durch eine andere Perspektive und durch andere Benutzungssituationen: Bei der produktiven Grammatik geht es um die „aktive Kompetenz" des Sprechers (und den Weg vom Inhalt zur Form), bei der rezeptiven Grammatik um die „passive Kompetenz" des Hörers bzw. Rezipienten (und den Weg von der Form zum Inhalt). 2.7. Muttersprachen- vs. Fremdsprachengrammatiken Grammatiken für den Muttersprachenunterricht (= MSG) und Grammatiken für den Fremdsprachenunterricht (= FSG) unterscheiden sich - bedingt durch den verschiedenen Zweck und Benutzerkreis — in folgender Weise (vgl. Heibig 1981, 52ff.; Helbig/Buscha 1984, 17 ff.): a) Eine MSG ist vornehmlich auf die Bewusstmachung und Systematisierung sprachlicher Regeln gerichtet, über die der Muttersprachler auf Grund seiner sprachlichen Kompetenz (seines „Sprachgefühls") bereits vor der grammatischen Unterweisung intuitiv verfügt. Während eine MSG von dieser Kompetenz ausgehen und sich auf sie stützen kann, muss eine FSG (da dem Lerner zunächst die Kompetenz in der zu erlernenden Sprache fehlt) dazu beitragen, diese Kompetenz erst aufzubauen. b) Bedingt durch die „Außenperspektive" (vgl. Weinrich 1979, 2ff.), müssen die Regeln in einer FSG expliziter sein als in einer MSG; diese Regeln sollten möglichst genau angeben, wie richtige Sätze gebildet, interpretiert und verwendet werden. c) Die fehlende Kompetenz führt auch zur Forderung nach (größtmöglicher) Vollständigkeit für die FSG, während in einer MSG
177 solche Bereiche vernachlässigt werden können, die in der Muttersprache nicht fehleranfallig sind. d) Das führt zu unterschiedlichen Proportionen: Eine FSG muß viele Sachverhalte enthalten, die in einer MSG nur am Rande oder gar nicht dargestellt werden (müssen), weil die Lehrer einer Fremdsprache fortlaufend auf Fehler treffen, denen sie im Muttersprachunterricht (aus der „Binnenperspektive") nicht begegnen. 2.8. Einzelsprachliche vs. konfrontative (kontrastive) Grammatiken Für den Fremdsprachenunterricht spielen neben einzelsprachlichen vor allem auch konfrontative Grammatiken eine wichtige Rolle. Der konfrontative Sprachvergleich unterscheidet sich vom historischen, arealen und typologischen Sprachvergleich, obwohl die klassische Komparativistik und die Sprachtypologie Quellen für den heutigen synchronischen konfrontativen Sprachvergleich darstellen. Es waren jedoch vor allem praktische Bedürfnisse des Fremdsprachenunterrichts, die die Entwicklung des konfrontativen Sprachvergleichs stimuliert haben (vgl. Heibig 1976, 9ff.). Die ursprüngliche kontrastive Linguistik war mit dem (praktischen) Ziel angetreten, die Probleme zu finden, die die Sprecher einer Sprache haben würden, wenn sie eine andere Sprache lernen - in der Annahme, dass die in der Muttersprache ähnlichen Elemente leichter erlernbar, die von der Muttersprache divergierenden Elemente aber schwierig sein würden (vgl. Lado 1964, 215; Fries 1945, 9). Diese Annahme hat sich jedoch als falsch herausgestellt, weil die schwierigen Stellen beim Erlernen einer Fremdsprache keineswegs nur im Bereich starker Kontraste lokalisiert werden können, weil vielmehr gerade auch Ähnlichkeiten äußerst fehlergefahrdet sind (vgl. Juhász 1970, 92 ff.), weil - noch allgemeiner gesprochen — der Schwierigkeitsgrad beim Erlernen einer Sprache keine direkte und proportionale Folge von Strukturdifferenzen zwischen zwei Sprachen ist. Deshalb wurde - im Unterschied zur ursprünglichen kontrastiven Linguistik, die nur auf die Kontraste ausgerichtet war - sehr bald die Forderung nach einer umfassenderen konfrontativen Linguistik artikuliert (vgl. Zabrocki 1970; Coseriu 1970), die sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Sprachen aufzudecken habe. Dadurch wurde die alte Einsicht „Beschreiben vor Vergleichen"
178 gefestigt, d. h. die Einsicht, dass eine konfrontative Darstellung — wenn sie nicht aphoristisch bleiben will - die vorherige Beschreibung der zu vergleichenden Einzelsprachen voraussetzt. Der Vergleich kann die vollständige Beschreibung der zu vergleichenden Einzelsprachen weder ersetzen noch abkürzen (vgl. Rüzicka 1969, 169 f.), weil er mindestens zwei Grammatiken von Einzelsprachen voraussetzt, die miteinander und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Auf diese Weise wurde die ursprüngliche Euphorie der kontrastiven Grammatiken stark gedämpft, schlug die anfangliche Überbewertung zunehmend in Kritik und Unterbewertung um, die unterschiedliche Ursachen und Ausgangspunkte hatte (vgl. Heibig 1981, 77ff.; 1986c, 273fF.): a) Die ursprünglichen Ziele, aus sprachlichen Strukturdifferenzen in direkter Weise Schwierigkeitsgrade zu prognostizieren, erwiesen sich als „Falschziele" (Raabe 1976, 29f.). b) Die Vorstellung, aus einzelsprachlichen Grammatiken sofort konfrontative Grammatiken entwickeln zu können, erwies sich ebenfalls als zu einfach, weil sich der Vergleich keineswegs direkt aus den einzelsprachlichen Grammatiken ergibt. Es wurde immer deutlicher, dass zwischen beiden (als theoretische Voraussetzung für die Konfrontation) eine wichtige Stufe eingeschoben werden muss, auf der zunächst die Vergleichbarkeit festgestellt werden muss: Es handelt sich einerseits um die Vergleichbarkeit im Objekt Sprache; es muss ermittelt werden, welche Erscheinungen in den zu vergleichenden Sprachen miteinander komparabel sind (da sich die Kategorien nicht notwendig decken). Andererseits muss nach der Vergleichbarkeit der Beschreibungen gefragt werden: Es genügt nicht das Vorliegen von Einzelbeschreibungen schlechthin, sondern diese müssen in ihrer Art theoretisch, methodologisch und terminologisch miteinander vergleichbar sein, c) Manchmal wird der praktische Wert der konfrontativen Grammatik mit der Begründung in Frage gestellt, dass der Lerner nicht bewusst über die Strukturen seiner Muttersprache verfüge und folglich auch nicht konfrontieren könne. Bei dieser Begründung wird aus einer richtigen Prämisse ein unzulässiger Schluss gezogen, da die primären Benutzer der konfrontativen Grammatiken nicht die Lerner, sondern die Lehrbuchautoren und die Lehrer - als Vermittlungsinstanzen zwischen Sprachwissenschaft und Fremdsprachenunterricht — sind, d) Die empirische Fehleranalyse (wie sie von
III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem
Lehrern schon immer betrieben wird) wies Fehler nach, die von der kontrastiven Analyse nicht vorhergesagt worden waren, und sie konnte Fehler nicht nachweisen, die von der kontrastiven Analyse vorhergesagt worden waren. Dieser Widerspruch ist jedoch nur scheinbar, denn in Wahrheit sind Fehleranalyse und kontrastive Analyse eher komplementär und verfolgen nicht völlig dasselbe Ziel (es gibt unterschiedliche Arten von Fehlern, keineswegs alle sind von der Muttersprache her bedingt), e) Aus der Fehleranalyse erwuchsen Vorstellungen und Theorien, nach denen sich im Prozess des Lernens von Fremdsprachen „Zwischensprachen" oder „approximative Systeme" herausbilden. Als Signale für diese „Zwischensprachen" werden bestimmte Fehler angesehen, die von der Muttersprache der Lernenden weitgehend unabhängig sind. Die „Kontrastiv-Hypothese" wurde ergänzt bzw. ersetzt durch die „Interims-Hypothese". - Insgesamt wird man sich gleichermaßen vor einer Über- wie vor einer Unterbewertung der konfrontativen Grammatik hüten müssen. Vielmehr kommt es darauf an, ihre Möglichkeiten und Grenzen genauer auszuloten (vgl. Heibig 1976; 1986c), um zu erkennen, was sie leisten, was sie nicht leisten und was sie nur im Zusammenhang mit anderen (Teil-)Disziplinen leisten kann. Überdies verbirgt sich hinter dem Terminus „konfrontative Grammatik" nicht immer dasselbe. Mindestens sollte zweierlei unterschieden werden (vgl. Heibig 1981, 74ff.): a) Man kann eine Sprache in Bezug auf eine andere ohne Tertium comparationis (als Metasprache) darstellen: Die Ausgangssprache ist das Bezugssystem für die Beschreibung der Zielsprache (nur diese wird vollständig und systematisch beschrieben), der Vergleich ist nur in einer Richtung (unilateral) verwendbar. Andererseits gibt es die Möglichkeit einer vollständigen Beschreibung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Sprachen, die dann gleichwertig sind und auf ein metasprachliches Bezugssystem (als Tertium comparationis außerhalb der beiden Einzelsprachen) bezogen werden. Ein solcher Vergleich ist in beiden Richtungen (bilateral) verwendbar, b) Bei der Konfrontation kann es sich um eine Ermittlungs- oder um eine Darstellungsmethode handeln (vgl. Jäger 1972, 233fr.): Wenn die Konfrontation als Methode zur Ermittlung linguistischer Erkenntnisse benutzt wird, ist in der Regel nur eine Sprache (vollständiger) Gegenstand der
14. Arten und Typen von Grammatiken
Darstellung, die andere ist (gelegentliche) Bezugsgröße, weil eine Sprache im Spiegel (in den Termini) der anderen beschrieben wird (wie das intuitiv von Fremdsprachenlehrern schon lange getan wird). Wenn die Konfrontation dagegen als Methode der Darstellung linguistischer Erkenntnisse dient - das ist weit anspruchsvoller —, sind beide Sprachen gleichwertiger, systematischer und vollständiger Gegenstand (die Sprachmittel werden systematisch korreliert). 2.9. Linguistische vs. didaktische Grammatiken Linguistische Grammatiken bedürfen für die Zwecke des Fremdsprachenunterrichts immer der Umsetzung in didaktische Grammatiken, letztlich in unmittelbare Lehr- und Lernmaterialien, die einer Progression unterliegen und dem Lerner direkt präsentiert werden (können). Diese Umsetzung, Adaption bzw. Applikation ist von verschiedenen (außerlinguistischen) Faktoren abhängig und führt zu unterschiedlichen Arten von Grammatiken. Vgl. dazu ausführlich Art. 15. 3.
Typen von Grammatiken
3.1. Grammatiken und Grammatiktheorien Grammatiken sind abhängig von Grammatiktheorien bzw. -modellen, die den theoretischen Hintergrund für einzelsprachliche Grammatiken darstellen. Auf Grund dieser Abhängigkeit ergeben sich verschiedene Typen von Grammatiken (die auf den Fremdsprachenunterricht unterschiedliche Auswirkungen haben). 3.2. Traditionelle Grammatik Unter „traditionellen Grammatiken" werden gewöhnlich „vorstrukturalistische" Grammatiken (vor allem: ältere Schulgrammatiken) verstanden, die in der Tradition der aristotelischen Logik und der lateinischen Grammatik stehen (für das Deutsche ζ. B. von K. F. Bekker, Heyse, Blatz, Sütterlin). Ihnen kommen folgende Eigenschaften zu (die später besonders von den strukturalistischen Grammatiken kritisiert worden sind): Ihre Kategorien und Termini sind an der griechischen Logik und der lateinischen Grammatik orientiert und werden von dort auf die modernen Sprachen übertragen. Der Ausgangspunkt ist zumeist formbezogen; auf der anderen Seite wird vielfach auf (ungenügend definierte) semantische und außersprachliche Kriterien
179 Bezug genommen. Die Klassifikationskriterien für grammatische Einheiten sind uneinheitlich, heterogen und nicht systematisch begründet (da die verschiedenen „Ebenen" nicht deutlich genug unterschieden werden). Die Arbeitsweise der traditionellen Grammatik ist zumeist „intuitionistisch", d. h., statt der Formulierung expliziter Regeln wird an die Intuition des Lesers appelliert, der oft aus Beispielen die Regeln selbst rekonstruieren muss. Bei der Erklärung von Erscheinungen der Gegenwartssprache werden vielfach synchronische und diachronische Aspekte vermischt. Die traditionellen Grammatiken soweit sie nicht historisch sind - sind zumeist normativ ausgerichtet (vgl. 2.2.), deshalb auch nicht frei von Vorurteilen gegenüber dem tatsächlichen Sprachgebrauch. Sie sind primär an der geschriebenen, nicht an der gesprochenen Sprache orientiert. Ihr Kernstück ist die Lehre von den Wortarten und den Satzgliedern; auch bei diesen Grundeinheiten ist die Uneinheitlichkeit der Klassifizierungskriterien zunehmend stärker kritisiert worden. 3.3. Strukturalistische Grammatik „Strukturalistische Grammatik" oder „Strukturalismus" gilt als Sammelbegriff für verschiedene Schulen und Konzeptionen in der Sprachwissenschaft, die sich auf de Saussure berufen, sich gegen die ältere Sprachwissenschaft (sowohl gegen die junggrammatische Schule als auch gegen die traditionelle Schulgrammatik) richten und ein neues Paradigma geschaffen haben (vgl. Heibig 1986a, 33ff.; 1986b, 15 ff.). Diese Neuorientierung bei de Saussure (1916) beruhte auf den Grundideen, a) dass die Sprache als System („langue") zu unterscheiden ist von der aktuellen Realisierung des Systems durch den Sprecher im Gebrauch der Sprache („parole"), dass der Gegenstand der Sprachwissenschaft die „langue" ist (unabhängig vom individuellen Sprechen); b) dass dieses System nur wahrgenommen wird in der Synchronie, dass deshalb nicht nur streng zwischen synchronischer und diachronischer Sprachwissenschaft unterschieden, sondern auch die synchronische Sprachwissenschaft als primär angesehen werden müsse; c) dass die Sprache ein System von Zeichen und ein Zeichen immer bilateral ist, d. h. die Verbindung einer Lautform (des Bezeichnenden) und einer Bedeutung (einem Bezeichneten); d) dass das Zeichen eine Größe im internen Relationssystem der Sprache ist, dass die Sprache eine immanente
180 Struktur hat und ein System von Werten ist (deren Glieder sich alle gegenseitig bedingen), dass die Sprachwissenschaft folglich eine autonome Wissenschaft ist, die ihre Gegenstände ohne Rückgriff auf außersprachliche (logische, psychologische, historische, geisteswissenschaftliche u. a.) Erklärungen in ihren internen Beziehungen (als Form und nicht als Substanz) zu beschreiben habe. Auf der Basis dieser Grundideen entwikkelten sich zunächst verschiedene Schulen des „klassischen Strukturalismus" mit teilweise recht divergierenden Konzepten (vor allem: die Prager funktionale Linguistik, die Kopenhagener Glossematik und der amerikanische Deskriptivismus). Die weitreichendste Wirkung - sowohl für die Linguistik als auch für den Fremdsprachenunterricht - hatte wohl der amerikanische Strukturalismus, der mit dem Behaviorismus verbunden war und sich auf das sichtbare und beobachtbare äußere Verhalten (behavior) konzentrierte (vgl. Bloomfield 1933). Das führte zu einer physikalistischen Beschränkung der Sprachwissenschaft auf den eigentlichen Sprechakt, der nur aus Formen besteht, und zu einem Ausschluss der Bedeutung aus der Sprachwissenschaft („meaning" als die dem Sprechakt entsprechenden außersprachlichen Stimulusund Reaktionselemente). Die Bedeutung wurde nicht ausgeschlossen, weil man sie für unwesentlich ansah, sondern deshalb, weil man ihre exakte Beschreibung für unmöglich hielt. Einen Teil der Bedeutung glaubte man, über die Formen und ihre Verteilung (Distribution) erfassen zu können. Die Erkenntnis der Distribution wurde schließlich zur Hauptaufgabe der deskriptiven Linguistik (vgl. Harris 1951) - deshalb spricht man von „Distributionalismus" - : Die kleinsten Einheiten sollten zunächst im Redefluss segmentiert und die Segmente danach - auf Grund ihrer Distribution in unterschiedlichen Umgebungen — zu Klassen zusammengefasst werden. Trotz der oft (und mit Recht) kritisierten „Bedeutungsfeindlichkeit" der amerikanischen Deskriptivisten (und der damit verbundenen Einengung des Gegenstandsbereichs der Sprachwissenschaft) haben sie die Sprachwissenschaft und den Fremdsprachenunterricht dadurch bereichert, dass sie Wege für eine exakte Beschreibung von Einzelsprachen gewiesen und ein Inventar von neuen Methoden entwickelt haben: die Distribution (als Summe aller Umgebungen, in denen ein Element auftreten kann), die Konstituentenana-
III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem
lyse (vor allem die Analyse der unmittelbaren Konstituenten durch Segmentierung in Phrasen, die die Hierarchie der sprachlichen Struktur bloßlegt), die Substitution (Ersatz einer sprachlichen Einheit im gleichen Kontext durch eine andere), die Transformation (Umwandlung von syntaktischen Einheiten ohne Veränderung der lexikalischen Elemente), die Permutation (Umstellung im Satz) u. a. Mit Hilfe dieser Methoden und unter Verzicht auf die Bedeutung (als Ausgangskriterium) war es möglich, Grammatikbeschreibungen für den Fremdsprachenunterricht bereitzustellen (für das Englische vgl. Fries 1952). Für das Deutsche hat - unabhängig davon - Glinz (1952) im Sinne seines „empirischen Strukturalismus" den Versuch gemacht, mit Hilfe sprachimmanenter „Experimente" (Ersatz-, Verschiebe- und Weglassprobe) — ähnlich den Proben von Chemikern und Physikern mit ihren Stoffen - , bestimmte Einheiten zu ermitteln (ζ. T. auch Einheiten, die uns so aus der traditionellen Grammatik nicht bekannt sind), die er dann - erst in einem zweiten Schritt - nach ihrem Inhalt interpretiert. Deshalb gehören zum Stichwort „strukturalistische Grammatik" nicht nur rein distributionelle Grammatiken (die eine Klassifizierung von Oberflächenelementen allein nach ihrer Verteilung anstreben), sondern auch „operationale Grammatiken", die den Prozess der Regelfindung mit Hilfe strukturalistischer Analyseverfahren zum Hauptgegenstand machen. 3.4. Generative Grammatik Die generative Grammatik (= GG) ist zwar aus dem amerikanischen Distributionalismus entstanden, führte aber sehr bald über ihn hinaus und stellte sich in einen deutlichen Gegensatz zu ihm. Sie will keine bloße Segmentierung und Klassifizierung konkreter Sprachdaten sein, vielmehr eine abstrakte Theorie mit dem Ziel, mit Hilfe eines axiomatischen Systems von expliziten Regeln das implizite Wissen des idealen Sprechers/Hörers von seiner Sprache erfassen, das dem aktuellen Sprachgebrauch zugrunde liegt. Vor allem will sie die grammatischen Sätze einer Sprache von den ungrammatischen trennen und die Struktur der grammatischen Sätze auf den verschiedenen Ebenen aufweisen. Insofern versteht sich die GG nicht als bloße Beschreibung von gegebenen Sprech- und Schreibereignissen, sondern als Explizierung unserer Intuitionen über die Sprache mit Hilfe eines Regelmechanismus, der alle gram-
181
14. Arten und Typen von Grammatiken
matischen Sätze einer Sprache - und nur diese - erzeugt (generiert). Allerdings haben sich die Wege zu diesem Ziel stark verändert, sind in rascher Folge unterschiedliche „Versionen" der GG ausgearbeitet worden. 3.4.1. Die erste Version hat Chomsky (1957) entwickelt, ausgehend von drei Repräsentationsebenen: Phrasenstrukturregeln weisen für jeden Satz die Konstituentenstruktur auf, Transformationsregeln verwandeln die gegebene Konstituentenstruktur in neue Ketten von abgeleiteten Konstituentenstrukturen, morphophonemische Regeln setzen die Morphem- in Phonemsequenzen um. Es gibt eine endliche Menge von „Kernsätzen" (die nur durch Phrasenstrukturregeln und obligatorische Transformationen erzeugt werden), aus denen durch weitere Transformationen alle Sätze einer Sprache abgeleitet werden können. Jeder Satz gehört entweder zum Kern oder kann vom Kern durch Transformationen abgeleitet werden. Die neue Ebene der Transformationen (deshalb auch: „generative Transformationsgrammatik") erlaubt es im Unterschied zum distributionalistischen Strukturalismus - , die Anwendung von Phrasenstrukturregeln zu beschränken und den potentiell unendlichen Gebrauch von endlichen Mitteln zu erklären. Diese (auf die Syntax beschränkte) Theorie fußt auf einer beschränkten Menge von Beobachtungen, aus denen jedoch allgemeine Gesetze konstruiert werden, mit deren Hilfe man in die Lage versetzt wird, neue Sätze (auch solche, die man nicht in Texten gefunden hat) vorherzusagen („prädiktive Kraft"). 3.4.2. Diese asemantische Theorie der Syntax hat Chomsky (1965; 1969) weiterentwickelt zum „Standardmodell" der GG: Die syntaktische Komponente wird jetzt spezifiziert in eine Tiefenstruktur (als Grundlage für die semantische Interpretation) und eine Oberflächenstruktur (als Grundlage für die phonologische Interpretation), weil - im Unterschied zur strukturalistischen Grammatik — Tiefenund Oberflächenstruktur nicht gleichgesetzt werden dürfen. Die Grammatik enthält eine syntaktische, eine semantische und eine phonologische Komponente, von denen nur die syntaktische Komponente generativ ist (die anderen Komponenten sind interpretativ). Die syntaktische Komponente ihrerseits besteht aus einem Basisteil (mit Ersetzungsregeln und - auch das ist neu - einem Lexikon), der die Tiefenstrukturen generiert, und
einem Transformationsteil, der diese Tiefenstrukturen in Oberflächenstrukturen überführt (vgl. Heibig 1968b, 104f.):
Abb. 14.1 Diese zweite Version der GG (Standardtheorie) akzentuiert den fundamentalen Unterschied zwischen der Kompetenz (dem impliziten Wissen des Sprechers/Hörers von seiner Sprache) und der Performanz (dem, was der Sprecher bei der tatsächlichen Verwendung der Sprache in konkreten Situationen tut). Die Grammatik muss aus den beobachtbaren Daten der Verwendung das zugrunde liegende System von Regeln konstruieren, muss ein Bericht über die Kompetenz sein, wenn sie die Fähigkeit des Sprechers erklären will, beliebige Sätze der betreffenden Sprache zu produzieren und zu verstehen. Dazu gehört neben den Grammatiken der Einzelsprachen eine Universalgrammatik, weil die GG eine Hypothese sein will über die angeborene Fähigkeit der Sprachbildung bei Menschen. Der Prozess des Spracherwerbs wird gesehen in Analogie zur Arbeit des Linguisten, der eine Grammatik auf der Basis gegebener Daten konstruiert. Im Gegensatz zum deskriptiven Strukturalismus stellt sich Chomsky jetzt auf die Seite des Mentalismus und Rationalismus (von Humboldt und Descartes). Mit der Annahme eines angeborenen Spracherwerbsmechanismus auf der Basis von Universalien erweitert er seine (ursprünglich asemantische) Syntaxtheorie nicht nur zu einer (umfassenderen) Grammatiktheorie (die er zugleich als Sprachtheorie versteht), sondern auch zu einer Theorie des Spracherwerbs. 3.4.3. Die Standardtheorie leitete eine Phase schneller Veränderungen und Spaltungen innerhalb der GG ein: Auf der einen Seite führte die Kritik an ihr zu ihrer Verwerfung und zu den alternativen Modellen der generativen Semantik und der Kasustheorie (vgl.
182 3.6.), auf der anderen Seite zu ihrer Modifikation und Erweiterung durch Chomsky selbst (und einige seiner Anhänger). Ausgangspunkt dafür war das Verhältnis von Syntax und Semantik und besonders die Einsicht, dass die von Chomsky angenommene syntaktische Tiefenstruktur (mit den grammatischen Relationen wie ζ. B. Subjekt/Objekt-von) für die semantische Interpretation nicht ausreicht. Chomsky selbst hat seine Standardtheorie in mehreren Stufen revidiert und erweitert: a) Zwischen 1968 und 1970 entstand die „Erweiterte Standardtheorie" (EST) (vgl. Chomsky 1972), in der zwar die grammatischen Relationen fundamental für die semantische Interpretation bleiben, in der aber andere Aspekte der Bedeutung (ζ. B. Fokus, Topikalisierungen, Präsuppositionen) als von der Oberflächenstruktur determiniert angesehen werden, b) Spätestens seit Mitte der 70er Jahre wird von einer „Revidierten Erweiterten Standardtheorie" (REST) gesprochen. Chomsky (1976, 81 ff.; 1979, 165) nimmt nun einen noch radikaleren Umbau seiner Grammatik vor: Er trennt die beiden ursprünglich der Tiefenstruktur zugeschriebenen Eigenschaften (syntaktischer Ausgangspunkt für die Transformationen einerseits, Basis für die semantische Interpretation andererseits) und erkennt ihr nur noch die erste Eigenschaft zu. Die Basiskomponente erzeugt die Tiefenstruktur (D-Struktur), die als Ausgangsstruktur („initial P-Marker") durch Transformationen in eine „seichte Struktur" (S-Struktur) überführt wird, die ihrerseits Eingabe sowohl für die semantische als auch für die phonetische Interpretation ist (erst letztere führt zur phonetisch interpretierten Oberflächenstruktur). Die S-Struktur (nunmehr allein für die semantische Interpretation zuständig) ist keine Tiefenstruktur mehr, sondern eine Art Oberflächenstruktur, allerdings eine — gegenüber der Standardtheorie - „bereicherte" Oberflächenstruktur, bereichert vor allem durch „Spuren", die die DStruktur hinterlassen hat („Spurentheorie"). Dabei werden die Transformationen - die die D- in S-Strukturen überführen - erheblich reduziert, letztlich auf eine Bewegungsregel beschränkt, c) Seit etwa 1980 mündet die Entwicklung in das Government-and-Binding-Modell (GB) (Chomsky 1980; 1981) und in eine Universalgrammatik (UG), die auf dem Prinzip der Modularität beruhen, d. h. der Einsicht, dass das Sprachsystem aus substantiell, strukturell und funktional eigenständigen Komponenten (Modulen) besteht, die bei der Bildung und Interpretation
III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem
sprachlicher Ausdrücke zusammenwirken, dass es — neben dem Sprachsystem — andere kognitive Systeme mit spezifischen Eigenschaften gibt, die wieder aus getrennten, aber zusammenwirkenden Komponenten zusammengesetzt sind und mit der Grammatik zusammenwirken. Es bleibt folglich bei der Trennung von Syntax und Semantik; die wesentliche Rolle der Semantik (und anderer Module, z. B. des konzeptuellen Systems) hebt die (relative) Autonomie der Syntax nicht auf und führt auch nicht zu einer semantischen Erklärung der Syntax. Vielmehr nimmt Chomsky - außer Regeln und Repräsentationen - jetzt ein zusätzliches System von Prinzipien (Rektion, Bindung, thematische Relation, Kontrolle u. a.) an, die zu den generellen Eigenschaften einer UG gehören. Das Ziel ist es, generelle Eigenschaften von Sprachen zu postulieren, mit denen zugleich psychische Gesetzmäßigkeiten bei mentalen Prozessen (des Spracherwerbs und der Sprachentwicklung) korrelieren. Auf der Basis einer solchen UG sollen durch spezifische Parametrisierungen einzelsprachliche Regeln und Beschränkungen gewonnen werden. 3.4.4. Diese verschiedenen Versionen der GG lassen erkennen, daß ihr (von Anfang an) zwei Seiten und Ziele eigen sind (die nicht unabhängig voneinander sind): Auf der einen Seite ist sie ein Versuch, mit einem subtilen formalen Beschreibungsapparat Einzelsprachen zu beschreiben, auf der anderen Seite entwickelte sie den konzeptuellen und philosophischen Hintergrund einer Theorie über die mentale Repräsentation der Sprache und deren Erwerb (vgl. Fanselow/Felix 1987, 7ff.). Beide Seiten sind jedoch in den einzelnen Versionen unterschiedlich stark akzentuiert: Am Anfang stand eher der Beschreibungsapparat im Vordergrund, später dann der konzeptuelle Hintergrund und die UG. Die Entwicklung führte von der „distributionalistischen" über die „vermittelnde" (Grammatik als Vermittlung von Laut und Bedeutung) zur „psychologischen" Hypothese (vgl. Huck/Goldsmith 1995). Entsprechend war auch die Wirkung auf den Fremdsprachenunterricht recht unterschiedlich (je nachdem, ob man eher adäquate Beschreibungen von Einzelsprachen oder allgemeine Einsichten über den Spracherwerb erwartete). 3.5. Abhängigkeitsgrammatik und Valenztheorie Die Abhängigkeitsgrammatik (Dependenzgrammatik) wurde bekannt vor allem durch
14. Arten und Typen von Grammatiken
Tesnière (1959) und versteht sich als strukturelle Syntax, die hinter der (eindimensionalen) linearen Redekette die (mehrdimensionale) hierarchische strukturelle Ordnung sichtbar machen will. Diese tiefere strukturelle Ordnung (die absieht von Wortstellung und von morphologischen Markierungen) beruht auf Konnexionen, d. h. auf Abhängigkeitsbeziehungen zwischen einem regierenden und mindestens einem regierten Glied, die jeweils in Abhängkeitsstammbäumen mit verschieden vielen Gabelungen repräsentiert werden. Dabei regiert das Verb — als Knoten aller Knoten, als strukturelles Zentrum — den gesamten Satz (im Unterschied zur binären Subjekt-Prädikat-Struktur sowohl in der traditionellen Grammatik als auch in der Konstituentenstrukturgrammatik): Es steht an der Spitze der Konnexionen im Stammbaum. Vom Verb unmittelbar abhängig sind die zahlenmäßig begrenzten „actants" (die Handelnden) und die zahlenmäßig unbegrenzten „circonstants" (die die Umstände der Handlung angeben). Die Abhängigkeitsgrammatik beschränkt sich nicht auf die Beziehungen der Konnexion, sondern umfasst auch solche der „Junktion" (die der Koordination dienen) und solche der „Translation" (für die Überführung eines Wortes in die Position einer anderen Wortklasse). Am stärksten verbreitet hat sich jedoch die (Teil-) Theorie, die sich mit den Konnexionen befasst, und innerhalb dieser wieder mit jenen abhängigen Gliedern, die als „actants" angesehen werden. Tesnière vergleicht die Fähigkeit eines Verbs, eine bestimmte Zahl von „actants" zu sich zu nehmen, mit der Wertigkeit eines Atoms (in der Chemie) und nennt sie „Valenz"; entsprechend hat er (im Französischen) null-, ein-, zwei- und dreiwertige Verben unterschieden. Daraus entwickelte sich die Valenztheorie, ursprünglich als Teil der Abhängigkeitsgrammatik entstanden und auf syntaktische Konnexionen ausgerichtet, sehr bald aber über diesen Ausgangspunkt hinausreichend. Der als Metapher aus der Chemie in die Sprachwissenschaft übertragene Begriff der Valenz wurde — im weiteren Sinne — verstanden als die Fähigkeit von sprachlichen Ausdrücken (vor allem von Verben, aber bald auch von weiteren Wortklassen), um sich herum bestimmte Leerstellen zu eröffnen, die zahlenmäßig festgelegt und obligatorisch oder fakultativ zu besetzen sind. So verlangt ζ. B. im Deutschen ein Verb wie besuchen zwei obligatorische Aktanten (Ergänzungen) (*Er be-
183 sucht.), ein Verb wie angewöhnen drei obligatorische Aktanten (*Er gewöhnt das Trinken an.), ein Verb wie essen einen obligatorischen und einen fakultativen Aktanten {Er ißt (Brot).). Die Ergänzungen sind nicht nur quantitativ (nach der Zahl), sondern auch qualitativ — und zwar sowohl syntaktisch nach Satzgliedschaft und morphologischer Realisierung als auch semantisch nach inhärenten Merkmalen — festlegbar. Deshalb entstanden Valenzwörterbücher zu Verben, Adjetiven und Substantiven, es entwickelte sich — nicht nur für das Deutsche - eine reichhaltige Valenzlexikographie (vgl. Art. 17). Der Valenzbegriff erweiterte sich dabei nicht nur vom Verb auf andere Wortklassen, sondern auch von der syntaktischen auf die semantische und schließlich sogar auf die pragmatische Ebene: Es wird von „syntaktischer Valenz", von „semantischer Valenz" (vor allem im Hinblick auf die Verbindung mit der Kasustheorie; vgl. 3.6.) und von „pragmatischer Valenz" (vor allem auf Grund einer Einbindung in „Szenen" und „Perspektiven") gesprochen, ohne dass über die Beziehungen zwischen diesen Ebenen, den Nutzen einer solchen Erweiterung des Valenzbegriffs und die Kriterien für die fundamentale Unterscheidung zwischen Ergänzungen („actants") und freien Angaben („circonstants") - auf den verschiedenen Ebenen - völlige Einhelligkeit besteht. Die Erweiterungsfahigkeit des Valenzkonzepts ist jedoch ein Indiz für dessen Attraktivität (auch für den Fremdsprachenunterricht), zu dem auch psycholinguistische Untersuchungen beigetragen haben (die auf eine Art psychologischer Realität als Korrelat hinzuweisen scheinen). 3.6. Generative Semantik und Kasustheorie Die generative Semantik (Lakoff, McCawley, Ross) entstand Ende der 60er Jahre aus der GG (vgl. 3.4.), aber zugleich als Alternative zu deren Standardtheorie. Ausgangspunkt war der Chomskysche Begriff der syntaktischen Tiefenstruktur, der als kohärente Strukturebene abgelehnt wird, da er für die semantische Interpretation nicht ausreicht. Daraus resultierte ein Umbau des gesamten Systems, bei dem die Semantik nicht mehr interpretativ, sondern generativ ist. Es entstand die Kontroverse zwischen interpretativer und generativer Semantik. In der generativen Semantik wird die strikte Trennung zwischen Semantik und Syntax aufgehoben; statt dessen werden die semantischen Strukturen erzeugt mit Hilfe einer der Prädikatenlogik an-
184
III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem
gelehnten Art (einer „natürlichen Logik") und dann (ohne vermittelnde Ebene einer „Tiefenstruktur") in die Oberflächenstruktur überführt. Der Darstellung der semantischen Struktur liegt die Auffassung zugrunde, dass nur drei Kategorien nötig sind, dass die Proposition (= Satz) aus einem (semantischen) Prädikat (in der Regel: Verb) und einem oder mehreren Argumenten (in der Regel: Nominalphrasen) besteht, die wiederum eine Proposition in sich enthalten können. Entsprechend stellen sich auch lexikalische Einheiten als strukturierte und hierarchische Komplexe von solchen Prädikaten dar, ζ. B. ,geben" Präd., [CAUS]
Arg. a
Arg. Präd. 2
[INCHO]
Arg. Präd.3 Arg. [HAB]
b
Arg. c
Abb. 14.2
Dabei sind a, b und c Variable, [CAUS], [INCHO] und [HAB] Termini für solche Elementarprädikate („abstrakte Verben"). Entsprechend ließe sich die Bedeutung von geben etwa verbalisieren: a veranlasst eine Veränderung, die zum Beginn eines neuen Zustande führt, in dem ein b ein c hat. Ausgangspunkt für die vor allem von Fillmore (1968; 1971) begründete Kasustheorie war ebenfalls die Einsicht, dass die in der Standardtheorie der GG angenommene syntaktische Tiefenstruktur (mit den grammatischen Relationen) für die semantische Interpretation nicht ausreicht. Statt dessen setzte er für die Tiefenstruktur noch „tiefere" Begriffe an, die als „semantische Kasus" oder „Tiefenkasus" bezeichnet werden (zunächst: Agentiv, Instrumental, Dativ (= Experience^, Faktitiv (= Resultativ), Lokativ, Objektiv), die nicht verwechselt werden dürfen mit den herkömmlichen Oberflächenkasus (Nominativ, Genitiv u. a.). Vielmehr sind diese Oberflächenkasus nur morphologische Realisierungen dieser Tiefenkasus und neutralisieren ζ. T. auch die semantischen Kasusrelationen. Auf diese Weise wird den „Subjekt-Objekt-Grammatiken" eine Kasusgrammatik gegenübergestellt, die neben der Modalitäts-
komponente eine Proposition enthält, die sich ihrerseits zusammensetzt aus einem Verb und einer bestimmten Zahl und Art von Tiefenkasus, die in regulärer Weise miteinander verbunden sind und den entsprechenden „Satz"- oder „Kasusrahmen" bilden. Damit werden auf semantischer Ebene ähnliche Beziehungen erfasst, wie sie die - von ganz anderen Positionen (der Abhängigkeitsgrammatik) ausgehende - Valenztheorie auf syntaktischer Ebene zu beschreiben versucht (vgl. 3.5.). Es entstand eine (fruchtbare) Liaison von Valenz- und Kasustheorie: Was „semantische Valenz" genannt wird, wird zunehmend in der Terminologie der Kasustheorie beschrieben (die Aktanten des Valenzträgers werden klassifiziert ζ. B. als Agens, Instrumental, Lokativ (vgl. Heibig 1992b, 17 ff.). Allerdings gibt es heute nicht die Kasustheorie (ebensowenig wie die Valenztheorie), sondern recht unterschiedliche Kasustheorie« (und Valenztheorie«). Sie unterscheiden sich nicht nur in divergierenden Vorstellungen über die Zahl der semantischen Kasus (ihre Liste ist fortwährend modifiziert worden) und den verwendeten Abgrenzungskriterien, sondern vor allem auch hinsichtlich des Status dieser Tiefenkasus. Manche setzen sie relativ oberflächennahe, andere sehr oberflächenfern (ζ. T. ontologisch oder universal) an. Fillmore selbst (1977) hat sein ursprüngliches (eher ontologisch ausgerichtetes) Konzept inzwischen modifiziert und eine Zuordnung der Kasus zu (situativen) „Szenen" und unterschiedlichen „Perspektiven" auf sie vorgenommen (da außersprachliche Sachverhalte immer nur durch sprachliche Perspektivierung gebrochen ausgedrückt werden können). Damit verbunden waren Versuche, die semantischen Kasus „pragmatisch" einzubinden und zu erklären. Schon vorher — durch die Auffassung der Kasus als Relationen und Funktionen (von Argumenten) - war das (theoretische) Problem entstanden, welchen Erklärungswert die Kasus als Zwischeninstanzen im Vermittlungsprozess zwischen Syntax (Aktanten und Satzgliedern) und Semantik (Argumenten) haben. Ihre (praktische) Bedeutung ζ. B. für Lexikographie, Grammatikographie und Fremdsprachenunterricht dürfte indes unbestritten sein. 3.7. Funktionale und pragmatische Grammatik Von
n funktionalen"
Grammatiken
ist oft in
Abgrenzung von „formalen" oder „strukturellen" Grammatiken die Rede. Aber hinter
185
14. Arten und Typen von Grammatiken
diesem Stichwort verbergen sich recht unterschiedliche Sachverhalte und Richtungen bei der Mehrdeutigkeit des Funktionsbegriffes (vgl. Heibig 1968) gewiss nicht verwunderlich - : a) eine Richtung, die - im Gegensatz zur GG - vom Primat der funktionalen über die kategorialen Begriffe ausgeht, dabei auch gegebenenfalls nach den verschiedenen Ebenen differenziert - in syntaktische Funktionen (Subjekt, Objekt u. a.), semantische Funktionen (Agens, Goal u. a.) und pragmatische Funktionen (Thema-Rhema, TopikFokus u.a.) (vgl. Dik 1978; 1987, 37ff.); b) eine Richtung, die Beschreibungen anstrebt, die nicht nur grammatisch adäquat sein, sondern auch der psychologischen Realität (und damit auch dem Spracherwerb) weitgehend entsprechen sollen, manchmal auch als „realistische Grammatik" bezeichnet; c) mehrere Richtungen, die Formen und Bedeutungen sprachlicher Mittel unter dem Gesichtspunkt ihrer Intention, ihrer kommunikativen Leistung (= Funktion) erfassen wollen. Umstritten sind besonders b) und c). Der Forderung nach „psychologischer Realität" der Grammatik bei b) widersprechen andere Autoren und halten dies für einen „psycholinguistischen Trugschluss", weil auf diese Weise ungerechtfertigt „linguistische Grammatiken" (als Produktgrammatiken) und „psycholinguistische Grammatiken" (als Prozessgrammatiken) gleichgesetzt werden. Grammatiken vom Typ c) werden unter verschiedenen Stichwörtern vorgelegt: funktionale, kommunikative oder pragmatische Grammatik. In der ehemaligen DDR (vor allem: in Potsdam) ζ. B. wurde eine „funktionale Grammatik" entwickelt, bei der unter „Funktion" anfangs die inhaltliche Seite des sprachlichen Zeichens (= Bedeutung) (vgl. Schmidt 1965, 23 ff.), später eher der intendierte Kommunikationseffekt (als Wirkung oder Leistung, also sprachextern) verstanden wurde (vgl. Schmitt 1969). Damit ist ein erstes Problem angedeutet (vgl. Heibig 1986a, 169 ff.), das aus einem wenig eindeutigen Funktionsbegriff resultiert: Es handelt sich teils um einen Ausgangspunkt in der sprachinternen Bedeutung (in der Weise, dass etwa formale Mittel zum Ausdruck einer gemeinsamen Bedeutung - ζ. B. des Grundes, der Zeit (als „Felder") - zusammengestellt werden), teils aber um einen Ausgangspunkt bei der kommunikativen Intention bzw. der erreichten Wirkung (ζ. B. überzeugen, aktivie-
ren). Im zuletzt genannten Falle werden in-
nersprachliche Gegebenheiten (der Laut-Bedeutungs-Zuordnung) in Beziehung gesetzt zu und abgeleitet aus kommunikativ-pragmatischen Faktoren (kann von „pragmatischer Grammatik" gesprochen werden). Über die Legitimität einer solchen „pragmatischen Grammatik" gibt es sehr kontroverse Auffassungen: Die Befürworter halten sie für notwendig auf Grund der kommunikativ-pragmatischen Orientierung der Linguistik generell (seit etwa 1970), ihre Gegner halten sie für ungerechtfertigt, weil diese Orientierung nicht notwendig zu einem neuen Typ von Grammatik führen müsse, die kommunikativen Faktoren zwar ihre Projektionen in der Grammatik haben, die Grammatik selbst aber Grammatik bleibe. Auf jeden Fall wird dabei die Grenze dessen, was Grammatik auch im weiteren Sinne (vgl. 1.2.) - umfasst, überschritten; die Intentionen sind Basis für andere Teiltheorien (vor allem: der Sprechakttheorie) geworden. Und grammatische Eigenschaften und Intentionen/Sprechhandlungen decken sich durchaus nicht immer (ζ. B. führen Fragehandlungen nicht notwendig zu Fragesätzen, Aufforderungen können auch vollzogen werden durch Aussage- und Fragesätze - vgl. Wunderlich 1978, 181 ff.).
4.
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Gerhard Heibig, Leipzig
(Deutschland)
187
15. Linguistische und didaktische Grammatik
15. Linguistische und didaktische Grammatik 1. 2. 3. 4. 5.
Definition Historische Entwicklung Linguistische Grammatik Didaktische Grammatik Literatur in Auswahl
1.
Definition
Unter der Vielzahl der Bedeutungen, die dem Terminus Grammatik verliehen werden, wird hier die Beschreibung jener Regeln verstanden, deren Kenntnis einerseits den Sprecher/ Schreiber in die Lage versetzen, morphologisch und syntaktisch korrekte sowie seinen kommunikativen Intentionen entsprechende und angemessene Wörter, Sätze und Texte zu bilden (a) wie andererseits solche Wörter, Sätze und Texte zu verstehen (b). Typ (a) verweist auf Produktionsgrammatiken, Typ (b) auf Rezeptionsgrammatiken (Verstehensgrammatiken). Der Gegenstandsbereich einer Grammatik umfasst eine oder mehrere natürliche Sprachen (Deutsch, Englisch usw.) in ihrem heutigen Zustand (synchronische Beschreibung) bzw. in ihrer historischen Entwicklung (diachronische Beschreibung), oder es handelt sich um eine Grammatik für künstliche Sprachen (ζ. B. Logiksprachen)·, die Beschreibungsmethode einer Grammatik ist unterschiedlich und richtet sich nach (a) Beschreibungsziel, (b) Adressaten, (c) Grad der Explizitheit sowie (d) dem Erkenntnisinteresse. Im Allgemeinen werden die folgenden Grammatiktypen unterschieden (Kiefer 1995): — Theoretische (linguistische) Grammatik — Deskriptive (beschreibende) Grammatik — Normative Grammatik — Didaktische Grammatik. 2.
Historische Entwicklung
Grimm verweist darauf, dass Grammatik seit dem frühen Mittelalter - im Rückgriff auf die Antike - als erstes Fach des Triviums neben Rhetorik und Dialektik sowie dem mathematischen Quadrivium mit den Fächern Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie verstanden und als Historische Grammatik interpretiert wurde: „auf grand antiker tradition das ganze christliche mittelalter hindurch als terminus technicus für die erste und grundlegende der septem artes liberales,
für jene disziplin und jenes Unterrichtsfach an kloster- und domschulen sowie an der artistenfakultät der Universitäten, die es mit der spräche im allgemeinen sinne und ihrer erlernung zu tun haben, die speziellere bedeutung des wortes,... die einer spräche zugrundeliegende struktur, die summe und das system der sich in ihr ausdrückenden und auswirkenden regeln, gesetze und Ordnungsprinzipien; ebenso deren kenntnis und anwendung ... einschlieszend, aber nicht auf sie eingeengt, des weiteren auch lektüre und interpretation antiker autoren umfassend." (Grimm 1958, 1799f.)
Bis in die frühe Neuzeit also wurde Grammatik als historische Grammatik begriffen; nur naheliegend war es daher, grammatische Beschreibungen am historischen Vorbild des Griechischen und des Latein auszurichten, so Ickelsamer mit seiner teiitsche grammatica (vor 1537) oder Brückners teutsche grammatic (1620) (vgl. Grimm 1958, 1803). Als Idealfall einer Historischen Grammatik des Deutschen gilt Jacob Grimms deutsche Grammatik (1819); doch schon frühzeitig trat neben dieses Verständnis von Grammatik jenes der Sprachlehre für die Schulen, also Grammatik als Sprachlehrbuch (Paul 1992, 368), so bei Emsers annotationes (1535) und Ölingers erster Grammatik der deutschen Sprache für ausländische Lernende (Reich 1972). Ein drittes Verständnis von Grammatik hat Noam Chomsky begründet. Für ihn ist Grammatik die „Kenntnis eines kompetenten Sprechers von seiner Sprache" (Chomsky 1969, 40). Chomsky argumentiert, dass der Terminus Grammatik systematisch mehrdeutig verwendet würde: Einmal werde darunter die im Sprecher intern repräsentierte Theorie seiner Sprache verstanden, zum Anderen sei damit der linguistische Zugang zu diesem Phänomen bezeichnet. Diese Mehrdeutigkeit des Terminus Grammatik führte in der Nachfolge Chomskys zu einer Vielzahl von attributiven Erklärungen oder „Bindestrich-Grammatiken", um deutlich zu machen, worum es sich im Einzelfall handelte (generative Grammatik, strukturelle Grammatik, lehrwerkunabhängige Grammatik, normativ-präskriptive Grammatik, deskriptive Grammatik, Gebrauchs-Grammatik, Referenz-Grammatik, Selbstlern-Grammatik, Produkt-Grammatik usw.). Auch die Unterscheidung zwischen einer linguistischen und einer didaktischen Grammatik hat hier ihre Ursache.
188 3.
III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem
Linguistische G r a m m a t i k
Seit Chomskys kategorieller Unterscheidung wird unter einer linguistischen (oder auch wissenschaftlichen) Grammatik eine Darstellung einer natürlichen Sprache verstanden, die durch die folgenden Kriterien gekennzeichnet ist: - Sie ist vollständig, d. h., sie stellt die Gesamtheit aller Regeln oder die Morphologie und Syntax - den Kernbereich jeglicher Grammatik - einer Sprache in ihrem aktuellen Zustand dar. - Sie ist deskriptiv, also beschreibend, und somit nicht normativ. In ihrer Beschreibung erfasst sie standardsprachliche wie auch sozio- und regiolektale Varietäten. - Sie ist widerspruchsfrei. - Sie basiert auf einer linguistischen Theorie wie ζ. B. der Generativen Transformationsgrammatik (Standard- oder AspekteVersion). Stützt sich die Darstellung in Teilbereichen auf unterschiedliche linguistische Theorien, so müssen diese miteinander kompatibel sein und in ihren Zusammenhängen erklärt werden. Eine linguistische Grammatik kann die Bereiche Phonologie sowie Semantik und Pragmatik gleichfalls darstellen; sie kann weiterhin die Grenze des isolierten Einzelsatzes - und damit die Wortarten- und Satzgrammatik - transzendieren und die Ebene des Textes in ihre Beschreibung einbeziehen. Im Extremfall kann sie von der Textebene ausgehen und Satz, Wort und Laut inkorporieren. Andererseits gibt es auch linguistische Darstellungen von grammatischen Teilbereichen: Generative Phonologie, Generative Syntax, Dependenzsyntax u. a. - Eine linguistische Grammatik dient dem Diskurs zwischen Fachwissenschaftlern und zielt darauf ab, den linguistischen Erkenntnisstand zu verbessern; weiter gehende Interessen wie Sprachenlehren oder -lernen sind ihr fremd. In der Wirklichkeit werden diese Kriterien freilich nur teilweise erfüllt. Auch die von linguistischer Seite häufig als unverzichtbar und geradezu konstitutiv bezeichnete Unterscheidung von (1) „linguistisch-deskriptiv" sowie (2) „normativ-präskriptiv", wobei nur Variante (1) dem Anspruch einer linguistischen Grammatik genüge, ist in Wahrheit nicht in voller Rigidität zu gewährleisten. So fließen auch in linguistische Grammatiken im Rah-
men der Regelbeschreibung normative Festlegungen ein, womöglich gar Empfehlungen für den guten Sprachgebrauch. Im Sinne dieser toleranteren Definition einer linguistischen Grammatik der deutschen Gegenwartssprache lassen sich die folgenden Grammatiken diesem Typ zuordnen: Bierwisch, Manfred: Grammatik des deutschen Verbs. Berlin 91983. Eisenberg, Peter: Grundriß der deutschen Grammatik. Stuttgart 31994. Engel, Ulrich: Deutsche Grammatik. Heidelberg 1998. Erben, Johannes: Deutsche Grammatik. Ein Abriß. München ,2 1980. Götze, Lutz/Hess-Lüttich, Ernest W. B.: Grammatik der deutschen Sprache. Sprachsystem und Sprachgebrauch. Gütersloh 1999. Grundzüge einer deutschen Grammatik. Von einem Autorenkollektiv unter Leitung von KarlErich Heidolph u. a. Berlin 21984. Heibig, Gerhard/Buscha, Joachim: Deutsche Grammatik — Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. Leipzig/Berlin/München 171996. Heringer, Hans-Jürgen: Theorie der deutschen Syntax. München 31973. Weinrich, Harald: Textgrammatik der deutschen Sprache. Mannheim u. a. 1993.
4.
Didaktische Grammatik
Der pointierte Topos Chomskys vom idealen SprecherlHörer und die Unterscheidung von Kompetenz bzw. Performanz führte in der Konsequenz zur Entwicklung einer linguistischen Pragmatik (Searle 1969; Wunderlich 1972), einer Generativen Semantik (Lakoff 1970) sowie - in der Sprachlehr- und -lernforschung - zur Diskussion um eine „didaktische Grammatik" (Bausch 1979). Ganz allgemein bezieht sich dieser Terminus auf eine Sprachbeschreibung, die ihr vorrangiges Ziel im Lehren und Lernen der jeweiligen Sprache bzw. Sprachen sieht. Sie ist damit Teil der Angewandten Linguistik und ein Beitrag zum Verhältnis von Linguistik und Sprachunterricht schlechthin. Implizit wird die traditionelle Schulgrammatik aufgegriffen und im dreifachen Sinne Hegels aufgehoben. Freilich ist der Terminus Didaktische Grammatik zu unspezifisch; sein Begriffsinhalt braucht eine genauere Beschreibung, um in der Praxis handhabbar zu sein. 4.1. Kriterien einer didaktischen Grammatik - Eine didaktische Grammatiken ist eine Beschreibung für das Lehren und Lernen einer Sprache oder mehrerer Sprachen.
15. Linguistische und didaktische Grammatik
- Es gibt didaktische Grammatiken für den Unterricht in der Erstsprache (Muttersprachenunterricht) sowie den Unterricht/ Erwerb in der Fremdsprache/Zweitsprache. - Didaktische Grammatiken für den Fremdsprachenunterricht und damit mutatis mutandis auch für Deutsch als Fremdsprache sollen aus einer umfassenden Beschreibung der deutschen Gegenwartssprache in ihrer geschriebenen und gesprochenen Variante die hochfrequenten, für die Kommunikation wichtigen und für den Lernenden schwierigen Strukturen auswählen und darstellen. - Sie sollen unterschieden werden in Didaktische Grammatiken für Lehrende und solche für Lernende. Erstere sollen Problem-/ Prozessgrammatiken sein, letztere Resultatsgrammatiken. - Sie sollen unterschiedliche theoretische Ansätze linguistischer Grammatiken aufgreifen und diese selektiv verknüpfen, aber nicht eklektizistisch oder widersprüchlich sein. - Sie sollen mehr beschreiben, als es eine Grammatik für Muttersprachler tut, und sind damit vollständiger und expliziter als eine didaktische Grammatik für den Erstsprachenunterricht, weil sie auch die Phänome erklären müssen, die beim Muttersprachler als bekannt vorausgesetzt werden können. - Sie sollen Prozesse und Sequenzen des ungesteuerten Spracherwerbs und daraus ableitbare Lerngrammatiken (Interimsgrammatiken) in ihre Beschreibung aufnehmen sowie neuro-psychologische Erkenntnisse des Spracherwerbs berücksichtigen. - Sie sollen einem erweiterten GrammatikbegrifF verpflichtet sein, also die Bereiche Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik und Pragmatik beinhalten. - Sie sollen im Bedarfsfall zweisprachig konzipiert sein, also den Sprachkontrast zwischen Ausgangs- und Zielsprache und sich daraus ergebende Interferenzen und Lernschwierigkeiten berücksichtigen. - Sie sollen ihre Regelfindung induktiv-empirisch, also nicht deduktiv-theoretisch, organisieren: ausgehend vom Text und vertieft durch Übungen. - Sie sollen ihre Metasprache (Beschreibungssprache) dem Kenntnisstand ihrer Benutzer anpassen und deshalb notwendige Vereinfachungen enthalten. Grundsätzlich ist die lateinische Terminologie
189 (vgl. 4.7.) zu empfehlen (Götze 1995, 235; 1996, 141). - Didaktische Grammatiken haben dienende Funktion und sind also Mittel zum Erreichen kommunikativer Fähigkeiten und Fertigkeiten. Sie sind kein Lernziel des Fremdsprachenunterrichts. Wesentlich für didaktische Grammatiken sind damit die folgenden Faktoren: - Welcher Zweck soll erreicht werden? (Produktion oder Rezeption von Sätzen/Texten, einzelne Fertigkeiten u. a.) - Für welche Zielgruppe wird die Grammatik geschrieben? (Lehrbuchautoren, Lehrende, Lernende mit geringen oder fortgeschrittenen Kenntnissen?) - Sind Rückgriffe auf ungesteuerte Zweitspracherwerbsprozesse (Lernergrammatiken) möglich? - Welche Kenntnisse aus dem Erstspracherwerb können für den Fremdsprachenunterricht vorausgesetzt oder genutzt werden? 4.2. Schwerpunkte und Differenzierungen Eine Differenzierung didaktischer Grammatiken schlägt Zimmermann (1979) vor. Er unterscheidet zwischen (a) einer lehrbuchunabhängigen Lehrergrammatik, (b) einer lehrwerkbezogenen Lehrergrammatik, (c) einer lehrwerkunabhängigen Nachschlagegrammatik für den Lerner sowie (d) einer lehrwerkbezogenen Lerngrammatik. Typ (a) sei eine didaktisch orientierte Beschreibung der Gegenwartssprache für Lehrende und Autoren von Lehrmaterial, Typ (b) ein Lehrerhandbuch mit Hinweisen für die Behandlung der Grammatik eines bestimmten Lehrwerks im Unterricht, Typ (c) ein Nachschlagewerk mit grammatischen Erläuterungen für den Lernenden, unabhängig von einem bestimmten Lehrwerk und Typ (d) eine auf ein bestimmtes Lehrwerk bezogene Grammatik für den Lernenden, also für eine definierte Zielgruppe. Deutlich wird bereits hier, dass es nicht die eine didaktische Grammatik gibt, sondern höchst unterschiedliche Ausprägungen entsprechend der Zielsetzung, den Adressaten sowie der Funktion von Grammatik im Sprachlehrund -lernprozess überhaupt. Die weitere Diskussion kreiste im Wesentlichen um folgende Punkte: das Verhältnis von Linguistik und Fremdsprachenunterricht als Sonderfall der Angewandten Linguistik, sodann die Frage nach den Kriterien für eine Auswahl grammatischer Inhalte für den
190 Lernprozess und schließlich die Frage grammatischen Wissens im Lernprozess überhaupt, um deren Klärung sich insbesondere die Lernpsychologie und die Kognitionspsychologie bemühen (vgl. Edelmann 1994). Einen Überblick über die Konzeption didaktischer Grammatiken geben Gnutzmann/Königs (1995, 15). 4.3. Darstellungsformen didaktischer Grammatiken Wenn von Seiten der Vertreter linguistischer Grammatiken (Kiefer 1995) die Behauptung aufgestellt wird, didaktische Grammatiken seien per se normativ, weil sie notwendigerweise die Norm der Mutter- bzw. Zielsprache - das Ziel/Resultat des Erwerbs der Erstoder Zweitsprache - darstellten, so ist das nur teilweise richtig. Neben solchen Grammatiken (Resultatsgrammatiken) gibt es auch andere, die den Erwerbsprozess des Lernenden und dessen Regelhaftigkeit wie Variabilität zumindest ansatzweise beschreiben, also intralinguale Prozesse wie Übergeneralisierung, Simplifizierung oder Vermeidungsstrategien (Problem-/Prozessgrammatiken). Solche Erwerbsstrategien können eine wichtige didaktische Hilfe für den schulisch gesteuerten Lernprozess sein. Daneben gibt es weitere Faktoren, die den je unterschiedlichen Charakter einer didaktischen Grammatik bestimmen: Ist es eine Grammatik für die Produktion oder für die Rezeption (Verstehen) von Sätzen oder Texten - Neuner (1995, 147) spricht von Mitteilungs- bzw. Verstehensgrammatik - , ist es weiterhin eine Grammatik für Lehrende oder Lernende bzw. eine Grammatik für den Muttersprach- oder Fremdsprachenunterricht? Entsprechend differenziert Götze (1995, 234): Resultatsgrammatik vs. Prozessgrammatik Produktionsgrammatik vs. Identifikationsgrammatik Lehrergrammatik vs. Lernergrammatik Grammatik für den Muttersprach- vs. Fremdsprachenunterricht. Eine andere Unterscheidung nehmen Kleineidam/Raupach (1995, 298f.) vor. Sie differenzieren nach folgenden Gesichtspunkten: Eigenschaften der Adressaten und angenommenen Bedürfnisse (a), Funktionen im Sprachlehr- und -lernprozess (b), angestrebte Fähigkeiten (c) und Darstellungssystematik (d). Im Bereich (a) unterscheiden sie Basis-IElementar-/ Grund-/Mindestgrammatiken einerseits und Grammatiken für Fortgeschrittene ande-
III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem
rerseits sowie (unter Berücksichtigung des institutionellen Rahmens) Schulgrammatiken, Universitätsgrammatiken und Grammatiken für die Erwachsenenbildung, wobei zumindest die zuletzt gemachte Unterscheidung fragwürdig bleibt. In Bezug auf die Funktionen im Sprachlehr- und -lernprozess (b) differenzieren sie zwischen einer systematischen Grammatik und einer progressionsbezogenen grammatischen Beschreibung. Erstere ist nicht lehrwerkbezogen und hat den Charakter einer Referenzgrammatik, Nachschlagegrammatik bzw. einer Lerngrammatik. Sie enthalte im Regelfall eine umfassende Gegenstandsbeschreibung (Gesamtgrammatik); es sind jedoch auch auf grammatische Teilbereiche spezialisierte Schwerpunkt- oder Selbstlerngrammatiken möglich. Zum Typ progressionsbezogene Sprachbeschreibung rechnen die Autoren grammatische Beihefte, abhängig von der Progression im entsprechenden Lehrwerk. Im Bereich der angestrebten Fähigkeiten (c) werden produktions-, rezeptions- und analyseorientierte Grammatiken unterschieden; eine nach Kleineidams/Raupachs Auffassungen freilich eher theoretische Unterscheidung, denn die Praxis sei im Regelfall durch eine „die verschiedenen Fertigkeiten integrierende , Mehrzweckgrammatik' " (Kleineidam/Raupach 1995, 299) gekennzeichnet. Bei der Darstellungssystematik (d) unterscheiden Kleineidam/Raupach zwischen Wortartengrammatiken, Satzgrammatiken, Textgrammatiken und kommunikativen Grammatiken und konstatieren, die Mehrzahl der Grammatiken für den Fremdsprachenunterricht seien solche der Wortarten- und Satzgrammatiken, bezögen also die Textebene und den Erwerb kommunikativer Fähigkeiten nicht ein. Für Grammatiken neueren Typs (Häussermann 1989 u. a.) trifft diese Bemerkung nicht zu. In mehreren Beiträgen hat Gerhard Heibig (1979; 1991; 1993; 1995) sein Verständnis von didaktischer Grammatik definiert und daraufhingewiesen, dass das Handbuch für den Ausländerunterricht (Helbig/Buscha) nicht konzipiert sei „als didaktische Grammatik in dem Sinne, daß es als unmittelbares Lehrmaterial (didaktisch-methodisch aufbereitet) dem Unterricht zugrunde gelegt und dem Schüler präsentiert werden sollte. ... Das Handbuch ist weder unterrichtsintegriert und kursdeterminiert (wie auf Stoffprogression beruhende Lehrbücher im engeren Sinne) noch unterrichtsbegleitend und kursorientiert (wie systematische Lehrbücher), sondern Unterrichts- und kursunab-
15. Linguistische und didaktische Grammatik hängig. Es entspricht somit weitgehend dem Typ, der manchmal als Referenz-Grammatik bezeichnet wird. ... Wenn man unter einer didaktischen Grammatik direktes, d. h. unterrichtsintegriertes und kursdeterminiertes Lehrmaterial versteht und von der Alternative linguistische vs. didaktische Grammatik (als Endpolen einer Skala) ausgeht, handelt es sich beim Grammatik-Handbuch um eine linguistische, nicht um eine didaktische Grammatik, da sie von Ordnungsprinzipien des Sprachsystems und nicht von solchen des Lehr- und Lernprozesses her konzipiert ist. Wie jede linguistische Grammatik, so bedarf auch sie einer Umsetzung (Adaption) in verschiedene didaktische Grammatiken (direkte Lehrmaterialien), — einer Umsetzung, die bedingt ist durch zahlreiche Faktoren des konkreten Bedingungsgefüges, einer „Faktorenkomplexion", die zumindest solche Determinanten enthält wie die im Unterricht angestrebten Ziele und Zielfähigkeiten (ζ. B. Sprechen, (verstehendes) Lesen, Übersetzen), lerntheoretische Vorstellungen (etwa die Alternative kognitive vs. habituelle Lerntheorie), Lernalter, Lernstufe, Kursart und Stand der technischen Hilfsmittel. Diese Faktoren sind nicht (primär) Gegenstand der Linguistik, sondern anderer Grundlagenwissenschaften für den Fremdsprachenunterricht (ζ. B. Psychologie, Theorie des Spracherwerbs, Didaktik, Methodik)" (Heibig 1995,16). Es handelt sich daher beim Handbuch für den Ausländerunterricht in der Tat um eine linguistische Grammatik, obwohl sie einen klaren Adressatenbezug (für den Ausländerunterricht) hat: Sie folgt der Wortarten- und Satzklassifikation des Sprachsystems, bietet eine vollständige explizite Darstellung der Gegenwartssprache und ist im Syntaxteil einer Theorie - der Valenztheorie - verpflichtet; sie bietet kaum didaktische Erklärungen und ist unabhängig von Sprachkursen und Lehrwerken zu benutzen. 4.4. Typen didaktischer Grammatiken Folgende Typen didaktischer Grammatiken für den Fremdsprachenunterricht werden hier unterschieden: - Lehrwerkbezogene Grammatik für Lehrer und Lernende Beispiel: Ulrich Häussermann/Jürgen Kars: Grundgrammatik Deutsch. Frankfurt 1989. Bernd Latour: Mittelstufen-Grammatik für Deutsch als Fremdsprache. Ismaning 1988. - Lehrwerkunabhängige Lernergrammatik Beispiel: Lorenz Nieder: Lernergrammatik für Deutsch als Fremdsprache. Ismaning 1987. Roland Schäpers/Renate Luscher: Deutsch 2000. Ismaning 1974. Wolfgang Rug/Andreas Tomaszewski: Grammatik mit Sinn und Verstand. München 1993. - Lehrwerkunabhängige Lehrergrammatik Beispiel: Marlene Rall/Ulrich Engel/Dieter Rail: Verbvalenzgrammatik für Deutsch als Fremdspra-
191 che. Heidelberg 1985. Hans-Jürgen Heringer: Lesen lehren lernen: Eine rezeptive Grammatik des Deutschen. Tübingen 1988. Hans Barkowski: Kommunikative Grammatik und Deutsch lernen mit ausländischen Arbeitern. Königstein/Ts. 1982. Joachim Buscha u. a.; Grammatik in Feldern. München 1998. - Kontrastive Grammatik für Lehrende und fortgeschrittene Lernende Beispiel: François Schanen/Jean-Paul Confais: Grammaire de l'allemand. Formes et fonctions. Paris 1986. - Übungsgrammatik Beispiel: Hilke Dreyer/Richard Schmitt: Deutsche Übungsgrammatik. Ismaning 1996. Monika Reimann: Grundstufen-Grammatik für Deutsch als Fremdsprache. Erklärungen und Übungen. Ismaning 1997. - Lehrerhandbuch zum Lehrwerk Beispiel: Lehrerhandbuch zum Lehrwerk „Themen". Damit wird die Vielfalt didaktischer Grammatiken deutlich. Sie reichen von Adaptionen linguistischer Grammatiken auf unterschiedlichem Niveau über kontrastive Grammatiken bis hin zu reinen Übungsgrammatiken und Lehrerhandreichungen und schließen Produktions- und Rezeptionsgrammatiken ein. Die Trennlinien sind häufig eher unscharf. 4.5. Kontrastive Grammatiken Unter den Grammatiken, die zwei Sprachen miteinander vergleichen, gibt es solche linguistischer Art, die keinerlei didaktisches Interesse verfolgen (Beispiel: Jean Marie Zemb: Kontrastive Grammatik FranzösischDeutsch. Mannheim 1978), und andere, deren Zielsetzung der Lehr-Lernprozess ist (Beispiel: François Schanen/Jean-Paul Confais: Grammaire de l'allemand, Paris 1986, Ulrich Engel/Rozemaria K. Tertel: Kommunikative Grammatik Deutsch als Fremdsprache. München 1993). Ihre theoretische Grundlage ist die Kontrastivhypothese der Zweitspracherwerbsforschung in ihrer starken bzw. schwachen Variante (Bausch/Kasper 1979), derzufolge ein starker Kontrast zwischen Ausgangs- und Zielsprache Lernschwierigkeiten bereite und die Zahl der Fehler vergrößere, umgekehrt geringer Kontrast lernerleichternd und Fehler reduzierend wirke. Von didaktischer Seite ist dem widersprochen und die Hypothese vor allem kritisiert worden, weil sie statischer Natur sei und damit dem Prozesshaften des Spracherwerbs
192 nicht gerecht werde. Vor einer Überbewertung des Sprachvergleichs im Hinblick auf Fehlerinterpretation oder gar -Vorbeugung muss daher gewarnt werden; dennoch ist gerade für den Unterricht in sprachlich homogenen Klassen die Kenntnis der Grammatik von Ausgangs- und Zielsprache für die Lehrenden von Nutzen. Voraussetzung ist eine grammatische Theorie, die beide zu vergleichenden Sprachen adäquat beschreibt. 4.6. Rezeptionsgrammatik und Produktionsgrammatik Die in diesen oder anderen Termini (Verstehensgrammatik - Mitteilungsgrammatik, Identifikationsgrammatik Mitteilungsgrammatik, Identifikationsgrammatik - Äußerungsgrammatik, Dekodiergrammatik Enkodiergrammatik/Konstruktionsgrammatik) bezeichnete Dichotomie benennt zwei unterschiedliche Beschreibungsformen bzw. Anwendungen einer Grammatik: das Verstehen von Wörtern, Sätzen bzw. Texten einerseits sowie das Bilden korrekter Wörter, Sätze und Texte andererseits. In der Tat sind die dabei ablaufenden Prozesse im zentralen Nervensystem des Menschen höchst unterschiedlicher Art: Beim Rezeptionsprozess — Hören von Texten gesprochener Sprache bzw. Lesen geschriebener Texte - wird auf bereits bestehende neuronale Netze zurückgegriffen (ζ. B. textkonstituierende Elemente wie Konnektoren, anaphorische und kataphorische Elemente), die Ergebnis von Begriffsbildungen und bereits gemachten Erfahrungen sind. Dabei werden Wissensspeicher des deklarativen und prozeduralen Wissens aktiviert. Weiterhin ist davon auszugehen, dass ein Parsing (Zergliedern) der sprachlichen Daten vor dem Hintergrund bereits vorhandener Schemata erfolgt. Diese im Neocortex ablaufenden Prozesse werden mit den Bewertungsinstanzen im subkorticalen Bereich (Limbisches System) zusammengeschaltet und daraus werden einerseits das Verstehen ermöglicht wie andererseits die Entscheidung darüber getroffen, ob die neuen Daten im Gedächtnis aufbewahrt oder aber verworfen („vergessen") werden. Dieser Verstehensprozess ist von außerordentlicher Abstraktheit und insbesondere in jenem Bereich, wo elektrische neuronale Erregungen an Synapsen gelangen, dort in biochemische Prozesse, bei denen Neurotransmitter (ζ. B. Glutamat) eine wesentliche Rolle spielen, umgesetzt werden, um das nächste Neuron (Nervenzelle) zu erreichen und auf diese Weise ein durch Langzeitpotenzierung wirksames Nervenzellensemble
III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem
zu bilden, - wo also diese biochemischen Prozesse in einem qualitativen Sprung zum Sprachverstehen führen, noch wenig erforscht. Auch die Ursache von Interferenzen L 1 - L 2 beim Sprachverstehen lässt sich derzeit neuropsychologist nur ansatzweise erklären: Vermutlich sind stabile neuronale Netze des Erstspracherwerbs aktiv und beeinflussen neue Schaltungen. Beim Sprachproduktionsprozess in der Fremdsprache (Produktionsgrammatik) andererseits müssen Intentionen und Argumente versprachlicht werden: Dabei wird auf Speicher des Regelwissens zurückgegriffen, um eine korrekte Äußerung hervorzubringen. Es ist derzeit davon auszugehen, dass explizites und bewusstes (deklaratives) Regelwissen wie implizite (prozedurale) Kenntnis von Regelsachverhalten dabei zusammenspielen, möglicherweise in gleichen neuronalen Schaltungen. Wichtig ist freilich darüber hinaus, dass beide Varianten einer Grammatik Produktionsgrammatik und Rezeptionsgrammatik — nur die eine Seite einer erfolgreichen Kommunikation in der Fremdsprache sind: Entscheidend ist neben dem grammatischen Regelwissen die Beherrschung von Kommunikationsstrategien, die eigen- und fremdkulturelles Wissen, nichtsprachliche (Gestik und Mimik) sowie parasprachliche Elemente (Pausen, Intonation) beinhalten. 4.7. Grammatische Terminologie In zahlreichen Grammatiken wird nicht sauber unterschieden zwischen Begriff und Terminus, oder anders: zwischen Begriffsinhalt und Begriffsbenennung. Beispiele sind die Gleichsetzung von Gegenwart (Begriffsinhalt) und Präsens (Terminus), Möglichkeitsform (Begriffsinhalt) und Konjunktiv (Terminus) oder eine solche Fehlkoppelung wie Partizip Präsens (statt: Partizip I) oder Konjunktiv Präteritum (statt: Konjunktiv II). Deshalb spielt die Terminologie - die grammatischen Fachausdrücke - eine wesentliche Rolle: „Grammatische Terminologie und grammatische Kultur sind wechselseitig miteinander verflochten. Grammatische Terminologie ist Teil einer grammatischen Kultur und kann sogar ein essentieller, sprich: ein sensibler Bereich der grammatischen Kultur sein. In grammatischer Terminologie äußert sich grammatische Kultur, in grammatischer Terminologie wird grammatische Kultur aufbewahrt" (Raasch 1995, 167).
Unbestritten ist die Bedeutung grammatischer Terminologie: Sie ist im Regelfall verständnisfördernd und grenzt grammatische Inhalte voneinander ab, sie ist darüber hinaus
193
15. Linguistische und didaktische Grammatik
bei kontrastiven Grammatiken das notwendige Bindeglied und ermöglicht überhaupt erst metasprachliche Kommunikation. Eine grammatische Terminologie für eine didaktische Grammatik sollte die folgenden Bedingungen erfüllen: - Sie muss adressatengerecht sein, d. h. insbesondere bei Kindern und jugendlichen Lernenden der Fremdsprache dem kognitiven Niveau der Altersstufe entsprechen. - Sie kann durchaus ihr Inventar unterschiedlichen linguistischen Theorien entnehmen; diese müssen jedoch kompatibel sein und dürfen nicht im Widerspruch zueinander stehen. - Bei kontrastiven Grammatiken muss die Terminologie beide Sprachen abbilden und adäquat wiedergeben. - Empfehlenswert ist jene Terminologie, die auf dem griechisch-lateinischen Vorbild fußt: Sie ist am wenigsten „sprechend", international verbreitet und daher den meisten Lernenden zumindest ansatzweise bekannt sowie in didaktische Grammatiken vergleichsweise leicht zu integrieren. - Grammatische Terminologie ist Mittel zum Zweck, nämlich der Erklärung grammatischer Strukturen. Ein Zuviel schadet ebenso wie der Versuch, grammatische Terminologie zum Lernziel zu erklären. Der Fremdsprachenunterricht ist kein linguistisches Oberseminar. 4.8. Kommunikativ-funktionale Grammatik In jüngster Zeit wird in wachsendem Maße das Konzept einer funktionalen bzw. kommunikativ-funktionalen Grammatik wieder diskutiert (Barkowski 1982; Engel/Rytel-Kuc 1995; Götze 1995, 1997 und 1999; Mulo Farenkia 1996). Damit werden frühere Überlegungen zu einem anderen bzw. integrativen Grammatikunterricht (Böttcher/Sitta 1978, Gnutzmann 1995) aufgegriffen und weitergeführt. Ziel ist eine ganzheitliche grammatische Beschreibung, die vom Inhalt bzw. von der Funktion!Intention zur Form der sprachlichen Äußerung gelangt und nicht umgekehrt, wie es zahlreiche bisherige Grammatiken getan haben. Dabei werden kognitive und kommunikative mit strukturellen Beschreibungselementen zusammengeführt und sprachliche Inhalte, die zu einer Äußerung gehören, gemeinsam dargestellt und nicht, wie häufig in der Vergangenheit, getrennt behandelt, weil sie unterschiedlichen grammatischen Kriterien (Wortarten, Satzarten usw.) angehören. Als Beispiel diene der Aufforderungssatz, der mit so unterschiedlichen formalsprachlichen
Mitteln wie Imperativ, Passiv, Partizip II, Modalpartikeln, ¿/aw-Sätzen, Fragesätzen und würde-Form gebildet wird. Zugleich wird damit die Diskussion über language awareness (Sprachbewusstheit, Sprachbewusstsein, linguistic consciousness) weitergeführt (Gnutzmann 1995) und für den Fremdsprachenunterricht nutzbar gemacht. Dies ist besonders für den Erwachsenenunterricht von Bedeutung, der auf Erfahrungen und Weltwissen bei den Lernenden in reichem Maße aufbauen und zudem grammatisches Regelwissen der Erstsprache nutzen kann. Diese Lernenden bringen Zielsetzungen, kommunikative Absichten sowie ästhetische Intentionen in den Fremdsprachenunterricht mit, die sie in der Zielsprache Deutsch realisieren wollen. Eine kommunikativ-funktionale Grammatik, die hier ansetzt und zudem sowohl normbezogen wie normkritisch verfährt und damit die individuelle Sprachauswahl und -variation ermöglicht, kommt den Interessen der Lernenden sehr entgegen. Erste Realisierungen solcher kommunikativ-funktionalen Grammatiken liegen vor (Macheiner 1991; Rug-Tomaszewski 1993; Götze u. a. 2000). Aus der Sicht der Auslandsgermanistik hat Mulo Farenkia (1996) darauf hingewiesen, dass ein kommunikativ-funktionaler Ansatz der didaktischen Grammatik auch jenseits des deutschen Sprachraums wichtig sei, um die Lernenden in die Lage zu versetzen, erfolgreich kommunizieren zu können. Jedoch müsse gleichzeitig - oder besser: zuvor eine ausreichende Kenntnis formalsprachlicher Mittel sichergestellt sein, weil anderenfalls das Konzept scheitere. Die Diskussion hält an. 5.
Literatur in Auswahl
Barkowski, Hans (1982): Kommunikative Grammatik und Deutsch lernen mit ausländischen Arbeitern. Königstein/Ts.). Bausch, Karl-Richard (Hg.) (1979): Beiträge zur Didaktischen Grammatik. Probleme, Konzepte, Beispiele. Königstein/Ts. - ; Herbert Christ; Hans-Jürgen Krumm (Hg.) (1995): Handbuch Fremdsprachenunterricht. Tübingen. —; Gabriele Kasper (1979): Der Zweitspracherwerb: Möglichkeiten und Grenzen der großen Hypothesen. In: Linguistische Berichte 64, 3—35. Böttcher, Wolfgang; Horst Sitta (1978): Der andere Grammatikunterricht. München u. a. Buscha, Joachim; Jochen Schröder (Hg.) (1989): Linguistische und didaktische Grammatik. Beiträge zu Deutsch als Fremdsprache. Leipzig.
194 Chomsky, Noam (1969): Aspekte der Syntax-Theorie. Frankfurt/Main. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Band 8 (1984). Bearbeitet von Theodor Koch, Joachim Bahr und anderen Mitarbeitern in den Arbeitsstellen des Deutschen Wörterbuches zu Berlin und Göttingen. München. Edelmann, Walter (1994): Lernpsychologie. Weinheim (4. Aufl.). Engel, Ulrich; Danuta Rytel-Kuc (1995): Etwas tun — Über die Möglichkeiten, grammatische Kategorien gemeinverständlich zu motivieren. Im Heidrun Popp (Hg.): Deutsch als Fremdsprache. An den Quellen eines Faches. Festschrift für Gerhard Heibig zum 65. Geburtstag. München, 23—40. Gnutzmann, Claus; Frank G. Königs (Hg.) (1995): Perspektiven des Grammatikunterrichts. Tübingen. - ; - (1995): Grammatikunterricht im Spiegel der Entwicklung. Im Gnutzmann/Königs (Hg.), 11 — 16.
— (1995): Sprachbewusstsein und integrativer Grammatikunterricht. In: Gnutzmann/Königs (Hg.), 267-284. Götze, Lutz (1993): Lebendiges Grammatiklernen. Anmerkungen zu einem modernen Grammatikunterricht. In: Lutz Götze (Hg.): Fremdsprache Deutsch. Lebendiges Grammatikiemen. Heft 2, 4-9. — (1995): Zum Problem einer KommunikativFunktionalen Grammatik. In: Vilmos Agel/Rita Brdar-Szabó (Hg.) (1995): Grammatik und deutsche Grammatiken. Budapester Grammatiktagung 1993. Tübingen, 233-241. — (1996): Grammatikmodelle und ihre Didaktisierung in Deutsch als Fremdsprache. In: DaF 33/3, 136-143. — (1997): Hirnprozesse und die Rolle des Gedächtnisses beim Lesen fremdsprachiger Texte. In: Materialien Deutsch als Fremdsprache, Heft 46: Gedächtnis und Sprachlernen. Hg. v. Armin Wolff; Gisela Tütken; Horst Liedtke. Regensburg, 85—94. — (1999): Zeit und Tempus. Anmerkungen aus funktional-kommunikativer Sicht. In: Renate Freudenberg-Findeisen (Hg.) (1999): Ausdrucksgrammatik versus Inhaltsgrammatik. Linguistische und didaktische Aspekte der Grammatik. München, 225-232. — (1999): Eine funktionale Grammatik für Deutsch als Fremdsprache. In: Bernd Skibitzki/ Barbara Wotjak (Hg.) (1999): Linguistik und Deutsch als Fremdsprache. Festschrift für Gerhard Heibig zum 70. Geburtstag. Tübingen, 81—94. — unter Mitarbeit von Gabriele Pommerin und Anna-Ulrike Mayer (2000): Deutsche Grammatik (mit kommunikativen Übungen). Gütersloh. Grimm, Jacob; Wilhelm Grimm (1958): Deutsches Wörterbuch. Vierter Band I. Abteilung 5. Teil. Hg. v. Deutscher Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Leipzig.
III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem Häussermann, Ulrich; Jürgen Kars (1989): Grundgrammatik Deutsch. Frankfurt/Wien/Aarau (2. Aufl.). Heibig, Gerhard (1979): Grammatik aus kommunikativ-pragmatischer Sicht? In: Inger Rosengren (Hg.): Sprache und Pragmatik. Lunder Symposium 1978. Lund, 11-41. - (1991): Grammatik und kommunikativer Fremdsprachenunterricht. In: FLUL, 9ff. - (1993): Wieviel Grammatik braucht der Mensch? Im Theo Harden; Cliona Marsh (Hg.): Wieviel Grammatik braucht der Mensch? München 1993, 19-29. - (1995): Zu einigen Prinzipien und Darstellungsfragen des „Grammatik-Handbuchs" von Heibig/ Buscha. In: GL, Heft 126, 11-19. Kiefer, Ferenc (1995): Grammatiktagung '93 Thesen zum Podiumsgespräch. In: Vilmos Agel; Rita Brdar-Szabó (Hg.): Grammatik und deutsche Grammatiken. Budapester Grammatiktagung 1993. Tübingen, 225-227. Kleineidam, Hartmut; Manfred Raupach (1995): Grammatiken. In: Karl-Richard Bausch u. a. (Hg.) 1995, 298-301. Lakoff, George (1970): Irregularity in syntax. New York. Macheiner, Lisa (1991): Das grammatische Varieté oder die Kunst und das Vergnügen, deutsche Sätze zu bilden. Frankfurt (Main). Mulo Farenkia, Bernard (1996): Aspekte einer kommunikativ-funktionalen Grammatik aus der Fremdperspektive. In: DaF 33/3, 156-159. Neuner, Gerd (1995): Verstehensgrammatik — Mitteilungsgrammatik. In: Gnutzmann/Königs (Hg.) 1995, 147-166. Paul, Hermann (1992): Deutsches Wörterbuch. 9., vollständig neu bearbeitete Auflage von Helmut Henne und Georg Objartel unter Mitarbeit von Heidrun Kämper-Jensen. Tübingen. Raasch, Albert (1995): Grammatische Terminologie aus der Lehr- und Lernperspektive oder. Der ununterbrochene Kreislauf. In: Gnutzmann/Königs 1995, 167-179. Reich, Gerhard (1972): Die Aufgaben des muttersprachlichen Grammatikunterrichts von der Antike bis um 1600. Weinheim. Rug, Wolfgang; Andreas Tomaszewski (1993): Grammatik mit Sinn und Verstand. München. Searle, John R. (1969): Speech acts. An essay in philosophy of language. London. Wunderlich, Dieter (1972): Linguistische Pragmatik. Frankfurt. Zimmermann, Günther (1979): Was ist eine .Didaktische Grammatik'? In: Winfried Kleine (Hg.): Perspektiven des Fremdsprachenunterrichts in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt/Main, 9 6 112. Lutz Götze, Saarbrücken
(Deutschland)
16. Kontrastivität in der Grammatik
195
16. Kontrastivität in der Grammatik 1. 2. 3. 4. 5.
6.
Begriffsbestimmung Kontrastivität und Sprachvergleich Kontrastivität und Zweitspracherwerb Kontrastivität und Fehleranalyse Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung des Zweitspracherwerbsprozesses aufgrund des Prinzips der Kontrastivität Literatur in Auswahl
1.
Begriffsbestimmung
Das Konzept der Kontrastivität wird in der einschlägigen Forschung nicht explizit definiert. Dies spiegelt sich auch in seiner Nichtbeachtung als Stichwort in Nachschlagewerken und Lexika zur Sprachwissenschaft. Da der entsprechende Terminus eine durch die Teilkonstituenten motivierte komplexe Wortstruktur darstellt, so geht man wohl von problemloser Dekodierung seitens der Rezipienten aus. Motiviertheit schließt aber einen gewissen Grad an semantischer Vagheit nicht aus, so dass Unsicherheiten in der Bedeutungsinterpretation bei Termini zu Unklarheit und Konturschwäche in der Begriffsbildung und Kategorisierung führen können. Kontrastivität als komplexe Wortstruktur lässt sich einerseits an Kontrast, andererseits an kontrastiv (als Attribut zu Analyse, Grammatik und Linguistik) anschließen. Auf die Wortbildung als Dekodierungshilfe gestützt, sind zumindest folgende Bedeutungen des Wortes zu konstruieren: Kontraste betreffendes nominales Konzept; nominales Konzept, das die Herausstellung von Kontrasten zum Ziel hat; nominales Konzept, das auf Ergebnissen des Kontrastierens bzw. der Kontrastiven Linguistik beruht. Aufgrund des weiteren Forschungskontextes lassen sich zudem folgende Verwendungsweisen des Wortes ermitteln: „Berücksichtigung des Verhältnisses zwischen der Muttersprache (MS) und der Fremdsprache (FS)" (Hessky 1994, 20), wobei die zwischen den beiden Sprachen bestehende Ähnlichkeitsrelation gemeint ist. Kielhöfer setzt sich im Bereich der Kontrastivität primär mit der Frage auseinander, „ob und wie der Kontakt zwischen Muttersprache (= LI) und Fremdsprache (= L2) den Sprachlernprozeß beeinflußt" (Kielhöfer 1995, 35). Bei dieser Art der Problemstellung ergeben sich Berührungspunkte zwischen den Konzepten Kontrastivität und Transfer bzw. Interferenz. Mit Transfer meint man die positive Beeinflussung des Sprach-
lernprozesses durch Eigentümlichkeiten einer anderen oder der gleichen Sprache. Negativer Transfer, d. h. Interferenz ist dagegen die durch die Beeinflussung von Elementen einer anderen oder der gleichen Sprache verursachte Verletzung einer sprachlichen Norm bzw. der Prozeß dieser Beeinflussung (Juhász 1980, 646).
Kontrastivität lässt sich aber trotz der auffälligen Gemeinsamkeiten nicht ohne weiteres auf Transfer und Interferenz reduzieren. Aus diesem Umstand leitet sich die Notwendigkeit einer klaren begrifflichen Abhebung des Kontrastivitätskonzeptes ab. Im Zusammenhang mit dem Transfer- und Interferenzkonzept sei hier auf Juhász (1970, 9ff., 29ff.; 1980, 646ff.) sowie Gass (1996, 558ff.) verwiesen. Im Folgenden unternehme ich den Versuch, für Kontrastivität in der Grammatik eine Arbeitsdefinition auszuarbeiten, in der unterschiedliche Aspekte der Kontrastivität klar voneinander abgehoben werden. Die Notwendigkeit für diese Arbeitsdefinition erwächst aus der gegenwärtigen Forschungssituation, die durch eine undifferenzierte Begrifflichkeit gekennzeichnet ist. In der Terminologie zur Bezeichnung verschiedener Spracherwerbsarten orientiere ich mich an Klein (1992, 32), der gesteuert erworbene und ungesteuert erworbene Zweitsprache unter den Oberbegriff Zweitsprache subsumiert. Grammatik verwende ich im Sinne von regulären Zuordnungsrelationen zwischen Formen und Funktionen, die nach Heibig (1981, 49) in Grammatik Α, Β und C jeweils unterschiedlich lokalisiert sind. Kontrastivität in der Grammatik betrachte ich einerseits als Relation, andererseits als Strategie. Unter Kontrastivität als Relation verstehe ich erstens das Verhältnis von Erstsprache und Zweitsprache im interlingualen Vergleich, zweitens das Verhältnis von Erstsprache, Lernersprache und Zweitsprache im Zweitspracherwerbsprozess sowie drittens das Verhältnis von interlingualem Vergleich und Zweitspracherwerbsprozess. Es werden dabei Unterschiede, Ähnlichkeiten und Identitäten in den Form- und Funktionszuordnungen auf jeder dieser drei relationalen Ebenen gleichermaßen mit einbezogen. Kontrastivität als Relation von interlingualem Vergleich und Erwerb einer Zweitsprache bedeutet in erster Linie das Verhältnis von objektiver Distanz zwischen Erst- und Zweit-
196
III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem
spräche und der subjektiven Wahrnehmung der besagten Distanz durch den Lerner. Da dieser Aspekt der Kontrastivität kaum erforscht ist, soll hier lediglich auf Kellerman (1979, 37ff.) verwiesen werden, der das Phänomen des Transfers im Rahmen eines kognitiven Modells untersucht. Die Feststellung von Klein (1992, 151), dass das Aufeinanderbeziehen bewusster und unbewusster Distanzwahrnehmung in Bezug auf Lernersprache und Zielsprache ein Forschungsdesideratum darstellt, kann ohne weiteres auch auf das Verhältnis von Erst- und Zweitsprache übertragen werden. Hier kann nur die Hoffnung zum Ausdruck gebracht werden, dass Kontrastivität auch als bewusste und unbewusste Distanzwahrnehmung bald die gebührende Aufmerksamkeit in der Sprachlehrforschung erfahren wird. Mit Kontrastivität als Strategie meine ich einerseits die explizite Bewusstmachung von Unterschieden, Ähnlichkeiten und Identitäten in den Form- und Funktionszuordnungen als Strategie des kognitiven Lernens sowie andererseits die implizite Bewusstmachung von Kontrasten und Kontrastmangel in Situationen des Zweitspracherwerbs zur optimalen Steuerung des Lernprozesses. Die einzelnen Komponenten der obigen Arbeitsdefinition werden des Weiteren in separaten Gliederungseinheiten näher beleuchtet. Kontrastivität als Relation wird in den Abschnitten 2., 3. und 4. behandelt. Kontrastivität im interlingualen Vergleich wird unter 2.1. bis 2.2. thematisiert. Kontrastivität im Zweitspracherwerbsprozess in Bezug auf Erstsprache, Lernersprache und Zweitsprache wird unter 3.1. bis 3.4. besprochen. Das Aufeinanderbeziehen der beiden oben genannten Kontrastivitätsarten, d. h. Kontrastivität im interlingualen Vergleich und im Zweitspracherwerbsprozess, erfolgt in Abschnitt 4. Kontrastivität als Strategie wird in Abschnitt 5. erläutert, die explizite Bewusstmachung von Kontrast und Kontrastmangel unter 5.1., die implizite Bewusstmachung unter 5.2. 2.
Kontrastivität und Sprachvergleich
Die Kontrastive Linguistik hat den synchronen Vergleich zweier oder mehrerer Sprachen zum Gegenstand, um dadurch zu sprachtheoretischen Erkenntnissen zu gelangen und/ oder zur Deskription der zu vergleichenden Sprachen beizutragen. In der osteuropä-
ischen Tradition ist auch die Bezeichnung konfrontative Linguistik anzutreffen, die im vermeintlichen Gegensatz zur Kontrastiven Linguistik die gleichrangige Behandlung von interlingualen Unterschieden, Ähnlichkeiten und Identitäten betonen soll. Des Weiteren werde ich den in der Forschung besser etablierten ersten Terminus verwenden. Die Kontrastive Linguistik stellt kein homogenes Phänomen dar, sondern ist durch viele Richtungen gekennzeichnet, die jeweils unterschiedlichen sprachtheoretischen Ansätzen zuzuordnen sind und über unterschiedliche Proportionen theoretischer und deskriptiver Komponenten verfügen. Dies ist nicht der geeignete Ort, die einzelnen Richtungen Revue passieren zu lassen. Mir kommt es vielmehr darauf an, das Verhältnis von theoretischer und anwendungsorientierter Kontrastiver Linguistik zu klären sowie Möglichkeiten und Grenzen Kontrastiver Grammatiken abzuwägen. Die gegenwärtige Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass die Kontrastive Linguistik zwar im größten Teil Europas, in Südostasien und im Fernen Osten gut vertreten ist, in den USA jedoch ihre Anziehungskraft weitgehend eingebüßt hat. Fisiak (1990, 3 ff.) erklärt diese Asymmetrie zum einen mit der längeren und reicheren europäischen Forschungstradition und zum anderen mit der anfangs euphorischen Überbewertung der Bedeutung der Kontrastiven Linguistik für den Fremdsprachenunterricht. Vertreter der amerikanischen kontrastiven Welle traten nämlich in den 60er Jahren mit dem Anspruch auf, über Voraussage und Hierarchisierung von Lernschwierigkeiten auf die Progression in Unterrichtsmaterialien einen direkten Einfluss auszuüben. Die europäische kontrastive Forschung betonte dagegen stets, dass Kontrastivität nur einer unter vielen anderen Faktoren sei, die bei der Steuerung des Fremdsprachenunterrichtes mit berücksichtigt werden sollten. Nach Nickel (1992, 214) war keines der europäischen kontrastiven Projekte behavioristisch-taxonomisch geprägt, die europäische kontrastive Forschung war vielmehr deskriptiv und theoretisch orientiert, wobei die Idee von einer für den Fremdsprachenunterricht konzipierten Angewandten Kontrastiven Linguistik mit einem realistisch eingeschränkten Geltungsbereich auch nicht abgelehnt wurde. Immer wieder muss aber davor gewarnt werden, mit falschen Erwartungen an die Kontrastive Linguistik heranzutreten, die ja nicht unmittelbar auf die Bedürfnisse
16. Kontrastivität in der Grammatik
des Fremdsprachenunterrichtes ausgerichtet ist, sondern sprachliche Problemstellungen theoretischer oder deskriptiver Art zu thematisieren hat. Die Didaktisierung der Ergebnisse des Sprachvergleichs ist zwar möglich (ζ. B. in Form von kontrastiven Fremdsprachengrammatiken), die Angewandte Kontrastive Linguistik kann aber nicht für sich in Anspruch nehmen, Fragestellungen aus dem Kompetenzbereich der Spracherwerbs- und Sprachlehrforschung zu behandeln. 2.1. Theoretische, deskriptive und Angewandte Kontrastive Linguistik In Anlehnung an Nickel (1980, 633) lässt sich die klassische Fisiaksche Einteilung als theoretische und deskriptive Kontrastive Linguistik wiedergeben, wobei die letztere bereits eine Art Anwendung darstellt, die Anwendung des durch die Grundlagenforschung geschaffenen Theoriegebäudes auf den systematischen detaillierten Sprachvergleich. Diese Aufgliederung findet bei Fisiak auch in der Angewandten Kontrastiven Linguistik eine analoge Entsprechung in der Gegenüberstellung von allgemeinen und spezifischen angewandten kontrastiven Untersuchungen. Nickel (1980, 635) betont, dass diese Aufteilung viel problematischer sei als die erste. Des Weiteren soll einfach von Angewandter Kontrastiver Linguistik die Rede sein, wobei sie im Sinne einer spezifischen Anwendung verwendet werden soll, und zwar in Bezug auf den Fremdsprachenunterricht. Hinsichtlich der Anwendbarkeit der Kontrastiven Linguistik zeichnen sich gegenwärtig zwei einander diametral entgegengesetzte Positionen ab: eine anwendungsskeptische und eine anwendungsoptimistische. Bemerkenswerterweise nehmen beide Parteien auf dieselbe kontrastiv-typologische Richtung Bezug. Repräsentativ für die Anwendungsskeptiker ist König, der die Ansicht vertritt, dass die „als Komplement zur Typologie" (König 1990, 117) bzw. „als Grenzfall eines typologischen Vergleichs" (König 1996, 31) konzipierte Kontrastive Linguistik kaum im Fremdsprachenunterricht anwendbare Ergebnisse hervorbringen könne. Als repräsentative Vertreter der Anwendungsoptimisten sollen James und Wekker genannt werden. Eine neue Möglichkeit für die Bewusstmachung interlingualer Kontrastivität meint James (1992, 195) in bestimmten Entwicklungstendenzen der Kontrastiven Linguistik, vor allem der typologisch orientierten Forschung, zu entdecken. Im Gegen-
197 satz zu seiner im Jahre 1980 erschienenen Monographie vertritt nun James die Position, dass nicht nur entsprechende Subsysteme zweier Sprachen verglichen werden können, sondern Sprachen auch einer holistischen kontrastiven Analyse unterzogen werden können. Die Ergebnisse der kontrastiv-typologischen Forschung referierend, hebt James hervor, dass Kontraste nicht mehr isoliert erfasst werden, sondern in ihren implikationellen Zusammenhängen. Festzuhalten bleibt, dass in der theoretischen Kontrastiven Linguistik immer tiefere Systemzusammenhänge und Implikationshierarchien aufgezeigt werden, die mit den nötigen Transmissionen auch zur Optimierung des Fremdsprachenunterrichts beitragen können. James weist u. a. darauf hin, dass Lernende von einer minimalen Information über ein Detail eines interlingualen Kontrastes ausgehend durch Inferieren auf die Existenz eines implikativ begründeten Kontrastes schließen können. Wekker (1992, 289f.) argumentiert dafür, dass die Kontrastive Linguistik in der Zweitspracherwerbsforschung eine zunehmend wichtige Rolle spielen sollte. Während Wekker den GB-basierten universalgrammatisch orientierten Ansatz scharf kritisiert, meint er, in der Synthese der traditionellen und der typologisch orientierten Kontrastiven Linguistik eine zukunftsträchtige Variante gefunden zu haben, die zur Erforschung von Lernersprachen einen wichtigen Beitrag leisten könnte. Da die Kontrastive Linguistik die Muttersprache der Lernenden ernstnimmt, ermöglicht sie die Abgrenzung der universalen Phänomene von den sprachspezifischen Merkmalen. Eine Wiederbelebung der Kontrastiven Linguistik erwartet Wekker außerdem auch im Zusammenhang mit der Interferenzforschung. 2.2. Möglichkeiten und Grenzen einer kontrastiven Grammatik Deskriptive kontrastive Untersuchungen können linguistische kontrastive Grammatiken als Ergebnis haben, die zwar für den unmittelbaren Einsatz im Fremdsprachenunterricht nicht geeignet sind, die aber Lehrwerkautoren als Didaktisierungsgrundlage bei der Erarbeitung von kontrastiven Lernergrammatiken dienen können. Unter Forschern wie Praktikern herrscht Konsens über die Beurteilung der Grenzen der Einsetzbarkeit von pädagogischen kontrastiven Grammatiken. Es ist festzuhalten, dass sich Lernschwierigkeiten und Schritte zu
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III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem
deren Überwindung allein aufgrund der beschriebenen interlingualen Kontraste bzw. Ähnlichkeiten nicht bestimmen lassen. Diese sind lediglich als „Orientierungs- und Entscheidungshilfe" (Hessky 1994, 24) bei der Didaktisierung der grammatischen Komponente der Fremdsprache anzusehen, wobei die Differenzierung des Begriffs des zwischensprachlichen Unterschiedes bzw. der Ähnlichkeit nach formalem und funktionalem Aspekt als besonders wichtig eingeschätzt wird. Es darf schließlich nicht übersehen werden, dass Probleme bei der methodischen Gestaltung der Grammatikvermittlung durch eine pädagogische kontrastive Grammatik nicht gelöst werden können. 3.
Kontrastivität und Zweitspracherwerb
In den folgenden Abschnitten sollen die bekanntesten Hypothesen zum Verhältnis von Erst- und Zweitspracherwerb unter dem Aspekt der Kontrastivität kurz besprochen werden. Da in diesem Rahmen auf Ergebnisse der Zweitspracherwerbsforschung nicht ausführlich eingegangen werden kann, soll hier zur Orientierung auf Housen (1996, 517 ff.) verwiesen werden, der einen Überblick über neuere Ansätze auf diesem Gebiet liefert. 3.1. Kontrastivhypothese Nach dieser auf strukturalistischer und behavioristischer Grundlage entstandenen Hypothese wird der Zweitspracherwerb primär durch die Struktur der Erstsprache des Lerners gesteuert. Aus dieser Annahme folgt, dass Transfer- und Interferenzprozessen überragende Bedeutung zugeschrieben wird. Die Hypothese liegt in unterschiedlich starken Ausprägungen vor, die jeweils davon abhängig zu unterscheiden sind, inwieweit in ihrem Rahmen Lernschwierigkeiten und Erwerbssequenzen aus interlingualen Unterschieden und Identitäten abgeleitet werden. Hier sei nur auf Bausch/Kasper (1979, 5 ff.) verwiesen, die einen kritischen Überblick über die einzelnen Varianten bieten. Es kann wegen der zahlreichen Missverständnisse und Fehlinterpretationen nicht oft genug davor gewarnt werden, die Kontrastivhypothese mit Kontrastivität oder mit Kontrastiver Linguistik gleichzusetzen. Es ist größtenteils der Popularisierung der Kontra-
stivhypothese zuzuschreiben, dass die Kontrastive Linguistik für lange Zeit in Misskredit geraten war und zum Teil auch gegenwärtig noch einen schlechten Ruf hat. Die meiste Kritik richtete sich gegen die behavioristischen Annahmen der amerikanischen Taxonomisten. Nickel (1992, 214) weist allerdings darauf hin, dass die Vorstellungen der amerikanischen Klassiker der Kontrastiven Linguistik allzu oft als Beweismaterial zur Untermauerung kontrastivitätsfeindlicher Positionen aus dem Gesamtzusammenhang herausgerissen zitiert und dadurch entstellt wurden. Die Kontrastivhypothese gilt im Sinne eines Modells des Zweitspracherwerbs als überholt, weil sie wegen ihrer behavioristischen Beschränktheit und der Überbewertung der Rolle der Erstsprache die zu erklärenden Phänomene nicht in ihrer Komplexität erfassen kann. Wenn nun Klein die abgeschwächte Variante der Kontrastivhypothese, wonach „es positive und negative Einwirkungen aus der Erstsprache gibt" (Klein 1992, 38), als trivial bezeichnet, so kann damit nicht gemeint sein, dass die Frage nach der Rolle der Erstsprache im Zweitspracherwerb und nach den Mechanismen ihres Einflusses auf den Lernprozeß trivial wäre. In diesen Zusammenhang fügt sich auch der Forschungsbericht von Gass (1996, 562 ff.) ein, in dem die Rolle der Erstsprache aus der Sicht der neueren Interferenzforschung beleuchtet wird. Gass betont, dass Transfer und Interferenz in der neueren Forschung nicht mehr behavioristisch angegangen werden und dass die lernerbezogene Selektivität von Interferenzphänomenen immer mehr in den Mittelpunkt des Interesses rückt. 3.2. Identitätshypothese Die radikalste Variante dieser Hypothese besagt, dass Erst- und Zweitspracherwerb den gleichen Verlauf haben. Nach Klein (1992, 36) gibt es keine Anhänger dieser Form der Hypothese. Viele Forscher behaupten jedoch, dass Erst- und Zweitspracherwerb im Wesentlichen identisch sind, wobei hinsichtlich der Interpretation der wesentlichen Züge des Spracherwerbs die Meinungen weit auseinandergehen. Vertreter der gemäßigten Variante der Identitätshypothese gehen von der Annahme aus, dass die Erstsprache im Prozess des Zweitspracherwerbs nur eine marginale Rolle spielt. Dies führt dann folgerichtig zur Vernachlässigung des Prinzips der Kontrastivität im Fremdsprachenunterricht.
16. Kontrastivität in der Grammatik
3.3. Interlanguage-Hypothese Diese Hypothese geht von der Annahme aus, dass Lernende auf der Grundlage kognitiver Prozesse und kommunikativer Strategien Lernervarietäten, sog. Interlanguages aufbauen, die einerseits durch Übergangscharakter, andererseits durch Systemhaftigkeit gekennzeichnet sind. Ausgangspunkt ist die Untersuchung authentischer zweitsprachlicher Äußerungen. Seit Ende der 70er Jahre sind in erheblicher terminologischer Vielfalt verschiedene Varianten der InterlanguageHypothese vorgelegt worden. Die einzelnen Ausprägungen des Modells haben zwar die Annahme gemeinsam, dass eine Lernervarietät neben Erscheinungen der Erst- und Zweitsprache auch von diesen unabhängige Phänomene aufweist, hinsichtlich der Beurteilung des genauen Status der Erstsprache gehen jedoch die einzelnen Modellvarianten stark auseinander. 3.4. Monitorhypothese Diese Hypothese stellt eine der sechs Komponenten des Monitormodells dar, das über das Verhältnis von Erst- und Zweitspracherwerb hinausgehend auch das von gesteuertem und ungesteuertem Zweitspracherwerb thematisiert (vgl. Krashen 1985). Kerngedanke der Monitorhypothese ist, dass intuitiv erworbenes Sprachwissen von bewusst Gelerntem zu trennen ist und dass Lernen nur über eine Kontrollinstanz, den sog. Monitor möglich ist. Mit Monitor ist die Fähigkeit des Lerners gemeint, die eigene Sprachproduktion und -rezeption bewusst zu überwachen. Die Rolle der Erstsprache wird als marginal, das Konzept der Interferenz als überholt eingeschätzt. James (1991, 247ff.) zeigt in kritischer Auseinandersetzung mit diesem vor allem durch Krashen bekannt gewordenen Modell, dass sich durch die Untersuchung der Relationen zwischen Erstsprache und universal gültigen Erscheinungen von Lernersprachen sowie durch die Einführung der Konzepte des Monitorgebrauchs und der Selbstkorrektur trotz der expliziten Negierung der Wichtigkeit der Interferenz neue Perspektiven für die Erforschung der Rolle der Erstsprache eröffnen.
4.
Kontrastivität und Fehleranalyse
Die Fehleranalyse setzt sich als Teildisziplin der Fremdsprachendidaktik mit Untersuchung und Klassifizierung zweitsprachlicher Fehler auseinander. Nach einer weiteren Auf-
199 fassung gehören auch Fehlertherapie, -prognose und -prophylaxe als Teilgebiete zur Fehleranalyse im Sinne einer Disziplin. Gegenstand der Fehleranalyse sind die Abweichungen in Lernersprachen von den zielsprachlichen Normen. Seit den 70er Jahren werden Fehler zunehmend mehr als Indikator für Lernprozesse bzw. sogar als Lernstrategie angesehen. Es ist bereits allgemein anerkannt, dass Fehler nicht nur durch die erstsprachliche Interferenz bedingt sein können. In der europäischen kontrastiven Forschung ist nach Nickel (1992, 213) nie angenommen worden, dass interferenzbedingte Fehler den einzig möglichen Fehlertyp darstellen würden. Der Beitrag der Kontrastiven Linguistik zur Optimierung des Fremdsprachenunterrichtes wurde nicht so sehr in der Voraussage, sondern vielmehr in der Erklärung von Fehlern gesehen. Über das Ausmaß des Einflusses der Erstsprache sowie über das Verhältnis der auf interlingualen Kontrasten bzw. auf Kontrastmangel beruhenden Fehler zu den nicht kontrastiv verursachten Fehlern gehen die Meinungen stark auseinander. Ein wichtiges Anliegen der Fehleranalyse ist, durch Interferenz verursachte Fehler und entwicklungsbedingte, durch universale Prinzipien erklärbare Fehler, die einem bestimmten Stadium einer Lernersprache zuzuordnen sind, gegeneinander abzuheben. Es handelt sich dabei um das Verhältnis von Kontrastiver Linguistik, Fehleranalyse und Lernersprachforschung. Die Diskussion über das Verhältnis von Kontrastiver Linguistik und Fehleranalyse ist über die letzten 30 Jahre hinweg vor allem im Zusammenhang mit der Lernersprachenforschung in bestimmten zeitlichen Abständen sehr intensiv geführt worden. Nickel (1992, 220) hält fest, dass in diesem interdisziplinären Bereich noch kein Konsens unter den Anhängern verschiedener Forschungstraditionen erzielt werden konnte. In diesen Kontext ist auch die Frage nach dem Verhältnis von kontrastiven zu nicht-kontrastiven Fehlern einzuordnen. Während die kontrastive Komponente in bestimmten Phasen der Forschung überdimensioniert war, werden entwicklungsbedingte Fehler durch bestimmte neuere Ansätze der Fehleranalyse oft auf Kosten von kontrastiven Fehlern überbetont. Nickel (1992, 212ff.) bietet in kritischer Auseinandersetzung mit den Hypothesen von Dulay/Burt/Krashen (1982) als repräsentativen Vertretern der kontrastivitätsfeindlichen Richtung einen Überblick über den gegen-
200
III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem
wärtigen Forschungsstand. Nickel dokumentiert, dass sich die Unterschätzung der Kontrastivität auf Fehlinterpretationen der Forschungspositionen bestimmter Richtungen der Kontrastiven Linguistik, auf Definitionsprobleme bei entwicklungsbedingten Fehlern, auf die Möglichkeit von Mehrfachinterpretationen bei bestimmten Fehlertypen sowie auf das Unterbleiben der systematischen Erfassung und Analyse von Fehlern in verschiedenen Bereichen der Grammatik zurückführen lässt. Aus der Perspektive der Interlanguage-Hypothese werden von Selinker (1989, 268ÍT.) die frühesten Forschungsergebnisse der Kontrastiven Linguistik und der Fehleranalyse ausgewertet. Es wird durch frühe experimentelle Ergebnisse bestätigt, dass der Zweitspracherwerbsprozess nicht nur von der Erstsprache und der Zielsprache beeinflusst wird, sondern auch von autonomen sprachlichen Erscheinungen begleitet wird, die sich weder aus der Erstsprache noch aus der Zielsprache ableiten lassen. Selinker weist überzeugend nach, dass sich Kontrastive Linguistik, Fehleranalyse und Lernersprachforschung zu einer ganzheitlichen Betrachtungsweise integrieren lassen, und ruft zur eingehenden Analyse der lange Zeit als überholt angesehenen umfangreichen Fachliteratur zur Kontrastiven Linguistik und Fehleranalyse auf, um durch die Verifizierung bzw. Falsifizierung der Annahmen der bisherigen Forschung der Untersuchung von Zweitspracherwerbsprozessen wichtige Anregungen zu vermitteln. Auf diese Weise könnte man nach Selinker letzten Endes zu einer Neubewertung des Status der Interferenzforschung gelangen, wobei die Frage nach dem Verhältnis von universalen Prozessen und dem Einfluss der Erstsprache sowie anderer parallel existenter Lernersprachen differenzierter als bisher betrachtet werden sollte. Die Kontrastive Linguistik ist der beste Ansatzpunkt für Interferenzuntersuchungen, wird doch strukturale Kongruenz oder zumindest eine teilweise strukturale Ähnlichkeit als notwendige, wenn auch nicht als ausreichende Voraussetzung für die meisten Transfertypen angesehen.
werbsprozesses breit angelegte empirische Untersuchungen erforderlich sind, die unter Konstanthaltung aller anderen Variablen systematisch jeweils nur eine Variable abwandeln. Hinsichtlich des Problems der Unterscheidung von kontrastiven und nicht-kontrastiven Fehlern sind erst dann aussagekräftige Beobachtungen zu erwarten, wenn die einzige abgewandelte Variable die Erstsprache der Lerner betrifft. Als konsensfahig gilt gegenwärtig lediglich die Erkenntnis, dass die durch die Kontrastive Linguistik ermittelten interlingualen Unterschiede, Ähnlichkeiten und Identitäten nicht die direkte Wiederspiegelung unterschiedlicher Grade von Lernschwierigkeiten darstellen und deshalb auch nicht unhinterfragt zur Voraussage von Fehlern eingesetzt werden können. Die Ergebnisse der Kontrastiven Linguistik sind aus diesem Grunde immer zu Beobachtungen der Fehleranalyse in Bezug zu setzen. Da strukturale Kongruenz für bestimmte Transferphänomene unbedingt erforderlich ist, wird der Sprachvergleich als Ausgangspunkt für Überlegungen zur Optimierung des Lernprozesses angesetzt. Die aus dem Sprachvergleich abgeleiteten Voraussagen über potentielle Fehlerquellen sind unbedingt durch die Ermittlung von Lernschwierigkeiten durch die Fehleranalyse zu überprüfen und zu modifizieren. Durch die Fehleranalyse können zwar tatsächlich bestehende Lernschwierigkeiten identifiziert werden, es können aber bei weitem nicht alle potentiellen Fehlerquellen erfasst werden. Hinzu kommt noch, dass die beschriebenen Abweichungen von den zielsprachlichen Normen durch das Methodeninstrumentarium der Fehleranalyse nicht angemessen interpretiert werden können. Dies wird erst durch die Einbeziehung der Erforschung von Lernersprachen ermöglicht.
Für den gegenwärtigen Forschungsstand ist kennzeichnend, dass es mehr offene Fragen gibt als gesichertes und allgemein akzeptiertes Wissen. Die Diskussion über das Verhältnis von kontrastiven Fehlern zu nichtkontrastiven ist noch bei weitem nicht abgeschlossen. Festzuhalten bleibt, dass angesichts der Komplexität des Zweitspracher-
Die Behauptung, dass eine Zweitsprache immer auf der Grundlage einer Erstsprache erworben wird, scheint eine Binsenwahrheit zu sein. Nichtsdestoweniger sind im Kielwasser verschiedener Zweitspracherwerbsmodelle (vgl. dazu u. a. die unter 3.2. behandelte Identitätshypothese) immer wieder Versuche zu beobachten, die Erstsprache der Lerner
5.
Möglichkeiten und Grenzen der Steuerung des Zweitspracherwerbsprozesses aufgrund des Prinzips der Kontrastivität
16. Kontrastivität in der Grammatik
aus dem Unterrichtsprozess vollkommen auszuschließen. Die Vermarktungsstrategien internationaler Verlage begünstigen auch vielfach den Vertrieb einseitig zielsprachenorientierter Lehrwerke, in denen das Prinzip der Kontrastivität sowohl in sprachlicher als auch in kultureller Hinsicht vollkommen ausgeblendet ist. Im kommunikativ orientierten Fremdsprachenunterricht wird Kontrastivität als Bewusstmachungsstrategie vielfach abgelehnt, wobei übersehen wird, dass kognitive Elemente der Kommunikation in der Zweitsprache in den Dienst gestellt werden können. Die Ignorierung der Erstsprache lässt sich aber nicht nur auf Prämissen bestimmter Ansätze der Zweitspracherwerbs- und Sprachlehrforschung zurückführen, sondern in vielen Fällen auch auf eine Fehlinterpretation des Prinzips der Kontrastivität: Kontrastivität im Sprachvergleich und Kontrastivhypothese werden nicht selten mit Kontrastivität als Strategie gleichgesetzt (vgl. dazu 3.1.). Diese simplifizierende Auffassung der Kontrastivität führt auch zur Ablehnung der Mitberücksichtigung der Erstsprache. Bei einer differenzierteren Betrachtung der Kontrastivität eröffnen sich dagegen vielfältige Möglichkeiten für die optimale Steuerung des Unterrichtsprozesses. Kontrastivität als Strategie hat zwei Erscheinungsformen: explizite und implizite Bewusstmachung. In der Forschung herrscht Konsens darüber, dass die Bestimmung des Verhältnisses von Automatisierung und Bewusstmachung sowohl im Allgemeinen als auch auf interlinguale Kontrastivität bezogen von einem äußerst komplexen Geflecht diverser Faktoren (Alter und Persönlichkeit der Lerner, Lernziele usw.) abhängt und sich von Unterrichtssituation zu Unterrichtssituation jeweils unterschiedlich gestalten kann. Die Klärung der Rolle der einzelnen Faktoren sowie ihrer Zusammenhänge bei der Beeinflussung des Lernprozesses durch die Erstsprache gilt gegenwärtig als eine der wichtigsten Forschungsaufgaben. 5.1. Explizite Bewusstmachung der Kontrastivität als Strategie des kognitiven Lernens Explizite Bewusstmachung der Kontrastivität erfolgt durch die kontrastive Vermittlung grammatischer Erscheinungen. James (1980, 154 ff.) spricht in diesem Zusammenhang von „contrastive teaching" als einer besonderen Erscheinungsform der kontrastiven Vermittlung zweitsprachlicher Elemente und Konstruktionen. Als „contrastive teaching" gilt
201 die gleichzeitige Präsentation aller Erscheinungen eines Subsystems der Zweitsprache im Vergleich zu dem entsprechenden Subsystem der Erstsprache. Das Verfahren wird von James am Beispiel der Tempora erläutert. Juhász (1970, 164) unterscheidet drei Formen der kontrastiven Vermittlung zweitsprachlicher Erscheinungen: (1) Interlingual isomorphe Erscheinungen müssen einmal verstanden werden und können dann in den meisten Fällen ohne Bewusstmachung unmittelbar automatisiert werden. (2) Stark abweichende Erscheinungen müssen in scharfem Kontrast zur Erstsprache vermittelt und auch noch bei der darauf folgenden Automatisierung mehrmals durch eine Konfrontation mit der Erstsprache bewusst gemacht werden. (3) Bei Kontrastmangel müssen die entsprechenden Erscheinungen zur Überwindung der homogenen Hemmung häufig bewusst gemacht werden. Nach einer lange Zeit währenden Dominanz des Prinzips der absoluten Einsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht mehren sich gegenwärtig die Stimmen, die sich für eine möglichst vielfaltige Einsetzung der Muttersprache aussprechen. So sieht u.a. Butzkamm die Muttersprache als Vorleistung für die Fremdsprache an (vgl. Butzkamm 1993, 14ff.). Von dieser Grundposition ausgehend will er die Erstsprache als Vermittlungsinstanz auch im Sinne einer Vermittlungssprache beim Erwerb einer Fremdsprache gelten lassen. Die beiden wichtigsten Funktionen der Erstsprache beim Grammatikerwerb sind jedoch nach Butzkamm die Sicherstellung der funktionalen Transparenz durch idiomatische Übersetzung sowie die Gewährleistung der strukturalen Transparenz durch erstsprachliche Spiegelung, d. h. durch wortwörtliche Übersetzung der zweitsprachlichen Konstruktion in die Erstsprache. Letzteres wird bei nah verwandten Sprachen als weniger notwendig eingeschätzt. Übersetzung als kontrastive Bewusstmachungsstrategie wird gegenwärtig häufig mit Skepsis betrachtet. Dies spiegelt sich auch in der immer noch anhaltenden Tendenz, keine Übersetzungsübungen in Lehrwerke zu integrieren. Von der Mitte der 80er Jahre an melden sich im Gegenzug dazu immer mehr Forscher, die der Ubersetzung zu den ihr zustehenden Rechten verhelfen wollen. Erste An-
202 zeichen der Herausbildung einer neuen übersetzungsfreundlichen Richtung in der Fremdsprachendidaktik werden von James (1992, 194f.) dokumentiert und interpretiert. Es darf schließlich nicht unerwähnt bleiben, dass immer mehr Lehrwerke konzipiert werden, in denen das Prinzip der Kontrastivität mit berücksichtigt wird. Grießhaber (1995, 288 ff.) analysiert zweisprachige Lehrwerke unter dem Aspekt der Einbeziehung der Erstsprache und belegt überzeugend, dass sie über den direkten Sprachvergleich hinausgehend vielfältige Funktionen im Bereich der impliziten Bewusstmachung der Kontrastivität übernehmen kann. 5.2. Strategien der impliziten Bewusstmachung der Kontrastivität im Fremdsprachenunterricht Implizite Bewusstmachung der Kontrastivität umfaßt Strategien, die letztendlich herbeiführen sollen, dass der Lerner durch Inferieren Hypothesen über die Struktur der zu erlernenden Sprache aufstellt und diese ständig verbessert. Es handelt sich dabei um Selektion, Komplexitätsreduktion, Progression sowie Metapher als Bewusstmachungsstrategien bei der Vermittlung der Grammatik der Zweitsprache. Selektion bedeutet nach James (1980, 151) die Bestimmung dessen, was unterrichtet werden soll. Die Erstsprache dient dabei mittelbar über die Schwierigkeiten, die die Lerner der Zweitsprache haben, als Grundlage für die Auswahl der zu behandelnden Erscheinungen. James versteht jedoch unter Selektion nicht die ausschließliche Berücksichtigung grammatischer Erscheinungen, die in interlingualer Hinsicht Lernschwierigkeiten bedeuten. Als Terminus wurde von ihm deswegen Intensitätsselektion vorgeschlagen, um klarzustellen, dass Erscheinungen, bei denen mit der transferierenden Wirkung der Erstsprache gerechnet werden kann, nicht ganz und gar aus dem Unterricht ausgeschlossen werden dürfen. Intensitätsselektion bezieht sich auf die Unterscheidung von Bestärkung und Lernen als zwei verschiedenen Zielsetzungen bei der Erarbeitung von Unterrichtsmaterialien. Bestärkung, die bei interlingualen Isomorphismen in den Lernenden den positiven erstsprachlichen Transfer einwurzeln lassen soll, ist nicht so zeit- und arbeitsintensiv wie das Lernen von stark kontrastierenden oder ähnlichen, durch Kontrastmangel gekennzeichneten, zweitsprachlichen Erscheinungen. Intensitätsselektion äußert sich auch
III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem
in der unterschiedlichen Detailschärfe und Ausführlichkeit bei Deskription, Präsentation und Einübung der unter dem Aspekt der interlingualen Kontrastivität jeweils unterschiedlichen Teilbereiche der Grammatik der Zweitsprache. Auf diese Weise kommt es bei der Vermittlung bestimmter grammatischer Erscheinungen im Fremdsprachenunterricht zu einer erheblichen Komplexitätszunahme im Vergleich zu deren Behandlung im Muttersprachenunterricht. Die Differenzierung des Lehrstoffes unter dem Aspekt der Sprachrezeption und Sprachproduktion wird von Hessky (1994, 24) ebenfalls in diesem Zusammenhang betrachtet. Selektion wird immer von Komplexitätsreduktion begleitet. Nach Butzkamm (1993, 124) ist der Fremdsprachenunterricht „ein schwieriger Balanceakt zwischen den Erfordernissen der Kommunikation und der Komplexitätsreduktion". Es ist dabei konsequent zwischen einer Strategie der impliziten Bewusstmachung der Kontrastivität sowie verschiedenen bewussten und unbewussten Reduktionsstrategien der Lerner zu unterscheiden. Der Terminus Komplexitätsreduktion soll hier ausschließlich in der ersten Bedeutung verwendet werden. James (1980, 158ff.) schlägt vor, drei Arten der Komplexitätsreduktion gegeneinander abzuheben, und zwar strukturale, funktionale und entwicklungsbezogene Vereinfachung. Dadurch wird die nur strukturale Reduktion anerkennende traditionelle Konzeption um zwei weitere Kategorien ergänzt. Funktionale Reduktion bedeutet demnach die Vermittlung eines zweitsprachlichen Inputs, in dem die feineren funktionalen Distinktionen aufgehoben sind. Entwicklungsbezogene Reduktion wird von James auf Lernersprachen bezogen. Es kommt dabei zu Überlappungen zwischen Komplexitätsreduktion und Vereinfachung seitens der Lerner. Es darf nicht übersehen werden, dass Komplexitätsreduktion, die zu einem bestimmten Zeitpunkt Lernerleichterung bedeutet, in einer späteren Phase zur Lernbehinderung werden kann. Ein offenes Problem stellt die Differenzierung von kontrastiv begründeten und allgemeinen Lehrund Lernschwierigkeiten dar. Dies ist in seiner Tragweite mit dem Problem der Unterscheidung kontrastiv und nicht kontrastiv motivierter Fehler zu vergleichen. Grammatische Progression bedeutet die Anordnung der grammatischen Komponente des Lehrstoffs in Sequenzen, d. h. die Bestimmung der Reihenfolge ihrer Vermittlung, wo-
203
16. Kontrastivität in der Grammatik
bei das didaktische Prinzip Einfacheres vor Schwierigerem' maßgebend ist. Die grundlegende Problemstellung lautet für uns wie folgt: Ist es möglich, die grammatische Progression nach kontrastiven Gesichtspunkten zu begründen? Es ist auf jeden Fall vorauszuschicken, dass die Verzahnung der grammatischen Progression mit der lexikalischen sowie mit allgemeinen kommunikativen Anforderungen zahlreiche Widersprüche und Konflikte in sich birgt. Das wichtigste Forschungsdesideratum in diesem Bereich stellt die Klärung des Verhältnisses zwischen den kontrastiven und nichtkontrastiven Anteilen der lernerleichternd wirkenden Anordnung des zweitsprachlichen Inputs. Die kontrastiven Aspekte des Problemfeldes werfen aber auch viele Fragen auf, die gegenwärtig noch nicht befriedigend beantwortet werden können. Die These der nicht ausgereiften Variante der Kontrastivhypothese, nach der sich Lernschwierigkeiten in direkter Abhängigkeit von der interlingualen Distanz auf einer Skala hierarchisieren ließen, gilt zwar zusammen mit der Annahme, dass sich die Progression unmittelbar an der interlingualen Distanz zu orientieren hätte, als falsifiziert, ein systematisch ausgearbeiteter Gegenentwurf ist jedoch noch nicht verfügbar. Die Lösung des Problems ist - wie unter 1. erwähnt — erst von der empirischen Erforschung der subjektiven Distanzwahrnehmung zu erwarten. Der gegenwärtige Forschungsstand lässt die Erarbeitung einer in die Praxis umsetzbaren Alternative noch nicht zu, ist doch unser Wissen über Erwerbssequenzen in unterschiedlichen Typen von Spracherwerbssituationen äußerst bruchstückhaft. Das Verhältnis der Spezifik von Erwerbssequenzen im Erstspracherwerb, im ungesteuerten Zweitspracherwerb sowie in verschiedenen Entwicklungsstadien von Lernervarietäten ist gegenwärtig weitgehend ungeklärt. Festzuhalten ist, dass sich Ergebnisse aus einem dieser drei Bereiche nicht unhinterfragt in die beiden anderen übertragen lassen. Die zahlreichen einander oft widersprechenden Hypothesen der gegenwärtigen Forschungssituation müssen durch Längsschnittuntersuchungen empirisch verifiziert oder falsifiziert werden. Die Möglichkeiten der Einsetzung der Metapher als Bewusstmachungsstrategie im Fremdsprachenunterricht bei Erwachsenen werden von Selinker/Kuteva (1992, 249 ff.) am Beispiel der Vermittlung stark polysemer und zudem an Grammatikalisierungsprozes-
sen beteiligter Verben ohne isomorphe Entsprechungen in der Erstsprache im Rahmen eines kognitiven Modells aufgezeigt. Dieser Ansatz ist von der traditionellen Herangehensweise, die die Metapher als Quelle für Transfer aus der Erstsprache ansieht, abzuheben, zumal es sich hier um ein Strukturierungsprinzip bei der Aufbereitung des zielsprachlichen Inputs handelt. Die von Selinker und Kuteva vorgeschlagene Strategie scheint der von James (1992,192) geforderten Integration von Bewusstmachung und Sprachbewusstsein gerecht zu werden. Die Überlegungen zur Metapher als Strategie der impliziten Bewusstmachung interlingualer Kontrastivität sollen andeuten, dass es in diesem Bereich noch viele offene Fragen und unausgeschöpfte Potenzen gibt, die sowohl Theoretiker als auch Praktiker zur weiteren intensiven Forschung einladen. 6.
Literatur in Auswahl
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204
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Budapest
( Ungarn)
17. Wörterbücher 1. 2. 3.
Zum Gegenstandsbereich Wörterbuch Wörterbuch-Typologie Literatur in Auswahl
1.
Zum Gegenstandsbereich Wörterbuch
1.1. Begriffsbestimmung Wörterbücher sind Nachschlagewerke, sie können Dokumentations- und Informationszwecken (deskriptiv) sowie der Anleitung zum regelgerechten Sprachgebrauch (präskriptiv) dienen. Sie unterstützen Wissenserwerb und Kommunikation, einige Typen haben als „Lesebücher" auch Unterhaltungswert (Kühn 1989, 121; Strauß 1988, 200). Ihre wichtigsten Anwendungsbereiche sind muttersprachlicher und fremdsprachiger Unterricht, selbständiges Sprachenlernen sowie die Sprachmittlung. Auch für kulturelle und
sozialgeschichtliche Studien werden Wörterbücher gebraucht. Letztlich erweisen sie sich für alle Lebensbereiche und -Situationen in Geschichte und Gegenwart, in denen mit Texten gearbeitet wird, als unentbehrlich. In diesem Sinn spricht Reichmann der Lexikographie zu Recht „eine kulturpädagogische Aufgabe" zu (1988, 400; zur Rolle von Wörterbüchern bei der Verbreitung von Wissen in frühbürgerlicher Zeit vgl. v. Polenz 1994,
37 fr.). Die unterschiedlichen Zwecksetzungen haben in einer langen historischen Tradition eine große Vielfalt von Wörterbuchtypen hervorgebracht, und auch gegenwärtig entstehen immer wieder neuartige Wörterbücher, wie etwa Neubert am Beispiel des einsprachigen englischen Produktionswörterbuchs „Language Activator" erläutert (1996, 158; vgl. auch Langenscheidt's Power Dictionary 1997)
17. Wörterbücher
oder wie das schon im Titel innovative Werk „Schlüsselwörter der Wendezeit. Wörter-Buch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989/1990" (Herberg/Steffens/Tellenbach 1997; Hervorhebung I.B.) zeigt. Entsprechend heterogen fallen die Bestimmungen des Begriffs Wörterbuch aus (Schaeder 1987, 23 ff.), und als entsprechend schwierig erweist sich eine systematische Erfassung des Wörterbuchbestandes. Hausmann erklärt das Wörterbuch als „eine durch ein bestimmtes Medium präsentierte Sammlung von lexikalischen Einheiten (vor allem Wörtern), zu denen für einen bestimmten Benutzer bestimmte Informationen gegeben werden, die so geordnet sein müssen, daß ein rascher Zugang zu Einzelinformationen möglich ist" (Hausmann 1985, 369). Damit ist der Terminus Wörterbuch festgelegt auf Sprachwörterbücher. Ausgeschlossen aus dieser begrifflichen Fassung bleiben Lexika, mitunter auch Sachwörterbücher genannt, die primär Informationen zu den benannten Sachverhalten und nicht zu deren sprachlichen Benennungen liefern. Dass die Grenzen zwischen Sprachwörterbuch einerseits und Lexikon andererseits fließend sind, zeigt sich in der praktischen Lexikographie besonders deutlich bei „Mischtypen" wie Fremdwörterbüchern, Korpuswörterbüchern (Strauß/Haß/ Harras 1989; Hellmann 1992; Herberg/Steffens/Tellenbach 1997) und „Fachwörterbüchern für den Laien" (Kalverkämper 1990, 1515), die mit ihren fachlich begründeten Bedeutungserklärungen zugleich auch Sachinformationen anbieten. Auch in der Titelgebung wird zwischen den beiden Arten von Nachschlagewerken terminologisch nicht streng differenziert. Lexikon, Wörterbuch und auch Enzyklopädie kommen in Titeln von Wörterbüchern vor, ohne dass sich die entsprechenden Werke in jedem Fall wirklich typologisch unterscheiden (Schaeder 1987, 42). Gegenstand dieses Abschnitts sind Sprachwörterbücher. 1.2. Wörterbuch und Wortschatz Während der Wortschatz einer natürlichen Sprache eine objektive Gegebenheit darstellt, sind Wörterbücher Artefakte, in denen Wortschatzeinheiten nach bestimmten Prinzipien ausgewählt, geordnet und erklärt werden (Lutzeier 1995, 2). Diese Prinzipien unterliegen — stark verallgemeinert - einer wenigstens dreifachen Determination. Zum einen bestimmen die Eigenschaften des Wortschatzes und der entsprechende linguistische Kenntnisstand, welche Daten wie präsentiert
205 werden können, zum anderen sind es Funktion, potentieller Adressatenkreis des Wörterbuchs und unterschiedliche Benutzungssituationen, die Bedingungen an seine Beschaffenheit stellen. Und nicht zuletzt entscheiden auch kommerzielle Gründe über Größe, Gestalt und Informationsangebot des Wörterbuchs, worauf schon solche unterschiedlichen Benennungen wie Groß-, Hand-, Kompakt-, Liliput-, Taschenwörterbuch aufmerksam machen. Die Vielfalt und Komplexität dieser Parameter sowie ihre gegenseitige Abhängigkeit bedingen zwangsläufig ebenso viele verschiedene Wörterbuchtypen. In der Metalexikographie ist es allgemein üblich, bei der Beschreibung der Wörterbücher zwischen deren Makro- und Mikrostruktur zu unterscheiden. Erstere umfasst den „gesamten Inhalt und Aufbau eines Wörterbuchs", letztere „Inhalt und Aufbau eines Wörterbuchartikels" (Kempcke 1996, 116). 1.2.1. Umfang, Heterogenität und Dynamik des Wortschatzes sorgen dafür, dass Makround Mikrostruktur der Wörterbücher - unabhängig vom jeweiligen Wörterbuchtyp grundsätzlich „ärmer" bleiben als ihre Vorlagen. Das gilt auch für ein so umfassendes allgemeines Bedeutungswörterbuch, wie es das DWB (1999) darstellt, selbst wenn seine Konzeption vorsieht, „den Wortschatz der deutschen Gegenwartssprache mit allen Ableitungen und Zusammensetzungen so vollständig wie möglich" zu beschreiben (DWB Vorwort). Besonders an der Wortschatzdynamik lässt sich demonstrieren, dass die angestrebte Vollständigkeit illusorisch bleiben muss. Neubildungen kommen schneller in Gebrauch, als Wörterbuchauflagen aufeinander folgen können. Die Neuauflage des Rechtschreibdudens (Duden 1991), fünf bzw. sechs Jahre nach den jeweiligen Vorgängern (Mannheim 1986, Leipzig 1985) erschienen, enthält beispielsweise 5000 neue Wörter (laut Verlagsangabe auf dem Einbanddeckel). Das bedeutet einen jährlichen Zuwachs von etwa 1000 Wörtern im Standardwortschatz. Insofern ist jedes gegenwartssprachliche Wörterbuch in seinem Stichwortbestand schon beim Erscheinen geringfügig veraltet, auch hinsichtlich der Berücksichtigung von Bedeutungsveränderungen und der Tilgung ungebräuchlich gewordener Wörter (zu den Auswirkungen langer Bearbeitungszeiten auf die Wörterbuchqualität vgl. Schmidt 1997). Da Wörterbücher gewissermaßen Momentaufnahmen sind, können „Wortwanderungen" nur
206 im Ergebnis, nicht aber im Verlauf erfasst werden. Ausgleichsbewegungen zwischen den Wortschätzen verschiedener Varietäten und Sprachen sowie Phraseologisierungsprozesse sorgen für weitere Schwierigkeiten bei der Entscheidung über die Buchung lexikalischer Einheiten im Wörterbuch und damit zwangsläufig auch für Defizite. 1.2.2. Auf einen weiteren Nachteil der Wörterbücher haben die Forschungen zum mentalen Lexikon aufmerksam gemacht. Menschen besitzen ein „weitaus umfangreicheres Wissen über die Bedeutung von Wörtern [...], als jemals in ein Wörterbuch hineinpassen würde" (Aitchison 1997, 17). Weder kann ein Wörterbuch alle möglichen Bedeutungsnuancen und Kontextpartner eines Lexems noch alle seine paradigmatischen Bezüge auflisten, von weitergehenden Assoziationen innerhalb von Frames und Scripts sowie kommunikationskulturell bedingten Spezifika ganz abgesehen (Fix 1997). Insbesondere Letzteres, die „kulturspezifisch-pragmatische Markiertheit" lexikalischer Einheiten, ist bislang im Wörterbuch kaum systematisch darstellbar (Lerchner 1996, 129). Theoretische Entwürfe (wie ζ. B. der in Agricola 1987), die eine umfassende Repräsentation semantischen Wissens in Wörterbüchern anmahnen, sind vor diesem Hintergrund in ihren Erfolgschancen zu relativieren. Auch wenn in jüngster Zeit mit den elektronisch verfügbaren Sammlungen von Texten „(Speicher-)Platzprobleme" gegenstandslos zu werden scheinen (Teubert 1996, 8), bleibt die Kluft zwischen mentalem Lexikon und möglichem Wörterbuchinhalt bestehen. 1.2.3. Nicht nur die Komplexität sprachlichen (lexikalischen) Wissens, sondern auch Adressatenkreis und Wörterbuchfunktionen stellen Wörterbuchautoren vor komplizierte Bedingungen. Obwohl die Erforschung der Wörterbuchbenutzungssituationen in jüngster Zeit stärker akzentuiert wird (Püschel 1989; Zöfgen 1994), weiß man über Benutzungsanlässe noch zu wenig. Die Schwierigkeiten bei der Abstimmung von Wörterbuchkonzeptionen auf Benutzerinteressen ergeben sich aus der Vielfalt der möglichen Interessen unterschiedlicher Benutzergruppen (Kompetenzkontrolle, Textrezeption, Übersetzung und Textproduktion, Wortschatzerwerb; jeweils muttersprachlich oder fremdsprachig) und aus der Vielfalt der daraus resultierenden unterschiedlichen Ansprüche an ein Wörter-
III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem
buch. Es ist weder möglich, allen Ansprüchen in einem Wörterbuch optimal gerecht zu werden, noch für jeden einzelnen Verwendungszweck ein besonderes Wörterbuch anzubieten. Wörterbücher sind daher schon aus ökonomischen Gründen stets für eine polyfunktionale Nutzung konzipiert, was immer Kompromisse in Makro- und Mikrostruktur einschließt. Da sich die Adressaten schließlich nicht in trennscharfe Interessengruppen gliedern lassen, überlappen sich auch in dieser Hinsicht die Bedingungsfaktoren für die Wörterbuchkonzipierung mehrfach (Kühn 1989, 121). 1.3. Perspektiven der Lexikographie Durch die schnelle Entwicklung der elektronischen Datenträger und der multimedialen Kommunikation deuten sich gegenwärtig tiefgreifende Veränderungen in der Lexikographie an, und zwar sowohl in Bezug auf die lexikographischen Arbeitsgrundlagen und Methoden als auch in Bezug auf die Produkte. Wörterbücher existieren nicht mehr nur als Printwörterbücher, sondern auch als elektronische Offline- und Online-Wortsammlungen. Storrer/Freese (1996, 109 und 131) registrieren im August 1996 in einer Wörterbuchsammlung im Internet immerhin schon 154 verschiedene Online-Wörterbücher. Die elektronische Erstellung und Verwaltung großer Datenkorpora schaffen völlig neuartige Bedingungen und Voraussetzungen für die Produktion von Wörterbüchern („computerunterstützte Lexikographie", Storrer 1996,240) und auch für die Wörterbuchgestalt („Computerlexikographie", Storrer ebd.). Sie ermöglichen v. a., auf ein Korpus in vielfach verschiedener Weise zuzugreifen, so dass unterschiedliche Informationsbedürfnisse mit ein und demselben Verzeichnis befriedigt werden können. Der gewissermaßen unbegrenzt große Raum für Einträge und die hohe Arbeitsgeschwindigkeit der Rechner dürften optimale Bedingungen für Wörterbuchautoren und Wörterbuchbenutzer gleichermaßen darstellen. Noch gelten jedoch die Printwörterbücher gegenüber elektronischen Wörterbüchern als überlegen. In ihrer Analyse des Angebots an Online-Wörterbüchern kommen Storrer/Freese (1996, 129) zu dem Schluss, dass insbesondere „Verbindlichkeit und Verläßlichkeit" der elektronischen Verzeichnisse derzeit unbefriedigend seien. Auch die mikrostrukturellen Angaben, sofern davon überhaupt schon gesprochen werden kann, wiesen noch erhebliche Mängel auf. Als Grund nen-
17. Wörterbücher
nen die Autorinnen die bisherige Zurückhaltung der großen professionellen Wörterbuchverlage in dem neuen Medium, die in erster Linie mit der unsicheren Rechtslage zu erklären sei. Für sich schnell verändernde Fachwortschatzbereiche, wie etwa die Terminologie in Informationstechnik und Informatik, bieten die elektronischen Wörterbücher jedoch schon jetzt erhebliche Vorteile, v. a. wegen der optimalen Aktualisierungsmöglichkeiten der Einträge und der Vielfalt der Zugriffsarten auf die Daten- und Informationstypen. Im Zusammenhang mit den verbesserten Möglichkeiten der Korpusarbeit ist auch das Entstehen großangelegter selektiver Korpuswörterbücher (vgl. 1.1.) zu sehen. Sie dokumentieren sämtliche Vorkommensfalle ihrer Lemmata, beschreiben deren mögliche Umgebungen, erklären Begriffliches und liefern die für das Wortverständnis erforderlichen sachbezogenen Hintergrundinformationen (Hellmann 1992, *22). 2.
Wörterbuchtypologie
2.1. Typologisierungsaspekte Wörterbücher lassen sich nach folgenden Parametern gruppieren (vgl. Schaeder 1990, 692): a) nach der Anzahl der aufgenommenen Sprachen; b) nach Sprachstadien; c) nach Informationsart und Lemmatypen; d) nach Benutzergruppen und deren Informationsbedürfnis. Ein anderer Vorschlag zur Typologisierung arbeitet v. a. sprachzeichentheoretisch begründete (semasiologisch/onomasiologisch, paradigmatisch/syntagmatisch, formativbezogen/ semantisch) und sprachsoziologisch bestimmte (zeitliche, soziale, regionale, funktionale, benutzerabhängige) Unterschiede zwischen den Wörterbüchern heraus (Henne 1980, 779 ff.). Kühn bietet schließlich eine detaillierte Typologie nach Benutzungsmöglichkeiten (1989), Kromann (1992) ergänzt einen Typologieentwurf aus der bis dahin in der deutschen Lexikographie eher vernachlässigten Perspektive des fremdsprachigen Wörterbuchbenutzers, indem er zwischen senderbezogenen, sprachzeichenbezogenen und empfangerbezogenen Klassifizierungskriterien differenziert und spezifische Bedürfnisse des fremdsprachigen Lerners berücksichtigt.
207 Er kann zeigen, dass sich die Informationsbedürfnisse des Muttersprachlers und des Fremdsprachlers ganz wesentlich voneinander unterscheiden. Da jedes Wörterbuch mehr als eine der für einen Typ relevanten Eigenschaften hat, d. h. jeweils mehrere Typen repräsentieren kann, und demzufolge auch mehreren Zwecken zu dienen vermag, ergeben sich bei allen Typologien potentielle Mehrfachzuordnungen der Wörterbücher (Hausmann 1989, 969 f.). 2.2. Monolinguale, bilinguale und multilinguale Wörterbücher Nach der Zahl der aufgenommenen Sprachen ist zwischen monolingualen, bilingualen und multilingualen Wörterbüchern zu differenzieren. Im monolingualen Wörterbuch dominiert das Erklären, im bi- und multilingualen das Vergleichen (Henne 1980, 779). Einen jüngeren „Mischtyp" stellt das sog. „bilingualisierte Lernerwörterbuch" dar (Hartmann 1994, 17), das jeweils eine Übersetzung der Bedeutungserklärungen der fremdsprachigen Lemmata enthält, alle anderen Angaben jedoch nicht übersetzt. Am verbreitetsten unter den Wörterbüchern mit mehr als einer Sprache sind die bilingualen. Allein für das Sprachenpaar Französisch-Deutsch zählt Rettig 1984 im Buchhandel 27 verschiedene Wörterbücher (Rettig 1991, 2988), wobei allgemeine Wörterbücher überwiegen. Bei den bilingualen Wörterbüchern unterscheidet man je nach Benutzungssituation passive (Übersetzung in die Muttersprache) und aktive Wörterbücher (Übersetzung in die Fremdsprache) (Hausmann 1985, 377). In der lexikographischen Praxis sind allerdings die meisten bilingualen Wörterbücher aus kommerziellen Gründen doppelt gerichtet, d.h., sie wollen sowohl Muttersprachler als auch Fremdsprachler der Ausgangs- und Zielsprachen ansprechen. Vor der unkritischen Verwendung bilingualer Wörterbücher als Übersetzungswörterbücher wird wegen der möglichen semantischen Diskrepanzen zwischen Systemwörtern (im Wörterbuch) und Textwörtern zu Recht gewarnt. Bi- und multilinguale Wörterbücher stellen aus übersetzungswissenschaftlicher Sicht lediglich „Orientierungshilfen" für den Benutzer dar, da Übersetzung immer Text- und nicht Herübersetzung sein muß (Neubert 1996, 159). Zur Überwindung der als unbefriedigend empfundenen Wörterbuchsituation für die Textproduktion in der Fremdsprache macht Zöf-
208 gen (1994, 338) Vorschläge für die Erarbeitung bilingualer Lernerwörterbücher nach dem Vorbild der monolingualen. Bilinguale Lernerwörterbücher sollten ihren Schwerpunkt auf die Verbesserung der Mikrostruktur legen, v. a. durch die Aufnahme von Verwendungsbeispielen. Eine elektronische Alternative zum herkömmlichen bilingualen Wörterbuch, ein „Übersetzungswerkzeug" der Zukunft, das möglichst viele Originaltexte einer Sprache und deren übersetzte Äquivalente (das gesamte „Übersetzungswissen") bereitstellt, wird gegenwärtig als deutsch-französisches Projekt entwickelt (Teubert 1996). Der Übersetzer könnte seine Aufgabe mit einem solchen VerwendungsKorpus nach einem gebuchten Vergleichsfall lösen oder aus verschiedenen bereits übersetzten Sätzen eine Variante auswählen. Wörterbücher mit mehr als zwei Sprachen erscheinen wegen ihrer zwangsläufig stark reduzierten Mikrostruktur in erster Linie für Fachlexik sinnvoll (Haensch 1991, 2924), insbesondere für Nomenklaturen, weniger für allgemeinsprachlichen Wortschatz (außer etwa in „Gesprächsbüchern" oder „Sprachführern"). Für multilinguale Wörterbücher wird im Sinne der dominierenden Benutzerinteressen die onomasiologische (begriffliche) Ordnung der Stichwörter, ergänzt um ein alphabetisches Register, empfohlen. 2.3. Historische und gegenwartssprachliche, synchrone und diachrone Wörterbücher Ebenso grundsätzlich für eine Wörterbuchtypologie wie die Zahl der aufgenommenen Sprachen ist die Trennung zwischen historischen und gegenwartssprachlichen Wörterbüchern. Diese Wörterbücher erfassen jeweils unterschiedliche Sprachstadien, z. B. das Althochdeutsche, Mittelhochdeutsche, den Wortschatz der Gegenwartssprache oder auch den Wortschatz historischer Autoren und Texte. Die Sprachstadienwörterbücher können synchron oder diachron angelegt sein (Reichmann 1990,1589). 2.4. Allgemeine und Spezialwörterbücher Nach „Art und Umfang des Informationsangebots" (Schaeder 1990, 692), der Art der Lemmata und nach den Wörterbuchadressaten unterscheidet man allgemeine oder Gesamtwörterbücher von Spezialwörterbüchern. Allgemeine Wörterbücher erfassen den Standardwortschatz in der Regel in semasiologischer (alphabetischer) Ordnung und beinhalten eine große Zahl von Informationstypen
III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem
und Lemma- oder Einheitstypen (Hausmann 1989, 971). Spezialwörterbücher greifen einzelne Bauteile aus den allgemeinen Wörterbüchern heraus oder entscheiden sich für eine spezifische Auswahl von Lemmatypen und machen sie zu ihrem Hauptinhalt. Sie ordnen die Lemmata initial- oder fmalalphabetisch oder onomasiologisch. Schließlich arbeiten bestimmte Typen auch mit anderen semiotischen Systemen (Bildwörterbücher). Adressatenspezifische Spezialwörterbücher, wiederum als allgemeine oder spezielle Wörterbücher konzipiert, richten sich vornehmlich an Lernende. 2.4.1. Als typische Bauteile für allgemeine Wörterbücher gelten die Bedeutungsdefinition und „weitere identifizierende Angaben", die Syntagmatik und Paradigmatik sowie die Markierungen (Hausmann 1989, 974). Wegweisend für die Entwicklung allgemeiner einsprachiger Wörterbücher für die Standardsprache war in den letzten Jahrzehnten das WDG (1961-1977); seinen Nachfolgern konnte es wesentliche Anregungen für die Auswahl von Datentypen und Präsentationsverfahren geben. Heute ist das zehnbändige DWB (1999) mit mehr als 200000 Stichwörtern das repräsentativste und aktuellste allgemeine einsprachige gegenwartssprachliche Wörterbuch. Seine Zielgruppe sind primär Muttersprachler - nach Gesamtumfang, Beschreibungssprache und mikrostruktureller Ausprägung des Wörterbuchtextes geurteilt fortgeschrittenen Fremdsprachenlernern wird es vermutlich vor allem rezeptiv nützen. Das DWB verzeichnet Wörter, Kurzwörter, Phraseologismen und Wortbildungselemente als Lemmata, ordnet sie alphabetisch und erklärt sie phonetisch, flexionsmorphologisch, semantisch, etymologisch und in ihrer diasystematischen Markiertheit. Die paradigmatische und syntagmatische Einordnung der Wort-Lemmata erfolgt durch die Angabe von Synonymen, Antonymen, Wortfamiliengliedern sowie Verwendungsbeispielen und -belegen. Veraltender und veralteter Wortschatz des 19. und 18. Jhs. wird aufgenommen, soweit er durch die Literatur aus dieser Zeit (passiv) noch lebendig ist. 2.4.2. Informationstypische Spezialwörterbücher beschreiben ihre Lemmata nach jeweils ausgewählten Gesichtspunkten. Paradigmatische Spezialwörterbücher ordnen sie in Wortfamilien, synonymische und antonymische Paradigmen oder lexikalische Felder
17. Wörterbücher ein (Schröder/Fix 1997). Syntagmatische Spezialwörterbücher verzeichnen typische semantische und syntaktische Verknüpfungen und Konstruktionen (Kollokations-, Stil-, Konstruktions-, Phraseologismen-, Sprichwortwörterbücher). Weitere Informationstypen sind z.B. die Schreibung, Aussprache oder Struktur der Lemmata. Die informationstypischen Valenzwörterbiicher sind nach der Typologie der HSKBände Wörterbücher (1989-1991) „wortartbezogene selektive Konstruktionswörterbücher" (Hausmann 1990). Entwickelt haben sie sich aus Bedürfnissen des Unterrichts für Deutsch als Fremdsprache, und zwar vor allem mit dem Ziel, Syntaxfehler bei der Sprachproduktion vermeiden zu helfen. Daher sind sie vornehmlich für Lerner bestimmt, die semantische und grammatische Informationen für die Satz- und Textbildung suchen. In den Valenzwörterbüchern werden in der Regel die Aktantenzahl sowie die syntaktische und semantische Charakteristik der Aktanten der jeweils in Frage kommenden Wörter bereitgestellt. Für das Deutsche sind die Verb-, die Substantiv- und die Adjektivvalenz lexikographisch beschrieben (ζ. B. Helbig/Schenkel 1980), wodurch die Fremdsprachendidaktik, aber auch die valenztheoretische Forschung und die Lexikographie maßgeblich befördert wurden (Heibig 1983; Wiegand 1990, 2171 ff.; Glück 1991, 20). Nach der vielseitigen Erprobung der Valenzwörterbücher im Fremdsprachenunterricht schätzt man ihren praktischen Nutzen inzwischen als etwas geringer ein. Als Grund dafür gilt vor allem die Erfahrung, dass ihr Anspruch, die Bildung agrammatischer Sätze verhindern zu helfen, meist zu hoch ist. Ihre Benutzung erfordert linguistische und besonders valenztheoretische Kenntnisse. Mit der niedrigen Stichwortanzahl — 488 Verben in Helbig/Schenkel (1980); etwa 1000 Verben in Schumacher (1986) - ist die Auskunftsfähigkeit außerdem beschränkt, zumal die Auswahl der Stichwörter zwangsläufig willkürlich ist, auch wenn Frequenz, Gebräuchlichkeit und Schwierigkeitsgrad (Helbig/Schenkel 1980) oder auch Lernzielorientierung (Schumacher 1986) als durchaus zweckmäßige Auswahlkriterien gedient haben. Und schließlich abstrahiert die meist kontextlose systemorientierte Wörterbuch-Beschreibung weitestgehend von dem Sachverhalt, dass die Grammatikalität von Sätzen nicht nur von der (korrekt beachteten) Valenz der beteiligten Verben, Substantive und Adjektive, sondern sehr stark auch
209 pragmatisch bestimmt ist und von weiteren Satzelementen (freien Angaben, Modalverben u.a.) abhängt (Wegener 1981, 238). Es scheint nach der langjährigen Praxis mit den Valenzwörterbüchern und der Argumentation der Praktiker aus heutiger Sicht erfolgversprechender zu sein, die Angaben zur Valenz in den allgemeinen Wörterbüchern zu erweitern und zu präzisieren, wie das etwa in LWB (1993) mit den Strukturformeln versucht wird. Dafür stellen die Valenzwörterbücher eine nützliche Grundlage dar. 2.4.3. Lemma- oder einheitstypische Spezialwörterbücher wählen aus dem Gesamtwortschatz bestimmte Klassen lexikalischer Einheiten nach morphologischen, syntaktischen, semantischen, etymologischen, funktionalen oder anderen Eigenschaften als Stichwörter aus, beispielsweise Fremdwörter, Eigennamen, Phraseologismen, Kurzwörter, diasystematisch markierte Wörter, Wortbildungsmittel oder auch Wörter bestimmter Wortarten, und erklären sie nach verschiedenen Aspekten, meistens semantisch. Exemplarisch für wortartbezogene Spezialwörterbücher und als besonders nutzbringend für DaF-Lerner ist die „Lexikon-Reihe" zu den Funktionswörtern zu nennen, zu einer Lexikgruppe, der in allgemeinen Wörterbüchern in der Regel weniger Raum gewidmet ist. In separaten Bänden werden Wörter der Wortarten Präposition (Schröder 1986), Partikel (Heibig 1988), Konjunktion (Buscha 1989), Modalwort (Helbig/Helbig 1990) und schließlich der Artikelgebrauch (Grimm 1987) lexikographisch dargestellt, was für Wörter dieser Wortarten v. a. eine lexikographische Aufbereitung ihrer Grammatik bedeutet. Das Partikelwörterbuch bietet ζ. B. zu jedem Lemma (im Falle von Polyfunktionalität zu jeder Funktionsvariante) syntaktische Erklärungen (Stellungsregeln, Kompatibilität, Bevorzugung bestimmter Satzarten), Erläuterungen zur Funktion einschließlich der Synonyme, Verwendungsbeispiele oder -texte, meist eine Paraphrase ihrer Gesamtbedeutung sowie gelegentlich Anmerkungen zu weiteren Gebrauchsmerkmalen (Heibig 1988, 77ff.). Wiegand (1990, 2189) empfiehlt die Übertragung dieses Wörterbuchtyps auf funktional markierte nennlexikalische Einheiten, wie etwa auf die Funktionsverbgefüge. Wortartbezogene Wörterbücher mit diesen Informationstypen entsprechen der für einsprachige Wörterbücher forschungsgeschichtlich nachweis-
210 baren Tendenz vom „Wörterbuch ohne Grammatik zu einem mit immer mehr Grammatik" (Wellmann 1996, 228). 2.5. Adressatenspezifische Wörterbücher Eine adressatenorientierte Typologie systematisiert mono-, bi- und multilinguale Wörterbücher nach ihrem potentiellen Benutzerkreis (Mutter- und Fremdsprachler, Lerner, Sprachinteressierte, Journalisten, Übersetzer, Wissenschaftler, Schriftsteller etc.) und den daraus ableitbaren Benutzungssituationen (Wiegand 1985; Kühn 1989; Kromann 1992). Wörterbuchtypologisch relevante Situationen sind vor allem das Nachschlagen bei der Textrezeption und -Produktion sowie die Verwendung eines Wörterbuchs zum erbauenden Lesen und systematischen Lernen, und zwar durch Mutter- und Fremdsprachler (vgl. den Begriff „wortorientiertes Lese- und Sprachlehrbuch" bei Strauß 1988, 200). Für fremdsprachige Lerner von besonderem Interesse sind die sog. didaktischen Spezialwörterbücher. 2.5.1. Gegenüber dem allgemeinen einsprachigen Wörterbuch für Muttersprachler weist ein allgemeines einsprachiges Lernerwörterbuch für Fremdsprachler konzeptionelle Besonderheiten auf, die sich aus seiner Adressatenorientierung und Funktionszuschreibung ergeben (Barz/Schröder 1994; Zöfgen 1994; Kromann 1995, Wiegand 1995). Sie betreffen insbesondere die Stichwortmenge, -auswahl und -anordnung einschließlich der typographischen Gestaltung und Ausstattung mit Abbildungen, Zeichnungen, Übersichten und landeskundlichen Hinweisen (Makrostruktur) sowie die gesamte Mikrostruktur. Einsprachigen Lernerwörterbüchern werden drei Grundfunktionen zugeordnet: Sie sollen ergänzend zu zweisprachigen Wörterbüchern möglichst gleichzeitig als Rezeptions-, Produktions- und Lernhilfe geeignet sein. Daraus erwachsen die unterschiedlichen Ansprüche an die Ausformung von Makro- und Mikrostruktur. Die Lesefunktion fordert ζ. B. ein umfangreiches Stichwortinventar, die Schreibfunktion dagegen eine reichhaltige Mikrostruktur mit differenzierten grammatischen Angaben (Wellmann 1996, 240) und mit typischen Verwendungskontexten. Um mit einem Wörterbuch auch systematisch lernen zu können, muss die alphabetische Ordnung zugunsten einer onomasiologischen Feldgliederung systematisch durchbrochen sein, auch durch Übersichten und Tabellen,
III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem
ohne dass wiederum die schnelle AufFindbarkeit der Stichwörter beeinträchtigt sein darf. Diese unterschiedlichen Anforderungen an Informationsumfang und Informationsarten, die im Grunde genommen jeweils einzeln ein eigenständiges Wörterbuch rechtfertigen könnten (vgl. 1.2.1.), erzwingen bei allen konzeptionellen Entscheidungen gewisse Abstriche in Bezug auf die optimale Bedienung einer Funktion. Für das Deutsche existiert ein allgemeines einsprachiges Lernerwörterbuch erst seit 1993 (LWB), ein weiteres wird gegenwärtig zur Veröffentlichung vorbereitet (Kempcke 1996, 115). Da Lernerwörterbücher selektive Wörterbücher sind, ist ihr Stichwortbestand quantitativ geringer als der in allgemeinen Wörterbüchern für Muttersprachler. Die nötige Auswahl, die auch in Wörterbüchern für Muttersprachler ein grundsätzliches Problem darstellt, wird nach lernerspezifischen Gesichtspunkten getroffen. Fremdsprachenlerner suchen weniger Auskunft über das Seltene, Periphere, sondern eher über den verbreiteten Standardwortschatz und hierbei insbesondere über Bedeutung und Gebrauch der Pronomina und Funktionswörter (Kempcke 1992, 175). Als Richtwert gilt ein Umfang von etwa 30 000 Einheiten. Je weiter die Stichwortzahl darüber hinaus geht, um so stärker müssen Umfang und Informationsvielfalt der einzelnen Wörterbuchartikel reduziert werden. Optimale Lösungen für eine lernergerechte Auswahl indes gibt es weder für ein kleineres Wörterverzeichnis noch für ein umfangreiches (Kühn 1989). Sowohl die Frequenz lexikalischer Einheiten, ihre etymologische Selbständigkeit bzw. Wortbildungsstruktur als auch semantisch-pragmatische Prinzipien sind zu berücksichtigen (Kühn 1990). Im LWB (1993) gelingt der Aufbau einer lernergerechten Mikrostruktur trotz einer relativ großen Lemmazahl beispielsweise nur um den Preis, dass ein Großteil usueller transparenter Komposita keinen eigenen Artikel bekommt, sondern den Bedeutungsvarianten der Erstoder auch der Zweitglieder in deren jeweiligem Artikel zugeordnet ist. Die Einbettung des Einzelbeispiels in ganze Kompositionsreihen sorgt neben der semantischen Ableitbarkeit der Gesamtbedeutung aus den Konstituentenbedeutungen dennoch in den meisten Fällen für dessen adäquate Semantisierung. Zugunsten der großen Stichwortzahl ist darüber hinaus das Verweissystem bei Synonymen eingeschränkt (Barz/Schröder 1994, 134). Andererseits bietet ein so großes Stich-
17. Wörterbücher wortinventar wie das im LWB die Gewähr, dass das gesamte Defmitionsvokabular im Wörterbuch nachgeschlagen werden kann ein unübersehbarer Vorteil. Außerdem sind auch relativ seltene Wörter, die vor allem bei der Textrezeption gebraucht werden, enthalten (Barz 1995, 22). Weitere adressatenspezifische makrostrukturelle Besonderheiten im LWB sind die Aufnahme verbaler Stammformen als Lemmata, das Angebot von Übersichten zur Stammbildung der starken Verben, zur Adjektiv- und Artikelflexion und zur Rektion der Präpositionen. Für künftige Lernerwörterbücher erwägt Wellmann (1996, 226) eine noch stärkere Berücksichtigung von Makrosegmenten, „die das Zusammenspiel zwischen sprachlichen Formen der morphologischen, syntaktischen und lexikalischen Ebene zeigen", wie etwa die Aufnahme von Feldern des Vergleichens oder Begründens. Was die Anordnung der Lemmata betrifft, so eignet sich eine onomasiologische deutlich besser für Textproduktion und Wortschatzerwerb als die semasiologische (alphabetische). Sie beeinträchtigt jedoch Handlichkeit und Übersichtlichkeit des Wörterbuchs für den Benutzer; daher wird die Integration der beiden Ordnungsverfahren empfohlen (Zöfgen 1994, 75). Die einzelnen Artikel des Lernerwörterbuchs geben dem Benutzer außer der lexikalisch und syntaktisch möglichst unkompliziert formulierten Bedeutungsumschreibung vor allem solche Informationen, die die korrekte Verwendung des Lemmas gewährleisten sollen. Im Vergleich mit dem allgemeinen einsprachigen Wörterbuch für Muttersprachler sind dafür u. a. folgende Besonderheiten charakteristisch: - eine strikte Homonymisierung durch das Ansetzen separater Einträge bei Wortartverschiedenheit formengleicher Wörter (ζ. B. aber als Konjunktion, als Partikel und auch als Adverb), dasselbe auch bei deutlicher semantischer Differenz wortartgleicher Wörter {Messe: ,Gottesdienst', Ausstellung', ,Eßraum auf einem Schiff; zur didaktischen Funktion dieser „Degruppierung" vgl. Zöfgen 1994, 84 und 94); - die Angabe von satzbildenden Gebrauchsmustern in Form von „Strukturformeln" bei Verben, die Auskunft geben über obligatorische und fakultative sowie variable Aktanten, über die Rektion und halbfeste Kollokationspartner der Verben; - die Angabe von präpositionalen Anschlüssen bei Verbalsubstantiven, Adjektiven und
211 Adverbien (eine Forderung an jmd., nach etwas; eifersüchtig auf jmd., etwas; mitten in etwaj/Dat.); - die nestalphabetische Einbettung der Komposita mit dem jeweiligen Stichwort als Erst- oder Zweitglied, die nicht nur komplementär zur Bedeutungserklärung Aufschlüsse über die lexikalische Bedeutung des jeweiligen Lemmas ermöglichen, sondern auch typische Kompositionsmuster repräsentieren, was besonders für die Wortproduktion hilfreich sein kann (Wellmann 1996, 238). 2.5.2. Neben den allgemeinen Lernerwörterbüchern spielen im Fremdsprachenunterricht makrostrukturell selektive Spezialwörterbücher eine wichtige Rolle, insbesondere sog. Grundwortschatzwörterbücher. Ihre Konzeptionen folgen dem sprachpädagogischen Gedanken, dass Lernern im Sinne der Lernmotivation überschaubare Wortinventare angeboten werden sollten. Sie sind mono-, bi- oder multilingual konzipiert sowie fachsprachlich oder allgemeinsprachlich orientiert. Als Maßstab für die optimale Zahl und Auswahl der Einträge werden dabei sowohl die „potentielle kommunikative Verwendung des Wortschatzes" (Kühn 1990, 1358; vgl. Krohn 1992) als auch typische Bedürfnisse ihrer Adressaten bestimmt. Der Wortschatz wird dementsprechend ausgewählt nach der Vorkommensfrequenz und komplementär dazu nach seinem Vertrautheitsgrad, seiner Nützlichkeit und Verfügbarkeit in typischen (Alltags- oder fachlichen) Situationen sowie nach seiner Wichtigkeit für die gedachte Adressatengruppe (Zöfgen 1994, 253ff.). Empfohlen wird, v. a. schwierige und fehleranfallige Wörter zu berücksichtigen, des Weiteren solche, die in mehreren Lehrwerken vorkommen (Zöfgen 1994, 283 ff.). Schulwörterbücher sollten gestalterisch durch Zeichnungen, Übersichten, Landkarten u. ä. aufgelockert sein (Lübke 1995, 296). Die Angaben zum Umfang eines Grundwortschatzes schwanken je nach Wörterbuchfunktion beträchtlich. Wenn die Zahl zugrunde gelegt wird, die der Lerner für das Verständnis eines „normalen" Textes braucht, müsste ein Grundwortschatzwörterbuch etwa 15000 Einträge enthalten (Hausmann 1979, 332). Für den aktiven Wortschatz eines Lerners werden etwa 6000 Wörter als ausreichend angesehen; mit ihnen seien die meisten Situationen im Alltag sprachlich zu bewältigen (Zöfgen 1994, 78). Was die Wörterbuchgestaltung angeht, so ist man sich weitgehend einig in der Forderung,
212
III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem
dass Grundwortschätze für eine optimale Verwertbarkeit onomasiologisch geordnet und möglichst auch didaktisch aufbereitet sein sollten. Langenscheidts Grundwortschatzwörterbuch zum Deutschen, das als bilinguales Wörterbuch für Lerner verschiedener Muttersprachen (z.B. englisch, italienisch, spanisch) vorliegt, ordnet seine etwa 4000 Stichwörter in 21 Gruppen wie „Mensch, Handlungen und Aktivitäten, Sprache und Sprechabsichten, Mensch und Gesellschaft, Alltagswelt, Wirtschaft und Verwaltung oder Länder und Völker" (Basic German Vocabulary 1991) und bietet parallel zu diesen Wortschatzinventaren Übungsbücher mit Lösungsschlüssel an, die zum richtigen Gebrauch der Wörter anleiten. Als typische Adressatengruppen für Grundwortschatzwörterbücher werden vor allem fremdsprachige Lerner aller Altersstufen und muttersprachliche Schüler angesehen. Wann jemand wozu ein Grundwortschatzwörterbuch tatsächlich benutzt, gilt allerdings immer noch als offene Frage (Kühn 1990, 1360). Deren Beantwortung gehört zu den Aufgaben der Wörterbuchbenutzungsforschung, die neben der typologischen, historischen und kritischen Wörterbuchforschung eine wesentliche Komponente einer Theorie der Lexikographie darstellt.
3.
Literatur in Auswahl
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(Deutschland)
18. Kontrastivität in der Lexik 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
1.
Vorbemerkung: Was will dieser Beitrag leisten? Kontraste bei Internationalismen Kontraste durch lexikalisch-semantische Divergenz bzw. Konvergenz Kontraste durch Anwendung unterschiedlicher Nominationsverfahren Kontraste durch unterschiedliche Distribution von Wortbildungsmitteln Kontraste durch unterschiedliche morphosemantische Motivation Kontraste durch kulturhistorisch bedingte Benennungsmotivation Kontraste bei den „falschen Freunden" Literatur in Auswahl
Vorbemerkung: Was will dieser Beitrag leisten?
Die Überschrift eines Aufsatzes von Hausmann (1995) „Von der Unmöglichkeit der kontrastiven Lexikologie" könnte die Sinnhaftigkeit unseres Beitrags von vornherein in Frage stellen. Die Überschrift eines Aufsatzes von Lutzeier (1995b), im gleichen Band wie Hausmanns Beitrag veröffentlicht, „Es lohnt sich - Kontrastive Lexikologie Deutsch/ Englisch im Bereich ,Einkünfte' " stimmt schon hoffnungsvoller. Auch Hausmann (1995, 20) präzisiert seine Überschrift: „Dass kontrastive Lexikologie möglich ist, bedarf keiner Frage. Die Frage ist: Wieweit ist kontrastive Lexikologie möglich?" (Hervorhebungen durch Hausmann)
Die Grenzen werden wohl u.a. dadurch gezogen, dass Wortbedeutungen (und somit Wortverwendungen) - wie andere sprachliche Phänomene auch - grundsätzlich einzelsprachlich festgelegt sind, dass sie aber — da lexikalische Einheiten Individuen sind — weit weniger verallgemeinerbaren Gesetzmäßigkeiten (im Sinne von exakt beschreibbaren Regularitäten) folgen, als dies beispielsweise in vielen Bereichen der Grammatik der Fall ist. Hinzu kommt, dass Wortbedeutungen (und somit Wortverwendungen) sehr oft in mehr oder weniger subtiler Weise kontextabhängig sind. Auch diese Kontextabhängigkeit ist in ihrem konkreten Wirken grundsätzlich intralingual festgelegt. Hausmann (1995, 21) leitet aus der bedeutenden Rolle des Kontextes sogar die Unterscheidung zweier Arten von interlingualer Äquivalenz ab: Wortäquivalenz und Textäquivalenz (der terminologischen Eindeutigkeit halber vielleicht besser: Kontextäquivalenz). Die Überschrift unseres Beitrags könnte die Vermutung nahelegen, dass uns jeweils nur die Kontraste (also die Unterschiedlichkeiten) zwischen LI und L2 interessieren werden. Wir versuchen in Anlehnung an Heibig (1981), Sternemann (1983a) u.a., durch konfrontatives Vorgehen sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Kontraste in der Lexik von LI und L2 zu ermitteln. Diese Orientierung auf beides ist nicht nur untersuchungsmethodologisch begründet: Erst durch die Ermittlung der Ge-
18. Kontrastivität in der Lexik meinsamkeiten und der Unterschiede zwischen LI und L2 lassen sich durch Vernachlässigen der Gemeinsamkeiten die Kontraste feststellen. Unsere Vorgehensweise ist auch in starkem Maße den Bedürfnissen des Faches Deutsch als Fremdsprache verpflichtet. Lutzeier (1995b, 10) begründet dieses Vorgehen einleuchtend: „Die Beachtung der Gemeinsamkeiten ist mindestens genauso wichtig wie die beliebte Betonung der Unterschiede, garantieren doch die Gemeinsamkeiten erst den Rahmen, der als Bezugspunkt für den Vergleich unabdingbar ist." Unser Beitrag ist natürlich — in der Terminologie von Lutzeier (1995b, 10) - „mehrsprachlich kontrastiv" angelegt, d. h. Lexik der Sprachen LI, L2, L3 usw. bildet unseren Untersuchungsgegenstand und nicht etwa Lexik verschiedener Varietäten des Deutschen. Diesen Gegenstandsbereich hätte nach Lutzeier eine „einzelsprachlich kontrastive Lexikologie" zu bearbeiten. Wir beschränken uns auf die „Suche der Irl-Entsprechungen" zwischen LI und L2, die Hausmann (1995, 20) zur „Hauptaufgabe der kontrastiven Lexikologie" erklärt. Unser Ziel lässt sich aus einer bei Hausmann (1995, 23) zu findenden Metapher ableiten: „Der Lexikologe konstruiert eine mehr oder weniger grobe Gliederung der gesamten Landschaft (eines Wortschatzes; G.) und nimmt ein paar herausragende Berge, Seen und Wälder auf. Wie sollte er der Knorrigkeit jedes einzelnen Baumes nachspüren?" Wir setzen uns das Ziel, anhand einiger „herausragende(r) Berge, Seen und Wälder" - gelegentlich auch nur einiger Hügel, Teiche und Baumgruppen - einen Eindruck von der Vielfalt, der Komplexität und der Kompliziertheit der Kontrastivität in der Lexik zu vermitteln. Es versteht sich, dass wir nicht die Absicht haben, der „Knorrigkeit jedes einzelnen Baumes" (jedem Äquivalentpaar) nachzuspüren. Dieses Anliegen muss Einzeluntersuchungen vorbehalten bleiben. 2.
Kontraste bei Internationalismen
Die Namen der Monate in zahlreichen europäischen Sprachen sind ein Beispiel par excellence für die Graduierung von Kontrasten bei Internationalismen. Deutschlerner mit dänischer oder norwegischer Muttersprache werden im Schriftbild der meisten deutschen Monatsnamen nichts Fremdes bemerken (sieht man von der Großschreibung ab). Lediglich März (dän. marts, norw. mars), Mai (dän.
215 maj) und Dezember (dän. december, norw. desember) weisen geringfügige Unterschiede auf. Auch zwischen dem Deutschen und nichtgermanischen Sprachen bestehen punktuell durchaus Identitäten: Januar, kroat., slowen. januar; Februar, kroat., slowen. februar, April, kroat., slowen. aprii; August, slowak. august\ September, slowak., slowen. September; Oktober, slowen. oktober; November, slowak., slowen., ungar. november. Schwache Kontraste entstehen z. B. durch orthographische Assimilation (Gladrow 1989, 168 f.). Sie reicht von der Verwendung diakritischer Zeichen (hier besonders im Slowakischen und im Ungarischen: slowak., ungar. januär, februär; slowak. aprii; slowak., ungar. oktober) bis zur (phonologisch bedingten) Verwendung anderer Buchstaben bzw. Buchstabengruppen: mss.janvar', bulg. januari; russ.fevral'; bulg., kroat., russ. mart; poln. marzec, slowak., slowen. maree; bulg., poln., russ., slowen. maj usw. Diese phonologisch-orthographische Assimilation ist auch innerhalb der germanischen Sprachen zu beobachten: März, engl. March, niederl. maart, norw., schwed. mars, dän. marts; Mai, dän., schwed. maj, engl. May, niederl. mei. Sie führt in den romanischen Sprachen zu teilweise bedeutenden Unterschieden im Schrift- und Lautbild: Januar, frz. janvier, ital. gennaio, span, enero; August, frz. août, ital., span, agosto usw. Hinzu kommen in einigen Sprachen Erscheinungen akzentologischer Assimilation und auch morphologischer Assimilation (Gladrow 1989, 168 f.), wobei die Grenze zwischen phonetisch-orthographischer und morphologischer Assimilation nicht immer exakt gezogen werden kann (vgl. z.B. bulg. septemvri, oktomvri, noemvri, dekemvri oder kroat. septembar, oktobar, novembar, decembar). Das Ungarische lehnt sich unter diesem Aspekt häufig eng ans Lateinische an (vgl. lat. Martius, ungar. märcius; lat. Aprilis, ungar. äprilis; lat. Maius, ungar. mäjus; lat. Iunius, ungar. június; lat. Iulius, ungar. Julius; lat. Augustus, ungar. augusztus usw.). Ein Lerner mit polnischer, tschechischer oder ukrainischer Muttersprache hat nichts (außer poln. marzec, maj) von der gerade gezeigten „Internationalität der europäischen Monatsnamen": Januar, poln. styczen, tsch. leden, ukr. sicen'; Februar, poln. luty, tsch. únor, ukr. ljutij; März, tsch. brezen, ukr. berezen; April, poln. kwiecieñ, tsch. duben, ukr. kviten'; Mai, tsch. kvëten, ukr. traven' usw. Selbst zwischen dem nahe verwandten Polnischen, Tschechischen und Ukrainischen treten z. T. beachtliche
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III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem
Differenzen auf. Kontraste entstehen aber nicht nur durch unterschiedlich verlaufende Assimilationsprozesse, sie gehen auch auf (partiell) unterschiedliche Wortbildungsprozesse zurück. Für das Sprachenpaar DeutschRussisch geht Gladrow (1989, 169 f.) dieser Frage nach: So können beide Sprachen unterschiedliche (heimische oder fremde) Derivationsaffixe verwenden: Darwinismus — darvinizm, Saboteur — sabotaznik, Methodiker metodist, Orientierung — orientacija, Dirigent — dirizër, Sanatorium — sanatori), Dramaturgie — dramaturgija, Aggression - agressija, Tourismus/Touristik — turizm usw. Ebenso können die Ableitungswege unterschiedlich verlaufen, vgl.: dt. mass-ieren russ. mass-irovat
» Mass-eur • Mass-age mass-az —• massaz-ist
Schließlich gilt auch hier, dass sprachliche Zeichen letztendlich arbiträr sind: Einem (weitestgehend) identischen Formativ müssen in beiden Sprachen nicht die gleichen Sememe zugeordnet werden. Ein Deutscher sähe sich durch die Frage Wo ist hier ein Automat? zumindest zu einer Rückfrage veranlasst. Ein Russe wüsste in der entsprechenden Situation, dass die Frage Gde zdes' avtomat? nichts weiter bedeutet als Wo ist hier eine Telefonzelle?. 3.
Kontraste durch lexikalischsemantische Divergenz bzw. Konvergenz
Diesen Problemkreis erörtern für das Sprachenpaar Deutsch und Russisch beispielsweise Sternemann (1983a, bes. 52f.) und Birkenmaier (1987, bes. 52ff.). Aus Sternemanns Definition wird deutlich, dass hierbei der grundsätzlich intralinguale Charakter von Bedeutungsumfängen (bes. der Polysemie) eine große Rolle spielt: „Die Erscheinung, dass einem Wort einer Ausgangssprache mehrere Wörter in der Zielsprache entsprechen können ..., bezeichnet man als Divergenz (auch Diversifikation). Das umgekehrte Verhältnis, das Vorhandensein mehrerer Wörter in der AS, die ihre Entsprechung in nur einem Lexem in der ZS finden, wird Konvergenz (auch Neutralisation) genannt." (Hervorhebungen durch Sternemann) Dem polysemen Wort Frau stehen im Russischen drei Äquivalente gegenüber, die jeweils eine Bedeutungsvariante von Frau abdecken: zenscina zur Be-
zeichnung einer erwachsenen weiblichen Person, zena zur Bezeichnung der Ehefrau und gospoza in der Anrede vor Eigennamen. Ähnlich ist die Situation im Englischen (woman, wife, mistress). Dem Adjektiv alt entsprechen u. a. russ. staryj, starinnyj und drevnij. Die semantischen Unterschiede sind z. T. eher subtil: Ein alter Mann ist staryj celovek, die Alte Geschichte (im Sinne von Geschichte des Altertums) ist drevnjaja istorija. Auch neuere zweisprachige Wörterbücher sind nicht immer hilfreich. So führen Leping/Leyn u.a. (1976,708) unter dem Stichwort starinnyj u. a. das Beispiel starinnyj prijatel' mit der Übersetzung alter ( = langjähriger) Freund an. Unter dem Stichwort staryj findet sich u.a. das russische Sprichwort Staryj drug lucse novych dvuch mit der Übertragung Die alten Freunde sind die besten. Ähnlich ist die Situation beim Adjektiv blau mit seinen russischen Äquivalenten goluboj und sinij. Ivanova/Schenk (1989, 85 u. 412) übersetzen das erste Wort mit hellblau, das zweite mit (dunkel) blau. Die angeführten Beispiele lassen die oben erwähnte Subtilität erahnen: blauer Himmel und blaue Augen können - fein nuancierend — mit beiden Adjektiven wiedergegeben werden: goluboe nebo oder sinee nebo, golubye glaza oder sinie glaza. Ähnlich häufig begegnet Divergenz zum Deutschen hin: Russischem brak entspricht entweder Ehe oder Ausschuss (im Sinne eines fehlerhaften Produktes). Weithin bekannt ist die Übersetzbarkeit von russ. mir als Frieden oder Welt oder von russ. ruka als Arm oder Hand. Bilaterale Vergleiche zeigen, dass die interlingualen Relationen durchaus noch komplizierter sein können. Sternemann (1983a, 53) zeigt das anhand der Wörter Schüler und Lehrling und ihrer russischen Äquivalente: Schüler
skol'nik ucenik
Lehrling Die Kompliziertheit der interlingualen Relationen vergrößert sich bei hochgradiger Polysemie eines Wortes in LI und/oder L2. Für das Wort Scheibe unterscheiden größere Wörterbücher der deutschen Gegenwartssprache zwischen sechs und acht Bedeutungsvarianten. Hier bestätigt sich in der lexikographischen Praxis die These von Hausmann (1995, 19), dass wir letztendlich nicht (genau) wissen, „wie viele Bedeutungen ein Wort hat", dass wir auch nicht wissen, „wann die Sememe vollständig sind". Denn: „Die Se-
18. Kontrastivität in der Lexik
meme sind kontextabhängig. Die Kontexte sind unendlich." Diese intralinguale semantische Differenzierung liefert jedoch noch nicht in ausreichendem Maße die Tertia comparationis für eine zuverlässige Zuordnung ζ. B. der russischen Äquivalente. Lötzsch (Band 3, 1984, 39) nennt immerhin rund 20 Äquivalente, die sich grob den folgenden vier Bedeutungsbereichen zuordnen lassen: 1. Technik: blok, disk, krug, plastina, plastinka, sajba, skiv; 2. Sport: gir ja, disk, misen', raznoves, sajba; 3. Glas: okno, okonnoe steklo', 4. Lebensmittel: dolja, dol'ka, kruzok, kusok, kusocek, lomot', lomtik. Für eine eindeutige Äquivalentzuordnung sind weitere semantische Differenzierungen erforderlich. Das sei am Beispiel des Bedeutungsbereiches „(von bestimmten Lebensmitteln) mehr oder weniger dünnes einzelnes Stück, das von einem größeren Stück abgeschnitten, abgetrennt worden ist" (DUW 1989, 1309) gezeigt: Eine Scheibe Brot, Käse, Speck, Wurst o.Ä. kann neben kusok auch lomtik sein, mit kusocek hebt man das Merkmal „klein" und mit lomot' das Merkmal „groß" hervor. Soll das Merkmal „rund" akzentuiert werden, dann steht kruzok zur Verfügung. Die abgetrennten Stücke einer Apfelsine o. Ä. werden dolja oder dol'ka genannt. Die hier gemachten Beobachtungen lassen sich anhand beliebiger Sprachenpaare wiederholen. So listet Hausmann (1995, 20f.) für frz. sauvage immerhin 15 potenzielle Äquivalente auf, die sich z. T. in ihrer Semantik recht stark voneinander unterscheiden: wild, wildlebend, ungezähmt, wildwachsend, unberührt, primitiv, unzivilisiert, urtümlich, natürlich, barbarisch, bestialisch, menschenscheu, ungesellig, schüchtern, unerlaubt. Auch hier urteilt Hausmann realistisch: „Wir wissen nicht, wieviele französische Äquivalente ein deutsches Wort hat. Denn die Äquivalenz ist kontextabhängig und die Kontexte sind unendlich. Die zweisprachigen Wörterbücher bieten immer nur eine Äquivalentauswahl und eine Kontextauswahl." Auch hier bieten die europäischen Sprachen ein buntes Bild. Kehren wir noch einmal zum Adjektiv blau zurück. Die Äquivalente z.B. im Bulgarischen (sin), Englischen (blue), Französischen (bleu), Tschechischen (modry) und Ungarischen (kék) verfügen etwa über den gleichen Bedeutungsumfang wie dt. blau. Kroatisch (plav oder modar), Slowakisch (modry oder belasy) und Slowenisch (moder oder sinji) differenzieren ähnlich wie das Russische. Drei Äquivalente stehen dem Polnischen (niebiesky, blçkitny, modry) und dem Ukrainischen (sinij,
217 blakitnij, golubij) zur Verfügung. Polysemie in LI und/oder L2 führt nicht selten auch zu Konvergenzen bzw. Divergenzen im Bereich der Wortbildung. So differenziert das Deutsche ziemlich präzise zwischen einem Bewohner und einem Einwohner. Sehr ähnlich unterscheidet auch das Niederländische zwischen bewoner und inwoner. Mittelgroße zweisprachige Wörterbücher des Bulgarischen, Französischen, Polnischen, Schwedischen, Slowakischen, Tschechischen und anderer Sprachen geben keinerlei Hinweis auf eine ähnliche Differenzierung. Unter beiden deutschen Stichwörtern findet sich jeweils ausschließlich dasselbe Äquivalent: bulg. zitel, frz. habitant, poln. mieszkaniec, schwed. invânare, slowak. obyvatel', tsch. obyvatel. Die Angabe jeweils zweier Äquivalente in umgekehrter Reihenfolge lässt eine weniger scharfe Differenzierung, wohl aber bestimmte Präferenzen vermuten, so z. B. im Ungarischen: Bewohner — lakö, lakos, Einwohner — lakos, lakó. Auch im Russischen und im Ukrainischen scheint eine (scharfe) Differenzierung nicht obligatorisch, wohl aber möglich zu sein: russ. zitel' gilt als Äquivalent für beide, der Bewohner kann aber auch obitatel' und der Einwohner auch obyvatel' sein, im Ukrainischen steht meskanec' für beide, Bewohner kann auch pozilec', Einwohner auch zitel' sein. Die Liste der englischen Äquivalente für beide deutschen Wörter verrät eine sehr starke semantische Differenzierung: inhabitant, resident, citizen, lodger (amerik. roomer), occupant, tenant u.a. (An dieser Stelle sei eine interessante Lehnkonstruktion des Obersorbischen angemerkt: Als Äquivalent für Bewohner und Einwohner gilt hier wobydler.) Auf einen anderen Zusammenhang zwischen Polysemie und Wortbildung macht Birkenmaier (1987, 52f.) aufmerksam. Das russ. Substantiv lieo kann sowohl Person als auch Gesicht bedeuten. Bei der Bildung der zugehörigen Bezugsadjektive wird diese Mehrdeutigkeit (mindestens durch die Betonung) auch formal disambiguiert: das Syntagma persönliche Verantwortung wird als lienaja otvetstvennost' wiedergegeben, während z.B. die Seife für das Gesicht als lienöe mylo erscheint. Bei Akzentuierung des Anatomischen lautet das Bezugsadjektiv zu lieo (im Sinne von Gesicht) licevoj: licevoj nerv. Allerdings gibt es auch hier - wie so oft im Wortschatz - Irreguläres: ein persönliches Konto (Bank usw.) sollte wohl das Adjektiv licnyj haben, tatsächlich heißt es aber licevoj scët. Auch das Deutsche nimmt mit Hilfe von Wortbildungsmorphe-
218
III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem
men durchaus subtile semantische Differenzierungen vor. Erinnert sei nur an die - auch nicht jedem Muttersprachler ad hoc gegenwärtige - Unterscheidung solcher Wortpaare wie vierwöchentlich vs. vierwöchig oder vierzehntäglich vs. vierzehntägig. Müller (1973, 286) definiert das zuletzt genannte Wortpaar wie folgt: „Findet eine Sitzung vierzehntäglich statt, so bedeutet das, dass die Teilnehmer alle vierzehn Tage zu einer Sitzung zusammenkommen. Nimmt jemand an einem vierzehntägigen Kursus teil, so bedeutet das, dass der Kursus vierzehn Tage dauert." (Hervorhebungen durch Müller) Die entsprechenden Derivate ohne Numerale sind offenbar nur mit -lieh möglich: stündlich, täglich, wöchentlich, monatlich, jährlich, nicht *stündig usw., wohl aber einstündig usw. Wir haben keine Sprache gefunden, die diesen semantischen Unterschied ausschließlich durch unterschiedliche Wortbildungskonstruktionen ausdrückt. Die Äquivalente für vierzehntägig werden in einigen Sprachen ähnlich wie im Deutschen gebildet, so tsch. ctrnáctidenní, slowak. strnást'dñovy bzw. strnäst'denny, ähnlich auch poln. dwutygodniowy (zweiwöchig) oder wohl auch niederl. veertiendaags und gelegentlich erwähntes engl, fortnightly. Das Gegenstück vierzehntäglich wird meist durch eine syntaktische Konstruktion wiedergegeben, so z. B. tsch. kazdy druhy tyden (jede zweite Woche) oder auch ob tyden, slowak. kazdych strnást' dní (alle vierzehn Tage) oder auch (vzdy) po strnástich dñoch ( nach vierzehn Tagen), russ. povtorjajuscijsja cerez dve nedeli oder auch sostojascijsja cerez dve nedeli (sich in/alle zwei Wochen wiederholend bzw. in/alle zwei Wochen stattfindend), niederl. om de veertien dagen. 4.
Kontraste durch Anwendung unterschiedlicher Nominationsverfahren
Es ist eine bekannte Tatsache, dass die Sprachen zu jedem beliebigen Zeitpunkt „unter dem Druck gesellschaftlicher Bedürfnisse der Kognition und Kommunikation" (Fleischer/ Barz 1992, 2) neue Nominationen schaffen. Die Möglichkeiten der Nominationsbildung sind vielfältig: Sie reichen von der Wortschöpfung (auch „Urschöpfung") bis zur „Wiederbelebung untergegangener Ausdrücke", zu ihnen gehören die unterschiedlichen Möglichkeiten semantischer Umprägung, Phraseologisierung und Terminologisierung ebenso wie
die Übernahme von Nominationseinheiten aus anderen Sprachen und nicht zuletzt die unterschiedlichen Verfahren der Wortbildung. Gerade im Bereich der Wortbildung sind zahlreiche Kontraste im Einzelfall zu beobachten, obwohl viele Sprachen grundsätzlich über die gleichen Wortbildungsverfahren verfügen. Schon ein flüchtiger Blick auf die Wiedergabe deutscher Substantivkomposita im Englischen, Französischen und Russischen bietet ein buntes Bild: Die entsprechende Nominationseinheit in L2 kann ebenfalls ein Kompositum mit derselben formalen Struktur und mit identischer lexikalisch-semantischer „Füllung" sein (vgl. Großmutter — engl, grandmother, Wandzeitung — russ. stengazeta). Intralinguale orthographische Festlegungen können schon zu schwachen Kontrasten führen (Zusammenschreibung in LI und Bindestrichschreibung in L2, vgl. Großneffe — engl, grand-nephew, Großmutter — frz. grand-mère). Stärkere Kontraste ergeben sich u. a. daraus, dass LI und L2 zwar das entsprechende Kompositum mit derselben formalen Struktur bilden (z. B. Substantiv 1 + Substantiv 2), aber eine der beiden unmittelbaren Konstituenten (UK) lexikalisch-semantisch abweichend voneinander „füllen" (vgl. Schneeglöckchen - engl, snowdrop, Schutzumschlag — russ. superoblozka), oder auch daraus, dass die (identischen) UK in unterschiedlicher Reihenfolge angeordnet werden (vgl. Internatsschule - russ. skola-internat). Noch stärker werden die Kontraste, wenn LI und L2 nicht nur lexikalisch-semantisch unterschiedlich „füllen", sondern die einzelnen UK auch unterschiedlichen Wortarten entnehmen (vgl. Liegestuhl — frz. chaise longue, Schneeglöckchen — frz. perce-neige). Häufig entspricht einem Kompositum in LI eine Mehrwortnomination in Form einer (syntaktisch strukturierten) Wortgruppe in L2 (vgl. Großmacht — engl, great power, frz. grande puissance, russ. velikaja derzava; Schulweg — engl, way to school·, Schulferien — frz. vacances scolaires', Großhandel — frz. commerce en gros·, Großbaustelle — russ. krupnaja strojkœ, Großbuchstabe — russ. propisnaja bukva). Das Deutsche genießt den Ruf, eine der kompositionsfreudigsten Sprachen zu sein. Deshalb verwundert es auch nicht, dass nur selten einem Kompositum in L2 ein deutsches Nicht-Kompositum entspricht (vgl. engl, girlfriend — Freundin, engl, schoolgirl — Schülerin neben möglichem Schulmädchen).
18. Kontrastivität in der Lexik 5.
Kontraste durch unterschiedliche Distribution von Wortbildungsmitteln
Auch Wortbildungsmorpheme sind sprachliche Zeichen, auch sie sind letztendlich arbiträr und intralingual festgelegt. Das lässt sich anhand einiger Affixe im Deutschen, Englischen, Französischen und Russischen zeigen. Ein erster flüchtiger Eindruck scheint unserer These zu widersprechen: In vielen Fällen entspricht dem deutschen Negationspräfix unenglisches un-, frz. in- und russisches ne-\ unbekannt - engl, unknown, unbrauchbar - frz. inutile, unangenehm — russ. neprijatnyj. Doch spätestens beim zweiten Hinsehen bemerkt man, dass auch hier die interlingualen Beziehungen wesentlich komplizierter sind. Das ergibt sich zum einen daraus, dass sowohl LI als auch L2 in ihren Wortbildungssystemen über eine Vielzahl (annähernd) synonymer Affixe verfügen. So stehen im Englischen neben dem Präfix un- u. a. noch in- (unabhängig — independent), ir- (unabänderlich — irrevocable), dis- (unähnlich — dissimilar). Das Französische hat neben in- (und der Variante im-, vgl. unbezahlbar — impayable) u. a. noch ir(;unbesonnen — irréfléchi), dis- (unähnlich — dissemblable) und dé- (unangebracht — déplacé zur Verfügung. Im Russischen konkurrieren die Varianten bez- und bes- mit ne- (unbedingt — bezuslomyj, ununterbrochen - bespreryvnyf). Der umgekehrte Blick von L2 auf LI zeigt für das Deutsche ein prinzipiell ähnliches Bild: Englischem un- können im Deutschen neben un- auch ent- {uncork entkorken), aus- (undress — ausziehen), auf(:uncover — aufdecken), los- (untie — losbinden) u. a. entsprechen. Hier ist eine Zwischenbemerkung angebracht: Die einzelsprachlich festgelegte Distribution der Affixe determiniert nicht nur das Zusammentreten eines Affixes mit einer konkreten Derivationsbasis (vgl. etwa unbezahlbar vs. unverkäuflich oder glaubhaft vs. unglaubhaft vs. unglaublich), sondern sie begrenzt gelegentlich auch — sogar bei der Präfixderivation - das Wortartenspektrum, dem die betreffenden Wortbildungsprodukte angehören können. Während englisches un- auch in der verbalen Wortbildung genutzt werden kann (siehe oben), ist das deutsche un- auf den nominalen Bereich beschränkt (vgl. Fleischer/Barz 1992, 38ff.; 202). Französischem dé- können im Deutschen u. a. ab- (déboiser — abholzen), aus- (déballer — auspacken), de- (décentraliser — dezentralisieren), ent- (décarburer — entkohlen)
219 entsprechen. Ähnlich ist die Situation beim russisch-deutschen Vergleich: In zahlreichen Fällen wird russisches ne- nicht durch un-, sondern beispielsweise durch miss- oder nicht- wiedergegeben (nedoverie — Misstrauen, nevmesatel'stvo — Nichteinmischung). Ein weiteres Phänomen vergrößert punktuell die Kontraste: Einem Präfixderivat in LI kann in L2 ein Suffixderivat entsprechen oder umgekehrt (unbrauchbar - engl, useless, russ. nevesomyj — schwerelos). Gelegentlich entspricht einem Suffixderivat in LI ein Präfix-Suffix-Derivat in L2 (arbeitslos russ. bezrabotnyf). Schließlich treten auch Fälle auf, wo einem Derivat in LI ein Mehrwortlexem als Äquivalent gegenübersteht (erreichbar — frz. qu'on peut atteindre, Schulwesen — russ. skol'noe delo, unaufgefordert — russ. (situationsabhängig) bez priglasenija oder bez vyzova, unbeantwortet — russ. ostavlennyj bez otveta). Die Umkehrung dazu begegnet vor allem beim russisch-deutschen Vergleich (nebespoleznyj — nicht (gerade) unnütz, neblagosklonnyj — nicht wohlwollend).
6.
Kontraste durch unterschiedliche morphosemantische Motivation
Nominationseinheiten können auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Maße motiviert sein. Man bezeichnet eine Nominationseinheit dann als motiviert, wenn ihre Bedeutung (direkt oder indirekt) aus ihrem Formativ ableitbar ist. Motivation bzw. Motiviertheit in diesem Sinne widerspricht nicht dem Konzept der (grundsätzlichen) Arbitrarität bzw. Konventionalität sprachlicher Zeichen, wie es von de Saussure vorgelegt worden ist, sondern sie präzisiert bzw. ergänzt dieses Konzept: „Eine natürliche Sprache kommt weder ohne das eine noch ohne das andere aus." (Fleischer/Barz 1992, 13) Inzwischen unterscheidet man verschiedene Arten von Motivation, so die phonetisch-phonemische Motivation (vgl. dt. Kuckuck, engl. cuckoo, frz. coucou, russ. kukuska, tsch. kukacka, poln. kukulka, ungar. kakuk usw.), die figurative Motivation (vgl. Fuchs im Sinne von Schlaukopf), daneben auch die Zeichenfeldmotivation und die situative Motivation (vgl. Fleischer/Barz 1992, 13ff). Wir wollen hier einigen Fragen der morphosemantischen Motivation von Wortbildungskonstruktionen im Sinne von Fleischer und Barz nachgehen. Es ist allgemein bekannt, dass Wortbildungskonstruktionen oft
220 nur einen Teil der Informationen explizieren, die das betreffende Semem konstituieren und somit für ihr Verständnis unabdingbar sind. Machen wir uns das an einem (zugegebenermaßen drastischen) Beispiel deutlich: Im Amtsdeutsch gibt es das Kompositum Rindfleisch-Sondererstattungs- Verordnung. Was regelt diese Verordnung? Wer erstattet wem unter welchen Umständen was? Die Überschrift dieser Verordnung im vollen (d.h. morphosyntaktisch und lexikalisch ausformulierten) Wortlaut klärt uns auf: Es ist eine „Verordnung über das Verfahren für die Gewährung von Sondererstattungen bei der Ausfuhr von Rindfleisch nach Drittländern" (Bundesgesetzblatt, Teil 1, Nr. 10/1994). Diese Verknappung expliziter Information durch Wortbildung ist aber auch im alltäglichen Wortschatz zu beobachten. Häufig werden die semantischen Beziehungen zwischen den UK nicht expliziert; sie lassen sich durch Paraphrasierung gleichsam „rekonstruieren". Fleischer/ Barz (1992, 17) nennen hier beispielsweise verschiedene Typen von Gläsern: Bierglas (ein Glas für Bier), Bleikristallglas (ein G. aus Bleikristall), Messglas (ein G. zum Messen), Stielglas (ein G. mit einem Stiel) u.a. Man spricht zu Recht von verschiedenen Stufen oder Graden der morphosemantischen Motivation. Ziemlich praktikabel scheint die verbreitete Annahme dreier Motivationsgrade zu sein: 1. vollmotiviert, 2. teilmotiviert, 3. unmotiviert bzw. idiomatisch. Diese Abstufung lässt sich gut am Beispiel von Komposita mit der 1. UK Groß- zeigen: Ein Großbrand ist ein großer Brand. Die Bedeutung des Kompositums ist aus den Bedeutungen seiner Konstituenten lückenlos rekonstruierbar. Eine (flächenmäßig) große Stadt ist nur dann eine Großstadt, wenn sie mehr als 100000 Einwohner hat (WdG Band 3, 1970, 1654). Diese zusätzliche Bedingung wird im Kompositum nicht expliziert, Großstadt ist in diesem Sinne nur teilmotiviert. Die Bedeutung des Kompositums Großeltern lässt sich nicht aus der Summe der Bedeutungen von groß und Eltern ableiten. Wenn man nach dem Modell von Großstadt verführe, erhielte man die sinnlose Paraphrase „Großeltern sind große Eltern, aber nur unter der Bedingung, dass sie die Eltern der Mutter oder des Vaters sind". In solchen Fällen spricht man von unmotivierten bzw. idiomatisierten Wörtern. Interlinguale Kontraste ergeben sich vor allem aus der Tatsache, dass zwischensprachliche lexikalische Äquivalente nicht notwendig dem gleichen Motivationsgrad zugeord-
III. Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem
net sein müssen, selbst dann nicht, wenn es sich sowohl in LI als auch in L2 um Wortbildungskonstruktionen handelt. Vergegenwärtigen wir uns das am deutschen Wort Regenschirm. Dieses Kompositum ist vollmotiviert, denn ein Regenschirm ist eben ein Schirm gegen (die Einwirkungen von) Regen bzw. ein Schirm (zum Schutz vor) Regen. Ähnlich explizit verfahren in diesem Falle z.B. das Kroatische und das Ungarische: kroat. kisobran besteht aus den UK kisa (Regen) und dem Verbalstamm bran(iti) (schützen), ungar. esernyö besteht aus den UK esö (Regen) und ernyö (Schirm). Das Französische (parapluie), das Slowakische (däzdnik) und das Tschechische (destnik) weisen nur eine Teilmotivation auf: das Französische expliziert die „Zielrichtung" par (für) und den Regen (pluie). Die genannten slawischen Sprachen explizieren jeweils den Regen (däzd', dest') und lassen ähnlich wie das Französische - mit dem Suffix -nik offen, ob eine Person (etwa Petrus) oder ein Gegenstand (z. B. ein Schirm, wobei aber auch ein Mantel, ein Umhang o. Ä. vorstellbar wäre) gemeint ist. Die in diesen slawischen Wörtern explizierten Informationen ließen auch den Schluss zu, dass ein Gerät gemeint sei, das im Deutschen mit dem - morphematisch vergleichbaren - Wort Regner („Gerät, das zum Beregnen von Pflanzen dient"; WdG Band 4, 1977, 2991) benannt ist. Die englische (umbrella), die polnische (parasolka und die russische Nomination (zontik sind für einheimische Sprecher unmotiviert, auch wenn sich etymologisch durchaus ein positiver Motivationsgrad rekonstruieren lässt (für das Englische vgl. ital. ombrello, für das Polnische span, parasol und für das Russische niederl. zonnedek; zur Etymologie von russ. zontik vgl. Cyganenko 1989, 147). Ein noch bunteres Bild bieten die Äquivalente des Wortes Bahnhof, das etwa um 1840 älteres Eisenbahnhof (Pfeifer 1989, 11 Of.) in der Bedeutung „Halle, Gebäude am Halteplatz von Eisenbahnzügen" (WdG Band 1, 1978, 408) abgelöst hat. Die Bedeutungsparaphrase zeigt, dass das Wort aus heutiger Sicht allenfalls noch als morphosemantisch teilmotiviert angesehen werden kann. In ähnlicher Weise wie das Deutsche mit seinem älteren Eisenbahnhof verfährt das Mongolische mit tömör zamyn buudal, wobei tömör für „Eisen", zam für „Weg, Straße, Bahn" und buudal für „Standort, Lager, Haltestelle, Station" steht (vgl. Vietze 1988, 212ff.). In gleicher Weise wie Bahnhof sind beispielsweise dän. banegárd, kroat. kolodvór, schwed. ban-
221
18. Kontrastivität in der Lexik
gárd, slowen. kolodvor und ungar. pályaudvar strukturiert. Zahlreiche (europäische) Sprachen benutzen das jeweilige Pendant zu engl. station, so dän. (jernbane)station (neben banegárd, frz. station (neben gare), ital. stazione, niederl. station, poln. stacja (kolejowa) (neben dworzec =ι2 g * 5 l g
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barna ble passet godt pá _ vs. man passte auf die Kinder gut auf > auf die Kinder wurde gut aufgepasst. Das norw. unpersönliche Passiv enthält ein nichtweglassbares formales Subjekt det (Askedal 1985): denne gangen ble barna passet
354
VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen
godt pâ _ vs. denne gangen ble *(det) passet godt pâ barna. Das dt. unpersönliche Passiv ist nicht subjekthaltig, sondern weist u. U. ein nur vorfeldfahiges es als satztypaufrechterhaltenden Platzhalter ohne syntaktischen Funktionswert auf: es wurde spät gearbeitet vs. wurde (*es) spät gearbeitet? bzw. weil (*es) spät gearbeitet wurde, auf die gleiche Weise wie in persönlichen Passivsätzen und in Aktivsätzen. Im dt. unpersönlichen Passiv erscheint bis auf Einzelfalle (dann wurde (Sg.) Karten (PI.) gespielt) kein Akkusativobjekt. Im Norw. sind unpersönliche Passivsätze mit beibehaltenem DO sehr üblich, das freilich einer Indefinitheitsforderung unterliegt: det ble solgt mange bekerl*de beste bokene den dagen ,es wurden an dem Tag viele Bücher/die besten Bücher verkauft'. Auch in diesen Fällen ist im Norw. das formale Subjekt det im Unterschied zum dt. Vorfeldplatzhalter obligatorisch. 4.6. Das dt. bekommen-Passiv ist ein „Dativpassiv", das im allgemeinen auf IO operiert: man schickte ihm die Unterlagen per Post zu > er bekam die Unterlagen per Post zugeschickt. Das norw. /á-Passiv unterliegt etwas komplexeren Struktur- und Verwendungsbedingungen und scheint insgesamt weniger grammatikalisiert zu sein (Askedal 1984a). Das Partizip der /á-Fügung steht nicht nur in der V-Position vor dem DO: han fikk utbetalt pengene, sondern auch in der N-Position nach dem DO: han fikk pengene utbetalt. Die letztere Position reflektiert noch deutlich den Ursprung des Partizips als Objektsprädikativ. 4.7. Eine andere Art syntaktischen Kategorienwechsels vertreten norw. rhematisierende Präsentierungskonstruktionen im Aktiv: Das formale Subjekt det ist weitgehend obligatorisch, während dt. es in den funktional verwandten Fällen nur ein topologisch bedingter Vorfeldplatzhalter ist: den dagen var det kommet mange mennesker til byen vs. an diesem Tag waren (*es) viele Leute in die Stadt gekommen. Im Norw. unterliegt das Präsentierungsglied der Indefinitheitsforderung: det spilte noen filharmonikerel*fìlharmonikerne vs. es spielten die Wiener Philharmoniker. Die syntaktischen Eigenschaften des norw. Präsentierungsgliedes erklären sich weitgehend aus seiner VP-Zugehörigkeit, die wiederum durch die topologische Basis der norw. syntaktischen Funktionskategorien Subjekt, DO und IO bedingt ist. Dementsprechend
weist das indefinite Präsentierungsglied sowohl in passivischen als auch in aktivischen Präsentierungskonstruktionen gewisse syntaktische DO-Eigenschaften auf, z. B. bei der Infinitivbildung, vgl.: (transitive Objektkonstruktion) De¡ begynte [Infâ (de¡ > 0) samle inn klar til loppemarkedet] ,sie begannen Kleider für den Flohmarkt einzusammeln'; (Präsentierungskonstruktion im Passiv) Det¡ begynte fi„/â (det¡ > 0) bli samlet inn klar til loppemarkedet] ,(wörtl.) es begann zu werden gesammelt ein Kleider für den Flohmarkt'; (Präsentierungskonstruktion im Aktiv) Det¡ begynte [i„/â (det¡ > 0) komme inn klar til loppemarkedet] ,(wörtl.) es begann zu kommen ein Kleider für den Flohmarkt'. Das Präsentierungsglied in Aktivsätzen mit intransitivem Verb weist überwiegend, aber nicht durchgehend Objekteigenschaften auf. Bei Koordination zweier Sätze ermöglicht es wie gewöhnliche Subjekte die Tilgung des Subjekts des darauffolgenden Satzes: det satt en mann¡ pá stolen og (han¿ > 0) leste en bok ,auf dem Stuhl saß ein Mann und las ein Buch'. 4.8. Die nominalen und adverbialen Positionen (n, a, N, A) des Nexus- und Inhaltsfeldes in (2) entsprechen kategorial dem dt. Mittelfeld in (1). Ihre Reihenfolge ist weitgehend fest. Es sind nur solche Gliedstellungsvariationen möglich, die die topologisch-konfigurationelle Enkodierung der syntaktischen Funktionskategorien Subjekt, IO und DO nicht betreffen. In der A-Position stehen entsprechend dem norw. Rechtsverzweigungsprinzip mit dem Verb enger verbundene, valenzbedingte Adverbialbestimmungen vor freien adverbialen Angaben: han hadde sendt kofferten hjem fer avreisen; während im eher linksverzweigenden Dt. freie Angaben Adverbialergänzungen vorangehen: er hatte vor der Abreise den Koffer nach Hause geschickt. In der a-Position stehen Adverbien mit propositionalem Skopus und/oder Partikelfunktion einschließlich der Satznegation ikke ,nicht'. Adverbialergänzungen sind auf die A-Position beschränkt: han hadde ikke bodd i byen for ,er hatte nie zuvor in der Stadt gewohnt'; aber Adverbialangaben können - zum Zweck der ausdrücklichen Thematisierung in die a-Position hinüberwechseln: hun hadde allerede for lenge siden lest boken ,sie hatte schon vor langer Zeit das Buch gelesen'. Die Abfolge der Glieder im dt. Mittelfeld ist freier. Zwar kann man von einer morphosyntaktischen Normalabfolge wie etwa nom/NOM —
31. Kontrastive Analysen Deutsch-Norwegisch: eine Übersicht
akk - dat - AdvA - NOM - AdvA - DATAdvA — AKK - AdvA — Satznegation nicht AdvE/Pr/Präd (Engel 1988, 321 ff.) ausgehen, aber auch diese Formel enthält schon einige im Norw. nicht vorhandene Variationsmöglichkeiten, z.B. bei freien adverbialen Angaben und bei der Subjekt/Objekt- oder DO/IO-Abfolge: weil den Zuschauern die Geduld abging; weil dem Mann die Reisekasse gestohlen worden war, weil er das Buch einer Bekannten geschenkt hatte. 4.9. Die dt. Satznegation steht im allgemeinen an der Nahtstelle zwischen Thema- und Rhemabereich, weswegen ihr indefinite Glieder regelmäßig nachgestellt werden (was zu Negationsinkorporierungen wie kein u. ä. Anlass gibt: er hatte die Zeitung nicht gelesen vs. er hatte keine Zeitung gelesen). Die norw. Satznegation ikke neigt dazu, einem nichtpronominalen Subjekt vorangestellt zu werden: det hadde ikke den gamie mannen sett ,das hatte der alte Mann nicht gesehen'. Vor der Satznegation können in beiden Sprachen (Sequenzen von) Satzadverbien und Modalpartikeln stehen: das wird er wohl doch nicht getan haben bzw. det har han vel likevel ikke gjort. Der Partikelbestand des Dt. dürfte den des Norw. um einiges übersteigen; die Partikelsequenz eines dt. Satzes wie geh doch eben schon mal nach Hause! ist ins Norw. nicht direkt übertragbar. Norw. Partikelstrukturen sind dafür topologisch vielfaltiger. Im gesprochenen Norw. finden sich nachgestellte Partikeln: gâ hjem, da! ,geh doch mal nach Hause'. Satzmediale Partikeln können am Satzende kopiert werden: han har vel ikke gjort det, vel ,das wird er doch wohl nicht getan haben'. Solches Kopieren ist vor allem bei Adverbien und Pronomina im Vorfeld üblich: det var hyggelig, det ,das ist aber nett'. 5.
Verbkategorien und Verbkonstruktionen
5.1. Gegenüber den dt. verbalen Flexionskategorien Tempus (Präsens, Präteritum), Modus (Indikativ, Konjunktiv, Imperativ), Numerus (Singular, Plural) und Person (1., 2., 3.) besitzt Norw. nur einen tempusmarkierten Modus mit Präsens/Präteritum-Opposition und den nichttempusmarkierten Imperativ. Keine dieser Formen weisen Numerus- und Personenunterscheidungen auf: norw. er ,bin, bist, ist, sind, seid; sei, seiest, seien, seiet', var ,war, warst, waren, wart; wäre, wärest, wären, wäret'; var! ,sei!, seid!, seien Sie!'
355
In Verbketten ist das Part. Perf. im Dt. und im norw. Riksmál/Bokmál durchgehend unflektiert (supinisch), im Neunorw. finden sich auch kongruierende Partizipien (s. u.). 5.2. Wegen des Fehlens eines KonjunktivModus verfügt Norw. im Unterschied zum Dt. über keine morphologische Referatkennzeichnung (Pütz 1989). Im Dt. kann durch den Konjunktiv auch in syntaktisch selbstständigen Sätzen zwischen Referattext (sog. „berichtete Rede") und Verfassertext unterschieden werden: er sagte, er habe genug Geld. Seine Eltern hätten ihr Vermögen in Aktien angelegt (Referat als berichtete Rede) vs. ... Seine Eltern hatten ihr Vermögen in Aktien angelegt (Verfasserkommentar). Im Norw. kann lexikalische Aufschlüsselung erfolgen: ... Han tilfoyde at hans foreldre hadde satt pengene i aksjer (Referat) ,er fügte hinzu, dass ...'. Bei der Redewiedergabe liegt im Norw. die im Dt. aufgegebene Consecutio temporum noch vor: han sier (Präsens) at han har (Präsens) nok penger vs. han sa (Präteritum) at han hadde (Präteritum) nok penger ,er sagt/sagte, er habe genug Geld'. Irrealität kann im Norw. durch Präteritum oder Plusquamperfekt ausgedrückt werden. Das norw. periphrastische Plusquamperfekt kann sich sowohl auf die Gegenwart als auch auf die Vergangenheit beziehen: hadde jeg hatt penger; hadde jeg kjopt ny bil ,wenn ich Geld gehabt hätte, hätte ich mir ein neues Auto gekauft', oder: ,wenn ich Geld hätte, kaufte ich mir ein neues Auto'. Das Präteritum ist auf Nichtvergangenheitsbezug beschränkt: hadde jeg penger, kjopte jeg meg ny bil ,wenn ich Geld hätte, kaufte ich mir ein neues Auto' (Leirbukt 1986). Zur Bezeichnung der Irrealität sind vor allem Modalverbkonstruktionen üblich (s. 5.4.). 5.3. Im Perfekt zeigt Norw. neben der älteren Verteilung von ,haben' und ,sein' auch noch die Verallgemeinerung von ,haben': han eri har gátt hjem ,er ist nach Hause gegangen'. Im Neunorw. wird das ,sein'-Perfekt mit kongruierendem Partizip gebildet, wo dies morphologisch möglich ist: han er komen vs. dei er komne ,er ist/sie sind gekommen'. Dem einen dt. Futurauxiliar werden entsprechen im Norw. desemantiertes skulle ^ollen' oder ville ,wollen': han vil like den boken ,ihm wird das Buch gefallen'; jeg skal gjere det i morgen ,ich werde es morgen erledigen' und komme til à: han kommer til à klare det ,er wird es schaffen'.
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VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen
5.4. Dt. Modalverben mit dem Infinitiv Perfekt drücken am häufigsten epistemische Wertung eines vergangenen Geschehens aus: er muss es getan haben ,er hat es allem Anschein nach getan'. Gleiches gilt für norw. Modalverben im Präsens: han mâ ha gjort det ,er muss es getan haben'. Im Prät. drücken derartige norw. Fügungen deontische Irrealität aus: han kunneiskulle (ha) gjort det ,er hätte es tun können/sollen', wobei der Infinitiv des Perfektauxiliars {ha) häufig weggelassen wird. 5.5. In beiden Sprachen ist Aktionalität überwiegend eine lexikalische Angelegenheit. Norw. verfügt über koordinative Fügungen markiert durativen oder iterativen Charakters mit teilweise desemantisiertem stâ stehen', ligge ,liegen', drive ,treiben', gâ ,gehen': han ligger og leser ,(etwa) er liegt da und liest'. 5.6. Die Passivmorphologie des Verbs beschränkt sich im Dt. auf Auxiliarkonstruktionen, während Norw. auch morphematische Passivmarkierung durch das Suffix -s (im Präsens und Infinitiv; Neunorw. -st, nur im Infinitiv) hat. Passivauxiliare sind im Dt. etwas zahlreicher vorhanden als im Norw. Dt. hat aktional neutrales werden, statisches oder resultatives sein: die Tür wird jetzt/ist schon geschlossen-, und noch dazu kontinuatives bleiben mit Part. Perf.: das Haus bleibt dennoch bewohnt. Norw. hat bli (Neunorw. auch verta) ,werden' und vœre ,sein'. Das Präsens des norw. vifre-Passivs entspricht vielfach dem Perfekt des dt. sem-Passivs: huset er solgt ,das Haus ist verkauft worden'. Das neunorw. vertalblihera-Passiv wird mit kongruierendem Partizip gebildet, wo dies morphologisch möglich ist: han vart siegen vs. dei vart slegne ,er wurde/sie wurden geschlagen'. Wohl keine grammatikalisierten norw. Pendants haben die entsprechende dt. bleiée/i-Fügung und das sog. gehören-Passiv. Während im Dt. die sein + zw-Infinitiv-Fügung als weitgehend grammatikalisierte Passivkonstruktion anzusehen ist, sind die etwaigen norw. Entsprechungen noch bei der Ausgangskonstruktion mit adjektivabhängigem „Ergänzungsinfinitiv" geblieben: foredraget war lett â forstâ bzw. der Vortrag war leicht zu verstehen·, aber: der Vortrag war nicht zu verstehen vs. *foredraget var ikke à forstâ. Norw. verfügt auch über passivische („Anhebungs"-)Konstruktionen mit «-Infinitiv:
han antas à komme i morgen ,(wörtl.: er wird angenommen zu kommen morgen) es wird angenommen, dass er morgen kommt', und über ein sog. „doppeltes Passiv" mit zwei Part. Perf.: huset ble forsokt solgt ,(wörtl.: das Haus wurde versucht verkauft) es wurde versucht, das Haus zu verkaufen'. 5.7. In der verbalen Wortbildung hat Norw. zum einen nichttrennbare Präfixe und zum anderen - der SVO-Struktur entsprechend Verbfügungen mit postverbaler Partikel: han oversatte boken ,er übersetzte das Buch' bzw. han gikk over til flenden ,er ging zum Feind über'. Ursprünglich nach dt. Muster gebildete Präfixverben mit an-, av- (,ab'), bi(,bei'), fore- (,vor'), inn- (,ein') usw. bilden im Norw. vielfach nichttrennbare Zusammensetzungen: han anstrenger seg vs. er strengt sich an; han bistâr henne vs. er steht ihr bei. Dem Norw. fehlen Entsprechungen zu den produktiven dt. Zusammensetzungen mit sprecherorientierten Vorsilben auf her-, hin- {herab-!hinabfallen) (Askedal 1995b). 6.
Satzförmige Komplemente bzw. Attribute u n d Nominalisierungen
6.1. In mit dass bzw. at eingeleiteten Komplementsätzen kann die Subjunktion weggelassen werden. Im Norw. bleibt dann die Nebensatzstruktur mit Finitum nach der Negation erhalten, im Dt. aber erfolgt Übergang zum Satztyp I mit Zweitstellung des Finitums: han sa (at) han ikke kunne komme vs. er sagte, dass er nicht kommen könne bzw. er sagte, er könne nicht kommen. In eingebetteten Wortfragen mit Fragewort als Subjekt wird im Norw. die Partikel som hinzugefügt: er fragte, wer käme vs. han spurte hvem *(som) kom. Mit Ausnahme von (an)statt, ohne, um können dt. Präpositionen nur Nominalglieder regieren, während die Rektion norw. Präpositionen auch satzförmige Komplemente umfasst: han avfant seg med at hun hadde forlatt ham. Im Dt. kann statt dessen ein Pronominaladverb verwendet werden: er fand sich damit ab, dass sie ihn verlassen hatte. 6.2. Die prototypischen dt. Relativsatzeinleiter sind flektierende Pronomina, die in unterschiedlichem Ausmaß Genus-, Numerus- und Kasusflexion aufweisen: der M., F., N. Sg., PI. (N, A, D, G); welcher M„ F., N. Sg., PI. (N, A, D); was N. Sg. (N/A). Der allgemein
31. Kontrastive Analysen Deutsch-Norwegisch: eine Übersicht
übliche norw. Relativsatzeinleiter ist die subjunktionale Partikel som (Askedal 1993). Im Dt. können Relativsatzeinleiter nicht weggelassen werden. Im Norw. wird die Relativpartikel som häufig weggelassen: hvor er boken (som) han gav deg? ,wo ist das Buch, das er dir schenkte?'. Keine Weglassung erfolgt, wenn som einem Subjekt entspricht, der Relativsatz ein nichtrestriktiver ist oder Bezugsglied und Relativsatz getrennt stehen. Als Relativsatzeinleiter fungierende Adverbien und Subjunktionen können unter entsprechenden Bedingungen weggelassen werden: pà den tiden (da) han fremdeles bodde pà Alderney ,zur Zeit, als er noch in Alderney wohnte'. Die norw. Relativpartikel som kann im Unterschied zum dt. Relativpronomen nicht Konstituente einer PP sein und wird von einer „hinterlassenen" Präposition obligatorisch getrennt: boken som han hadde arbeidet med _ vs. das Buch, an dem er gearbeitet hatte. Unmöglich sind im Norw. demnach auch relativsatzeinleitende „Rattenfanger"Konstruktionen: kollegaen som han i mellomtiden hadde oppgitt á hjelpe _ vs. der Kollege, [i„f dem zu helfenJ er inzwischen aufgegeben hatte. Relativsätze sind auch Bestandteile von Satzspaltungen, deren Gebrauch im Norw. weiter geht als im Dt. Im Dt. werden Spaltsätze ausgehend von den drei grundlegenden syntaktischen Funktionen Subjekt, DO und IO gebildet: es war Peter, der dem Vater dieses Buch geschenkt hatte', es war dieses Buch, das Peter dem Vater geschenkt hatte, usw., normalerweise aber nicht von Prädikativen und Adverbialbestimmungen. In norw. Spaltsätzen mit Hervorhebung von Subjekt, DO oder 10 wird som verwendet: det var Per *(som) hadde gitt faren denne boken; det var denne boken (som) Per hadde gitt faren; usw. Im Norw. werden Spaltsätze auch aufgrund von Prädikativen und Adverbialbestimmungen gebildet. Das Einleitewort (at) wird dann am häufigsten weggelassen: det var heldig (at) han var ,er hatte eben Glück'; det var i Paris (at) hun hadde kjept den kjolen ,das Kleid hatte sie eben in Paris gekauft'. 6.3. Im Dt. sind Permutationen über Satzgrenzen hinweg am ehesten als Extraktionen aus extraponierten Infinitivkonstruktionen möglich: dieses Problem hatten sie schon versucht zu lösen, aber auch in solchen Fällen keineswegs überall möglich. Im Norw. kann dafür sowohl aus infiniten als auch aus finiten nichtattributiven Satzkonstruktionen
357
ziemlich frei herauspermutiert werden (Kvam 1983): vgl. z. B. mit Erstglied aus nachgestellter Infinitivkonstruktion: disse dokumentene mistenker man ham for à ha underslâtt _ vs. *diese Unterlagen verdächtigt man ihn, _ unterschlagen zu haben; mit Fragewort aus nachgestellter Infinitivkonstruktion: hva er han kommet for â hente _? vs. *was ist er gekommen, _ um zu holen?; oder mit Relativsatzeinleiter aus einem folgenden Nebensatz: mannen som du tror at du har sett er hennes venn vs. *der Mann, den du glaubst, dass du _ gesehen hast, ist ihr Freund. 6.4. Vor allem schriftsprachliche Varietäten des Dt. neigen in beträchtlich höherem Ausmaß als Norw. zur Verwendung syntaktisch komprimierender Konstruktionen (Nominalisierungen, erweiterte Adjektiv- und Partizipialattribute) statt entsprechender satzförmiger Konstruktionen (Fabricius-Hansen/Ahlgren 1986, Solfjeld 1988): man forderte meine Bestrafung vs. man forlangte at jeg skulle straffes; sie hatte beim Lesen Maulbeeren gegessen vs. hun hadde spist morbcer mens hun leste. Bei den Partizipien verfügt Dt. über eine dem Norw. fehlende Form, nämlich das modal-passivische zu ... -end-Partizip, dessen Inhalt im Norw. durch Relativsatz wiederzugeben ist: von allen Angestellten zu befolgende Vorschriften vs. forskrifter som mâ feiges αν alle ansatte. Bei Part. Präs. und Part. Perf. mit jeweils aktivischem oder passivischem Bezug sowie bei gewöhnlichen Adjektiven beschränkt sich die norw. Erweiterungsfahigkeit im Allgemeinen auf Adverbien und Adverbialbestimmungen: et etter min mening meget godt forslag ,ein nach meiner Meinung sehr guter Vorschlag', während im Dt. alle (nichtsatzförmigen) Ergänzungen und Angaben außer dem Subjekt im Prinzip als Erweiterungen möglich sind, so ζ. B. DO und IO: die selbst ungeübten Fahrern guten Straßenkontakt vermittelnde Servolenkung vs. servostyringen som til og med gir m νde for ere god veikontakt; und Prädikativ: eine berühmt gewordene Formel vs. en formel som erlvar blitt beromt. Als Entsprechungen solcher komplexer Adjektiv- und Partizipialattribute erscheinen im Norw. im Allgemeinen Relativsätze oder gelegentlich auch nachgestellte Partizipialattribute, z. B.: die von einer Minderheit erhobene Forderung vs. et krav fremmet av et mindretall.
358 7.
VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen Literatur in A u s w a h l
Askedal, John Ole (1984a): Zum kontrastiven Vergleich des sogenannten „bekommenlerhaltenlkriegen-Passivs" im Deutschen und entsprechender norwegischer Fügungen aus f ä und dem Partizip Perfekt. In: Norsk Lingvistisk Tidsskrift 2, 133—166. — (1984b): On extraposition in German and Norwegian. Towards a contrastive analysis. In: Nordic Journal of Linguistics 7, 83 — 113. — (1985): Zur kontrastiven Analyse der deutschen Pronominalform es und ihrer Entsprechung det im Norwegischen, h r Deutsche Sprache 13, 107—136. — (1989): Nominalglieder und Passiv im Deutschen und Norwegischen. In: Linguistische und didaktische Grammatik. Beiträge zu Deutsch als Fremdsprache. Hg. v. Joachim Buscha; Jochen Schröder, Leipzig, 100-111. — (1993): Relativsatzeinleiter im Deutschen und Norwegischen. In: DaF 30, 246-252. — (1995a): Geographical and typological description of verbal constructions in the modern Germanic languages. In: Drei Studien zum Germanischen in alter und neuer Zeit. Hg. v. John Ole Askedal; Harald Bjorvand. Odense (NOWELE Supplement Vol. 13), 95-146. — (1995b): Lexikalisierung und Grammatikalisierung im Bereich der Kontext- und Sprecherbezogenheit. Kontrastive Überlegungen zur Deixis im Deutschen, Englischen und Norwegischen. In: Deutsch als Fremdsprache. An den Quellen eines Faches. Festschrift für Gerhard Heibig zum 65. Geburtstag. Hg. v. Heidrun Popp. München, 575— 596. Bech, Gunnar (1955/57): Studien über das deutsche verbum infinitum. Bd. 1—2. Kopenhagen. Engel, Ulrich (1988): Deutsche Grammatik. Heidelberg.
Fabricius-Hansen, Cathrine (1981): Kontraster og fejl. Indfering i kontrastiv beskrivelse og elevsproganalyse p& norsk-tysk grundlag. Oslo (Osloer Beiträge zur Germanistik 7). — ; Bengt Ahlgren (1986): A lese tysk sakprosa. Innforing i grammatisk leseteknikk. Oslo etc. —; Kâre Solfjeld (1994): Deutsche und norwegische Sachprosa im Vergleich. Ein Arbeitsbericht. Oslo (Arbeitsberichte des Germanistischen Instituts der Universität Oslo 6). H0yem, Sturla; A. Wilhelm Zickfeldt (1990): Deutsche Lautlehre. Trondheim. Kvam, Sigmund (1983): Linksverschachtelung im Deutschen und Norwegischen. Eine kontrastive Untersuchung zur Satzverschränkung und Infinitivverschränkung in der deutschen und norwegischen Gegenwartssprache. Tübingen (LA 130). Leirbukt, Oddleif (1986): Wider die Rede vom „Ersatzinfinitiv". Kontrastiv-didaktische Überlegungen zu Modalverbkonstruktionen als Problem des fremdsprachlichen Deutschunterrichts am Beispiel Norwegen. In: JbDaF 12, 1—22. Pütz, Herbert (1989): Referat - vor allem Berichtete Rede — im Deutschen und Norwegischen. In: Tempus — Aspekt — Modus. Die lexikalischen und grammatischen Formen in den germanischen Sprachen. Hg. v. Werner Abraham; Theo Janssen. Tübingen (LA 127), 183-223. Solfjeld, Kâre (1988): Sprachwechsel und Stilwechsel. Übersetzung deutscher Sachprosa ins Norwegische. In: Teaching translation. Papers read at a symposium at Stockholm University, 6— 7 March 1987. Stockholms universitet (PU-Rapport 1988, 1), 50-66. John Ole Askedal, Oslo
(Norwegen)
32. Kontrastive Analysen Deutsch-Französisch: eine Übersicht 1. 2. 3. 4. 5.
Einleitung Laut, Schall und Ton Grammatik Lexikon Literatur in Auswahl
1.
Einleitung
Wenn die Abwesenheit der Romania von der kontrastiven Pionierbewegung der 70er Jahre ausdrücklich bedauert wurde, so hat sich für das Französische die Lage nach einer Generation im Zeitalter der interkulturellen Kom-
munikation scheinbar nicht geändert (Baumann/Kalverkämper 1992, 13 und 100). Es gibt bislang keine Fachzeitschrift, keine Publikationsreihe, keine Arbeitstagung exklusiv zu dieser Thematik. In deutsch-französischen (d-f) linguistischen Kolloquien werden einzelne Phänomene wohl in beiden Sprachen behandelt, aber fast ausschließlich parallel und auf Distanz, so dass Blumenthal (1987) und Rovere/Wotjak (1993) ziemlich einsam bleiben auf weiter Flur. Das fehlende öffentliche Bekenntnis zur d-f kontrastiven Linguistik darf jedoch über wesentliche interlin-
32. Kontrastive Analysen Deutsch-Französisch: eine Übersicht
guale Erkenntnisse bei Germanisten und Romanisten nicht hinwegtäuschen. Dieser Sachverhalt ist eine natürliche Folge der unterschiedlichen Bildungssysteme, dem Zweiund Mehrfachstudium in d Ländern, dem Einfachstudium in Frankreich. Für das Sprachenpaar Deutsch-Französisch (D-F) scheinen linguistische Persönlichkeiten, ihre Intuition und Initiativen mehr denn linguistische Schulen die kontrastive Forschung geprägt zu haben. Der f Individualismus bleibt ein Bollwerk gegen doktrinäre Muster, hinter dem sich heute auch gerne d Romanisten verschanzen. Die europäische Wissenschaftskooperation (PROCOPE) ist ihrerseits nicht unbeteiligt an der Verwirklichung von kontrastiven Programmen. Die für diesen Band gewünschte Aufstellung von Divergenzen darf über das Vorhandensein von Konvergenzen gerade bei zwei genetisch relativ nahen Sprachen nicht hinwegtäuschen. Angesichts der hier geltenden Umfangsbegrenzungen werden Arbeiten aus Morphosyntax und Semantik vorwiegend der jüngsten Generation gewürdigt; was die sehr aktuelle kontrastive Forschung zu Text, Übersetzung und Didaktik betrifft, muss auf erste Überlegungen wie Gréciano (1997), Besançon (1997) und Gautier (1998) verwiesen werden. Auch Sprachbelege bleiben exemplarisch. Als programmatisch kontrastive Grundlagenforschung können die Arbeiten von Koppenburg (1976) und Scheidegger (1981) angesehen werden, die zeichentheoretische Überlegungen und konkrete Vergleiche von Wörtern, Wortfeldern und Wortbildungen anstellen. Koppenburg (1976) widmet seinen kontrastiven Blick in der Tradition von Wandruszka (1969) der Konvergenz als dem Ausdruck der sachlichen, fachlichen und kulturellen Affinität Europas. Divergenzen sind die natürlich gegebenen instrumentalen Grenzen und bleiben die Herausforderung zu Konvergenzstiftung. Der Linguist macht aufmerksam auch auf das Prinzip des divergierenden Gebrauchs von Konvergenzen. Scheideggers (1981) kritische Auseinandersetzung mit dem bekannten Grundkontrast zwischen dem rationellen F und dem emotionalen D ist eine zweite Einführung in die kontrastive Thematik. Nach säuberlichster Trennung der Meinungen der Pioniere verlagert er (1981, 37) diesen schematischen Gegensatz auf den Zusammenhang zwischen Motiviertheit und Syntagmatik. Die empirische Untersuchung des d-f Grundwortschatzes widerlegt den Ge-
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meinplatz des arbiträren F vs. motivierten D. In beiden Sprachen übertrifft die Arbitrarität die Motiviertheit und die Ableitung die Komposition. Der Kontrast reduziert sich auf die etymologische Transparenz im D, auf jene Aspekte der Konkretheit und Details, über die sich das F spontan hinwegsetzt. 2.
Laut, Schall u n d Ton
Angesichts des Stellenwerts von Mündlichkeit für die Kommunikation haben die entsprechenden Phänomene noch nicht die angemessene kontrastive Beachtung gefunden. Diese Tatsache spiegelt den oft beschworenen Primat des Geschriebenen wider, aber auch die Schwierigkeiten der Übertragung von Kategorien des Schriftlichen auf das Mündliche. Die d-f Interferenzen im Bereich der Okklusive /p, t, kl und /b, d, gl werden von Künzel (1977) untersucht und der Sprachschall anhand eines Oszilloskops visuell und auditiv kontrolliert. Feuillet (1972) vermittelt dem Frankophonen die Varianten dieser d Phoneme anhand von deren distinktiven Merkmalen und widmet sich (1982) der Spezifität der d Vokale. Über Transferenz und Integration f Laute im D zeigt Volland (1986) die Divergenzen der Systeme; diese bestehen vorwiegend bei den Vokalen: offene Artikulation +D, Artikulationsspannung +F. Das Interesse gilt den Anpassungsprozeduren und -gründen: Dehnung betonter Vokale, oft mit Qualitätsänderung (Parole, Porträt), Integration über Gebrauchsfrequenz, Transferenz für Typizitäten. Bei den Konsonanten unterscheiden sich die initialen Plosivlaute, aspiriert + D / - F ; stimmhaft präpalatale Frikative /z/ werden doppelt so oft transferiert, besonders bei Fremd- und Lehnwörtern, als stimmlos Isl integriert oder erscheinen in Leseaussprache 0General); das palatale In/ ist meistens integriert (Kognak) oder in Leseaussprache (signiert). Nasalvokale transferieren im Süden, integrieren im Norden. Türks (1994) kontrastive Untersuchung zum Prosodem verwirklicht eine Einbindung in Kontext und Situation; sie geht von einem Korpus d und f Werbespots aus und zielt auf textsortenspezifische Extrapolationen. Lassen sich Laute (Diphthonge, Affrikaten, Spiranten usw.) isoliert und kontextfrei üben, so stellt sich der Wechsel von einer endbetonenden zu einer frei akzentuierenden Sprache weniger einfach dar. Eine Brücke könnte die sich zunehmend bemerkbar machende, häu-
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VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen
fig noch sozio-professionell geprägte Anfangsbetonung des modernen F bilden, die zu Doppelaktzentuierung von Lexemen oder semantisch eng gebundenen Lexemgruppen führt. Die illokutionäre Funktion dieses f Ersatzakzents findet sich im D insofern wieder, als der Sprecher je nach Kommunikationsbedürfnis jede akzentogene Silbe, in der Werbung sogar manchmal jede Silbe, betonen kann. Die Situation als Kriterium und Regulativ macht Verwirrung stiftende Akzenttypen (Haupt-, Nebenakzent; emphatischer, neutraler Akzent usw.) überflüssig und erleichtert dem Frankophonen den Zugang zu ungewohnten prosodischen Strukturen. Und anstatt der Einschränkung auf den Satz oder einer umstrittenen Anzahl von Tonmustern — sie schwanken zwischen 3 und 11 - entscheidet die jeweilige Situation, ob eine melodische Öffnung (progredientes Muster) oder ein melodisches Schließen (fallendes Muster) angebracht ist. 3.
Grammatik
In den Bereich des Sprachsystems gehören vorwiegend aktuelle Standardgrammatiken, die europäische Bildungssprachen miteinander vergleichen. In Glinz (1994) kommt der Morphosyntax des D und F der ihnen gebührende Stellenwert zu. Glinz thematisiert die Unterschiede nach traditionellen Klassen: den Wortarten (Pronomen im D, déterminants und pronoms im F), den Satzgliedspezifika (Prädikat im D, attributs und compléments circonstanciels im F), nach Genus (drei im D, zwei im F), Kasus (Restbestand/ Morphemschwund im F), Tempus (Mehrzahl der Vergangenheitstempora im F) und der syntaktischen Verknüpfung (Unauffälligkeit der Nebensatzstruktur und Frequenz der Infinitiv- sowie Partizipsätze im F). Dadurch, dass der Vergleich in der Fremdsprache (FSp) zum Tragen kommt, entlastet er auf willkommene Weise den FSperwerb. Deutsch als Fremdsprache (DaF) gewinnt von Zembs (1978) Korpusverteilung, D im f und F im d Teil. Es handelt sich um die Vorstellung und Diskussion der jeweiligen Typizitäten, um einen Sprachvergleich, der nicht an parallele Kategorien und Strukturen gebunden ist, der sich vielmehr ein breites Äquivalenzpotential zum Ausgang macht und dieses anhand einer universellen logischen (Tiefen)Struktur nach Thema, Rhema und Phema über Prädikaten- und Argumen-
tenlogik erklärt. Der Autor entwickelt eine differenzierte Äquivalenzerwartung, die die notwendigen Mehrfachentsprechungen zwischen Lexematik, Morphematik, Taxematik und Graphematik sicherstellt. Die auffälligsten Kontraste kreisen um das Nominalkasus- und das Verbalrektionssystem. Die Relationsbedeutung ζ. B. äußert sich im D morphematisch, im F lexematisch und taxematisch. Auf eine morphematische Subjektindizierung im D antwortet die taxematische Regelmäßigkeit im F: Nominativ vs. Erststellung. Im Satzbau bestehen augenfällige Unterschiede: klar und deutlich gleich Schachfiguren im D, verschüttete, verschlüsselte, verstreute Strukturen im F, was Blumenthals (1987) Beobachtung bestätigt: spezifizierender Ausdruck im D, relationaler im F. 3.1. Kategorien Im Nominalbereich hat sich die Determination als heikler und daher beliebter kontrastiver Untersuchungsgegenstand behauptet (Blumenthal 1987, 85f.). In Rovere/Wotjak (1993, 191 f.) erörtert Lavric noch einmal empirisch und theoretisch die Teil- und Quasiäquivalenzen: jeder vs. chaque (distributive Gesamtheit +D/—F); einige vs. quelques (weitere Extension +D/—F); dieser, jeder vs. ce, ce ... ci, ce ...là (Restriktivität + D / - F ) ; Determination +D/—F. Kamm belegt an gleichem Ort (311 f.) die zwischensprachliche Textsortenabhängigkeit des Gebrauchs von Determinanten anhand von Belletristik und Rechtstexten. Definitartikel zeigen sich textsortenindifferent, aber einzelsprachspezifisch, weil sich im F die Generalisierung von den Artikeln auf definitorische Kontexte verlagert; die d und f Divergenz von Indefinit- und Demonstrativformen jedoch ist textsortensensibel: les Etatsldiejenigen Mitgliedstaaten, la santé! Gesundheit, à ces comités régionaux/in den Regionalkomitees. Den Verbalmorphemen werden durch Confais (1990) neue Zeichen gesetzt. Die Perspektive ist wie angekündigt nicht vergleichend. Universelle Grammatikkategorien werden einzelsprachlich auf ihre erklärende Adäquatheit hin geprüft, was sich wie erwartet zum wahren Nährboden für weitere kontrastive Schlüsse entfaltet. So kommt es, dass die Überprüfung von übereinzelsprachlichen Thesen Kontraste in beiden Sprachen zu Tage fördert, vor allem in den Gebrauchsbedingungen und -Implikationen. Unter den f Germanisten festigte sich seit einer Generation die prinzipielle Differenzierung von Tempus,
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32. Kontrastive Analysen Deutsch-Französisch: eine Übersicht
Modus und Aspekt, die auch intrakategorial und interlingual belegt werden kann. Zemb (1978, 283) ζ. B. gibt folgenden Überblick für die d-f Modusasymmetrien: Discours indirect Hypothèse Olsei
Indicatif
Subjonctif
est/ist soitIO O/wäre futlwar fûtIO
Blumenthal (1987, 66) macht seinen d-f Tempusvergleich auf den Ebenen der Syntax, Semantik und Pragmatik und schließt auf die zentrale Rolle von aspektuellen Unterschieden in f Vergangenheitstempora sowie vom pragmatischen Gegensatz zwischen subjektiver und objektiver Vergangenheitssicht im D. Confais (1990) inkriminiert für die Moduskontraste SUBJ vs. KONJ I die im D dominierende berüchtigte Wahrheit, für die Tempuskontraste PRÄS vs. FUT die im F ausgeprägtere temporale Markiertheit. Die erklärende Beobachtung geht hier bis zu universellen Thesen, wie (i) der Komplementarität von Tempus, Modus und Aspekt, weil sie deren Differenz voraussetzt; (ii) der Einschränkung ihrer referentiellen Dimension zugunsten ihrer textuellen und illokutiven.
Zemb, Blumenthal und Confais stimmen darin überein, dass Temporalität verb- und satzübergreifend eine kognitive und illokutive Diskurskategorie ist in morphologischer, lexikalischer und syntaktischer Vernetzung, für die die Wissens- und Verstehenskontrolle durch den Hörer-Leser bedeutungskonstitutiv ist. Neben oberflächlicheren Unterschieden in der Zahl der temporalen und modalen Grundformen (7 im F, 4 im D), sowie der der personalen (6 im F, 5 im D), wird immer wieder der Hauptkontrast im Auxilsystem thematisiert. Augenfällig, besonders in den horizontalen Baumgraphiken (Janitza 1971) und Schmetterlingsfiguren (Zemb 1978) bleibt der Unterschied in der zentripetalen vs. zentrifugalen Entfaltung, nach dem Prinzip determinans determinatum im D, determinatum determinane im F: bin verstanden worden vs.
j'ai été compris. Confais erkennt darin den Fortschritt einer entgrammatikalisierenden Lesart. Die in den Arbeiten von Janitza (1971), Zemb (1978) und Gréciano (1994) einstimmige Erklärung geschieht über (i) eine Aufwertung der Auxilformen zur Basis; (ii) eine strukturelle Teilungsregel in Auxiliar und Auxiliat: formale Multiplikation durch Ver-
doppelung der Verbformen bei kategorialer Division in grammatische Information für das Auxiliar und semantische Information für das Auxiliat: verstehe!comprends -* werde verstandenlsuis compris; (iii) einen Wechsel des Auxiliars zum Auxiliat mit einzelsprachspezifischer linearer Reihung, Endstellung nur im D: bin verstanden wordenlai été compris.
Auch bei François (1989) steht der Vergleich nicht im Zentrum. Dennoch gewinnt das Sprachenpaar D-F typologisch und kontrastiv von der praktischen Beweisführung der theoretischen Positionen zu aspektuellen Verbkategorien. Diese postgenerative morphosemantische übereinzelsprachliche Studie kreist um den Begriff Überführungsfunktion: Zustand; Handlung; Vorgang. Sie konzentriert sich auf den Vorgangsverlauf und die Beteiligungsmodalitäten: Veränderung, Bewirkung, Handlung: in Aufregung sein/kommen/bleibenljdn.
... halten: resultativ/ingres-
siv/kontinuativ/kausativ. Die Anwendung dieser semantischen Forschungsbilanz auf das D und F zeigt die Beschränktheit von getrennt aspektuellen und partizipativen Klassifikationskriterien. D und f Verben der Veränderung widerlegen die propositionale Lesart des Bewirkers als Subjekt: Die Kartoffeln verfaulten vor Nässe. La peinture déteint au soleil.
Kontraste zeigen sich in den Präferenzen: Intransitivkonstruktion mit Passiv-Subjekt und Hilfsformen im D (Durch die Überschwemmung ertrank die Familie. Die Überschwemmung ließ die Familie ertrinken.)', Transitiv-
konstruktionen mit Bewirker-Subjekt und Pseudoreflexiva im F (L'inondation a noyé la famille. La famille a été noyée par l'inonda-
tion.). Kontraste fordern Erklärungen: Ein weiteres Haus wird gebautlOn
construit une
nouvelle maison — Vorgang durch Agens kontrolliert. Die Ziegel werden vom Dach fortgerissen/Les tuiles s'envolent du toit - Kausativ-
verlust. Ein differenzierter Katalog (368) übersetzt die d reflexive Resultativform ins F: Das Paar hat sich nach vorne getanzt/Le couple a si bien dansé qu'il occupe une des premières places.
Von Trubetzkoy hat Faucher (1985; 1988) den in der Syntax unbeachtet gebliebenen kontrastiven Parameter der Abgrenzung übernommen, der sich für das D als wesentlich, für das F als unwesentlich gestaltet. Als syntaktische und semantische Kategorie in ihrer logischen, pragmatischen und kognitiven Potenz erhellt diese kulturabhängige und -schaffende Abgrenzung den d-f Kontrast
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VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen
nicht nur im Umgang mit dem Komma ( + D / - F ) , sondern auch in Bezug auf Verbstellung, Verbzusätze, Verbalisierung des Satzendes, Infinitivsyntagmen als abgrenzende Substrukturen, Komposita ( + D / - F ) . Die Abkapselung wird wettgemacht durch Partikelgebrauch ( + D / - F ) , Vorgreifern des Nebensatzes ( + D / - F ) , Ko- ( + D / - F ) und Subordinationen ( - D / + F ) . Zu dem Gewinn von Konvergenz zwischen Phonologie und Syntax gesellt sich eine dynamischere Füllung der Humboldtschen Begriffe innere Form, energeia als zur Zeit des statischen Strukturalismus. Aufschlussreich für Fachübersetzungen sind die von Conez/Kriepel (1998) erhobenen Konkordanzen zwischen Reflexiva und den Passiv- sowie Reflexivkonstruktionen. 3.2. Kombinatorik Kontrastiv hat sich das Valenzmodell als ergiebig erwiesen, was in Grammatiken und besonders Wörterbüchern deutlich wird und nicht ohne positive Rückwirkung bleibt auf die FSpdidaktik (Zöfgen 1982; Schumacher 1995). So wurden auch Nominalien bereits durch Zemb (1978) als thematische Funktion über Valenz definiert: ein Ν bezeichnet bedeutend. Außer Eigennamen verlangen die meisten Ν eine Bezeichnungshilfe (D') oder Bezeichnungszusätze (A). Während die Lexemklasse D' an die Lexemklasse Ν gebunden ist, können sich die Α-Lexeme auf noch andere Bedeutungsträger beziehen: A zu V, A zu Ν, A zu A. Α-Lexeme sind notwendig, wahrscheinlich oder unnotwendig und modifizieren den jeweiligen Kern durch Einschränkung oder Hinzufügung von Bedeutungen; sie stehen in der Valenz von Ν, V und A. Die Fähigkeit eines A, andere Lexeme zu bestimmen, nennt Zemb (1978) die Potenz. Belin (1976) widmet sich den sehr differenzierten Potenzverhältnissen im D und F. Eine kontrastive Potenztabelle zeigt zu jedem Typ, welche Determinationsfunktionen erfüllbar sind. Von den A mit 4 Potenzen (wie fort in rester fort, forte femme, aboyer fort, fort gentil oder hoch in hochnehmen, (auf) hoher See, hoch stimmen, hochmodern) zu den A mit einer einzigen Potenz nur zu prädikativen V (être quitte, schuld sein), nur zu Ν (in affaires culturelles (*les affaires sont culturelles), heutiger Tag), nur zu V (mener rondement, ungern arbeiten) und nur zu anderen A (wie très intelligent, höchst selten) gibt es die verschiedensten Kombinationen. Den Hauptbestand des f A-Lexemsystems bilden jene A, die so-
wohl als rhematische Elemente zu einem prädikativen V als auch als thematische Elemente ein Ν spezifizieren: est charmante, gentille enfant. Den Hauptbestand der d A-Lexeme bilden jene A zu prädikativen und vollen V, zu Ν und A: ist schlau, schlauer Kopf, schlau ausdenken. Die Verbvalenz ist auch kontrastiv am ergiebigsten erforscht. So werden Verbumgebungen, -komplexe, -gruppen und Sätze zu Einträgen von Distributions- und Kontextwörterbüchern, die sich der Datenverarbeitung erfreuen. Zeigt die Valenz zwischensprachlich syntaktische und semantische Divergenzen — z.B. Umstände als Subjekt +F/ - D , Passiv + D / - F - , so deckt sie logische Konvergenzen auf. Interlinguale Kontraste fordern zur Explizierung der Mikrostrukturen heraus, zu Valenzangaben, Satzbauplänen, lexikalischer Kombinatorik. Brauße (1980) führt den gesamten Kollokationsumfang auf die Verbvalenz zurück. In der aktuellen integrierten Fassung (Greciano 1991) vermag Valenz, die nicht-isomorphen Ebenen Logik, Semantik und Syntax zu verbinden, den Unterschied zwischen Kette und Struktur aufzuheben und eine treffende Erklärung für intra- und interlinguale formale Differenzen bei logisch-semantischen Konvergenzen zu finden: jdm. helfen/jdn. unterstützen!aider qqn.; auf jdn. warten!attendre qqn. Zöfgen/ Bockslaff (1982) bleibt eine wertvolle Basis für die noch ausstehende Kontrastierbarkeit als Überprüfung der These von der relativen Selbständigkeit der f Verballexeme, die der Ergänzungen/Aktanten/Argumente weniger bedürfen als die d. Vergleichend erkennt Blumenthal (1987) die größere Valenzgebundenheit des f Satzes und widmet sich der entsprechenden semantischen Rollenverteilung von Raum und Zeit. Wotjaks (1989) untersuchen einzel- und zwischensprachlich die Aktantifizierungen, Inkorporierungen und Transfers. Die europäische Wissenschaftskooperation (PROCOPE) hat ein kontrastives Projekt zu d-f Funktionsverbgefügen gefördert. Es geht um die zweisprachige lexikographische Erfassung der Prädikatsnomen in ihren mehr oder weniger festen Umgebungen, wobei auch die Kombinierbarkeit der Elemente Beachtung findet. Das bearbeitete Korpusmaterial betrifft die Abstrakta BerichtlFolgelDifferenzierungtGrund!Frage und conséquence!suite!séquelle. Kubczak/Costantino (1996), ähnlich Heuschelmann in Rovere/Wotjak (1997, 19f.) zeigen, wie der Valenzbegriff über Situationssemantik und Gebrauchsbedingungen an-
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hand von Satzeinbettungen und anschließenden Löschungen der Ergänzungen/Aktanten/ Argumente und des Stützverbs die entsprechenden Prädikatsnomen und deren interlinguale Divergenzen beschreibt: einen Bericht erstellenleine Darstellung!Mitteilung machen·, faire un compte rendu/un rapport/un reportage·, Bericht iiberlvon/zu/wonach/rapport suri delconcernant!selon. Die Umgebung prädikativer Nomina wird somit nicht über die Vererbung der Umgebung des entsprechenden Vollverbs erklärt, sondern über die Einbettung in einfache Sätze sowie, besonders im D, gewisse Idiosynkrasien, was die Wichtigkeit dieses Projekts für Frankophone und Übersetzer besonders deutlich macht. Man beobachtet hier den Übergang von der Grammatik zur Lexikologie und Lexikographie, die für die kontrastive Linguistik mitbestimmend sind. Neben Einzelanalysen zur Grammatik (Tempora) geht Zimmers (1990) Kontextwörterbuch entschieden in Richtung Lexik und Korpus. Kontext bedeutet sowohl Distribution als auch Domäne. Die 10000 Korpusbelege sind mehr oder weniger abhängig davon. Der Autor bedient sich einer weit gefassten und daher treffenden Äquivalenz, die über eine Vielzahl von Übersetzungstechniken erreicht wird. Er setzt an bei den bestehenden Lücken der d-f Lexikographie: einmal bei der Aktualität des Wortschatzes, der die heute geläufigen Fachtermini aus Politik, Wirtschaft, Sport, Technik und Kultur miteinbezieht; zum anderen bei der kollokativen Darstellung dieses Wortschatzes, nach Hausmanns Prinzip des Wortschatzlernens über die Kollokation. Der abschließende d-f Index ist eine effiziente Gebrauchshilfe. Die theoretischen Überlegungen und das Äquivalenzkorpus bestätigen Ko- und Kontext als Sitz des Kontraste, der einen weiten Synonymenspielraum hat, dessen Ausgleich einer differenzierten Sprachkultur bedarf; daher Adaptationen und Entlehnungen bei Institutionen: Conseil d'Etat!Staatsgerichtshof!Staatsrat\ Académie française, la Coupole/die Französische Akademie-, CAPES et agrégation!CAPES und agrégation-, un vrai Trafalgarlein echtes Waterloo; ein wahres Waterloolune Berezina. Den Kern dieses Kontextwörterbuchs bildet natürlicherweise die Phraseologie, da laut Praseologieforschung - Zimmer bleibt die Erklärung schuldig - idiosynkratisch festgeprägte Mehrgliedrigkeit und Figuriertheit Äquivalenzen intra- und interlingual erschweren. Der Sprachkompetenz des Autors
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gelingen idiomatische Entsprechungen für die 150 gewählten Wendungen. PROCOPE unterstützte das d-f Projekt zur kontrastiven Phraseologie CONPHRAS (Gréciano/Rothkegel 1997). Die Ergebnisse laufen auf strukturale und diskursive Konvergenzen hinaus. So das Begriffsfeld ERFOLG, das phraseographisch für das D und F von Drillon belegt wird in seinen Vorzugsbereichen, seinen Wegen, Merkmalen und Folgen. Die Produktivität dieses Begriffes wird in Texten beider Sprachen aus dem Bereich Sport besonders deutlich, und man findet wenig Kontraste auch zwischen den veranschaulichenden Bildern: Bewegung durch Vögel, Schiffe und Mechanik vor einem Hintergrund des Wunderbaren. Geringe Divergenzen treten bei Nahon in phraseologischen Vergleichen zutage, in ihrer strukturalen Eingliederung: PräpG im F, Adv im D; freie hyperbolische Wortbildungen im D, konnotierte Komparanda: gras comme un moine. Kontraste ergeben sich vor allem in der Struktur, die, laut Stumpf, zeichengemäß auch eine Bedeutungsindizierung ist. So richtet sich die formale und inhaltliche Teilbarkeit und mit ihr die (An)Spiel(ungs)potenz des Phrasemgebrauchs nach dem Analytizitätsgrad der jeweiligen Sprache: diskontinuierliche Verteilung im F. Über Kollokations-, Konstruktions- und Kontextwörterbücher ist eine bilinguale elektronisch machbare Lexikographie im Entstehen, die die Wörterbucharbeit über Kopisten und Sammler fortan in Frage stellt und übergeht von der Struktur in die Kultur. Verlangt werden pro Sprachenpaar vier Wörterbücher, für den aktiven und passiven Gebrauch mit morphosyntaktischen und pragmasemantischen Mikro- und konzeptuellen Makrostrukturen. Dieser differenzierte Ansatz bewährt sich auffallend gut für Sprachphänomene ohne interlinguale 1:1-Entsprechungen. Kromann (1989) illustriert sein Modell für das Sprachenpaar D-F: , K a f f e e zu sich nehmen': Kaffee nehmen!trinken!genießen!schlürf enlmachen. Greciano (1992) prüft kontrastiv die Begriffsstreuung und den Kulturwert über den Kollokator Herz mit seinen diversen Kollokaten: , Glück': s'en donner à cœur joie, da lacht das Herz im Leibe; , Unglück': avoir le cœur lourd, schweren Herzens; , Güte': avoir bon cœur, sein Herz auf dem rechten Fleck haben; .Bosheit': avoir un cœur de pierre, ein schweres Herz haben; ,Liebe': porter qqn. dans son cœur, jdm. ans Herz gewachsen sein. Aktuelle Ansätze in der d-f Lexiko-
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graphie bestätigen Reichmanns (1987) Vorstellung eines Kulturwörterbuchs, in dem die syntagmatische, oft metaphorische Einbettung der Schlüsselwörter die Kulturspezifik erfasst und begründet. 4.
Lexikon
Wortschatzarbeit entwickelt sich entlang strukturalistischer Wortfeldtheorien bis zur kognitivistischen Prototypensemantik. Der Sprachvergleich verläuft über Wörterbuch und Übersetzung. Im Anschluss an frühe und wichtige Stellungnahmen zur kontrastiven Grammatik gilt Schwarze (1985) als federführend für eine Arbeitsgruppe zur d-f kontrastiven Lexikologie. Im Mittelpunkt steht auch hier das Verblexikon, in seiner Wort- als auch Wörterbuchdimension, wegen seiner semantisch zentralen Funktion in der Festlegung von Sachverhalten und der daran beteiligten Rollen. Originell ist Schwarzes Hypothese (1985, 36), nach der Wörter - interlingual im System oder Gebrauch in Beziehung gebracht - syntaktische und semantische Komplikationen und Kontraste aufdecken (imettre, je nach Kontext: setzenlstellen/legen; Hilfe: aidelsecoursiassistance). Diesem Kernproblem soll mit der Annahme einer Grundbedeutung begegnet werden, die aufgrund von Übertragung, Bedeutungszerlegung und Sinnrelationen in einer übereinzelsprachlichen Repräsentationssprache erfasst wird. Schwarze (1985) zielt auf die Formalisierung von Äquivalenzen (Ä) und Kontrasten (K) und die Explizitmachung der Kontextinformation, die für die Herstellung der Ä und die Aufhebung des Κ verantwortlich ist. Nach entsprechend differenziertem Protokoll werden in diesem Sammelband und in zusätzlichen Monographien mehrere Wortfelder untersucht: Verben des Ortswechsels (Schlyter), der visuellen Wahrnehmung und Handlung (Schepping), heilen und reparieren, lernen und erfahren (François/Schwarze). Aufschlussreich an diesen Analysen sind die Prinzipien der Ä-Herstellung. Konvergieren df Bewegungsverben marcher!gehen, so gibt es Divergenzen in der Rollenverteilung um die Verben des Ortswechsels: D Verben ohne Herkunfts- und Zielangaben werden im F durch Bewegungsverben wiedergegeben {Er geht auf der Straßelll marche dans la rue.). Auch in RovereAVotjak (1997,215f.) geht Rösner noch einmal auf kommen vs. gehen! venir vs. aller ein und erklärt die wesentlichen
Unterschiede über Perspektivierung, d. h. einzelsprachliche Fokussierung über Präsupposition und Aspekt. Die Frequenz von kommen gegenüber venir gründet in der Neutralisierung der deiktischen Komponente zugunsten anderer Bedeutungselemente im D. Bereits Schepping (1982) untersucht auf logisch-semantischer Basis und nach syntaktischer Distribution die d und f Verben des Visuellen, wobei der Übergang von der Wahrnehmung zur Handlung mit der Intensität, den Modalitäten und der Zahl der beteiligten Größen zusammenhängt (192). Der Autorin gelingt es, d-f Divergenzen und Konvergenzen zu erklären: sehen inf. für Sachverhalt als Experient; voir inf. für Sachverhalt als Ereignis und Verlauf, kompatibel mit Aktionsart (Pierre voit Paul commencer à travaillerl?Peter sieht Paul anfangen zu arbeiten)·, sehen, wie!voir, relative perceptive für Sachverhalt als gleichzeitiger Verlauf (Anna sieht, wie Klaus ein Buch kauft/Pierre voit Anna, qui achète un livre), perfekte Konvergenz bei sehen, daßlvoir que in der Referenz auf deduzierte Erkenntnis (74). François (1989) nimmt die Fallstudien in Schwarze (1985) noch einmal auf und gibt dem Lexikonvergleich ein ganz besonderes Relief. Das Wortfeld heilenlguérir und reparieren!dépanner drückt positiv bewertete Zustandsveränderungen in Bezug auf Krankheit und Schaden aus, die nach den Beteiligten (Gegenstand, Schaden, Ursache und Art der Veränderung) strukturiert werden. Das Wortfeld um apprendre!erlernen, erfahren wird nach dem Kasusrahmen Nutznießer, afïïziertes Objekt, fakultativer Bewirker gegliedert, wodurch die zwischensprachlichen Kontraste eine Erklärung finden, z.B. die vorrangige Subjektfunktion für den bewirkenden Sachverhalt im F (Son séjour chez les moines tibétains a appris à Paul à être plus modeste), für den Nutznießer im D (Durch den Aufenthalt bei den tibetanischen Mönchen hat Paul gelernt, bescheidener zu sein). Die Begriffsfelder ATMUNG und WISSENSERWERB, -TRANSFER werden in der Vielfalt ihrer Versprachlichung untersucht (436-610), und d-f Kontraste finden aufgrund von lexikographischen Analysen und Informantenbefragung eine semantische Merkmal- und syntaktische Distributionserklärung. Tabellen, Äquivalenz- und Transferdateien registrieren die Unterschiede in der obligaten Natur der Aktantennennung sowie in den Merkmalsubkategorierungen und erklären so die interlin-
32. Kontrastive Analysen Deutsch-Französisch: eine Übersicht
gualen Divergenzen in der Versprachlichung durch Mono- und Polylexeme. Dupuy-Engelhardt (1997) ist Schallereignissen im d und f Wortschatz gewidmet. Diese Analyse ist die kontrastive Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse zum D aufgrund von Merkmalsemantik. So setzen Frequenzerklärungen zum D und F bei Semen an. Die allgemeine Asymmetrie von soni Schall, Hall, Klang, Knall, Ton wird so erklärt, dass die Merkmalsindifferenziertheit im F zur Frequenz von Lexemen heterogener Geräusche, die Merkmalsdifferenziertheit im D zu der homogener Geräusche führt. Merkmalsubkategorisierung führt dann zur Erhebung interlingualer Typizitäten: psychologische Markiertheit, besonders Freude +D/ - F ; Schallproduzenten, besonders Körperteile, Naturgeschehen, Artefakte + D / - F ; Vorgangsablauf, besonders Iterativ + D / - F ; Störungen + F / - D ; kollektive Kundgebungen + F / - D . Kontrastive Lexikologie, obgleich Hausmann (1995) an ihrer Machbarkeit zweifelt, wird als Vorstufe der aktuellen bilingualen Lexikographie angesehen, in der Konstruktions- und Kontextwörterbücher übergehen in Übersetzungswörterbücher. Partikeln sind ein bezeichnendes Sprachphänomen des D, das sich dem traditionellen Lexikon entzieht und das sich intensiver d und f Forschung erfreut. Es gibt richtungsweisende Erkenntnisse: Partikeln als Ausdruck der Sprechereinstellung + D, der Gedanken- und Textgliederung + F (Weydt 1969); (Null)übersetzung zur Aufdeckung formaler Kon- und Divergenzen (Blumenthal 1987); Partikeln als Überwindung der strukturalen Abgrenzungen im D zur Anknüpfung an den Ko(n)text (Faucher 1998). Die d-f Analysen gehen von der Lexikologie über Pragmatik (Blumenthal 1987, Dalmas 1997) und Übersetzungen in die zweisprachige Lexikographie (Métrich/ Faucher/Courdier 1994) und in die Didaktik (Fernandez-Bravo/Rubenach 1995) und verhelfen Frankophonen zu einer adäquaten Rezeption der semantischen Komplexität dieser Spezifika des D, hoch in der Zahl, stark im Gebrauch. Für Dalmas (1997) sind Partikeln eine Kognitionshilfe im Sinne der Relevanz. Sie prüft ihre Polysemie interlingual über Übersetzung (Beispiel: d'ailleurs, als argumentierende Annahme und als Abschweifung: überhaupt/übrigens/auch/denn auch/außerdem! zudem.). Für Metrich/Faucher/Courdier (1994) ist (Ko(n))Text die entscheidende Informationsquelle, so dass ihr Partikellexikon
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eine entsprechende mikrostrukturelle Anpassung erfährt. Der Kotext erlaubt es, auf die distinktiven Stellungen und Kookkurrenten einzugehen. Der Kontext gibt die differenzierten Äußerungstypen zu erkennen. Die Übersetzung ist eine Hervorhebung der kommunikativen Wirkung, auch optisch, wobei besonders der Mehrfach- und Nullübersetzung Rechnung getragen wird. Äquivalenzen werden über das Textfragment und seine Übersetzung und nicht über andere Wörterbücher gewonnen. Die jeweiligen Artikel bestehen aus einer synoptischen Einleitung und einer ausführlichen Begründung. Dem Lerner bringt die erste Zusammenfassung das Wesentliche: Funktion/fonction entspricht einer feststellenden Definition, in der die Leistung zur distinktiven Bedeutung wird. Zahlreiche zweisprachige Textbelege ermöglichen den verstehenden Nachvollzug und verleihen diesem bilingualen Lexikon Züge eines Übersetzungswörterbuchs. Wenn Konvergenzen die Motivierung für den FSpunterricht und Divergenzen seinen Inhalt bestimmen, so widerlegen die einzelsprachlichen Typizitäten, die die geprüften Ärbeiten thematisieren, keineswegs die Universalitätsthese zum D und F. Obgleich die Überwindung von Kulturspezifik nicht das Ziel europäischer Bildungs- und Sprachenpolitik sein kann und darf, bemüht sich eine kontrastiv abgesicherte Sprachlehre mehr denn je um die gezielte Vermittlung gerade des d und f Kulturguts. 5.
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33. Kontrastive Analysen Deutsch-Italienisch: eine Übersicht Schumacher, Helmut (1995): Kontrastive Valenzlexikographie. In: Heidrun Popp (Hg.): Deutsch als Fremdsprache: An den Quellen eines Faches. Festschrift für Gerhard Heibig zum 65. Geburtstag. München. Türk, E. (1994): Les fonctions et les formes du prosodème: Etude comparative de l'allemand et du français. Université de Provence. Thèse de doctorat d'Etat. Volland, Brigitte (1986): Französische Entlehnungen im Deutschen. Transferenz und Integration auf phonologischer, graphematischer, morphologischer und lexikalisch-semiotischer Ebene. Tübingen. Wandruszka, Mario (1969): Sprachen — vergleichbar und unvergleichbar. München. Weydt, Harald (1969): Abtönungspartikeln. Bad Homburg.
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33. Kontrastive Analysen Deutsch-Italienisch: eine Übersicht 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Prosodie und prosodische Phonologie Segmentale Phonologie und Phonetik Graphemik Wortbildung und Lexikon Morphopragmatik Morphosyntax Wortstellungssyntax Literatur in Auswahl
Obwohl das Italienische und das Deutsche sicherlich zu den gut erforschten Sprachen der Welt gehören, liegen nur wenige vergleichende Untersuchungen vor, die die beiden Sprachen in ihrer Gesamtheit erfassen. Zur Orientierung kann insbesondere Figge/de Matteis (1976) dienen; Holtus/Pfister (1985) stellen eine Reihe von Einzelproblemen vor, Gislimberti (1989) behandelt die Nominalphrase sowie den Ausdruck der Kausalität. Gelegentlich ist auch ein Blick in die kontrastive Analyse Englisch/Italienisch von Agard/di Pietro (1965) hilfreich. Bemerkenswert ist, dass pragmatische, textlinguistische und konversationsanalytische Vergleichsuntersuchungen weitgehend fehlen. Als italienistische Nachschlagewerke empfehlen sich Schwarze (1988) sowie Renzi (1988ÍF.), Lepschy & Lepschy (1986) und die Kapitel 234-283 aus dem Lexikon der Romanistischen Linguistik (1988). Ein neueres kontrastives Lehrwerk ist Ferraresi/Kromberg (1994).
1.
Prosodie und prosodische Phonologie
Die Unterschiede zwischen den beiden Sprachen im lautlichen Bereich werden durch ihre verschiedene prosodische Grundstruktur geprägt: Während das Dt. als wortbezogene Sprache die Integrität des phonologischen Wortes weitgehend bewahrt, jedoch eine variable und schlecht artikulierte Silbenstruktur besitzt, stellt das Ital. als silbenbezogene Sprache die Integrität der Silbe in den Vordergrund, während die Wortgrenze von phonologischen Prozessen leicht übersprungen werden kann. Mit dieser phonologischen Unterscheidung verwandt ist eine phonetische, derzufolge das Dt. zum akzentzählenden Rhythmustyp gehört, das Ital. aber zum silbenzählenden. Dies bedeutet, dass im Dt. die Dauer der Intervalle zwischen zwei rhythmischen Hervorhebungen unabhängig von der Anzahl der unbetonten (off-beat) Silben mehr oder weniger konstant bleibt, während im Italienischen die Dauer der Silben - unabhängig von deren Position innerhalb größerer Einheiten — mehr oder weniger identisch ist (Auer/Couper-Kuhlen/Müller 1999, Kap. 5; Auer/Uhmann 1988). Aus dem Kontrast zwischen wortbezogen/akzentzählend und silbenbezogen/silbenzählend erklären sich unter
368
VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen
anderem die folgenden phonologisch-phonetischen Unterschiede: (a) Phonologische Prozesse können im Ital. über Wortgrenzen hinweg stattfinden, im Dt. werden sie durch solche Grenzen in der Regel behindert oder blockiert (vgl. im Ital. Elisionen wie in quanti anni -* quant'anni ,wie viele Jahre', buono giorno -* buongiorno·, mit oblig. oder fakultativer Assimilation: con gnocchi [kojijiokn]) sowie das komplizierte und regional variable raddoppiamento sintattico, das gerade an der Wortgrenze in bestimmten Fällen von Akzentzusammenstoß Geminaten einfügt, più + breve -+ più[bbJreve ,kürzer', città triste -* citta fttJriste,traurige Stadt'). (b) In beiden Sprachen ist die Lage des Wortaktzents phonologisch nicht völlig vorhersagbar, wenn auch die paroxytonale Betonung am häufigsten ist. (Im ,nativen' Kernwortschatz des Dt. fällt diese meist mit der stamminitialen zusammen.) Im Dt. besteht die Tendenz, den ,gelehrten' proparoxytonalen Akzent auf die vorletzte Silbe zu verlagern: Charisma (statt Chärisma) oder Brindisi statt Brindisi. Im Ital. scheint der Sprachwandel nicht in diese Richtung zu gehen, vgl. ,neue' Akzentuierungen wie édile ,Bauarbeiter' statt edile, leccornia statt leccornia Leckerbissen'. Neben zahlreichen lexikalisierten Formen gehen Abweichungen von der proparoxytonalen Akzentuierung auch auf die grammatischen Funktionen zurück, die der Akzent übernimmt. Sie liegen im Ital. in erster Linie in der Flexionsmorphologie; vgl. etwa den proparoxytonalen Akzent in der 3. Ps. PI. Präs. Indikativ oder congiuntivo (cäntano ,sie singen', cántino ,sie sängen'), wo der Akzent paradigmatisch konstant bleibt, solange ihn nicht eine schwere Silbe weiter nach rechts zieht (cantiâmo), oder den markierten oxytonalen im Sg. des passato remoto bzw. futuro (finí ,sie beendete', finirò ,ich werde beenden' etc.). Die Struktur der nicht den (primären) Wortakzent tragenden Silben in den beiden Sprachen ist sehr unterschiedlich. Während sie sich im Ital. phonologisch gar nicht und phonetisch nur wenig von den akzentuierten unterscheiden, werden im Dt. die nicht-akzentuierten Silben in Abhängigkeit von ihrer Anzahl komprimiert. Sie können auch völlig ausfallen (vgl. haben -» ham, wasser + ig -*• wässrig, besser + e bessre etc.). Das System phonologischer Oppositionen ist in dieser Position reduziert. Der unterschiedliche Rhythmustyp zeigt sich schließlich darin, dass das Dt. rela-
tiv lange Sequenzen aus nicht-akzentuierten Silben toleriert, während das Ital. diese durch Sekundärakzente auflöst (etwa: tèlefònicaménte telefonisch', intènzionàlità ,Intentionalität'). Dadurch steht dem dt. Rhythmus mit u. U. sehr unterschiedlicher Silbenanzahl zwischen den rhythmischen Hervorhebungen der ital. gegenüber, in dem der Wechsel zwischen betonten und unbetonten Silben in ähnlichen Proportionen voranschreitet („isometrisch"). (c) Die Silbifizierung ist im Ital. meist anlautmaximierend (systematische Ausnahmen sind lediglich die Verbindungen aus Sibilant und Obstruent). Sie ist in der Regel eindeutig und nie vage, während das Dt. systematisch ambisilbische Elemente kennt (insbesondere zwischen Akzentvokal und Schwa: bitte, ackern etc.) und dadurch die eindeutige Gliederung des Wortes in Silben erschwert. (d) Die Phonotaktik der beiden Sprachen unterscheidet sich grundlegend. Das Dt. lässt äußerst komplexe Silbenränder zu (im Anlaut mit drei, im Auslaut mit vier Konsonanten); vor allem unter Einschluss der Flexionsendungen kommt es zu artikulatorisch aufwendigen Ubergängen zwischen Frikativen (schleichst, impfst) und Plosiven (ebbt, Herbst). Hingegen finden sich zwar auch im ital. Anlaut bis zu drei Konsonanten (stranieri ,Fremde'), abgesehen von /s/ in erster Position sind aber nur linke Ränder aus Obstruent und Sonorant oder Halbvokal möglich; im Silbenauslaut sind traditionell nur wortintern einfach besetzte Silbenränder (mit Sonorant oder dem ersten Teil einer Geminate: can&to ,Gesang', gat&to ,Katze') möglich, wortauslautende Silben sind immer ungedeckt. Von dieser Regel abweichende wortauslautende Konsonanten halten erst durch v. a. engl. Lehnwörter in die Sprache Einzug (film, sport etc.). (e) Das Ital. unterscheidet bei den Konsonanten (außer /J, ji, /C, ts, dz/, die als Doppelkonsonanzen empfunden werden) im Inlaut nach Quantität (vgl. pena ,Strafe' vs. penna ,Feder', sonno ,Schlaf vs. sono ,ich bin'). Die Dauer der Vokale kompensiert lediglich die des nachfolgenden Konsonanten (Geminate vs. Einfachkonsonanz), so dass sich zumindest in diesem Fall eine Tendenz zur Silbenisochronie ergibt. Umgekehrt ist im Dt. die Konsonantendauer rein phonetisch. Über den phonologischen Status der dt. Vokalquantität gibt es unterschiedliche Meinungen; während ihr ältere Ansätze in der Regel phonemischen Status zubilligen, wird sie jüngst auch als Epiphänomen des Silbenanschlusses
369
33. Kontrastive Analysen Deutsch-Italienisch: eine Übersicht
(fest vs. lose) beschrieben, der sowohl die Dauer als auch die Gespanntheit der Vokale (außer bei /a ~ a:/ und bei /ε ~ ε:/) regelt (vgl. Vennemann 1991). Die Quantität ist hier also phonetischer Oberflächenindikator einer phonemischen Unterscheidung, die das Ital. nicht kennt. 2.
Segmentale Phonologie und Phonetik
Das ital. monophthongische Vokalsystem (/i, e, a, o, u/ sowie peripher /ε, oí) ist deutlich ärmer als das des Dt. Es fehlen die gerundeten Vordervokale (/y, Y, ce, 0/) und der Zentralvokal {hl). Zusätzliche Komplexität gewinnt das dt. System durch die prosodische Distinktion zwischen losem und festem Anschluss (vgl. oben) sowie durch die Diphthonge /ai, au, oi/. Phonetisch unterscheiden sich die ital. Vokale von den dt. durch gleichbleibende Qualität über den Artikulationszeitraum hinweg sowie durch eine weiter vorn liegende Artikulationsbasis. Die hohen Vokale sind höher, die übrigen tiefer artikuliert als die dt. (vgl. Muljacic 1981). Im Konsonantensystem sind aus Lernerperspektive vor allem die folgenden Unterschiede hervorzuheben: (a) das Ital. unterscheidet stabil und im Kernbereich des Wortschatzes /tj ~ {miarahaba2) [...]
Den Ausländern gegenüber wird meistens auf die madagassische Sprache verzichtet zugunsten der französischen oder englischen.
Tsy ny teny malagasy mazàna no ampiasaina rehefa mandray vazaha fa ny teny frantsay na anglisy.
Daneben gibt es Begrüßungsformeln in alltäglichen Situationen, die dennoch eine formelle Anrede verlangen (z.B. im Büro, auf der Straße etc.). Diese Formeln kann man auch als offizielle Anrede etwa des Vorgesetzten einsetzen. Sie werden i. d. R. in der persönlichen Begegnung verwendet. Sie sind auf Deutsch an die Tageszeit gebunden: (guten) Morgen (guten) Tag (guten) Abend
Misy fiarahabana raikitra ankoatr'ireo izay ma· neho fanajana (oh. any amin'ny toeram-piasana, eny an-dalana, sns.). Fampiasa ireto teny raikitra ireto na eo amin'olona mifankafantatra na entina miarahaba olona ambony rehefa mifanena. Miankina amin'ny fotoana ny fampiasana azy ireo amin'ny teny alema: hatramin'ny 9 ora maraina amin'ny 10 ora hatramin'ny 5 ora hariva amin'ny hariva
Folgende Gruß- und Wunschformeln -> WÜNSCHEN sind von Festen, die im Kalender festgelegt sind, abhängig: Frohe Ostern! Weihnachten
Miankina amin'ny fety hita ao amin'ny alimanaka ny fampiasana ireto teny fiarahabana manaraka ireto: Arahaba, tratry ny PaskaiKrismasy!
Es handelt sich hier um eine Frage nach dem Befinden, nicht um eine bloße Begrüßungsform. Dem entsprechend reagiert man auf die Frage, indem man — so ausführlich, wie man möchte — über seine Befindlichkeit Auskunft gibt: Wie geht es Ihnen?
Fanontaniana momba ny toe-pahasalamana ity fiarahabana manaraka ity. Arak'izay dia milaza ny toe-pahasalamany izay anontaniana:
Mögliche Antwort: - Danke gut! Und Ihnen? Nicht so gut ¡Schlecht
Ny mety ho valiteny: Tsara fa misaotraHIanao no manahoana? Tsy dia salama-l Antonontonony
Normalerweise wird einem auf madagassisch kein schöner Tag gewünscht, sondern es wird nach der Gesundheit des anderen gefragt.
Tsy firariana andró mahafinaritra mihitsy no entimiarahaba amin'ny teny malagasy fa fanontaniana momba ny toe-pahasalamana.
SCHIMPFEN, BITTEN, DANKEN, DROHEN, (SICH) ENTSCHULDIGEN, ERLAUBEN, FLUCHEN, GRATULIEREN, LOBEN, KONDOLIEREN, TADELN, (SICH) VERABSCHIEDEN, VERBIETEN, VORSCHLAGEN, (SICH) VORSTELLEN, WÜNSCHEN.
Manahoana ianoa, Tompoko?
475
49. Kontrastive Analysen Deutsch-Madagassisch: Eine Übersicht Auf Madagassisch können andere Anderedeformeln ohne ein Pronomen der dritten Person verwendet werden. Diese bezeichnen die Tätigkeit/den Beruf/den sozialen Status des Betreffenden, d. h. die Anrede bezieht sich darauf, in welchem sozialen Verhältnis der Adressat zu dem Sprecher steht, z.B.: einem Lehrer gegenüber: einem Vorgesetzten gegenüber: einem älteren Menschen gegenüber: einem Verwandten gegenüber:
Ankoatra ny „ianao/Tompoko" dia azo atao ny miarahaba olona araka ny toerany eo amin'ny fiaraha-monina/fifandraisana mahazatra, oh.:
Zu Besuch bei Trauernden gibt es in Madagaskar ein Begrüßungsritual: Begrüßungsformel: mögliche Antwort:
Amin'ny famangiam-pahoriana dia misy fiarahabana manokana araka ny fomba malagasy: Akory avy izato ianareo, Tompoko? Ny mety ho valiteny: Indreto izahay eto ihany, Tompoko
Gestik
arahana fihetsika
Mit der Begrüßung sind verschiedene Gesten verbunden: Bei formellen Gelegenheiten begrüßen sich die Gesprächspartner per Handschlag. Bei Madagassen ist auch Händedruck mit beiden Händen üblich. (...)
Arahana fihetsika samihafa ny teny
mündlich/informell
eo amin'ny mpifankazatra/ raha miteny
Die hier genannten Begrüßungsformeln werden unter Bekannten benutzt: (guten) Morgen! (guten) Tag! (guten) Abend! HalloHHallo, wie geht's? Wie geht's?
Ireo fiarahabana raikitra tanisaina manaraka ireto dia fampiasa eo amin'ny olona mifankahalala tsara: hatramin'ny 9 ora maraina amin'ny 10 ora hatramin'ny 5 ora hariva amin'ny hariva ( Man)ahoana! Fahasalamana!
In Madagaskar werden dazu vertrauliche Anreden verwendet: Mädchen gegenüber: „aky, ndry" Jungen gegenüber: „leity, ise".
Ahoana aky ndry! Ahoana leitylise!
Darüber hinaus gibt es in einigen Berufsgruppen in Deutschland bestimmte Grüße, z.B.: Waidmannsheil!
Ankoatra izany dia misy fiarahaban raikitra eo amin'ny sokajin'asa samihafa any Alemaina: Waidmansheil!
Hier handelt es sich um einen Jägergruß. Man verwendet ihn, um sich bei der Jagd viel Glück zu wünschen.
Teny fiarahaban ifanaovan'ny mpihaza ary ampiasaina ho firariantsoa.
4.
Fachexperten (Bergenholtz/Kaufmann 1996). Auch für den gemeinsprachlichen Bereich kann eine solche Argumentation gegen eine Trennung von Welt- und Sprachwissen geführt werden. Die Fragwürdigkeit einer Trennung wird am ehesten deutlich, wenn kontrastive Analysen durchgeführt werden. Je größer der kulturelle Abstand zwischen zwei Sprachen ist, um so eher wird man Fälle mit Kulturspezifika finden. In allen Fällen mit Kulturunspezifika liegt eine gemeinsame kulturelle Erfahrung vor, die vorausgesetzt wer-
Kulturspezifika
Die meisten Linguisten unterscheiden zwischen Weltwissen und Sprachwissen. Man spricht auch von enzyklopädischem und sprachlichem Wissen. Es gibt aber auch andere Linguisten, die weder scharf trennen noch eine unscharfe Grenzlinie ziehen wollen, sondern von Graden von Kultur- und Fachkenntnissen ausgehen. Bei einer Fachsprache kann man dann trennen zwischen Informationen für Laien, Semifachleute und
Manahoana Ramose!Madama? Manahoana Andriamatoa Tale? Manahoana Dada PasylMaman'i Rondro? Manahoana DadabelNeny/Dadatoa?
fiarahabana:
Mifandray tanana rehefa mifampiarahaba amimpanajana. Mazatra ny malagasy ihany koa ny mifampiarahaba an-tanan-droa. (...)
476
VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen
den kann. Jede „linguistische" bzw. „semantische" Erklärung versucht sozusagen den Kern des Wissens zu bieten, vergleichbar mit dem Fall, dass ein Fachexperte eine Erklärung für einen Laien gibt. Dies kann aber nur gelingen, wenn das gemeinsame Weltwissen vorausgesetzt werden kann. Bei der Übersetzung in eine andere Sprache kann entsprechend ein Wort für ein anderes eingesetzt werden. Kulturspezifika sind dagegen dadurch gekennzeichnet, dass sie sich nicht ohne weiteres in eine andere Sprache übersetzen lassen. Das Problem ist jedem Übersetzer bekannt. Er hat dann mindestens drei verschiedene Möglichkeiten, wenn er für L l a , d. h. ein bestimmtes Wort in der Ausgangssprache, ein L 2a , d. h. ein anderes Wort in der Zielsprache finden soll: (A) Er findet einen Ausdruck, der zwar nicht genau trifft, aber doch eine Ähnlichkeit mit L l a aufweist. (B) Er übersetzt gar nicht durch ein einzelnes Wort, sondern lässt Li a als Teil des L2-Textes stehen, evtl. in Anführungszeichen gesetzt. (C) Schließlich kann er statt eines Wortäquivalents eine Erklärung in L 2 schreiben, die den Inhalt von L l a wiedergibt. Beim Sprachenpaar dieses Beitrags ist die Menge der Kulturspezifika erheblich, insbesondere bei der Richtung Madagassisch Deutsch. Wir wollen im Folgenden einige Beispiele hierfür geben und dabei auf die entsprechenden Wörterbuchartikel in Wörterbüchern zurückgreifen, in denen die oben genannte Methode (C) angewandt wird. Viele madagassischen Familien essen morgens, mittags und abends Reis. Manchmal gibt es auch etwas Fleisch, Fisch dazu. Getrunken wird „ranovola", das man nach der Methode (A) durch Reiswasser übersetzen könnte. In Rakibolona Alemà-Malagasy (1991) gibt es dazu folgenden Wörterbucheintrag: ranovola a. Getränk Nach dem Kochen des Reises bleibt meist ein angebrannter Rest am Topfboden. Auf diesen wird Wasser gegossen, und das Ganze wird aufgekocht. Dieses Getränk wird meist zu den Mahlzeiten getrunken.
Dies ist nur eines aus mehr als hundert madagassischen Gerichten und Getränken. Entsprechend gibt es in Deutschland Gerichte und Getränke, die man auf Madagaskar nicht kennt, z.B. Korn, Sekt, Pfannkuchen und vieles mehr. Hierfür ein Beispiel aus Rakibolana Alemà-Malagasy (1994):
Pfannkuchen m mofomamy manify endasina anaty lapoaly [Mehlspeise, die man flach in einer Pfanne bäckt]
Bei Sprachvergleichen wird man immer wieder feststellen, dass Familienbeziehungen in verschiedenen Kulturen auf unterschiedliche Weise gesehen werden, so dass keine volle Übereinstimmung bei einer Übersetzung nach der Methode (A) erreicht werden kann. Eine deutsche Kernfamilie besteht aus den Eltern und den Kindern. Jede Kernfamilie ist Teil einer Familie, d. h. einer Gruppe von Menschen, die alle miteinander verwandt sind. Im Prinzip kann man dieselbe Erklärung für ein Teil dessen geben, wofür fianakaviana steht. Mit diesem Ausdruck ist jedoch nicht nur das gemeint, was auf Deutsch Familie ist, sondern auch eine Menge von Familien, die sich zu einem foko zusammengeschlossen haben. Zu einem foko gehören somit Gruppen von Familien, denen gemeinsam ist, dass sie dieselben Ahnen haben. Die Ahnen können sich aber nicht mit Sicherheit auf genealogische Befunde berufen. Den foko verbinden gemeinsamer Wohnort und gemeinsamer Kult des namensgebenden Ahnen (Suter 1992, 146). Zur Familie im weiteren Sinne gehören aber auch Freunde und eventuell Kollegen. Wenn daher in Madagaskar ein Deutscher hört, der oder die gehört zur Familie, wird er es entweder nicht oder nicht ganz richtig verstehen. Auch wenn wir bei der Kernfamilie bleiben, gibt es wesentliche Unterschiede. Man kann dies schematisch wie folgt (S. 477) darstellen (Rajaspera 1995). Ein Beispiel einer solchen Verwandtschaftsbeziehung wird in dem madagassischdeutschen Wörterbuch wie folgt erklärt: mirahavavy p.t. verwandtschaftliche oder gesellschaftliche Beziehung zwischen Mitgliedern des weiblichen Geschlechts
Umgekehrt muss man dann sagen, dass die deutschen Beziehungen für Verwandtschaft von einem anderen System ausgehen, vgl. dazu aus dem deutsch-madagassischen Wörterbuch: Tante / nenitoa, rahavavin-dreny (Schwester der Mutter), anabavin-dray (Schwester des Vaters), vadin'ny rahalahin-dray (Frau des Bruders väterlicherseits), vadin'ny anadahin-dreny (Frau des Bruders mütterlicherseits)
Eng verbunden mit der Zugehörigkeit zu einer Familie im Sinne von Großfamilie ist für Madagassen die Zugehörigkeit zu einer sozialen bzw. administrativen Gemeinschaft, zu ei-
477
49. Kontrastive Analysen Deutsch-Madagassisch: Eine Übersicht
Razambe 'Urvorfahren'
Razana 'Vorfahren'
Razambelona 'noch lebende Vorfahren' Raibe 'Großvater' (und seine Geschwister)
Renibe 'Großmutter' (und ihre Geschwister)
Ray aman-dreny 'Eltern' (Vater, Mutter, Onkel, Tanten, Cousins der Eltern)
Viriamo vavy 'Schwiegertochter'
Zanaka lahy 'Sohn'
Zanaka 'Kinder'
Zanak'olo mianadahy Zanak'olo mirahalativ 'Vetter'
Zafy 'Enkelkinder'
Zartaky ny zafy oder Zana-jafy 'Urenkel'
Zafiafy oder Zqfimahatratra 'Urenkel'
Zanaky ny zafiafy 'Kinder der Urenkelkinder'
Zanaka vavy 'Tochter'
Vivanto lahy . 'Schwiegersohn'
Zanak'olo mianadahy Zanak'olo mirahavavy 'Vetter'
Zafindohalika 'Enkelkinder auf dem Niveau des Knies1
Abb. 49.1.
ner fokontany. Man könnte dies mit .Gemeinde' nach der Methode (A) übersetzen, würde dann aber den Kern der Bedeutung von fokontany nicht treffen. Eine fokontany besteht meistens aus einer Gruppe von 300 bis 600 Personen, die eine gewisse Selbstverwaltung mit einem gewählten Chef ausüben,
vgl. hierzu den Eintrag in Alemà-Malagasy (1991):
Rakibolona
fokontany a. Stadt- oder Dorfviertel, kleinste kommunale Verwaltungseinheit
Entsprechend sind die deutschen Termini für die Aufteilungen in Gemeinde, Kreis, Bun-
478
VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen
desland usw. sowie die entsprechenden Funktionsträger eigens zu erklären, will man nicht die ungenaueren Methoden (A) und (B) verwenden. Kulturspezifika finden sich natürlich auch in dem ganzen Bereich des familiären Zusammenlebens, darunter auch religiöse und traditionelle Riten. Ein fady ist ein Verbot, es wird gelegentlich durch Tabu erklärt. Dabei ist es jedoch so, dass es fadys gibt, die für nur eine Person oder für mehrere Personen, vielleicht eine Großfamilie, vielleicht für eine Region oder für eine bestimmte Zeit gelten. Wer ein fady nicht einhält, kann für immer oder für kurze Zeit aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. In anderen Fällen kann das Nicht-Einhalten des fadys dazu führen, dass der „Übeltäter" nicht nur sich selbst in Gefahr bringt, sondern auch andere. Ζ. B. gibt es in einem Dorf den fady, dass man, während das Boot für die Reise fertig gemacht wird, nicht mit den anderen reden darf. Andere fadys bestehen darin, dass man an einem bestimmten Tag nicht arbeiten darf. Da bei einer Heirat die fadys beider Eheleute für beide gelten, kann das dazu führen, dass an zu wenigen Tagen gearbeitet wird. In diesen und anderen Fällen kann dann der mpanandro ,eine Art Astrologe' ein fady aufheben. Erwähnen wollen wir noch die famadihana, die nach der Methode (A) verkürzt als Umwendung erklärt werden kann. Die genauere, aber immer noch kurz gefasste Erläuterung lautet in Rakibolana Malagasy-Alemà (1991) wie folgt: famadihana a. Zentraler und wichtigster Ritus des madagassischen Ahnenkultes auf dem zentralen Hochland. Nach einer angemessenen Frist (mehrere Jahre) wird ein Verstorbener aus der Familiengruft geholt und in neue Leichentücher gewikkelt. Famadihana ist ein großes, frohes Familienfest, in dessen Verlauf auch Tiere (Rinder, Geflügel) geopfert werden. Es kann mehrere Tage dauern und wird von Musik, Tanz und Gesang begleitet.
Kulturspezifika finden sich keineswegs nur in sozialen Zusammenhängen. In Deutschland hat man anders als auf Madagaskar Autobahnen, Straßenbahnen oder Straßenbahnlinien. Daher gibt es auch keine madagassische Wörter dafür, man muss den Sachverhalt erklären. Ζ. B. für Autobahn steht in Rakibolana Malagasy-Alemà (1991): arabe maro zotra ifamoivoizana , Straße mit mehreren Verkehrsspuren', andererseits gibt es in Deutschland weder taxi-be noch taxi-brousse
und auch nicht buxi. Der letzte Ausdruck ist erst neulich in die madagassische Sprache gekommen, er findet sich in keinem Wörterbuch. Ein buxi ist mit einem Mini-bus oder einem taxi-be vergleichbar, hat aber mehr Sitzplätze. Ein taxi-brousse ist ein Sammeltaxi, das über längere Strecken fahrt. Weiterhin gibt es auf Madagaskar bzw. in Deutschland eine Reihe von Pflanzen und Bäumen, die es in dem jeweiligen anderen Land nicht gibt. Hierfür gibt es zwar lateinische Termini, aber keine in der jeweils anderen Sprache, z. B. auf Madagaskar die Pflanze avoko, die man wie folgt im erwähnten Wörterbuch erklärt: „Kletterpflanze, deren Wurzel und Früchte essbar sind". Entsprechend kennen wir auf Madagassisch keine Wörter für Eiche, Birke oder Buche. Wir kennen in Europa natürlich Muscheln und verwenden sie oft als Dekoration in der Wohnung; Kinder genießen das leichte Brausen, wenn sie die Muscheln ans Ohr legen. So ist es auch auf Madagaskar. Muscheln haben in einigen Gegenden außerdem eine andere Funktion. Hierfür gibt es ein eigenes Wort antsiva, das im madagassisch-deutschen Wörterbuch wie folgt erklärt wird: „große Muschel, die die Küstenbewohner als Musikinstrument, aber auch als Signalhorn benutzen". Wir haben hier nur einige wenige Beispiele anführen können. Eine systematische kontrastive Analyse auf diesem Feld wäre eine lohnende Aufgabe für weitere Forschungen. Vorarbeiten dazu finden sich in den zitierten Wörterbüchern sowie in einer Reihe von soziologischen, wirtschaftlichen und landwirtschaftlichen Analysen (z.B. Suter 1992). 5.
Perspektivierung
Für weitere kontrastive Arbeiten gibt es Themen genug. Wir möchten insbesondere auf drei Aufgaben hinweisen, die wir als vordringlich einstufen. Für genauere konstrastive Analysen, als sie bisher vorgelegt wurden, wäre eine Zusammenstellung eines madagassischen Textkorpus dringend erforderlich. Selbst ein kleines Korpus, bestehend aus 3 - 5 Mio. Textwörtern, würde eine empirische Basis bilden, die über die teilweise unsicheren, introspektiv gewonnenen Daten hinausführen können (Bergenholtz 1994). Es wäre zwar besonders interessant, auch die gesprochene Sprache einzubeziehen. Aber dies wäre zum einen zeit-
49. Kontrastive Analysen Deutsch-Madagassisch: Eine Übersicht
aufwendig, zum anderen wären die bislang schlecht erforschten dialektalen Unterschiede zu berücksichtigen. Man sollte daher zunächst ein Korpus des geschriebenen Madagassischen erstellen, in das neben Zeitungen, Wochenschriften, Erzählungen und Romane auch religiöse Schriften und Teile der Bibel aufgenommen werden sollten. Hiermit wäre der Anfang für verschiedene Parallelkorpora mit Deutsch und Madagassisch gemacht. Weiterhin ist festzustellen, dass bisher jede Form von kontrastiven fachsprachlichen Untersuchungen mit Deutsch und Madagassisch fehlt. In weiten Bereichen hängt dies auch damit zusammen, dass eine eigene madagassische Terminologie zu den meisten Fachsprachen noch völlig fehlt. Man kann hier deswegen nicht nur analytisch vorgehen, sondern wird systematisch neue Fachterminologien entwickeln müssen. In vielen Bereichen wird der Bezug zum Französischen und Englischen von besonderer Wichtigkeit sein, aber in Bereichen wie Tourismus, Handel, Pharmazie und Medizin bestehen wesentliche deutsch-madagassische Beziehungen und entsprechende Bedürfnisse für bilinguale fachsprachliche Forschung, darunter auch die Bildung von neuen madagassischen Termini. Schließlich ist der Bedarf an weiteren deutsch-madagassischen Wörterbüchern zu erwähnen. Die beiden vorliegenden sind als Textproduktionswörterbücher konzipiert und haben mit ihren jeweils etwa 10.000 Lemmata einen zu geringen Lemmabestand, als dass sie auch als Rezeptionswörterbücher problemlos verwendet werden können. Sie umfassen jedoch jenen Kernbereich des Wortschatzes, der besonders ausführliche Angaben benötigt. Eine Erweiterung des Lemmabestandes in diesen Wörterbüchern auf das Fünf- bis Sechsfache wäre erforderlich und auch zu bewältigen, da der erste besonders arbeitsintensive Bereich schon erfasst worden ist. 6.
Literatur in Auswahl
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480
VI. Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen
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VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen 50. Das Deutsche in Österreich 1. 2.
5.
Grundsätzliches Sprachgeografische, sprachhistorische und sprachsoziologische Voraussetzungen des österreichischen Deutsch Linguistik des österreichischen Deutsch Das österreichische Deutsch im Unterricht Deutsch als Fremdsprache Literatur in Auswahl
1.
Grundsätzliches
3. 4.
Die verbindliche Sprachform der einzelnen deutschsprachigen Länder — insbesondere in Deutschland, in Österreich und im größten Teil der Schweiz — bildet die deutsche Schrift- und Standardsprache, während der Substandard als gesprochene Dialekte und Umgangssprachen überall räumlich stark differenziert ist. Die Schrift- und Standardsprache ist jedoch keine Einheitssprache, sondern besteht aus Varietäten. Begonnen von Kloss und ausgebaut von Clyne (1984, 1992, 1995) erfolgt ihre Beurteilung seit den ausgehenden 80er Jahren (Polenz 1987, 1988, 1990) nach dem plurizentrischen Modell. Es setzt in rein synchroner, auf die Gegenwart bezogener Vorgangsweise Nation, Staatsterritorium und Sprache gleich und folgert daraus nationale Varietäten des Deutschen in Deuschland, in Österreich und in der Schweiz als deutsches (oder deutschländisches) Deutsch, österreichisches Deutsch und Schweizerdeutsch (oder genauer Schweizer Hochdeutsch; vgl. Art. 51; Ammon 1995). Die die Varietäten ausmachenden Varianten betreffen in jeweils unterschiedlichem Umfang alle sprachlichen Ebenen: die phonetisch-phonologische (und danach in Einzelheiten auch die graphematische Ebene), die morphologische, die syntaktische und die lexikalisch-semantische Ebene einschließlich der Phraseologie. Dazu kommen noch pragmatische Unterschiede. Bei größtenteils vorherrschenden verbindlichen Gemeinsamkeiten machen diese Varianten jeweils die differentia specifica aus
und konstituieren als solche die Varietäten. Hinsichtlich ihres Umfangs verzeichnet Ebner (1998) für Österreich auf dem auffälligen Gebiet des Wortschatzes rund 7000 Austriazismen, während die großen deutschen Wörterbücher von Duden und Brockhaus-Wahrig den gesamtdeutschen Wortschatz mit über 200000 Wörtern angeben. Das macht einen Anteil der österreichischen lexikalischen Eigenheiten in der Schrift und Standardsprache von etwa 3% aus - oder anders ausgedrückt: auf einen Text von 100 Wörtern entfallen durchschnittlich drei Austriazismen, wobei freilich die tatsächlichen Verteilungen je nach Inhalt und Sachgebiet schwanken. Es herrscht daher innerhalb der deutschen Sprache bezüglich der Standardsprache weitgehende länder- und gebietsübergreifende allgemeine Verständlichkeit. Die jeweils gebräuchlichen Varianten mit allgemeiner Akzeptanz in den einzelnen Gebieten und damit auch die einzelnen Varietäten sind somit hinsichtlich ihrer normativen Gültigkeit als gleichwertig und gleichberechtigt anzusehen. Hier hat der von österreichischer Seite besonders im Vergleich zu der vielfach als vorbildlich betrachteten norddeutschen Varietät stets vertretene Grundsatz zu gelten: „Österreichisches Deutsch ist kein schlechteres, sondern ein anderes Deutsch" (Moser 1989, 25). Was bei dieser rein synchronen Beurteilung ausgeklammert wird, ist einerseits die Diachronie und andererseits die Verbreitung und Gültigkeit der Varianten, indem über die tatsächlich staatsgebundenen Varietäten hinaus zahlreiche weitere Varianten teils länderübergreifend, teils nur auf Teilbereiche eines Landes beschränkt auftreten. So deckt sich hinsichtlich der Verbreitung und räumlichen Gültigkeit nur ein kleiner Teil als spezifische Varianten mit den heutigen Staatsgebieten, so dass Sprach- und Staatsgrenzen tatsächlich zusammenfallen. Dagegen tritt der größere Teil als unspezifische Varianten auf (Ammon
482
VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
1995). Es sind von Österreich aus beurteilt einerseits länderübergreifende oberdeutsche Varianten in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz; westoberdeutsche Varianten in Südwestdeutschland, der Schweiz, Liechtenstein und im westlichsten österreichischen Bundesland Vorarlberg; sowie ostoberdeutsche Varianten in (Alt)Bayern und Österreich. Andererseits gibt es lediglich auf Teilgebiete von Österreich beschränkte Varianten, wobei vor allem im Wortschatz West-Ost-Unterschiede mit ostösterreichischem Eigenverhalten zu beobachten sind und teilweise auch Vorarlberg eine Eigenstellung einnimmt. Die Ursachen dafür liegen in der Diachronie und gehen damit auf die jahrhundertealte Geschichte der deutschen Sprache mit verschiedenartigen stammessprachlichen Grundlagen, wechselnden kulturellen Beziehungen und sich unterschiedlich entwickelnden territorialen und sprachräumlichen Verhältnissen zurück, während die heutigen Staatsterritorien trotz ihrer längeren Vorgeschichte relativ jung sind. So besteht die heutige Republik Österreich seit 1918 und gab es von 1949 bis 1990 mit der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zwei deutsche Staaten. Es wurde daher in linguistischer Hinsicht auf Grund der Mehrzahl der in ihrer jeweiligen Verbreitung von den heutigen Staatsterritorien unabhängigen Varianten auch vorgeschlagen, die Varietäten der deutschen Schrift- und Standardsprache als pluriareale Varietäten zu verstehen (Wolf 1994, 74; Scheuringer 1996; Pohl 1997). Dass zahlreiche normative Wörterbücher des Deutschen der tatsächlichen Variabilität nicht in genügendem Maß Rechnung tragen, so dass die Kodifizierungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz scheinbar jeweils einheitliche nationale Varietäten entstehen lassen, widerspricht der Sprachwirklichkeit und bedarf der Revision. Auch das österreichische Deutsch bildet in sich keine einheitliche Varietät des Deutschen, sondern besteht aus der Summe der in Österreich vorkommenden Varianten auf allen Ebenen (Ebner 1980,215). Als Kodifizierung gilt das 1951 herausgegebene und seit 1979 fortgeführte „Österreichische Wörterbuch", das wegen zahlreicher Unzulänglichkeiten mehrfach kritisiert wurde (Wiesinger 1980; Fröhler 1982; Reiffenstein 1995). Wenn in einer vor allem in Österreich kontroversiell geführten Diskussion (Wiesinger 1995a; Scheuringer 1996a; Pohl 1997; Schrodt 1997) unter sprachpolitischen Aspekten von
einigen das nationale Moment der Sprache als Identifikationsmerkmal hervorgekehrt wird (Hrauda 1948; Muhr 1982, 1989, 1995a; Pollak 1992), so ist dabei unter Vernachlässigung der strukturlinguistischen Gegebenheiten (Reiffenstein 1983, 23) die soziolinguistische Sicht ausschlaggebend, die auf ein verbreitetes Bewusstsein sprachlicher Eigenständigkeit verweist und auf dem Selbstverständnis der Österreicher als souveräner Nation mit einer entsprechenden Abgrenzung besonders von Deutschland und den Deutschen beruht. Als Gegenargumente werden hauptsächlich genannt die zahlreichen oberdeutschen Gemeinsamkeiten und da besonders mit (Alt)Bayern und damit gegenüber staatlichen die länderübergreifenden NordSüd-Unterschiede innerhalb des Deutschen und die relativ geringe Anzahl spezifischer Varianten in ganz Österreich oder bloß in Teilgebieten, wobei den tatsächlich staatsabhängigen Verwaltungsterminologien wenig alltagssprachliche Präsenz und Bedeutung beigemessen wird (Pohl 1997; Scheuringer 1987; 1996). Da aber das österreichische Deutsch in seiner Struktur eine Varietät der deutschen Sprache bleibt und auch gegenwärtig alle Entwicklungen der deutschen Sprache mitvollzieht, gehen unter verschiedenen Voraussetzungen seit den 30er Jahren des 20. Jh.s immer wiederkehrende Versuche, es als möglichst selbständige Sprachform „Österreichisch" hinstellen zu wollen, an der Sprachrealität vorbei. Ebenso ist aber auch die vor allem in Deutschland praktizierte unizentrische Haltung abzulehnen, die eine meist nord- und mitteldeutsch geprägte Standardsprache als eine für den gesamten deutschen Sprachraum verbindliche einheitliche Norm vorgibt und damit am Sprachgebrauch vor allem in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz vorbeigeht.
2.
Sprachgeografische, sprachhistorische und sprachsoziologische Voraussetzungen des österreichischen Deutsch
Nach seinen sprachgeografischen und damit dialektalen Grundlagen gehört Österreich mit Süddeutschland und der Schweiz zum Oberdeutschen. Innerhalb dieses gehört der größte Teil Österreichs von Tirol im Westen bis Niederösterreich und dem Burgenland im Osten zum ostoberdeutschen Bairischen,
50. Das Deutsche in Österreich
während das westlichste Bundesland Vorarlberg sowie ein kleines westtirolisches Randgebiet um Reutte dem westoberdeutschen Alemannischen zugeordnet ist (Wiesinger 1990). Daraus resultieren im österreichischen Deutsch oberdeutsche Gemeinsamkeiten mit Süddeutschland und der Schweiz sowie Gemeinsamkeiten des bairischen Bereiches mit (Alt)Bayern und des alemannischen Vorarlbergs mit der Schweiz, Liechtenstein und dem süddeutschen Allgäu, was im Wortschatz besonders zu Tage tritt (vgl. 3.5.), wie überhaupt ein wesentlicher Teil des österreichischen Deutsch auf den Dialekten basiert und sich vor allem der sogenannte „Akzent" und Aussprachegewohnheiten (vgl. 3.1.) bis in die Standardsprache auswirken. Da Österreich auf drei Seiten von nicht weniger als sechs Fremdsprachen umgeben ist (Italienisch, Alpenromanisch, Slowenisch, Ungarisch, Slowakisch, Tschechisch) und in der bis 1918 bestehenden Österreichisch-Ungarischen Monarchie noch weitere Fremdsprachen galten (Kroatisch, Serbisch, Polnisch, Ukrainisch, Rumänisch), kam es auch zu Entlehnungen aus diesen Nachbarsprachen (Wiesinger 1990b). Schließlich ist als dritte Quelle das allmählich zum heutigen Stand führende Territorialgebilde und seine Verwaltung mit dem Hauptsitz in Wien zu nennen, auf das die österreichische Amtssprache und ihre Terminologien zurückgeht. Bis um die Mitte des 18. Jh.s galt in Österreich und Bayern die sich von der Kanzleisprache Kaiser Maximilians I. herleitende, bairisch geprägte oberdeutsche Schriftsprache, die im Rahmen der konfessionellen Gegensätze als „katholische" Form der „protestantischen", besonders auf Martin Luther zurückgehenden ostmitteldeutsch geprägten Form in Mittel- und Norddeutschland gegenüberstand (Wiesinger 1999b). Erst durch das Fortschrittsstreben der Aufklärung kam es um 1750, verbunden mit dem von Leipzig ausgehenden sprachkritischen Wirken Johann Christoph Gottscheds, zur Sprachreform und damit zur Übernahme der mitteldeutsch-norddeutschen Form, was schließlich zu einer allgemein gültigen Form der deutschen Schriftsprache im gesamten deutschsprachigen Raum führte (Wiesinger 1995; 1997). Dies hatte in Österreich bis um die Mitte des 19. Jh.s besonders unter dem Einfluss der Normvorgaben im als verbindlich betrachteten „Grammatisch-kritischen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart"
483 (1793-1801) von Johann Christoph Adelung zur Folge, dass die heimische Sprachtradition zugunsten einer einheitlichen Schriftsprache besonders von der Schule unterdrückt wurde. Erst mit der kleindeutschen Lösung der rivalisierenden Großmächte Österreich und Preußen, die zur Gründung der ÖsterreichischUngarischen Monarchie 1866/67 und zum Deutschen Reich 1871 führte, trat allmählich auch die sprachliche Verschiedenheit ins Bewusstsein und kam die zunächst negativ konnotierte Bezeichnung „österreichisches (Hoch)deutsch" auf (Lewi 1875). Zunehmend, besonders aber seit 1945 mit der Wiederherstellung der Souveränität Österreichs nach seiner vorübergehenden Zwangseingliederung in das nationalsozialistische Deutsche Reich, entwickelte sich, verbunden mit einem neuen nationalen Selbstbewusstsein, auch das österreichische Deutsch zu einer im Lande verbindlichen Varietät. In sprachsoziologischer Hinsicht gilt in Österreich ein breites Spektrum mündlicher Variation. Hinsichtlich der Alltagssprache bildet es den Substandard, denn die österreichisch geprägte Standardsprache wird in erster Linie in nur wenigen Situationen des öffentlichen Lebens wie Rundfunk, Fernsehen, Kirche und Schule als offizielle und halboffizielle Sprachform (und das mit phonostilistischen Abstufungen) gebraucht und bloß eine kleine Bildungsschicht spricht sie auch als Alltagssprache. Die mündliche Variation ist abhängig von der sozialen Stellung mit Bildung, Beruf, Verbalintensität und Mobilität, der Generationszugehörigkeit, dem Geschlecht und der Gesprächssituation. Auf Grund einer Umfrage (Steinegger 1998) bezeichnen sich 79% als Dialektsprecher und nennen 50% den Dialekt, 45% die Umgangssprache und 5% das „Hochdeutsche" als ihre durchschnittliche Alltagssprache. In Dörfern liegen diese Durchschnittswerte bei 62:35:3%, während sich Großstädter mit 27:65:8% geradezu umgekehrt verhalten. Unter soziologischem Aspekt nimmt der Dialekt von einer unteren über eine mittlere zu einer höheren Sozialschicht zugunsten der höheren Varietäten im Gesamtdurchschnitt von 76:23:1%, 47:49:4% und 35:56:9% ab. Bei den einzelnen Gesprächssituationen lässt sich eine Dialektabnahme zugunsten der höheren Variäten mit zunehmendem Abstand zum Gesprächspartner beobachten, so dass sich ein deutliches Gefalle von Familie und Partnern über das kleine Geschäft zum täglichen Einkauf, die Kollegen am Arbeitsplatz, die
484
VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
Bank und das Kleidergeschäft bis zum Arzt, Vorgesetzten am Arbeitsplatz und dem städtischen Amt ergibt. Zunehmend aber lässt sich beobachten, dass auch in offiziellen und halboffiziellen Situationen immer mehr die dialektale Färbung und der Dialekt selbst gebraucht werden und frühere, noch vor rund 30 Jahren geltende „hochdeutsch"-standardsprachliche Konventionen mit zum Teil gesellschaftlichen Sanktionierungen fallen. Auch die Schule pendelt sich im Unterricht zunehmend auf Umgangssprache als mündliche Konversationsform ein. 3.
Linguistik des österreichischen Deutsch
Im Folgenden werden charakteristische Erscheinungen der deutschen Schrift- und Standardsprache in Österreich auf allen sprachlichen Ebenen kurz beschrieben. 3.1. Zu Aussprache und Schreibung Einen wichtigen, mangels geeigneter Beschreibungsmethoden leider vernachlässigten suprasegmentalen Bereich bilden zunächst die sprechkonstitutiven Eigenschaften der Artikulationsbasis, der Lautbildung (Artikulation) und der Sprechmelodie (Intonation). Diese populär als „Färbung" oder „Akzent" bezeichneten Eigenschaften sind landschaftlich verschieden und schlagen vom Dialekt bis in den Standard durch. Nach den dialektalen Grundlagen gelten in Österreich Varianten eines bairischen und in Vorarlberg mit dem Westtiroler Gebiet um Reutte eines alemannischen Typus. Dabei treten besonders die von Wien bestimmte ostösterreichisch-donauländische, die steiermärkisch-burgenländische, die Kärntner und die Tiroler Sprechweise hervor. Zu den suprasegmentalen Eigenschaften gehört aber auch die Wortakzentuierung. Dabei tritt bei der jüngeren Generation gegenüber der tradierten Verhaltensweise insofern eine Änderung ein, als in unterschiedlichem Ausmaß mittel- und norddeutsch bestimmte Akzentuierungen aufgegriffen werden (Wiesinger 1999). Obwohl die österreichischen Akzentuierungen ursprünglich auch in Bayern und teilweise in Schwaben galten, sind sie dort ebenfalls zurückgegangen. Von Wörtern fremder Herkunft behaupten sich in Österreich noch sehr gut mit Anfangs- bzw. Erstgliedakzentuierung 'Anis, 'Offset, 'Pankraz, 'Diakon, 'Kimono, 'Majoran, 'Marzipan, 'NI
'negativ, 'Vatikan, 'Kilogramm, 'Kilowatt, 'Superintendent, 'bilateral und 'Pentagon sowohl für ,Fünfeck' als auch für ,amerikanisches Verteidigungsministerium'. Weniger gut erhalten sind 'Servaz, 'Camembert, 'Uniform, 'quantitativ, 'Caterpillar, Generalleutnant. Dagegen hat sich die deutsche Akzentuierung statt österreichischem Initialakzent schon mehrheitlich durchgesetzt in To'pas, To'kajer, Samo'war, Ob'oe, Philhar'monikerlphilhar'monisch, A 'loe oder Alo 'e und in zweisilbigem Ko'pie statt dreisilbigem 'Kopi-e. Einen innerösterreichischen Ost-West-Gegensatz zeigen 'Dechant : De'chant und 'Labor : La'bor. Die traditionelle österreichische End- oder Zweitgliedbetonung ist sehr gut erhalten in Kaffee, Pla'tin, Kana'pee, Roma'dur, Telefon, weniger gut in Fleu'rop, Si'phon, Ta'bak, Pale'tot, Roko'ko und sie schwindet stark zugunsten deutscher Anfangsbetonung in 'Amok, 'Mannequin, 'Pingpong, 'Sellerie, 'Prosit. Mittelsilbenbetonung hält sich sehr gut in Ka'tharsis, Kle'matis, Cha'risma, Am'moniak, Mathematik und geringer in Algebra und fünfsilbigem Zere'moni-e gegenüber viersilbigem Zeremon'nie. In Komposita und Ableitungen deutscher Herkunft gilt Erstgliedakzent in 'Pfefferminze, 'Oberforstmeister, 'eigentümlich, 'nacheinander, 'insgeheim, und in deutsch empfundenem 'Attentat sowie in geringerem Umfang in 'Oberlandesgericht, Oberleutnant, 'Attentäter, 'gleichermaßen, 'überglücklich, 'allfällig, 'unablässig, ge'radeaus, 'miteinander, 'entweder. Die deutsche Zweitgliedbetonung hat sich bereits mehrheitlich durchgesetzt in Viertelstunde, hunderttausend, allerliebst, altjüngferlich, un'möglich und Kor'nelkirsche. Als ostösterreichisch erweist sich der Fachausdruck des Fußballspiels Alab'seits mit -sErweiterung und Zweitgliedbetonung. Gut erhaltene österreichische Zweitgliedbetonung haben über'siedeln, ob'liegenl Obliegenheit, Ent'gelt. Dagegen hat sich gegen traditionelle österreichische Erstgliedbetonung nun deutsche Zweitgliedbetonung mehrheitlich durchgesetzt in offen'barenlOffen'barung und Ab'teil. Durch Aufgabe des ursprünglich mit Österreich gemeinsamen Verhaltens in Bayern sind heute zu Akzentuierungsaustriazismen mit allerdings bereits unterschiedlichem Rückgang aufgestiegen 'Kimono, Kana'pee, Roma'dur, Fleu'rop, Si'phon, Roko'ko, Mathe'matik, Algebra, Alab'seits, 'Kopi-e, 'Philharmonikerl 'philharmonisch, 'Oboe, Pro'sit, Selle'rie, Manne'quin. Über die landschaftlich unterschiedlichen suprasegmentalen Unterschiede hinaus gibt
50. Das Deutsche in Österreich
es in Österreich auch segmentale phonetische Eigenschaften der Standardsprache. Hinsichtlich der Lautqualitäten klingt das österreichische Deutsch relativ weich durch geringe Intensität der Plosiv- und Frikativfortes, wobei (p) und ( f ) vor Vokalen und im Auslaut im Gegensatz zum stets aspirierten nur wenig oder gar nicht behaucht werden. Die Leneskonsonanten , (d), , sowie φ als [3] in französischen Lehnwörtern werden in oberdeutscher Weise stimmlos gebildet und erfahren keine merkliche Auslautverhärtung, wenngleich , / und (sy/(ß} im Auslaut neutralisiert sind, ζ. B. in grob : Ysop, Rad : Rat, Tod : Not, Mus : Fuß, Haus : Strauß. Umgangssprachlich fallen die anlautenden Plosivlenes und -fortes /, Φ}I(β} besonders im Donauund Voralpenraum in stimmlose Halbfortes zusammen, so dass kein Unterschied mehr besteht zwischen du : tu, Dank : Tank, bakken : packen, Draht : trat, Blatt : platt, gebracht : Pracht. Während , (k) vor Vokalen unterschieden sind, ζ. B. Garten : Karten, fallen auch sie vor Konsonanten zusammen, ζ. B. Greis : Kreis. Dagegen bleibt die Unterscheidung von Lenes und Fortes im Inlaut aufrecht; ζ. B. leiden : leiten, behagen : Haken, reisen : reißen. Die Endsilbe -ig wird nach der Schreibung mit Plosiv [g], realisiert, ζ. B. [bilig] ,billig', [hailig] ,heilig', [esig] ,Essig', [ko:nig] ,König'. In einer Reihe von Fremwörtern wird anlautendes als Fortisplosiv [k] gesprochen, so in China, Chemie, Chirurg, Charakter, Chameläon, Chaos, Charisma und in ihren Ableitungen. Das ist auch im Inlaut in Orchester, Melancholie der Fall. Ferner gilt in einer Reihe von Fremdwörtern im Anlaut vielfach [st], und [sp], so in Stil, Standard, Strategie, Struktur, Spezies, sporadisch. Präkonsonantisches r wird meist zum [d]Schwa vokalisiert, z.B. in Schirm, Hirte, Hirse, erben, werfen, horchen, während r nach a schwindet, so dass Bart!Bad, warben! Waben, Sarg/sag, Narren/nahen lautgleich werden. Aus dem Vokalismus ist der relativ geringe Öffnungsgrad der kurzen Vokale — — und - - zu nennen. Geschriebenes langes etwa in Käse, nähen, spät, nämlich, Drähte, Universität wird außer in Vorarlberg meist als geschlossenes [e:] realisiert, was in wählen, erzählen durchwegs gilt. In Fremdwörtern aus dem Französischen wird entweder Nasalvokal beibehalten wie in |Jä:s) ,Chance', [br>'lä:s] ,Balance' oder es wird Vokal + η artikuliert wie in [bal'ko:n] ,Balkon', [sa'lo:n] ,Salon'. Das un-
485 betonte e in Bote, Nase, Tage, Gäste sowie in den Vorsilben be- und ge- wird nicht als Schwalaut [a], sondern als offenes [ε] artikuliert. In der Endsilbe -en bleibt dieser Vokal nach den Nasalen m, n, ng erhalten, wie in kommen, nehmen, lehnen, kennen, fangen, singen. Dagegen wird der Vokal nach allen anderen Konsonanten synkopiert wie in leiden, leiten, Raben, tappen, legen, lecken, sinken, reisen, reißen, offen, Ofen, machen, riechen, fallen, Narren. In der Endsilbe -er tritt durch die r-Vokalisierung der [oj-Schwa ein, so dass es [fa:to] ,Vater', fli:bo] ,lieber' heißt. Hingegen wird die Vorsilbe er- stets [εο] ausgesprochen, was meist auch für die Vorsilben ver-, zer als [ίεο], [ts8o], gilt, die aber auch zu [fo], [tso] abgeschwächt werden können. In den Ableitungssilben -tum, -it, -ik, -iz hört man vielfach die Kürzen [tum], [it], [ik], [its] wie in Reichtum, Profit, Politik, Notiz. Wenige bisher abweichende Schreibungen auf Grund anderer Vokalquantität sind Kükken statt Küken, Geschoße statt Geschosse, Verließte) statt Verlies(e), Schleuße neben Schleuse. Reine abweichende Schreibgewohnheiten sind zusammengeschriebenes sodass und Moriz neben Moritz. 3.2 Zum Formengebrauch Vor allem Fremdwörter, doch auch einzelne Erbwörter zeigen Genusunterschiede. So heißt es in Österreich gegenüber Deutschland meist der : das Gehalt, die : der Rodel, die : Imprimatur : das Imprimatur. Schwanken herrscht in der : das Kiefer, der : das Pyjama, der : das Raster, der : das Embryo, der : das Aspik, das : der Virus, das : der Keks, das : die Brezel, das : die Labsal, das : die Vokabel. Gegenüber Deutschland gilt in Österreich nur ein Genus in der (das) Gummi, der (das) Spagat, der (das) Terpentin, der (das) Katheder, das (der) Kataster, das (der) Zubehör, der (die) Quader, die (der) Spachtel. Joghurt zeigt alle drei Genera: in Vorarlberg mit Deutschland und der Schweiz der, sonst das, teilweise auch die. Genusunterschiede können auch Formunterschiede auslösen. So heißt es in Österreich gegenüber Deutschland der Schranken : die Schranke, der Akt : die Akte, der Karren : die Karre, der Scherben : die Scherbe, die Zehe : der Zeh, das Offert : die Offerte. In der Pluralbildung wird häufig umgelautet, so in die Erlässe, Wägen, Krügen (Papier) bögen, Polster. In französischen Fremdwörtern gilt in Österreich -s-Plural in die Parfums : Parfume, die Interieurs : Interieure, die Billiards : Billiarde und -en-Plural in
486
VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
die Saisonen : Saisons, die Fassonen : Fassons, die Cremen : Cremes. Umgangssprachliche -nPlurale nach -/ in Neutra werden in Austrizismen häufig auch geschrieben, so die Mädeln, Würsteln, (Brat)hendeln, Brezeln, Bröseln (Paniermehl), Schinakeln (kleine Boote). 3.3. Zur Wortbildung Die Diminutivbildung erfolgt dialektal und umgangssprachlich auf zweifache Weise, indem in Ost- und Südösterreich meist zum Ausdruck des Kleinen -(e)l und mit persönlich-emotionalem Bezug -eri verwendet wird. In Westösterreich lauten beide Formen in Oberkärnten und im größten Teil von Tirol -(e)l und -(e)le, und in Westtirol und im alemannischen Vorarlberg gibt es nur einheitliches -(e)le. So heißt es z. B. Kindel : Kinderl, Kettel : Ketterl bzw. Kindel : Kindle und in Westtirol nur Kindle und in Vorarlberg Ríndele. Während schriftsprachlich meist -chen und bei Wörtern auf -ch- lein gilt, z. B. Nachtkästchen, Fläschchen, Tüchlein, zeigen Austriazismen und stark umgangssprachlich gebundene Wörter die /-Formen. Formale Diminuierungen ohne semantischen Verkleinerungsbezug sind Würstel, (Salat) häuptel,Salatkopf, Kipfel ,Hörnchen', Krügel, ,halber Liter Bier', Hendel ,Huhn', Brezel. Ihre echten Diminuierungen werden dann mit -eri bzw. -(e)le gebildet. Solche feste Austriazismen sind dann Sackerl ,Tüte', Zuckerl,Bonbon', Weckerl ,weckenförmiges Gebäck', Salzstangerl ,längliches, mit Salz bestreutes Gebäck', Kipferl, Schwammerl ,Pilz', Stamperl ,Schnapsgläschen', Stockerl ,einfacher Hocker aus Holz', Marterl ,Bildstock', Pikkerl , Aufkleber/Vignette'. In der Wortkomposition wird bei Maskulina und Neutra die Fügung im Genitiv sing, mit -s bevorzugt, so dass es Gesangsverein, Gelenksentzündung, Rindsbraten, Schweinsbraten heißt. Als bloßes Fugenzeichen wird es auch auf Feminina ausgedehnt wie Fabriksarbeiter, Personsbeschreibung, Aufnahmsprüfung. Ein historisches Genitiv-s zeigt auch das Adverb durchwegs. Eine besondere Verbalableitung ist jene auf -ieren, sodass es röntgenisieren : röntgen, strichlieren : stricheln heißt. 3.4. Zur Syntax Unter wenigen typischen Eigenheiten ist hier der mündliche und zunehmend auch schriftliche oberdeutsche Gebrauch des Perfekts an Stelle des Imperfekts hervorzuheben, z. B. ich habe gezahlt, ich bin gegangen. Ferner gilt in ebenfalls oberdeutscher Weise bei einigen Zu-
stande- und Bewegungsverben die Perfektbildung mit sein, z. B. ich bin gesessen!gelegen! gestanden. Ferner erfolgt gegenüber Deutschland ein zum Teil abweichender oder zusätzlicher Gebrauch von Präpositionen, z.B. er kommt auf : zu Besuch, sie gehen auf : in Urlaub, er macht eine Prüfung aus : in Chemie, er hat auf : — den Geburtstag vergessen. Schließlich erfolgt in Nebensätzen mit mehrteiligem Prädikat aus haben und den Infinitiven eines Voll- und Modalverbs, die Abfolge Vollverb + haben + Modalverb, während in Deutschland haben die Spitzenstellung einnimmt, z.B. Eine Stimme, die ich ohne weiteres als eine allererste bezeichnen hätte können (Thomas Bernhard). 3.5. Zum Wortschatz Den auffälligsten Anteil am österreichischen Deutsch macht der Wortschatz aus. Dabei gibt es außer neutralen Austriazismen wie Fensterstock : Fensterleibung, Waschmuschel : Waschbecken, Sprossenkohl : Rosenkohl, Nudelwalker : Teigrolle, Kommerzialrat : Kommerzienrat, Gebarungsjahr : Geschäftsjahr, Geld beheben : abheben, sich verkühlen : sich erkälten auch einen sprachsoziologisch gebundenen Wortschatz, der dann in Texten auch soziostilistisch markiert ist. So gehören etwa der Umgangssprache an Watsche für Ohrfeige, hantig für barsch, picken für kleben und sind saloppe Ausdrücke Flasche für Ohrfeige, Haberer für Freund, hackein für arbeiten. Solche soziostilistischen Markierungen geben Ebner (1998) und zum Teil abweichend das „Österreichische Wörterbuch" an. Obwohl alle Sachgebiete betreffend, gibt es ein unterschiedlich starkes Vorkommen des österreichischen Wortschatzes. Anhand einer charakteristischen Auswahl zählt Ammon (1995) folgende Verteilungen, die einen ungefähren Eindruck vermitteln können: 1. Speisen und Mahlzeiten: 101; 2. Verwaltung, Justiz, Gesundheitswesen, Schule und Militär: 91; 3. Geschäftsleben, Handwerk, Landwirtschaft und Verkehr: 85; 4. Haushalt und Kleidung: 55; 5. Menschliches Verhalten, Soziales, Charaktereigenschaften und Körperteile: 31; 6. Sport und Spiele: 19; 7. Sonstiges: 21; 8. Indeklinabilia (Formwörter): 15. Hier ist auch darauf hinzuweisen, dass Österreich 1994 im Rahmen der Aufnahmeverhandlungen in die Europäische Union 23 österreichische Lebensmittelbezeichnungen für den Warenverkehr mit Österreich festschreiben ließ, u. a. Marille (Aprikose), Karfiol (Blumenkohl), Kren
50. Das Deutsche in Österreich
(Meerrettich), Weichsel (Sauerkirsche), Topfen (Quark) (De Cilia 1995). Nicht der gesamte zum österreichischen Deutsch zählende Wortschatz ist auf Österreich beschränkt. Über solchen hinaus gibt es sowohl räumliche Grenzüber- als auch Grenzunterschreitungen. Hinsichtlich seiner Stellung im Rahmen der deutschen Sprache lässt sich der österreichische Wortschatz nach seiner Verbreitung in fünf Bezeichnungs- und eine sechste Bedeutungsgruppe gliedern. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass heute durch Mobilität und Medienverbund einerseits Austriazismen passiv über Österreich hinaus bekannt sind und umgekehrt Österreicher auch typische Ausdrücke aus Deutschland kennen, wie es überhaupt unterschiedliche Einflüsse aus Deutschland gibt (Wiesinger 1988b). Die fünf Bezeichnungsgruppen lassen sich in einen grenzüberschreitenden uneigentlichen österreichischen Wortschatz der Gruppen 1 und 2 und in einen gesamt- oder teilösterreichischen eigentlichen österreichischen Wortschatz der Gruppen 3 bis 5 einteilen, wobei ein Teil der Bezeichnungen von 4 und 5 wieder grenzüberschreitend vorkommt. 1. Oberdeutscher Wortschatz, der Österreich mit Süddeutschland und der Schweiz gegen Mittel- und Norddeutschland verbindet, ζ. B. Bub : Junge, Ferse : Hacke, Rechen : Harke, Orange : Apfelsine, Knödel : Kloß, Samstag : Sonnabend, heuer : dieses Jahr, kehren : fegen. 2. Bairisch-österreichischer Wortschatz auf Grund der gemeinsamen Stammesgrundlage bzw. späterer Sprachbeziehungen in Österreich und (Alt)Bayern, ζ. B. Maut : Zoll, Scherz(el) : Anschnitt des Brotes, Brösel : Paniermehl, Kren : Meerrettich, Kietze : Dörrbirne, Topfen . Quark, Kluppe : (Wäsche)klammer, Fleckerlteppich : Flickenteppich, (Tinten)patzen : (Tinten)klecks, pelzen : Obstbäume mit Pfropfreisern veredeln. 3. Gesamtösterreichischer Wortschatz. Er umfasst einerseits eine Fülle politischer, verwaltungstechnischer, amtlicher und rechtlicher Termini, die in der staatlichen Souveränität begründet sind, z. B. Nationalrat : Bundestag, Parlament : Bundeshaus, Landeshauptmann : Ministerpräsident, Obmann : Vorsitzender (eines Vereins), Journaldienst : Bereitschaftsdienst, Kundmachung : Bekanntmachung, Ansuchen : Gesuch, Verlassenschaft : Nachlass, Erlagschein : Zahlkarte (bei der Post), Matura : Abitur. Andererseits hat sich, zum Teil erst in den letzten Jahrzehnten, von
487 der Bundeshauptstadt Wien aus ein Verkehrswortschatz durchgesetzt, der allerdings nur zum Teil in Vorarlberg aufgegriffen wird und sich deutlich vom angrenzenden Bayern abhebt, ζ. B. Tischler : Schreiner (teilweise noch in Vorarlberg), Trafik : Tabakladen, Schultasche : Schulranzen, Jause : Brotzeit, Marille : Aprikose, Karfiol : Blumenkohl (ohne Vorarlberg), (Schlag) obers : (Schlag)sahne, sich verkühlen : sich (v)erkälten. 4. Ost- und westösterreichischer Wortschatz, der sich zwischen dem westlichen Oberösterreich, der östlichen Salzburger Landesgrenze und Oberkärnten über Salzburg bis ins Nordtiroler Unterland und der Osttirol-Kärntner Landesgrenze scheidet, wobei der Westen meist mit (Alt)Bayern konform geht. Selten liegt westliches Vordringen einer Neuerung vor wie bei Metzger : Fleischhauer (älter Fleischhacker) und Fas(t)nacht : Fasching, meist handelt es sich um östliche Neuerungen wie Rauchfang : Kamin, Bartwisch : Kehrwisch,Handbesen', Stoppel : Stöpsel, Gelse: (Stech)mücke, drei Viertel (neun): Viertel vor (neun). 5. Regionaler Wortschatz. Er begegnet für regional beschränkte Einrichtungen, Gegenstände und Vorgänge wie ζ. B. im ostösterreichischen Weinbaugebiet Weinbauer, Weinhauer für Winzer, Sturm für gärenden Traubensaft, Heuriger für frischgegorenen neuen Wein, Buschenschank oder Heuriger für dessen vorübergehend durch einen grünen Buschen (Bündel) von Zweigen) gekennzeichnete Schankstätte. Ebenso verfahrt Vorarlberg, das seine Eigenheiten vielfach mit dem angrenzenden Allgäu und/oder der (Ost)schweiz teilt, ζ. B. schaffen : arbeiten, Schreiner : Tischler, Lauch : Porree, Blumenkohl : Karfiol, Arve : Zirbe (Kiefernart), Kilbi : Kir(ch)tag (Kirchweihfest), Bestattnis : Begräbnis. 6. In Österreich weist eine Reihe von Bezeichnungen eine eigene oder eine über die allgemeine deutsche Bedeutung hinausgehende Zusatzbedeutung auf, wobei die Verbreitungen den Gruppen 1 - 3 entsprechen, ζ. B. Sessel .einfaches Sitzmöbel mit Lehne' (sonst Stuhl), Fauteuil,bequemes gepolstertes Sitzmöbel' (sonst Sessel), Pension ,Altersversorgung allgemein' (in Deutschland streng genommen nur für Beamte, sonst Rente)·, Bäckerei auch ,süßes Kleingebäck', Knopf auch ,Knoten', angreifen auch ,anfassen', gehören auch ,gebühren' (einem schlimmen Kind gehört eine Strafe), jemanden ausrichten ,über jemanden gegenüber dem Gesprächs-
488
VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
partner schlecht reden', Anstand haben ,durch Beanstandung Ärger bekommen', spreizen auch ,fruchtschwere Äste von Obstbäumen mit Stangen abstützen'. 3.6. Zur Pragmatik Kaum untersucht sind die zum Teil auch gesellschaftlich unterschiedlichen Verwendungsweisen des gemeinsamen Wortschatzes wie überhaupt die Ausdrucksweise (Pragmatik), wobei die mündlichen Sprachvarietäten auch für die Schriftsprache bedeutsam sind. So geht man, wenn man krank ist, in Österreich zum Doktor, in Deutschland zum Arzt. Hat sich in Österreich jemand den Fuß gebrochen, fährt ihn die Rettung ins Spital, während man in Deutschland Bein, Krankenwagen, Krankenhaus sagt. Häufigen Sonderangeboten in Deutschland stehen in Österreich verbilligte Waren in Aktion gegenüber. Wie teilweise auch noch in Süddeutschland ist es in Österreich nicht üblich, beim Grüßen und bei der Anrede gegenüber Bekannten den Namen zu verwenden. Dagegen gehört es in Österreich weiterhin zum guten Ton, Höhergestellte - und das auch in informellen Situationen - zu titulieren und vor allem den erworbenen (Berufs)titel des Ehemannes auf die Ehefrau zu übertragen. Unbekannte, höhergestellt wirkende Herren werden gerne als Herr Direktor oder Herr Doktor angeredet, unbekannte Damen weiterhin mit verkürztem gnä(dige) Frau. Dass sich Österreicher besonders gegenüber der meist kurz angebundenen norddeutschen Verhaltensweise liebenswürdig und wortreich, zum Teil sogar umständlich und wiederholend auszudrücken scheinen, ist auch ein pragmatischer Zug (Muhr 1993b).
4.
Das österreichische Deutsch im Unterricht Deutsch als Fremdsprache
Wie Deutschland und die Schweiz betreibt auch Österreich im Ausland Deutschunterricht unter Zugrundelegung des österreichischen Deutsch sowie Unterricht in österreichischer Landeskunde und in österreichischer Literatur vor allem der Gegenwart. Dies geschieht besonders an den Österreich-Instituten und durch österreichische Lektoren an Universitäten, wo häufig auch Österreich-Bibliotheken eingerichtet sind (vgl. Art. 8; 142). Angesichts der plurizentrischen bzw. pluriarealen Gestaltung der deutschen Sprache ist
es trotz des damit verbundenen Mehraufwands nicht länger angebracht, Deutsch als Einheitssprache zu lehren (vgl. die Beiträge in Krumm 1997). Dies kann in der Weise geschehen, dass als Orientierungspunkt für die zu vermittelnde Norm das nächstliegende geografische Land gewählt wird und ausgehend vom gemeinsamen sprachlichen Grundbestand allmählich und besonders ab der Mittelstufe die grammatischen, lexikalischsemantischen und die pragmatisch-alltagssprachlichen Varianten einbezogen und bewusst gemacht werden. Außerdem empfiehlt es sich, hinsichtlich der standardsprachlichen Aussprache auch das muttersprachliche Verhalten der Deutschlernenden einzubeziehen und den gemeinsamen Lautbestand zu nutzen, soweit es die tatsächlichen standardsprachlichen Gebrauchsweisen des Deutschen zulassen. So ist es nicht sinnvoll, z. B. von Italienern mit stimmlosen b, d, g, s und Zungenspitzen-r Stimmhaftigkeit und Zäpfchen-r zu verlangen. Auch in der Landeskunde ist es erforderlich, der Verschiedenheit der deutschsprachigen Länder Rechnung zu tragen. Die so erzielbare stärkere Realitätsnähe wird auch dazu beitragen, bei den Deutschlernenden den oft auftretenden Erfahrungsschock beim Besuch deutschsprachiger Länder zu mindern, der nicht zuletzt durch eine vielfach einseitige Unterrichtspraxis verursacht wird (vgl. Wiesinger 1998).
5.
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Peter Wiesinger, Wien (Österreich)
51. Das Deutsche in der Schweiz 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Einleitung Allgemeine Charakteristika der Situation Hochdeutsch in seiner Schweizer Form Einstellungsprobleme — Hochdeutsch als vermeintliche , Fremdsprache' Schlussfolgerungen Literatur in Auswahl
1.
Einleitung
Die Schweiz ist ein mehrsprachiger Staat, dessen Sprachenvielfalt durch die Verfassung geregelt ist: Art. 116 der schweizerischen Bundesverfassung hält im 1. Abschnitt fest: „Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch sind die Landessprachen der Schweiz." Und in einer Verfassungsänderung, die 1996 in einer Volksabstimmung gutgeheissen wurde, wird dieser ,Sprachenartikel' in Abschnitt 2 ergänzt mit dem Auftrag zur Förderung der Verständigung zwischen den Landesteilen: Art. 116/2: „Bund und Kantone fördern die Verständigung und den Austausch unter den Sprachgemeinschaften." Laut der letzten Volkszählung (1990) geben von den Einwohnern der Schweiz 4.374.694 / 63,6% (1980, 65,0%) Deutsch als Hauptsprache an, Französisch 1.321.695 / 19,2% (1980, 18,4%), Italienisch 524.116. / 7,6% (1980, 9,8%), Rätoromanisch 39.632 / 0,6% (1980, 0,8%) und eine andere Sprache, also eine Nicht-Landessprache 613.550 / 8,9% (1980, 6,0%) (vgl. zu den Sprachenverhältnissen in der gesamten Schweiz: Bickel/Schläpfer (Hg.) 1994, 25 ff.; Camartin 1982, 303ff.; Dür-
müller 1996, 9 ff. - Kurze historische Überblicke sind greifbar mit: Haas 1982, 71 ff.; 1992, 312ff.; Sonderegger 1991, 13ff.). In der deutschen Schweiz wird deutsch gesprochen und geschrieben; wer jedoch die Deutschschweiz von Besuchen her kennt, weiss, dass längst nicht alles, was gesprochen wird, für deutsche Ohren verständlich klingt - und auch beim Lesen fallen Eigenheiten auf. Trotzdem ist Deutsch, wie es in der Schweiz geschrieben wird, für den gesamten deutschsprachigen Raum verständlich. Das belegt nicht zuletzt die reiche Literatur aus der Deutschschweiz (vgl. dazu für die neuere Zeit die „Geschichte der deutschsprachigen Schweizer Literatur im 20. Jh." (1991), wo die literarische Situation mit einem „Blick aus der Fremde" (S. 9) umfassend dargestellt wird). Die Deutschschweiz gehört zum deutschsprachigen Kulturraum und hält neben wirtschaftlichen auch enge kulturelle Kontakte zu den anderen deutschsprachigen Ländern, vor allem zur Bundesrepublik Deutschland. Trotzdem unterscheidet sich die Sprachsituation markant von derjenigen der anderen deutschsprachigen Gebiete: „Wir sind zweisprachig innerhalb der eigenen Sprache" formuliert ebenso kurz wie treffend der Deutschschweizer Schriftsteller Hugo Loetscher (Loetscher 1986, 28). Diese Situation der ,inneren Zweisprachigkeit' zeigt neben allgemeinen Charakteristika (vgl. 2. und 3.) auch spezifische Merkmale und Probleme (4.), denen sich
492
VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
die Deutschschweizer Sprachgemeinschaft gegenüber sieht und die nach eigenen Schlussfolgerungen rufen (5.). 2.
Allgemeine Charakteristika der Situation
Auffalligstes Merkmal der Deutschschweizer Sprachsituation ist die ständige Präsenz zweier Varietäten der deutschen Sprache: das Schweizer Hochdeutsch als Standardsprache und die Deutschschweizer Dialekte oder Mundarten (beide Begriffe sind in der Deutschschweiz ohne Bedeutungsunterschiede geläufig). Letztere werden oft als Schweizerdeutsch' oder ,Schwyzerdütsch' (,Schwyzertü[ü]tsch') bezeichnet - ein Sammelname für eine Vielfalt von unterschiedlich kleinräumigen regionalen Sprachvarietäten der Deutschschweiz, die im mündlichen Verkehr Verwendung finden. Die ,Romands' (die französischsprachigen Schweizer) bezeichnen oft die Deutschschweizer Mundarten gesamthaft als ,le Schwyzertütsch' (vgl. „Le Schwyzertütsch. 5e langue nationale?" 1981), ebenso ist der Begriff im deutschsprachigen Ausland geläufig. Die gegenwärtig wirksamen Ausgleichstendenzen zwischen den einzelnen Dialekten gehen auch dahin, dass viele Zürcherinnen und Zürcher ihren Dialekt vermehrt als ,Schwyzertütsch' denn als ,Züritütsch' bezeichnen. Das hängt mit der überaus mächtigen Stellung Zürichs zusammen: Ein Viertel der gesamten Deutschschweizer Bevölkerung wohnt in der Agglomeration Zürich. Das Nebeneinander von Mundarten und Standardsprache ist tatsächlich im Wortsinn zu verstehen: Auf der einen Seite stehen Mundarten — nicht eine Mundart, auch wenn die jüngere sprachgeschichtliche Entwicklung in der Deutschschweiz markante lokale Unterschiede eingeebnet hat und eine starke Tendenz zur Entwicklung von grossräumigeren Mundarten zu erkennen ist; auf der anderen Seite steht die Standardsprache. Der Deutschschweizer spricht Mundart oder Standardsprache und jeder Deutschschweizer kann unterscheiden, ob sein Gesprächspartner gerade Mundart oder Standardsprache spricht. Deutschschweizer müssen die Sprachform wechseln, neudeutsch: ,switchen'. Auch wenn durchaus Unterschiede im code-switching und code-shifting auszumachen sind (vgl. Werlen 1988, 93 ff.), ist zumindest von der Einschätzung der Sprecher her ein Bruch zwischen den Sprachformen festzustellen - nicht
ein Kontinuum wie in anderen ober- oder mitteldeutschen Sprachregionen. Das hängt sprachgeschichtlich damit zusammen, dass die Deutschschweiz an der Herausbildung der neuhochdeutschen Standardsprache nicht massgeblich beteiligt war; es dürfte aber ebenso — wie Haas (1994, 216ff.) nachzeichnet — mit dem in der Schweiz spezifischen Verhältnis von gesprochener Sprache und Schriftsprache zusammenhängen. Was die Verteilung der beiden Formen Mundarten und Standardsprache betrifft, so ist - in groben Zügen - herauszustellen (für Details vgl. Haas 1982, 101 ff.; Bickel/Schläpfer (Hg.) 1994, 281 ff.; Ris 1979, 41 ff.; Sieber/ Sitta 1984, 10ff.; 1986, 16ff.; 1987, 390ff.; Werlen 1983, 1422ff.; 1988, 93ff.): a) In der Deutschschweiz schreibt man — prinzipiell — Standardsprache, und man spricht — ebenso prinzipiell — die Mundarten. Die unterschiedliche Verwendung von Varianten im mündlichen und schriftlichen Bereich ist denn auch ein Hauptmerkmal der Deutschschweizer Sprachsituation, zu deren Kennzeichnung sich der Terminus mediale Diglossie etabliert hat, der - in einer Spezifizierung des Fergusonschen Diglossiebegriffs - auf eine Arbeit von Kolde (1981, 65 ff.) zurückgeht. (Vgl. auch Sieber/Sitta 1984, 11; 1986,20). Einbrüche bei dieser Verteilung gibt es aber auf beiden Seiten: Grundsätzlich wird zwar Hochdeutsch geschrieben, es gibt aber auch dialektales Schreiben — zumal im privaten Bereich und in emotionalisierten Rubriken der Presse (z. B. Werbung, Gratulation, Kontaktanzeige), ganz abgesehen von Mundartliteratur, die seit alters in der Deutschschweiz eine nicht nur folkloristische Rolle spielt. b) Die Mundarten sind — unter Deutschschweizern, teilweise sogar gegenüber Ausländern in Erstkontakten - die unstrittig normale mündliche Sprachform der informellen Situation — die deutschschweizerische Umgangssprache. Im Gegensatz zu allen anderen deutschsprachigen Gebieten hat sich in der Deutschschweiz zwischen den Mundarten und der Standardsprache keine Umgangssprache entwickelt. Die Mundarten sind tauglich genug, die Funktionen einer Umgangssprache zu übernehmen, und Ausgleichstendenzen zwischen den einzelnen Mundarten unterstützen dies - ohne allerdings in Richtung eines einheitlichen Schweizerdeutsch' zu tendieren (vgl. Christen 1997, 346ff., 1998, 239 ff.). Die
51. Das Deutsche in der Schweiz
dialektalen Grossräume in der Deutschschweiz (v. a. Bern, Basel, Luzern, Zürich, Ostschweiz, Graubünden, Wallis) zeigen somit ein weit zäheres Leben, als Prognosen ihnen zubilligen wollten. Jeder Deutschschweizer spricht mit anderen Deutschschweizern Mundart — und die sprachliche Verständigung ist dabei gewährleistet. Ammon (1995, 294) schlägt zur Kennzeichnung dieser „üblichen Kommunikationsform über die Dialektgrenzen hinweg" den Terminus „polydialektaler Dialog" vor. Die Standardsprache ist formellen Situationen und den Kontakten mit Anderssprachigen vorbehalten. c) In unterschiedlicher Weise haben sich für die Wahl der Sprachform in Institutionen typische Traditionen gebildet, die zu einem institutionen-spezifischen Sprachgebrauch geführt haben, welcher seinerseits wiederum weitgehend dadurch bestimmt ist, wie formell bzw. informell das Verhältnis innerhalb der Institution von den Beteiligten gesehen wird; er wird freilich auch durch situative und mediale Faktoren bestimmt. Alle drei Faktoren lassen sich in den Diskussionen um Mundartgebrauch in Schule, Medien und Kirche nachweisen. (Vgl. zur Schule zusammenfassend: Sieber/Sitta 1986; 1989, zu den Medien: Ramseyer 1988, zur Kirche: Rüegger/Schläpfer/Stolz 1996). Entgegen der Meinung vieler spielt der Gegenstand, über den gesprochen wird, keine Rolle. Grundsätzlich lässt sich über jeden Gegenstand in beiden Sprachformen sprechen. Unter diesen Voraussetzungen der Möglichkeit einer Wahl, zumindest im mündlichen Bereich — stellen sich der Verwendung der Standardsprache in spezieller Weise Probleme. Hier ist denn auch in der Deutschschweizer Situation eine brisante Mischung festzustellen, die nicht nur sprachdidaktisch zu Problemen führt (vgl. 4.).
3.
Hochdeutsch in seiner Schweizer Form
Bundesdeutschen fällt auf, wenn sie in der Schweiz Standardsprache lesen oder hören, dass Unterschiede zwischen dem Rinnendeutsch' (auf die Problematik dieses Begriffs hat Polenz (1990, 19) zu Recht hingewiesen) und der in der Schweiz verwendeten Standardsprache bestehen. Die Unterschiede machen zwar das Verständnis nicht unmöglich,
493 sie können es aber erschweren. Dies haben Deutschschweizer — wenn auch in spezifischer Weise - mit den Österreichern gemeinsam (vgl. dazu Art. 50). Das ,Schweizerhochdeutsch' wird von Meyer (1989, 14) definiert als „eine Variante der deutschen Standardsprache mit lautlichen, orthographischen, grammatikalischen und Wortschatz-Eigenheiten, die entweder nur in der Schweiz (in der ganzen oder in grossen Teilen) oder darüber hinaus in Teilen des übrigen Sprachgebietes (vor allem in Süddeutschland und Österreich) gelten, aber nicht der (binnendeutschen) Einheitsnorm entsprechen",
während es von Sonderegger (1985, 1930) beinahe schwärmerisch umschrieben wird als „unnachahmliches Kolorit schweizerisch mitgeformter nhd. Standardsprache in allen sprachlichen Teilsystemen, was bis zu einem gewissen Grad selbst in der Duden-Grammatik der zweiten Hälfte des 20. Jh.s angesichts des bedeutenden Beitrags der Schweizer Schriftsteller zur gesamtdt. Literatur als Lizenz oder als Schweiz. Norm anerkannt ist."
Erstmals ist mit Ammon (1995, 251 ff.) eine differenzierte linguistische Auseinandersetzung mit schweizerischen Formen des Hochdeutschen greifbar, die den Versuch unternimmt, Materialien für das Desiderat eines Schweizer Binnenkodexes aus der einschlägigen Literatur zusammenzustellen. Dazu gehören nebst Meyer (1989) und Kaiser (1969/ 1970) der Rechtschreibduden (Duden, Band 1 (Rechtschreibung) 1991; 2000), Bigler u. a. (1987), Schweizer Schülerduden 1 und 2 (1980; 1976), Siebs (1969), Duden, Band Redewendungen (1992), Boesch (1957), Burri u . a . (1993), Hofmüller-Schenck (in Vorb.). Mit seiner Forderung, sich mit „der Plurinationalität des Deutschen wissenschaftlich gründlicher zu befassen" hat Ammon (1995, V) nicht nur der Diskussion um den Status des Schweizer Hochdeutschen neue Impulse gegeben, sondern mit seiner Arbeit auch das Spannungsfeld der nationalen Zentren des Deutschen deutlicher als bisher ins Bewusstsein gehoben. Dies dürfte gerade für die Schweizer von besonderer Bedeutung sein, sind doch hier das Prestige und der Stellenwert der nationalen Varietät, Schweizerhochdeutsch' auf Grund der starken Stellung der Dialekte keineswegs gesichert, im Gegenteil: Gerade bei der Wahl von Wörtern wird bei vielen Deutschschweizern eine Vermeidungsstrategie sichtbar, die den Texten manchmal genau jenes Kolorit raubt, das sie lebendig
494
VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
machen würde. Dahinter steht eine Vorstellung, „die der durchschnittliche Schweizer (und auch Schweizer Lehrer) von der hochdeutschen Sprache hat; es ist die Vorstellung von einer einzigen guten deutschen Sprache, die Vorstellung von einem reinen Deutsch, dem vor allem etwas keinesfalls anhaften darf: der Geruch oder auch nur der Hauch von etwas Helvetischem. Und dieser Stallgeruch wird im Geschriebenen am ehesten in Wörtern und Wendungen spürbar." (Blesi 1994, 54).
Und so gilt denn, dass Schweizer Schriftsteller ,alles zu hochdeutsch schrieben', wie ihnen z.B. von Günter Grass vorgehalten wurde „womit er wohl meint, die Schweizer würden die Schriftsprache [= die Standardsprache; P. S.] zu unterwürfig auf deren grammatikalische Vorschriften hin befragen und einsetzen, sie würden sich als Schreibende zeitlebens wie guterzogene Schüler verhalten. Dass der Schweizer übertreibe, ja überkompensiere, wenn er hochdeutsch schreibe, ist offenbar noch immer eine fable convenue. Er befinde sich [...] gleichsam ,im Dreieck Goethe - Thomas Mann - NZZ'." (B. von Matt 1986, 61).
Das „Verhältnis der Deutschschweizer Autoren zur Schriftsprache" ist denn auch von Schriftstellern wie Literaturwissenschaft breit erörtert worden. Böhler (1991, 316) kommt in seinem Überblick zum Fazit, „es sei eines der wesentlichsten Merkmale der Literatur in der (Deutsch)schweiz, dass sie aus der Differenz zwischen dem Eigenen, der Mundart, und dem Fremden, der Hochsprache, lebe und dass sie diese Differenz in der Literatur austrage."
Die auffälligsten Besonderheiten des Schweizerhochdeutschen betreffen das Lexikon (3.1.) und die Aussprache (3.2.); daneben bestehen (kleinere) Unterschiede in der Schreibung, in Syntax und Morphologie (3.3.). Und schliesslich zeigen sich auch — insbesondere in der Kommunikation mit Deutschen — pragmatische Unterschiede (3.4.). 3.1. Besonderheiten im Lexikon Wichtigstes Kennzeichen der nationalen Varietät ,Schweizerhochdeutsch' ist das Vorhandensein von spezifischem Wortgut in der Standardsprache der Deutschschweiz. Diese ,Helvetismen' (= „schweizerische Spracheigentümlichkeiten" Duden DW 1995, 1522) sind zwar im Gegensatz zu Österreichs Austriazismen nicht gesamthaft offiziell kodifiziert, aber schon seit der 10. Auflage des Rechtschreibdudens (1929) werden spezifisch schweizerische Wörter anerkannt und mit
,schweiz[erisch].' ausgezeichnet. Unter Beizug von schweizerischen Linguisten wurde für die 12. Auflage des Rechtschreib-Dudens (1941) eine erweiterte Liste aufgenommen, so dass der „Rechtschreibduden nun 770 Wörter, die schweizerische Besonderheiten aufweisen oder zumindest Besonderheiten, die auf die Schweiz und benachbarte Gebiete beschränkt sind" (Steiger 1941, 74) enthält. Eine umfassendere — wenn auch nicht unumstrittene Sammlung wurde von Kaiser (1969/70) vorgelegt und mit Meyer (1989) steht eine leicht zugängliche und umfassende Zusammenstellung der schweizerischen Besonderheiten' zur Verfügung, während Ammon (1995, 251 ff., bes. 260-277) wichtige Unterschiede in Wortlisten aufführt. Zusammenfassend dargestellt wurden die Helvetismen von Haas (1982, 113ff.), wo sich auch erste, konstruierte Textbeispiele finden (vgl. auch Blesi 3 1994 [1988], 63f.). Haas unterscheidet: — ,lexikalische' Helvetismen: ausschließlich in der Schweiz gebräuchliches Wortgut, z.B. Falle (Klinke), parkieren (parken), Traktandenlisten (Tagesordnung), Estrich (Dachboden), tischen - abtischen (den Tisch decken - abräumen) — ,semantische' Helvetismen: in der Schweiz spezifische Bedeutung eines im gesamten deutschsprachigen Raum gebräuchlichen Wortes, z.B. Busse (Bußgeld), Vortritt (Vorfahrt), das Licht anzünden (einschalten, anknipsen) - hergestellte' Helvetismen: Wörter, die von zentralen Instanzen ausdrücklich für diesen Staat geschaffen und oft auch als verbindlich erklärt werden: Identitätskarte (Personalausweis), Fahrausweis (Führerschein), Nationalrat, Ständerat, Bundesrat. - ,Frequenzhelvetismen': In schweizerischen Texten gehäuft anzutreffende Wörter und Wendungen, die ausserhalb der Schweiz wenig gebräuchlich sind: selber, allfällig, angriffig. Der Umgang mit Helvetismen lässt auf unterschiedliche Haltungen schliessen. Einerseits sind viele Helvetismen den Deutschschweizern kaum bewusst, sie werden erst bei intensiven Kontakten mit Bundesdeutschen offenbar, wenn vieles in der alltäglichen Kommunikation anders verläuft als gewohnt (vgl. als (konstruiertes) Textbeispiel: Haas 1982, 119). Andererseits reagieren gerade Lehrkräfte durchaus nicht nur unterstützend auf den Gebrauch nationaler Varianten, wie eine Pilotuntersuchung des Korrekturverhai-
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tens anhand eines mit nationalen Varianten konstruierten Textes gezeigt hat (Amnion 1995, 437ff.). Eine mögliche Unsicherheit im Umgang mit dem Wortschatz mag — nebst der zumindest schulisch verbreiteten Unkenntnis der Eigenheiten von schweizerischem Hochdeutsch — unterstützt werden durch den nicht sanktionierten Status, der den einschlägigen Wörterbüchern des Schweizerhochdeutschen (v. a. Meyer 1989, aber auch Schulwörterbüchern wie Bigler u. a. 1987) zukommt. Auf den unklaren Status von Helvetismen weist Burger (1995, 15) hin; er kommt auf Grund einer Befragung zu phraseologischen Helvetismen zum Ergebnis, dass lediglich 19% der von Meyer (1989) in seinem Wörterbuch dargestellten Phraseologismen von heutigen Sprachbenutzern als gebräuchlich eingeschätzt werden. 3.2. Varianten in der Aussprache Standardsprache erschien in der Deutschschweiz lange vorwiegend in ihrer geschriebenen Form, sie war als gesprochene Sprache auf offizielle Kontexte (der Schule, der Öffentlichkeit, der Kirche) beschränkt. Dies hat sich mit den audiovisuellen Medien grundsätzlich geändert. Wenn heute ein Kind eingeschult wird, so hat es im Regelfall bereits mehr gesprochene Standardsprache gehört als ein Schweizer früher während seines ganzen Lebens ausserhalb der Schule. Deutsche und österreichische TV-Sender werden in der Schweiz empfangen und genutzt. Mit auf diese Einflüsse zurückzuführen ist es denn auch, wenn heute viele Schweizer ein Hochdeutsch sprechen, das kaum mehr deutliche Mundartmerkmale erkennen lässt (vgl. Hove 1995, 291 ff.) - unter Beibehaltung einer regionalen schweizerischen Färbung (vgl. Siebenhaar 1994, 3Iff.). So hört man auch im eidgenössischen Parlament immer weniger, was als ,Ratsherrendeutsch' als typisch schweizerisch-mundartliche Aussprache galt: k als kch, inlautendes st und sp als seht, schp oder häufige Assimilationen (Apfokat statt Advokat, Gopfried statt Gottfried). - Allerdings ist die Einschätzung der aktuellen Situation durchaus kontrovers. So publizierte der ,Sprachspiegel', das Organ des Deutschschweizerischen Sprachvereins (ab 1993, Schweizerischer Verein für die deutsche Sprache SVDS), noch 1992 einen Artikel „Der Guttural im Bundesparlament" (Müller-Marzohl 1992), der die schlechte Aussprache der Parlamentarier bitter beklagt: Bereits vor Jahrzehnten hat allerdings Boesch (1957, 13)
495 schon festgestellt: „ ,ischt' zu sagen [anstelle von ,ist'; P. S.], ,-ich' und ,-ach' mit dem gleichen Mitlaut zu sprechen, macht uns heute bereits lächeln." Unbestreitbar bleibt aber auch ein regionaler Charakter des Schweizerhochdeutschen, der „vornehmlich durch Merkmale der Stimmführung, der Druckverteilung und der Klangfarbe gekennzeichnet ist" (Schwarzenbach 1986, 101). Dieses Schweizerhochdeutsch hat bereits in der 19. Auflage des Siebs (1969) seinen berechtigten Platz bekommen, was für die innerschweizerische Diskussion um die Aussprache des Deutschen in der Schweiz von Bedeutung war: Durch die Differenzierung von ,reiner' und gemässigter' Hochlautung sind österreichische und schweizerische „Sonderheiten" (Siebs, 19. Aufl. 1969,8) in der Hochlautung akzeptiert worden. Boesch hat mit seiner ,Aussprache des Hochdeutschen in der Schweiz. Eine Wegleitung' (Boesch 1957) erstmals eine systematische Sammlung vorgelegt. (Vgl. zu Hintergründen und Wirkung: Ammon 1995, 242). Darin nennt er als Gründe, die für eine eigenständige schweizerische Aussprache sprechen, u. a. Folgendes: „Unser alemannisch gefärbtes Hochdeutsch ist [...] ein Deutsch in deutschsprechendem Munde und legt den legitimen Anspruch einer Landschaft fest, die Gemeinsprache in einer ihr angepassten Form zu lauten, einer Form, die dem Sprechenden erlaubt, die Hochsprache nicht als eine fremde Sprache, sondern als die seine zu erkennen und sich in ihr wohl zu fühlen. Von ihm darf nicht verlangt werden, dass er seinen ganzen Spechapparat vom Gewohnten auf das Ungewohnte so vollständig umstelle, wie eine Fremdsprache dies verlangt. Sind die Anforderungen einer deutschen Hochsprache, wegen der Vielfalt festverwurzelter Dialekte, in dieser Hinsicht grösser, so kann sie eben nicht denselben Anspruch auf festgeregelte Einheitlichkeit machen wie das Französische oder das Englische. Wir haben keine Akademie wie Paris und keine für das Sprechen so massgebliche Stelle wie das britische Radio" (Boesch 1957,14).
Wie beim Lexikon sind also viele Varianten der Aussprache des Deutschen in der Schweiz gängige und von den einschlägigen Wörterbüchern sanktionierte Formen. Dass sie aber im hiesigen Sprachbewusstsein oftmals als minderwertig erscheinen, hat mit Vorstellungen von ,reinem Deutsch' zu tun, die auch in der Schweiz auf eine lange sprachideologische Tradition zurückzuführen sind. Und sie beruhen auf einer weit verbreiteten Fehleinschätzung:
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VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
„Viele Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer haben fälschlicherweise den Eindruck, nur bei ihnen deute die Aussprache auf ihre Herkunft hin. Sie lassen sich von einer sterilen Vorstellung eines ,reinen' Deutsch leiten und verkennen die Vielfältigkeit der lebendigen Sprache. Nicht einmal Berufssprecherinnen und -Sprecher sowie Schauspielerinnen und Schauspieler sprechen deutsch ganz ohne regionale Anklänge" (Burri u. a. 1995,6).
Die 1995 vom schweizerischen Radio DRS herausgegebene Schrift Deutsch sprechen am Radio (Burri u. a. 1995) ist im Moment wohl die wichtigste Reverenz für die Aussprache des Hochdeutschen in der Schweiz. Dass eine so kleine Schrift (mit lediglich 40 Seiten Umfang) diese Funktion erfüllen muss, macht deutlich, wie schwer man sich mit einer Kodifizierung der Aussprache in jüngerer Zeit tut. Grösseren Projekten war bisher kein Erfolg beschieden: Eine revidierte Neuauflage des Standardwerks von Boesch (1957) ist in den 80er Jahren nicht über das Planungsstadium hinausgekommen und ob das seit langem angekündigte Werk von Hofmüller-Schenk (in Vorb.) überhaupt erscheinen kann, ist ebenfalls fraglich. Diese Normierungsprobleme können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auffallige Unterschiede in der Aussprache des Deutschen in der Schweiz vorhanden sind. Sie betreffen z.B. (für Detaillierteres vgl. Meyer 1989,25ff.; Ammon 1995, 225ff.; Burri u. a. 1995): a) Betonungen Häufig sind die Wörter im Schweizerhochdeutschen erstbetont, wo in Deutschland Zweit- oder Drittsilbenbetonung vorliegt (z.B. 'Abteilung, 'ausführlich, 'eigentümlich, 'unvergesslich, 'vorzüglich). Auffällig wird die Erstbetonung insbesondere bei Komposita, wo in der Schweiz (noch ausgeprägter als im übrigen südlichen Raum) die Stammsilbe des ersten Glieds der Zusammensetzung betont wird (z.B. 'Durcheinander, 'hauptverantwortlich, 'Hornisse, 'Notwendigkeit, ' Wacholder, ' Werkzeugmaschinenfabrik). Viele Abkürzungen tragen den Betonungsschwerpunkt auf der ersten und nicht auf der letzten Silbe wie in der Bundesrepublik (z. B. SBB, 'NZZ, 'FDP). b) Vokale — Die Vokale werden teilweise anders ausgesprochen (z.B. lang in: brachte, Rache, Nachbar, Viertel, Vorteil·, kurz in: Städte, düster, Jagd, Krebs, Obst). — Die Endsilben -el, -em, -en, -er werden meist gesprochen (z. B. Brezel, Atem, machen, Macher).
- y wird in eingebürgerten Wörtern als i anstelle von ü gesprochen (z.B. Ägypten, Asyl, Physik, Pyramide, System). - ie, ueluo, üelüo v. a. in Orts- und Eigennamen werden als Diphthonge gesprochen. (Bekannt ist die binnendeutsche Aussprache von grüezi, das im Tourismusland Schweiz als grüzi beinahe zum bundesdeutschen Erkennungsmerkmal geworden ist.) c) Konsonanten - b,d, g und s werden stimmlos gesprochen. - Auslautverhärtung wird kaum durchgeführt (so unterscheiden sich Rad und Rat in der Aussprache). - ch im Anlaut wird häufig als [x] gesprochen (Chemie, China, Chaos, Choral). - g in der Endsilbe -ig wird auch in Endstellung als -ig ausgesprochen und nicht als -ich {König, sonnig, wenig, zwanzig, genehmigt). - (Eine immer wieder geführte Diskussion von ,Sprachfreunden' in Leserbriefspalten betrifft die Aussprache von sonnig als sonnich im Wetterbericht von Radio und Fernsehen. Hier wird oft äusserst emotional die nördliche Variante sonnich als schlechter Import vom grossen Bruder aus dem Norden' verunglimpft.) - r wird niemals vokalisiert im Auslaut {Tier, nicht: Για; Wette(r), nicht Wet ta). - Die Aussprache von ν als / b e i (eingebürgerten) Fremdwörtern ist viel häufiger (ζ. B. Advent, Advokat, Evangelium, Klavier, nervös, November, Revier, violett, Vulkan). 3.3. Graphie, Syntax und Morphologie In der Schweiz gelten die Rechtschreibnormen des Duden, diese Rechtsgrundlage ist auch mit der Neuregelung der Rechtschreibung durch einen Beschluss der Kultusbehörden (EDK) erneuert worden. Schweizer gehörten zu den ersten Anhängern Konrad Dudens. Bereits 1892 wurden seine Rechtschreibregeln in der Bundeskanzlei eingeführt, lange vor Bayern und Preussen (vgl. Haas 1982, 121). Eine einzige nennenswerte Abweichung gilt allerdings in der Schweiz: anstelle von β wird konsequent ss geschrieben. - Die Aufgabe der Kurrentschrift in den Schulen (ab etwa 1920) sowie die Einführung einer schweizerischen Einheitstastatur für die Schreibmaschine (die auch für Französisch tauglich sein sollte) führten zum allmählichen Verschwinden des
51. Das Deutsche in der Schweiz
ß. Im Kanton Zürich wurde es für die Schulen durch Beschluss des Erziehungsrates (Kultusbehörde) 1935 abgeschafft. Die Zeitungsdruckereien hielten länger daran fest, am längsten — bis 1974 - die ,Neue Zürcher Zeitung'. Heute findet es noch Verwendung in einzelnen Druckereien für den Buchdruck. (Vgl. Meyer 1989, 36). Eine Menge von kleinen Unterschieden liesse sich auch in Syntax, Wortbildung und Morphologie anführen. In nicht weniger als 105 Paragraphen listet Meyer (1989, 37-61) entsprechende Unterschiede auf. Wir haben einmal Folgendes herausgestellt: „Syntax: Für Deutsch ungewöhnlich tönt Nebensatzeinleitung durch ansonst, wie es etwa am Anfang von M. Frischs ,Stiller' zweimal kurz hintereinander vorkommt: ,Ich bin nicht Stiller! - Tag für Tag, seit meiner Einlieferung in dieses Gefángnis, das noch zu beschreiben sein wird, sage ich es, schwöre ich es und fordere Whisky, ansonst ich jede weitere Aussage verweigere'. Übrigens habe ich bereits vor Tagen melden lassen, es braucht nicht die allererste Marke sein, immerhin eine trinkbare, ansonst ich eben nüchtern bleibe ..." [...] Wortbildung: Schweizerischem Zugsunglück, Unterbruch oder Wissenschafter korrespondiert deutsches Zugunglück, Unterbrechung, Wissenschaftler. Morphologie: In der Schweiz neigt man stärker zum Gebrauch starker Verbformen als in Deutschland." (Sieber/ Sitta 1986, 156 f.).
3.4. Unterschiede im Sprachgebrauch Wichtiger noch als die angeführten Unterschiede im Sprachsystem sind jene im Sprachgebrauch. Im Erleben der Sprachteilhaber werden sie oft als Unterschiede ,der Sprache' oder als Einstellungssignale wahrgenommen. Bedauerlicherweise gibt es dazu keine systematischen Untersuchungen. Einige Beobachtungen dazu lassen sich aber zusammentragen (vgl. dazu: Sieber/Sitta 1984,23f.; Löffler 1989, 207ff.; Werlen u. a. 1992, 243ff.): - Schweizerdeutsches Sprechen ist generell bedächtiger, langsamer als standarddeutsches. Damit hängt ein Weiteres zusammen: - Schweizerinnen und Schweizer' ertragen im Gespräch längere Pausen als ,Deutsche'. Im Bestreben, die für sie oft unerträglich lange Dauer des Schweigens zu beenden, sprechen ,Deutsche' eher - und wirken damit auf,Schweizer' vorlaut. - ,Deutsche' markieren einen Sprecherwechsel oft durch Einfall in den Beitrag des
497 Gesprächspartners. Gesprächsbeiträge überlappen sich damit, was , Schweizer' als unhöflich empfinden. Dies führt zu unterschiedlichen Diskussionsstilen. ,Schweizer' monologisieren stärker; jeder Gesprächsbeitrag wird zu einer kleinen Selbstdarstellung, die zu unterbrechen unhöflich wäre. So werden Diskussionen eher blockartig geführt. — Unterschiede in der Intonation (vgl. Amnion 1995, 258) können zu falschen Deutungen führen, indem Intonationsstrukturen, die sich auf die Satzperspektive oder auf die logisch-grammatische Struktur des Satzes beziehen, als einstellungstypische Signale der Sprecher missdeutet werden, z.B.: Die norddeutsche - fallende — Frageintonation wirkt auf ,Schweizer' schnoddrig; die für Norddeutsche singende Intonation der , Schweizer' wirkt auf sie seltsam, oftmals grob. — Dem .Schweizer' fehlen im Hochdeutschen oftmals die redeleitenden Partikeln. Das Hochdeutsche bleibt für viele v. a. Schreib- und Lesesprache. Das Reden wirkt dadurch farblos, mitunter ist auch Mimik und Gestik eingeschränkter als in mundartlichem Reden. — Schliesslich scheint auch schweizerisches' Diskussions- und Konfliktverhalten anders als ,deutsches' zu sein. ,Deutsche' diskutieren und kritisieren härter, greifen schonungsloser an, wo ,Schweizer' etwa durch Schweigen oder Nicht-Eingehen auf etwas ihr Missfallen zu erkennen geben. In ihrer Untersuchung der Kommunikationskultur in einem Berner Stadtviertel weisen Werlen u. a. (1992, 16) daraufhin, dass „global gesehen Deutschschweizer Kommunikationskultur stärker indirekt (ist) als etwa die bundesdeutsche." Und in den generellen Ergebnissen des Projekts kommen sie zum Schluss: „Die globale Deutschschweizer [Kommunikations-]Kultur ist eine Kultur der Unzugänglichkeit. Unzugänglich ist jede/r, der/die als nicht der gleichen Gruppe zugehörig betrachtet wird. Wer Zugänglichkeit herzustellen versucht, wird instrumenteller Ziele verdächtigt. Damit ist das Gespräch zwischen den Menschen nur schwer möglich — für die Meinungsbildung in einer funktionierenden Demokratie eigentlich unmöglich. Die naheliegende Forderung nach einer Erziehung zur Dialogfahigkeit müsste ergänzt werden mit der Aufklärung über die kommunikationskulturellen Festlegungen, die Dialogfähigkeit geradezu behindert." (Werlen u. a. 1992, 244).
Dass eine ,Kommunikationskultur der Unzugänglichkeit' in einem mehrsprachigen Land
498
VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
mit einem hohen Anteil an ausländischer Bevölkerung nicht unproblematisch ist, liegt auf der Hand. Hier dürfte die öffentlichen Diskussion um die Sprachenvielfalt in der Schweiz tieferliegende Kommunikationsprobleme eher verdecken als beheben.
4.
Einstellungsprobleme Hochdeutsch als vermeintliche ,Fremdsprache'
Die Deutschschweizer Sprachsituation ist u. a. dadurch gekennzeichnet, dass gegenüber Dialekt und Standardsprache oft sehr unterschiedliche Einstellungen vorhanden sind, tendenziell sehr positive gegenüber dem Dialekt als Medium der Mündlichkeit, tendenziell negative, zumindest distanzierte, gegenüber der mündlichen Standardsprache. Die Sorgen und Mühen mit dem Hochdeutschen betreffen fast ausschließlich die Mündlichkeit, als Schreib- und Lesesprache ist Hochdeutsch allseits akzeptiert. Deutschschweizer und Deutschschweizerinnen sprechen aber in ihrer grossen Mehrheit nicht gern Hochdeutsch. Das belegen alle vorhandenen Daten - von empirisch erhobenen Messungen über mehr oder weniger strukturierte Beobachtungen bis hin zum Tenor in einschlägigen Artikeln der Presse. Diese einheitliche Tendenz steht in deutlichem Gegensatz zu den anderen deutschsprachigen Gebieten. Zu ihrer Entstehung trägt ein ganzes Bündel von Faktoren bei: identitätsstiftende und nationalsymbolische Funktionen des Dialekts, die spezifischen Eigenheiten des multikulturellen und multilingualen Staatsgebildes ,Schweiz', die Stärke und Ausbaufahigkeit der schweizerdeutschen Dialekte, das nicht in allen Teilen unproblematische Verhältnis der Deutschschweiz zu Deutschland und wohl noch einiges mehr. Ein nicht unwesentlicher Einfluss kommt hier der Schule zu. 4.1. Zur Rolle der Schule Während der Schulzeit bilden sich durch spezifische Verwendung der beiden Sprachformen Dialekt und Hochdeutsch Einstellungen heraus, die mit ihrer deutlichen Besetzung des Dialekts als positiver, des Hochdeutschen als negativer Variante für den Aufbau von Standardsprachkompetenz in der Mündlichkeit wenig förderlich sind. Dass diese Situation nicht unveränderlich ist, beweisen Erfahrungen von Lehrkräften, die bewusst einen anderen Umgang mit beiden Sprachformen er-
möglichen und so zu einer weniger negativen Gewichtung der Standardsprache beitragen (vgl. Werlen/Ernst 1994, 227 ff.). Generell lässt sich aber über die Jahre der Schulpflicht hinweg eine Entwicklung feststellen, die von anfänglich positiven zu immer distanzierteren Einschätzungen des Hochdeutschen führt, wie es die folgenden Beispiele illustrieren (Beispiele aus: Sieber/Sitta (Hg.) 31994, 39): a) „Wir müssen Hochdeutsch nicht lernen - wir können es." (Schüler, 1. Schuljahr) b) „Hochdeutsch könnte von mir aus aussterben." (Schüler, 5. Schuljahr) c) „Gefühle kann ich besser in Mundart ausdrükken. Hochdeutsch ist für mich eine Fremdsprache." (Schülerin, 8. Schuljahr)
Massgeblich beeinflusst wird diese Entwicklung durch folgende Faktoren: - Anfanglich positive Erfahrungen mit (v. a. medial geprägtem) Hochdeutsch in den Anfangsjahren sowie der Anreiz, jene Sprachform zu erwerben, in der lesen und schreiben gelernt wird - Tätigkeiten, die zumindest für Schulanfänger meist (noch) positiv besetzt sind (vgl. zum frühen Hochdeutscherwerb: Häcki-Buhofer u. a. 1994, 147fr.). Im Verlauf der ersten drei Schuljahre wirken sich aber mindestens zwei Faktoren hinderlich aus: - eine starke Überlagerung von schulischem Hochdeutsch und geschriebener Form der Sprache (vgl. dazu 4.2.), - eine immer deutlichere Koppelung von schulischen Situationen mit einem bestimmten Sprachformengebrauch: Die Wahl der Sprachform ist häufig starr festgelegt: „Grundsätzlich ist die Mundart die .Sprache der Freizeit', Standardsprache die .Sprache der Arbeitszeit' in der Schule, d. h. die Mundart bestimmt die Kommunikation in den Pausen, vor Beginn und nach Ende des Unterrichts und in informellen Situationen ausserhalb des Unterrichts. Das gilt für alle an der schulischen Kommunikation Beteiligten, d. h. für den Verkehr der Schüler miteinander, der Schüler mit den Lehrern und der Lehrer miteinander. Demgegenüber ist die Standardsprache für die eigentlichen Lektionen reserviert. Innerhalb der schulischen Arbeit gibt es Fächer, in denen fast nur Mundart gesprochen wird (und zwar sowohl von den Schülern miteinander als auch im Verkehr mit dem Lehrer), und andere, in denen grundsätzlich Standardsprache gesprochen wird. Zur ersten Gruppe gehören mit systemimma-
51. Das Deutsche in der Schweiz nenter Regelhaftigkeit Zeichnen/Werken, Musik, Turnen, mit weniger deutlicher Regelhaftigkeit Lebenskunde, Religion, Handarbeit/Hauswirtschaft, gelegentlich auch freiwillig gewählte Fächer (unterschiedlicher inhaltlicher Ausrichtung); zur zweiten Gruppe gehören die eigentlichen Sachfächer. Im Unterricht aller Fächer gibt es Phasen (unterschiedlicher Länge) und Situationen (unterschiedlicher Prägung), in denen Mundart gesprochen wird. So liegt Mundart nahe bei Beziehungshaftem oder in Situationen der Spontaneität wie der Unsicherheit; Standardsprache ist dagegen die Sprache der formellen Situation oder der Planung." (Sieber/Sitta 1986,170).
Diese Situation bietet wenig hilfreiche Voraussetzungen für den Aufbau positiver Einstellungen zur mündlichen Standardsprache. Mit zunehmendem Schulalter wächst denn auch die Abneigung gegenüber dem Hochdeutsch-Sprechen. Von den schulischen Institutionen ist dieses Problem erkannt worden: Heute wird vermehrt Gewicht gelegt auf das Sprachbewusstsein der Lehrkräfte, wenn von ihnen gefordert wird, dass sie die Wahl der Sprachform bewusst und begründet treffen sollen: „Es soll eine Wahl zwischen beiden Sprachformen sein - mit der eindeutigen Gewichtung auf die neu zu lernende Form des Hochdeutschen. Lehrerinnen und Lehrer sollen ihre Entscheidungen — auch den Schülern gegenüber — erklären können. Ein ständiges Hin und Her zwischen Mundart und Hochdeutsch ist zu vermeiden." (Kanton Solothurn: Lehrplan für die Volksschule 1992, 6).
Neuere Lehrpläne legen insgesamt grosses Gewicht auf die Ausbildung von Einstellungen, insbesondere auf jene der Lehrkräfte: „Der Erwerb des Hochdeutschen ist ein Entwicklungsprozess, der im Vorschulalter beginnt und sich über die ganze Schulzeit hinzieht. Wichtigste Grundlage ist eine positive Einstellung zu dieser Sprachform, die wesentlich durch die Einstellung der Lehrerinnen und Lehrer geprägt wird." (Kanton Zürich: Lehrplan für die Volksschule, Bereich Sprache/Deutsch, Ausgabe 1991,133 ff.).
4.2. Mundarten und Hochdeutsch im Spannungsverhältnis In der medialen Diglossie gilt die uneingeschränkte Akzeptanz der Mundarten als der Sprache der Deutschschweiz, der ,Heimat', der Nähe - zusammengefasst: Die Mundarten gelten als die Muttersprache im eigentlichen Sinn, das Verhältnis zur Standardsprache ist im Ganzen kühler, distanzierter, auch wenn hier zu differenzieren ist. Vieles, was dem Hochdeutschen an Distanziertheit und Abstraktheit nachgesagt wird, betrifft
499 weniger die Sprachform als die medialen Erfahrungen damit: Hochdeutsch erscheint in der Erfahrung vieler Schweizer als Schreibund Lesesprache - mit den entsprechenden Konnotationen, die Schriftlichkeit andernorts auch hervorrufen. Mit grosser Regelmässigkeit trifft man Charakterisierungen wie: Dialekt sei persönlich, vertraut, locker, frei, einfach, ausdrucksstark, sympathisch und lustig; Hochdeutsch dagegen unpersönlich, unvertraut, steif, kompliziert, wenig emotional, gepflegt, gehoben. Interessant daran ist, dass diese Opposition identisch ist mit der Einstellung gegenüber gesprochener und geschriebener Sprache anderswo (Näheres dazu in Sieber/Sitta 1986, 121 ff.). Nicht unbeeinflusst von diesen polarisierenden Einstellungen gegenüber den Mundarten und der Standardsprache hat sich vielerorts — zumal in schulischen Bereichen (vgl. Abschnitt 4.1.) - die Vorstellung entwickelt, Hochdeutsch sei die erste Fremdsprache der Deutschschweizer. Die Einschätzung des Hochdeutschen als Fremdsprache hat in den siebziger Jahren zu Diskussionen um die ,Nationalsprache' Deutsch geführt. So ist in einer weit verbreiteten Darstellung über den schweizerischen Staat zu lesen: „Die Behauptung der Verfassung, die Schweiz besitze vier Nationalsprachen, ist eine kleine Willkür. Das Schweizerdeutsche zum Beispiel, die Umgangssprache von 4 Millionen Menschen, ist eigentlich eine fünfte Sprache, und das Schriftdeutsch, die ,Nationalsprache', eine Fremdsprache, die jedes Schulkind unter etlichen Mühen zuerst erlernen muss. (Tschäni 1974, 415).
Junge Deutschschweizer schätzen denn auch ihre Mundart als die eigentliche Form der Muttersprache ein: „Unbelastet von linguistischen Diskussionen und Auseinandersetzungen bezeichnen die Rekruten in grosser Einmütigkeit allein den Dialekt als Muttersprache." (Schläpfer u. a. 1991, 210).
Trotz dieser Unterschiede in der Einschätzung der beiden Sprachformen ist die Sprachsituation keineswegs so brisant, wie es den Anschein haben könnte. Der überwiegende Teil der Deutschschweizer scheint zufrieden zu sein mit den gegenwärtigen Sprachverhältnissen - oder genauer: Die Sprachverhältnisse bilden für sie kaum ein Thema. — Das zeigen die Rekrutenbefragungen (Schläpfer u. a. 1991) wie auch andere repräsentative Umfragen in der Deutschschweiz (vgl. Näheres bei Sieber 1990, 84ff.). Im Gegensatz dazu hält die (veröffentlichte) Meinung stark
500
VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
an einem Sprachzerfall-Szenarium fest, wobei häufig vor einem .Verlust des Hochdeutschen' gewarnt wird (exemplarisch: „Zustand und Zukunft der viersprachigen Schweiz" (1989); Vouga (Hg.) 1990). Zu Recht weist Ris darauf hin, dass ,Verlust des gesprochenen Hochdeutschen' höchstens bedeuten könne, „dass eine Sprache nicht gebraucht werde, die an sich da wäre oder die mit wenig Anstrengung aktiviert werden könnte, nicht aber, dass elementare linguistische Strukturen wie Satzbaupläne oder das Lexikon nicht mehr vorhanden wären." (Ris 1990,43).
Dabei geraten aber andere Tatsachen aus dem Blick: - Die tatsächlich feststellbare Zunahme des Mundartgebrauchs hat weit mehr mit Veränderungen im Kommunikationsverhalten zu tun als mit einer Frontstellung gegen das Hochdeutsche. - Hochdeutsch ist die nach wie vor unbestrittene und selbstverständliche Schreibsprache in der Deutschschweiz. Sie ist als solche lange etabliert und in ihrer Geltung nicht gefährdet. - Sogar als Sprechsprache ist Hochdeutsch weniger umstritten als vielfach angenommen. Die Notwendigkeit, Hochdeutsch sprechen und verstehen zu können, ist heute wohl in höherem Masse anerkannt als noch vor einem Jahrzehnt (vgl. Schläpfer u.a. 1991,211). Dazu dürften - neben der gewachsenen Bedeutung des Deutschen in Europa - auch die bildungspolitischen und schulischen Bemühungen der letzten Jahre beigetragen haben. Und doch bleibt das Verhältnis der Deutschschweizer zum Hochdeutschen nicht ohne Spannung. Akzeptiert und gebraucht als selbstverständliche Schreib- und Lesesprache, problemlos verstanden als Sprechsprache, wird sie oft nur ungern selbst aktiv als Sprechsprache genutzt und die eigenen Kompetenzen werden eher negativ eingeschätzt. In einer vom Forschungsdienst des Schweizer Fernsehens durchgeführten Befragung sind 4 von 10 Befragten in der Deutschschweiz (40,3%) der Meinung, dass die meisten Deutschschweizer sich eher schlecht im Hochdeutschen ausdrücken können, knapp die Hälfte (49,8%) beurteilt die Ausdrucksfähigkeit als genügend und nur gerade 7% beurteilen sie als gut. Zu denken geben muss dabei, dass die Ausdrucksfähigkeit von jenen besonders kritisch eingeschätzt wird, die über die be-
ste Ausbildung — und damit wohl auch über die grössten Kompetenzen - verfügen (vgl. Draganits/Steinmann 1987, 12; Sieber 1990, 85 f.). An diesem Zustand ist, wie im vorigen Abschnitt erläutert, die Schule mitschuldig, bauen sich doch negative Einstellungen gegenüber dem Hochdeutschen im Laufe der Schulzeit eher auf, als dass sie durch einen fruchtbaren Deutschunterricht abgebaut würden. Dies hängt wesentlich damit zusammen, dass Hochdeutsch - auch in seiner gesprochenen Form — als Schriftsprache wahrgenommen wird. Es hängt aber auch mit der Einstellung der Deutschschweizer gegenüber dem Deutschen und den Deutschen zusammen (vgl. dazu die Zusammenstellung bei Ammon 1995, 308 ff.). Wir haben das komplexe Verhältnis einmal wie folgt beschrieben: „Da ist zunächst festzustellen, dass die Kooperation zwischen der Schweiz und Deutschland ausserordentlich eng ist. Die Bundesrepublik ist der wichtigste Handelspartner der Schweiz, sie ist das Herkunftsland der grössten Touristengruppe, in deutschen Händen ist der grösste ausländische Anteil an schweizerischem Grundbesitz. Viele enge wirtschaftliche, technische, kulturelle, wissenschaftliche und auch familiäre Beziehungen bestehen zwischen beiden Staaten und sollten eigentlich ein gutes Verhältnis sichern. Auf der anderen Seite existieren in diesem Verhältnis Einstellungen, die nicht unbedingt zum Bild des guten Nachbarn passen. Für den Schweizer ist Deutschland ein ,Draussen', gegenüber dem man Abgrenzung sucht. Starke Abwehrhaltungen gegenüber Deutschland und der Sprache dieses Landes lassen sich in der Geschichte, zumal seit dem ersten Weltkrieg, aufzeigen. Zur Zeit des Faschismus stand die damalige Dialektbewegung ganz im Zeichen der ,Geistigen Landesverteidigung': Selbständigkeit und Eigenart der Schweiz suchte man gerade auch auf dem Gebiet der Sprache zu betonen ... Doch scheinen Vorurteile und negative Einstellungen gegenüber Deutschland weiter zurückzureichen — mindestens ins 19. Jahrhundert." (Sieber/Sitta 1984, 26).
Wie weit historisch und politisch begründete Abwehrhaltungen heute noch wirksam sind, lässt sich schwer feststellen. - Dass sie nicht ganz verschwunden sind, wird aber in der zitierten Rekrutenbefragung deutlich: Nach Gründen gefragt, weshalb Deutschschweizer eher selten in Deutschland Urlaub machen, wird mit Abstand am häufigsten genannt: „Der Umgang und der Kontakt mit Deutschen liegt dem Schweizer nicht zu sehr." (Schläpfer u. a. 1991, 154). - Ein Indiz für das Fortbestehen von Abwehrhaltungen ist
51. Das Deutsche in der Schweiz
etwa die Antwort auf die Frage, die in gewissen Abständen in der Deutschschweiz gestellt wird: ,Wo würden Sie gern leben, wenn sie nicht in der Schweiz leben würden?' Deutschland rangiert hier immer fast ganz am Ende der Skala. Fasst man das hier Angedeutete zusammen, so zeigt sich ein deutliches Spannungsverhältnis zwischen den Mundarten und dem Hochdeutschen in der Deutschschweiz. Dieses Verhältnis war schon in der Vergangenheit nie stabil, es war auch nie spannungslos und es hat mindestens seit dem 19. Jh. immer wieder zu Diskussionen Anlass gegeben. Gegenwärtige Tendenzen laufen - soweit sie die Mündlichkeit betreffen - einerseits in Richtung eines verstärkten Mundartgebrauchs und andererseits in Richtung einer Stärkung der deutschschweizerischen Variante des Hochdeutschen. Dass es wichtig ist, Hochdeutsch sprechen und verstehen zu können, wird nicht ernsthaft bestritten. Das belegen sogar die Ergebnisse der Rekrutenbefragungen, wo tendenziell ein Ausbau des Mundartgebrauchs gewünscht wird. Trotzdem erachten 48,8% der Rekruten es als sehr wichtig und 41,7% als wichtig, Hochdeutsch sprechen und verstehen zu können (Schläpfer u. a. 1991, 118). Und ebenso deutlich wird für ein Hochdeutsch in Schweizer Form geworben: Auf die Frage, wie ein Schweizer Hochdeutsch sprechen soll, waren die Antworten deutlich: „— möglichst wie ein Deutscher: 16,8%; - man darf hören, dass er Schweizer ist: 81%." (Schläpfer u. a. 1991, 155).
5.
Schlussfolgerungen
Die Deutschschweiz ist Teil des deutschsprachigen Kulturraumes und sie hat Anteil an der deutschen Standardsprache; als viersprachiger Staat hat die Schweiz gleichzeitig Verpflichtungen gegenüber allen Landessprachen wahrzunehmen. Beide Tatbestände unterstützen eine Förderung des Hochdeutschen in der Deutschschweiz. Die spezielle Situation der ,medialen Diglossie' wiederum wirkt auch auf eine Wertschätzung der Mundarten, die innerdeutschschweizerisch den Status von Umgangssprachen besitzen und diesen Status auch beibehalten können. Und - es lebt sich keineswegs unangenehm in dieser Situation: „Die Sprachsituation dieses Landesteils lässt sich nur dadurch erklären, dass sie den Bedürfnissen seiner Bewohner in perfekter Weise entspricht.
501 Dennoch bin ich immer wieder erneut verwundert und entzückt darüber, dass sie sich dieses Stücklein funktionierender Anarchie noch nicht haben nehmen lassen." (Haas 1986, 51).
Was das Hochdeutsche in der Deutschschweiz betrifft, so ist herauszustellen: a) Die deutsche Standardsprache ist auf dem aktuellen Stand so weit vereinheitlicht, dass sie regionale Abweichungen durchaus erträgt; die überregionale Verständigung wird damit nicht über Gebühr erschwert. Allerdings ist hier - in Schule und Öffentlichkeit — noch vieles zu tun, damit die schweizerische Form des Hochdeutschen Akzeptanz und Wertschätzung erfährt. Schläpfer wies schon vor Jahren kritisch auf zwei Grundtendenzen hin, die er in der Schule beobachtete, die aber darüber hinaus wirksam waren und es immer noch sind: „Die eine ist gewissermassen schul-immanent. Sie geht dahin, dass muttersprachlicher Unterricht und besonders auch Lehrmittel für den muttersprachlichen Unterricht dazu neigen, einen älteren Sprachstand zu fixieren und Veränderungen im Wortschatz und im System der Gegenwartssprache kaum oder nur unwillig zur Kenntnis zu nehmen. — Die andere Tendenz ist schweizerisch besonders stark ausgeprägt: Der Deutschlehrer, der sich um eine korrekte Standardsprache bemüht, neigt aus seiner Mundart-Situation heraus zu Überkompensation und Hyperkorrektheit. [...] Entgegen der Einsicht der Sprachwissenschaft und obwohl neuere Sprachlehrwerke dagegen ankämpfen, lebt in der Schweizer Schule noch weit herum die Vorstellung, es gebe im deutschen Sprachgebiet eine einheitliche deutsche Hochsprache, die wir uns aneignen sollten." (Schläpfer 1983, 47f.).
b) Durch die Vereinigung Deutschlands haben die nördlichen und östlichen Gebiete des deutschen Sprachraums eine womöglich einheitlichere und gewichtigere Stimme erhalten, wo es um Fragen der Standardisierung und Normierung geht. Unter diesen Voraussetzungen ist darauf zu achten, dass die südlicheren Gebiete - zumal die Deutschschweiz, Österreich und Südtirol - ihre berechtigten Anliegen weiterhin mit Nachdruck vertreten und einbringen können. Dies entspricht auch der weitgehend föderalistisch gewachsenen Struktur der deutschen Standardsprache, die niemals über ein vergleichbar mächtiges Zentrum wie Paris oder London verfügt hat. Die Diskussion um nationale Varietäten des Deutschen, wie sie insbesondere durch Amnion (1995) angestossen worden ist, hat besonders hier ihre Relevanz.
502
VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
Dazu ist allerdings notwendig, dass die südlicheren Gebiete — und zumal die Deutschschweiz - ein (v. a. in gebildeten Kreisen) noch weit verbreitetes sprachliches ,underdog-Denken' ablegen. Anstatt in allen Normfragen nach Norddeutschland zu starren, sollten die Deutschschweizer ein eigenes und eigenständiges Sprachbewusstsein entwikkeln, das das Hochdeutsche, wie es in der Schweiz verwendet wird, bejaht und unterstützt. — Zumindest die jüngere Generation scheint hier bereits unverkrampfter zu reagieren, wie die oben zitierten Umfrageergebnisse von Schläpfer u. a. (1991, 155) zeigen. c) Das geltende Sprachverteilungsmodell Haas (1994, 219) bezeichnet es als ,archaisch' - ist ein Faktor der nationalen Identität der Deutschschweizer; es trägt damit kaum dazu bei, neben den Dialekten auch Hochdeutsch als nationale Varietät zu werten. Und auch auf wissenschaftlichem Feld wird wenig unternommen, um den Status des Schweizerhochdeutschen detaillierter zu klären. Neben den Fragen der Kodifizierung (die Deutschschweiz verfügt über kein anerkanntes Wörterbuch der nationalen Varietät wie den Mannheimer Duden, das Bertelsmann-Wörterbuch oder das Österreichische Wörterbuch) wären hier - wie auch Ammon (1995, 292) vorschlägt — insbesondere Untersuchungen zu schichtspezifischen Unterschieden nützlich. Solche Untersuchungen - zu Einschätzung und Gebrauch des Hochdeutschen — waren bisher kaum Gegenstand der Forschung — zu stark wirkt wohl hier eine ideologische Überhöhung des schichtunabhängigen Dialektgebrauchs der Schweizer nach. d) Deutsch in der Schweiz ist ein Deutsch in deutschsprechendem Munde, das seine Herkunft nicht zu verleugnen braucht. Es könnte im Gegenteil beredtes Zeugnis von der inneren Mehrsprachigkeit nicht nur der deutschsprechenden Menschen sein. Die innere Mehrsprachigkeit spiegelt in gewisser Weise auch die erhöhten Anforderungen an das Sprachvermögen heutiger Menschen. Die Sprachsituation der Deutschschweiz mit ihrer .Zweisprachigkeit in der eigenen Sprache' macht diese Anforderungen deutlich und verweist auf die Notwendigkeit einer verstärkten Förderung der Sprachfahigkeiten. 6.
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(Schweiz)
505
52. Das Deutsche in Deutschland und seine regionalen Varianten
52. Das Deutsche in Deutschland und seine regionalen Varianten 1. 2. 3. 4. 5.
1.
Das Deutsche und Entstehungsräume europäischer Nationalsprachen Die deutschen Mundarten und Umgangssprachen (Substandard) Die regionale Gliederung des Deutschen Das deutsche Deutsch als nationale Varietät Literatur in Auswahl
Das Deutsche und Entstehungsräume europäischer Nationalsprachen
1.1. Die Entwicklung in anderen europäischen Staaten Die Frage nach den Entstehungsräumen europäischer Nationalsprachen ist anders zu beantworten als die im dezentralen Deutschland seit Bestehen der Stammesherzogtümer: In Großbritannien ist auf Südengland mit London, in Frankreich auf die île de France und Paris, in Italien auf die Toscana und Florenz, in Spanien auf Kastilien mit Burgos, in Portugal auf die Grafschaft Portugal und Oporto, in den Niederlanden mit der Entwicklung der flämischen Städtekultur auf Holland, in Dänemark auf die Insel Seeland und in Schweden auf die Landschaften um den Mälarsee zu verweisen. 1.2. Ursachen und Bedingungen für die Entwicklung in Deutschland Im Durcheinander der Kleinstaaterei stellt sich in Deutschland die Frage nach der politisch und kulturell überragenden Landschaft anders als in den übrigen europäischen Ländern. Während in fränkischer Zeit die maßgebende Wirtschaftsform die Grundherrschaft war, erlangten seit dem 10. bis 12. Jh. die Städte, besonders im Rheinland, mehr Geltung und entzogen sich allmählich der grundherrlichen Gewalt. In Deutschland spielt eine große Rolle die seit althochdeutscher Zeit wirkende starke Autonomie erst der Stämme, dann der Territorialfürsten, und zwar mehr im westlichen Altland als im Osten, wo seit der hochmittelalterlichen Ostsiedlung Menschen aus westlichen, südlichen und nördlichen Richtungen zusammengeführt worden sind. Im Spätmittelalter setzte mit Rudolf von Habsburg verstärkt das Ringen um eine gesamtstaatliche Zentralisation ein. Doch weder ein Habsburger noch die Luxemburger (Höhepunkt ihrer Macht unter Kaiser Karl
IV., 1346-1378) konnten sich gegen die feudalen Partikulargewalten behaupten, und nach der Mitte des 15. Jhs. war die deutsche Zentralgewalt auf den Tiefpunkt gesunken. Der Buchdruck, das wirtschaftliche, politische und kulturelle Gewicht vor allem Sachsens in seinem damals großen Staatsgebilde, seine führende Rolle in der Reformation und die Wirkung von Luthers Sprache förderten aber die schon vor 1500 einsetzenden Vereinheitlichungstendenzen im geschriebenen Deutsch. Die Frage nach der mundartlichen Grundlage der deutschen Nationalsprache, dem Standard, ist noch nicht völlig geklärt. Mischungen lautlicher, grammatischer und lexikalischer Faktoren nicht nur eines Dialekts und somit keine deutsche Mundart in reiner Form bilden die Grundlage unserer neuhochdeutschen Norm.
2.
Die deutschen Mundarten und Umgangssprachen
2.1. Merkmale der Mundart Eine Vielzahl von Bildungsweisen und Unterscheidungsmerkmalen zur Schriftsprache kennzeichnen die Mundart, die auch der Lehrer des mutter- und fremdsprachlichen Unterrichts erkennen und deuten muss. 2.1.1. Beharrungsvermögen Mundarten verkörpern die gesprochene Sprache des Volkes, die älter ist als die Schriftsprache. Im Mittelhochdeutschen hat man sie lantsprachen genannt. Sie bewahren Altes lange und gut und besitzen Beharrungsvermögen, aufgrund dessen sie die deutsche bzw. die germanische Vergangenheit verdeutlichen helfen. 2.1.2. Schöpferkraft, Phantasie, Bildhaftigkeit Andererseits besitzen sie Schöpferkraft. Eine reiche Phantasie lässt Vergleiche und kräftige Bilder entstehen, die auch der Neigung zum Übertreiben (der Hyperbel) Ausdruck geben, vgl. etwas ist zum Kranklachen,
Totschießen.
2.1.3. Gefühlsbetontheit und Affekt In der stärkeren Gefühlsbetontheit im Vergleich zur Hochsprache vermehrt in der Mundart (und Umgangssprache) das Negative
506
VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
den Wortschatz nachhaltiger als das Positive: Das Volk lobt nicht gern; es sieht im Guten das Normale. Alle Abweichungen davon in Sitte, Brauchtum und Recht werden gescholten. Üppig entfaltet ist deshalb der Wortschatz für Begriffe wie „schimpfen", „stehlen", „lügen", „streiten", „betrunken sein", „sterben". 2.1.4. Bevorzugung der Parataxe Auf syntaktischem Gebiet bevorzugt sie die Parataxe und verwendet nur wenige Bindewörter außer und (auch). Die einzelnen Aussagen werden aneinandergereiht, nicht dagegen hypotaktisch. Man sagt nicht: ich gehe nicht aus, weil es mir zu kalt ist, sondern ik gä nich ut, dat is mi to kold (Niederdeutsch). Damit verkörpert sie einen älteren Sprachzustand. 2.1.5. Mangel an Konjunktionen Viele Konjunktionen der Schriftsprache sind den Mundarten als Folge anderer Syntax fremd oder sie werden anders verwendet, z. B. ist im Bairischen und Südalemannischen das Bindewort bald (< sobald) häufig zu hören: bal(d) ich gemerkt hän ,als ich merkte'. Vielfach tritt die Konjunktion dass in Verbindung mit anderen Konjunktionen und mit Fragewörtern auf, z. B. Nordsiebenbürgischsächsisch: sag mir, wohin dass du gehst. 2.1.6. Wiederholungen, Kürzungen und Formelhaftigkeit des Ausdrucks Nicht selten sind Wiederholungen und Kürzungen des Ausdrucks. Vom Gebirgsschlesischen war bekannt (G. Hauptmann „Die Weber": ne, Vatterle, du machst a schenes Gebete machs de. Im Gegensatz dazu lassen alemannische Mundarten mitunter das Verb aus, ohne dass ein Missverständnis besteht: du konntest mir das Brot (herüberreichen). Im Niederdeutschen ist die Neigung zum formelhaften Ausdruck relativ groß. 2.1.7. Vielfalt der Einzelbezeichnungen Die Vielfalt von Einzelbezeichnungen zeigt z. B., dass im Taunus für den Begriff „Rind" die Bezeichnungen Ochse, Stier, Lüpper (verschnitten, Mask.), Kuh, Kalbin (erstgebärende Kuh), Rind (junges), Kalb sogar je nach der Färbung Fuchs, Rote, Braune, Schimmel, Schecke, Blesse verwendet werden, während der Gattungsname ,Rind' dort fehlt. 2.1.8. Vielfaltige verbale Ausdrucksfahigkeit Der Vorrat an Verben ist groß; die Mundart abstrahiert wenig und richtet den Blick auf
den Einzelfall. Nach dem Rheinischen Wörterbuch gibt es z. B. für die Arten des Gehens und Laufens etwa einhundert Verben, die das Zweckmäßige oder das Hindernde des Laufens unterscheiden, die Dauer der Bewegung, den trägen, schlendernden, nachlässigen Gang, das müßige, hinkende, steife, plumpe, watschelnde, schleifende, zappelnde, tänzelnde Gehen, während das Wort gehen selbst zurücktritt. Auch für sprechen/reden (vgl. Abb. 52.1) und für ziehen (Abb. 52.1) werden viele Ausdrücke verwendet. 2.1.9. Sparsamer und einförmiger Gebrauch der Verben Andererseits kann die Mundart wie die Umgangssprache sparsam im Gebrauch der Verben sein, sogar einförmig und bequem, wie es der Hochsprache nicht gemäß ist, vgl. den häufigen Gebrauch von machen, tun, z. B. das Feuer anmachen, wir machen los; tu das Geld hinlegen. 2.1.10. Fehlen oder Umschreiben abstrakter Begriffe Wichtige abstrakte Ausdrücke werden gemieden, z. B. wird tot durch anschaulichere Ausdrücke ersetzt: er is nemme ufgestaune .nicht mehr aufgestanden'. 2.1.11. Drang zur Kürze: Assimilationen, Dissimilationen, Abschwächungen In Mundart und Umgangssprache gilt der Drang zur Kürze: der Hänger ist ,der Anhänger'; Assimilationen sind feler .Felder', der äle .der Alte', unnern .unsern' (ostfränk.) oder Dissimilationen wie omlibus .Omnibus' (Nassau), Gürteltaube ,Turteltaube' (bair.). Groß ist die Zahl der Abschwächungen nebentoniger Silben, z.B. kirwe, kilwe ,Kirchweih', ostmitteldeutsch hantsch, westfal. hantske .Handschuh', rhein. backes .Backhaus'. 2.2.
Merkmale der Umgangssprache (Substandard) 2.2.1. Abgrenzung zu Mundart und Hochsprache Anders als die Mundart ist die Umgangssprache gesprochene Sprache nach der Schrift', sie ist also jünger als die Schriftsprache und setzt diese voraus. Sie liegt zwischen den Ebenen Mundart und Hochsprache. Eine klare, allgemeinverbindliche Abgrenzung des Begriffes ist schwierig. Nach Munske (1983, 1009) sind Umgangssprachen „in wesentlichen Zügen ihres phonologischen, morphologischen und
507
52. Das Deutsche in Deutschland und seine regionalen Varianten
'sprechen (Wortkarte, Lautformen sind unberücksichtigt) nach Dt. Sprachatlas bearbeitet von H. Protze
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Abb.52.1: (nach Kleine Enzyklopädie Bd. I 1969/70, 364).
semantischen Systems das Resultat eines strukturellen Ausgleichs zwischen Dialekt und Hochsprache, wobei komplexe dialektale Strukturen einfacheren hochsprachlichen angepasst werden". So setzen die umgangssprachlichen Lautungen mit spirantischem -ch- bei Wörtern mit hochsprachlichem -gdieses voraus: wöchn ,Wagen', während die Mundart in weiten ostmitteldeutschen Gebieten dafür die -g-losen Formen wän, wön, woin, waun verwenden. Oder der mundartliche Plural Stebeln .Stiefel' wird verachtet zugunsten von umgangssprachlichem stiefeln, das nach der Hochsprache ausgeglichen ist,
ohne das normgerechte Stiefel zu erreichen. Typisch ist der Dialektabbau auch in Kontraktionen wie hamse ,haben sie' oder in der Kürzung des Artikels: ne < ,eine'. Im Bereich des Wortschatzes spricht man vom Schuften, Wuchten, Wühlen, Pfuschen oder es werden Modewörter wie Lenz schieben, Sense machen verwendet, wobei die Jugend erfinderisch und aktiv in der Verwendung des einmal gefundenen „modernen" Ausdrucks ist (vgl. Art. 53, 4.5.2.). Die Umgangssprache ist vielfaltig abgestuft innerhalb der Familie und der Gesellschaft und weist territoriale Unterschiede auf.
508
VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
2.2.2. Entstehung der Umgangssprache (Substandard) Ihre Entstehung ist vor allem in den Städten zu suchen, in denen seit jeher die sozial höher stehenden Gesellschaftskreise wirken. Aber die sprachliche Strahlkraft der Städte im ausgehenden Mittelalter ist unterschiedlich. Während Köln auf ein größeres Gebiet sprachraumbildend eingewirkt hat, ist der Einfluss von Frankfurt a. M. geringer und der Kassels flächenmäßig unbedeutend gewesen (vgl. Abb. 52.2). Dem Verhältnis dieser westdeutschen Städte entspricht im Osten etwa das Leipzigs zu Erfurt und Nürnberg. Köln war mit 30 000 Einwohnern von den 15 Großstädten mit mehr als 10000 Einwohnern die volkreichste im damaligen Deutschland (außerhalb Flanderns). Es folgten (nach Rörig 1932, 343 f.) Lübeck, Straßburg, Nürnberg, Danzig, Ulm, Frankfurt a. M., Zürich, Augsburg, Erfurt, Breslau. Die Städte hemmten die weitere Ausdifferenzierung der Mundarten und glichen aus: nach Schmitt (1942, 226) ist die Stadt fortan „die bewegende Grundkraft des Sprachlebens, das bäuerliche
Land die bewahrende". Nach ihren Anfangen im 16. bis 18. Jh. ist entscheidend für die Entfaltung der Umgangssprache auch auf Grund der gewaltigen Bevölkerungsumschichtungen, der Einwanderung von Spätaussiedlern und Ausländern, sowie der gestiegenen Mobilität das 20. Jh. geworden, wodurch sich die regionalen Sprachgemeinschaften binnen kurzer Zeit ganz anders zusammensetzen. Höherer Bildungsstand, Urbanisierung, sozialer Aufstieg und Einfluss der Medien sind ebenfalls für den Abbau der Ortsdialekte verantwortlich (Wiesinger 1996). Aber nicht immer hat die Umgangssprache ihr Umfeld beeinflusst; z. B. liegt eine der volkreichsten ostmitteldeutschen Städte im Mittelalter, Freiberg, auf einer Mundartlinie (Große 1955, 58). Die beiden Abbildungen (Protze 1969/70, 336ff.), Sarg im Rhein-Main-Gebiet und Wirkung Kassels (Abb. 52.2) aus dem Material von Debus, zeigen die Wirkung der hessischen Umgangssprache im Umkreis städtischer Zentren (Dreieck Mainz—Frankfurt-Darmstadt), eines alten wirtschaftlichen und kulturellen Mittelpunktes. Dabei hält sich die von diesen
W i r k u n g Kassels bearbeitet von H. Protze
0
2,5
S
Salt Frugg
geseggt
Frau
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F 'r a u '
Abb.52.2: (nach Kleine Enzyklopädie Bd. I 1969/70, 336)
52. Das Deutsche in Deutschland und seine regionalen Varianten
509
'Rechen' im Hessischen nach H. Soost und B. Martin bearbeitet von H. Protze
die Harke
'Rechen' im Ostmitteldeutschen nach Th. Frings und K. Gleißner bearbeitet von H. Protze
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Dobertug-Kirchhain
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0
Abb. 52.3: Kontamination der Harken (nach Kleine Enzyklopädie Bd. I 1969/70, 403).
Städten bewirkte Ausdehnung des Wortes Sarg auf Kosten des älteren Lade oder Totenlade ungefähr in den Grenzen der Diözese Mainz, die somit seit Jahrhunderten eine sprachraumbildende Kraft darstellt. Kleiber (1983, 1616) spricht von Städten als „Diffusionszentren hochsprachlichen Wortschatzes". Die Wirkung Kölns zeigt Frings (1956,1 Karte 12, dazu meine Karte 1969/70 I, 339),
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' / / / / . + der Harken · der Harke Sprachgrenze Δ die Harken
indem die hochdeutschen Formen ,und', ,Schwester',,sechs' das verkehrsreiche Rheintal und Umland ausfüllen, während die mundartlichen F o r m e n (indi, endi; Söster,
Sester;
sess) an die verkehrsarmen Randgebiete abgedrängt worden sind. An den Berührungsflächen mundartlicher oder umgangssprachlicher Wörter oder Lauterscheinungen entstehen oft auf Grund sprachlicher Unsicherheit
510
VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
Kontaminationen (Mischformen, Kreuzungen, Kompromissbildungen). Dabei handelt es sich weder um die Annahme noch um die Ablehnung einer neuen, jüngeren Form, sondern um eine dritte Möglichkeit, die Mischung oder Kreuzung verschiedener Erscheinungen, wie Abb. 52.3: ,Rechen' im Hessischen bzw. im Ostmitteldeutschen (vgl. die Mischform önk < ink + öch ,euch' im Westmitteldeutschen/Ruhrgebiet) veranschaulichen. 2.3. Erforschung der deutschen Mundarten und Umgangssprachen und Entstehung und Entwicklung der Sprachgeographie Die moderne Sprachwissenschaft bedient sich heute der Ergebnisse, die ihr in vielfältiger Weise von der Mundart- und Umgangsspracheforschung geliefert werden. 2.3.1. Der Deutsche Sprachatlas Der Bayer Johann Andreas Schmeller ist der Begründer der wissenschaftlichen Dialektforschung in Deutschland. Mit seinem Werk „Die Mundarten Bayerns, grammatisch dargestellt" (1821) hat er die Mundarten systematisch mit der Sprache des Altdeutschen verknüpft. Schon 1860 hatte August Schleicher eine „mundartliche Geographie Deutschlands" gefordert. Georg Wenker legte dann 1876 den Grundstein zum „Sprachatlas des Deutschen Reiches" und damit zur Sprachgeographie, unter der man die Wissenschaft von der räumlichen Verbreitung sprachlicher Erscheinungen versteht, sei es von lautlichen oder flexivischen Besonderheiten, von Eigenheiten des Wortschatzes oder der Syntax, oder von Akzentunterschieden. Wenker entwickelte 1876 einen Fragebogen, der 40 mit 339 Wörtern im ganzen deutschen Sprachgebiet abzufragende Sätze mit den dialektologisch wichtigen lautlichen und grammatischen Erscheinungen enthielt. Satz 1 lautet: „Im Winter fliegen die trockenen Blätter in der Luft herum". Der Fragebogen wurde mittels indirekter Methode von den Lehrern ausgefüllt, von denen damals mehr als 50% in ihren Schulorten geboren und aufgewachsen waren. Das Material kam aus insgesamt 52800 Schulorten zusammen. Von den daraus gezeichneten Verbreitungskarten wurde eine aussagekräftige Auswahl von 128 Karten als „Deutscher Sprachatlas" (1926-1956) veröffentlicht. Von 1887 bis 1911 hat Wrede mit Wenker, dann selbständig leitend, aus dem Marburger Sprachatlasunternehmen eines der bedeutendsten Forschungsinstitute für deutsche Sprache entwickelt. Es konnte
die räumliche Verbreitung durch politische, wirtschaftliche, geographische und andere Faktoren erklärt werden, wobei vom Laut im Einzelwort ausgegangen wird und sogar die Gliederung der deutschen Mundarten nach Merkmalen der hochdeutschen Lautverschiebung, d. h. nach den auseinanderlaufenden Trennungslinien von ik/ich, makenlmachen etc. (vgl. Abb. 52.4) oder unter Einbeziehung der schriftlichen Uberlieferung die Entstehung der neuhochdeutschen Diphthongierung dargestellt werden kann. Um die Jahrhundertwende war aber schon, Wenkers und Wredes Fragestellung weiterentwickelnd, die direkte Methode der Mundartaufnahme praktiziert worden, wobei Bohnenberger (1902, 161 ff.) im schwäbischen Raum vorausging. Um 1910 begann Wrede mit einem Schülerkreis aus dem Rheinland (Ramisch 1908, Frings 1913) die direkte Methode anzuwenden, wie es auch bei anderen nationalen Sprachatlanten (z. B. dem französischen) geschah. In Teilgebieten wurden die in direkter Methode gewonnenen Ergebnisse mit denen im Deutschen Sprachatlas gespeicherten verglichen. Diese Untersuchungen erschienen als Monographien in der Reihe „Deutsche Dialektgeographie" (seit 1908), wobei meist am Anfang eine Ortsgrammatik, dann eine Flächengrammatik steht. 2.3.2. Der Deutsche Wortatlas Im Deutschen Sprachatlas ist die lautgeographische Fragestellung, im Französischen Sprachatlas dagegen die wortgeographische gewählt worden. Man wusste zu Wenkers Zeit noch nicht, dass fast jedes Wort seine eigene Geschichte und Ausdehnung im Raum hat. Der Fragebogen zum Deutschen Wortatlas beruht hauptsächlich auf Sachfragen oder onomasiologischen Fragen, z.B. wie wird der ,Handwerker, der die Möbel anfertigt', bezeichnet? (Herkner 1914). Nach der Karte ,Ross', ,Pferd', ,Gaul' hat das aus dem Germanischen stammende Ross (engl, horse), dessen allgemeine Bedeutung ,Pferd' nur noch in oberdeutschen Mundarten erhalten ist, die beiden Konkurrenten Pferd und Gaul, wobei Gaul beide Varianten verdrängt. Zahlreiche Ortsnamen und mittelalterliche Texte beweisen die weite Verbreitung des alten Wortes Ross innerhalb des heutigen Gebietes von Gaul und Pferd·, auch die in bäuerlicher Sphäre vorherrschende Ableitung rossig ,brünstig' (einer Stute) beweist das ursprünglich größere Verbreitungsgebiet von Ross, vgl. Protze 1969/70 I, 362 f. mit Karte. Nach bis
52. Das Deutsche in Deutschland und seine regionalen Varianten
511
Verdrängung des Niederdeutschen (Lautverschobene Formen in Niederdeutschland) nach K. Wagner und Th. Frings bearbeitet von H. Protze
0
50
100
ISO
Abb. 52.4: (nach Kleine Enzyklopädie Bd. 1 1969/70, 218).
ins Jahr 1921 zurückreichenden Vorbereitungen wählte Mitzka 200 Begriffe aus, die Wortgrenzen erkennen ließen. Nachdem alle Schulorte im deutschen Sprachgebiet von 1938 von Marburg aus einen Fragebogen erhalten hatten, kamen aus 48 373 Orten Antworten zurück. Bei der Bearbeitung des Materials sind über fünfzig wortgeographische Studien entstanden, die Fragen der Wortbildung, Etymologie, Synonymik, der Benennungsmotive und Verbreitungsursachen etc. behandeln. Sie sind zumeist in den Bänden „Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen" veröffentlicht worden, die Wortkarten selbst zwischen 1951 und 1980 in 22
Bänden. Der Zusammenhang zwischen Wort und Sache konnte ebenso wie die Lehnwortforschung berücksichtigt werden. Es entstanden auch regionale Wortatlanten (Peßler 1928, Schwarz 1954), gemischt mit Lautlichem (Hucke 1961 f.). 2.3.3. Mundartwörterbuch Für alle Arten sprachwissenschaftlicher, volkskundlicher und sogar für rechts-, sozialund siedlungsgeschichtliche Forschungen sind landschaftsgebundene Mundartwörterbücher wichtig. Sie finden wir heute in allen Sprachlandschaften. Die Sprachkarte wurde auch hier zum Darstellungsmittel, wie Luise
512
VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
Berthold (1938, 101 ff.) gefordert hatte. Wenn auch die alphabetisch geordneten Stichwörter in erster Linie der Semasiologie und der Etymologie dienen, so wird verstärkt die onomasio logische Betrachtungsweise einbezogen. Die Frage, ob die Forschungsarbeit synchronisch oder diachronisch angelegt werden soll, wird unterschiedlich beantwortet. Die älteren Wortschatzsammlungen für das Bairische, das Schweizerische Idiotikon und das Schwäbische vereinigen Synchronie und Diachronie; fast alle jüngeren Wörterbücher sind synchron orientiert. Nur im Pfälzischen Wörterbuch und im Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuch sind auch die Namen und historische Belege aufgenommen worden. Da heute die Mundartwörterbücher nicht nur die von der Hochsprache abweichenden Besonderheiten des lokalen Wortschatzes sammeln,
wie es zur Zeit der Idiotica, der großen EinMann-Leistungen im 18. und 19. Jh. geschah, sondern den Gesamtwortschatz der betreffenden Mundart, leitet die Arbeit eine wissenschaftliche Institution wie Akademie oder Universität. 2.3.4. Wörterbücher und Atlanten zur Umgangssprache Das Wörterbuch der deutschen Umgangssprache von Küpper (6 Bde. 1963 ff.) gibt mit 20 000 Wörtern und Redewendungen eine Bestandsaufnahme des Sprachgebrauchs, wie er auf unseren Straßen und in unseren Unterhaltungen üblich oder möglich ist. Dabei kommen alle sozialen Schichten, Berufe und Landschaften zu Wort (vgl. 53.4.). Küpper hat mit Hilfe von Rundfunk und Fernsehen die Öffentlichkeit direkt befragt und quasi ein
Junge Bub Mädchen Modle, Dirndl... Ferse Hacke sich erkälten sich verkälten kneifen petzen,zwicken... Harke
) kehren nach Hause heim zu Hause daheim Bord-,Kantstein... Randstein Scheune Scheuer, Stadel Frühstück Vesper.Brotzeit... Abendbrot Abend-, Nachtessen. Samstag Sonnabend dies Jahr heuer Weihnachtsmann Christkind 4 7
(guten)Tag grüß Gott
Abb. 52.5: Nord-Süd-Gliederung in der Lexik deutscher Umgangssprachen (nach Karten von Eichhoff 1977, bearbeitet von Munske 1983, 1014).
52. Das Deutsche in Deutschland und seine regionalen Varianten
„Dictionary of Slang" geschaffen, das Derbes und Drastisches enthält und mitunter in die gehobene Sprache eindringt. Hervorzuheben ist Kretschmers „Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache" (Göttingen 1918, 2. Aufl. 1969), die durch 350 unterschiedlich ausführliche Wortartikel die Lexik der „im täglichen Leben gesprochenen Sprache gebildeter Kreise" (27) nach Verbreitung, Verwendung und Geschichte festhält und heute „eine historische Dokumentation" (Munske 1983, 1013) darstellt. Kretschmers zwischen 1909 und 1915 aufgenommenes Material umfasst in unterschiedlicher Dichte den gesamten deutschsprachigen Raum in 170 Orten und wertet lokale Quellen des 17. bis 19. Jhs. aus. Er empfahl in der 1938 geplanten 2. Aufl. (Nachdruck der l.Aufl. von 1969) eine „Neuaufnahme des Stoffes" etwa 1960—70. Diese mit erweiterten Fragebögen ist von Eichhoff 1971-76 in 402 Städten des deutschen Sprachgebietes und von Protze 1975-80 in 296 Städten der DDR, also im wesentlich dichteren Aufnahmenetz, durchgeführt worden, so dass beide neue Wortatlanten der städtischen Umgangssprache einen guten Vergleich zu Kretschmer ermöglichen und damit sprachdynamische Veränderungen mancher regionaler Varianten dokumentiert werden können. Dabei konnten nun auch zahlreiche für die gesprochene Sprache charakteristische Modalwörter und zum Teil Kennwörter der Umgangssprache wie halt (vgl. 4.2.3.) oder „satzschließende, Bestätigung heischende Partikel" (Munske 1983, 1013) nich(t)\ wa, wahr, gelle dargestellt werden. Abb. 52.5: Die von Munske (1983, 1014) nach Karten von Eichhoff entwickelte NordSüd-Gliederung in der Lexik deutscher Umgangssprachen spiegelt die deutsche Dialektlandschaft mit Variationen, die „als sich nach einer deutlichen Grenze (16 Isoglossen) von Hof bis Fulda die Isoglossen nach NW [Nordwesten] durch das Ripuarische und nach SW [Südwesten] durch das Pfälzische auffächern".
3.
Die regionale Gliederung des Deutschen
3.1. Das Oberdeutsche Die traditionelle Gliederung des Deutschen geht von den Merkmalen der zweiten oder hochdeutschen Lautverschiebung aus (vgl. Abb. 52.6). Zum Oberdeutschen gehören das
513
Schwäbisch-Alemannische, wobei das Niederalemannische mit dem Elsässischen sowie das Ober- und Hochalemannische viele alte Erscheinungen bewahren, ζ. B. f, û, iu nur im Schwäbischen diphthongiert worden sind, und, da ein gewisser Rhythmus von Statik und Dynamik sprachlichen Lebens die meisten Dialekträume über die Jahrhunderte hinweg auszeichnet, rechnet man das Alemannische zu den passiven Sprachlandschaften; und das Bairisch-Österreichische mit seinen alten Dualformen es ,ihr', enk ,euch' und dem Wandel ei > oa {hoaß ,heiß') und das bis nach Südthüringen und ins Vogtland reichende Ostfränkische, das ζ. B. das Merkmal ä für au und ei (bäm ,Baum', brät,breit') aufweist. Lexikalische Eigenheiten des Bairischen sind: Rauchfang ,Kamin', Kuchel,Küche', Anze ,Gabeldeichsel', Walger ,Teigholz', Pfeit ,Hemd', tenk ,links' und die aus dem Griechischen über das Gotische gekommenen Wochentagsnamen Ergetag ,Dienstag', Pflnztag .Donnerstag'. Das Bairische wird zu den aktiven Sprachlandschaften gerechnet, weil in früher Zeit die Entwicklungen wr > r, hl > l, th > d und die althochdeutsche Lautverschiebung (vgl. Abb. 52.4), in mittelhochdeutscher Zeit die Diphthongierung î > ei, û > au, iu > eu (vgl. Protze 1969/70 I, 214 mit Karte) und die Entwicklung hs > ks wachsen' ausgingen. 3.2. Das Mitteldeutsche Das Mitteldeutsche gliedert sich in Westmitteldeutsch mit Mittelfränkisch (Ripuarisch, Moselfränkisch) und Rheinfränkisch (mit Hessisch, Rheinpfälzisch) und Ostmitteldeutsch mit Thüringisch, Obersächsisch und Lausitzisch. Durch die „binnenhochdeutsche Konsonantenschwächung" (Lessiak 1933,11 ff.), nämlich der Aufhebung der Verschlusslautoppositionen p:b, t:d, k:g zugunsten der stimmlosen Lenes ist das Mitteldeutsche mit großen Gebieten des Oberdeutschen verbunden. Niederdeutsche Merkmale finden sich vor allem im Westmitteldeutschen unter Einschluss des Nordthüringischen. Doch zeichnet das Mitteldeutsche eine ganze Reihe von der deutsch-romanischen bis zur deutsch-slawischen Sprachgrenze horizontal verlaufende Sprachmerkmale aus, wie z. B. die Gutturalisierung nd > ng, die Abb. 52.7 zeigt. Ebenso gesamtmitteldeutsch ist die Senkung i > e, u > o, die noch als Hond ,Hund', Loft ,Luft' in der Westlausitz (Protze 1957, 11 f. Karte 2) und als Fond ,Pfund' (v. Polenz 1954, 31,
514
VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
Die deutschen Mundarten (um 1965) bearbeitet von H. Protze ° . ? "" ? Friesisch
friesisch» ¿¡ΰ ¿¡Ό „ ., . . We5tfnesiscHf"'i; J R
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Sprachgrenze zum Romanischen. Slawischen, Danischen
Abb. 52.6: (nach Kleine Enzyklopädie Bd. I 1969/70, 406).
Karte 5, Abb. 7) im Altenburgischen vorkommt. Auch au für mittelhochdeutsch iu, ζ. B. nau ,neu', auch, Geh ,euch', Fauer, Feuer' und Nau- in Ortsnamen ist eine alte mitteldeutsche Erscheinung. Die Vokalisierung des intervokalischen -g-\ sän, son, soin ,sagen', Voit ,Vogt' ist ebenso vor allem mitteldeutsch, die teilweise in unsere Schriftsprache Eingang gefunden hat (, Getreide' < getregede, ,Sense' < segense). Lautgeographisch interessant für das Gesamtmitteldeutsche ist die sog. Konsonantenerleichterung im Wort ,Markt': zu Gunsten von Mark im Südsaum und Mart im Nordsaum (vgl. Protze 1961, Karte 1). Der Grenzsaum zwischen Westmitteldeutsch und Ostmitteldeutsch verläuft mit
der Wasserscheide zwischen Werra und Fulda. Die Abgrenzung des Thüringischen im Norden wie im Süden (auf dem Rennsteig) ist deutlicher als die im Osten gegen das Obersächsische, wo man u. a. auf den «-Abfall beim Infinitiv hinweisen kann (thüringisch -el obersächsisch -en: mache!machen). Im Norden des Obersächsischen liegt das Osterländische, wo man g- statt k- (Gind ,Kind') spricht, im Süden das Erzgebirgische und im Osten grenzt sich das Meißnische bzw. Obersächsische schärfer gegen das Westlausitzische ab. Der Oberlausitzer fallt beim Sprechen durch sein gerolltes r und dunkles / auf und kennt Dehnungen: slïdn ,Schlitten'. Kennwort des Lausitzisch-Schlesischen ist ok
52. Das Deutsche in Deutschland und seine regionalen Varianten
G u t t u r a l i s i e r u n g nd>ng bearbeitet von H. Protze
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Abb. 52.7: (nach Kleine Enzyklopädie Bd. I 1960/70, 411).
Entwicklung bearbeitet nach
J>9••
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P. v. Polenz
g- in 'Jahrmarkt'
mach dem Volkskunde-Atlas)
η in ·;,,ηο· der süddeutschen ff-in jung (nach SDrachat)as_Kar1e)
Abb. 52.8: Adoptivform (nach Kleine Enzyklopädie Bd. I 1969/70, 405).
516
VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
gebratener Fleischkloß aus durch den tyfalf gedrehtem Rind-und Schweinefleisch, gemischt" mil" Ei und weichem Brölchen
oo Fleischbrofchen,-brode! α Frikadelle
a Fri'kan delle \ · Λί Besteck ·• der Beefefock
der Klops 18ral"klops J Fleischklops • Bulelte — FleischkloBchenLJ -cFlei'schkló'ffle -ι Brafkloß nBraH g- als ,Adoptivformi bei der Wiederherstellung des mittelhochdeutschen g- als Verschlusslaut. Im heutigen Gebiet des Wandels j- > g- (vgl. Jahrmarkt', ,jung' auf Abb. 52.8) ist einst j-
517
52. Das Deutsche in Deutschland und seine regionalen Varianten
statt g- gesprochen worden und die mit altem j- anlautenden Wörter sind in die Bewegung hineingerissen oder „adoptiert" worden, so dass man nun Garmert, gung sagte. Schon 1603 verspottete Rollenhagen die Kursachsen mit dem Satz: Vor drei Gohren war Gunker Gochen noch ein gunger Gunker. Adoptivformen sind wie Kontaminationen und Relikte ein wertvolles Mittel für die Rekonstruktion eines abgelaufenen sprachlichen Prozesses. 3.3. Das Niederdeutsche Das Niederdeutsche umfasst drei große Mundarträume: Niederfränkisch, Nordniedersächsisch mit West- und Ostialisch und Ostniederdeutsch mit Märkisch-Brandenbur-
gisch, Mecklenburgisch-Vorpommersch und Mittelpommersch. Der Gesamtraum des Niedersächsischen zeigt den Einheitsplural -et (1.-3. Pers.). Im Westfälischen wird sch als sch, teilweise als s-k, ζ. B. skinken ,Schinken' gesprochen. Im Ostfalischen fallen mir, mich zu mik; dir, dich zu dik zusammen, während sonst im Niederdeutschen allgemein die Kurzformen des Einheitskasus (Dat., Akk.) mi, di gelten. Das im Südosten zwischen Harz, Elbe und Ohre gelegene Elbostfálische ist mitteldeutsches Vorbruchsgebiet, worauf Ostern, hinder, Swester gegenüber sonstigem ostfälisch Paschen, achter, Süster oder auch die Ortsnamen auf -leben weisen (Bischoff 1954, 91 ff.); aber auch brandenburgische Ein-
'[er soll den Wagen] ziehen' nach Dt. Wortatlas bearbeitet von H. Protze
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ISO
trecken zerr[en], zarr[en] dinsen
Abb. 52.10: (nach Kleine Enzyklopädie Bd. I 1960/70, 397).
518
VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
flüsse sind vorhanden. Das Märkisch-Brandenburgische hat viele auf niederländische Besiedlung weisende Wörter (Fenn, ,Moor', Päde ,Quecke', Else ,Erle'). In jüngerer Zeit wirkt Berlin stark ins Ostniederdeutsche (vgl. Bulette Abb. 55.9) und in der Niederlausitz. Das Mittelpommersche ist das keilförmige, sprachlich nach dem Süden ausgerichtete Gebiet zwischen Oder und dem Mecklenburgisch-Vorpommerschen. An der Nordseeküste finden wir das zum Englischen hinüberweisende Nord- und Westfriesische sowie das Ostfriesische (Saterländische), die vom Niederländischen und Niederdeutschen bedrängt werden. Abb. 55.10: ziehen' veranschaulicht den jungen tën-Vorbruch aus dem Süden, der das einst einheitliche niederdeutsche trecken-Gebiet auseinanderreißt. 4.
Das deutsche Deutsch als nationale Varietät
Mit der Verfestigung der Eigenstaatlichkeit Österreichs, verstärkt auch durch die deutsche Wiedervereinigung, hat sich eine lebhafte Diskussion zum Status der nationalen Varietäten entwickelt (vgl. die Art. 50 und 51). Deutsch wird insbesondere aus der Sicht der österreichischen Sprachwissenschaft als plurizentrische Sprache mit verschiedenen, konkurrierenden und interagierenden nationalen Normen verstanden (vgl. Muhr 1993; Muhr/Schrodt 1997). Ammon (1995) hat in seiner vergleichenden Studie der nationalen Varietäten Deutschlands, Österreichs und der Schweiz die Merkmale des Standarddeutsch Deutschlands in Analogie zu Austriazismen (vgl. A r t . 50) als Teutonismen bzw. Deutschlandismen charakterisiert und katalogisiert
(Ammon 1995, 330ff.). Auch wenn unklar ist, ob sich Amnions Begrifflichkeit durchsetzen wird, so haben doch die Arbeiten von Ammon, Clyne (1992), Polenz (1988, 1990) u. a. bewirkt, dass sich eine „ausgewogenere Pluralität" entwickelt und die Erkenntnis durchsetzt, „daß die Binnenkodizes Österreichs und der Schweiz durch den deutschen Sprachkodex nicht voll ersetzbar sind" (Ammon 1995, 367).
5.
Literatur in Auswahl
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(Deutschland)
53. Soziale Varianten und Normen 1. 2. 3. 4. 5. 6.
1.
Relevanz des Themas für Deutsch als Fremdsprache Variation und Varietäten Normen Soziale Varietäten des Deutschen Ausblick Literatur in Auswahl
Relevanz des Themas für Deutsch als Fremdsprache
Kinder erwerben die Sprache ihrer Umgebung, indem sie sich mit ihrer unmittelbaren lokalen und sozialen Umgebung identifizieren. Erwachsene Lerner haben eine lokale und soziale Identität bereits erworben, wenn sie beginnen, das Deutsche als Zweitsprache zu erlernen. Ihr sprachlicher Input wird von der Region, in der sie sich aufhalten, und den sozialen Varietäten der Sprecher, mit denen sie interagieren, stark beeinflusst. Untersuchungen zum Zweitspracherwerb konvergieren darin, dass Zweitspracherwerber grosso modo Akzent, grammatische Regularitäten, pragmatische Muster und personale Stile ihrer lokalen und sozialen Umgebung übernehmen (vgl. Klein/Dittmar 1979; Klein 1984). Cuius habitus, eius lingua gilt aber auch für Fremdsprachenlerner (Erwerb der Zielsprache in Kontexten, in denen wenige Ziel-
sprachesprecher als Modelle zur Verfügung stehen, in der Regel die Lehrer), da kommunikative Praktiken einer Fremdsprache in muttersprachlichen Kontexten erfolgen und im Prinzip ähnliche Auswirkungen haben wie im Zweitspracherwerb in zielsprachlicher Umgebung. Die Gültigkeit dieses Input-Prinzips wird durch die Verschiedenartigkeit des Kontaktes und des Aufenthaltes in zielsprachlichen Umgebungen nicht aufgehoben. Die meist im Unterricht vermittelten standardsprachlichen Regularitäten werden im zeitlichen Verlauf kommunikativer Praktiken häufig regional und sozial an die jeweils geltenden Normen angepasst. Dieser natürliche Vorgang hat jedoch nichts damit zu tun, wenn es darum geht, die vorliegenden Beschreibungen zur Anpassung von Zweitspracherwerbern an ihre regionale und soziale Umgebung in Form der für das Deutsche geltenden sozialen Varianten und Normen bei der Vermittlung im Deutsch als Fremdsprache-Unterricht zu berücksichtigen. Einschlägige didaktische Untersuchungen kommen zu dem Schluss, dass Lerner sich an standardsprachlichen Regeln orientieren sollten, da ihrer Kompetenz nicht entsprechende Sprachgebrauchsweisen (expressive Informalität, ausgeprägter Gebrauch von Schimpfwörtern, gruppenspezifische Ausdrücke etc.)
53. Soziale Varianten und Normen
als unangemessen missverstanden werden können. Die Kenntnis sozialer Varianten und Normen des Deutschen zielt daher auf soziokognitives Wissen ab: 1. Was unterscheidet standardsprachennahe umgangssprachliche Ausdrücke und Eigenschaften von nonstandard- und substandardspezifischen Verwendungsweisen? 2. Welche (gruppenspezifischen) Varietäten sollten bekannt sein, um den Lerner in der Umgebung alltäglicher Interaktionen zu einem akzeptablen Kommunikator zu machen? 3. Welche sozialen Sprachgebrauchsregeln sollten Lernende kennen, um Missverständnisse zu vermeiden oder aber diese Regeln in bestimmten Schlüsselsituationen mit Erfolg anzuwenden? Unsere folgenden Ausführungen befassen sich mit der gesprochenen Sprache. Eine Übersicht über Eigenschaften der geschriebenen Sprache findet sich in den Artikeln 13 und 25 dieses Handbuches. Beispielhaft werden in diesem Artikel ,soziale Varianten und Normen' der Bundesrepublik Deutschland berücksichtigt, da das Deutsche in Österreich und der Schweiz in den Artikeln 50 und 51 behandelt wird; gleichwohl lässt sich vieles, was in diesem Artikel gesagt wird, auch auf Verhältnisse in der Schweiz und Österreich übertragen (vgl. auch Ammon 1995). Während Dialekte Auskunft über Sprecher geben (habituelle Sprechweise), bedingt durch die sozioregionale Herkunft und als Ausdruck sozial struktureller Verschiedenheit (vgl. Artikel 52), geben soziale Sprachverwendungsweisen Auskunft über soziale Prozesse des Sprachgebrauchs (ζ. B. Arbeitsteilung) und Sprachgebrauchsregeln auf der Folie sozialer Merkmale und Kontexte (vgl. Ditmar 1997, Kapitel 5). Im Folgenden soll zunächst der Begriff der Norm erläutert werden, da sich mit diesem Begriff Korrektheitsbedingungen von Äußerungen verbinden. Der Normbegriff soll dann für die Beschreibung sozialer Varietäten des Deutschen fruchtbar gemacht werden. 2.
Variation und Varietäten
Jede natürliche, historisch gewachsene Einzelsprache wird in Abhängigkeit davon, wer sie in welcher Situation, wann und wo verwendet, unterschiedlich realisiert, d. h. sie variiert. Diese spezifischen Variationen einer Sprache
521 in Abhängigkeit von ihren sozialen Verwendungsbedingungen (vgl. Berruto 1987) können zu Varietäten gebündelt werden. Varietäten sind demnach zu beschreiben als funktional voneinander geschiedene, konstitutive Subsysteme des Gesamtsystems einer Sprache. Sie sind theoretisch-idealisierte Konstrukte, die inventarisieren, welche Realisierungen von Sprache in Abhängigkeit von der Sprachgebrauchssituation systematisch zu erwarten und als solche auf allen Ebenen des Sprachsystems beschreibbar sind (Phonologie, Grammatik, Lexik). Die klassifizierenden extralinguistischen Parameter werden seit Nabrings (1981) mit Bezug auf Coseriu (1952/ 1975) als diatopische (= räumliche), diastratische (= schichtenspezifische), diachrone (— zeitliche) und diaphasische (= situative) Dimension der Variation bezeichnet (vgl. auch Dittmar 1997, Kapitel 4). Die Abgrenzung der Varietäten voneinander ist nicht unproblematisch. Auf der horizontalen (geographischen) Ebene stellt sich das Varietätenspektrum dar als ein Kontinuum mit Kern- und Übergangszonen (vgl. Art. 52). Die Kernzonen sind durch ein „gewisses Maß an Homogenität und Stabilität" (Berruto 1987) charakterisiert, das erst die Zusammenfassung zu einer je „einheitlichen" Varietät erlaubt. Sie werden als Standardvarietät, Umgangssprache(n) und Dialekt(e) bezeichnet, wobei Standardvarietät und Dialekte die Extrempunkte des Kontinuums markieren. Der Terminus Standardvarietät (älter auch: Hochsprache, Literatursprache, Schriftsprache, Gemeinsprache, Einheitssprache) ist gegenüber dem koexistierenden Terminus Standardsprache zu bevorzugen, da er im Unterschied zu letzterem die Einbettung dieser Varietät in das Varietätenge/wge einer Sprache signalisiert. Für die Übergangszonen haben Barbour/Stevenson (1990) die Termini ,standardnahe' vs. ,standardferne', ,dialektferne' vs.,dialektnahe' Umgangssprache vorgeschlagen. Holtus/Radtke (1986— 1990) folgend, wird das Kontinuum von lokalen über regionale Dialekte bis hin zum Standard für die meisten europäischen Sprachen als Substandard' bezeichnet. Unter einer Standardvarietät wird das Subsystem einer Sprache verstanden, dessen Normen den höchsten Verbindlichkeitsgrad für alle Angehörigen einer politisch definierten Kommunikationsgemeinschaft besitzen, da sie in Regelwerken kodifiziert und deshalb präskriptiv sind. Sie wird geschrieben, besitzt überregionale Reichweite und Gültigkeit, wird
522
VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
vorzugsweise in institutionellen Kontexten und offiziellen Kommunikationssituationen benutzt und erscheint in der Alltagssprache niemals in ihrer idealtypisch kodifizierten Norm (vgl. Bartsch 1987; Ammon 1995). Die Abgrenzung des Terminus Umgangssprache' (Regiolekt) ist am schwierigsten, da die unter diesen Begriff fallenden Varietäten einerseits historisch als großräumigere Ausgleichssprachen zwischen verschiedenen Dialekten und andererseits im Austausch mit der Standardvarietät entstanden sind. Umgangssprachen verfügen über ihr spezifisches Normensystem, das teilweise zwar beschrieben, aber nicht kodifiziert ist. Umgangssprachen existieren vorrangig mündlich, besitzen einen größeren regionalen Gültigkeitsbereich als die kleinräumigen Dialekte und werden in alltagssprachlichen Situationen verwendet. In ihren standardnahen Varianten dringen sie zunehmend in bisher der Standardvarietät vorbehaltene Domänen vor. Stadtsprachen (,Urbanolekte') können als Spezialfälle von Umgangssprachen betrachtet werden (vgl. Kallmeyer 1994/1995 und Dittmar 1997, Kapitel 4 und 5). ,Soziolekte' als Inventarisierungen von sozialen Varianten werden auf der vertikalen Gliederungsebene eines Sprachsystems unterschieden. Das Gliederungsprinzip folgt der sozialen, der diastratischen Dimension der Variation. Man muss sich jedoch immer vergegenwärtigen, dass es sich bei der gesonderten Betrachtung des diastratischen Kriteriums als klassifikationsstiftend um eine methodische Abstraktion handelt, da es letztlich immer die Komplexität der extralinguistischen Dimension der Variation ist, die zur Konstituierung einer Varietät führt (vgl. hierzu 4.4. und 4.5.). Als prototypischer diastratischer Faktor der Variation gelten soziale Schichten. .Schicht' ist eine von Gruppen und Individuen abstrahierende soziale Größe, die darauf zielt, dass sich in Abhängigkeit vom Sozialstatus (unbewusst) spezifische soziale Normvorstellungen, Verhaltensweisen und Einstellungen entwickeln, zu denen auch das Sprachverhalten betreffende Determinanten gehören. So kommt es zur Ausbildung von schichtenspezifischen Varietäten im engeren Sinne, z.B. von Oberschicht- oder Unterschichtvarietäten . Nach Berufs-, Tätigkeits- oder Statusmerkmalen, nach Alter und Geschlecht werden andere soziale Gruppen zusammengefasst, die zur inneren Kohäsionsstiftung und
zur Abgrenzung nach außen (oft also sehr bewusst) eine spezielle Varietät bzw. einen bestimmten Stil entwickeln (häufig als Sondersprache' bezeichnet: Standes-, Berufs-, Fachund Gruppensprachen; bekannte Beispiele für Gruppensprachen: Argot, Jugendsprachen). Auch Soziolekte können auf allen Ebenen des Sprachsystems unter Bezugnahme auf die Standardvarietät beschrieben werden, wobei der Status des jeweiligen Soziolekts in der zeitgenössischen soziolinguistischen Forschung vorrangig über eine spezifische Lexik charakterisiert wird. 3.
Normen
3.1. Sprachnormen im Spiegel der linguistischen Forschung Der Terminus ,Norm' geht zurück auf lat. norma ,Winkelmaß, Richtschnur, Regel'. In den Geistes- und Sozialwissenschaften wird er zur Beschreibung von Grundlagen und Voraussetzungen, von leitenden Grundsätzen und Mustern menschlichen Handelns genutzt, die auf Vereinbarungen (Konventionen) beruhen und deren Befolgung zu empirisch feststellbaren Regelmäßigkeiten im Sozialverhalten der Menschen führt. Normen können als Orientierungshilfen betrachtet werden, nach denen der Mensch sein Verhalten ausrichtet. In diesem Sinne sind sie präskriptiv. Ihre Nichtbefolgung zieht Sanktionen nach sich, d. h. ihre Befolgung ist durch sozialen Zwang gesichert und wirkt normstabilisierend. Jedoch ist explizite Formuliertheit keine notwendige Bedingung ihrer Existenz, da sie zum Teil auch als unter Umständen unbewusstes Normwissen tradiert und weitergegeben werden. Sie existieren genau dann, wenn sie von den Mitgliedern einer sozialen Gemeinschaft als handlungsleitend akzeptiert werden. Das Kriterium für die Bewertung von Normen ist das der Angemessenheit oder Adäquatheit.
Da das Sprachverhalten des Menschen integraler Bestandteil seines Sozialverhaltens ist, können Sprachnormen als Teilbereich der Sozialnormen betrachtet werden, die das menschliche Zusammenleben regeln. In der Linguistik werden im Wesentlichen zwei Normkonzepte vertreten. Die eine Betrachtungsweise geht aus der primär innerlinguistischen Perspektive an das Phänomen heran und fragt unter funktional-systemhaf-
53. Soziale Varianten und Normen
ten Aspekten danach, was grammatisch korrekt und semantisch interpretierbar ist. Ihr Normbegriff ist die ,Regel'. Der so genannte koexistierende Ansatz (verschiedene Normen existieren gleichzeitig nebeneinander) geht von einem weiter gefassten Begriff der Norm aus und bezieht die sozialen Kontexte sprachlichen Handelns in die Argumentation mit ein. Der zu Grunde liegende Normbegriff ist im Sinne von ,Kommunikationsnormen' soziolinguistisch geprägt. Linguistische Normen als Ausdruck von Sprachregeln existieren für alle Varietäten. Über die verbindlichsten, weil kodifizierten Normen verfügt die Standardvarietät. Verstöße gegen das Prinzip der Korrektheit bzw. der sprachlichen Richtigkeit werden auf der grammatisch-semantischen Ebene deshalb am strengsten sanktioniert. Eine analoge Hierarchisierung von Verstößen gegen Kommunikationsnormen ist auf Grund des Adäquatheitskriteriums zur Beurteilung sprachlichen Verhaltens nicht sinnvoll. Von Sanktionen gegen Normverstöße zu unterscheiden sind objektive Folgen der Befolgung oder Nicht-Befolgung von Normen (Gloy 1987), die vorrangig in der Beurteilung der sozialen und intellektuellen Kompetenz der Sprecher/Schreiber zum Ausdruck kommen. Die funktional-systemhafte Argumentation arbeitet mit den Termini,Sprachsystem', ,Norm' und Sprachgebrauch' (oder Verwendung', ,Rede'), mittels derer sie erklärt, wie Regelmäßigkeiten in der Auswahl aus zunächst systematisch mehr oder weniger gleichwertigen Varianten entstehen und zu Normen, d. h. verbindlichen Vorschriften, werden können. Diese Betrachtungsweise abstrahiert weitgehend von den Produktionsund Rezeptionsbedingungen sprachlicher Äußerungen und konzentriert sich vorrangig auf die Beschreibung der Normen der Standardvarietät, die Mechanismen ihrer Herausbildung und Veränderung im Spannungsfeld zwischen Deskription und Präskription, zwischen Sprachsystem und -Verwendung. Den ersten theoretischen Zugang entwickelte Paul (1880), der die Normentwicklung der ,Gemeinsprache' (, Standardvarietät') über statistische Durchschnittsbildungen aus der individuellen Sprechtätigkeit' (Sprachgebrauch) heraus erklärte. Dieser Ansatz verweist bereits auf das Verhältnis zwischen dem System einer Einzelsprache und der Verwendung dieses Systems in der Kommunikation,
523 das von Saussure (1916) mit den Termini ,langue' und ,parole' klassisch fixiert wurde. Eine neue Perspektive formuliert Coseriu (1952/1975), der den Saussureschen Ansatz auf seine normtheoretischen Konsequenzen hin befragt. Er kritisiert die Saussuresche Antinomie zwischen langue und parole·. Es handele sich bei diesen Modellen eher um zwei verschiedene Standpunkte, für die unterschiedliche Abstraktionsgrade wesentlich seien. Ausgehend von der parole, von der Sprechtätigkeit, setzt Coseriu eine erste Abstraktionsstufe an, die das umfasst, was Wiederholung früheren Sprechens ist. Diese Abstraktionsstufe nennt er ,Norm', bestehend aus individuellen, sprachlichen Varianten und einer sozialen, sprachsystemnahen Ausprägung. Das Sprachsystem entsteht auf der zweiten Formalisierungsstufe und umfasst nur das für das System funktional Relevante. Umgekehrt kann der Weg vom System zum Sprechen als zunehmende (normgerechte) Realisierung bzw. Konkretisierung beschrieben werden. Damit hat Coseriu das dynamische Verhältnis zwischen System und Norm auf eine theoretische Grundlage gestellt: Das Sprachsystem ist sowohl weiter als auch enger als die Norm. In der Soziolinguistik werden unter Normen Bewusstseinsinhalte, also Abstraktionen, verstanden, die auf Erwartungshaltungen hinsichtlich situationsadäquaten Sprachverhaltens bezogen sind. Sie entstehen durch kommunikative Erfahrungen, die bewertet werden (erfolgreich vs. nicht erfolgreich) und so Leitbildcharakter für künftiges Sprachverhalten erhalten. Einbezogen wird die Komplexität aller situativen und sprachlichen Determinanten, die in der Kommunikation eine Rolle spielen. Der soziale Charakter der Normen besteht darin, dass ihre Befolgung einerseits von anderen gefordert wird und andererseits den Bestand einer sozialen Ordnung garantieren soll (Gloy 1987) bzw. in der Bewertung ihrer Befolgung oder Nichtbefolgung (Härtung 1977). Außerdem besitzen sie einen sozialen Geltungsbereich: Es existieren unterschiedliche gruppenspezifische Normen bzw. Normvorstellungen in einer Sprachgemeinschaft. Einen einflussreichen Ansatz zur Beschreibung soziolinguistischer Normen hat Härtung (1977, 1987) vorgelegt, dessen Argumentation eine Vermittlung zwischen einer im strengeren Sinne linguistischen und einer im weiteren Sinne soziolinguistischen Definition von Sprachnormen ermöglicht. Er betrachtet Normen als geronnene, bewertete kommuni-
524
VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
kative Erfahrungen, die als Abstraktionen im Bewusstsein der Sprecher/Hörer existieren und deren Befolgung die Produktion bzw. Rezeption normgemäßer sprachlicher Äußerungen ermöglicht. Diese individuellen Erfahrungen der Sprecher/Hörer in der Kommunikation und die Verinnerlichung dieser Erfahrungen als Normwissen sind eine Funktion ihrer sozialen Zugehörigkeit. Das Sprach(norm)wissen des Individuums erstreckt sich grosso modo auf zwei Teilbereiche, den der im engeren Sinne linguistischen, der grammatisch-semantischen Normen, und den der im weiteren Sinne pragmatisch-kommunikativen Normen, der Normen also, die sich direkt auf den sozialen Kontext und die jeweilige Kommunikationssituation beziehen (z. B.: Wann ist eine Kommunikation überhaupt angebracht? Wer darf sie eröffnen? Welche Varietät ist auszuwählen?). Eine soziolinguistische Explikation des Normbegriffs hat Gloy (1987, 120ff.) vorgeschlagen; unter Norm versteht er einen modalen Sachverhalt: „Ein bestimmter (Handlungs-, Wert-, Denk-...) Inhalt und die Form seiner Äußerung sind nach dem Willen einer Instanz A für einen Personenkreis Β unter den Situationsbedingungen C in Bezug auf einen Zweck D mit der Begründung E erlaubt, ge- oder verboten." (Gloy 1987, 121). Gloy kommentiert seine Begriffsbestimmung folgendermaßen: „Unter die so definierten sozialen Normen fallen als Teilmenge die Sprachnormen·, sie und nicht die linguistischen Regeln sollten Gegenstand soziolinguistischer Forschung und Theoriebildung sein. Sprachnormen in diesem Sinne sind also Erwartungen und/oder explizite Setzungen modaler Sachverhalte, die ihrem Inhalt zufolge die Bildung, Verwendungsabsicht, Anwendung und Evaluation sprachlicher Einheiten der verschiedensten Komplexitäten regulieren (sollen). Diese Bestimmung geht über den Normbegriff Coserius hinaus, der innerhalb der strukturellen Sprachwissenschaften noch am deutlichsten eine soziale Interpretation versucht." (Gloy 1987, 121).
Im Unterschied zu den vorgenannten Autoren, die Sprachnormen zu definieren versuchen, unternimmt Bartsch (1987) eine empirisch geleitete soziolinguistische Rekonstruktion des Normbegriffs. Sprachnormen versteht sie als die soziale Realität sprachlicher Korrektheitsbegriffe, die über die Wahrnehmung fremden vorbildlichen Sprachgebrauchs aufgebaut werden, aus dem der Sprecher durch Abstraktion der relevanten Merkmale die Inhalte der jeweiligen sprachlichen
Normen fokussiert und konzipiert. Welche normativen Praktiken in einer Kommunikationsgemeinschaft ausgeübt werden, soll auf der Folie von Korrektheitsbegriffen empirisch rekonstruiert werden. Bartsch unterscheidet 1. die Korrektheit sprachlicher Mittel und 2. die Korrektheit des Sprachgebrauchs. Zur
Korrektheit sprachlicher Mittel (1) gehören die lautlichen Normen als Resultat eines Artikulationsvorganges (vgl. die Untersuchung von König 1989 unter 4.2.4.), die Normen der syntaktischen Korrektheit (wichtigstes Kriterium: Verständlichkeit; im Übrigen wird unterschieden: inkorrekt bezüglich der Schriftund Umgangssprache, akzeptabel in der Kommunikation mit Fremden und in bestimmten Situationen) und lexikalische Korrektheit (hier geht es um eine ,Ortholexik', die in Listen im Sinne eines Kollektiven Gedächtnisses' gespeicherten Wörter eines Lexikons, sowie um die Gliederung nach Teilwortschätzen, die die sprachliche
Arbeitstei-
lung der Sprecher einer Sprachgemeinschaft widerspiegeln). Die Korrektheit des Sprachgebrauchs (2) bezieht sich im Wesentlichen auf die semantische und pragmatische Koheränz von Texten, die in ihrer (a) Qualität, (b) Quantität, (c) Relevanz und (d) spezifischen Diskursmodalität besteht. Die von Bartsch 1987 mit linguistischer Präzision vorgenommenen Explikationen dieser Korrektheitsbegriffe dürften für eine Diagnose sozialer Varianten und Normen im Deutsch als Fremdsprache-Unterricht sehr nützlich sein. 4.
Soziale Varietäten des Deutschen
Die Beschreibung der sozialen Dimension des Sprachgebrauchs antwortet auf die grundlegende Frage: Mit welchen Formen und in welchen Funktionen schlagen sich soziale Parameter wie Alter, Geschlecht, Schicht, Situation (u. a.) im Sprachgebrauch von Sprechern systematisch nieder? Umgekehrt kann gefragt werden: Welche sprachlichen Eigenschaften sind es, die Varietäten als ,schichtspezifisch', ,geschlechtsspezifisch', jugendspezifisch', ,situationsspezifisch' ... sozial markieren? Die soziolinguistische Forschung untersucht in Beantwortung solcher Fragen die Sprachverwendung auf allen linguistischen Ebenen der Beschreibung. Die , soziale' Dimension der Variation hat man auch vertikale genannt. Soziale Schich-
525
53. Soziale Varianten und Normen
ten, wie auch immer im Einzelnen definiert, gelten als prototypischer diastratischer Faktor der Variation. Die unter ,diastratisch' zu explizierenden Varietäten sind relationale Begriffe zu ,Standardvarietät'. In der Regel befindet sich eine diastratische Varietät auch in Relation zu einem lokalen/regionalen Dialekt - zumindest trifft dies auf Gruppen- und Sondersprachen zu. Berücksichtigt man weiter die Tatsache, dass Gruppenvarietäten (z.B. Vereins-, Fach- und Berufsvarietäten) nur in bestimmten Situationen benutzt werden und schichtenspezifische Varietäten nach dem Formalitätsgrad der Situation ausgeprägt sind (vgl. hierzu die Untersuchungen von Labov), so wird deutlich, dass diaphasische Faktoren mit diastratischen einhergehen. Nabrings (1981, 89) ist daher zuzustimmen, wenn sie unterstreicht, „daß die Trennung der verschiedenen Dimensionen nur heuristischen Wert hat und eine reinliche Scheidung verschiedener Dimensionen und sprachlicher Varietäten recht problematisch ist". Die zentrale Größe der diastratischen Dimension ist die Gruppe. Mit Hilfe natürlicher Merkmale kann sie in geschlechts- oder altersspezifische differenziert werden, mit Hilfe von Operationalisierungen soziologischer Konstrukte lassen sich Schicht- oder Statusgruppen unterscheiden.,Geborenes Merkmal' der diastratischen Dimension — und insofern der Begriffsbestimmung inhärent - ist unseres Erachtens der ,Wertekonflikt'. Das Typische an diastratischen Varietäten ist ihre Symptomfunktion auf der vertikalen Skala: Werte mit dem Extremen gut vs. schlecht, prestigebesetzt vs. stigmatisiert etc. Mithilfe des geborenen Merkmals ,Wertekonflikt' lassen sich geschlechts·, alters- und schichtspezifische Varietäten als potentiell in einem gewissen Wertekonflikt zueinander stehende Varietäten auffassen. In der Tat lässt sich dies durch empirisch nachgewiesene Polaritäten erhärten: Jugend- bzw. Unterschichtvarietäten werden - verglichen mit der älteren Generation oder mit der Oberschicht — oft mit negativen Vorurteilen verbunden. Die in Untersuchungen zum geschlechtsspezifischen Sprachverhalten ermittelten Unterschiede werden als ,Wertekonflikte' formuliert. Diastratische Varietäten sind somit der sprachliche Niederschlag manifester sozialer Ordnung und der aus ihr resultierenden auffalligen Wertekonflikte (Ungleichheiten).
4.1. Der normative Bezugsrahmen: Die Standardvarietät Standardsprache oder Standardvarietät ist die Bezeichnung für eine kodifizierte Sprache, die ihre Verbindlichkeit als offizielle Nationalsprache eines Staates erhält und in der Regel prestigebesetzt ist. Es handelt sich um die deskriptive Bezeichnung für die historisch legitimierte, überregionale, mündliche und schriftliche Sprachform der sozialen Mittelbzw. Oberschicht (in diesem Sinne synonyme Verwendung mit der - wertenden — Bezeichnung „Hochsprache"). Entsprechend ihrer Funktion als öffentliches Verständigungsmittel unterliegt sie (besonders in den Bereichen Grammatik, Aussprache und Rechtschreibung) weitgehender Normierung, die über öffentliche Medien und Institutionen, vor allem aber durch das Bildungssystem sichergestellt wird. Die Beherrschung des Standards gilt als Ziel aller sprachdidaktischen Bemühungen. Für die bundesrepublikanische, schweizerdeutsche und österreichische Variante der plurizentrischen deutschen Sprache hat Amnion (1995) verbindliche orthophonetische, orthophonemische, ortholexikalische, orthosyntaktische und orthopragmatische Bedingungen formuliert (vgl. die Artikel 50 und 51). 4.2. Substandard Unter Substandard (vgl. auch Holtus/Radtke 1986-89) verstehen wir das standardnah gesprochene Deutsch, das einer Reihe von Korrektheitsbedingungen des schriftlichen Standards nicht genügt, überregionale Eigenschaften/Merkmale aufweist (mehr oder weniger der Durchschnitt der Großstadträume), in halböffentlichen und öffentlichen Situationen gesprochen wird, und zwar von Sprechern, wie sie von König (1989) in seinem „Atlas zur Aussprache des Schriftdeutschen in der Bundesrepublik Deutschland" dokumentiert wurden. Zunächst wollen wir einige Merkmale nennen, die als prototypische Merkmale des überregionalen, gesprochenen Substandards angesehen werden können: 1. Morphosyntax In Hartmann (1990, 52) wird ζ. B. die Verschmelzung als typisches Phänomen der Umgangssprache betrachtet: im Garten vs. in dem Garten', er hat-se vagessen (er hat sie vergessen) Spezifische Verteilungen von Verschmelzungstypen können nach sozialer Markiertheit klassifiziert werden (vgl. Hartmann 1990).
VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
Weitere Merkmale sind weil mit Verbzweitstellung (vgl. ausführlich hierzu Wegener 1993 und Dittmar 1997, 287ff.) in z. B. einkaufen geh ick doch lieber im westteil weil PAUSE da is ürgentwie mehr vakaufskultur (Berlin-Korpus 9. November 1989); Ausgliederung: z.B. können einem Satz Partikeln wie indessen, freilich, immerhin, nur, echt, also vorangestellt werden; die ausgegliederten Partikeln sind dann modale Operatoren, die über dem Satz operieren (auch Operator-Skopus-Strukturen genannt). Extrapositionen: In der Äußerung der Tisch, den laß mal dort drüben stehen ist das Thema links herausgestellt, mit Hilfe der flektierten Proform wird an das Thema anaphorisch angeknüpft. Die Linksherausstellung ist auch ein Mittel der Fokussierung. Mit der Rechtsherausstellung wie z. B. in er hat wieder einmal kein Glück gehabt, der Peter wird Peter rhematisch hervorgehoben. Ausrahmung: Hierunter versteht man den meist pragmatisch bedingten Nachtrag/ Kommentar im Anschluss an den rahmenschließenden infiniten Verbteil: sie ist dann wieder nach Hause zurückgekehrt, nach vielen Umwegen und mit der Bahn statt mit dem Auto. Verbspitzenstellung: Nach Auer (1993) in der überregional gesprochenen Sprache häufig anzutreffen; in der mündlichen Rede fallen häufig die Expletivpronomina es/das weg; also kann das finite Verb (an Stelle von anaphorischem/deiktischem Personalpronomen oder satzanaphorischem das) die Äußerung direkt einleiten. Prototypisch werden mit finitem Verb in Spitzenstellung Äußerungen eines bestimmten Handlungscharakters eingeleitet: Modalisierende Bezugnahmen, Bewertungen und andere Kommentierungen, Elaborierungen, konversationelle Antworten und Darstellungen von Handlungsschritten in Erzählungen. Nonstandardmuster mit mehr oder weniger überregionaler Reichweite (vgl. HennMemmesheimer 1989): Es gibt Beispiele, in denen das flektierte Pronomen oder die flektierte Pronominalphase (ihm, ihr ...) vom Substantiv abhängig ist: ihm sein Sohn hat dann geheiratet (ebd., 144). In diesem Beispiel ist das Fragepronomen bzw. das definite/indefinite Pronomen ab-
hängig von der Nominalphase; die entsprechende Standardäußerung wäre: Der Sohn von X hat dann geheiratet. Die Ausdrücke sind oft bereits mit negativen sozialen Konnotationen verbunden. 2. Lexik Die umgangssprachliche Lexik wurde im „Atlas der deutschen Umgangssprache" von Eichhoff (1978) festgehalten. Die dort angegebene areale Verteilung trifft heute nur noch teilweise zu. Hentschel (1986) und Dittmar (1997, 295ff.) belegen z. B., dass die nur für den süddeutschen Raum empirisch ausgewiesene Modalpartikel halt inzwischen neben eben im norddeutschen Raum weiträumig und systematisch verwendet wird. Allerdings werden in Dittmar (1997) auch erhebliche Sprachgebrauchsunterschiede zwischen den ,alten' und den ,neuen' Ländern (Gebiet der ,alten' Bundesrepublik Deutschland vs. ehemalige DDR) festgestellt. 3. Aussprache!Phonetik • Das empirisch fundierteste Werk ist derzeit Königs „Atlas zur Aussprache des Schriftdeutschen in der Bundesrepublik Deutschland" (1989), dessen Autor das Ziel verfolgt, „großlandschaftliche Unterschiede in der Aussprache des Schriftdeutschen zu erkunden und darzustellen. Das betrifft vor allem die Phonetik des Deutschen." (König, 8). Aus der „alten" BRD vor 1989 wurden 44 Aufnahmen ins Korpus aufgenommen (Österreich und die Schweiz fehlen). Im Wesentlichen wurden Städte berücksichtigt. Die Stichprobe entspricht dem gehobenen sozialen Mittelstand (Voraussetzung: Abitur) im Alter zwischen 30 und 40 Jahren. Folgende Kontextstile wurden erhoben: (a) Spontane Sprechweise, (b) Vorlesesprache eines zusammenhängenden Textes, (c) Vorlesesprache Wortliste, (d) Vorlesesprache Minimalpaare, (e) Vorlesesprache Einzellaute. Die von König zusammengestellten Übersichten über Konsonanten- und Vokalverwendungen in der damaligen alten Bundesrepublik Deutschland stellen die erste empirisch ermittelte überregionale Beschreibung von Ausspracheregeln dar. Im Falle der von König ermittelten Ausspracheregeln können wir von standardnaher Umgangssprache oder standardnahen Regio-
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53. Soziale Varianten und Normen
nalsprachen sprechen. Standardnahe Aussprache wird demnach sozial hoch oder niedrig (,Substandard') markiert. In diesem Sinne haben wir es bei Königs Untersuchungen mit „hoch" markierten Regeln zu tun, die ein weitverbreitetes Prestige haben. Sie sind für Deutsch als Fremdsprache als Richtnormen zu verstehen, die die traditionellen Siebschen Ausspracheregeln ablösen. 4.3. Soziolekte Kupzcak (1987, 269) betrachtet eine „Konzeption, wonach als Soziolekt nur ein solches Subsystem bzw. eine solche Varietät zu gelten hat, dessen/deren Sprechergruppe gerade mit einer von mehreren soziologisch ermittelten Sozialschicht(en) identisch ist", als für eine Begriffsbestimmung von Soziolekt grundlegend. Synonym mit , Soziolekt' wird in der englischsprachigen Literatur auch ,sozialer Dialekt' gebraucht; auf den untrennbaren Zusammenhang räumlicher (horizontaler) und sozialer (vertikaler) dialektaler Variation weisen Chambers/Trudgill hin (1980, 54). Im Zusammenhang mit der Erforschung von Stadtdialekten (neues dialektologisches Paradigma seit Labov) konnten sozial determinierte, schicht- bzw. gruppenspezifische Varietäten belegt werden, die auch als ,städtische Umgangssprachen' bezeichnet werden. Wir wollen festhalten, dass .Soziolekt' wie ,Dialekt' ein relationaler Begriff ist (Bezug zum Standard); beide Begriffe überlappen sich, da räumliche und soziale Determinanten sich wechselseitig beeinflussen. Das derzeit trennschärfste Kriterium zwischen ,Dialekt' und ,Soziolekt' ist nach Steinig die „spezifische Art der Bewertung sprachlicher Varietäten" (1976, 15). Folgende Elemente einer Definition von ,Soziolekt' führt Steinig (1976, 14f.) an: „(1) Ein Soziolekt repräsentiert das Sprachverhalten einer gesellschaftlich abgrenzbaren Gruppe von Individuen. (2) Es ist nicht notwendig, daß sich die Individuen bewußt sind, zu einer bestimmten Sprechergruppe zu gehören; entscheidend ist, daß sie von Sprechern einer abweichenden Varietät als zu dieser bestimmten Sprechergruppe zugehörig empfunden werden. (3) Soziolekte und Dialekte werden nicht als unmittelbar und objektiv feststellbare Varietäten aufgefaßt, sondern können erst durch die Erforschung der Einstellungen und Bewertungen von Sprechern gegenüber ihrer eigenen Varie-
tät und/oder der Varietät von anderen Sprechern als solche bestimmt werden. (4) Soziolekte stehen in einem engen, historisch gewachsenen Beziehungsgefüge zu Dialekten" (1976, 14f.)
Als typischer Soziolekt gilt die städtische Umgangssprache des Ruhrgebiets. Typisch für diesen Soziolekt ist die Distanzstellung zwischen deiktischem und pronominalem Zeichen für hochsprachlich verschmolzene Pronominaladverbien: (i) wir mußten in der Küche essen, da war kein platz fur im guten zimmer (ii) bin ich an die Volkshochschule gegangen und da bin ich dann so bis 1951 bei geblieben 4.4. Registerkonzeption Zwischen einem Sportkommentar, einem Gottesdienst und einer Unterrichtsstunde bestehen gewisse Unterschiede im Vokabular sowie in den syntaktischen und kommunikativen Mustern. Solche Unterschiede in der sprachlichen Tätigkeit bezeichnen wir als R e gister'. Während Aussprache und Lexik die dialektale Herkunft einer Person markieren, ist für das Register die sprachliche Tätigkeit zentral. Typische sprachliche Tätigkeiten dieser Art sind: erzählen, einkaufen, ein Einstellungsgespräch führen, mit Lehrern und Ärzten oder als Ärzte und Lehrer kommunizieren etc. Die von Halliday (1978) geprägten drei Begriffe Rede- oder Gesprächsfeld, Modalität und Stil der Rede habe ich rekategorisiert als Gesprächsthema bzw. thematische Gestaltung des Gesprächs/der Rede, Gesprächsmodalitäten und Rede-/Gesprächsstil (vgl. Dittmar 1997, 207 ff.). Der Registerbegriff in der Linguistik geht auf Firth (1957) zurück, der die Bedeutung des sprachlichen Zeichens in engem Zusammenhang mit dem sozialen Kontext sah; seine erste begriffliche und theoretische Ausarbeitung erfuhr er in Halliday/Mclntosh/Strevens (1964), einem Buch zum Englischen als Fremdsprache. Halliday et al. gehen von der Beobachtung aus, dass Ausländer, die eine zweite Sprache lernen, spezifische Fehler machen, die auf den Typ der sozialen Situation, kommunikative Aufgaben und interaktive/soziale Rollen im Kontext zurückgehen. Register sind nach Halliday (1978) der Ausdruck einer engen Verbindung zwischen Sprecher, Situation und Sprachgebrauch („variety according to the use" = diatypische Varietät).
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VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
Für jedes Register müssen lexikalische Einheiten, Typen von Ellipsen, Metaphern, aufgaben-, kontext- und rollenbezogene Parameter berücksichtigt werden, die sich auf die Interaktion beziehen. Bedeutungsorganisation und diskursiver Prozess bedingen sich im jeweiligen sozialen Kontext gegenseitig. Definition: ,Register' (auch ,diatypische Varietät') aktiviert eine semantische Konfiguration in einer gegebenen sozialen Situation in Abhängigkeit von einer spezifischen kommunikativen Aufgabe, der Beziehungsqualität zwischen Interaktanten (Rollenbeziehungen erster und zweiter Ordnung) und der Diskursmodalitäten (Austauschstruktur, kulturelles und Gattungswissen). Zu Definition und Schaubild 53.1 im Folgenden einige Kommentare:
wirken sich auf alle sprachlichen Ebenen der Realisierung von Äußerungen aus; • auf der Diskursebene wird die Austauschstruktur in Verbindung mit dem jeweils durch die Aktanten evozierten gemeinsamen und Gattungswissen organisiert; • je nach den spezifischen Anforderungen an kommunikative Aufgaben werden die Äußerungen nonverbal und grammatisch kodiert. Die genannten Ebenen wirken aufeinander ein (Interrelation pragmatischer, semantischer und grammatischer Faktoren). Eng verknüpft mit dem Registerbegriff ist der Stilbegriff (,Registerstil'). Die Durchführung kommunikativer Aufgaben ist als eine Art dynamischer Prozess zu verstehen, der durch semantische und pragmatische Feinabstimmungen (unterschiedliche Diskursgranularitäten) organisiert werden muss. Ein Sportkommentar muss vor allem in seiner sprachlichen Organisation die jeweils relevanten Sportereignisse in nachvollziehbarer Folge für den Hörer gut verständlich darstellen — wobei die Kommentatoren je nach Geschlecht, Alter oder sozio-regionaler Herkunft unterschiedliche Stile verwenden kön-
• Über Normen sind Register mit Sprachund Kommunikationsgemeinschaften verbunden; • für die Durchführung situationsadäquater interaktiver und kommunikativer Aufgaben müssen Wissen, Zweck und Perspektiven der sprachlichen Tätigkeit, die Beziehungsqualität und affektive Zustände berücksichtigt werden. Diese vier Größen
Soziale Situation Registerebene Wissen Skripts-/Muster-W. sprach!. Wissen
kommunikative Aufgabe affektive Zustände < sprechi. Tätigkeit/Thema Beziehungsqualität ι Zweck/Perspektiven (symmetrisch vs. asymmetrisch)
Κ o Ν Τ E Χ Τ
Diskursebene
Ί 'Genres' Verkaufsgespräch Einstellungsgespräch institutionelle Arbeits-/ Planungssitzungen Rechte einklagen Beschweren Erzählen Streiten
Austauschstruktur Sprecherwechsel etc.
gemeinsames Wissen (± evoziert) Diskurskontext Kontext der Situation kultureller Kontext
Kodierungsebene sprachl. Kode (Grammatik, Phonologie)
Abb. 53.1: Registerschaubild.
kinesischer Kode
andere Kodes
53. Soziale Varianten und Normen
nen. Stile verbinden sich daher prototypisch mit der personen- oder gruppenspezifischen Expressivität der jeweils durchzuführenden kommunikativen Aufgabe. Aus sozio-kognitiver Perspektive vermitteln Stile Sprecherinformationen (Geschlecht, Alter, Herkunft etc.), während Register je nach Kontext und Aufgabe sprachgebrauchsbezogene Informationen liefern. Die erfolgreiche Anwendung von Registern lässt sich an der Angemessenheit von sprachlichen Handlungen ablesen; darüber hinaus mögen Sprecher auf Grund unterschiedlicher Stile in der Durchführung der einzelnen Handlungen mehr oder weniger erfolgreich sein (soziale Wirkung, Image etc.). Im erläuterten Sinne sind Register und Stil eng miteinander verbunden - Stil ist jedoch Register (als Tätigkeit) nachgeordnet. 4.5. Stile ,Stile' beziehen sich auf das wie der Kommunikation, also die Art, in der sich Personen und Gruppen in ihrer unverwechselbaren Identität und typischen Verhaltensweise in die Kommunikation einbringen. Diese Dimension ist personen- und tätigkeitsbezogen. Register betreffen dagegen das was der Kommunikation: Die zweckbestimmte tätigkeitsund fachspezifische Sprache (,Musterwissen') eint die in ihr Kommunizierenden oder trennt sie auf Grund vorgegebenen Wissens und der damit einhergehenden Rollenspezialisierungen. Wie ich mich als Mann, Frau, Jugendlicher oder Studienrätin, Kegelvereinsmitglied oder Pastorin in alltagsweltlichen Aktionen verhalte (Ausdrucksverhalten), obliegt dem Stil, der sich aus erworbenen Habituseigenschaften und expressiver Situationsgesta/fwng zusammensetzt. Eine explizite Stildefinition ist bei der gegenwärtigen Forschungslage nicht möglich. Folgende Elemente eines soziolinguistischen Stilbegriffs, die über die letzten 20 Jahre in der Forschung als akzeptiert gelten, möchten wir hervorheben: • Die expressive Gestaltung von Äußerungen als sprachlichen Handlungen unter dem Gesichtspunkt der Bedeutungsäquivalenz, d. h. eine Aufforderung am Bahnschalter Rückfahrkarte Berlin—Hamburg (neutral) wäre äquivalent mit dem höflicheren Sprechakt Ich hätte gerne eine Rückfahrkarte Berlin—Hamburg. Pragmatische Äquivalenz ist für das Verständnis von Stil eine breitere Kategorie als die von
529 Labov favorisierte referentielle Identität, die nur wenig Spielraum für Stilvariation eröffnet. Kriterium der pragmatischen Äquivalenz ist Handlungsidentität. • Die soziostilistischen Markierungen (z.B. Geschlecht, Alter oder Schicht) unterliegen bestimmten Regeln der Kookkurrenz: Benutzt ein Sprecher jugendsprachliches ey, so ist zu erwarten, dass er auch intensivierende Ausdrücke wie krass oder total bzw. bewertende Prädikate wie geil benutzt. Das Prinzip der Kookkurrenz gilt auch für die Prosodie: Zustimmung, Ablehnung, provozierende oder ironische Sprechakte sind auch prosodisch markiert (vgl. Selting 1995). • Die Auswahl sprachlicher Mittel und ihre Kombination in Sprechhandlungen (im Sinne der Ausdrucksgestaltung untereinander äquivalenter Handlungen) führt zu einer spezifischen Stillage (stilistische Gestalt). Ausführliche Darstellungen der Ergebnisse der Stilforschung finden sich in Hinnenkamp/Selting (1989), Dittmar (1997) sowie Sandig (1995). 4.5.1. Geschlechtsspezifische Stile Die umfangreiche Literatur (Klann-Delius 1987) zum geschlechtsspezifischen Verhalten wird in Hellinger (1995) in empirische Ergebnisse und Anwendungsbereiche unterteilt. Geschlechtsspezifische Differenzierungen sind sowohl für die mündliche als auch schriftliche Kommunikation von Bedeutung: • Linguistische Form (Phonetik/Prosodie/ Morphologie): Labov, Trudgill, Ammon und andere soziale Dialektologen haben empirisch nachgewiesen, dass Frauen standardnähere, morphosyntaktisch korrektere Varianten benutzten als Männer. Der Befund gilt für verschiedene Einzelsprachen. Frauen würden sich einerseits offenbar besser an herrschende Normen anpassen, andererseits aber auf Grund ihres Engagements in der Kindererziehung den Standard als Richtnorm vorziehen. • Sozio-kognitive Aspekte: Frauen verwenden mehr Rückkoppelungssignale und halten sich in höherem Maße als Männer an vorgegebene Themen. • Gesprächsorganisation'. Frauen sind insgesamt kooperativer. Sie reagieren toleranter auf Meinungen und provozieren weniger durch Ablehnungen, Zurückweisungen. Oft schwächen sie die Aussage von Äußerungen „relativierend" durch Partikeln
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VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
oder Feedback-Signale ab, um das Gesicht des ,Anderen' nicht zu verletzen. Am Beispiel von Talkshows kannte gezeigt werden, dass Männer mehr jund längere Redebeiträge produzieren, Themen wählen und abwählen, während Frauen damit beschäftigt sind, die Konversation in Gang zu halten. Die anwendungsbezogene Forschung beschäftigt sich mit der Frage, wie sich Sprecher des Deutschen bezüglich der Geschlechtsmarkierungen verhalten sollen. Referieren wir anaphorisch auf Berufe wie Physiker, Rechtsanwalt, Wissenschaftler im Folgetext mit er oder siel Der einmal ftiit -er markierte Wissenschaftler kann im Folgenden logischerweise nicht als sie bezeichnet werden, obwohl das Gleiche bei scientist im Englischen möglich ist. Ausdrücke wie männliche Krankenschwester (male nurse) oder weiblicher Chirurg (female surgeon) haben sich im Deutschen nicht durchgesetzt. Lediglich deverbale Substantive wie Beschäftigte, Angestellte, Studierende etc. verhalten sich geschlechtsneutral (und werden daher heute zunehmend benutzt). Ein anderes Problem sind die so genannten genetischen Formen {Wähler, Steuerzahler etc.), die Frauen einschließen, ohne sie explizit zu nennen. Generelle Lösungen für das Problem der genetischen Formen gibt es nicht, aber immerhin Vorschläge, Geschlechtsmarkierungen transparent zu machen: (z. B. Bundeskanzlerl-in, Soldatl-in, Bischofl-öfln etc.). 4.5.2. Jugendspezifische Stile Während die soziolinguistische Literatur der 60er und 70er Jahre dem Sprachgebrauch der Jugendlichen defizitäre Tendenzen zuweist, bemüht sich die neuere Forschung um (wertneutrale) strukturalistische und ethnographische Diagnosen, die die Differenz zwischen jugendsprachlichem und „erwachsenem Sprachgebrauch" in Unterschieden im Lexikon, in der Syntax sowie in der Verarbeitung unterschiedlicher soziolinguistischer Stile in Äußerungen sieht. Während Henne (1986) auf der Grundlage von Fragebögen taxonomische Merkmale hervorhebt (z. B. bei Grüßen und Anreden; Sprüchen; Redensarten und Floskeln etc.), haben sich Schlobinski; Kohl; Ludewigt (1994) auf der Folie teilnehmender Beobachtung mit Gesprächsstilen von Jugendlichen befasst. Sie zeigen, dass Jugendliche sich kultureller Ressourcen der modernen Medienwelt (Comics, Filme, Theaterstücke, Werbung) bedienen, um in sprach-
spielerischen Stilen eine Art verbale Bricolage hervorzubringen, welche die oft zitierten oder imitierten kommunikativen Muster aus ihrem alten Gebrauchskontext herausholen und in einen neuen stellen, in dem diese parodiert und verfremdet werden. Kurzum: Die Jugendlichen stellen die Gültigkeit kommunikativer Ressourcen in Frage oder bedienen sich ihrer in einer neuen kreativen Weise. So entsteht ein gruppenspezifischer Stil, der Teile der Erwachsenensprache in Frage stellt, verfremdet und in eigene kommunikative Bedürfnisse inkorporiert (Definition dieses Sprachstils bei Schlobinski et al.). Wie englische Ausdrücke, bekannte Sprüche aus Medien, sozial bewertende Sprechakte, in leicht verfremdeter Form (vgl. die Verfahren der Werbung!) in alltagssprachlichen Diskursen verarbeitet werden, zeigen Schlobinski; Kohl; Ludewigt (1994) an Hand vieler Beispiele. Dabei zeigt sich auch, dass die redegliedernde Partikel ey in Form und Funktion anders verwendet wird als entsprechende äquivalente Partikeln der Erwachsenensprache (Argument für die Eigenständigkeit der Jugendsprache). Der sogenannte Bricolage-Stil der Jugendlichen erscheint mit der Verflechtung eigenständiger wie fremder kommunikativer Muster als von der diskursiven Normalform Erwachsener abweichend; somit durchbrechen kommunikative Muster jugendsprachlicher Diskurse die Normalformerwartung von Diskursen Erwachsener und schaffen eine Art innovativer Norm diskursiver Kohärenz. In der neueren Forschung werden daher folgende Eigenschaften der Jugendsprache besonders hervorgehoben (vgl. Dittmar 1997, Kapitel 5): • In rhetorischen Verfahren erschließt sich die Jugend die Erwachsenenwelt, indem sie ironisierend, verfremdend, kreativ eine Gegenwelt mit Mustern aufbaut, die sie aus dem diskursiven Kontext der Erwachsenen herausgeschnitten hat und in einem neuen Kontext anpasst. • Die Art der verbalen Verfahren spiegelt offenbar auch die lokale alltagsrhetorische Kultur einer bestimmten Region und ihres sozialen Kontextes. Dies ist am Beispiel Berlin besonders auffällig. Kulturelle Identität wird offenbar in der Schlagfertigkeit und Kreativität des Witzes gewahrt, wobei eigenständige Innovationen hinzukommen. Überregionale Merkmale sind sicher gewisse Schlüsselwörter, Stereotypen, verbale Routinen von Jugendlichen und Gesprächswörter wie ey.
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53. Soziale Varianten und Normen
• Die Obsession, mit der die Jugend Sexualität herausfordert, scheint eine jugendsprachliche Universalie zu sein. Sicher hat sie in der Hierarchie der relevanten Themen für Jugendliche besondere Bedeutung. In welcher Funktion auch immer sie in Sprachspielen thematisiert wird, sie dürfte eine tiefere Verarbeitungsfunktion in der Kommunikation von Jugendlichen haben. • Spezifische Wortfelder und Sprüche Jugendlicher sind abhängig von den regionalen und lokalen Sprachkulturen, in denen sie benutzt werden. Ehmann (1992) fand synonymen, aber auch erheblich unterschiedlichen Sprachgebrauch in Städten wie Berlin, Leipzig, München und Wien (u. a.). Anders als in süddeutschen Gegenden, in denen in der Regel auf Dialekt zurückgegriffen wird, sind die Quellen alternativer Ausdrücke in Norddeutschland stärker das Englische und andere Subsprachen des Deutschen (Gauner-, Knast-, Drogen-, Soldaten-, Sport- und Spontisprache). 4.6. Höflichkeit Höfliches Verhalten drückt sich in konventionalisierten Verhaltensmustern aus, die von den Mitgliedern einer Gesellschaft respektiert werden müssen, um nicht negativ sanktioniert zu werden. Für die Höflichkeit liegen Normen vor, die eine Berechenbarkeit von Nähe- u n d Distanzverhalten
in der K o m m u n i -
kation ermöglichen. Höflichkeit beinhaltet somit nicht nur die Achtung der fremden, sondern auch die Achtung der eigenen Person. Für die Lösung kommunikativer Probleme der Nähe und Distanz in der alltäglichen Interaktion gibt es spezifische kommunikative Muster und sprachliche Mittel. Grußformeln, Anredeformen, Mittel der Abschwächung und Verstärkung, indirekte Sprechakte, bestimmte Teile der Äußerung implizit lassende Formulierungen etc. stellen Verfahren dar, die einen kooperativen Umgang zwischen Gesellschaftsmitgliedern erleichtern sollen. Je nach Sprach- und Kommunikationsgemeinschaft, Alter, Geschlecht, Status, Ansehen etc. folgen diese Verfahren unterschiedlichen Normen. Mit dem Konzept der Höflichkeit verbindet sich im breiten Sinne die grammatische Kodierung des sozialen Status und der Intimitätsbeziehung von Sprecher, Hörer und Dritten, insbesondere die der hohen sozialen Ränge (vgl. im Deutschen die Verwendung von du vs. Sie sowie
von Vornamen vs. (Titel und) Familienname). Eine Übersicht über Verfahren der Höflichkeit findet sich in Brown/Levinson (1987) und - stärker auf das Deutsche bezogen - in Held (1995). 5.
Ausblick
Welche Kenntnisse brauchen Lerner/Studenten des Deutschen als Fremdsprache über Normen und soziale Varianten? Sie sollten wissen, dass • Regeln der hochsprachlichen deutschen Grammatik zur Verständigung in sozialen Situationen keinesfalls ausreichen: Es werden Wörter, syntaktische und semantische Eigenschaften sowie Formulierungen für verschiedene Register in institutionellen und anderen Situationen benötigt; • die Normen für Register von Kontext zu Kontext leicht variieren können, wobei es für eine Sprachgemeinschaft verbindliche Normen für solche Register gibt; • kommunikative Muster für Kernregister (ζ. B. Fahrkarten lösen etc.) als prozedurales Wissen (metakommunikative Muster zur Aneignung der genannten Formulierungen) zur Verfügung gestellt werden sollten; • die wesentlichen Eigenschaften der deutschen Umgangssprache vermittelt werden sollten; einige von ihnen sollten auch produziert werden können. Empirisch und didaktisch abgesicherte Vorschläge zur Didaktisierung zentraler Eigenschaften der gesprochenen Sprache liegen allerdings noch nicht vor; es sollte den Lernern nahe gelegt werden, sich bei Benutzung der Umgangssprache nicht das Image von Muttersprachlern geben zu wollen; • Varianten geschlechtsspezifischer und jugendspezifischer Stile sowie soziolektale Merkmale möglichst in ihrem sozialen Wert und ihren Verwendungsweisen bekannt sein sollten; Aneignung zwecks Verwendung ist nicht anzuraten. 6.
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(Deutschland) (Deutschland)
54. Fachsprachen
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54. Fachsprachen 1. 2. 3. 4. 5. 6.
1.
Status und Definition(en) von Fachsprachen Verwendungseigenschaften von Fachsprachen Systemeigenschaften von Fachsprachen Didaktisierung von Fachsprachen Verweise Literatur in Auswahl
Status und Definition(en) von Fachsprachen
1.1. Fachsprachen als Ergebnis und Ausdruck sprachlicher Differenzierung Sprachen leben nicht in Grammatiken und Wörterbüchern, sondern in ihrer ständigen Verwendung durch den Menschen. Sprachverwendung bei der Mitteilung von Empfindungen und Gedanken (kommunikative Funktion) wie auch beim Gewinn neuer Einsichten und Erkenntnisse (kognitive Funktion) führt zu Sprachwandel und Sprachdifferenzierung. Den Sprachwandel erfasst die Sprachwissenschaft in diachronischer Betrachtung als Sprachgeschichte sowohl sprachübergreifend als auch einzelsprachlich in Disziplinen wie historische Phonetik, historische Morphologie, historische Syntax oder historische Lexikologie. Die Sprachdifferenzierung ist in erster Linie Gegenstand der synchronischen Betrachtung von Einzelsprachen in Disziplinen wie Stilistik, Dialektologie und Soziolinguistik. In neuerer Zeit, deutlicher erkennbar seit den 60er Jahren des 20. Jh.s, hat sich auch die Fachsprachenforschung der Analyse sprachlicher Differenzierungsprozesse und ihrer Resultate angenommen. Die Untersuchung und Beschreibung sprachlicher Differenzierung hat ihren Ausgang von ganz unterschiedlichen Positionen genommen und auch ganz unterschiedliche Merkmale zu Differenzierungskriterien erhoben. Grob vereinfachend lässt sich sagen: Für die Stilistik sind Zweck und Wirkung ausschlaggebend; die Dialektologie geht von der räumlichen Verbreitung aus; die Soziolinguistik interessiert sich für die Sprachverwendung in bestimmten gesellschaftlichen Schichten oder Gruppen; für die Fachsprachenforschung steht bzw. stand lange Zeit der Kommunikationsgegenstand im Vordergrund. Bei näherem Hinsehen und vor allem auch bei diachronischer Betrachtung ergeben sich allerdings ζ. T. beträchtliche Überschneidungen zwischen den sog. Diasystemen oder
Sprachvarietäten, z.B. Soziolekt und Dialekt, Dialekt und Fachsprache, Fachsprache und Gruppensprache. In der Fachsprachenforschung werden neben dem Kommunikationsgegenstand zunehmend auch die Kommunikationspartner mit ihren Kommunikationsabsichten, die Kommunikationssituationen u. a. Faktoren berücksichtigt, ζ. B. das Kommunikationsmedium, die Kommunikationsgemeinschaft; die Statusfunktion, die internationale Rezeption usw. Da die Fachsprachenforschung sich relativ spät konstituiert hat und viele ihrer Vertreter sie zunächst neben oder im Rahmen der (Funktional-)Stilistik, der Soziolinguistik oder anderer linguistischer Disziplinen wie Lexikologie und Lexikographie, Terminologiearbeit, Übersetzungswissenschaft, ja sogar Rhetorik, Hermeneutik, Sprachkritik und Sprachdidaktik betrieben haben, sind recht unterschiedliche Vorstellungen vom Status der Fachsprachen entstanden, die ihren Ausdruck in unterschiedlichen Definitionen von Fachsprache und später Fachkommunikation gefunden haben. Die wichtigsten sollen im Folgenden knapp vorgestellt werden. 1.2. Fachsprachen als Funktionalstile bzw. Funktionalsprachen Sieht man von der „klassischen" Stilistik mit ihren Stilschichtmerkmalen (ζ. B. poetisch gehoben - neutral — salopp - vulgär) ab, dann sind Differenzierungskriterien der Stilklassifikation vor allem Zweck und Wirkung der sprachlichen Äußerung; Untersuchungsund Beschreibungsgegenstand ist die Funktion bzw. Wirksamkeit der sprachlichen Mittel bei der Erfüllung des jeweiligen Zwecks. Die zweck- und wirkungsorientierte Funktionalstilistik wurde besonders deutlich von der Prager (z.B. Havránek 1932; 1942; Benes 1969; 1981) und der Moskauer (z.B. Riesel 1963; Kozina 1966; 1972) Schule repräsentiert; sie ist von der deutschen Fachsprachenforschung vor allem in der DDR rezipiert (z.B. Gläser 1979) und kritisch verarbeitet (vgl. Hoffmann 1987,31-44; Gläser 1998) worden. Gegenwärtig spielt sie nur noch eine geringe Rolle. Charakteristisch für die begriffliche Entwicklung in der funktionalstilistischen Konzeption ist die Triade Funktionalsprache — Funktionalstil — Fachstil. Die Vertreter der Prager Schule unterscheiden zunächst vier Funktionen der Literatursprache:
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(1) die kommunikative, (2) die praktisch spezielle, (3) die theoretisch spezielle, (4) die ästhetische. Den vier Funktionen sind vier funktionale Sprachen zugeordnet: (1) die Alltagssprache, (2) die Sachsprache, (3) die wissenschaftliche Sprache, (4) die poetische Sprache. Die Fachsprachen sind hier in (2) und (3) zu suchen. Die Weiterführung hin zu einer bestimmten Anzahl von funktionalen Stilen hat die Moskauer Schule am konsequentesten betrieben: (1) Stil des öffentlichen Verkehrs, (2) Stil der Wissenschaft, (3) Stil der Publizistik, (4) Stil des Alltagsverkehrs, (5) Stil der künstlerischen Literatur. Hier hat die Fachsprachenforschung an (2) angeknüpft und es war nur ein kleiner Schritt vom Funktionalstil der Wissenschaft (wissenschaftlichen Stil) zum Fachstil. Wie nahe beide beieinander liegen, zeigen zwei verbreitete Definitionen, nämlich die des Funktionalstils als „bestimmtes System sprachlicher Mittel, die zu einem bestimmten Zweck unter bestimmten Bedingungen der sprachlichen Kommunikation verwendet werden" (Mitrofanova 1973, 11), und die des Fachstils als „für die Gestaltung eines Fachtextes charakteristische Auswahl und Anordnung sprachlicher Mittel, die in einem Gesamtzusammenhang von Absicht, Inhalt, Form und Wirkung der Aussage fungieren" (Gläser 1979, 26). Eine Gleichsetzung von Funktionalstil (insbes. Wissenschaftsstil) bzw. Fachstil und Fachsprache ist expressis verbis nie erfolgt, wohl aber so lange praktiziert worden, wie wissenschaftliche Texte nur im Rahmen der Stilistik und im Vergleich mit künstlerischen Texten beschrieben worden sind. Der Hauptmangel dieser Vorgehensweise lag darin, dass sie ihre Aufmerksamkeit auf allgemeine Merkmale und Gemeinsamkeiten von Fachsprachen konzentrierte, deren innere Differenziertheit aber unbeachtet ließ. 1.3. Fachsprachen als Varietäten Wenn davon die Rede ist, dass einzelne Menschen, besonders aber größere oder kleinere Gemeinschaften ihre Nationalsprache (Einzelsprache) unterschiedlich gebrauchen, dann operiert die Sprachwissenschaft mit Begriffen wie Varietät, Lekt, Subsprache, Existenzform u. a. m. Der Terminus Varietät betont die Abweichung von einem bestimmten Standard, der Terminus Lekt die besondere Lesart oder Sprechweise, der Terminus Subsprache die Unterordnung unter ein größeres Ganzes, der Terminus Existenzform die relative Selbständigkeit einer speziellen Teilmenge der Ge-
samtsprache. Voraussetzung für die Wahrnehmung von Varietäten ist das Auftreten einer hinreichenden Anzahl gemeinsamer Merkmale, durch die sich die eine Varietät von den anderen unterscheidet, ohne dass dabei völlig unterschiedliche Teilsprachen der Gesamtsprache entstehen müssen. Variation der Gesamtsprache ist vielmehr ein Kontinuum mit unterschiedlichen Variationsgraden. Dennoch tritt das Kontinuum als etwas Gegliedertes, Diskontinuierliches mit Verschiedenheiten in der sprachlichen Form und Struktur, eben in Gestalt von Varietäten auf. Die traditionelle Klassifizierung hat mit drei Arten von Varietäten gearbeitet: regionale (Dialekte), soziale (Soziolekte) und funktionale bzw. situative (Funktionalstile; Register) Varietäten. In der neueren Literatur werden diese als diatopische bzw. geographische, diastratische bzw. soziale und diaphasische bzw. funktional-kontextuelle Varietäten bezeichnet. Die Fachsprachen lassen sich am ehesten der dritten Klasse zurechnen, wenn man damit auch nicht allen ihren Besonderheiten gerecht wird. Vernachlässigt werden dabei vor allem die Spezifik des Kommunikationsgegenstandes und die innere Differenziertheit der Fachsprachen. In der Verallgemeinerung „zeichnet sich eine sprachliche Varietät dadurch aus, daß gewisse Realisierungsformen des Sprachsystems in vorhersehbarer Weise mit gewissen sozialen und funktionalen Merkmalen der Sprachgebrauchssituation kookkurieren. Wenn eine Menge von gewissen miteinander kongruierenden Werten für bestimmte sprachliche Variablen (d. h. gewisse Realisierungen gewisser Formen, die in der Gesamtheit der Sprache mehr Realisierungen zulassen) zusammen mit einer gewissen Menge von Merkmalen auftreten, die die Sprecher und/oder die Gebrauchssituationen kennzeichnen, dann können wir eine solche Menge von Werten als sprachliche Varietät bezeichnen" oder „eine Varietät als Subsystem eines Systems mit einer ihr eigenen Norm [...] verstehen" (Berruto 1987, 264 f.). Das träfe in einem sehr weiten Sinne auf die Produktion und Rezeption von Fachtexten durch Fachleute im Zusammenhang mit ihrer fachlichen Tätigkeit zu und käme der Auffassung von Fachsprachen als Subsprachen nahe. Die Fachsprachen wären in dieser Sicht Varietäten, die in der Summe mit allen anderen Varietäten die National· bzw. Gesamteinzelsprache ausmachen und in ihr einen gemeinsamen Kern haben. Näheres zu den Varietäten s. Halliday/Mcln-
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54. Fachsprachen
tosh/Strevens (1964,81-98); Baily (1973); Klein (1974); Nabrings (1981); zum Verhältnis von Varietäten und Fachsprachen s. Adamzik (1998); Ammon (1998). Varietätenorientiert sind die beiden folgenden, auf Sprachfunktionen und zweckorientierten Handlungen aufbauenden Fachsprachendefinitionen, auch wenn das nicht explizit erklärt wird und sie in ihrer Terminologiewahl unabhängig scheinen: „Wir verstehen unter Fachsprachen heute die Variante der Gesamtsprache, die der Erkenntnis und begrifflichen Bestimmung fachspezifischer Gegenstände sowie der Verständigung über sie dient und damit den spezifischen kommunikativen Bedürfnissen im Fach allgemein Rechnung trägt. [...] Entsprechend der Vielzahl der Fächer, die man mehr oder weniger exakt unterscheiden kann, ist die Variante ,Fachsprache' in zahlreichen mehr oder weniger exakt abgrenzbaren Erscheinungsformen realisiert, die als Fachsprachen bezeichnet sind" (Möhn/Pelka 1984, 26). Bei der Anwendung dieser Definition spielen fachliche Sprachverwendungssituationen mit ihren Fachtexten eine entscheidende Rolle. Und: „Fächer sind Arbeitskontexte, in denen Gruppen von fachlichen zweckrationalen Handlungen vollzogen werden. Fachsprachen sind demnach sprachliche Handlungen dieses Typs sowie sprachliche Äußerungen, die konstitutiv oder ζ. B. kommentierend mit solchen Handlungen in Verbindung stehen" (von Hahn 1983, 65). 1.4. Fachsprachen als Subsprachen Werden Fachsprachen als Subsprachen interpretiert, dann tritt gegenüber Kommunikationsabsicht und Kommunikationshandlung, gegenüber Funktion und Situation der Kommunikationsgegenstand in den Vordergrund. Mit Hilfe dieses Kriteriums lässt sich jeder Text einem bestimmten Sachgebiet oder Kommunikationsbereich und damit einer bestimmten Subsprache zuweisen. Auch die Abgrenzung der Subsprachen gegeneinander auf Grund des Kommunikationsgegenstandes bzw. der in den Texten behandelten Themen ist einfacher als bei den Varietäten. Die Vielzahl der Gegenstände bzw. Themen lässt eine weitreichende Differenzierung zu. Allerdings verlaufen die Grenzen auch hier nicht ganz scharf; denn ein und derselbe Gegenstand oder Vorgang, z.B. ein Fahrzeug, ein Gemälde, eine chemische Reaktion, eine Erkrankung, können in unterschiedlichen Kom-
munikationsbereichen und (Fach-)Texten von unterschiedlichen Standpunkten oder von einem interdisziplinären Ansatz aus behandelt werden. Subsprachen sind Teil- bzw. Subsysteme des gesamten Sprachsystems, die in den Texten bestimmter, ζ. T. sehr spezieller Kommunikationsbereiche aktualisiert werden. Man kann auch sagen: Subsprachen sind ausgewählte Mengen sprachlicher Elemente und ihrer Relationen in Texten mit eingeschränkter Thematik (vgl. Hoffmann 1998a, 190). In den englischsprachigen Arbeiten über diese Problematik ist oft die Rede von einem reduzierten
Sprachgebrauch.
Als Beispiel da-
für sei eine von vielen Definitionen angeführt: „Factors which help to characterize a sublanguage include (i) limited subject matter, (ii) lexikal, syntactic and semantic restrictions, (iii) „deviant" rules of grammar, (iv) high frequency of certain constructions, (v) text structure, (vi) use of special symbols. [...] This notion of sublanguage is like that of subsystem in mathematics" (Lehrberger 1982, 102f.). Diese und ähnliche Aussagen über das Wesen und die Eigenschaften von Subsprachen enthalten drei Hauptbestandteile: (a) einen pragmatischen (organized part of the real world; science subfield); (b) einen semantischen (lexical, semantic restrictions), (c) einen syntaktischen (restricted grammar), wobei der erste die beiden anderen determiniert. Mit science subfield wird jener Kommunikationsbereich hervorgehoben, der auch im Mittelpunkt des Interesses der Fachsprachenforschung steht. Das Konzept der Subsprachen ist in modifizierter Form auch in die deutsche Fachsprachenforschung eingegangen, was an der folgenden Definition zu erkennen ist: „Fachsprache - das ist die Gesamtheit aller sprachlichen Mittel, die in einem fachlich begrenzbaren Kommunikationsbereich verwendet werden, um die Verständigung zwischen den in diesem Bereich tätigen Menschen zu gewährleisten" (Hoffmann 1987, 53). Näheres zu den Subsprachen s. bei Kittredge/Lehrberger (1982); Hoffmann (1987, 47-71); zum Verhältnis von Fachsprachen und Subsprachen s. Hoffmann (1998a). 1.5. Fachsprachen als Gruppensprachen Korreliert man Varietäten oder Subsprachen mit sozialen Schichten oder Gruppen, dann rücken die Fachsprachen in die Nähe von Soziolekten; denn diese werden u. a. definiert als Subsysteme oder Varietäten, deren Spre-
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chergruppen mit bestimmten von der Soziologie ermittelten Sozialschichten identisch sind. Die Besonderheiten der Fachsprachen werden dann vorwiegend danach bewertet, inwiefern sie wegen ihrer Gruppentypik bzw. soziolektalen Markiertheit ihre Benutzer als Vertreter eines bestimmten Faches und gleichzeitig als Angehörige einer bestimmten sozialen Gruppe erkennen lassen (vgl. Kubczak 1987,269ff.). Mit anderen Worten: Fachsprachen erhalten den Status von Gruppensprachen. Zu ihrer Symbolfunktion kommt die Symptomfunktion hinzu. Sie trägt dazu bei, Gruppen von Fachleuten gegen Laien, aber auch untereinander, abzugrenzen und gleichzeitig die Mitglieder der Gruppen enger aneinander zu binden. So entsteht sprachliche Gruppenidentität auf mehreren Ebenen: vom streng wissenschaftlichen Sprachgebrauch in fachinternen Publikationen bis hin zum Fachjargon in der mündlichen Fachkommunikation. Fachextern, d. h. gegenüber Laien, ist die Verwendung von Fachsprache, ja schon der Gebrauch von Fachtermini, dazu angetan, Autorität, Sozialprestige oder auch soziale Dominanz zu schaffen, z. B. bei Ärzten, Juristen oder hoch spezialisierten Handwerkern. Für extreme Formen der Abgrenzung steht der Begriff der Sprachbarrieren, mit dem Kommunikationskonflikte oder einfach Verstehens- und Verständigungsschwierigkeiten bezeichnet werden (vgl. Fluck 1991, 198 ff.). Auf den Punkt gebracht wird die gruppensprachliche Position in Formulierungen wie: „Das Fach ist personal gesehen die Gruppe der Experten". „Eine Fachsprache ist das sprachliche System der Experten oder kurz das Expertensystem" (Wichter 1994,42 f.). Ihre Bekräftigung findet sie in der folgenden Feststellung: „Die relative Isolierbarkeit der Expertengruppe und des zugehörigen Sprachausschnittes rechtfertigt in vielerlei Hinsicht eine gesonderte Betrachtung des Wechselverhältnisses von Fachsprache und Gruppe. Primär ist dabei die sprachliche Manifestation von für die Expertengruppe einschlägigen Wirklichkeitsausschnitten, welche die Gruppenmitglieder bindet und orientiert. Versprachlichungen im Verlauf der Gruppengeschichte belegen, dass mit der Entwicklung der Eigenperspektive einer Expertengruppe zugleich ein hohes Innovationspotential für die Sprachgeschichte gegeben ist. Folge dieses in der fortschreitenden Arbeitsteilung begründeten Resultats und Geschehens ist zugleich
eine ausgeprägte Exklusivität, Hermetik, zu deren Überwindung es erheblicher mentaler und sprachlicher Aufwendungen bedarf, um eine die Grenzen der Expertengruppe erweiternde, d. h. fachexterne Kommunikation [...] gelingen zu lassen" (Möhn 1998, 151). Näheres zur Gruppe s. Fisch (1987); zum Verhältnis von Fachsprache und Gruppensprache s. Möhn (1998). 1.6. Andere Statusbestimmungen Neben den skizzierten vier Auffassungen vom Status der Fachsprachen gibt es eine Reihe anderer, die diese variieren oder auch auf bestimmte Kommunikationsbereiche und Sprechergruppen einengen. Fachsprachen als Register sind — im klassischen angelsächsischen Verständnis - funktionale Varianten des Sprachgebrauchs in der Fachkommunikation, die primär durch fachliche Situationen determiniert sind. Sie liegen zwischen Funktionalstilen und Varietäten. Näheres s. Hess-Lüttich (1998). Fachsprachen als Wissenschaftssprachen zu betrachten bedeutet, dass der Gegenstand der Betrachtung einerseits auf die Kommunikation und damit auf die Funktion von Sprache in der Wissenschaft allgemein und in einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen eingeschränkt wird. Andererseits erfolgt eine Erweiterung von der kommunikativen auf die kognitive Funktion, d. h. auf die Rolle der Sprache als Erkenntnisinstrument bzw. auf das Verhältnis von Denken und Sprache. Näheres s. Kretzenbacher (1992; 1998). Fachsprachen als Techniksprachen verdienen insofern eine besondere Würdigung, als sie eine wesentliche Komponente in der Menschheitsentwicklung und in der Geschichte der Zivilisation darstellen. Schon im Fachwortschatz lassen sich einzelne Reflexe und ganze Innovationsschübe aus dem Bereich der Technik erkennen, die bis in die Ur- und Frühgeschichte zurückreichen. In neuerer Zeit interessiert vor allem die Stellung zwischen Theorie und Praxis, z. B. die Wechselwirkungen von Naturwissenschafts-, Handwerks- und Alltagssprache(n). Näheres s. Jakob (1998). Fachsprachen als Institutionensprachen können als institutionell verfestigte Gruppensprachen interpretiert werden. Berufssprachen schließlich tragen Merkmale von Funktionalstilen, Varietäten und Gruppensprachen in unterschiedlicher Mischung. So unterschiedlich die Versuche zur Bestimmung des Status von Fachsprachen und
54. Fachsprachen die damit verbundenen Beschreibungen ihrer Spezifik ausgefallen sein mögen, gemeinsam ist ihnen die Zuweisung eines ausgeprägten Sonderstatus. Besonderes aber ergibt sich gewöhnlich aus Vergleichen. Verglichen wurden Fachsprachen von Anfang an mit der Gemeinsprache, was immer man darunter verstanden haben mag: Umgangssprache, Literatursprache, allgemeinen bzw. durchschnittlichen Sprachbesitz, „Nichtfachsprache" usw. Die Dichotomie Fachsprache/Gemeinsprache war lange Zeit ein zentrales Thema der Fachsprachenforschung. Konkrete Vergleiche scheiterten jedoch am Fehlen einer einheitlichen Definition des Phänomens .Gemeinsprache' und den damit verbundenen Abgrenzungsproblemen (vgl. Hoffmann 1987, 48ff.; 1998d; Fluck 1991, 196ff). Von gewissem sprachhistorischem Interesse mag nach der Erforschung der Prozesse der Terminologisierung und Entterminologisierung - die Bereicherung der Lexik durch Fachwortschätze sein. Mit der Schwerpunktverlagerung vom Terminus zum Text hat das Thema jedoch an Attraktivität verloren. Eine neue Dimension könnte sich eröffnen, wenn es gelänge, dem relativ klar definierten Fachtext mit seinen leicht fassbaren Fachtextsorten einen eben solchen gemeinsprachlichen Text und die dazugehörigen Textsorten gegenüberzustellen.
2.
Verwendungseigenschaften von Fachsprachen
Sieht man von der überholten, ζ. T. puristischen Denunziation der Fachsprachen als verderbter, fremdbestimmter, sinnverdunkelnder Sprachgebrauch, als „schlechter Stil", „Fachchinesisch", „Babuismus", „Jargon" usw. ab, dann werden ihnen überwiegend positive Eigenschaften zugeschrieben und es wird der Versuch unternommen, diese mit konkreten sprachlichen Phänomenen zu belegen. So hat schon die Funktionalstilistik den wissenschaftlichen Stil in Begriffen beschrieben wie Sachlichkeit, Objektivität, Logik; Exaktheit, Klarheit, Fasslichkeit; Kürze, Informationsdichte u. ä. (vgl. Hoffmann 1987,42). Aus der Terminologiearbeit stammen Gütemerkmale wie Fachbezogenheit, Begrifflichkeit, Exaktheit, Eindeutigkeit, Eineindeutigkeit, Selbstdeutigkeit, Knappheit, stilistische Neutralität: „Unter Fachbezogenheit ist sowohl die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Fachsprache und ihrem terminologischen System als auch
537 die besondere kommunikative Funktion bei der Lösung spezifischer Aufgaben mit spezifischen Methoden des jeweiligen Fachgebietes zu verstehen. Begrifflichkeit bedeutet, dass der Terminus sprachliches Zeichen für einen Begriff, also für ein Grundelement rationalen Denkens, ist. Die Exaktheit des Terminus ergibt sich aus seiner Definition oder Beschreibung, die die Abgrenzung gegenüber anderen Termini gewährleistet. Eindeutigkeit heißt, dass der Terminus als Element der Terminologie einer Fachsprache eine ganz bestimmte Erscheinung, einen ganz bestimmten Begriff bezeichnet. Eineindeutigkeit ist die umkehrbare Zuordnung von Bezeichnendem und Bezeichnetem, d. h., der Terminus bezeichnet nur eine Erscheinung und diese Erscheinung hat nur diesen einen Terminus als Benennung. Mit Selbstdeutigkeit ist gemeint, dass der Terminus keinen Kontext braucht, um verstanden zu werden. Seine Bedeutung ergibt sich aus dem Platz des Terminus im System und seinen Relationen zu den anderen Termini [...] Die Forderung nach Knappheit ist gleichbedeutend mit dem Streben nach Kürze auf der Ausdrucksebene, nach Sprachökonomie" (Hoffmann 1987, 163 f.). In der neueren Fachsprachenforschung sind Charakterisierungen wie Anonymität, Explizität u. a. hinzugekommen (vgl. von Hahn 1983, 113ff.), die sich eher auf die Syntax beziehen. Es wird aber auch immer häufiger angemerkt, dass es sich bei all diesen Verwendungseigenschaften weniger um existente als vielmehr um zu postulierende Qualitäten handelt. Insbesondere wird die früher verpönte Vagheit (als Gegenpol zur Exaktheit) nicht nur toleriert, sondern als Voraussetzung für den Fortschritt des wissenschaftlichen Denkens geradezu gefordert. Ähnliches gilt für die besonders von der Terminologienormung bekämpfte Polysemie, Synonymie und Homonymie. (Näheres zum gesamten Problemkomplex s. Hoffmann/Kalverkämper/ Wiegand 1998, Kap. V). Der entscheidende Mangel an den älteren Auffassungen über Sprachverwendung waren ihre unzulässigen Verallgemeinerungen in Bezug auf Funktionalstile, Varietäten, Register und Subsprachen, bei denen die innere Differenziertheit der Fachsprachen nach vertikalen Schichten, Textsorten, Sprachverwendungssituationen u.a. funktionalen und strukturellen As-
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pekten übersehen oder zumindest vernachlässigt wurde. Explizität z.B. mag in wissenschaftlichen Zeitschriftenaufsätzen und vor allem in Lehrbüchern am Platze sein; in Lexikonartikeln, Abstracts oder Fachgesprächen am Arbeitsplatz ist sie es nicht.
3.
Systemeigenschaften von Fachsprachen
3.1. Textuelle Eigenschaften Nachdem sich das Interesse der Fachsprachenforschung lange Zeit auf den Fachwortschatz bzw. die Terminologie und auf einige andere grammatische und stilistische Besonderheiten der Fachsprachen konzentriert hatte, setzte sich im Laufe der 80er Jahre endgültig die Erkenntnis durch, das sich Wesen und Spezifik der Fachsprachen nur durch eine ganzheitliche, komplexe und differenzierte Analyse von Fachtexten unterschiedlichster Art ergründen lassen (vgl. z. B. Kalverkämper 1983; 1987; Hoffmann 1988). In der Folge etablierten sich Begriffe wie strukturell-funktionale Einheit, (Fach-) Textin-Funktion, kommunikativ-pragmatische Einbettung, Handlungjsorientiertheit und die strengere Unterscheidung und gleichzeitige Beziehungsstiftung Zwischen Textexterna und Textinterna. Fachtexjte werden zudem in drei große situative Zusammenhänge eingeordnet: die fachinterne, die ) interfachliche und die fachexterne Kommunikation. Die fachtextlinguistische Sicht ist - mit unterschiedlichen Akzentsetzungen - in die folgenden Definitionen eingegangen: „Der Fachtext ist Instrument und Resultat der im Zusammenhang [mit einer spezialisierten gesellschaftlich-produktiven Tätigkeit ausgeübten sprachlich-kommunikativen Tätigkeit. Er bildet eine strukturell-funktionale Einheit (Ganzheit) und besteht aus einer endlichen und geordneten Menge pragmatisch, semantisch und syntaktisch kohärenter Sätze (Texteme) oder satzwertiger Einheiten, die als komplexe sprachliche Zeichen komplexen Aussagen im Bewusstsein des Menschen und komplexen Sachverhalten in der objektiven Realität entsprechen" (Hoffmann 1988, 119, 126). „Als Ergebnis einer kommunikativen Handlung ist der Fachtext eine zusammenhängende, sachlogisch gegliederte und abgeschlossene komplexe sprachliche Äußerung, die einen tätigkeitsspezifischen Sachverhalt widerspiegelt, situativ adäquate sprachliche
Mittel verwendet und durch visuelle Mittel, wie Symbole, Formeln, Gleichungen, Graphika und Abbildungen ergänzt sein kann" (Gläser 1990, 18). „Wir betrachten Fachtexte als ,Fachtextein-Funktion'. Darunter wollen wir komplexe Einheiten verstehen, die sich einerseits aus sozialen, situativen und thematischen Faktoren und andererseits aus den dadurch bedingten textstrukturellen, stilistischen und formalen Merkmalen zusammensetzen. Diese Fachtexte-in-Funktion sind folglich das Ergebnis des funktionalen Zusammenspiels von Textinterna und Textexterna. Dabei werden die Interaktionsbeziehungen zwischen den Kommunikationspartnern sowie der Fachlichkeitsgrad der Darstellung auf sprachlich spezifische Weise im Fachtext zum Ausdruck gebracht" (Baumann 1992, 9). Fachlichkeit und Fachlichkeitsgrad der Texte sowie Fachsprachlichkeit sind mittlerweile zu zentralen Kategorien der Fachtextlinguistik geworden. Dabei wurden im Rahmen eines hoch komplexen Ansatzes acht Dimensionen der Fachlichkeit von Texten beschrieben: eine interkulturelle, eine soziale, eine kognitive, eine inhaltlich-gegenständliche, eine funktionale, eine textuelle, eine stilistische und eine semantische (vgl. Baumann, 1994, 67-135). Die textuellen Eigenschaften von Fachsprachen werden vor allem an der Makrostruktur, d. h. der Hierarchie oder zumindest der Abfolge von Teiltexten, und an der Kohärenz bzw. Kohäsion abgelesen, pragmatisch am Referenzbezug auf Gegenstände des Faches, semantisch an Isotopieketten, Isotopiesträngen und semantischen Feldern, syntaktisch an der Thema-Rhema-Gliederung (vgl. Hoffmann 1990, 10; 1998b). Durch den Vergleich von Fachtexten im Rahmen repräsentativer Korpusanalysen, in dem weitere Merkmale berücksichtigt werden, gelangt man zu einer relativ sicheren Klassifikation von Fachtextsorten, die in vielem praktische Erfahrungen mit verschiedenen Arten von Fachpublikationen bestätigt, z. B. Monographien, Zeitschriftenaufsätze, Lexikonartikel, Rezensionen, Abstracts, Patentschriften, Standards, Bedienungsanleitungen, Beipackzettel u. a., gleichzeitig aber zu einer weiteren Differenzierung und zu einer Korrelation mit der vertikalen Schichtung der Fachsprachen führen kann (vgl. Möhn/Pelka 1984; Gläser 1990; Hoffmann 1990a; Baumann 1992). Ein wichtiger Ausgangspunkt ist hier die Unterscheidung von
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dominanten Textfunktionen, wie deskriptive, instruktive und direktive Funktion, und ihren Kombinationen. Zur Definition von Fachtextsorten s. Gläser (1990,29); Hoffmann (1990a, 11); zu ihrer Typologie s. Göpferich (1995). 3.2. Lexikalisch-semantische Eigenschaften Ergeben sich Makrostruktur und Kohärenz in erster Linie aus der kommunikativen Funktion von Fachtexten, so steht die Fachlexik, insb. die Terminologie, für die Gegenstände des Faches sowie für die Fachlichkeit seiner Texte und mit ihr wird ein wesentlicher Teil der kognitiven Funktion der Fachsprachen realisiert. Deshalb wurden an ihr des Öfteren der Fachlichkeitsgrad und die Fachsprachlichkeit überhaupt beschrieben (vgl. Baumann 1994,42f., 131 ff.). In älteren Untersuchungen überwog das Bestreben, Fachwortschätze aus Fachtexten zu isolieren und nach unterschiedlichen Gesichtspunkten zu ordnen. Solche Gesichtspunkte waren z.B. die Produktivität der Wortbildung (Derivation, Komposition, Konfigierung), die Verwendungshäufigkeit von Einzelwörtern und ganzen Wortklassen, die Gruppierung zu semantischen Feldern, die Zuordnung von Benennungssystemen zu Begriffssystemen und nicht zuletzt die Aufnahme in Fachwörterbücher. Sie entsprachen den Interessen einzelner wissenschaftlicher Disziplinen wie Lexikologie und Morphologie, Sprachstatistik, lexikalische Semantik, Terminologiearbeit, Lexikographie und wurden später in der Fachsprachenforschung zusammengeführt. Angewandt wurden sowohl das semasiologische als auch das onomasiologische Prinzip. Neben der Analyse der formalen Konstituenten stand gelegentlich die Segmentierung in semantische Komponenten. Als Ergebnisse lexikalisch-semantischer Untersuchungen liegen vor: Übersichten über die in den Fachsprachen besonders produktiven Suffixe und Wortbildungsmodelle; Häufigkeitswörterbücher und -listen für einzelne Fächer und ganze Fächerkomplexe; thematische Wortlisten und teilweise hierarchisierende Darstellungen semantischer Felder; Fachthesauri; Fachwörterbücher usw. Fachwortschätze bzw. Fachterminologien und ihre Eigenschaften sind zusammenfassend und verallgemeinernd in allen einzelsprachlichen und übereinzelsprachlichen Fachsprachenmonographien beschrieben worden (Drozd/Seibicke 1973,129-167; Reinhardt 1978,18178; von Hahn 1983,83-111; Möhn/Pelka
539 1984, 14-19; Buhlmann/Fearns 1987, 24-49; Hoffmann 1987, 124-182; Fluck 1991,4755). Dabei stehen neben der Wortbildung folgende Aspekte im Vordergrund: Terminologisierung/Entterminologisierung, Verhältnis zum Wortschatz der Gemeinsprache, Internationalisierung; Wortlänge, Häufigkeit der Wortarten, Umfang der Fachwortschätze; Herkunft der Fachwortschätze; Gütemerkmale, Probleme der Polysemie, Synonymie und Vagheit; Auswahl für Zwecke der Ausbildung. Im Laufe der Zeit wurde die isolierte Betrachtung der Fachlexik überwunden. Das kommt in der folgenden Formulierung zum Ausdruck: „Zum Fachwortschatz im weiteren Sinne gehören alle lexikalischen Einheiten in Fachtexten, da sie direkt oder indirekt zur fachbezogenen Kommunikation beitragen. Der Fachwortschatz im engeren Sinne bildet ein Subsystem des lexikalischen Gesamtsystems bzw. eine Teilmenge des Gesamtwortschatzes einer Sprache. Er wird gewöhnlich dem allgemeinen Wortschatz gegenübergestellt oder in bezug auf seine Austauschbeziehungen mit ihm untersucht. Im Vordergrund stehen dabei Prozesse der semantischen Einengung bzw. Erweiterung, Erscheinungen der Polysemie, Homonymie und Synonymie, Strukturen und Mittel der Wortbildung u. ä. Bei einer sehr engen Grenzziehung fallen Fachwortschatz und Terminologie zusammen. Es gibt aber auch Versuche, innerhalb des Fachwortschatzes zwischen (a) Fachterminologie und (b) nichtterminologischem fachlichem Wortschatz oder zwischen (a) Termini, (b) Halbtermini und (c) Fachjargonismen zu unterscheiden. Dabei werden als Termini nur die Wörter anerkannt, deren Inhalt durch eine Festsetzungsdefinition bestimmt ist. Daneben stehen nicht definierte Halbtermini, die aber das Denotat ausreichend genau bezeichnen, und Fachjargonismen, die keinen Anspruch auf Genauigkeit erheben. Von den im Fachtext enthaltenen lexikalischen Einheiten geht die Dreiteilung in (a) allgemeinen, (b) allgemeinwissenschaftlichen und (c) speziellen Fachwortschatz aus; zum speziellen Fachwortschatz gehört dann auch die Terminologie" (HofTmann 1988, 118). Im Fachwortschatz dominieren die Substantive und Adjektive (Verben und andere Wortarten sind weniger zahlreich vertreten), weil sie die ganze Vielfalt der Gegenstände und Prozesse zu benennen haben, auf die die fachliche Tätigkeit gerichtet ist. Sie machen
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im Durchschnitt 60% der Lexik eines Fachtextes aus. Zur Terminologie werden oft nur Substantive, gegebenenfalls determiniert durch Adjektive, gezählt, obwohl auch an fachsprachlichen Verben eine Tendenz zur Terminologisierung zu beobachten ist. Wie für die Terminologie, so gilt auch für den Fachwortschatz insgesamt, dass er sich vor allem durch (a) Entlehnung, (b) Lehnübersetzung, (c) Metaphorik und Metonymie, (d) defmitorische Einengung oder Erweiterung und (e) Verfahren der Wortbildung ständig auffüllt. Er ist stark von Internationalismen durchsetzt und enthält eine große Zahl von Komposita und komplexen Wortgruppenbenennungen, aber auch Abbreviaturen. Die für den Terminus gültigen Gütemerkmale werden hier weniger streng gehandhabt. In der neueren Fachsprachenforschung sind vor allem drei Tendenzen zu erkennen: (a) die Ablösung hierarchischer terminologischer Systeme durch semantische Netze (Fraas 1988), (b) die Analyse der Exteriorisierung von Fachthesauren in Fachtexten (z. B. Hoffmann 1990b; 1993) und die Untersuchung der vertikalen Wortschatzvariation (z. B. Wichter 1994). Sie bereichern die Fachlexikologie durch kognitive, textuelle und kommunikative Betrachtungsweisen. Näheres s. Fraas (1998). 3.3. Syntaktische Eigenschaften In der Grammatik gibt es keine Teil- oder Subsysteme und auch keine allgemeine Erweiterung durch die Fachkommunikation. Zu beobachten ist eher eine Einschränkung im Gebrauch der syntaktischen und morphologischen Mittel bei grundsätzlicher Beachtung des normativen Regelwerkes. In der Fachsprachenforschung begegnet man dafür Bezeichnungen wie Selektion! Selektivität, Funktionswandel, aber auch Absonderung, Isolierung. Ist von Selektion die Rede, dann denkt man nicht nur an die Auswahl bestimmter Konstruktionen und Formen aus einer größeren Menge im Sprachsystem angelegter Möglichkeiten bei der Abfassung von Fachtexten, sondern zugleich an auffällige Häufigkeiten in der Fachkommunikation. Es handelt sich also um ein überwiegend quantitatives Merkmal, das allerdings oft funktional zu interpretieren ist, z.B. als Ausdruck der unter 2. dargestellten Gütemerkmale. Beim Gebrauch des Terminus Funktionswandel steht die qualitative Veränderung der (grammatischen) Bedeutung oder ein Kate-
gorienwechsel im Vordergrund. Absonderung oder Isolierung deuten auf sprachliches Gruppenverhalten hin. Ins Auge springen folgende Eigenschaften von Sätzen und ihren Konstituenten: (a) die durch starke Attribuierung und Adverbialisierung gedehnte Satzlänge; (b) die hohe Komplexität der einfachen stark erweiterten Sätze und Satzgefüge; (c) die Expandierung der Subjekt- und Prädikatgruppe; (d) die Häufigkeit von attributiven und adverbialen Nebensätzen; (e) die Dominanz von Aussagesätzen; (f) die Textsortenabhängigkeit der Thema-Rhema-Gliederung mit Auswirkungen auf die Satzgliedfolge und die thematische Progression; (g) die gezielte Ausschöpfung der Fügungspotenzen (Valenz); (h) die Tendenz zur syntaktischen Kompression mit unterschiedlichen Kompressionsstufen; (i) die Deagentivierung sowie die Verwendung allgemein persönlicher und unpersönlicher Konstruktionen; (k) die Bevorzugung von Funktionsverbgefügen. Näheres s. Hoffmann (1998c). Bei alledem ist allerdings zu berücksichtigen, dass diese Eigenschaften je nach Fachtextsorte und Funktion variieren. So kennzeichnet der komplexe hypotaktische Aussagesatz zwar wissenschaftliche und technische Texte mit deskriptiver oder instruktiver Funktion, z.B. Zeitschriftenaufsätze; in direktiven Texten, z. B. Bedienungsanleitungen, sind hingegen auch Aufforderungssätze stark vertreten. Explizität durch Expandierung des Satzes und seiner Glieder ist nicht typisch für Standards, Beipackzettel oder Abstracts. Anonymisierung durch unpersönliche Konstruktionen passt nicht zu Forschungsberichten und Gutachten. Eventuelle morphologische Besonderheiten der Fachsprachen, die stark einzelsprachlich geprägt sind, wenn sie bestimmte grammatische Kategorien repräsentieren, lassen sich mittelbar aus den syntaktischen Eigenschaften von Fachtexten ableiten; andere ergeben sich aus der Textsortenfunktion, z. B. die Häufigkeit von Modus, Tempus und Person.
4.
Didaktisierung von Fachsprachen
Die Ergebnisse der Fachsprachenforschung werden auf ganz unterschiedlichen Gebieten genutzt (vgl. Hoffmann 1988, 178-216). Eines davon ist die Aus- und Weiterbildung in Muttersprache und Fremdsprachen. Für
541
54. Fachsprachen
Deutsch als Fremdsprache ist - im Gegensatz zu Deutsch als Muttersprache - die Didaktisierung der Fachsprachen in Theorie und Praxis schon weit fortgeschritten. Das erklärte Ziel ist die sprachliche Handlungsfähigkeit im Fach (Buhlmann/Fearns 1987, 9, 87-97), d. h. die Fähigkeit, in seinem Fach der Berufs- oder Ausbildungssituation entsprechend angemessen zu kommunizieren (kommunikative Kompetenz). Der Zugang zu dieser Fähigkeit führt über die Aneignung fachlicher Begriffs- und Benennungssysteme in Verbindung mit fachlichen Denk- und Mitteilungsstrukturen, ergänzt durch den Erwerb fachübergreifender sprachlicher Mittel, ohne die Fachkommunikation nicht auskommen kann. Die Fachsprachenausbildung steht also der Fachausbildung sehr nahe oder wird mit ihr kombiniert. Doch während der Fachunterricht als erfahrungsbezogen, system-, problem-, prozess- und verfahrensorientiert sowie einem beträchtlichen StofFzwang unterworfen charakterisiert wird, ist der Fachsprachenunterricht element- und textstrukturbezogen, auf die Entwicklung von Arbeitsstrategien abgestellt; er bildet eine Art Brücke zwischen allgemeinsprachlichem Unterricht und Fachunterricht (vgl. Buhlmann/Fearns 1987, 83ff.). Im Rahmen der Ziel-Stoff-Methoden-Relation hat der Bezug zum Fach in der Fachsprachenausbildung zunächst zu einer Überbetonung der Terminologien als Benennungssysteme für Begriffssysteme geführt. Mit der kommunikativ-pragmatischen Wende in der Linguistik der 70er Jahre, der Weitung des Blickes vom Systemaspekt auf den Tätigkeitsaspekt, der Hinwendung der Fachsprachenforschung zu komplexeren Einheiten wie Satz und besonders Text, der stärkeren Berücksichtigung der inneren Differenziertheit der Fachsprachen (vertikale Schichtung; Fachtextsorten), insbesondere aber auch der Neuorientierung des Fremdsprachenunterrichts vom (linguistischen) Wissen über Sprache zum (kommunikativen) Umgang mit Sprache hat sich dann eine deutliche Schwerpunktverlagerung zur Rezeption und Produktion von Fachtexten vollzogen. „Einig sind sich die Fachsprachenlinguisten und -didaktiker inzwischen darin, daß sich diese komplexen Fachsprachen in ebenso komplexen Fachtexten realisieren, so daß der Fachtext zunehmend Gegenstand der Forschung und Vermittlung wurde" (Fluck 1992,9, 114-125). Dabei werden nicht nur die Textinterna
(Makrostruktur, Kohärenz; Syntax, Lexik u. a.), sondern zunehmend auch die Textexterna (Kommunikationspartner, -situation, -gegenständ) berücksichtigt. Darüber hinaus tritt neben den Vergleich von Ausgangs- und Zielsprache der Vergleich der soziokulturellen Umfelder von Fachkommunikation (Interkulturalität). Bei den Fächern verlagert sich das Interesse allmählich von den Naturwissenschaften und der Technik auf die Geistes- und Sozialwissenschaften, noch mehr aber zur Wirtschaft und hier zur Unternehmenskommunikation. Dort gewinnen neben schriftlichen Fachtexten die mündlichen Fachtexte (z.B. Verkaufsgespräche, Vertragsverhandlungen) an Bedeutung. Das Spektrum der Fachsprachenausbildung wird also immer breiter und in diesem Zusammenhang auch die Forderung nach einer theoretisch fundierten Fachsprachendidaktik lauter. Sie wird in eine interdisziplinäre Konzeption neben der Fachsprachenlinguistik Erkenntnisse der Soziolinguistik, Pädagogik, Psychologie, Linguodidaktik und Methodik einzubeziehen haben. Vielversprechende Ansätze dazu liegen vor. Näheres s. Buhlmann/Fearns (1987); Schröder (1988); Monteiro (1990); Fluck (1992); Hoffmann/Kalverkämper/Wiegand (1998, Kap. XIII). Der wichtigste Partner für die Fachsprachendidaktik wird aber immer die Fachsprachenlinguistik bleiben, weil sie den Stoff, d. h. die Substanz der Fachsprachenausbildung von der Fachlexik bis hin zu den Verwendungs- und Systemeigenschaften von Fachtexten zu Tage fördert. 5.
Verweise
Da in diesem Artikel mit dem Blick auf die Gesamtthematik des Bandes nur ausgewählte Aspekte der Analyse und Beschreibung von Fachsprachen behandelt werden konnten, sollen am Schluss einige Hinweise auf weitere Informationsmöglichkeiten stehen. Den gegenwärtig umfassendsten Überblick über Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft mit dem Anspruch auf die Weiterentwicklung der Fachsprachentheorie bieten HofFmann/Kalverkämper/Wiegand (1998); durch Vielseitigkeit und Interdisziplinarität zeichnet sich Kalverkämper (1985 ff.) aus; interessante Beiträge sind auch in Bungarten (1992ff.; 1993) enthalten; das Schwergewicht auf das Englische legen Gläser (1991 ff.) und Sager/Dungworth/McDonald (1980), auf das Französische Kocourek (1992); zur Termino-
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VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
logiewissenschaft empfiehlt sich Felber/Budin (1989); fortlaufend den aktuellen Stand verfolgt die Zeitschrift Fachsprache (Wien 1979 ff.), in der auch regelmäßig Fortsetzungen einer Leipziger kleinen Bibliographie fachsprachlicher Untersuchungen erscheinen; eine wichtige Bibliographie zum fachsprachlichen Fremdsprachenunterricht stammt von Yzermann/Beier (1989); eine Bibliographie der Bibliographien zur Fachsprachenforschung findet sich in Hoffmann/Kalverkämper/Wiegand (1998). Objektsprachliche Beispiele für die Verwendungs- und besonders für die Systemeigenschaften von Fachsprachen, für die hier leider kein Platz war, finden sich in den Artikeln 5 5 - 5 9 , bei Drozd/Seibicke (1973), Reinhardt (1978), von Hahn (1983), Möhn/Pelka (1984), Buhlmann/Fearns (1987), Fluck (1991) sowie in zahlreichen Lehrmaterialien für Deutsch als Fremdsprache.
6.
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(Deutschland)
544
VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
55. Geistes- und sozialwissenschaftliche Fachtexte 1. 2. 3. 4.
Vorbemerkungen Begriffsbestimmung Charakteristika geistes- und sozialwissenschaftlicher Fachtexte Literatur in Auswahl
1.
Vorbemerkungen
Zielsetzung fachbezogener Sprachausbildung ist die Befähigung zur sprachlichen Handlungsfähigkeit im Fach. Einhergehend mit der textlinguistischen Orientierung der Fachsprachenforschung werden auch in der fachbezogenen Fremdsprachenausbildung zunehmend textorientierte Konzepte vertreten. Fachtexte bilden die Arbeitsgrundlage des Unterrichts. Ziel ist, die entsprechenden Sprachmittel in ihrer fachwie situationsspezifischen kommunikativen Funktion zu vermitteln und beim Lerner Textmuster aufzubauen, um ihm das Erkennen und das Darstellen von Fachinformation zu erleichtern (vgl. Fluck 1992, 114ff.). Aufgabe der Fachsprachendidaktik ist es, Texte und Textsorten hinsichtlich ihrer Eignung für die Ziele fachbezogener Fremdsprachenausbildung zu beurteilen. Aufgabe der Fachsprachenlinguistik ist es, funktionale wie sprachlich-strukturelle Textmerkmale zu beschreiben. Auf Grund der hohen Relevanz für den fachbezogenen Fremdsprachenunterricht ist für bestimmte fachliche Bereiche - so z.B. für naturwissenschaftlich-technische Texte (vgl. Art. 56) - eine gute Forschungsgrundlage zu verzeichnen. Der Bereich der Geistesund Sozialwissenschaften dagegen ist wenig erschlossen. Neben spezifischen Analysen zu einzelnen geistes- und sozialwissenschaftlichen Fachsprachen finden sich vor allem in fachtextlinguistisch orientierten Untersuchungen vergleichende Aussagen über Unterschiede zwischen naturwissenschaftlichen bzw. naturwissenschaftlich-technischen Fachtexten und geistes- und sozial wissenschaftlichen Texten. Die folgenden Darlegungen sollen die Speziflka geistes- und sozialwissenschaftlicher Texte unter dem vergleichenden Aspekt aufzeigen.
2.
Begriffsbestimmung
Die Verwendung des Begriffspaares Geistesund Sozialwissenschaften in der fach- und wissenschaftssprachlichen Forschungslitera-
tur deutet in der Regel darauf hin, dass Unterschiede im Vergleich zu den naturwissenschaftlichen Disziplinen herausgestellt werden sollen. In seinem Aufsatz „Wissenschaftssprache, Sprachkultur und die Einheit der Wissenschaften" (1995) greift Weinrich die Gegenüberstellung von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft auf, die auf der These Snows von den zwei Kulturen beruht, und setzt sich mit dieser These und ihrer wissenschaftssprachlichen Variante auseinander, d.h. mit der bei vielen Wissenschaftlern verbreiteten Meinung, dass es in den Naturwissenschaften „nur auf die Sache und nicht auf die Sprache ankomme", während andere Wissenschaften (die Geisteswissenschaften) „von ihrer Konstitution her sprachlich verfaßt sind, so daß sie von ihrer Sprachform nicht abgelöst werden können" (Weinrich 1995, 157). Ausgehend von der heute allgemein anerkannten Auffassung, dass Wissenschaftssprachforschung nicht als Wortforschung - d. h. Beschäftigung mit der Terminologie allein — betrieben werden dürfe, sondern als Text- und Pragmalinguistik, arbeitet Weinrich heraus, „daß ein je nach Fächern unterschiedlich bedingtes, jedoch im wesentlichen einheitlich strukturiertes Kommunikationsverhalten, das die Wissenschaft als ein Gemeinschaftsunternehmen charakterisiert", vorliege (Weinrich 1995, 171). Dass neben dem Aspekt der Einheit der Wissenschaft auch der Aspekt der Verschiedenheit der zahlreichen Wissenschaften existiert, begründet Weinrich (1988, 165ff.) damit, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften darin bestehe, dass sie sich an unterschiedlichen Leitgattungen orientieren. Während für die naturwissenschaftlichen Disziplinen der in einer Fachzeitschrift publizierte Originalaufsatz als Leitgattung anzusehen sei, habe die Publikationsform ,Aufsatz' für die Geisteswissenschaften an Bedeutung verloren. Die Leitgattung der Geisteswissenschaften sei die Monographie in Buchform, da es in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen keine klaren Forschungsfronten gebe und die historische Dimension nicht vernachlässigt werden könne. Weinrich sieht dies als Auswirkungen des Komplexitätszuwachses des Systems Wissenschaft und weist in einer vergleichenden Analyse nach, „daß die geisteswissenschaftliche Monographie durchaus
545
55. Geistes- und sozialwissenschaftliche Fachtexte
die gleichen Strukturmerkmale erkennen läßt" wie der naturwissenschaftliche Aufsatz (Weinrich 1995, 170). Der Begriffsumfang der Oberbegriffe ,Geisteswissenschaften' bzw. , Sozialwissenschaften' ist unscharf, ja umstritten ist, welche Einzeldisziplinen jeweils unter diesen Benennungen zusammengefasst werden. In der fachsprachlichen Literatur wird diese Unschärfe durchaus vermerkt. So macht Knobloch, der sich mit „geisteswissenschaftlichen Grundbegriffen" auseinandersetzt, darauf aufmerksam, dass er „geisteswissenschaftlich" als „vagen Sammelnamen für die Disziplinen, die ihren Gegenstandsbereich abstraktiv aus dem Objektivbereich der menschlichen Handlungen im weitesten Sinn gewinnen", versteht (Knobloch 1989, 121). Ickler schlägt in seiner Erörterung von Sprachproblemen der Geisteswissenschaft vor, darunter solche zu fassen, „die es mit der Interpretation zeichenhaften menschlichen Verhaltens und seiner Spuren zu tun haben" (Ickler 1997, 267). Die wissenschaftstheoretische Diskussion in Bezug auf Begriffsinhalt und Begriffsumfang des Begriffes ,Sozialwissenschaften' ist ein aktueller Gegenstand sozialwissenschaftlicher Publikationen (vgl. Dahlberg 1996; Budín 1993). Budín, der sich mit sozialwissenschaftlicher Begriffsbildung auseinandersetzt, schlägt vor, Sozialwissenschaften als jene Wissenschaftsgebiete anzusehen, „die Beziehungen zwischen und Handlungen, Einstellungen etc. von Menschen untersuchen" (Budín 1993, 4). Als Beispiel für die unterschiedliche Bestimmung des Begriffsumfangs von Sozialwissenschaften führt Budin zwei der sozialwissenschaftlichen Literatur entnommene Klassifikationen an: Nach Opp werden folgende Fächer als sozialwissenschaftliche angesehen: Psychologie, Sozialpsychologie, Wirtschaftswissenschaften, Soziologie, Geschichtswissenschaft, Kriminologie, Kulturanthropologie und Pädagogik. In einer Publikation von Ohly werden dagegen folgende Disziplinen genannt: Soziologie, Psychologie, Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Pädagogik, Kommunikationswissenschaft, andere (darunter wird z.B. Soziolinguistik gefasst) (zit. nach Budin 1993, 4). Auf Grund der Unschärfe der Benennungen Geistes- und Sozialwissenschaften empfiehlt es sich, bei der Übernahme von Aussagen über Charakteristika geistes- und sozialwissenschaftlicher Fachsprachen die den Untersuchungen zu Grunde liegenden Textkorpora zu beachten.
3.
Charakteristika geistes- und sozialwissenschaftlicher Fachtexte
3.1. Textuelle Merkmale Da sich fachliches Handeln durch eine ausgeprägte Systematik von anderen Formen menschlichen Handelns unterscheidet, ist ein hoher Grad von Textdurchgliederung allgemein ein charakteristisches Merkmal für Fachtexte (Möhn/Pelka 1984,22). Analysen wissenschaftlicher Texte haben besonders in Bezug auf dieses Merkmal erhebliche Unterschiede zwischen Texten naturwissenschaftlich-technischer Disziplinen und Texten geistes- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen festgestellt. Dies gilt vor allem für die Textsorte wissenschaftlicher Aufsatz'. Aufsätze naturwissenschaftlicher Fächer unterliegen einer mit der Abfolge Forschungsgegenstand — Methode - Ergebnisse - Diskussion Schlussfolgerung strengen Konvention (vgl. Weinrich 1995, 159fT., Gläser 1998,483). Für Zeitschriftenaufsätze der Geistes- und Sozialwissenschaften gelten keine vergleichbaren Konventionen, auch wenn sich einzelne Autoren an der Textgestaltung naturwissenschaftlicher Zeitschriftenaufsätze orientieren (Gläser 1998,483). In geisteswissenschaftlichen Aufsätzen dienen aussagekräftige Zwischentitel als wichtige makrostrukturelle Rezeptionshilfen (Dietz 1998,622). In Bezug auf den wissenschaftlichen Aufsatz in Fachzeitschriften ist auf seine unterschiedliche Funktion in den Wissenschaftsdisziplinen hinzuweisen. Während der Originalaufsatz als Leitgattung der modernen Naturwissenschaften anzusehen ist, hat in den Geisteswissenschaften die Monographie diese Funktion übernommen (Weinrich 1995, 167; vgl. 2.). Den hohen Stellenwert, der einem strengen Textaufbau in den Naturwissenschaften beigemessen wird, zeigt auch eine Untersuchung zur Textsorte wissenschaftliches Zeitschriftenabstract'. Eine vergleichende Analyse von Zeitschriftenabstracts der Fächer Sprachwissenschaft, Betriebswirtschaft und Metallkunde ergab, dass der Textaufbau der Abstracts aus der Zeitschrift für Metallkunde den höchsten Grad an Standardisierung und unpersönlicher Gestaltung aufweist (Fluck 1988, 80). Die von Weinrich (1995, 166) konstatierten Unterschiede im Kommunikationsverhalten von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften zeigen sich auch in Untersuchungen zur Titelgebung in wissenschaftlichen
546
VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
Texten (vgl. Dietz 1998). Titel spielen neben Abstracts eine wichtige Rolle bei der Bewältigung der wissenschaftlichen Publikationsflut. Dietz (1998, 619) stellt fest, dass der Einsatz der Informationstechnologie (automatische Erstellung von Keyword-Registern) Einfluss auf das Titelbewusstsein naturwissenschaftlicher Autoren hat, und schreibt weiter, dass „sich für die im Schnitt weniger effiziente Erfaßbarkeit von geistes- und sozialwissenschaftlichen Titeln in Datenbanken folgende Gründe ergeben: a) der Mangel an Titeln mit aussagekräftigen Titel-Keywords ..., b) mangelnde Terminologiestandardisierung, c) die Schwierigkeit, fachspezifische Negativ- oder Stoplisten für die automatische Selektion von Keywords zu erstellen sowie d) das Problem der Übersetzbarkeit von geisteswissenschaftlichen Titeln zum Zwecke der Aufnahme in die überwiegend anglophonen Datenbanksysteme". Als Beispiele für vorwiegend in geistes- und sozialwissenschaftlichen Texten auftretende Titelgebungsverfahren nennt Dietz (1998,619f.) Titel in Frageform, Wiederholungsstrukturen in Titeln, Verfahren zur einprägsamen Veranschaulichung eines bestimmten Aspektes des Titels (Wiederholungsstrukturen auf der Ebene von Lauten oder Lexemen), die Herstellung von Intertextualität durch die Aufnahme von Zitaten und das Spiel mit Mehrdeutigkeit, geringer Determiniertheit, Widersprüchlichkeit und Metaphorik auf der semantischen Ebene. Andererseits sind beispielsweise Angaben über die Methode vorwiegend in Titeln naturwissenschaftlicher Disziplinen sowie in Titeln empirisch ausgerichteter sozialwissenschaftlicher Fächer anzutreffen. Unterschiede zwischen geistes- und sozialwissenschaftlichen Titeln und Titeln in naturwissenschaftlichen Fächern konnten auch in der Titellänge und in der Verteilung sprachlicher Informationseinheiten festgestellt werden. Speziell zur Spezifik sozialwissenschaftlicher Fachtexte liegt eine umfassende Untersuchung von Schröder (1988) vor. Das der Analyse von Schröder zu Grunde liegende Textkorpus umfasst fast ausschließlich Texte aus den nicht-empirischen Sozialwissenschaften und zeichnet sich durch einen hohen Spezialisierungsgrad aus. Die Textauszüge stammen hauptsächlich aus Monographien, Zeitschriftenartikeln und Studienbüchern (Schröder 1988, 43 f.). Bei der Beschreibung der textuellen Merkmale kommt Schröder (1988, 48) zu dem Schluss, dass die allgemeinen textuellen Merkmale von Fachtexten — Schröder be-
zieht sich dabei auf die von Möhn/Pelka (1984, 22) genannten Merkmale wie hoher Grad der Textgliederung, besondere Kohärenzsignale, besondere Bedeutung typographischer Mittel und Verwendung außersprachlicher Mittel - auf die analysierten sozialwissenschaftlichen Fachtexte nur bedingt zutreffen. Schröder formuliert, dass in sozialwissenschaftlichen Fachtexten textuelle Merkmale erscheinen, die sonst als nicht typisch für Fachtexte betrachtet werden: So zeichnen sich sozialwissenschaftliche FT bisweilen durch eine sehr hohe Redundanz aus; das „hedging" spielt fast immer eine große Rolle; Kohärenz erfolgt nicht nur über sprachliche Mittel, sondern vor allem über den Inhalt. Anders als in den Naturwissenschaften gibt es in den Sozialwissenschaften auch keinen feststellbaren Zusammenhang zwischen Sachverhalten, Textsorten und Textstrukturen, der sich in festen Textablaufschemata äußern würde. Textstrukturen werden komplex durch Sachverhalt, Paradigma, Forschungs- und Argumentationsmethode, die Kommunikationssituation und die Textsorte determiniert, wobei der konkrethistorische Hintergrund (Kultur und Gesellschaft) eine bedeutende Rolle spielt (Schröder 1988, 52).
Im Folgenden sollen einige weitere Detailergebnisse der Analyse Schröders (1988, 52ff.) genannt werden. Die Analysen der verwendeten Kommunikationsverfahren ergab, dass im Vergleich zu den Naturwissenschaften die Kommunikationsverfahren Explizieren, Einwenden, Widerlegen und Bewerten „relativ häufiger" und Behaupten und Vermuten „sogar fast ausschließlich" in sozialwissenschaftlichen Texten vorkommen dürften. Hinsichtlich der Darstellungsarten zeigt sich eindeutig die Dominanz erörternder Textteile. Berichtende und beschreibende Textteile sind in argumentative Zusammenhänge eingegliedert. Die Untersuchung der Textkohärenz weist als auffällige Erscheinung aus, dass in sozialwissenschaftlichen Texten neben Pronominalisierung und Wiederholung auch Paraphrasierung und Synonymie als Mittel der Textreferenz genutzt werden. Detaillierte Analyseergebnisse werden auch zur Texteinbettung, zur logischen Gliederung von Texten und zur Thema-Rhema-Gliederung vorgelegt. 3.2. Der Fachwortschatz Die terminologische Situation in den Geistesund Sozialwissenschaften wird vielfach als unbefriedigend empfunden. Insbesondere in den Sozialwissenschaften wird ungerechtfertigter „Wildwuchs" beklagt. Nach Dahlberg (1996, 10) findet man in fast allen Einleitun-
55. Geistes- und sozialwissenschaftliche Fachtexte
gen sozialwissenschaftlicher Wörterbücher Klagen über den terminologischen Zustand, so ζ. B. über die Flut von Begriffsneuschöpfungen, Begriffserfindungen und -uminterpretationen. Lepenies stellt fest, dass der Verwissenschaftlichungsprozess in den Sozialwissenschaften zur Herausbildung eines Jargons, „d. h. einer weniger von der Sache als von der Taktik des akademischen Überlebenskampfes geprägten Terminologie" führte (Lepenies 1986, 125). Endruweit charakterisiert den in den Sozialwissenschaften herrschenden radikalen Individualismus: Selbst lehrbuchartige Darstellungen der Grundbegriffe der Soziologie bringen nicht etwa systematische Übersichten über bisherige Richtungen der BegrifTsbildungen oder gar quantitative Tendenzdarstellungen, schließen sich selten einer eingeführten Disziplin an, sondern vergrößern den meistens amorph gelassenen Haufen vorfindlicher Begriffsbestimmungen durch ein eigenes Elaborat, dessen komparative Qualität unerörtert bleibt. (Endruweit 1996, 91)
Die in den Geistes- und Sozialwissenschaften geprägten Termini zeichnen sich durch ein hohes Maß an Theorieabhängigkeit aus. Budín schlägt beispielsweise für eine terminologische Erfassung sozialwissenschaftlicher Termini vor, dass in einem terminologischen Eintrag die Quellenangabe „durch die Angabe der Theorie (oder auch Ideologiesystem, Denktradition oder einfach Sichtweise), in der der jeweilige Begriff verwendet wird", ergänzt werden sollte (Budin 1993, 183). Auf die Schulenbildung innerhalb der Literaturwissenschaft, die zum Ausbau des Wortschatzes beigetragen hat, geht Gardt (1998, 1356) ausführlich ein. Untersuchungen zur linguistischen Fachsprache (Busse 1989; Gnutzmann 1996) arbeiten ebenfalls die starke Theorieabhängigkeit linguistischer Termini heraus. Busse (1989,27) stellt fest, dass sich die Sprachwissenschaft „als Konglomerat konkurrierender, auf unterschiedlichen bis gegensätzlichen philosophischen, wissenschaftstheoretischen oder forschungsgeschichtlichen Voraussetzungen beruhender Theorien, Modelle und Erkenntnisziele" darstellt. Die Folge sind ein widersprüchliches Fachvokabular und konkurrierende Termini. Die Existenz unterschiedlicher wissenschaftlicher Konzepte und, daraus resultierend, unterschiedlicher Benennungen ist allerdings auch in anderen Wissenschaftsdisziplinen anzutreffen (vgl. Wiese 1990, 1678 ff.). Ein weiteres Merkmal von Fachwörtern in den Geistes- und Sozialwissenschaften be-
547 steht darin, dass sie häufig durch Terminologisierung gemeinsprachlicher Wörter entstanden sind. Knobloch (1989, 113) weist darauf hin, dass Fachwörter wie Denken, Entwicklung, Wort, Sinn, Gesellschaft ein „Doppelleben" führen: als Teil der Gemeinsprache und der Fachsprachen. In diesem Zusammenhang erwähnt Knobloch auch die „notorische Unterbestimmtheit" geisteswissenschaftlicher Grundbegriffe. In der von Schröder (1988) vorgelegten Untersuchung sozialwissenschaftlicher Fachtexte (zum Textkorpus vgl. 3.1.) werden auch lexikalische Besonderheiten herausgearbeitet. Schröder (1988, 67) verweist darauf, dass Polysemie und Synonymie in sozialwissenschaftlichen Texten - bedingt durch die Vielzahl der miteinander konkurrierenden Paradigmen - auftreten könnnen. Weiterhin werden Aussagen zum Fachwortanteil getroffen. Seine Analyse ergab, dass in sozialwissenschaftlichen Fachtexten im Vergleich zu naturwissenschaftlichen und technischen Texten der Fachwortanteil wesentlich geringer ist. So wurde ein durchschnittlicher Anteil der Fachwörter von 12,7% am Gesamtwortschatz ermittelt. Eine Analyse der Frequenz des Gesamtwortschatzes ergab, dass von den häufigsten Wörtern nur ein sehr kleiner Teil Fachwörter sind. Dabei wurde als Fachwort gezählt, was von mehreren befragten Experten übereinstimmend als Fachwort angesehen wurde (z. B. Gesellschaft, sozial, Gebrauchswert, Widerspruch). Unter den Wortarten waren über 90,2% der Fachwörter Substantive und 9,8% Adjektive. Terminologisierte Verben wurden nicht festgestellt. Ein Problem sozialwissenschaftlicher Texte ist nach Schröder, dass neben den Fachwörtern fachübergreifender Wortschatz auftritt. Dazu zählen Wörter wie z. B. Begriff, Ausdruck, Wort, Mittel, die nicht zu den Fachwörtern gehören, aber auch nicht in der allgemeinsprachlichen Bedeutung gebraucht werden. Weiterhin zeigt sich, dass die Anteile der Fachlexik an den einzelnen Texten — offenbar in Abhängigkeit von der Textsorte — zum Teil extrem voneinander abweichen. 3.3. Morphologische und syntaktische Merkmale In der von Schröder (1988) durchgeführten Analyse sozialwissenschaftlicher Texte wurden auch Funktionen und Frequenzen einzelner morphologischer und syntaktischer Mittel beschrieben und mit vorliegenden Analysen wissenschaftlicher Texte verglichen (ins-
548
VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
besondere mit denen von Benes (1981) vorgelegten Aussagen zur formalen Struktur wissenschaftlicher Fachsprachen). Beim Verbgebrauch zeigt sich, dass der Anteil des Verbs in sozialwissenschaftlichen Texten geringer ist (10,2% gegenüber 17,3% bei Benes), wobei Textsortenunterschiede (zwischen Abstract und Lehr- und Studienbuch) erheblich sind. Die zwölf häufigsten Verben decken bereits die Hälfte aller als Verb vorkommenden Wortformen ab. Es sind dies Verben wie sein, werden, haben, können, müssen, lassen, sollen, geben u. a. Übereinstimmung mit den Aussagen der fachsprachlichen Morphologie besteht im Hinblick auf die Dominanz des Indikativs und des zeitlosen Präsens sowie der Bevorzugung der 3. Person beim Verb. Besonderheiten zeigen sich beim Gebrauch des Passivs. In sozialwissenschaftlichen Texten liegt der Passivanteil nur bei 14,8% und damit wesentlich niedriger als in technischen Fachtexten. Auch ein geringerer Anteil des Konjunktivs ist zu verzeichnen (Schröder 1988, 62 ff.). Auf der Ebene der Syntax stellt Schröder (1988, 66f.) im Vergleich zu den Ergebnissen von Benes kaum Besonderheiten fest. Auch in sozialwissenschaftlichen Fachtexten dominiere der einfache Hauptsatz, und unter den Nebensätzen sei der Relativsatz am stärksten vertreten. Den als charakteristische Merkmale von Fachtexten genannten Merkmalen Nominalstil und Attribuierungstendenz komme in sozialwissenschaftlichen Texten die gleiche Bedeutung wie in den anderen fachlichen Kommunikationsbereichen zu. Besonderheiten werden lediglich im Bereich der Satzlängen festgestellt. Gegenüber den Ergebnissen von Benes werden für sozialwissenschaftliche Texte überdurchschnittliche Satzlängen registriert.
Budin, Gerhard (1993): Wie (un)verständlich ist das Soziologendeutsch? Begriffliche und textuelle Strukturen in den Sozialwissenschaften. Frankfurt a. M. etc. (Werkstattreihe Deutsch am Fremdsprache 42).
Die Aussagen über einen hohen Grad an Komplexität für geistes- und sozialwissenschaftliche Texte werden auch durch einen von Schefe durchgeführten Vergleich zwischen literaturwissenschaftlichen, medizinischen und betriebswirtschaftlichen Fachtexten gestützt. Schefe (1975) stellt fest, dass literaturwissenschaftliche Texte den höchsten Grad an syntaktischer Komplexität aufweisen.
Hoffmann, Lothar; Hartwig Kalverkämper; Herbert Ernst Wiegand (Hg.) (1998): Fachsprachen. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft. Halbbd. 1, Berlin etc. (HSK 14.1.).
4.
Lepenies, Wolf (1986): Die Notwendigkeit des Jargons — Zur Fachsprache der Soziologie. In: Hartwig Kalverkämper; Harald Weinrich (Hg.): Deutsch als Wissenschaftssprache. Tübingen (Forum für Fachsprachenforschung 3), 124—127.
Literatur in Auswahl
Benes, Eduard (1981): Die formale Struktur der wissenschaftlichen Fachsprachen in syntaktischer Sicht. In: Theo Bungarten (Hg.), 185-212.
Bungarten, Theo (Hg.) (1981): sprache. München.
Wissenschafts-
Busse, Dietrich (1989): Sprachwissenschaftliche Terminologie. Verständlichkeits- und Vermittlungsprobleme der linguistischen Fachsprache. In: Muttersprache 99, 27-38. Dahlberg, Ingetraut (1996): Zur ,Begriffskultur' in den Sozialwissenschaften: Lassen sich ihre Probleme lösen? In: Ethik und Sozialwissenschaften 7, 1, 3 - 1 3 . Dietz, Gunther (1998): Titel in wissenschaftlichen Texten. Iir Hoffmann; Kalverkämper; Wiegand (Hg.), 617-624. Endruweit, Günter (1996): Probleme sozialwissenschaftlicher Begriffsbildung. In: Ethik und Sozialwissenschaften 7, 1, 85-91. Fluck, Hans-Rüdiger (1988): Zur Analyse und Vermittlung der Textsorte ,Abstract'. In: Claus Gnutzmann (Hg.): Fachbezogener Fremdsprachenunterricht. (Forum für Fachsprachen-Forschung 6), 67-90. — (1992): Didaktik der Fachsprachen. Aufgaben und Arbeitsfelder, Konzepte und Perspektiven im Sprachbereich Deutsch. Tübingen (Forum für Fachsprachen-Forschung 16). Gardt, Andreas (1998): Die Fachsprache der Literaturwissenschaft im 20. Jahrhundert. Iir Hoffmann; Kalverkämper; Wiegand (Hg.), 1355-1362. Gläser, Rosemarie (1998): Fachtextsorten der Wissenschaftssprachen I: der wissenschaftliche Zeitschriftenaufsatz. In: Hoffmann; Kalverkämper; Wiegand (Hg.), 482-488. Gnutzmann, Claus (1996): Linguistische Fachsprache und wissenschaftsgeschichtlicher Kontext. Dargestellt am amerikanischen Strukturalismus und seinen Weiterentwicklungen, h r Fachsprache 18, 1 - 2 , 2 - 9 .
Ickler, Theodor (1997): Die Disziplinierung der Sprache. Fachsprachen in unserer Zeit. Tübingen (Forum für Fachsprachen-Forschung 33). Knobloch, Clemens (1989): Geisteswissenschaftliche Grundbegriffe als Problem der Fachsprachenforschung. Special Language — Fachsprache 11, 3 - 4 , 113-126.
549
56. Naturwissenschaftliche und technische Fachtexte Möhn, Dieter; Roland Pelka (1984): Fachsprachen. Eine Einführung. Tübingen (Germanistische Arbeitshefte 30). Schefe, Peter (1975): Statistische syntaktische Analysen von Fachsprachen mit Hilfe elektronischer Rechenanlagen am Beispiel der medizinischen, betriebswirtschaftlichen und literaturwissenschaftlichen Fachsprache im Deutschen. Göppingen (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 165). Schröder, Hartmut (1987): Aspekte sozialwissenschaftlicher Fachtexte. Ein Beitrag zur Fachtextlinguistik. Hamburg (Papiere zur Textlinguistik 60). — (1988): Aspekte einer Didaktik. Methodik des fachbezogenen Fremdsprachenunterrichts (Deutsch als Fremdsprache). Unter besonderer Berücksichtigung sozialwissenschaftlicher Fachtexte. Frankfurt a. M. etc. (Werkstattreihe Deutsch als Fremdsprache 20).
Weinrich, Harald (1988): Sprache und Wissenschaft. In: Harald Weinrich: Wege der Sprachkultur. 2. Aufl. München, 42-60. - (1989): Formen der Wissenschaftssprache. In: Jahrbuch 1988 der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 119-158. — (1995): Wissenschaftssprache, Sprachkultur und die Einheit der Wissenschaften. In: Heinz L. Kretzenbacher; Harald Weinrich (Hg.): Linguistik der Wissenschaftssprache. Berlin (Akademie der Wissenschaften zu Berlin: Forschungsbericht 10), 155-174. Wiese, Ingrid (1990): Fachsprachliche Normungsprozesse. In: Werner Bahner; Joachim Schildt; Dieter Viehweger: Proceedings of the Fourteenth International Congress of Linguistics. Berlin 1987. Berlin, 1678-1681. Ingrid Wiese, Leipzig
(Deutschland)
56. Naturwissenschaftliche und technische Fachtexte 1. 2. 3. 4.
1.
Zur Rolle von Sprache/Sprachausbildung in Naturwissenschaften und Technik Sprachstrukturelle Eigenschaften naturwissenschaftlicher/technischer Texte Textsorten- und Diskursmerkmale Literatur in Auswahl
Zur Rolle von Sprache/ Sprachausbildung in Naturwissenschaften und Technik
Mehr denn je besteht heute auf Grund sich rasch vervielfachender Fachinformation sowie beständig wachsender internationaler Austausch- und Kooperationsbeziehungen auf den Gebieten Wissenschaft und Technik ein insgesamt großer fach- und berufsbezogener Sprach- und damit Ausbildungsbedarf im Deutsch als Fremdsprache- und Deutsch als Zweitsprache-Bereich. Waren in früherer Zeit Naturwissenschaften und Technik relativ feste Begriffe im Wissenschaftsbetrieb, so verbinden sich damit heute kaum noch konkrete Aussagen, sondern die Vorstellung einer Vielzahl mehr oder weniger zusammenhängender Disziplinen und Teildisziplinen mit unterschiedlichem Theorie- und Praxisbezug. Ihren spezialisierten Beschäftigungen und Arbeitsweisen gemeinsam ist der Begriff der Fachinformation, d. h. die Notwendigkeit,
fachliche Bedeutungsgehalte mitzuteilen und zu tradieren in schriftlicher wie auch in mündlicher Form. Die Darstellung dieser Fachinhalte im Hinblick auf ihre Anwendung und Verwertung erfolgt in der Form, dass komplexe und abstrakte wissenschaftlichtechnische Sachverhalte und/oder eher konkrete technologische Grundverfahren, Arbeitsmethoden, Wirkungsprinzipien, technische Abläufe, Funktionen, Prozesse usw. systematisch beschrieben werden. Nach Bachmann wird gegenüber dieser Zielvorstellung aus Sicht der übersetzerischen Praxis allerdings immer wieder beklagt, „daß die meisten technischen Fachtexte schlecht, d. h. ungenau und nicht selten fehlerhaft geschrieben sind" (1992, 145). Die aktive Verwendung von Fachsprache und der Umgang mit Fachtexten gehören somit zu den Schlüsselqualifikationen verbalgesteuerter Interaktion in fachsprachlichen Kommunikations- und Ausbildungssituationen (Fluck 1992, 1996, 1998; Hoffmann/Kalverkämper/Wiegand 1998). Lag der Deutsch als Fremdsprache-Ausbildungsschwerpunkt bis in die 50er Jahre bei den naturwissenschaftlich-technischen Fachsprachen im Studienund Wissenschaftsbereich, so erweiterte sich das Ausbildungsspektrum danach auch verstärkt auf die praktische technische Berufs-
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VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
ausbildung im Rahmen beginnender internationaler Kooperationen und entwicklungspolitischer Maßnahmen (vgl. etwa die Programme der Carl Duisberg-Gesellschaft, Köln). Mit der wachsenden Bedeutung der naturwissenschaftlich-technischen Fachübersetzungen im 20. Jh. kamen in den vergangenen Jahrzehnten der Einbezug entsprechender fachsprachlicher Strukturen und Aspekte in die Ubersetzerausbildung sowie die inzwischen in Sprachmittler- und Sprachdatenverarbeitungs-Ausbildungsprogrammen integrierte Terminologieausbildung hinzu. Außer in naturwissenschafts- und technikbezogenen Terminologieinventaren und Terminologieverwaltungssystemen sind die angeführten Verwendungszusammenhänge in jeder Form sprachlichen und fachlichen Handelns interdependent und äußern sich in auf konkrete fachliche Inhalte bezogenen Textsorten und Kommunikationsformen, die als spezifische Ausprägungen sowohl wissenschaftlicher, institutioneller, technisierter als auch gruppenbezogener Kommunikationsweisen angesehen werden können. Insofern bilden Textsorten- und Sprachhandlungswissen für die angesprochenen Kommunikationsbereiche eine wichtige Basis für die Vermittlung von Kenntnissen über Textkonventionen mit Blick auf den Erwerb fremdsprachlicher Textproduktions- und -rezeptionsstrategien (vgl. dazu die Beschreibungen ausgewählter technischer und wissenschaftlicher Fachsprachen in den Kapiteln XV/XVI des Handbuchs Fachsprachen. Languages for Special Purposes, von Hoffmann/KalverkämperAViegand (1998)). Wenn auch nicht zu allen Fachwissenschaften linguistische Untersuchungen vorliegen, so ergeben sich doch auf Grund übergreifender Merkmale bei der Realisierung von Fachkommunikation adressaten- und fächerbezogene Vermittlungstypen, die sich in der fachkommunikativen Diversifikation der Kurse und Lehrmaterialien niederschlagen, z. B. Bausteine Fachdeutsch für Wissenschaftler: Informatik, Heidelberg 1991 (Lesekurs zur Erschließung von Hauptinformationen im Text) oder Praxishilfen für die Bildungsarbeit mit Aussiedlerinnen. Arbeitsbuch Maschinen- und Gerätetechnik, Werkstoffprüfung, Dortmund 1993 (Stützkurse, Berufsschulunterricht und fachpraktische Unterweisung). Im Bereich der wissenschaftlichen, auch der naturwissenschaftlich-technischen Ausbildung, geht es dabei um die sprachliche
Vorbereitung zur Bewältigung von Fachstudien in einer Fremdsprache. Dazu sind die Vermittlung von allgemeinen Studientechniken und eine breite, fächerübergreifende Kommunikationsfähigkeit notwendig. Diese Vorbereitung vermittelt z. B. Kenntnisse und Fertigkeiten im Hinblick auf studienrelevante Kommunikationsverfahren (wie Definieren oder Zusammenfassen), auf die Mitschrift und Wiedergabe wesentlicher Vorlesungsinhalte oder auf den Umgang mit Fachlexika. Für den Fachsprachenbedarf im Kontext naturwissenschaftlich-technisch geprägten beruflichen Lernens ist neben der Beherrschung funktionaler Sprechtätigkeiten ferner die Kenntnis von Fachwortschätzen, ihren Strukturen und Bildungsweisen relevant. Entscheidend dabei ist, dass im Sinne der modernen Fachsprachenlinguistik Fachsprache ganzheitlich begriffen wird als die , Sprache im Fach'. Damit wird die Hinführung in die Denk-, Sprach- und Handlungssysteme einzelner Fächer generelle fachsprachendidaktische Zielsetzung. Der Zugang und die Anwendung, d. h. das Verstehen von Fachsprache und der Umgang mit ihr, sind jedoch immer nur auf einen Ausschnitt begrenzt. Selbst die einzelfachbezogene Kommunikation, so sie sich denn deutlich abgrenzen und vollständig beschreiben ließe, kann im Unterricht nur ausschnitthaft und exemplarisch erarbeitet werden. Von daher muss sich der fachsprachliche Unterricht zunächst einmal thematisch-fachlich beschränken. Dabei stehen neben diffusen Großbereichen wie Technik oder Wissenschaft zunehmend eingeschränktere, genauer umrissene Teilbereiche wie Maschinenbau, Nuklearmedizin, Betontechnologie, dazu Spezialgebiete in einzelnen Fächern und Berufen. Arbeitsgrundlage ist deshalb immer der spezifische naturwissenschaftlich-technische Fachtext, dessen Auswahl oder Konstruktion sich nach den konkreten Ausbildungszielen und berufsspezifischen Bedürfnissen richten sollte. Deshalb müssen Fachsprachenforschung und Fachsprachendidaktik zusammenarbeiten, um zu ermitteln, welche konkreten (und typischen) Texte und Textsorten für den Erwerb bestimmter Fertigkeiten und in bestimmten Ausbildungssituationen einzusetzen sind. Denn nur an repräsentativen und adressatengerechten Texten lassen sich fachspezifische Arbeitsformen bewusstmachen, Informationen begrifflich erfassen und die si-
56. Naturwissenschaftliche und technische Fachtexte
tuations-adäquaten sprachlichen Handlungsmuster vermitteln, die für die jeweils angestrebte Tätigkeit sowie den Sprach- und Wissenserwerb grundlegend sind. Vorarbeiten dazu liefert die aktuelle Fachsprachenforschung (s. Fluck 1998) durch die Erarbeitung und Bereitstellung von technikund wissenschaftsbezogenen Fachtextcorpora (vgl. Hoberg 1994, 333ff.) sowie durch Analysen und Beschreibungen von schriftlichen wie mündlichen Fachtexten in ihrer kommunikationsspezifischen Funktion und Situation sowie in ihrer Verwendung sprachlicher und textueller Mittel (Textmuster). Besondere Beachtung im Hinblick auf berufliche Verwendungssituationen verdient hier künftig der mündliche Fachtext, der mit didaktischer Zielsetzung erst allmählich umfassender untersucht wird. Als Beispiel zu nennen ist die ausländischen Studenten in Deutschland immer wieder Schwierigkeiten bereitende universitäre Fachvorlesung, die erst jetzt ζ. B. im ingenieurwissenschaftlichen Bereich linguistisch und didaktisch umfassender untersucht und beschrieben wurde (Monteiro/Rösler 1993; Steinmüller 1995). 2.
Sprachstrukturelle Eigenschaften naturwissenschaftlicher/technischer Texte
2.1. Lexik/Morphologie Fachwörter (auch Benennung, Bezeichnung, Fachausdruck oder Terminus) sind nach allgemeiner Anschauung von besonderer Wichtigkeit für die naturwissenschaftlich-technischen Fachsprachen, da sie — neben graphischen Darstellungen - die Hauptinformationen der fachlichen Kommunikation tragen und fachliche Bedeutungs- und Wissenschaftsstrukturen abbilden. Gegenüber den gemeinsprachlichen Wörtern zeichen sich diese Fachwörter vor allem durch ihren fachbezogenen Inhalt und ihre weitgehende Kontextautonomie aus. Als weitere Eigenschaften werden in der Literatur die Tendenz zu Exaktheit, Eindeutigkeit, Begrifïlichkeit, Systematik, stilistische Neutralität und Ausdrucksökonomie genannt (vgl. Hoffmann 1976, 308f.). Diese Merkmale bzw. Idealvorstellungen wurden allerdings in jüngster Zeit mehrfach einer kritischen Betrachtung unterzogen - mit dem Ergebnis, dass sie relativiert und kontextbezogen differenziert werden müssen (z.B. Berck 1986; Kretzenbacher 1991/92; Roelcke 1995). Aller-
551 dings verlor auf der einen Seite mit dem Perspektivenwechsel der Fachsprachenforschung vom Terminus zum Text und einhergehend mit der zunehmenden Einsicht in die prinzipielle Differenziertheit von Fachsprachen auf allen linguistischen Ebenen die Fachlexik seit den 80er Jahren vorübergehend an Interesse. Auf der anderen Seite eröffneten sich auch neue Sichtweisen, insbesondere im Hinblick auf die Vorstellung vom Fachwort als hochkondensiertem Text, auf die Repräsentation, das Textbildungspotential und die Verständlichkeit von Fachlexik, auf die Objektorientierung der Terminologie sowie die Wissensorganisation und Wissensverwaltung durch die Verknüpfung von fachlichen und fachsprachlichen, in Begriffen und Benennungen festgelegten Wissensstrukturen (Picht 1993; Jahr 1993; Budin 1995). Generell wird der Fachbezug des Fachwortes dadurch gesichert, dass sein Inhalt fachspezifisch festgelegt wird, z.B. bleichen ,chemische Zerstörung von Farbstoffen in Textilfasern, wodurch die Fasern (bzw. die aus ihnen hergestellten Textilwaren) reinweiß werden'. Diese inhaltliche Festlegung ist in naturwissenschaftlich-technischen Texten von unterschiedlicher Strenge, denn die Merkmale der Exaktheit, Eindeutigkeit und die anderen genannten Fachworteigenschaften sind in den einzelnen Fächern, Textsorten und Verwendungssituationen unterschiedlich ausgeprägt. Die strengste Form der facheigenen inhaltlichen Festlegung in Naturwissenschaft und Technik ist die Definition. Bedeutungsmäßig festgelegte, d. h. definierte Fachwörter, werden teilweise auch als Termini bezeichnet. Ihre Aufgabe besteht darin, einen im betreffenden Fach exakt definierten Begriff oder Gegenstand möglichst eindeutig und einnamig zu bezeichnen. Dieses Ideal ist aber durch die Polysemie vieler Fachwörter auch im naturwissenschaftlich-technischen Bereich nicht in jedem Fall zu erreichen. Deshalb wird in vielen naturwissenschaftlich-technischen Fachbereichen versucht, durch Normung des Fachwortschatzes (Standardisierung) eigene Terminologien aufzubauen, ζ. B. in Form der VDI- oder DIN-Normen. Außer durch ihren fachbezogenen Inhalt unterscheiden sich Fachwörter von gemeinsprachlichen Wörtern vielfach zusätzlich durch eine abweichende Wortform, ζ. B. Siemens· Martin- Verfahren, Drei- Wege-Kat[alysatorj, DIN A4-Vorläge. Hierzu zählen auch die von der Gemeinsprache abweichenden
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VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
Mehrzahlformen wie fachsprachlich Muttern (z. B. Sechskant-, Kreuzloch-, Zweiloch-, Nut-, Überwurfmutter) vs. Mütter oder fachsprachlich Stäube (gemeinsprachlich ohne Pluralform). Innerhalb eines technischen oder naturwissenschaftlichen Fachgebietes erfolgt die Kommunikation immer bezogen auf die Situation und die Erfordernisse einzelner Anwendungsbereiche. Von daher lässt sich der Fachwortschatz auch nach den verschiedenen Anwendungssituationen und Kommunikationsbereichen differenzieren. Eine solche Differenzierung kann zum Beispiel in der Verwendung von Kurzformen (z.B. Kat < Katalysator) oder in Mehrfachbenennungen für denselben Gegenstand innerhalb eines Fachbereichs zum Ausdruck kommen, z.B. gilt in der Textilfertigung für ,textiles Gewebe' qualitativ: Ware, quantitativ: Stück, produktionstechnisch: [Web-]Erzeugnis, Muster usw. Allgemein lässt sich feststellen, dass gegenüber der Wissenschaftssprache in der Sprache der technischen Praxis die Zahl streng definierter Fachwörter abnimmt, da diese Art des Sprachgebrauchs stärker situativ eingebettet ist. Dieser unmittelbare Situationsbezug (z. B. an einer Maschine, vor einem Zeichenbrett, in einer bestimmten Institution oder Betriebsabteilung) erlaubt u. a. emotionale Komponenten, wie sie in metaphorischen Fachwortbildungen zum Ausdruck kommen (z. B. Fliegende Akzente ,nachträglich über einem Buchstaben per Fotosatz erzeugter Akzent') oder in Kurzformen (z. B. Stein < Baustein) und gemeinsprachlichen Umschreibungen (z. B. schneller Brüter ,best. Atomreaktortyp'). Die Doppelterminologie, d. h. sprachliche Dubletten mit unterschiedlicher Zugehörigkeit zu fachsprachlichen Registern und zumeist unterschiedlichen Kontextumgebungen (Entrophierung vs. Überdüngung) ist eine vor allem in Vermittlungstexten häufiger anzutreffende Erscheinung (vgl. Thurmair 1995, 247 ff.). Verschiedentlich wurde ermittelt, dass in einem technischen Text der Anteil der allgemeinwissenschaftlichen und speziellen Lexik (darunter sind sachbezogene Wörter und Fachwörter zu verstehen bzw. Termini niedriger' und ,höherer' Ordnung, d. h. eine Terminologie - bezogen auf Fachlichkeit, Bedeutungstiefe und Grad der Festlegung - im weiteren oder im engeren Sinne) normalerweise 30% des Gesamtwortschatzes nicht
übersteigt. D. h. Aufmerksamkeit verdient auch der sogenannte allgemeinwissenschaftliche Wortschatz, wie ihn Erk (1972/85) umfassend ermittelt hat. Über den Anteil der einzelnen Wortarten liegen für die einzelnen Fachbereiche keine gesicherten Daten vor, doch steht aufgrund von Einzeluntersuchungen fest, dass Substantive mit rund zwei Drittel aller Stichwörter und finite Verben mit etwa 10% vertreten sind (z. B. Benes 1981, 192f. und Auswertung von Seminararbeiten), d. h. in diesem Bereich eine relativ hohe textuelle Fachsprachlichkeit besteht. Von großer Bedeutung sind auch die Wortklassen Adverb, Präposition, Konjunktion, Pronomen, Artikel und Partikel. Im Bereich der Wortbildung zeigt die Sichtung der Ergebnisse von älteren und neueren Einzeluntersuchungen (z.B. Reinhardt 1975; Spiegel 1979; Zhu 1987; Zhang 1990; Eydam 1992), dass im naturwissenschaftlich-technischen Bereich einige Möglichkeiten nicht (mehr) oder nur selten genutzt werden (z. B. die Verkleinerungssuffixe -chen und -lein oder die gemeinsprachlich produktive Substantivableitung auf -i vom Typ Abi, Krimi usw.), bestimmte typische Wortbildungsmuster dagegen nahezu regelhaft wiederkehren oder besonders produktiv sind (z. B. sogenannte Bindestrichwörter, Wortgruppenbildungen oder -««^-Derivate). Als allgemein wichtige produktive Bildungsmöglichkeiten gelten in Naturwissenschaft und Technik: • Fachbezogene Verwendung gemeinsprachlicher Wörter (Metaphorik, Metonymie, definitorische Festlegung) • Verwendung von Wortelementen aus anderen Sprachen (Entlehnung, Lehnübersetzung) • Ableitung • Bildung von Mehrwortbenennungen (Zusammensetzung, Wortgruppe) • Kürzungsverfahren Die Nutzung und Überführung bereits vorhandener Lexeme in den Fachwortschatz, die sich oft von Form- oder Funktionsähnlichkeiten der Gegenstände und Vorgänge leiten lassen, spielt in allen Disziplinen von (Naturwissenschaft und Technik eine wichtige Rolle. Dabei sind drei Hauptverfahren zu unterscheiden: metaphorischer Gebrauch, Metonymie und definitorische Festlegung durch Bedeutungsverengung oder -erweiterung. Bei diesen Verfahren kann ein Lexem in mehre-
56. Naturwissenschaftliche und technische Fachtexte
ren Fachsprachen zugleich auftreten, auch kann es durch seine Bildhaftigkeit störende Assoziationen auslösen oder keine Eindeutigkeit und Durchsichtigkeit erzielen. Deshalb werden solche Bildungen von Seiten der Terminologienormierung nicht geschätzt, doch wurde den Fachsprachen durch diese Verfahren ein beachtliches Reservoir zur Deckung ihres Benennungsbedarfs erschlossen. Um neue Gegenstände und fachliche Erscheinungen zu benennen, spielt so die Metaphorik auch in den technischen Fachsprachen eine wichtige Rolle. Je nach Art des der Metapher zugrundeliegenden Vergleichs lassen sich hier Form-, Funktions-, Bewegungs-, Lagemetaphern usw. unterscheiden oder Differenzierungen nach Entlehnungssphäre und Analogieart treffen (vgl. Brand 1995, 9fT.). Viele dieser bildhaft-anschaulichen Bezeichnungen beziehen sich auf den Bereich des tierischen oder menschlichen Körpers, z.B. Horn, Schnabel; Arm, Knie, Lippe, Kopf (ζ. B. Schraubenkopf) [Metallverarbeitung]; Elefantenrüssel, Fliegenkopf, Hasenohr, Schwalbenschwanz [Schriftsetzersprache]. In geringerem Maße werden auch Tiernamen terminologisiert (ζ. B. Frosch, Hahn, Hund, Schnecke). Der Bildgehalt solcher metaphorischer Bezeichnungen verblasst allerdings mit zunehmendem Gebrauch und die expressiv-emotionalen Konnotationen gehen zurück (z.B. Bremstrommel, Materialfluss oder Datennetz). Die Metonymie ist neben der Metaphorik ein weiteres produktives Mittel zur Bildung von Fachbezeichnungen. Produktiv in den naturwissenschaftlich-technischen Fachsprachen ist insbesondere die Übertragung der Namen von Personen auf ihre Entdeckungen, Erfindungen oder technische Verfahren, ohne dass zunächst eine Änderung der Lautform erfolgt. Syntaktisch-morphologisch handelt es sich um einen Wechsel der Wortart (sogenannte Konversion, Nullableitung). Dies bedeutet, dass die konvertierten Wörter die morphologisch-syntaktischen Funktionen der neuen Wortart übernehmen und Zusammensetzungen, Ableitungen und Präfigierungen ermöglichen (ζ. B. Bessemerverfahren, Dieselmotor, Einsteinium [ehem. Element nach A. Einstein], Kilowatt, Vickershärte, Wankelmotor; voltaisch, dieseln, mendeln, röntgen). Hauptmethode aber, um vorhandene Lexeme in den deutschen Fachwortschatz zu überführen, ist gerade im naturwissenschaftlich-technischen Bereich die defxnitorische Festlegung. Durch eine solche Nominal- oder
553 Feststellungsdefinition wurden im naturwissenschaftlich-technischen Bereich viele Grundbegriffe mit einer Benennung versehen, ζ. B. in der Elektrotechnik Strom, in der Physik Zeit, im Bauwesen Brücke, in der Mathematik Zahl. Ausschlaggebend für diese Terminologisierung eines allgemeinsprachlichen Wortes sind dabei jeweils der fachwissenschaftliche Entwicklungsstand und die fachsystematische Bedeutungszuordnung (vgl. ζ. B. zur Begriffsbildung und zum Begriffslernen aus dem Schulbereich: Eine Bewegung heißt gleichförmig, wenn sich die Geschwindigkeit nicht ändert. Eine Bewegung heißt beschleunigt, wenn sich die Geschwindigkeit ändert und aus dem Praxisbereich: Beim Löten werden metallische Werkstoffe durch ein Lot verbunden. Es entsteht eine unlösbare Stoff schlüssige Verbindung). Die Tatsache der Nutzung allgemeiner Termini in spezialisierter Bedeutung in verschiedenen Disziplinen eines Faches verursacht gelegentlich Polysemie von Fachbezeichnungen. So ist ζ. B. die Bezeichnung Kanal Fachwort der Rundfunktechnik (.bestimmter Frequenzbereich eines Senders') und der Informatik (.Funktionseinheit, die einen Datenweg zwischen einem Steuerwerk und dem Zentralspeicher herstellt'); das Lexem Frosch findet sich u. a. im Bergbau, in der Textiltechnik, im Hoch- und Tiefbau sowie in der Elektro-, Fertigungs- und Drucktechnik. Diese Polysemie wirkt sich in der fachlichen Kommunikation allerdings kaum störend aus, da den einzelnen Bezeichnungen entweder attributive oder defínitorische Erläuterungen hinzugefügt werden (z. B. elektrischer Strom) oder der Kontext Klarheit schafft. Ein wesentlicher Teil auch des naturwissenschaftlich-technischen Wortschatzes wird mit Wortelementen aus fremden Sprachen gebildet, insbesondere aus dem Lateinischen und Griechischen. Dies gilt nicht nur für traditionelle' Fächer wie Chemie, Physik oder Medizin, sondern auch für die jüngeren wie z.B. Elektrotechnik, Informatik oder Umwelttechnik. Durch den Prozess der Internationalisierung der Wissenschaften nimmt dieser Anteil sogar zu. Eine repräsentative Stichprobe für den Bereich der Fachsprache der Elektrotechnik ergab für das Technik- Wörterbuch Elektrotechnik (1967/72) einen Anteil von 70,8% internationaler Wortbildungselemente an allen verzeichneten Termini (Herms 1978, 66). Reinhardt u. a. (1992) nennen für die deutsche Fachsprache der Technik rund
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VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
500 lateinische und griechische Stammelemente, die in technischen Fachwörtern begegnen, und führen in Form einer Liste rund 90 fremde Präfixe und Halbpräfixe sowie etwa 60 fremde Suffixe und deren Schreibvarianten auf (z. B. an ti-, pro-; -är, -ion, -tor usw.). Hinzu kommen Fachwortübernahmen aus fremden Sprachen - heute vor allem aus dem Englischen - , die mit technischen Neuerungen oder wissenschaftlichen Entdeckungen aus anderen Ländern übernommen werden (auch in Normentwürfe und Normen) und teilweise als Lehnwörter, teils als Fremdwörter weiterleben (z. B. Chip, Computer, Installation, Migrations-Pills, , Faserknötchen , User-Interface). Bedeutsam in allen Fachsprachen ist auch die Wortableitung. So erreichen in wissenschaftlich-technischen Texten bestimmte Suffixe eine hohe Frequenz und zeigen eine hohe Produktivität wie -er, -ung, -heit, -keit sowie die fremden Suffixe -ion, -ie, tat u. a. Unter den Adjektivsuffixen in wissenschaftlichen Texten besonders produktiv sind z. B. im Erkschen Korpus (1972) - nach ihrer Reihenfolge — (1) -isch, (2) -lieh, (3) -ig, (4) -bar, (5) -los, (6) -haft, (7) -weise und (8) -mäßig. Dazu als fremde Suffixe (1) -al, (2) -iv, (3) -eil, (4) -ent und (5) -är (Mentrup 1978, 66). Im technischen Bereich spielen die Suffixe -bar, -haft, -lieh und -sam sowie -los und -frei eine bedeutende Rolle (vgl. die VDIRichtlinien 2270/1963 und 2273/1965). Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang noch die Fähigkeit verschiedener Suffixbildungen terminologische Oppositionen zu bilden wie Rohteil/Halbfertigteil/Fertigteil, sauerstoffreich vs. sauerstoffarm, lösbar (was gelöst werden kann) vs. löslich (was sich löst) oder zur sog. technischen Graduation beizutragen (z. B. fest — hochfest, genau — passgenaü). Produktive und semantisch weitgehend neutrale Suffixe zur Bildung von Verben sind -en (faxen) sowie die Suffixerweiterung -ieren (formatieren) und die Suffixelemente -isieren und fizieren (automatisieren, kristallisieren, elektrifizieren, klassifizieren). Präfix- und Partikelbildungen sind vor allem für den verbalen technischen Wortschatz kennzeichnend und weisen dort eine hohe Frequenz auf (z.B. an-, ein-, durch-, zer-, absägen). Ihre Leistung besteht in der Differenzierung und Verdeutlichung von Vorgängen; außerdem haben sie eine große sprachökonomische Wirkung, indem sie die Satzmodelle vereinfachen. Zum Beispiel ersetzt (Zahnrad) anfetten den sprachlichen
Ausdruck ,(Zahnrad) vor dem Einbau leicht einfetten', umformen ersetzt ,Stoffeigenschaften ändern durch Biegen, Schmieden, Ziehen, Walzen', verschneiden/Verschnitt,etwas falsch schneiden bzw. fehlerhaft geschnittenes Teil', zwischenglühen ersetzt ,(ein Werkstück) zwischen zwei Arbeitsvorgängen glühen' (vgl. Spiegel 1979, 28). Und mit Hilfe von Partikeln lassen sich technische Vorgänge abstufen und in ihrer Bedeutung differenzieren, z.B. vor wärmen vorbereitendes Wärmen' - auswärmen ,Wärmen bis zu einem bestimmten Grad'. Hier spielen auch fremde Präfixe und Partikeln, vor allem im Wissenschaftsbereich, eine große Rolle (z. B. destabilisieren, extrahieren, translozieren, vgl. detaillierter Reinhardt/Köhler/Neubert 1992). Deutsche Präfixe und Partikeln lassen sich gelegentlich mit fremden austauschen (intermolekular — zwischenmolekular), durchgehende Konkurrenzen lassen sich jedoch nicht nachweisen. Im Bereich Ökotechnik sind u. a. folgende neue Bildungsmittel produktiv: freundlich (umweit-, reparaturfreundlich), Alt(Altöl, Altglas, Altstoffe) sowie Mehrweg(Mehrwegflasche, Mehrwegsteige, Mehrwegsystem) und das gegensätzliche Einweg- (Einwegflasche) (Toschi 1994, 109 f.); selten begegnen dagegen Ableitungen auf -e vom Typ Wichte f. Sehr produktiv im Deutschen und sehr häufig in der naturwissenschaftlich-technischen Fachsprache verwendet wird das Mittel der Wortzusammensetzung. Dabei gilt im nominalen Bereich das Kompositum als das meistgenutzte Wortbildungsprinzip, wobei am häufigsten zweigliedrige Komposita auftreten (Ischreyt 1965, 177ff.; Herzog 1969, 2; Spiegel 1979, 26). In aktuellen Untersuchungen diverser technischer Fachbereiche im Rahmen studentischer Seminararbeiten (TUD) lagen die ermittelten Werte bei 50 bis 80%, wie der folgende Auszug aus der Wortliste (Abb. 56.1) eines Lehrbuchtextes (1987) für die Grundstufe im Bereich Installation/Metallbau verdeutlicht (die Zahlen geben die Frequenzen im Text an). Die Zusammensetzung wird in der Fachsprache der Naturwissenschaft und Technik deshalb gerne verwendet, da man mit ihrer Hilfe neben differenzierenden Aussagen auch sprachökonomische Ziele (d. h. möglichst viele Informationen mit möglichst wenigen Worten zu vermitteln sowie die Übersichtlichkeit der Darstellung) erreichen kann. Einerseits wird der sonst durch längere und umständlichere Konstruktionen (z.B. präposi-
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56. Naturwissenschaftliche und technische Fachtexte
1 1 1 2 3 1 1 1 1 1 1 1 1 1 2 1 1 1 1 1 3
Metallrohren Mit Muffen Möglichkeit Nach Nacharbeit Nachteile Naht Neben Ob Oxidschichten Pinsel Prinzip Profile Propan-Luft-Brenner Rauchwölkchen Reihenfolge Richtig Rohrbürste Rohre Rohrende
3 1 1 1 1 2 2 1 1 2 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
Rohrenden Rohrinnere Rohrinnern Rückstände Scheinwerfereinsätzen Schmelztemperatur Schmelztemperaturen Schmirgelleinen Schweißbrenner Schweißen Schwerkraft Silberlot Spalt Spenglerei Spülen Stahlblechen Stahlwolle Teile Temperaturbeständigkeit Titanzinkblechen Unterlage
1 2 1 2 2 1 1 1 1 1 1 2 1 1 6 1 2 6 1
Verbinden Verbindung Verbindungen Verbindungsstelle Verbindungsstellen Verbindungstelle [sie] Verbindungstellen [sie] Vergleich Vor Vorzüge Wann Warmwasserinstallation Warmwasserleitungen Was Weichlöten Werkstoff Werkstoffe Werkstücke Werkstücken
Abb. 56.1: Produktivität der Wortzusammensetzung im Bereich Naturwissenschaften/Technik (Grundstufe Installation/Metallbau).
tionale Fügungen, Attribute, Appositionen, Relativsätze usw.) zu umschreibende Begriff durch die Zusammensetzung in einer Benennung ökonomisch zusammengefasst, andererseits wird die Flektion für die nominalen Komposita vereinfacht. Denn es wird nur noch der zweite Bestandteil des Kompositums flektiert, so dass diese Art der Mehrwortbenennung auch dann noch eher sprachökonomisch ist, wenn sie sich von der Wortgruppe im äußeren Umfang kaum unterscheidet (vgl. Spiegel 1979, 27). In der naturwissenschaftlich-technischen Fachsprache treten neben zweigliedrigen auch relativ oft drei- und mehrgliedrige Komposita auf. Diese vielgliedrigen Zusammensetzungen wie Drehstromkurzschlussläufermotor, Lochkartenziehkartei, Spannungs-Dehnungs-Diagramm zählen zu den auffälligen Kennzeichen der technischen Fachsprachen. Uberlange Fachwörter (z.B. 2-C-Vierzylinder-VerbundHeißdampf-Schnellzuglokomotive, Schmalrollen - Glühband - Längsbrenn - Schneidmaschine) sind jedoch selten. Im Deutschen sind daneben auch Wortgruppen mit Terminuscharakter vorhanden. Darunter versteht man mindestens zwei getrennt geschriebene, aber syntaktisch verbundene Wörter, ζ. B. Härteprüfung nach Rockwell, höhenverstellbares Lenkrad, schall-
gedämpfte Bauweise, selbstbohrende Blechschraube (vgl. Zhang 1990). Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang die für den technischen Bereich typischen mit Gerundiv (wie querliegend und selbstbohrend) oder mit Partizipien gebildeten zusammengesetzten Adjektive (wie die produktiven Partizipialbildungen vom Typ -gesteuert [computergesteuert, signalgesteuert usw.], spiralverzahnt, wendelgenutet oder rollennahtgeschweißt). Neben der Extension im Wortschatz hat auch die Verkürzung der sprachlichen Ausdrucksformen bzw. der Wörter in unserem wissenschaftlich-technischen Zeitalter bei dem großen Bedarf an neuen Wörtern eine früher unbekannte Dimension angenommen. Insbesondere in den wissenschaftlich-technischen Fachsprachen stellt die Verkürzung der sprachlichen Ausdrucksformen als Folge der Tendenz zur Vereinfachung und Sprachökonomie ein produktives und aktives Wortbildungsverfahren dar. Zu unterscheiden sind hier zwei grundlegende Kürzungsverfahren, die man als mechanische Kürzung (ζ. B. D/AWandler < Digital-Analog-Wandler, Frästisch < Fräsmaschinentisch, LKW < Lastkraftwagen) und als semantische Kürzung (ζ. B. Rechner < Rechenanlage-l-maschine) bezeichnen kann.
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VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
Gezielte Terminologiearbeit ist dann notwendig, wenn die fachliche Verständigung fachintern, interfachlich und international gesichert werden soll. Sie besteht in der Bestandsaufnahme, Vereinheitlichung und Weiterentwicklung der Fachwortschätze. Die verbindliche Festlegung oder Empfehlung von Fachbezeichnungen für bestimmte Gegenstände, wissenschaftlich-technische Sachverhalte und Verfahren erfolgt in Normblättern, die von verschiedenen Institutionen (DIN, ISO) erarbeitet werden. Die Normblätter folgen bestimmten Benennungsgrundsätzen, wie sie in den Normblättern „Begriffe und Benennungen. Allgemeine Grundsätze" (DIN 2330/1979) oder „Principles and Methods of Terminology" (ISO 704/ 1987) vorliegen. Diese Grundsätze beruhen auf der Vorstellung, dass der Sprache als einem System von Benennungen ein System von Begriffen zugrunde liegt. Diesem Begriffssystem wird dann ein Benennungssystem zugeordnet, wie das folgende Beispiel (Abb. 56.2) zur Einteilung der Werkstoffe zeigt:
und Nebenordnung (wie natürliche/künstliche Werkstoffe) unterscheiden. Dagegen sind ontologische Beziehungen zwischen Begriffen mittelbar und bestehen zwischen den Individuen, die unter die entsprechenden Begriffe fallen. Sie drücken räumliche oder zeitliche Berührung und ursächliche Zusammenhänge aus. Dabei gibt es Bestandsbeziehungen zwischen zwei und mehr Begriffen mit Bestandsunterordnung (z.B. Typendrucker, Paralleldrucker) oder Bestandsnebenordnung (z. B. Typenkettendrucker, Typenwalzendrucker). Die Einordnung von Begriffen in die beiden genannten Begriffssysteme ist charakteristisch für die Denk- und Darstellungsweise naturwissenschaftlich-technischer Fächer. Diese ist teilweise kulturspezifisch ausgeprägt, so dass es bei der Festlegung von Merkmalshierarchien zu semantischen Abweichungen zwischen Benennungen der Zielsprache und der Ausgangssprache kommen kann, z. B. bei der Merkmalsbestimmung und -Zuordnung von Hartpapier und Leiterplatte im Deutschen und Chinesischen (Abb. 56.3).
Einteilung der Werkstoffe
Werkstoffe
Metalle
Eisenrnetalle
Verbundstoffe*
Nichteisenmetalle
Stahl
Gußwerkstoffe
Leichtmetalle
Schwermetalle
Baustahl Werkzeugstahl
Gußeisen Stahlguß
z.B. Aluminium
z.B. Gold
Nichtr netalle
natürliche Werkstoffe
künstliche Werkstoffe
z.B. Stein
z.B. Kunststoff
* Verbund(werk)stoffe bestehen aus mehreren Einzel(werk)stoffen mit ihren unterschiedlichen Eigenschaften. Verbund(werk)stofle sind z.B. Beton, Hartmetall.
Abb. 56.2: Begriffssystematik und Benennungssystem (Werkstoffe).
Die hier verdeutlichte systematische Dimension der Fachlexik beruht auf logischen und ontologischen Begriffsbeziehungen. Die logischen Beziehungen zwischen den Begriffen sind unmittelbar und bestehen im Grad und der Ähnlichkeit. Dabei lassen sich Unterordnung (wie Metalle, Nichteisenmetalle)
Wegen der großen Bedeutung systematischer Gliederungen dieser Art stehen daher der Begriff „Begriff", die Bildung und Ordnung von Begriffen sowie die Definition und Definitionsverfahren an erster Stelle der Grundsätze zur praxisbezogenen Terminologiearbeit.
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56. Naturwissenschaftliche und technische Fachtexte
Deutsch Einschränkende Merkmale Leiterplatte (Bestandsteil) Einschränkende Merkmale Hartpapier (Physikalische Eigenschaft)
Chinesisch yin shua dian lu ban (ÉpWMü&ÍS) \ (Herstellungsverfahren) -> jiao zhi ban \ (Material)
Abb. 56.3: Kulturspezifisch geprägte Bestimmung und Zuordnung von Begriffsmerkmalen (deutsch-chinesisch).
2.2. Syntax Zwar kann man nicht generell von einer eigenen fachsprachlichen Syntax sprechen, doch führen die bisherigen Forschungsergebnisse zu dem Schluss, dass sich die syntaktischen Mittel in technischen und naturwissenschaftlichen Fachtexten in ihrer Frequenz und Verwendungsweise von der Sprachverwendung in nicht-fachbezogener Kommunikation teilweise erheblich unterscheiden und in einem relativ geschlossenen System zusammenfassen lassen. Dies gilt insbesondere für die bisher am ausführlichsten untersuchte schriftliche Kommunikation im theoretisch-fachlichen Bereich wissenschaftlicher Fachsprachen, für die inzwischen eine eigene Grammatik für den Lernenden vorgelegt wurde (Fuhr 1989). Hier begegnen nicht nur gemeinsame Merkmale in den verschiedenen wissenschaftlichen und technischen Disziplinen (vgl. z.B. Benes 1981, 187 ff.), sondern es konnten auch weitgehende syntaktisch-stilistische Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen zwischen den verschiedenen nationalsprachlichen Wissenschaftssprachen (Englisch, Französisch, Russisch u. a.) festgestellt werden. Genannt seien die Vorliebe für Nominalisierungen, verbunden mit der Verwendung bedeutungsarmer oder bedeutungsgeminderter Verben und bestimmter syntaktische Strukturwörter. Außerdem ist auf die Bevorzugung von Passiv-, Participial- und Infinitivkonstruktionen hinzuweisen, um Zeit, Ursache, Mittel, Bedingungen, Ziel und Folge auszudrücken (z. B. Stein 1993; Baakes 1994; Chen 1995). Die genannten Tendenzen beruhen auf der Sachbezogenheit und dem Bestreben nach Klarheit und Ökonomie, die Merkmale aller naturwissenschaftlich-technischen Fachtexte sind. Diese drücken sich außer in verschiedenen Formen der Entpersönlichung (vgl. Kresta 1995) z. B. noch in der starken Nutzung von Attribuierungsmöglichkeiten aus, die zu geradlinigen Satzstrukturen und insgesamt zu
einer Reduktion der gemeinsprachlichen syntaktischen Mittel führen. Es wäre allerdings falsch, ein zu einheitliches Bild der Syntax in Fachtexten zu entwerfen, denn die Sprache der Technik oder der Naturwissenschaften oder den naturwissenschaftlich-technischen Fachtext gibt es nicht, wie zahlreiche Einzeldarstellungen und vergleichende Untersuchungen gezeigt haben (z.B. Hoffmann 1976; Schwanzer 1981; Eydam 1992; Göpferich 1995a). Neben fachlich bedingte Unterschiede treten textsortenbedingte Unterschiede in der syntaktischen Gestaltung von Fachtexten. Fachzeitschriften für Physik und Chemie unterscheiden sich z. B. in der Komplexität präpositionaler Wortgruppen mit einem Verbalsubstantiv als Kern nach Zahl und Art der nachgestellten Attribute von entsprechenden Lehrtexten, chemiebezogene Labordiskurse von Versuchanleitungen im Einsatz und der Handlungsqualität der Passiwerwendung (Chen 1995). Hinzu treten Unterschiede zwischen schriftlicher und mündlicher fachbezogener Kommunikation, die erst allmählich erforscht werden (vgl. Lenz 1989, Munsberg 1994). Typisch für viele naturwissenschaftlichtechnische Texte ist eine starke Verkürzung der Satzlänge, die aus der Neigung zur Komprimierung der Darstellung resultiert (z.B. Ausdruck eines Relativsatzes durch eine Zusammensetzung, Realisierung einer sonst durch einen Nebensatz formulierten Aussage durch eine präpositionale Wortgruppe; vgl. Benes 1981, 189f.; Möslein 1981, 303ff.). Mit der Satzverkürzung verbunden ist ein Rückgang der Satzgefüge, die in der heutigen Wissenschaftssprache einen durchschnittlichen Anteil von weniger als 40% einnehmen. Üblicherweise enthält ein Satzgefüge nur 1—2 Nebensätze, die überwiegend parataktisch miteinander verbunden sind. Auffallig ist die Häufigkeit des einfachen Satzes mit ca. 40—50%. Er wird jedoch ge-
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VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
kennzeichnet durch starke Erweiterungen und Auffüllungen, die dem Bestreben der fachsprachlichen Kommunikation nach Deutlichkeit und Ökonomie entgegenkommen. In der Wissenschaftssprache dominiert der vollständige Satz mit einem finiten Verb gegenüber elliptischen Satzgebilden, die vor allem in bestimmten Textsorten wie Laborberichten auftreten (vgl. Benes 1981, 191). Bei den Satzarten dominiert der Aussagesatz, während Frage·, Ausrufe- und Befehlssatz dagegen höchst selten und zudem nur mit eingeschränkten Funktionen vorkommen (z.B. Fragesatz als Themaformulierung oder rhetorische Frage). Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass naturwissenschaftlich-technische Fachtexte auch in Bezug auf die Valenzstruktur charakteristische Merkmale aufweisen (z.B. höhere Ausnutzung der Fähigkeit des finiten Verbs, obligatorische und fakultative Ergänzungen an sich zu binden). Insgesamt lässt sich feststellen, dass in wissenschaftlichtechnischen Fachtexten gegenüber der Gemeinsprache eine Tendenz zur Reduktion und damit zur Vereinheitlichung der Verbvalenz besteht. Dies bedeutet für den Satzbau, dass man häufig gleiche oder ähnliche Satzstrukturen findet, die auf einer begrenzten Zahl produktiver Satzbaupläne beruhen (vgl. Fluck u. a. 1997, 85f.). Als weiteres syntaktisch-stilistisches Merkmal in naturwissenschaftlich-technischen Fachtexten gelten der Rückgang der Verben und die Bevorzugung der Substantive. Unter semantischem Aspekt dominieren die bedeutungsschwachen Verben wie zeigen, liegen, machen usw. Bedeutungsschwache Verben sind vorwiegend sog. Funktionsverben, die mit einer Nominal- oder Präpositionalphrase ein Funktionsverbgefüge bilden. Diese weisen in der naturwissenschaftlich-technischen Fachsprache spezifische Leistungen auf: Sie dienen der Entpersönlichung und der Ausdifferenzierung der Aktionsarten (z. B. inchoativ, durativ, resultativ). Auffälliges Charakteristikum der naturwissenschaftlich-technischen Fachsprache ist auch die Häufung von Nominalisierungen (z.B. Verbalabstrakta wie Substantive auf -ung, substantivierte Infinitive, nominale Gruppen: die Bohrung, das Einlesen, Isolationsversagen, beim Erhitzen). Wegen der Besonderheit der naturwissenschaftlich-technischen Kommunikation beschränken sich die verschiedenen Verbalkategorien in den Fachtexten auf bestimmte For-
men, nämlich vorwiegend auf die gegenstandsbezogene und neutrale 3. Pers. Singular und Plural, während die anderen Personalformen - auch aus Gründen der Redundanz — selten oder nie auftreten. In Bezug auf Tempus, Modus und Genus gelten folgende Analyseergebnisse: In der naturwissenschaftlich-technischen Kommunikation wird das Präsens bevorzugt, weil zumeist allgemeingültige Sachverhalte ausgedrückt werden, die an keine objektive Zeit gebunden sind. Der Gebrauch des Präteritums ist dagegen von der Fachtextsorte und dem jeweiligen Fachgebiet abhängig. Beim Konjunktivgebrauch lassen sich nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Einschränkungen beobachten. Hochfrequent und ein ebenso unentbehrliches wie funktionsgerechtes Ausdrucksmittel der deutschen Fachsprache sind die Passivfügungen in technischen Texten, da hier gegenüber gemeinsprachlichen Texten der Gegenstand, das Ziel oder das Ergebnis einer Handlung im Vordergrund stehen (Entpersönlichung, Verallgemeinerung). Während beim Vorgangspassiv ein Prozess im Mittelpunkt steht, ermöglicht das Zustandspassiv die Darstellung eines erreichten Zustandes bzw. eines Prozessresultats. Neben der Hervorhebung der Zielgröße einer Handlung kommen die Funktionen des Passivs den sprachlichen Bedürfnissen der Wissenschaftler und Techniker noch auf andere Weise entgegen. Passivfügungen in der Fachkommunikation erlauben: • • • •
Darstellung der Allgemeingültigkeit Betonung des sinntragenden Verbs Auslassen des Urhebers (des Agens) Differenzierte Darstellung des Handlungsträgers, der Methode und des Mittels • Betonung einer bestimmten Handlungsqualität (z.B. Kommentieren, Akzentuierung einzelner Tätigkeitsphasen) • Ausgleich eines unvollkommenen Wortartwechsels Um der Monotonie passivischer Satzkonstruktionen zu entgehen (wenngleich die Form der Wiederholung in den Bereichen Syntax und Terminologie in Fachtexten einen von der Gemeinsprache abweichenden stilistischen Stellenwert besitzt), werden gern passivische Ausdrucksmittel wie Fügungen mit man, Funktionsverbgefüge, Infinitivkonstruktionen oder Reflexivfügungen als Ersatzformen eingesetzt (PVC kann man verformen, Ρ VC kann verformt werden, Ρ VC lässt sich verformen, Ρ VC ist verformbar).
56. Naturwissenschaftliche und technische Fachtexte
Im Hinblick auf den Ausdruck von Modalitätstypen wie Gewissheit, Ungewissheit, Vermutung, Bedingtheit, Notwendigkeit, Forderung, Möglichkeit oder Unmöglichkeit dominiert in naturwissenschaftlich-technischen Texten der Indikativ. Hinter der meist allgemeingültigen Darstellung gesetzmäßig ablaufender Prozesse oder der exakten Beschreibung von Gegenständen, Zuständen u. ä. tritt die persönliche Stellungnahme zurück und entsprechend werden die Konjunktivanteile und der Anteil des Imperativs reduziert. In naturwissenschaftlich-technischen Texten wird der Konjunktiv relativ häufig in der Zitation und zum Ausdruck der Subjektivität im Nebensatz gebraucht. Außerdem wird der Konjunktiv I häufig in Verbindung mit dem Pronomen man in Gebrauchsanweisungen, mathematischen Aufgaben usw. etwa zum Ausdruck einer Aufforderung verwendet: Man berechne die Lösungen der Gleichung ... Ein spezifischer Konjunktivgebrauch in der Mathematik erfolgt bei Setzungen (x sei eine natürliche Zahl) und bei der Angabe von Annahmen/Voraussetzungen (Sei ε > 0 vorgegeben. δ bezeichne die Zahl mit ...). Im Unterschied dazu wird der Konjunktiv II mathematisch zur Darstellung von Kontraposition (Muster: Ist A, so ist auch B. Denn: Wäre B, so wäre auch A.) und indirektem Schluss verwendet (Muster: A gilt nicht. Denn: Wäre A, so auch B. Aber Β gilt nicht). Im wissenschaftlich-technischen Bereich dient er der Kennzeichnung eines nicht vorhandenen oder unrealisierbaren Sachverhaltes (ζ. B. Die Kühlflüssigkeit träte durch die Öffnung D in den Kolbeninnenraum ein.), während er im Konditionalsatz häufig unmögliche oder unerwünschte Sachverhalte ausdrückt (z.B. Wenn die Temperatur den Punkt A überschritte, träte eine [unerwünschte] Veränderung der Werkstoffeigenschaften ein.). Zur Kennzeichnung der Modalität werden in der naturwissenschaftlich-technischen Kommunikation außerdem lexikalische Mittel verwendet, vor allem Modalpartikeln (vielleicht, angeblich usw.), Präpositionalgruppen (ζ. B. meiner Auffassung nach), Adjektive mit modaler Bedeutung (ζ. B. möglich, notwendig), Ausdrücke in Satzform (ζ. B. man vermutet, dass ...), Wortbildungsmittel wie das Suffix -bar (ζ. B. spanend bearbeitbar ,kann zerspant werden') und Attribute mit modalem Charakter (ζ. B. dehnbare Werkstoffe). Neben ihrer modalen Komponente enthalten auch diese Mittel teilweise Möglichkeiten zur syntaktischen Komprimierung.
559 Für die naturwissenschaftlich-technische Sprache sind außerdem noch mit Blick auf den Aufbau des Einzelsatzes folgende spezifische Merkmale bestimmend: - häufiges Vorkommen freier Umstandsangaben, die oft Mittel/Urheber, Zeit, Raum oder Art und Weise bezeichnen; - häufiger Einsatz sogenannter sekundärer Präpositionen (z.B. angesichts, hinsichtlich, ungeachtet) oder Präpositionalfügungen (ζ. B. auf Grund, mit Hilfe, im Hinblick auf), die der semantischen Differenzierung dienen; - Bildung von nominalen Gruppen mit Hilfe von Präpositionen (am häufigsten bei, durch, zu, nach und mit), die Nebensätze ersetzen; - zwischen den nominalen Gruppen (Präpositionalgruppe) und den Nebensätzen (Konjunktionen) lassen sich durch Paraphrasierung feste Beziehungen ableiten (Möslein 1981,290). Dabei führt der Gebrauch von Präpositionalgruppen zu einer teilweise extremen syntaktischen Komprimierung und Informationsverdichtung (ζ. B. „Hilfsbremsanlage Ermöglicht es dem Fahrzeugführer, abstufbar die Geschwindigkeit oder die Geschwindigkeitsänderung eines Fahrzeugs bei einer Störung in der Betriebsbremsanlage zu verringern oder das Fahrzeug zum Stillstand zu bringen"). - Tendenz zur Vervielfachung und Reihung der Satzglieder, oft in Form einer Aufzählung, die zur übersichtlichen Darstellung dient. Als lexikalische Gliederungs- und Verknüpfungsmittel dienen Ziffern (1 ... 2 ...) oder Zahlwörter (erstens, zweitens ...), Buchstaben (a ... b ...) und Doppelkonjunktionen (einerseits — andererseits', wenn - dann). - Erweiterung des Einzelsatzes durch zahlreiche Einschübe (Parenthesen), die gleichfalls zur syntaktischen Komprimierung und zur Informationsverdichtung beitragen. Solche Parenthesen, die graphisch durch Klammern, Gedankenstriche u. a. gezeichnet sind, enthalten Textverweise oder bilden eine Art Kommentierung des vorangehenden Textes. - weitere Auffüllung des Einzelsatzes durch Attribute und Appositionen, wobei die Möglichkeiten der Attribuierung äußerst vielfaltig sind. Als wesentliches Kennzeichen des fachsprachlichen Satzbaus wird in diesem Zusam-
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VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
menhang die strenge Thema-Rhema-Gliederung angesehen, d. h. eine solche Anordnung der Satzglieder, dass ihr Mitteilungswert zum Satzende hin ansteigt (auch funktionale Satzperspektive genannt). Diese objektive Thema-Rhema-Abfolge äußert sich in der Wortfolge, z. B. in der Ausklammerung oder in der Verlegung des Subjekts zum Satzende hin, und ist mitverantwortlich für die Wahl z. B. der nominalen Ausdrucksweise, des Passivs und des erweiterten Partizipialattributs (vgl. z.B. Chen 1995). Damit verbunden ist die große Zahl anaphorischer Elemente am Beginn fachsprachlicher Sätze, die den thema-rhema-orientierten Textaufbau mitbestimmen. Als wichtige satzübergreifende allgemeine Merkmale, die der kommunikativen Gliederung dienen, sind noch die Genauigkeit und Vollständigkeit der fachsprachlichen Äußerung und ihrer thematischen Fixierung zu nennen. 3.
Textsorten- und Diskursmerkmale
Für zahlreiche einzelne Fachtextsorten zeichnen sich inzwischen spezifische ,Textbaupläne' ab, die für den fachorientierten Fremdsprachenunterricht relevant sind. Entsprechende text- und pragmalinguistisch orientierte Arbeiten liegen vor z.B. für [auch] naturwissenschaftlich-technische ,Abstracts' von wissenschaftlichen Zeitschriftenaufsätzen (vgl. Fluck 1988, Kretzenbacher 1991; Oldenburg 1992) und für technische Instruktionstexte (vgl. Liang 1988, Krings 1996). Abgeschlossen oder in Arbeit sind weitere, noch stärker empirisch fundierte und an repräsentativeren Textcorpora vorgenommene Analysen, die sich u. a. auf die Zusammenhänge zwischen semantischer und thematischer Textstruktur sowie auf die Beziehungen zwischen fachlichen Kommunikationsinhalten und -abläufen sowie ihrer fachsprachlichen Realisierung in Texten und Diskursen konzentrieren, auch in interkultureller und didaktischer Perspektive (z.B. Hoberg 1994; Munsberg 1994; Steinmüller 1995). Dabei wurde wiederholt festgestellt, dass bei bestimmten Textsorten mit soziokulturell determinierten unterschiedlichen Informationsanforderungen und Darstellungskonventionen (z. B. terminologische Isotopien oder Teiltextstrukturierungen bei Bedienungs- und Montageanleitungen) zu rechnen ist. Im Rahmen des Darmstädter Projekts „Textdatenbank Deutsch - Chinesisch" wurde u. a. festgestellt, dass im Deutschen eine
bestimmte Textsortenverwendung für einzelne Ingenieurgruppen als typisch anzusehen ist — je nach deren Aufgabenstellung und Einsatzgebieten. So ergeben sich z. B. aus der Sicht des Maschinenbaus folgende primäre Zusammenhänge zwischen Arbeitsgebieten und der Produktion/Rezeption relevanter schriftgebundener Fachtextsorten: Forschungsingenieur Konstruktionsingenieur
- (Versuchs)-Protokoll - (Labor-)Bericht — Beschreibung - (Konstruktions-)Katalog - Gebrauchsanweisung Patentingenieur - Tabellenwerk/DIN-Norm - Patentschrift - Antrag Sicherheits— Vorschrift ingenieur — Verordnung — Gutachten Betriebs-/Ferti- - Verordnung gungsingenieur - Anleitung - Beschreibung Montage- Handbuch ingenieur — Anleitung — Beschreibung Vertriebs- Prospekt ingenieur - technischer Werbetext - Katalog - (Vertrag) Verwaltungs- Katalog ingenieur — Vordruck/Formular Abb. 56.4: Arbeitsgebiete und Textsortenvorkommen im Bauingenieurwesen.
Bezogen auf entsprechende Studientexte des Faches (hier entsprechend dem Studienaufbau an der TU Darmstadt), ließen sich dann, je nach Schwierigkeitsgrad und Spezialisierungsstufe, z.B. zunächst folgende Klassifikationen vornehmen: Schwierigkeitsgrad
Spezialisierungsstufe
Stufe Stufe 1 Texte aus dem Grundfachstudium (A-Bereich) 1 Einführungstexte 2 Texte aus dem Hauptfachstudium (B-Bereich) 2 Grundlagentexte 3 Texte aus dem Vertiefungsstadium (C-Bereich) 3 Vertiefungstexte Abb. 56.5: Möglichkeit studienbezogener Fachtextklassifikation.
561
56. Naturwissenschaftliche und technische Fachtexte
Technik, Abgrenzungen nur insoweit sinnvoll leisten können, als sie pragmatisch orientierte Zielsetzungen haben, d. h. ζ. B. fâcher-, institutions·, ausbildungs- oder tätigkeitsbezogen angelegt sind. Daher ist die weitere Erarbeitung von Textsortenschemata aus der Sicht ζ. B. der einzelnen Sachfacher, der Linguistik oder der (Fremd-)Sprach(en)didaktik ebenso wünschenswert wie die weitere Verfolgung integrativer und mehrdimensionaler Ansätze. Durch zahlreiche textuelle Berührungen und Überschneidungen werden eindeutige Zuordnungen des einzelnen Textexemplars nach wie vor schwierig bleiben. Dennoch ist festzuhalten, dass wir es gerade in den naturwissenschaftlich-technischen Fächern häufig mit relativ klar abgrenzbaren Fachtextsorten zu tun haben. Dies zeigt sich teilweise schon in expliziten Textbezeichnungen wie Laborbericht, Versuchsprotokoll oder Konstruktionskatalog, die auf spezifische Tätigkeitsfelder und fachliche Handlungsmuster verweisen. Außerdem haben vorliegende Untersuchungen ergeben, dass wir es im Bereich von Naturwissenschaft und Technik mit formal meist streng gegliederten Texten zu tun haben, entsprechend
Eine weitere Unterteilung müsste dann entsprechend den Textsorten erfolgen, hier bezogen auf die studienrelevanten Hauptlehrwerke wie Lehrbuch, Handbuch, Fachbuch, Skript, Lexikon, Fachzeitschrift(enartikel) oder Gesetzestext/Vertrag. Dabei ist zu beachten, dass viele Lehrwerke multifunktional angelegt sind und außer als sachinformierendes Lehrbuch insbesondere auch als Arbeitsund Übungsbuch, Materialsammlung, Merkheft und Nachschlagewerk konzipiert sind (vgl. Bleichroth 1991, 308). Für den Ingenieur im Beruf, den Fachwissenschaftler sowie für den naturwissenschaftlich-technischen Übersetzer kämen weitere Fachtexttypen hinzu, wie sie sich aus den vorgenannten beruflich-institutionellen Zusammenhängen ableiten lassen. Auf dieses breitere Textsortenspektrum zielt mit Blick auf eine übersetzungsbezogene Textdatenbank der typologische Entwurf von Göpferich (1995b, 20), der auch als Ablaufschema der entsprechenden Datenbankstruktur für Textsorten aus den Naturwissenschaften und der Technik zu sehen ist (Abb. 56.6). Unsere Beispiele zeigen, dass Texttypologien, auch im Bereich Naturwissenschaft und
¡Schriftliche Textsorten der Naturwissenschatten/Technik
r
Fachtexttypen (Typologisierungsbasis: kommunikative Funktion)
III Fachtexte zweiten (Klassifikationskriterium: Art der Inlormationspräsentation)
IV. Primärtextsorten (PT, klassiiziert nach Primärfunktion) Selektion/ Komprimierung
Bericht (ζ. B. Forschungs-, Konferenz-), Versuchsprotokoll, Fachzeitschriftenartikel, Monographie, Dissertation etc.
fri*?·' H KurzkommenSekundärtexttar, Abstract Sorten (ST, geleetc. gentlich Bestandteil von PT, jedoch auch autonom)
Abstract, Rezension etc.
Í. ' t:i - ΜΕΜΞΖ y U B i r i Abstract, Rezension etc.
Übungsbuch, Aufgabens a m m l u n g , Rezension etc.
Zusammenfassung, Rezension etc.
Relerenzmanual/-karte, Kurzanleitung etc.
Abb. 56.6: Fachtexttypologie und zugleich Menühierarchie in einer Datenbank für Textsorten aus den Naturwissenschaften und der Technik (Göpferich 1995b, 20).
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VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
dem jeweiligen fachlichen Bemühen um inhaltliche Systematik und Differenzierung (vgl. z. B. Weich- vs. Hartlötung und die dazugehörigen Einzelverfahren wie Kolben-, Flamm-, Tauch-, Ofen-, Induktionslöten). Diese gedankliche Gliederung führt zu einer relativ sicher vorhersagbaren Abfolge und Präsentation von Fachinformationen in naturwissenschaftlichtechnischen Texten bzw. einzelnen Textsorten, so dass z. B. ein Fachübersetzer oder Fremdsprachenlehrer hier bei seiner Arbeit gewinnbringend auf in Datenbanken gespeicherte repräsentative Textsortenexemplare, textsortenspezifische Textversatzstücke und textographische Glossare zurückgreifen kann (vgl. u. a. Hoberg 1994, 333ff.; Göpferich 1995b, 17ff.). Generell äußert sich der jeweilige Fachstil in einer Vielzahl von meist auf Teilaspekte bezogenen Textabschnitten (Absätze), in bestimmten Signalwörtern für logische Operationen (wie durch, damit, bevor, Je ... desto', Wenn ... dann] Ist... nicht..., so ...), in spezifischen Verweisformen und Gliederungssignalen wie ZifFernangaben, Einsatz von typographischen Mitteln wie Unterstreichung, Fettdruck usw. sowie in Text-Bild-Arrangements mit häufigem Gebrauch von (nonverbalen oder spracharmen) Abbildungen, Diagrammen, Tabellen, Bau- und Schaltplänen, Werkzeichnungen, Photos usw., die den Fachmann oft schneller, präziser und ohne verbale Redundanz über technische oder wissenschaftlich-technische Sachverhalte informieren als der dazugehörige Text. Dabei erfordert das Verstehen technischer oder physikalischer Abläufe vom Textrezipienten sehr häufig, „daß er sich einen gedanklichen Film' vom Ablauf macht, den er dann in seiner Vorstellung abspult" (Leisen 1994, 199), und zwar abhängig vom jeweiligen fachlichen Erkenntnisinteresse und der tradierten Fachmethodik. Besonders hoch (50% und mehr) ist der Anteil graphischer Darstellungen in praxisnah gestalteten Lehrbüchern (wie z. B. den Grund- und Fachstufenlehrwerken Technologie für Installation und Metallbau, Hannover 1987 oder Technologie für Sanitärinstallateure, Hamburg 1986). Verbunden ist diese Textgestaltung mit fachgebietsabhängigen inhaltlichen Grundstrukturen, die sich aus der Fachtradition heraus entwickelt haben und teilweise sogar - auch auf internationaler Ebene - zwingend vorgeschrieben sind, um eine möglichst effektive und reibungslose Kommunikation
zu ermöglichen (z.B. bei der Formulierung von ,Abstracts'). Insofern ist ein bestimmtes handlungs- und auch interkulturell orientiertes Textsortenwissen für den Deutsch als Fremdsprache-Lerner im naturwissenschaftlich-technischen Bereich nicht nur hilfreich, sondern für eine optimale Textrezeption und -Produktion unverzichtbar. 4.
Literatur in Auswahl
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Hans-Rüdiger Fluck, Bochum (Deutschland)
57. Texte in Medizin-orientierter Kommunikation 1. 2. 3. 4. 5. 6.
1.
Handlungs- und Kommunikationsraum — Kommunikationskreise: Prinzip 1 Existenzweisen von Sprache: Prinzip 2 Sprache in ihrer Struktur: Prinzip 3 Sprachliches als Zeichen in Funktionen: Prinzip 4 Reaktionen - mit welchem Effekt? Literatur in Auswahl
Handlungs- und Kommunikationsraum — Kommunikationskreise: Prinzip 1
Mit Medizin(-oúenúert) in Opposition etwa zu Technik ist der Gegenstandsbereich dieses Artikels abgegrenzt. Dabei geht es um Texte, um Produkte sprachlicher Handlungen, mit denen in der Regel auf Kommunikation abgezielt und diese zumeist auch erreicht wird. Über den Fachbereich der Medizin, seine Fachtexte hinaus werden Texte auch anderer Bereiche einbezogen, etwa des politischen Bereichs, der öffentlichen Berichterstattung und Diskussion sowie des privaten Gesprächs, sofern Medizinisches mit angesprochen ist. Der Bereich der Medizin wird, je nach Ansatz, in 25 bis 60 Teilbereiche unterteilt, klassifiziert in theoretische (wie Physiologie, Anatomie, Pharmakologie) und in praktische (wie Allgemeinmedizin, Chirurgie, Homöopathie). Die Teilbereiche sowie die mit der Medizin thematisch verflochtenen Ausschnitte anderer Bereiche und der Alltagswelt (= verfl. B) betrachte ich als Sektoren im Medizin-orientierten Handlungsraum. Der Typologisierung von Kommunikationssituationen dient das erste von vier Prinzipien; diese verstanden als „Leitsätze über die Sprache", über sprachliche Handlungen, sowie als „die spezifischen Voraussetzungen der Sprachforschung" (Bühler 1934/1965, XXII; 1), der Sprachhandlungsforschung.
1.1. Wer ,sagt' ... wo ... womit was (über was) ... zu wem ... wozu ...? — sprachliche, kommunikative Handlung Prinzip 1: Etwas ,sagen' als sprachliche, bedingt kommunikative Handlung wird hier mit Hilfe der pragmatische W-Kette und durch die spezifische Konkretisierung ihrer anaphorischen Kategorien beschrieben: Wer (1) ,sagt' (2) wann (3) wo (4) warum (5) wie (6) womit (7) was (über was) (8) zu wem (9) wozu (10) mit welchem Effekt (11)? „Die deutsche Umgangssprache hat den wissenschaftlichen Terminus,Handlung' vorbereitet und nahegelegt". (Bühler 1933/1969,59; Hoffmann 1997, 95), was auch für die pragmatische W-Kette gilt. Mit Blick auf die Partnerkonstellation, die Handlungsträger (Position wer (1) und zu wem (9) in der W-Kette) und ihren Status (Experte oder Laie), unterscheide ich fünf Typen von Kommunikationskreisen (= KK). Subtypen ergeben sich durch Differenzierung der Rolle (etwa als Wissenschaftler oder Arzt) und, im Wirkungszusammenhang damit, bei weiteren Positionen, etwa bei Position wo (4), wozu (10); womit (7) repräsentiert die Texte. (1) Anders als z. B. Löning 1981, Hoffmann 1997 (C2 vs. C3) sehe ich Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit nicht als primäres Kriterium der Unterscheidung an. Die Grenzen sind unklarer, als dies Paar suggeriert; den (so Götze/ Helbig/Henrici u.a. 1995, 76) „Textsorten der gesprochenen und geschriebenen Sprache", speziell den beiden ,Sprachen', lässt sich schwerlich eine Größe etwa im Sprachsystem zuordnen. (2) Besprechungen u. ä. werden nur dann angeführt, wenn sie in einem KK eine zentrale Form der Kommunikation darstellen. (3) Die Einrichtung der KK ist natürlich nicht einfach so vom Himmel gefallen; sie
566
VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
knüpft an viele Beiträge zur sog. vertikalen bzw. horizontalen Gliederung, Schichtung an (vgl. u. a. Gläser 1990, 8 ff.), vor allem an die Vorstellung ,fachintern — interfachlich fachextern' (Möhn/Pelka 1984). Viele dieser Modelle erscheinen nicht nur mir (vgl. Fluck 1996, 16 ff.) allerdings als recht nebulös; nicht selten sind Kategorien wie Fachsprache, -texte,
Stil, Ziel, Sprachsystem,
-Verwendung
nicht klar unterschieden und bleiben merkwürdig diffus (vgl. dazu ausführlich Mentrup 1988). 1.2. Kommunikationskreis 1 (KK1): bereichimmanent wer (1) Experte (med) - zu wem (9) Experte (med) KK1.1 wer (1) und zu wem (9) Experten als Wissenschaftler wo (4) Forschung: Forschungsinstitutionen, Hochschule Medizinische Fakultät; Tagungen, Kongresse womit (7) wissenschaftliche Literatur; Vorträge, Referate, Skripte, Mitschriften; Nomenklaturen wozu (10) Vertiefung, Vermittlung, Austausch von Fachwissen mit breit gestreuter fachspezifischer Thematik im Prozess wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung KK1.2 wer (1) Experte als Unterrichtender - zu wem (9) Experten als Auszubildende (Medizinstudenten, Krankenschwestern, Arzthelferinnen, Masseure; Löning 1981, „Halbfachmann") wo (4) Lehre: Hochschule Medizinische Fakultät; Veranstaltungen wie Vorlesungen, Seminare, Pflichtfach „Medizinische Terminologie"; Ausbildungsstätten, -kurse für Krankenschwestern usw. womit (7) unterrichtliche Werke; Vorlesungen, Referate, Skripte, Mitschriften; Dissertationen, Habilitationsschriften wozu (10) Vermittlung, Austausch von Fachwissen mit breit gestreuter fachspezifischer Thematik im Verlauf der beruflichen Aus-, Weiterbildung KK1.3 wer (1) Experte als ,Pharmakundiger', Pharmaberater - zu wem (9) Experte als Arzt, Heilpraktiker, Krankenschwester, Arzthelferin, Masseur; Apotheker wo (4) pharmazeutische Industrie; Standesorganisationen der Ärzte, Apotheker; Krankenhaus, (Gemeinschafts)praxis; Apotheke; Gespräche womit (7) Rote Liste (Verzeichnis von Fertigarzneimitteln; auch als CD-ROM); Listen
führender Arzneimittel (etwa nach der Zahl der verkauften Packungen); Ärztemuster von Arzneimitteln mit Packungsbeilage, Aufschriften auf Behältnissen, äußeren Umhüllungen; Gesprächsbeiträge, etwa „Mitteilungen von Angehörigen der Heilberufe über Nebenwirkungen [...] bei Arzneimitteln", die der Pharmaberater „dem Auftraggeber [...] schriftlich mitzuteilen" hat (AMG 1976 §76) wozu (10) Vermittlung, Austausch von arzneimittelbezogenen Fachkenntnissen; Organisation, Steuerung von Handlungen (i. S. der Werbung; vgl. 4.2. (5.1)) im Rahmen des Umgangs mit Arneimitteln KK1.4 wer (1) und zu wem (9) Experten als Arzt, Heilpraktiker, Krankenschwester, Arzthelferin, Masseur (vgl. Lalouschek/ Menz 1990 in Ehlich/Koerfer/Redder u. a.; Burg; Lalouschek/MenzAVodak) wo (4) Praxis: Krankenhaus, (Gemeinschafts)praxis, ,mobile Ambulanzstätten' (Notarzt-, Unfallwagen- -hubschrauber); Beratungsstellen; Besprechungen womit (7) Behandlungs-, Labor-, Operationsberichte, Krankenkarten, -blätter; Gutachten, Bitte um Stellungnahme dazu, Stellungnahme; Gesprächsbeiträge (Anweisungen, Fragen etwa bezüglich der Durchführung einer Operation) wozu (10) Vermittlung, Austausch von patient-, krankheitsbezogenen Fachkenntnissen; Organisation, Steuerung von Handlungen im Zusammenhang der praktischen Behandlung 1.3. Kommunikationskreis 2 (KK2): interdisziplinär (bereicheübergreifend) wer (1) und zu wem (9) Experten (med/verfl. B): Schnittbereich von Medizin und Ausschnitten anderer Bereiche, die thematisch miteinander verflochten sind wo (4) interdisziplinärer Kommunikationsraum: politische, juristische Institutionen (Bundesgesundheitsministerium; Europäische Union, Weltgesundheitsorganisation (WHO); Gerichte); Verhandlungen, Prozesse; (pharmazeutische) Industrie; Assekuranz, Krankenkassen, -Versicherungen; Kassenärztliche Verrechnungsstellen; Linguistik, Übersetzungswissenschaft womit (7.1.) Gesetze (AMG 1976, HWG 1978); EU-Richtlinien, WHO-Texte; Beiträge in Verhandlungen, Urteile; Kloesel/ Cyran 1982, Müller-Römer 1978 wozu (10.1.) Festlegung, Steuerung von Handlungen im Rahmen der insbesondere
57. Texte in Medizin-orientierter Kommunikation
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politischen, legislativen, judikativen, exekutiven Organisation, Regelung womit (7.2.) gemäß dem AMG 1976 Anträge der pharmazeutischen Industrie auf Zulassung von Arzneimitteln mit Packungsbeilage, Aufschriften auf Behältnissen, äußeren Umhüllungen; Anträge (Ärzte -» Kassen), Rechnungen (-* Kassenärztliche Verrechnungstelle Patient), Geldüberweisungen; Bescheide wozu (10.2.) Organisation, Steuerung von Handlungen bei der Umsetzung der gesetzlichen Rahmenbedingungen womit (7.3.) Medizinwörterbücher für Experten (Mentrup 1984/1988, Schuldt 1992; Redder/Wiese 1994); Übersetzungen wozu (10.3.) Vertiefung, Vermittlung, Austausch von Fachwissen mit breit gestreuter interdisziplinärer Thematik im Prozess wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung
dungsinstitutionen (Volkshochschule), -Veranstaltungen, -kurse womit (7.1.) populärwissenschaftliche Literatur, Risikofaktor Medizin 1997; (Informations-, Werbeschriften; Kommentare, feste Sparten in Zeitungen, Zeitschriften („Sprechstunde", „Die Krankheiten des Alltags"); Leserbriefe; Rundfunk-, Fernsehsendungen (Gesundheitsmagazine), Höreranrufe, Fernseh-, Beischaltungen'; Vorträge, Referate, Skripte, Mitschriften (Mentrup 1994), Medizinwörterbücher für Laien, Ausschnitte in allgemeinsprachlichen Wörterbüchern, Lexika
1.4. Kommunikationskreis 3 (KK3): bereichüberschreitend wer (1) Experte (med/verfl. B) — zu wem (9) Laien, Öffentlichkeit: Überschreiten des Bereichshorizonts (med/verfl. B) in Richtung auf die Laien, Öffentlichkeit KK3.1 wer (1) Experte (med/verfl. B) - zu wem (9) Laien als Verbraucher wo (4) Öffentlichkeit der Verbraucher, allgemeiner Geschäftsverkehr womit (7) Packungsbeilagen, Aufschriften auf Behältnissen, äußeren Umhüllungen; Medi-Cards; Broschüren, Erhebungsbögen, Anträge der Kranken-, Unfall-, Lebensversicherungen, Policen; Arzneimittelanzeigen - auch als Fernsehspots („Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker."; schriftlich und gesprochen); Aufschriften auf Zigarettenschachteln („Die EU-Gesundheitsminister: [...]"), Flaschenetiketten, Verpackungen von Lebens-, Reinigungsmitteln wozu (10) Vermittlung von verbraucherbezogenen Fachkenntnissen; Organisation, Steuerung von Handlungen (i. S. der Werbung; vgl. 4.2. (5.1)) im Rahmen des Umgangs mit Arznei- u. a. -mittein KK3.2 wer (1) Experte (med/verfl. B), auch als (Fach-)Journalist (Löning 1981, „Laie (als Journalist)"), -Lehrer, -Linguist, -Autor, Professioneller — zu wem (9) Laien als Interessierte, Betroffene wo (4) Öffentlichkeit der Interessierten, allgemeiner ,Bildungsverkehr': Medien, Bil-
Häufig sind Passagen, Einsprengsel über medizinische Aspekte eingebettet in Artikel, deren Thema anderen Bereichen zuzuordnen ist wie Politik (Parteiauseinandersetzungen über die ,Gesundheitsreform'), Sport (Sportlerverletzungen, Doping), Landwirtschaft (,Rinderwahnsinn'), Biotechnologie vs. Ethik (Klonen), Staatshaushalt vs. Soziales vs. EU (Zigarettensteuer, Raucherausgrenzung, Warnungen auf Packungen); Berichte über die ,Großen' dieser Welt (Papst Johannes Paul II.; Roman Herzog; Steffi Graf, Vater Peter; Harald Juhnke). wozu (10.1.) Vermittlung von laienbezogenen Fachkenntnissen, Informationen mit breit gestreuter alltagswelt,relevanter' Thematik und vielfaltigen, mit Themen anderer Bereiche verflochtenen Aspekten im Rahmen des öffentlichen Informierens, der allgemeinen (Weiter-)Bildung womit (7.2.) Romane, Erzählungen, Theaterstücke, Opern, Biographien, Filme, Serien (Gustafsson: Der Tod eines Bienenzüchters; Fallada: Der Trinker; Kafka: Ein Landarzt; Camus: Die Pest, Belagerungszustand; Puccini: La Boehème; Fernsehserie: Für alle Fälle Stefanie), wozu (10.2.) Darstellung, Vermittlung des Erlebens, der Sicht (s)einer Krankheit; Modell zur Deutung gesellschaftlicher Zustände; Schilderung (s)eines Lebens, der (vorgeblichen) Verhältnisse im Handlungsraum, auch als Unterhaltung 1.5. Kommunikationskreis 4 (KK4): alltagswelt- bzw. bereichübergreifend wer (1) Laie als Kranker, Patient — zu wem (9) Experte (med) als Arzt, Heilpraktiker, Krankenschwester, Arzthelferin, Masseur; Apotheker: Schnittbereich von Alltagswelt und Fachbereich; institutionalisierter Wechsel der Kommunikationsrollen, des
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VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
fachlichen Status, der Alltags- bzw. Expertenlogik (vgl. u. v. a. Goltz 1969; Lörcher 1983; Löning 1985; Löning/Sager 1986; Ehlich/Koerfer/Redder u.a. 1990; Lalouschek/Menz/Wodak 1990; Löning/Hartung/Knapheide 1990; Löning/Rehbein 1993; Redder/Wiese 1994; Rehbein/Löning 1995) wo (4) Praxis: (Gemeinschafts)praxis, Krankenhaus, ,mobile Ambulanzstätten'; Apotheke; Beratungsstellen, Gespräche womit (7) Gesprächsbeiträge des Patienten, Arztes usw.; Fragebögen, Einträge der Patientenantworten; Anamnese-, Diagnosenotizen, -berichte, Therapieanweisungen; Rezepte (-» Patient Apotheke); Ein-, Überweisungen (-»· Patient Facharzt); Gesundheitszeugnisse (-> Patient -+ Versicherung); Rechnungen (->• Patient ->• Krankenversicherungen), Geldüberweisungen: Termineinträge wozu (10) Vermittlung, Austausch von Erfahrungen des Patienten bezüglich seiner Befindlichkeiten, Krankheiten bzw. von Fachkenntnissen des Arztes usw. im Zuge der Anamnese, Diagnose; Organisation, Steuerung von Handlungen im Zuge der Therapie 1.6. Kommunikationskreis 5 (KK5): alltagsweltimmanent wer (1) und zu wem (9) Laien wo (4) alltagsweltlicher Lebensraum: Familien-, Stammtisch- u. a. Gespräche womit (7) Gesprächsbeiträge wozu (10) Vermittlung, Austausch der Erfahrungen bezüglich der Befindlichkeiten, Krankheiten Ein Beispiel: In Gruppen werden oft leichtere Krankheiten (etwa Verdauungsstörungen) eher beiläufig zwischen anderen Themen eingeflochten und eher amüsant behandelt; im Zweiergespräch schwere Krankheiten (etwa Alkoholismus) ausführlicher, ernster besprochen (Inken Keim, IDS). 1.7. Rückblick - Überleitung Die Menge und Vielfalt der bei der womit (7)Position in Auswahl angeführten Texte ist beachtlich. Im medizin-orientierten Handlungsund Kommunikationsraum geht es um eine breit gestreute Thematik mit vielen Aspekten, die für den Einzelnen wie für die Allgemeinheit existenziell zentral und deren Behandlung zum (Über-)Leben notwendig ist. Für eine umfassende Untersuchung böte sich an, in jedem Kommunikationskreis die
Handlungen in segmentierten Schritten zusammenzustellen (Handlungscorpus), die Texte in Sequenzen dem kommunikativen Ablauf gemäß ,aufzufädeln' (Textcorpus) und, unter Einbezug aller Positionen der WKette, insgesamt den Wirkungszusammenhang darzustellen; etwa den vom Patienten initiierten Arztbesuch: Eröffnungsphase (Aufrufen, Begrüßung) - Eröffnung des Dialogteils - Dialog [Anamnese - Diagnose Therapie; WM] - Beendigungsphase (in KK4; Löning 1985, 57ff.; zum klinischen Alltag vgl. Burg 1990). Die Zuordnung der Texte zu den Kommunikationskreisen gemäß Prinzip 1 als dem Grundprinzip stellt eine grundlegende Klassifizierung dar. Die drei Subprinzipien, bezogen auf die (was (über was))-Position (8) in der W-Kette, betreffen die Sprache hinsichtlich ihrer Existenzweisen (Prinzip 2), ihrer Struktur (Prinzip 3) sowie Sprachliches als Zeichen in Funktionen (Prinzip 4). 2.
Existenzweisen von Sprache: Prinzip 2
2.1. Sprachverwendung, -verkehr; Sprachkompetenz, -system In Anlehnung insbesondere an Polenz (1982a; b) unterscheide ich „objektsprachlich-funktionell", bezogen auf den Einzelnen (individuell): Sprach Verwendung (realisiert) und Sprachkompetenz (virtuell); bezogen auf eine Gruppe (sozial): Sprachverkehr (realisiert) und Sprachsystem (virtuell); zudem verschiedene Subsysteme und, über Polenz hinaus, Subkompetenzen (Diasystem bzw. -kompetenz): Standardsprache, Umgangssprache, funktional/sozial: Fachsprachen, Gruppensprachen bzw. Funktiolekte, Soziolekte; Fachumgangssprachen; regional: Dialekte bzw. Regiolekte, Mundarten. 2.2. Sprachbrauch, -norm; Sprachgesetz Mit „Sprachgebrauch" und „Sprachnorm" richtet Polenz, „metasprachlich-institutionalisiert", zwei Teilbereiche des Sprachsystems ein. Über Polenz hinaus unterscheide ich als dritten Bereich das ,Sprachgesetz' und betrachte die Trias zudem in individueller Ausprägung auch als Teilbereiche der Sprachkompetenz, insgesamt mit einem sich steigernden Grad an Geltung, Restriktivität. Sprachbrauch: deskriptiv metasprachlich verstanden als ,normal, üblich, bekannt, geläufig'; Sprachnorm: präskriptiv ... als ,ge-
57. Texte in Medizin-orientierter Kommunikation
569
normt, korrekt, vornehm, gut'; Sprachgesetz: sanktioniert ... als ,amtlich normiert, per Erlass allein richtig'.
[nicht nur; WM] weitergegeben" (Hoffmann 1997, 92), sondern auch veränderten Sichtweisen und Sachverhalten angepasst werden.
2.3. Textsortenbeispiele
3.
Texte sind der Sprachverwendung (individuell) bzw. dem Sprachverkehr (sozial) zuzuordnen. Beobachtbare Regularitäten, in Regeln gefasst, verweisen auf die Sprachkompetenz (individuell) bzw. das Sprachsystem (sozial). Bezogen auf diese (virtuell) spreche ich von Grammatik bzw. von Wortschatz; bezogen auf jene (realisiert), mangels eines treffenderen Ausdrucks, von ,Realisiert-Grammatischem' bzw. von Vokabular. Kennzeichnen lassen sich Textsorten in verschiedener Hinsicht: (1) Zum Textsortenmerkmal Anteil an Wortschätzen verschiedener Subsprachen s. 4.2. (5). (2) Bezogen auf den Grad der Geltung, Restriktivität sind u. a. anzuführen (i) gemäß dem Sprachgesetz: AMG 1976, HWG 1978 (in KK2 womit (7.1.)) mit ihren Richtlinien u. a. für die Gestaltung von Packungsbeilagen (in KK1.3, KK2 womit (7.2.), KK3.1); Textsortenmerkmal legislativ, das auch Gebrauchsanleitungen für Haushaltsgeräte oder der neuen amtlichen Rechtschreibung zuzuordnen ist; (ii) gemäß der Sprachnorm: international vereinbarte Nomenklaturen (in KK1.1), Pflichtfach „Medizinische Terminologie" (Auswahl aus dem Fachwortschatz, 1975 auf ca. 500000 Termini geschätzt, für das Studium; in KK1.2); Textsortenmerkmal normativ; (iii) gemäß dem Sprachbrauch: Textsorten aus verschiedenen KK (wie man so redet oder schreibt); Textsortenmerkmal von der Situation abhängig (usuativ). (3) Beispiele für Textsortenentwicklungen sind u. a. (i) die anatomische Nomenklatur: 1895 in Basel international festgelegt; 1936 in Jena, 1955 in Paris, seither alle 5 Jahre überarbeitet; (ii) AMG 1976, Vorläufer 1961, 1941, 1901; (iii) Packungsbeilagen (mit Änderung des Geltungsgrades, der Restriktivität; vgl. ii): 1901, 1941 nicht erwähnt; 1961 angeführt, aber nicht vorgeschrieben; zunächst als freiwilliger Service der pharmazeutischen Industrie üblich (usuativ), 1973/74 für deren Mitgliedsfirmen verbindlich (normativ), 1976 obligatorisch (legislativ): „Traditionsketten, in denen kulturelles Wissen, technisches Know-how und historische Erfahrungen,
Sprache in ihrer Struktur: Prinzip 3
3.1. Laute/Buchstaben, Wörter, Sätze, Texte In Anlehnung an viele Darstellungen werden unterschieden: Phonem/Graphem, Wort (lexikalische Einheit), Satz und Text. 3.2. Textsortenbeispiele Die hier angeführten, in Analysen (s. 4.2. (5) die Literatur) festgestellten realisiert-grammatischen Regularitäten verweisen, als Regeln gefasst, auf die Grammatik der Standardsprache·, allenfalls ihre Frequenz ist ein spezifisches Merkmal allerdings nicht der Fachsyntax oder -spräche, wie es nicht selten heißt, sondern Fach-orientierter Texte. Kennzeichnen lassen sich Textsorten in verschiedener Hinsicht: (1) Die Zahl der Graphemfolgen, Lemmata und Belege ist in Packungsbeilagen (in KK1.3, KK2 womit (7.2.), KK3.1) größer als in der Roten Liste (in KK1.3). Hingegen sind in dieser Schemata, Zahlen, Abkürzungen, Symbole, prozentual bezogen auf die Zahl der Graphemfolgen usw., häufiger als in jenen; ähnlich auch in wissenschaftlicher Literatur (in KK1.1, 1.2) gegenüber populärwissenschaftlicher (in KK3.2 womit (7.1.)). Textsortenmerkmal Ausführlichkeit, Redundanz (vs. Kompaktheit) bzw. Formalisierung. (2) Die Zahl (artikelloser) Substantive (Adjekiv-, Verbableitungen) sowie (attributiver) Adjektive (hierzu vgl. Olszewska in Redder/Wiese 1994) und Partizipien ist, etwa im Verhältnis zu Verben, in wissenschaftlicher Literatur größer als in populärwissenschaftlicher. Hingegen ist in dieser und in Packungsbeilagen die Zahl der Konjunktionen, Satzgefüge und Schachtelsätze größer als in jener bzw. in der Roten Liste (mehr Kurzsätze; Zusammensetzungen, erweiterte Nominalphasen). Textsortenmerkmal sind der Anteil an bestimmten Wortarten bzw. die syntaktische Breite. Für Gesprächsbeiträge von Patienten, Laien (in KK4, 5) sind Anakoluthe, Wiederholungen u. ä. typisch. Textsortenmerkmal ist die syntaktische Form. 4.
Sprachliches als Zeichen in Funktionen: Prinzip 4
Gemeint ist: Sprachliches als Zeichen in unterschiedlichen Funktionen für etwas anderes, Außersprachliches bzw. metasprachlich für Basissprachliches.
570
VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
4.1. kognitive, dispositive, illokutive Signalfunktion In Anlehnung insbesondere an Polenz (1974; 1982a) unterscheide ich vier Funktionen: (i) kognitiv: Jemand teilt jemandem mit, was er wahrnimmt, empfindet, meint usw.; Proposition: Referenz Prädikation (arzt arzneimittel jemandem verschreiben). Zudem bringt er zur Sprache: (ii) dispositiv: die Einstellung zum Ausgesagten, seine Sichtweise {Leider vs. glücklicherweise hat er ... verschrieben.)', (iii) illokutiv: die Art der sprachlichen Handlung (Warum hat er ... verschrieben?)', (iv) Signalfunktion: die wertende Einschätzung seiner selbst bzw. anderer Personen oder Dinge (Der Kurpfuscher hat mir armer Sau diese Chemiebombe verpasst.). 4.2. Textsortenbeispiele Kennzeichnen lassen sich Textsorten in verschiedener Hinsicht. Dazu werden, der Themabezogenheit und Fachsprachlichkeit gemäß, vier Gruppen lexikalischer Einheiten unterschieden und, der Subsprachenzugehörigkeit und den Funktionen gemäß, unter Einbezug von Textsortenmerkmalen subklassifiziert. Der generellen, unten vorausgesetzten kognitiven Funktion entspricht als Textsortenmerkmal informativ. (1) nicht spezifisch themabezogen, sachgesteuert (Meyer 1996, „nicht fachgebunden"); generell verwendbar; (i) Standardsprache (gleichzeitig, unzerkaut schlucken, Vielzahl)', darunter Ausdrücke (ii) für Dispositionen, Textsortenmerkmal modifiziert (wissen, nicht glauben·, Modal(itäts)verben, Konjunktivformen) und (iii) für Illokutionen, Textsortenmerkmal assertiv (Antworten, Bestätigen), quästitiv (Fragen), direktiv (Anweisungen), persuasiv (Überreden) (Satzzeichen, Intonation; sagen, fragen, täglich 3 X einnehmen!', i. S. der Werbung ein weltweit anerkanntes Hausmittel)', mit Wertungssignalen, Textsortenmerkmal qualifikativ, (iv) durch Bedeutung (schädlich) bzw. (v) durch Umgangssprache (jemanden erwischen). (2) themabezogen, sachgesteuert; inhaltlich allgemeiner, in anderen Bereichen eher verwendbar als Gruppe 3; oft zu deren Erklärung gebraucht: (i) Standardsprache (Arzt, Körper, Atem', Durchfall', Bazillen, Koma, Bandscheibe', Herzerkrankung, Kopfschmerzen)·, qualitativ (ii) durch Bedeutung (Übelkeit, wundes Gefühl) bzw. (iii) durch Umgangssprache (meine Pumpe', das Dingsda, es flimmert', Pillendreher, Waschzettel (abwertend)).
(3) themabezogen, sachgesteuert; inhaltlich spezieller als Gruppe 2); qualitativ durch Fachsprache, auch als Ausdruck des Expertenhabitus: (i) (mehrgliedrige) Termini (fachspezifische Schreibung); terminologisch festgelegt im Bestreben nach inhaltlicher Eindeutigkeit; z. T. normativ bzw. legislativ (Coma hepaticum, Bacillus botulinus, Carcinoma adenomatosum, Tuba uterina, Diabetes mellitus', Nierenbeckenentzündung', Harnruhr, Vagina, Uterus, harnpflichtig·, Gebrauchsinformation, Anwendungsgebiete)·, (ii) (verkürzte) Trivialbezeichnungen (allgemeine Schreibung), inhaltlich allgemeiner als Subgruppe i (Bazillus, Karzinom, Tube, Diabetes)·, (iii) qualifikativ durch Fachumgangssprache (der Magen auf Zimmer 13, i. v. spritzen, wir machen Blutzukker). (4) Ausdrücke aus Wortschätzen verflochtener Bereiche, qualifikativ durch Fachsprache (titrieren·, Chemie). (5) Die unterschiedlichen Anteile an Subgruppen der Wortschätze verschiedener Subsprachen, die unterschiedliche Zusammensetzung der Mischvokabulare der Textsorten dienen zusammen mit bestimmten Textmerkmalen ihrer Kennzeichnung (vgl. Goltz 1969; Hoffmann 1975; Schefe 1975; Löning 1981; Lörcher 1983; Meyer 1996; Thiel/Tom 1996). (5.1) Bestimmten Textsorten lassen sich schon intuitiv einzelne Merkmale (vgl. Subgruppe liii) zuordnen, so etwa (i) quästitiv, assertiv, direktiv: Fragen, Antworten, Anweisungen bei der Aus-, Weiterbildung (in KK 1.2), in Praxisgesprächen zwischen Arzt und Personal (in KK1.4) bzw. zwischen Arzt und Patient (in KK4; vgl. Rehbein, ten Have in Löning/Rehbein 1993; Rehbein, Redder in Redder/Wiese 1994); Sparten, Sendungen wie „Sprechstunde" (in KK3.2 womit (7.1.); vgl. Partheymüller in Redder/Wiese 1994); (ii) persuasiv: werbende Gesprächsbeiträge des Pharmaberaters (in KK1.3); Broschüren der Krankenkassen, -Versicherungen; Arzneimittelanzeigen (in KK3.1). (5.2) Gruppe 3 mit den Subgruppen i und iii ist (wie auch Gruppe 4) die Domäne der Experten. Der abnehmende Anteil speziell an Termini (Subgruppe i), prozentual bezogen auf die Zahl der Graphemfolgen usw., ergibt folgende Skala: (Anteil in) Nomenklaturen (in KK1.1) > (größer als in) Medizinwörterbücher(n) für den Experten (in KK2 womit (7.3.)) > Rote Liste (in KK1.3) > Packungsbeilagen (in KK1.3, KK2 womit (7.2.), KK3.1) > wissenschaftliche (in KK1.1, 1.2) > populärwissenschaftliche Literatur (in
571
57. Texte in Medizin-orientierter Kommunikation
KK3.2 womit (7.1.)) > Gesprächsbeiträge des Arztes usw. > des Patienten (in KK4), der Laien (in KK5). Hingegen ist der Anteil an der Standardsprache (Subgruppe 2i, Ii) in Packungsbeilagen und populärwissenschaftlicher Literatur größer als in der Roten Liste bzw. in wissenschaftlicher Literatur. Beispiele fachumgangssprachlicher Ausdrücke (Subgruppe 3iii) sind Textsorten aus der Praxis (in KK1.4), Gesprächsbeiträge des Arztes usw. (in KK4). (5.3) Vor allem die oft regional eingefärbte Umgangs- (Subgruppe lv, 2iii) und auch Standardsprache (Subgruppe Ii—iv) ist die Domäne der Laien (Gesprächsbeiträge in KK4, KK5; vgl. unten (5.6)). Patienten, vor allem mit längerer Krankheits- und Behandlungserfahrung, verwenden zudem übernommene Ausdrücke wie Blutdruck, Angina (pectoris), Polyathrose, Blutzuckertest, Magenschleimhautentzündung, diabetische Stoffwechsellage (Subgruppe 2i; 3i, ii); diese sind jedoch aus ihren fachsystematischen Bezügen herausgelöst, in eine andere syntagmatische Umgebung eingepasst und stehen zu der sonst homogenen Sprechlage als,Fremdelemente' in Kontrast.
Textsortenmerkmal legislativ, direktiv; auch persuasiv (seit Jahrzehnten bewährt). (5.6) In Gesprächsbeiträgen von Patienten, Laien kommt (i) in unbestimmten Ausdrükken (irgendwie, so; es hat mich erwischt, etwas mit sich herumschleppen, da muss man halt durch)·, (ii) in dispositiven, illokutiven (Vorbehalts-)Ausdrücken (ich weiß auch net, es könnte sein, ich denke vielleicht, ich möchte sagen; ach Gott, was ist jetzt?)', (iii) in emphatischen Verstärkungen (fürchterlich, unheimlich, wahnsinnig-, komische Stiche·, so furchtbar, elend, schockierend; dermaßen; Textmerkmal emotiv; hierzu vgl. Fiehler in Ehlich/ Koerfer/Redder u. a. 1990) und (iv) in alltagsweltlicher Bildhaftigkeit (das kribbelt und rast, es flimmert; so'η wundes Gefühl, schwingender Zustand; es ist, als ob oder wie wenn ...) die Vorstellung von der Krankheit als dem Fremden, Unerklärbaren, Angsteinflößenden vielfaltig zur Sprache: alltagsweltlich geprägtes Erleben dessen, was der Arzt als Symptome diagnostiziert; Krankheit als etwas, das kommt, jemanden befällt, wieder geht.
Beobachtet wurde: Ein wiederholt gebrauchter Fachterminus wird gegenüber der durchgängig regionalen durch Standardaussprache besonders markiert. Vom Arzt gebrauchte Termini (Nitropräparat, Isoket retard) werden von Patienten durch Verkürzung (Nitro) oder durch paraphrasierende Alternation (rote Kapseln, meine Tabletten, das Dingsda) an das Laiensystem angepasst; hingegen Patientenäußerungen vom Arzt in das Expertensystem transformiert (vgl. weiterhin Löning, Wiese in RedderAViese 1994).
5.
(5.4) Die Zahl der Modal(itäts)verben und Konjunktivformen (Subgruppe Iii), Textsortenmerkmal modifiziert, ist in Packungsbeilagen und in populärwissenschaftlicher Literatur größer als in der Roten Liste bzw. als in wissenschaftlicher Literatur; die Zahl imperativischer Konstruktionen, Textsortenmerkmal direktiv, ist in Packungsbeilagen größer als in der Roten Liste. (5.5) In Packungsbeilagen wird mit dispositiven, illokutiven Ausdrücken (Subgruppe Iii, iii) ein Geflecht von Bedingtheiten, Restriktionen, Potenzialitäten, Unbestimmbarkeiten zur Sprache gebracht, die als nicht beeinflussbar erscheinen: externe Instanzen. Die Fremdbestimmung und -Steuerung geht aus von der Sache (therapeutische Notwendigkeit), u. a. vom Arzt (vorschreiben, verordnen) und/ oder vom Gesetzgeber (bestimmungsgemäß);
Reaktionen — mit welchem Effekt?
Die Kennzeichnung von Textsorten mithilfe vorgestellter Kriterien gemäß Prinzip 2 bis 4 führte kaleidoskopartig zu unterschiedlichen Grupp(ierung)en von Textsorten aus den verschiedensten KK. Für eine Gesamtdarstellung böte sich an, mit einem solchen Inventar jede Textsorte zu kennzeichnen. Die Kombination der je spezifischen Textmerkmale ergäbe eine Gesamtkennzeichnung der einzelnen Textsorte, der Vergleich der Ausprägungen ließe unterschiedliche Muster erkennen. Wissenschaftliche Bücher, Aufsätze, Nomenklaturen und andere Texte im oder aus dem Bereich bezeichne ich als Basistexte; Metatexte für oder über den Bereich sind etwa AMG 1976, HWG 1978; Meta-Metatexte etwa Arbeiten über das A M G (Kloesel/Cyran 1982; Müller-Römer 1978). Analog: PatientArzt-Gespräche - interdisziplinäre Untersuchungen darüber (s. 1.5. die Literatur) Konzepte für einschlägige Gesprächstrainingsprogramme (vgl. Novak/Wimmer-Puchinger in Ehlich/Koerfer/Redder u. a. 1990; Menz, Lalouschek in RedderAViese 1994; Lalouschek 1995): Abhängigkeitsfolgen, Erzeugungs-, Wirkungszusammenhänge zwischen KK und (zwischen) Textsorten. Texte mit der Kennzeichnung Meta- lassen sich als reaktive Texte bezeichnen. Häufig sind
572
VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
Auffälligkeiten, Missstände u. ä. im Handlungsraum der Auslöser für Problematisierungen (Bittere Pillen 1983, Risikofaktor Medizin 1997), wobei die negative Wertung oft in Titeln oder in Ausdrücken wie (Halb-) Gott im weißen Kittel, Chemiebombe, medizinisches Versuchskaninchen zur Sprache kommt. Ziel der Kritik sind oft auch laienadressierte Texte: Gesprächsbeiträge des Arztes, Packungsbeilagen. Deren Verstehen ist für Laien (überlebens)notwendig, wird aber u. a. durch die im Dienste einer fachlogisch präzisen Darstellung verwendeten Fachtermini, durch die für Laien , schweren' Wörter, erschwert oder nahezu unmöglich gemacht, was sich in Kennzeichnungen wie Fachchinesisch, Fachlatein, Fachkauderwelsch Luft verschafft. Der Arzt mag durch Umschreibungen i. S. der Alltagslogik bzw. durch Transformation von Patientenäußerungen in sein Expertensystem aus diesem Dilemma einen Ausweg zu finden suchen. D o c h bei den Packungsbeilagen ist dieser Weg grundsätzlich versperrt. Die im A M G 1976 festgeschriebenen zwei Forderungen, nämlich sachgebotene Genauigkeit einerseits und Verständlichkeit für Laien andererseits, sind miteinander unvereinbar. Das Dilemma ist nicht aufhebbar.
6.
Literatur in Auswahl
Generell verweise ich auf Mentrup 1988, auf die dort verarbeitete und zum Teil kritisch diskutierte umfangreiche Literatur. AMG (1976): Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelrechts. In: Kloesel/Cyran 1982, A 2.0. Bittere Pillen (1983): Bittere Pillen. Nutzen und Risiken der Arzneimittel. Ein kritischer Ratgeber. Bearb. v. Langbein, Kurt; Hans-Peter Martin; Peter Sichrowsky u. a. Köln. Bühler, Karl (1933/1969): Die Axiomatik der Sprachwissenschaften (1933). Einleitung und Kommentar v. E. Ströker. Frankfurt a. M. - (1934/1965): Sprachtheorie (1934). 2. unv. Aufl. Stuttgart. Burg, Engelina von (1990): Die schriftliche Arbeitssprache der Medizin. Eine linguistische Untersuchung am Beispiel der Krankengeschichte. Bern etc. Ehlich, Konrad; Armin Koerfer; Angelika Redder u. a. (Hg.) (1990): Medizinische und therapeutische Kommunikation. Diskursanalytische Untersuchungen. Opladen. Fluck, Hans-Rüdiger (1996): Fachsprachen. Einführung und Bibliographie. 5. Aufl. Tübingen. Gläser, Rosemarie (1990): Fachtextsorten im Englischen. Tübingen (FFF 13). Goltz, Dietlinde (1969): Krankheit und Sprache. In: Sudhoff s Archiv 53 (1969), 225-269.
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58. Wirtschaftstexte spiel fachexterner Anweisungstexte. Tübingen (Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache 66.1, 66.2). — (1994): Fachchinesisch bei Arzneien. In: DAG Journal 456/47 (1994), 28. Meyer, Paul Georg (1996): Nicht fachgebundene Lexik in Wissenschaftstexten. Versuch einer Klassifikation und Einschätzung ihrer Funktionen. In: Hartwig Kalverkämper; Klaus Dieter Baumann (Hg.) (1996): Fachliche Textsorten. Tübingen (FFF 25). Möhn, Dieter; Roland Pelka (1984): Fachsprachen. Eine Einführung. Tübingen (Germanistische Arbeitshefte 30). Müller-Römer, Dietrich (1978): Arzneimittelrecht yon Α—Ζ. Handbuch für die pharmazeutische Praxis. Neu-Isenburg/München. Polenz, Peter von (1974): Idiolektale und soziolektale Funktionen von Sprache. In; Leuvense Bijdragen 63 (1974), 99-112. — (1982a): Sprachnorm, Sprachnormung, Sprachkritik. In: Hugo Steger (Hg.) (1982): Soziolinguistik. Darmstadt, 373-384. — (1982b): Sprachkritik und Sprachnormenkritik. In: Hans-Jürgen Heringer (Hg.) (1982): Holzfeuer im hölzernen Ofen. Tübingen, 70—93.
573 Redder, Angelika; Ingrid Wiese (Hg.) (1994): Medizinische Kommunikation. Diskurspraxis, Diskursethik, Diskursanalyse. Opladen. Rehbein, Jochen; Petra Löning (1995): Sprachliche Verständigungsprobleme in der Arzt-Patienten-Kommunikation. Linguistische Untersuchung von Gesprächen in der Facharzt-Praxis. Hamburg (Arbeiten zur Mehrsprachigkeit 53). Risikofaktor Medizin (1997): Risikofaktor Medizin. Von Uwe Heyll. Berlin. Rote Liste (1981 ff.): Verzeichnis von Fertigarzneimitteln der Mitglieder des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie e. V 1981. Neuauflagen 1984, ... 1997. Aulendorf. Schefe, Peter (1975): Statistische syntaktische Analyse von Fachsprachen mit Hilfe elektronischer Rechenanlagen am Beispiel der medizinischen Fachsprache im Deutschen. Göppingen. Schuldt, Janina (1992): Den Patienten informieren. Beipackzettel von Medikamenten. Tübingen (FFF 15). Thiel, Gisela; Gisela Tome (1996): Beobachtungen zur Terminologisierung (Deutsch - Englisch Französisch) an wissenschaftsjournalistischen Aufsätzen im medizinisch-naturwissenschaftlichen Themenbereich. In: Fachsprache 18 (1996), 27-35. Wolf gang Mentrup, Mannheim
(Deutschland)
58. Wirtschaftstexte 1. 2. 3.
5. 6.
Einleitung Das Problemfeld ,Wirtschaftstexte' Linguistische Zugriffe auf den Gegenstand , Wirtschaftstexte' Die Erkundung und Erprobung von Wirtschaftskommunikation im Unterricht Ausblick Literatur in Auswahl
1.
Einleitung
4.
Wirtschaft ist überall und deshalb gibt es auch überall Texte, die auf die eine oder andere Weise mit ihr zu tun haben. Diese Feststellung setzt ein modernes Verständnis von Wirtschaft voraus, das in der europäischen Geschichte erst relativ spät ausgebildet wurde (Hoffmann/Kalverkämper/Wiegand 1998). D a also der analytische Zugriff auf ,Wirtschaftstexte' historisch bedingt ist, werden zunächst die Vorverständnisse ermittelt, die heute die Beschäftigung mit,Wirtschaft' und mit ,Wirtschaftstexten' steuern (2.). Danach geht es darum, inwieweit der linguistische
Zugriff allmählich ein erkenntniskritisches Verständnis im Umgang mit ,Wirtschaftstexten' entwickelt (3.). Sodann wird die Frage behandelt, weshalb die Beobachtung mündlicher und schriftlicher Wirtschaftskommunikation im Unterricht auf die Erkundung und Erprobung authentischer Kommunikation hinausläuft (4.). D e n Abschluss bildet ein Ausblick auf Forschungsdesiderata, wie sie sich aus einer kommunikationstheoretischen Sicht auf das Problemfeld ,Wirtschaftstexte' ergeben (5.).
2.
Das Problemfeld ,Wirtschaftstexte'
Will man angeben, von welchem Standpunkt aus eine systematische Darstellung der relevanten Zugriffe auf den Gegenstand ,Wirtschaftstexte' unternommen werden kann, so empfiehlt sich eine begriffsgeschichtliche Rekonstruktion der beiden Teile dieses N o minalkompositums. Diese Bedeutungsgeschichte liefert erste Aufschlüsse, weshalb
574
VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
Ausdrücke wie ,Wirtschaft' oder ,Geld' und ,Satz' oder ,Text', die im Alltag mit großer Selbstverständlichkeit verwendet werden, in den Bezugsdisziplinen des Fremdsprachenunterrichts oft höchst umstrittene Leitvokabeln sind. 2.1. Zum Begriff .Wirtschaft' In der abendländischen Geschichte verweisen Titel wie das deutschsprachige Wort „Wirtschaft" zwar stets auf eine „planmäßige Tätigkeit", doch hat sich die Bedeutung, dass es sich dabei vornehmlich um die „Erzeugung, Verteilung u. Verwendung von Gütern" (Wahrig 1984, 1760) handelt, erst nach und nach eingebürgert. Zunächst ist es die seit dem 16. Jh. aufkommende Hausväterliteratur, die die Entlehnung „Ökonomie" durch das Wort „Wirtschaft verdeutscht, ohne jedoch schon eine Ablösung vom alteuropäischen Ökonomik-Begriff herbeizuführen (Burkhardt; Spahn; Oexle 1992, 51 Iff.). Dieser war einerseits geprägt durch den Ordo-Gedanken, der auf die Harmonie des auf ständischer Ungleichheit beruhenden Hausverbandes (oikos) setzte. Andererseits blieb Autarkie das oberste Ziel der Verwaltung des agraradligen Hauses, weshalb eine „richtige Haushaltung" Lehrgegenstand der antiken Ökonomik wurde, die Gewinnstreben noch scharf verurteilte (Chrematistik). Gleichwohl lässt sich bereits ab dem 11. und 12. Jh. ein ausgiebiges Nachdenken über Markt und Handel, eine positive Bewertung des Kaufmanns sowie das Aufkommen einer Kaufmannsliteratur feststellen. Erst im 18. Jh. bricht das Nachdenken über wirtschaftliche Zusammenhänge dem Übergang von der alteuropäischen „Hauswirtschaft" auf eine „Marktwirtschaft", deren Gewinnstreben nicht mehr zu bremsen ist, vollends die Bahn. Geschult am merkantilistischen und kameralistischen Wirtschaftsdenken der Territorialstaaten sind es zunächst die französische Physiokratie und dann die angelsächsische Klassik, die mit „Boden" und mit „Arbeit" Produktionsfaktoren entdecken, die in Konzepte der „Vermehrung" von Reichtum eingearbeitet werden. Im Kern erkannt wird somit die Autonomie der „Wirtschaft" in einer arbeitsteiligen Gesellschaft, und ihre besondere Funktion wird darin gesehen „zukunftsstabile Vorsorge mit je gegenwärtigen
Verteilungen" zu
verknüpfen (Luhmann 1989, 64). Indem diese Erkenntnis durchgesetzt wird, beginnt auch die theoretische Selbstbeschreibung der .Wirtschaft'. Zunächst geschieht dies unter dem Titel der „Nationalökonomie", der später
durch „Volkswirtschaftslehre" ersetzt wird. Mit der Gründung der ersten Handelshochschulen im Jahre 1898 (Leipzig, St. Gallen, Aachen, Wien) erhält die „Betriebswirtschaftslehre" disziplinäre Eigenständigkeit (vgl. die relevanten Einträge in Albert/Born/ Ernst u.a. 1977-1983 und in Dichtl/Issing 1987). Bezüglich der Linguistik ist zu beachten, dass sich die Wirtschaftswissenschaften von Beginn an als „Handlungswissenschaft" etabliert haben. Sie sind bestrebt wirtschaftliche Handlungszusammenhänge zu verstehen, um in sie einzugreifen. 2.2. Zum Begriff .Text' Im Anschluss an die soeben erwähnten Einsichten kann man in historisch-systematischer Absicht einerseits zwischen der vorwissenschaftlichen und der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Objekt „Text", andererseits jedoch auch zwischen den Eigenheiten verschiedener Zugriffe auf diesen Gegenstand unterscheiden. Zu trennen sind vorund außerphilologische Zugriffe, wie man sie im Alltag oder etwa in Theologie und Jurisprudenz kannte und kennt, von philologischen Zugriffen. Wissenschaftsgeschichtlich ist besonders an den Konstitutionsprozess der Neuphilologien im 19. Jh. zu erinnern, da dort die Gründe dafür zu finden sind, weshalb man die Beschäftigung mit eher profanen Textsorten nicht für opportun hielt (Fohrmann/Voßkamp 1994). Die Modernisierung der Sprachwissenschaft setzt mit der Umstellung von der Diachronie auf die Synchronie ein und führt zur Beschäftigung mit dem „Text" bzw. mit der „Textsorte" (Heinemann/Viehweger 1991). Bei der Arbeit am „Text" als der größten satzüberschreitenden Analyseeinheit kann man eine textinterne Perspektive, der es um Fragen von Textstruktur oder von Referenzbeziehungen geht, von einer textexternen Perspektive trennen, die eher auf „Einsichten in die Regelhaftigkeit von Textbildung (Textkonstitution) und Textverstehen (Textrezeption)" (Brinker 1985, 8) abzielt. Beide Perspektiven kann man wiederum aufeinander beziehen und beobachten, dass gegenwärtig mit Nachdruck die Erforschung schriftlicher und mündlicher Kommunikation gefordert wird. 2.3. Disziplinäre Zugriffe auf den Gegenstand .Wirtschaftstexte' Betreibt man Begriffsgeschichte als Geschichte des versprachlichten Wissens, so stößt man auf das Problem, dass nicht erkennbar ist, was Wirtschaft und Text ,an
58. Wirtschaftstexte
sich' sind, sondern allenfalls, unter welchen Bedingungen und mit welchen Folgen Wissen über die so bezeichneten Phänomene erzeugt und verwendet wird. Man findet also keine allgemeingültige Definition von ,Wirtschaftstexte', wohl aber Hinweise, wie man sich in diesem Problemfeld orientieren kann. Hierzu gehört, dass man nicht trennscharf zwischen Wirtschaftstexten und benachbarten Textsorten, jedoch zwischen Zugriffen auf diese randunscharfen Textsorten in Alltag, Beruf und Wissenschaft unterscheiden kann (Hundt 1995). Die Vielfalt zwingt ferner zum Nachdenken darüber, worin der Erkenntnisgewinn der Linguistik im Verhältnis zur Wirtschaftswissenschaft besteht. Die Antwort auf diese Frage ist wiederum von fundamentaler Bedeutung für den Unterricht, da stets zu entscheiden ist, an welchen Vorgaben aus Alltag, Beruf oder Wissenschaft man sich orientieren muss, wenn im Unterricht die Bewältigung unterrichtsexterner Kommunikation eingeübt werden soll. Diese Probleme sind indes nicht neu. Aufgeworfen wurden sie bereits um 1920 an den europäischen Handelshochschulen, wo man sie nicht länger philologisch, sondern im Grunde bereits im Sinne der angewandten Sprachwissenschaft zu beantworten versuchte. 3.
Linguistische Zugriffe auf den Gegenstand ,Wirtschaftstexte'
Die linguistische Analyse von Wirtschaftstexten wird inzwischen gern als Erkenntnisprozess beschrieben, der geradlinig vom Terminus zur Fachsprache und von dort über den Fachtext zur Fachkommunikation fortgeschritten ist. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass die Geschichte der Auseinandersetzung mit diesem Gegenstand sehr kontrovers und diskontinuierlich verlaufen ist und dass auch in der Gegenwart nicht immer Einhelligkeit darüber besteht, wie man sich ihm in Wissenschaft und Praxis am besten nähert. 3.1. Frühe Forschungsansätze Obwohl Wirtschaftstexte zu den ältesten belegten Textsorten der Menschheit gehören, und obwohl man bereits in der mittelalterlichen Schreibschule lernte, wie man rechtlich verbindliche Geschäftstexte aufsetzt, hat man doch erst zu Beginn des 20. Jh.s damit begonnen, das Phänomen ,Wirtschaftssprache' systematisch zu untersuchen. Als repräsentativer Überblick über den Stand der frühen Forschung gilt Messings Band „Zur WirtschaftsLinguistik" (1932), der großenteils etymolo-
575 gisch-lexikologische Arbeiten enthält, die sich an der historischen Methode der Vergleichenden Sprachwissenschaft des 19. Jh.s orientieren. Zentrales Klassifikationsprinzip ist die Ermittlung des formalen Unterschieds zwischen wirtschaftssprachlichem Terminus und gemeinsprachlichem' Wort. Jedoch erfahrt man nicht nur, dass Deutschland das wahre „Dollarland" sei, weil „Dollar" von „Taler" abgeleitet ist, sondern ebenso, wie man das Verhältnis von „Handels-Hochschule und Sprachwissenschaft" oder von „Sprache und Wirtschaftswissenschaft" betrachten sollte. Die Aufgabe der „Sprachwissenschaft auf der Handels-Hochschule" erkannte Messing darin, „als Wissenschaft von der Nationalkultur der Völker" (1932, 116) der „ Völkerverständigung und darüber hinaus der Selbsterkenntnis" (1932, 6) zu dienen. Ähnlich wie die Ansprüche des Prager Germanisten Hugo Siebenschein (1936) führte diese Auffassung zu einer Überfülle an Forschungsgegenständen, die nicht mehr methodisch kontrolliert zu bewältigen war. Eine systematische Kritik der diachronen Spielart von Wirtschaftslinguistik wurde von Mitarbeitern der Prager Handelshochschule erarbeitet, die die Beschäftigung mit jeder Art von ,Fachsprache' auf rein linguistische, besonders auf strukturelle und funktionale Grundlagen zu stellen suchten. Ihnen zufolge bildet die „Wirtschaftslinguistik" ein eigenständiges Fach, das nach einer Erklärung „der Sprache der gegenwärtigen wirtschaftlichen Tätigkeiten in ihrem gesamten Ausmaß" strebt (Vancura 1936, 161; m. Ü., E. R.). Programmatisch wird gefordert, dass man weder nur mit Termini durchsetztes Sprachmaterial noch bloß einzelne Wörter oder Phrasen untersuchen soll, sondern dass in Wort und Schrift allein „die Gesamtheit des sprachlichen Materials, das dem Zweck geschäftlicher und wirtschaftlicher Tätigkeiten dient", Ausgangspunkt der Erforschung von „Wirtschaftssprache" sein kann (Vancura 1936, 162; m. Ü., E. R.). Einerseits ist bemerkenswert, dass Sprache im Kern bereits als Mittel der Kommunikation begriffen wird. Die Lehre von der Funktionalstilistik sieht, dass die (National-)Sprache im Handlungsvollzug polyfunktional und polykontextural genutzt wird. Andererseits ist jedoch nicht zu übersehen, dass das Programm noch zwischen einer Untersuchung der Rolle sprachlicher Elemente in der Kommunikation und einer Analyse des Stellenwerts dieser Elemente im Sprachsystem, also zwischen Kommunikations- und Systemlinguistik schwankt.
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VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
Mit dem Einmarsch der deutschen Truppen in die Tschechoslowakei fanden diese Arbeiten ein vorläufiges Ende. Bislang ist man sich einig, dass es nach dem Krieg lange dauerte, bevor man in Ost und West wieder zum Reflexionsniveau der Prager aufschließen konnte (Drozd/Seibicke 1973, Kap. I). 3.2. Terminologie Studien zur Wirtschaftsterminologie liegen nur vereinzelt vor. Erwähnenswert ist etwa die Arbeit von Kutzelnigg (1965), in der versucht wird, nach dem Vorbild der Biologie, Waren bzw. Kategorien von Waren begriffssystematisch zu ordnen. Weit stärkere Beachtung findet die Terminologiearbeit dagegen bei der Erstellung von mehrsprachigen Fachwörterbüchern. Dabei stellt sich heraus, dass Termini nicht rein ausdrucksseitig, sondern nur relativ zum Inhalt weiterer Begriffe desselben Systems erfassbar sind. Dies veranschaulicht ein Vergleich der Organbezeichnung von deutscher AG und finnischer Oy. In der Übersicht befinden sich links oben die Begriffe der AG, rechts oben ihre finnischen Entsprechungen. Rechts unten befinden sich die (möglichen) Begriffe der finnischen Oy, links unten ihre deutschen Äquivalente — und zwar: ohne Klammern die völligen Entsprechungen, in runden Klammern die partiellen Entsprechungen und in eckigen Klammern Vorschläge, durch welche Ausdrücke die terminologischen Lücken, die durch Fragezeichen gekennzeichnet sind, geschlossen werden könnten (nach Stagneth 1994, 203): deutsche AG
finnische Entsprechungen
Hauptversammlung Aufsichtsrat Vorstand
yhtiökokous hallintoneuvosto hallitus oder johtokunta
deutsche Entsprechungen
finnische Oy
Hauptversammlung ?[Verwaltungsrat]
yhtiökokous hallintoneuvosto (nur in manchen Gesellschaften) hallitus/ hallintoneuvosto toimitusjohtaja
(Aufsichtsrat) ?[Geschäftsführender Direktor] Vorstand
johtokunta oder hallitus
Eine vergleichbare Terminologiearbeit erfordert z. B. die Sprachnormung, wie sie in den ehemals sozialistischen Staaten durch die Anpassung an den marktwirtschaftlichen Wortschatz ausgelöst wurde. 3.3. Morphologie und Syntax In diesem Bereich liegen sehr viele Arbeiten vor (Ohnacker 1992), an denen sich in der Regel übereinstimmende Kritiken entzünden. Sie setzen an dem Punkt ein, dass reine Formkriterien nicht genügen, um zu entscheiden, ob es sich bei einem Ausdruck wie „selbständige Arbeit" um einen Ausdruck der Gemein- oder der Wirtschaftssprache handelt. In die formale Analyse von Wirtschaftstextqualitäten schleichen sich so unbemerkt semantische Urteile ein. Ferner wird der Vorwurf erhoben, dass Frequenzanalytiker meist fachttexttypologisch naiv vorgehen, da sie einschlägige Pressetexte als repräsentativ für die Wirtschaftssprache ansehen und sich daher meist auf Börsenberichte verlegen. Neben dem allgemeinen Theoriedefizit wird außerdem beanstandet, dass nur Einzelphänomene aufgegriffen werden und dass Befunde zwar fachttexttypisch, aber nicht wirtschaftstexttypisch ausfallen. Dennoch kann man auf zwei Arbeiten hinweisen, denen im Bereich von Morphologie und Syntax Mustergültigkeit zukommt. Die erste konzentriert sich auf die „wissenschaftliche Fachsprache der Wirtschaft", indem sie ein Textkorpus von 2000 Sätzen analysiert, die aus den Werken von 50 deutschsprachigen Autoren stammen (de Cort/Hessmann 1977/1978/1979). Diese Studie stellt sich wieder dem Vorkriegsauftrag, syntaktische Erkenntnisse für den Fachfremdsprachenunterricht zu ermitteln. Im Einzelnen untersucht werden die Frequenz von Satzgliedern im Einzelsatz, die Arten der hypotaktischen und parataktischen Satzverbindung, die Frequenz und Bildung des Passivs, die Arten und Frequenzen der erweiterten Attribute, die Häufigkeit von Fügungen mit „zu (+ Artikel) + Subst. auf -ung" u. ä. m. Nach Art dieser Analysen fallen die didaktischen Hinweise aus: Demnach ,,täte[n]" Lehrer „klug daran" solche Texte heranzuziehen, die bevorzugt „Einzelsätze oder einfache Gefüge" verwenden. Da ferner „82 v. H. aller Attributsätze durch Relativpronomen eingeleitet werden", muss der Leser die „Bezugswörter erkennen" lernen, was heißt, dass er „auch wissen [muss], dass sich die Kongruenz zwischen Pronomen und Bezugswort auf Genus und
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58. Wirtschaftstexte
Numerus beschränkt" (de Cort/Hessmann 1979, 93). Im Rahmen der zweiten Arbeit wurde auf der Grundlage eines Textkorpus von 251000 Wörtern nachgewiesen, dass die relative Frequenz von Partizipialattributen „fachtextspezifisch" ist, da sie „über 6mal so groß wie in den Nicht-Fachtexten" ist (Kvam 1986, 111). Insgesamt führte der Vergleich der wirtschaftssprachlichen Textklassen „interne Fachtexte", „externe Fachtexte" und „Nicht-Fachtexte" zur Erhärtung der These, dass der „syntaktische Unterschied zwischen Fachtexten und Nicht-Fachtexten quantitativer Art [ist]" (Kvam 1986, 112). Diesem Befund zufolge bleibt es eine offene Frage, ob man mit der syntaktischen Beschreibung zugleich auch die definierenden Merkmale eines Fachtextes oder einer Fachtextsorte erfassen kann. 3.4. Semantik Mittelbar sind Fragen der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke stets von sprachpflegerischen Arbeiten angesprochen worden, die sich sprachpuristisch, sprachkritisch oder ideologiekritisch mit der Sprache in Wirtschaftstexten auseinandersetzen. Anders als sprachpuristische Bestrebungen, die ζ. B. den Fremdwortgebrauch kategorisch ablehnen, kreisen sprachkritische Arbeiten meist um das Problem, wie die Verständigung zwischen den Wirtschaftsfachleuten und der breiten Leserschaft verbessert werden kann (Klein/ Meißner 1999). Kritik ruft der Gebrauch des Autorenplurals „wir" genauso hervor wie die Verwendung des Kollektivsingulars, wenn z.B. in der Presse statt vom „Wirtschaftsminister" von „Berlin" die Rede ist. Fast schon traditionell ist die Kritik des Gebrauchs von Passivformen und anderer agensabgewandter Konstruktionen, die in Formulierungen wie „Mein Geld arbeitet genauso hart wie ich" gipfeln. In diesem Komparativsatz wird je nach Verständnis entweder der abstrakte Begriff „Geld" oder das konkrete Zahlungsmittel „Geld" in die Subjektstelle des Handlungsverbs „arbeiten" geschoben. Das eigentliche Agens, also der sich mit „ich" bezeichnende Sprecher, ist nur über das Possessivpronomen „mein" bestimmbar, ζ. B. durch Rückführung auf den Aktivsatz „Ich arbeite mit meinem Geld". Der entpersonalisierte Ausdruck „mein Geld arbeitet" spielt schon in den Metaphernbereich hinein. Die Ideologiekritik hat den Metapherngebrauch in der Wirtschaftspresse pauschal unter den Verdacht gestellt, die wahren Urheber der
wirtschaftlichen Verhältnisse einer Gesellschaft zu verschleiern. Selbst wenn man dies zurückweist, kann man von der inzwischen üblichen Auszeichnung von Lebensmittelwaren mit Herstellungs- und Verfallsdatum sowie mit Angaben zu Gewicht, Inhalt und Herkunft doch ersehen, wie die sprachkritische Aufdeckung manipulativer Strategien zur Aufklärung und zum Schutz von Verbrauchern genutzt wird. Eine konstruktive Metaphernkritik kann ferner zeigen, dass der Gebrauch von Metaphern sogar erkenntnisstiftend wirkt. Bei der Vereinfachung komplexer Sachverhaltsdarstellungen greift man auf analoge Beispiele aus Bereichen wie Sport und Spiel zurück, um das Verstehen unvertrauter Inhalte zu erleichtern. Weiter werden Metaphern verwendet, um Gedanken auszudrücken, für die noch keine festen sprachlichen Prägungen zur Verfügung stehen. Daraus folgt, dass die „erkannten Gegenstände immer nur über ihre sprachlichen Fassungen zugänglich [sind] und von diesen her erschlossen [werden]" (Kroeber-Riel 1969, 194). Demzufolge dienen Metaphern nicht nur der Verschleierung, denn sie sind die besonderen „Mittel, mit denen man abstrakte Konzepte (wie Markt,
Geld, Zins
etc.) erst konstruieren und be-greifen kann", wie man am „uneigentlichen" oder „metaphorischen Sprechen" ζ. B. in der „Geldtheorie" ersehen kann (Hundt 1995, 283). 3.5. Textanalyse Textlinguistischen Beschreibungsansätzen geht es um die Ermittlung der Charakteristika von Textganzheiten. Durchgesetzt haben sich vor allem Ansätze, die einen Text bzw. das Exemplar einer Textsorte gleichsam als die Fortsetzung einer praktischen Handlung mit den Mitteln der Sprache zu sehen und zu beschreiben versuchen. Im Ergebnis führt dies zur Auffassung vom Text als einer sprachlichen Handlung, dessen Struktur funktional bedingt ist. Einfaches Beispiel sind Gebrauchsanweisungen, in denen Handhabe-Verben und Richtungsangaben vorkommen. Im Kern sind solche Handlungstexte so gehalten, dass sie den Leser dazu anhalten, Schritt um Schritt die Handlungen auszuführen, die notwendig sind, um etwa die Einzelteile eines Fleischwolfs zu einem funktionstüchtigen Küchengerät zu montieren. Im Anschluss an solche Ansätze hat man festgestellt, dass man zwar die ideale Abfolge der Teilschritte ermitteln kann, dass ihr in Textexemplaren aber nicht umstandslos gefolgt wird. In kontrasti-
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VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
ver Sicht scheint etwa das „deutsche Adverbialsystem wegen seiner differenzierten grammatischen und semantischen Struktur" dafür verantwortlich zu sein, dass Anweisungen in deutscher Sprache expliziter als im Englischen oder Französischen ausfallen (Saile 1984, 236). So haben bereits erste kulturkontrastive Textanalysen auf das Problem aufmerksam gemacht, dass Instruktionsstile nicht nur interkulturell, sondern auch intrakulturell stark variieren können, weil sie kontextspezifisch gebraucht werden. Vor allem sprechakttheoretisch inspirierte Ansätze haben sich bemüht, den Zusammenhang zwischen außersprachlichen Handlungsbedingungen und den ihnen entsprechenden Möglichkeiten des sprachlichen Ausdrucks in Texten offenzulegen. Ein Problem dieser Untersuchungen kann darin gesehen werden, dass das theoretische Interesse die konkrete Bestimmung von Fachtextspezifika an den Rand drängt. Dies führt u. U. dazu, dass man die „Funktions- und Organisationsprinzipien komplexer Äußerungsfolgen" auch im Rahmen „einer handlungsorientierten Texttheorie" faktisch nicht „eingehender" „beschreiben" und „erklären" kann (Brandt/Koch/Motsch u. a. 1983, 105), wenn man von diesem Handlungszusammenhang in der Analyse wieder abstrahiert. So kann man z. B. den Geschäftsbrief als komplexe sprachliche Handlung auffassen, die in kleinere Einheiten, etwa in konstitutive', deklarative', ,kognitive' und ,interaktioneile Teilhandlungen' zerlegbar ist (Koch 1986). Selbst wenn man diesen Kategorien zahlreiche Formulierungsbeispiele zuordnet und sie sprechhandlungsgrammatisch erläutert, legt man dennoch nicht das Kompositionsprinzip der sprachlichen Handlung .Geschäftsbrief frei. Dies gelingt erst in dem Maße, wie man der Entstehimg des kaufmännischen Schriftverkehrs nachgeht. So kann eine Textsortengeschichte zeigen, dass etwa die „Mängelrüge" (Reklamation) sowohl Ergebnis als auch probates Mittel der Regulierung eines bestimmten „betriebswirtschaftlich-rechtliche[n] Sachverhaltes] ist (Gönner/Lind 1990, 86). Erst nachdem man die Mängelrüge als juristischen Schritt innerhalb einer Problemlösungsprozedur erkennt, kann man die notwendigen Bestandteile, ihre Abfolge im Text sowie den sprachlichen Formulierungsspielraum bestimmen. Ergebnis der Recherche kann dann sein, dass der „Brieftext" z. B. der deutschen „Mängelrüge" die folgende „Gliederung" aufweist:
„Bezugszeichenzeile
[...]
Betreff: Mängelrüge Inhalt:
1. 2. 3. 4. 5. 6.
Anrede Empfangsbestätigung der Sendung Schilderung der Sachmängel Gewährleistungsansprüche Verbindlicher Schluss „Gruß" (Gönner/Lind 1990, 86)
Liegen Musterbeschreibungen von Textsorten vor, kann die Sprachverwendungsforschung auch empirisch ermitteln, welche Rolle Musterwissen bei der Produktion und Rezeption eines Textes in verschiedenen Kontexten spielt und inwiefern die ungleiche Verteilung dieses Musterwissens in der Kommunikation zwischen Experten und Laien Verständigungsprobleme auslöst. Ähnlich kann man vorgehen, wenn man die Herstellung von neuartigen Texten in neuartigen Situationen untersucht, wofür die Textarbeit im „Wirtschafts- und Sozialausschuss" der Europäischen Union ein aufschlussreiches Beispiel ist. Im Rückgriff auf Methoden der empirischen Sozialforschung kann man einerseits untersuchen, welche kommunikativen Routinen Ausschussmitglieder ausbilden, um die für sie oft ungewohnte mehrsprachige Arbeitssituation zu bewältigen und andererseits, wie im Zuge dieses multilingualen und multikulturellen Normalisierungsprozesses Texte abgestufter Rechtsverbindlichkeit ausgehandelt werden. Eine solche Vorgehensweise gewährt Einblicke in den Zusammenhang zwischen der Genese eines Textes und dem Text als fertigem Produkt, dessen sprachliche Merkmale man wieder systematisch hinsichtlich „Stilistik", „Metaphorik" und „Phraseologie" oder „Mehrfachadressierung" und „Argumentationsmuster" beschreiben kann (Born/Schütte 1995). Diese ,Eurotext'-Studie kann auch als ein Beispiel dafür gelten, wie die übliche textzentrierte Analyse durch eine Analyse der Erstellung von textsortenspezifischen Exemplaren ergänzt werden kann. 3.6. Wirtschaftsdeutsch Der Begriff,Wirtschaftsdeutsch' steht für ein relativ unübersichtliches Feld, auf dem im letzten Jahrzehnt eine Fülle völlig unterschiedlicher Arbeiten erschienen sind, die jedoch über ein gemeinsames Merkmal verfügen: Immer geht es um Praxisprobleme (vgl. Picht 1989; Müller 1991). Daher werden „Wirtschaftstexte" vor allem unter dem Aspekt betrachtet, was man im mutter- oder
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58. Wirtschaftstexte
fremdsprachlichen Unterricht tun kann, um Lernende auf den außerunterrichtlichen Umgang mit ihnen vorzubereiten. Im Bereich Deutsch als Fremdsprache kann man einschlägige Arbeiten danach einteilen, inwieweit sie sich auf eine der vier Grundfertigkeiten beziehen, die man im modernen Fremdsprachenunterricht übt. So trifft man vor allem auf Leseanleitungen, die nicht nur mit Textsortentypologien aufwarten, sondern auch in verschiedene Lesestile einführen (Herrmann 1990). Schreibanleitungen konzentrieren sich in der Regel allein auf die Geschäftskorrespondenz, wenn man von Hinweisen zur unterrichtsinternen Textproduktion absieht. Zum Hörverstehen liegen dagegen nur sehr wenige Arbeiten vor (Grütz 1994), und die ebenfalls recht seltenen Sprechanleitungen greifen meist auf Vorbilder aus der praktischen Rhetorik zurück und beachten daher kaum das Gespräch (Keim 1994). Obwohl Verschiedenartigkeit des Ansatzes das hervorragende Merkmal der Arbeiten im Bereich Wirtschaftsdeutsch ist, kann man feststellen, dass sie für die Ausformulierung von zwei alternativen Unterrichtsmodellen herangezogen werden. Das erste Modell wurde von Buhlmann & Fearns (1987,1989ff.) für den studienvorbereitenden Unterricht entwickelt und ist durch eine strikte Ausrichtung auf die „Systematik des Faches" gekennzeichnet. Im Kern zielt dieses Modell darauf ab, dass Kursteilnehmer sich die Fachbegriffe des universitären Grundstudiums aneignen und die stilistischen Eigenschaften von Lehrbuchtexten erkennen und reproduzieren lernen. Dagegen setzt das von Bolten (1991, 1993 ff.) entwickelte Modell in erster Linie auf wirtschaftsberufliche Kommunikation, weshalb Kursteilnehmer wirtschaftliche Belange vor allem aus Unternehmenssicht kennen lernen. Trotz größerer Unterschiede ist beiden Ansätzen gemein, dass sie die Kursteilnehmer auf eine nachhaltige Beschäftigung mit dem deutschen Wirtschaftssystem verpflichten. Modelle, die die Außenperspektive und somit die internationale oder die interkulturelle Kommunikation zum Ausgangspunkt des Unterrichts machen, sind (in Deutschland) bisher nicht ausgearbeitet worden (Kühn 1996). Dies liegt größtenteils daran, dass man im Wirtschaftsdeutschunterricht auf bewährte fremdsprachenunterrichtliche Methoden baut, da die interkulturelle Wirtschaftskommunikation bisher kaum empirisch un-
tersucht worden ist (Ehnert 2000). Dass dieser Befund im Grunde auch auf die mirakulturelle Wirtschaftskommunikation zutrifft, kann man Arbeiten entnehmen, die unter dem Titel „Betriebslinguistik" erschienen sind (Klein/Pouradier/Wagner 1991; Feldbusch/Pogarell/Weiß 1991). Teils explizit berufen sich diese Arbeiten auf die Programmatik der frühen Forschungsansätze (3.1.) und fordern erneut den Dialog von Wirtschaftswissenschaften) und Linguistik (BeckerMrotzek/Doppler 1999). 4.
Die Erkundung und Erprobung von Wirtschaftskommunikation im Unterricht
Aus der Sicht der Unterrichtspraxis scheint dieser geforderte Dialog dann besonders aussichtsreich zu sein, wenn sich auch die Teildisziplinen der Linguistik wie zuvor die Wirtschaftswissenschaft als „Handlungswissenschaft" begreifen. Denn gleich, ob es sich um den Studien- oder den berufsbezogenen Unterricht handelt, stets geht es darum, im Unterricht auf außerunterrichtliche Kommunikation vorzubereiten. Die Erforschung von Wirtschaftskommunikation erfordert also eine Ablösung des textzentrierten Blicks, wenn man tatsächlich die Prozesse der Produktion und Rezeption von Exemplaren einer Textsorte in den Griff bekommen will. Ein solches Unterfangen läuft im Kern auf eine Handlungsschemaanalyse hinaus. Diese setzt mit der Beobachtung ein, dass Beteiligte typische Aufgaben durch eine typische kommunikative Schrittfolge bewältigen. Führt man etwa an Verkaufsgesprächen Korpusanalysen durch, so kann man feststellen, dass sie im Prinzip über die folgenden Schritte abgewickelt werden: (1.) Ermittlung des Kaufwunsches (2.) Unterbreitung des Angebotes (3.) Durchführung der Verkaufshandlung Die Handlungsschemaanalyse ermittelt zunächst einmal die unverzichtbaren Bestandteile eines Gesprächstyps. Alsdann beobachtet sie, dass Beteiligte an Verkaufsgesprächen bestimmte Rollen einnehmen, weshalb es z. B. Verkäufern obliegt, den Kaufwunsch des Kunden zu ermitteln und ihm die gewünschten Dienstleistungen oder Waren vorzuführen. Schließlich stellt sie fest, dass in authentischen Verkaufsgesprächen die konstitutiven Bestandteile des Handlungsschemas über un-
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VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
terschiedliche Teilschritte abgewickelt werden. So können Kunden bereits mit präzisen Kaufwünschen aufwarten und Verkäufer können noch nach dem Aushändigen der Ware wichtige Produktinformationen geben. Insgesamt belegen empirische Analysen, dass Beteiligte auf gesprächstypspezifisches Wissen zurückgreifen, um den Gesprächsablauf zu steuern. Sprachlich kommt dies z. B. durch die Verwendung von Gliederungssignalen zum Ausdruck, im Falle von Missverständnissen aber auch dadurch, dass man sich explizit verdeutlicht, in welcher Phase des Gespräches man sich gerade befindet. Interessant ist nun zu sehen, dass das tatsächlich vorhandene gesprächstypspezifische Wissen im Rahmen der sprachlichen und kommunikativen Schulung übersehen wird. So wurde der Nachweis erbracht, dass sich am Verkaufsverhalten von Buchhändlerinnen nichts änderte, obwohl sie in ihrer Buchhandlung ein Kommunikationstraining absolviert hatten (Brons-Albert 1995a, b). Dass sich kontinuierliche Übungen kontraproduktiv auswirken, trifft auch auf andere Bereiche des muttersprachlichen Kommunikationstrainings (Fiehler/Sucharowski 1992) sowie auf die kommunikativen Übungen im Wirtschaftsdeutschunterricht zu (Reuter 1997). Diese Probleme rühren zum einen daher, dass man sich an den normativen, jedoch laienlinguistischen Modellen der praktischen Rhetorik orientiert, und zum andern daher, dass man völlig unterschätzt, was es bedeutet, in Unterricht und Schulung authentische Kommunikation zu simulieren. Als Lösung bietet sich an, Fälle bereichsspezifischer Wirtschaftskommunikation in Alltag, Beruf und Wissenschaft zu erheben, sie zu analysieren und für die Darbietung im Unterricht aufzubereiten. An die Darbietung schlösse sich die Erkundung, Erprobung und Auswertung ausgewählter Formen bereichsspezifischer Wirtschaftskommunikation an. 5.
Ausblick
Zusammenfassend kann man feststellen, dass die Auseinandersetzung mit dem Forschungsobjekt ,Wirtschaftstexte' disziplingeschichtlich geprägt ist. Konkret bedeutet dies, dass bislang vor allem Produktanaiysen und nicht Prozessanalysen im Vordergrund des Interesses standen. Dies ändert sich gegenwärtig. Textsorten werden zunehmend als routinisierte oder standardisierte Lösungen von
Kommunikationsproblemen begriffen. Dies aber bedeutet, dass man in den Gebrauch also in die Produktion und Rezeption — von Exemplaren einer Fachtextsorte eingewiesen wird und werden muss. Deshalb müssen auch Linguisten zwischen ihrer externen Beobachtersicht und der Sicht der beobachteten Wirtschaftssubjekte unterscheiden, wenn sie etwa funktionalstilistische Aussagen über bestimmte ,Wirtschaftstexte' treffen wollen. Inzwischen mehren sich die Hinweise, dass die linguistischen Beschreibungsprobleme nicht mit den Kommunikationsproblemen der Beobachteten identisch sind. Trägt man dieser Sachlage Rechnung, dann ergeben sich folgende Desiderate der Forschung: — Produktanalysen sind durch Prozessanalysen zu ergänzen und zu relativieren. Neben der Erstellung synchroner Typologien und der synchronen Beschreibung von Textsorten und Gesprächstypen erfordert dies die Erarbeitung von Textsorten- und Gesprächstypgeschichten — Die Verwendungsforschung ist aufgefordert, empirisch jene Zusammenhänge aufzudecken, in denen linguistisches Fachwissen erzeugt, an interessierte Umwelten abgegeben und von diesen weiter verarbeitet wird. — Der Wirtschaftsdeutschunterricht ist daraufhin zu prüfen, in welchem Maße er sich mit realer Wirtschaftskommunikation beschäftigt. So gilt es zu ermitteln, wie im Unterricht die Simulation realer Wirtschaftskommunikation vorbereitet, durchgeführt und ausgewertet wird bzw. werden kann. Indem sich der Wirtschaftsdeutschunterricht und seine Bezugsdisziplinen auf diese Forschungen einlassen, leiten sie einen Blickwechsel ein, der der Umstellung der Optik von der „Hauswirtschaft" auf die „Marktwirtschaft" in den Wirtschaftswissenschaften gleichkommt. 6.
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VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
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Ewald Reuter, Tampere (Finnland)
59. Juristische Fachtexte 1. 2. 3.
4.
1.
Forschungslage: Rechtslinguistik und juristische Fachsprachendidaktik Juristische Fachtexte: Textsortenprobleme Juristische Fachtexte in Lehrwerken für Deutsch als Fremdsprache: Gängige Praxis und didaktisch-methodische Folgerungen Literatur in Auswahl
Forschungslage: Rechtslinguistik und juristische Fachsprachendidaktik
Fachsprachliche Kommunikationskonstellationen werden gemeinhin im Hinblick auf ihre vertikale Schichtung beschrieben: In Abhängigkeit von Interessen und Zielvorstellungen der Kommunikationspartner sowie den Besonderheiten der Kommunikationssituation werden Fachsprachen differenziert in eine Theorie- oder Wissenschaftssprache, eine fachliche Umgangssprache und in eine Werkstattoder Verteilersprache (vgl. Ischreyt 1965; Hahn 1980, 391 ff.). Ähnliche Schichtenmodelle existieren auch für die Rechtssprache. Es wird funktionalstilistisch differenziert in Gesetzessprache und Juristensprache (Gizbert-Studnicki 1984) oder in Amtssprache, Wissenschaftssprache und Ge-
richtssprache (Dölle 1949). Podlech (1975) unterteilt die Rechtssprache in eine Normsprache (Sprache der Rechtsvorschriften), Rechtfertigungssprache (Sprache der gerichtlichen Entscheidung) und in eine dogmatische Sprache (Sprache der Rechtswissenschaften). Die differenzierteste Taxonomie findet sich bei Otto (1981), der die Rechtsund Verwaltungssprache funktional differenziert in Gesetzessprache, Urteils- und Bescheidssprache, Wissenschafts- und Gutachtersprache, Sprache des behördlichen Schriftverkehrs und Verwaltungsjargon. Solche Schichtenmodellierungen haben eher heuristischen Erkenntniswert, denn fachsprachliche Kommunikationskonstellationen lassen sich wegen ihrer prinzipiellen Differenziertheit nicht in ein solches Schema pressen (vgl. Fluck 1996, 16ff.): Einerseits zementiert eine solche Schichtung die Vorstellung, die Lexik sei das entscheidende Kriterium zur Kennzeichnung von Fachsprachen, andererseits suggeriert diese Differenzierung, es gäbe die Fachsprache eines bestimmten Faches. Gegen das Schichtenmodell spricht schließlich die Feststellung, dass der juristische Sprachgebrauch institutionell bestimmt ist. Interessant ist in diesem Zusammenhang Paroussis (1995)
59. Juristische Fachtexte
Konzept der „institutionellen Epistemologie des Rechts", deren Basis der „juristische Diskurs" bildet. Die funktionalstilistischen Beschreibungsmodelle müssen mittlerweile als überholt angesehen werden, denn „es gibt nicht die Fachsprache eines Faches, sondern nur fachsprachliche Textsorten" (Spillner 1983,26). Nach Fluck (1992,9; vgl. auch Beier/Möhn 1981, 122) sind sich mittlerweile Fachsprachenlinguisten und -didaktiker darin einig, dass sich die „komplexen Fachsprachen in ebenso komplexen Fachtexten realisieren, so dass der Fachtext zunehmend Gegenstand der Forschung und Vermittlung wurde." Betrachtet man auf dieser Folie Untersuchungen zur Rechtssprache, so lässt sich Folgendes festhalten: (1) Rechtslinguistische Untersuchungen sind fast ausschließlich bezogen auf Fragen der Verständlichkeit der Rechtssprache. Verständigungsprobleme können dabei auftreten zwischen Fachleuten und Laien (z. B. Richtern und Angeklagten) oder aber — unter intersprachlichen und interkulturellem Aspekt - auch zwischen Fachleuten mit verschiedenen Nationalsprachen und Rechtssystemen (vgl. zur ethnologischen Rechtsforschung Willems 1961; Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaften 1878ff.; vgl. zur Übersetzungsproblematik bes. Mincke 1991). (2) Sprachliche Verständigungsschwierigkeiten werden festgemacht (a) an der juristischen Terminologie (z. B. dolus directus, dolus eventualis), (b) an der semantischen Umdeutung alltagssprachlicher Lexeme als termini technici (z. B. Besitzer, Eigentümer, Absicht), (c) an differenzierten semantischen Unterschieden (z. B. Raub vs. Ausführung des Raubs; Rat geben vs. raten), (d) an semantischen Mehrdeutigkeiten (z.B. große Strafrechtskommission: Ist die Zahl der Mitglieder oder die Bedeutung der Kommission groß?), (e) am Nominalstil (z. B. Inbrandsetzung, Geltendmachung, Unbrauchbarmachung, (f) an der Personifizierung abstrakter Sachverhalte (z.B. von Rechtsstellungen: Erblasser, Gesamtschuldner, Wiederbeklagter), (g) an grammatischen Inkorrektheiten (z. B. an der inkorrekten Attribuierung: vorläufige Vollstreckbarkeitserklärung eines Urteils statt Erklärung der vorläufigen Vollstreckbarkeit eines Urteils', oder Oxymora: dienende Grundstücke, kalte Aussperrung), (h) an der Anhäufung von Genitiven (z. B. Als Erlaubnistatbestandsirrtum bezeichnet man die irrige Annahme der sachlichen Voraussetzungen eines
583 anerkannten Rechtfertigungsgrundes) bzw. von Partizipialkonstruktionen (z.B. Sie war nicht dazu bestimmt und geeignet, einen über den geprüften Inhalt der in ihr enthaltenen Einzelurkunden hinausgehenden, für sich bestehenden Gedankeninhalt zu beweisen), (i) an langen Hypotaxen („Nach § 24 II entfällt seine Bestrafung wegen Beihilfe zum versuchten Diebstahl nur, wenn er dadurch zugleich die Vollendung der begonnenen Tat verhindert (§24 II 1) oder wenn er sich durch Einwirkung auf die Mitbeteiligten, durch Warnung des Betroffenen, durch Anruf bei der Polizei usw. freiwillig und ernsthaft um die Verhinderung der Vollendung bemüht, falls ,die Tat' (gemeint ist: die in ihren wesentlichen Grundzügen identisch bleibende Tat) unabhängig von seinem früheren Tatbeitrag zu Ende geführt wird (z. B. in der Weise, daß die am Tatort anwesenden Mitbeteiligten nach Rücknahme des Nachschlüssels kurzerhand die Tür zum Warenlager aufbrechen und den geplanten Diebstahl bewerkstelligen; vgl. §24 112"). (Wessels 1989, 200), (j) an der besonderen Metaphorik (Leihmutter, Rechte erwachsen und erlöschen), (k) an der Ideologiegebundenheit juristischer Sprache (z. B. Scheinpräzision rechtssprachlicher Begriffe (z. B. durch „Wertwörter" wie betrügerisch, gewissenlos, Reinheit und Gesundheit des Geschlechtslebens', vgl. dazu Clauss 1974; Oksaar 1967, 118f.)) oder (1) bei Übersetzungen an den „hard words" (ζ. Β. deutsch Kultur vs. englisch culture) (vgl. zu solchen Kennzeichen der juristischen Sprache Günther 1891; Oksaar 1967; Daum 1981; Oksaar 1989,277ff.; Wassermann 1990). (3) Wegen solcher vermeintlicher fachsprachenlexikalischer, -grammatischer, -syntaktischer und -stilistischer Verständigungsschwierigkeiten wird - besonders auch von Juristen - der Vorschlag gemacht, Jurastudierende und angehende Juristen über Lehrbücher und die Juristenausbildung sprachkritisch auszubilden: Sie sollen vom abstrakten und komplexen Stil weg zu einem eher situationsbezogen, expliziten „Anreihungsstil" angeleitet werden (Seibert 1977, 153; vgl. auch Paul 1983). (4) Kommunikationsanalysen vor Gericht haben ergeben, dass es zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft, Verteidigung und den nicht juristisch vorgebildeten Verfahrensbeteiligten (Laien) zu erheblichen „Verständigungsproblemen", „Verständnis- und Verständigungsdefiziten" (Ermert 1983, 12f.), „Verständlichkeitshindernissen" (Herberger 1983, 23), „Verständigungsbarrieren", „Kom-
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VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
munikationsstörungen" (Wassermann 1983, 53ff.) kommt (vgl. auch Radtke 1981). Zur Eindämmung und Beseitigung dieser Kommunikationsstörungen wird von juristischer Seite eine „bürgerfreundliche Justiz" (Ermert 1983), eine „Justiz mit menschlichem Antlitz", „eine Kultur der Gerichtsverhandlung" (Wassermann 1983, 47 u. 52) gefordert, die durch Kooperativität, Sachlichkeit, geringe Distanziertheit und sprachliche Verständlichkeit gekennzeichnet ist (vgl. Wassermann 1983, 48ff.); zur Umsetzung dieser Forderungen wird eine sprachkritische Ausbildung der Rechtsreferendare gefordert (vgl. z.B. Paul 1983). Rechtslinguistische Vorschläge zielen darauf ab, Teile des Gerichtsverfahrens neu zu gestalten (vgl. z. B. Hoffmann 1983; Hoffmann 1989), Fachsprache in Laiensprache zu „übersetzen" (vgl. Soeffner 1983; Kallmeyer 1983) oder juristische Texte verständlicher zu formulieren (vgl. z.B. Huth 1983; Stickel 1983). Vergleicht man die juristischen und rechtslinguistischen Untersuchungen mit den Ergebnissen der allgemeinen Fachsprachenforschung, so bleibt Folgendes festzuhalten: (a) Das Verständlichkeitsdilemma zwischen Juristen und Laien ist aus juristischer wie rechtslinguistischer Perspektive vor allem wortsemantisch und grammatisch-syntaktisch bedingt. Aufgelistet werden einzelne, verständnisstörende Missgriffe. Bei der Beschäftigung mit diesen Einzelaspekten wird die Hauptsache vergessen, nämlich dass der Text als Ganzes der Verständigung dient und damit in den Mittelpunkt rechtslinguistischer Untersuchungen zu stellen ist. (b) Der Aspekt der Verständlichkeit wird in der bisherigen Forschung eng an eine Rückbindung der juristischen Fachsprache an die Gemeinsprache geknüpft: Der Gesetzestext soll für den Laien verständlich und durchschaubar sein: Dies scheint im Sinne der Informationsvermittlung durch die Übersetzung bzw. Übertragung von Fachsprache in Gemeinsprache gewährleistet (vgl. Oksaar 1967; Wassermann (1981,259) schlägt für Gesetzestexte, die sich an den Bürger wenden, eine zweite, gemeinsprachliche Fassung, sog. „Volksausgaben" vor; vgl. auch Paul 1983, 129ff.). Busse (1992, 189) interpretiert die Forderung nach Allgemeinverständlichkeit juristischer Texte „als völlige Verkennung der Komplexität des Rechtssystems und seiner Fachlichkeit", denn das Verständnis juristischer Texte setzt nach Busse (1992, 189)
„die Kenntnis intertextueller Verknüpfungen zwischen Normtexten [d. h. Gesetzestexten] voraus, sei es zwischen besonderem und allgemeinem Teil des StGB, sei es zwischen StGB und anderen Rechtsgebieten, wie dem BGB. Wissen über die ,Bedeutungen' von Normtexten ist das Wissen über vielfaltige und komplexe rechtsdogmatische Wissensrahmen und die Relationen, die sie verknüpfen. Aus dieser Perspektive ist die vermeintliche Beziehung des Wortlauts des Strafgesetzbuches zur Gemeinsprache eine rechtstheoretische Fiktion." Verständlichkeit ist also kein rein sprachliches Problem. Nach Busse (1992, 39) geht es beim Verstehen juristischer Texte nicht um ein „Verständlich-Machen" (vgl. Biere 1989) oder Interpretieren der Gesetzestexte im philologischen Sinne. Verstehen juristischer Texte und Textsorten ist nach Busse (1992,40) „Arbeiten mit Texten" (vgl. auch Busse 1993, 228ff.; zur Verstehensproblematik juristischer Texte vgl. auch Müller 1989). (c) Juristische Sprache ist Sprache in Institutionen. Es gilt daher die institutionsspezifischen Denkmuster, Wissensrahmen und Kommunikationsformen zu explizieren. Hieraus ergeben sich interkulturelle Unterschiede: In der englischen Rechtsprechung urteilen die Richter nach analogen Fällen und nach dem Sinn des Gesetzes, in der deutschen spielt dagegen die Institutionalisierung geltender Normtextinterpretationen eine große Rolle. Aus den Ergebnissen und Problemen der bisherigen juristischen und rechtslinguistischen Forschung lassen sich folgende Konsequenzen für einen juristischen Fremdsprachenunterricht ziehen: (1) Ziele und Inhalte des fachbezogenen Fremdsprachenunterrichts müssen auf die Voraussetzungen und Bedürfnisse der Lernenden ausgerichtet sein. In der studienbezogenen juristischen Fachsprachenausbildung kann bei den Deutschlernenden entweder eine juristische Fachkompetenz vorausgesetzt werden (Studienabschluss im Heimatland) oder aber die Deutschlernenden beabsichtigen, ihr juristisches Fachstudium durch einen Auslandsaufenthalt in Deutschland zu vertiefen. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass die Deutschlernenden sowohl eine juristische Fachkompetenz in ihrer Muttersprache als auch im Deutschen besitzen und über (teilweise unterschiedliche) allgemeine Sprachkenntnisse verfügen. In der universitären ju-
59. Juristische Fachtexte
ristischen Fremdsprachenausbildung werden die Deutschlernenden dabei mit der juristischen Fachsprache im Sinne der Theorie- und Wissenschaftssprache konfrontiert. Für die (in der Regel) nicht juristisch ausgebildeten Fachsprachenlehrer bedeutet dies, dass sie sich sowohl mit juristischen als auch mit rechtslinguistischen Kenntnissen und Problemen vertraut machen müssen. Dies erfordert - besonders in der universitären Weiterbildung von Deutschlehrern — eine „exemplarische Verzahnung von Fach- und Sprachausbildung" (Fluck 1992, 241). Schließlich wendet sich der juristische Fachsprachenunterricht auch an Übersetzer, die in die Lage versetzt werden müssen, juristische Fachtexte von ihrer Muttersprache ins Deutsche oder vom Deutschen in ihre Muttersprache übersetzen zu können und dabei interkulturell bedingte juristische wie sprachliche Interferenzen und Besonderheiten zu erfassen und zu berücksichtigen. (2) Ziel des juristischen Fachsprachenunterrichts ist die Ausbildung einer rezeptiven wie produktiven Sprachkompetenz, die der Bewältigung juristisch relevanter Kommunikationssituationen dient. Dabei lassen sich fünf Hauptfertigkeiten unterscheiden: (1) Leseverstehen verschiedenartiger Textsorten (ζ. B. Gesetzestexte, Gesetzeskommentare), (2) Hörverstehen juristisch relevanter Hörtextsorten (ζ. B. juristische Vorlesung, Plädoyers vor Gericht), (3) Verfassen juristischer Texte (ζ. B. juristische Hausarbeiten und Klausuren, juristische Gutachten, juristische Schriftsätze) und/oder produktiver Umgang mit juristischen Schriftstücken (ζ. B. Formulare), (4) Ausbildung der mündlichen Sprachkompetenz (ζ. B. juristisches Seminargespräch, Plädoyer) und (5) Hin- und Herübersetzung von Gesetzestexten, Schriftsätzen und Schriftstücken (ζ. B. Urteilsbegründungen, Verträge). Die Gewichtung dieser verschiedenen Fertigkeiten und Schwerpunktsetzungen innerhalb einzelner Fertigkeitsbereiche erfolgt adressaten- und berufszielspezifisch. (3) Da jegliche Fachsprachenarbeit als Arbeit mit fachsprachlichen Texten bzw. Textsorten aufgefasst werden muss, müssen diese auch Ausgangs- und Zielpunkt des juristischen Fachsprachenunterrichts sein. Aufgabe der juristischen Fachsprachendidaktik ist es daher, fach- und adressatenspezifisch wichtige Textsorten und Texte zusammenzustellen sowie ihre typischen und besonderen fachlichen wie sprachlichen Eigenschaften herauszuarbeiten. Dies impliziert eine Berücksichti-
585 gung juristischer, allgemein fachsprachlicher wie spezieller textlinguistischer Erkenntnisse. Der juristischen Fachsprachenmethodik obliegt dann die methodische Umsetzung dieser textsortenspezifischen Sprachverwendung in die fünf Fertigkeitsbereiche. Gegenstand des juristischen Fachsprachenunterrichts müssen also authentische juristische Fachtexte bzw. Fachtextsorten sein. Textsorten werden als „didaktische Chance" für die Fachsprachenvermittlung angesehen (Fearns 1996). Dies schließt eine isolierte Behandlung von vermeintlich allgemeinen oder speziellen sprachlichen Besonderheiten von Fachsprachen (ζ. B. Passivkonstruktionen und -ersatzformen, Partizipialattribute, Funktionsverbgefüge; vgl. beispielsweise Gutterer/Latour 1986) oder textsorteninadäquate Aufgabenstellungen zu fachlichen Textsorten (ζ. B. Zusammenfassung eines Gesetzeskommentars vgl. beispielsweise Jung 1994, 74 f.) ebenso aus wie die Behandlung „adaptierter Texte" (vgl. Jung 1994, 19) oder populärer (vgl. Griesbach/Schulz 1973, 142f.) bzw. populärwissenschaftlicher (vgl. dazu kritisch Buhlmann/ Fearns 1987, 51 ff.; vgl. auch Fluck 1992, 115f.). (4) Da das Verstehen juristischer Texte und Textsorten nicht mit ihrer Übertragung in die Allgemeinsprache gleichzusetzen ist, darf die Methodik des juristischen Fachsprachenunterrichts nicht ausschließlich auf reine Transformationsübungen bezogen sein: AktivPassiv-Transformationen, Umformulierung von Passivkonstruktionen in so genannte Passiv-Ersatzformen, Nominalisierung von Verbalkonstruktionen oder Verbalisierung von Nominalkonstruktionen oder Umformung von Gliedsätzen in Präpositionalphrasen oder umgekehrt. Solche Übungen werden zudem oft isoliert durchgeführt und suggerieren die semantische Identität der Aussagen nach dem Motto: „Eine mündliche Verhandlung ist eine Verhandlung, die mündlich ist" (Jung 1994, 101). Durch solche Übungen wird nicht deutlich, dass die juristischen Kommunikationsformen zum institutionellen Sprachgebrauch zu rechnen sind. Dieser spezielle Sprachgebrauch ist durch die „Eigenständigkeit der rechtlich-institutionellen Wirklichkeitskonstruktion" bestimmt, „die gegenüber den Wirklichkeitsformen der Alltagswelt bedeutende Unterschiede aufweist" (Busse 1992, 319). Eine Wette ist beispielsweise keine „Abmachung zwischen zwei Personen, nach welcher derjenige, der mit seiner Behauptung Recht behält, vom anderen etw. (ζ. B. Geld)
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VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
bekommt" (Duden 1996, 1735), sondern ein Vertrag. Früchte sind Erzeugnisse einer Sache, zu denen nicht nur Äpfel und Birnen, sondern u. a. auch Milch, Kälber, Sand, Kies oder Mineralwasser gehören. Für Hruschka (1972, 66) werden Rechtsphänomene „zur Sprache gebracht". Dabei kann bei brisanteren juristischen Begriffen (z. B. Gewalt) eine positivistische juristische Begriffsauslegung die „Ausdehnung der Staatsgewalt zur Sprachgewalt" herbeiführen (vgl. zu diesem sprachkritischen Ansatz Wimmer 1998; Wimmer/Christensen 1989, 38).
lang noch nicht vor. Lediglich in der Arbeit von Busse (1992) werden Gesetzestexte bzw. juristische Kommentare textlinguistisch analysiert und beschrieben. Nützlich scheint eine Differenzierung juristischer Texte nach Textfunktionen. Bei der Bestimmung der Textfunktionen ist dabei zu berücksichtigen, dass sich diese nicht allein oder vordergründig aus den jeweiligen sprachlichen Formulierungen ableiten lassen, sondern vor allem erst aus ihrer Rolle im institutionellen Handlungszusammenhang. Danach lassen sich folgende Textklassen bzw. Textsorten unterscheiden:
Nach Busse (1992, Kap. 4 und 5) besteht die juristische Textarbeit gerade darin, dass für einen konkreten „Fall" der Alltagswelt die für seine rechtliche Lösung notwendigen juristischen Texte (Gesetzestexte, Kommentare usw.) erschlossen werden (Ist bei einem Gebrauchtwagenkauf der Käufer nach dem rechtlichen Bezugsrahmen Privatperson oder Kaufmann?) Durch diese Zuordnung einzelner Fallbeispiele unter die juristisch relevanten Texte bzw. Textsorten wird eine juristischinstitutionelle Wirklichkeit konstruiert, die rezeptiv unter Einbezug juristisch-institutioneller Prozeduren und Wissensrahmen rekonstruiert werden kann. Die Übertragung juristischer Texte in eine allgemeinverständliche Textfassung wird dem juristisch-institutionell gebundenen Textverstehen damit nicht gerecht. Die Didaktik und Methodik des juristischen Fachsprachenunterrichts darf somit nicht auf die alltagssprachliche Wortoder Satz-Paraphrasierung juristischer Texte beschränkt bleiben, denn im juristischen Interpretieren ist „anders als im philologischen, nicht die Fähigkeit, eine passende Paraphrase des interpretierenden Textes angeben zu können, das Kriterium des richtigen ,Verstehens', sondern das aus der Interpretation des Textes folgende ,richtige', (angemessene, akzeptierte) Handeln, d. h. die aus einem Text abgeleitete rechtliche Entscheidung" (Busse 1992, 269).
(a) Juristische Normtexte. Zu den juristischen Normtexten zählen Textsorten wie Gesetze, Verordnungen, Vorschriften, Bestimmungen, Erlasse, Anordnungen, Verfügungen, Befehle, Verbote usw. Diese institutionsgebundenen Textsorten sind Grundlage und Orientierungspunkt juristischer Entscheidungen (vgl. zur Bedeutungsproblematik der Normtexte aus juristischer und linguistischer Sicht Müller (1989)). Busse (1992, 263) kennzeichnet die Normtexte als „situationslos" insofern, als den in ihnen „typisierten Inhalten keine konkreten Situationen im alltagsweltlichen Sinne entsprechen, da Nonntexte ja auf eine Vielzahl von unterschiedlichen Lebenssituationen zugeschnitten sein müssen." Trotz ihres normierenden, regulierenden oder teils bindenden Charakters lässt sich für diese verschiedenen juristischen Normtexte keine allgemeinverbindliche Textfunktion zuordnen. Juristische Normtexte sind „mehrfachadressiert" (vgl. dazu Kühn 1995): „Gegenüber den Bürgern durch ihre letztlich immer gesellschaftsregulativ gemeinte Zielrichtung und Begründung; gegenüber den an der Rechtsverwirklichung arbeitenden Institutionen (Rechtsprechung, Behörden) als unmittelbar wirksame Verhaltensanweisungen" (Busse 1992, 116f. ; zur Adressatenproblematik aus juristischer Sicht vgl. Krüger 1969; Engberg 1992, 167 f.). Da Gesetze immer wieder auf die (sich wandelnden) gesellschaftlichen Lebensverhältnisse hin ausgelegt und angewendet werden müssen, stehen sie untereinander und mit anderen juristischen Texten (z. B. Kommentaren) in Verbindung (vgl. (b)). (b) Juristische Auslegungstexte. Zu den juristischen Auslegungstexten zählen Kommentare, Gutachten, wissenschaftliche Fachaufsätze. Die Bearbeitung eines Entscheidungsfalls erfordert in der Praxis der Rechtsprechung neben der Berücksichtigung der Normtexte auf der Basis des juristischen Wis-
2.
Juristische Fachtexte: Textsortenprobleme
Aufgrund der rechtslinguistischen Grundlagen und der didaktisch-methodischen Folgerungen muss jeglicher juristischer Fachsprachenunterricht auf juristisch relevante Texte bzw. Textsorten bezogen sein. Textsortenbezogene rechtslinguistische Untersuchungen zu wichtigen juristischen Textsorten liegen bis-
59. Juristische Fachtexte
sensrahmens den Einbezug weiterer Texte, die mit diesen entweder explizit oder durch die juristische Textarbeit in Verbindung stehen bzw. gebracht werden. Ein juristischer Auslegungspunkt enthält „das gesamte relevante juristische Wissen zur Anwendbarkeit und deren Bedingungen des kommentierten Paragraphen. [...] Dadurch entsteht ein komplexes Netz von Wissensbezügen, welches, da diese sämtlich eine Textgrundlage haben, auch als Netz intertextueller Bezüge aufgefaßt werden kann" (Busse 1992, 125). Engisch (1977, 64) beschreibt diese juristische Textarbeit als „Herstellen von Obersätzen": Aus den juristischen Obersätzen wird die Strafbarkeit des Angeschuldigten abgeleitet, wobei nach Engisch (1977, 65) davon auszugehen ist, „daß die juristischen Obersätze aus dem ganzen Gesetz, ja darüber hinaus auch unter Zuhilfenahme anderer Gesetze aufzubauen sind." Auslegungstexte gehören damit zum Referenz· und Kohärenzbereich von Normtexten (vgl. dazu Busse 1992,259ff.; Jeand'Heur 1989). Eine besondere Art von Auslegungstext ist der Lehrbuchtext, der modellartig die juristische Textarbeit illustriert. (c) Juristische Entscheidungstexte. Zu den juristischen Entscheidungstexten zählen vor allem Urteile, Plädoyers, Gutachten, „Fall"Lösungen. Diese Entscheidungstexte entstehen durch die juristische Textarbeit: Zur Entscheidung eines Sachverhalts sind unter Umständen mehrere Normtexte und entsprechende Interpretationstexte heranzuziehen. Aus dieser Arbeit mit Texten ergibt sich der Entscheidungstext. Entscheidungstexte können wiederum als Interpretationstexte genutzt werden. (d) Juristische Sachverhaltstexte. Schilderungen eines Klienten oder Klägers, Zeugenaussagen, Tatsachenberichte, Fallbeschreibungen, Polizeiprotokolle. Juristische Sachverhaltsschilderungen enthalten - wenn sie von Laien stammen - einerseits eine Fülle rechtlich irrelevanter Informationen, andererseits aber auch juristisch relevante Tatbestandsmerkmale, an die bestimmte Rechtsfolgen geknüpft sind. Juristische Sachverhaltstexte, die von Mitgliedern juristischer Institutionen verfasst werden (z.B. von Polizisten, Staatsanwälten, Verteidigern), sind unter institutionell vordefinierten Aspekten formuliert und aufbereitet (vgl. Busse 1992, 304 ff.). Busse (1992, 319) spricht in diesem Zusam-
587 menhang von „interinstitutioneller Wirklichkeitskonstruktion." Selbstverständlich unterscheiden sich die einzelnen Textsorten in den verschiedenen Textklassen (a)—(d) wiederum voneinander: Typisch für Urteile ist die Abfolge Ergebnis Begründung, für Gutachten ist die Reihenfolge Begründung—Gutachten textsortenspezifisch. Juristen unterscheiden daher sinnvollerweise den „Urteilsstil" vom „Gutachterstil" (vgl. Braunschneider 1993, 3Iff.). Eine solche Differenzierung juristischer Textklassen bzw. Textsorten lässt sich gut zur Darstellung der juristischen Rechtsprechungspraxis nutzen: Die juristische Auslegung von Gesetzestexten ist eine Arbeit mit Texten. Ausgehend von einem konkreten „Fall" (juristischer Sachverhaltstext) werden die zu seiner rechtlichen Lösung notwendigen Gesetzestexte (juristische Normtexte) erschlossen. Die juristische Textarbeit besteht nun darin, auf der Grundlage der juristischen Wissensrahmen rechtsrelevante Auslegungstexte (z.B. Kommentare) auszuwählen und für den juristischen Argumentationszusammenhang zu nutzen. Erst aus dieser intertextuellen Arbeit ergibt sich der Entscheidungstext, ζ. B. das Urteil. Die juristische Tätigkeit besteht also „in der Herstellung einer Vielfalt komplexer Textbezüge und Bezugsrahmen auf juristische Wissensrahmen" (Busse 1992, 328). Die didaktisch-methodischen Konsequenzen liegen auf der Hand: Der Fachsprachenunterricht für Jurastudierende darf weder auf isolierte wortsemantische und/oder grammatisch-syntaktische Einzelaspekte noch auf das epistemische Verstehen juristischer Texte beschränkt bleiben. Ziel ist vielmehr die methodisch aufbereitete intertextuelle Arbeit mit den juristisch relevanten Textsorten zum Zwecke der juristischen Entscheidungsfindung. Mit der dominierenden textlinguistischen Orientierung der juristischen Fachsprachenarbeit rücken auch zwangsläufig Probleme der Textanalyse in den Mittelpunkt des didaktisch-methodischen Interesses. Eine differenzierte Analyse juristischer Textsorten steht noch aus, so dass man in der unterrichtlichen Praxis auf die eigenständige Analyse juristisch relevanter Texte bzw. Textsorten angewiesen ist. Nach dem bisherigen Stand der textanalytischen Forschung sollten Texte und Textsorten auf drei Ebenen beschrieben werden (vgl. auch Brinker 1990): (1) Formale Textorganisation. Auf der Ebene der formalen Textorganisation geht es
588
VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
um die Gliederung und Verlaufsstruktur von Texten. Texte sind durch Organisationsmarker gegliedert, um den Leser-Hörer zu orientieren und zu lenken. Dies betrifft z.B. in Gutachten vor allem die zeitliche Abfolge von Textteilen und -abschnitten (Einleitungsmarker: nun, jetzt, zunächst; Beendigungsmarker: abschließend, Sequenzmarker: einerseits ... andererseits usw.). Hinzu kommen können (metasprachliche) Mittel zur Verständnissicherung und Memorierung (Zusammenfassend muss festgestellt werden ...), zur Aufmerksamkeitssteuerung (In diesem Zusammenhang will ich ausdrücklich betonen, dass ...), zur Profilgebung (Auf die Frage ... muss genauer eingegangen werden), zur Perspektivierung (Zeuge X hat ausgesagt, dass ...) usw. (2) Themenentfaltung und -behandlung. Die Entfaltung eines Großthemas in Teilthemen oder ganz allgemein der Wechsel von einem Thema zum anderen ist ebenfalls textsortentypisch. Es lassen sich unterscheiden: Themeneinleitungen (zunächst möchte ich X schildern), Themenabschlüsse (abschließend möchte ich Y erwähnen), Themenüberleitungen (Strittig ist weiterhin ...), Themenpräzisierungen (In diesem Zusammenhang ist besonders hinzuweisen auf ...), Themenrückblenden (Dabei sind wir wiederum bei Punkt X angelangt). (3) Textsortenkonstitutive Sprachhandlungsmuster. Textsortenkonstitutive Handlungsmuster stellen den zentralen Bereich des Sprachhandelns dar. Mit ihnen wird realisiert, was eine bestimmte Textsorte eigentlich erst konstituiert. Sie sind vor allem textsortenkonstitutiv, d. h. sie bewirken die funktionalen Unterschiede und Besonderheiten von Textsorten. DEFINIEREN, BEGRÜNDEN, VERALLGEMEINERN, EINSCHRÄNKEN, DIFFERENZIEREN, VERGLEICHEN sind Beispiele für solche Handlungsmuster. Für bestimmte juristische Textsorten sind bestimmte Handlungsmuster und Musterabfolgen typisch. So enthalten Fachwörterbuchartikel beispielsweise vor allem deklarative Handlungsmuster (z. B. BENENNEN ( Von X wird dann gesprochen, wenn ...), DEFINIEREN (X ist Y), KLASSIFIZIEREN (Der Begriff X wird in zwei verschiedenen Bedeutungen gebraucht)), während in Strafgesetzen eher direktive Handlungsmuster anzutreffen sind (z. B. GEBIETEN, VERBIETEN, ERLAUBEN, ANORDNEN: X ist zu unterlassen', Verboten ist, ...; Y darf Z; X soll Y auf ... hinweisen) und kommissive (z.B. DROHEN: Wer ..., wird bestraft). Da-
bei ist davon auszugehen, dass es eher „einfache" Handlungsmuster (z. B. DEFINIEREN) gibt, in die keine weiteren Handlungsmuster eingebettet sind. Solche einfachen Muster können unterschieden werden von komplexeren (z.B. ARGUMENTIEREN), die in weitere, untergeordnete Handlungsmuster zerlegbar sind. Zwischen dem komplexen Handlungsmuster und dem untergeordneten besteht eine instrumentale indem-Beziehung (z.B. ARGUMENTIEREN, indem BEISPIELE GENANNT werden). Weiterhin muss berücksichtigt werden, dass für bestimmte Texte und Textsorten Handlungsmustersequenzen typisch sind, z. B. für juristische Auslegungstexte: B E D I N G U N G FOLGE oder U R S A C H E - W I R K U N G . Schließlich ist zu bedenken, dass die verschiedenen Handlungsmuster sprachlich verschiedenartig formuliert sein können. Becker (1986, 137) hat für den Bereich naturwissenschaftlich-technischer Fachsprache verschiedenartige Musterformulierungen herausgearbeitet (URS ACHE-WIRKUNG: X verursacht Y Y ist durch X bedingt, Y beruht auf A), Honnef-Becker (1992,64) illustriert Formulierungsvarianten mathematischer Textbausteine (DEFINITIONEN: Jede G, die die Eigenschaft E besitzt, bezeichnet man als D; Sei die Eigenschaft E erfüllt, dann heißt G D; Eine D ist eine G, wobei die Eigenschaft E gilt). Auch bei den juristischen Sprachhandlungsmustern muss von typischen Formulierungen ausgegangen werden. So finden sich in DEFINITIONEN juristischer Fachwörterbücher beispielsweise folgende Formulierungsvarianten: (a) Gleichsetzungen der scholastischen Form deßnitio fit per genus proximum et differentiam specificam (mit rechtserweitertem Definiens: Arbeitsrecht ist das Sonderrecht der Arbeitnehmer, mit linkserweitertem Definiens: die pflichtwidrige Vernachlässigung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt; mit links-/rechtserweitertem Definiens: Schlusserbe ist der durch gemeinschaftliches Testament eingesetzte Erbe des zuletzt verstorbenen Ehegatten)·, (b) Gleichsetzungen mit spezifizierenden Einschränkungen (Schlüssiges Handeln oder konkludentes H. ist ein Verhalten, das eine Zielsetzung nicht unmittelbar durch eine ausdrückliche Erklärung, sondern nur mittelbar aus anderen Gründen erkennen lässt), (c) eingeschränkte Gleichsetzungen ( Urlaub des Beamten, Urlaub im beamtenrechtlichen Sinn ist das vom Dienstvorgesetzten genehmigte oder kraft Gesetzes angeordnete Fernbleiben vom Dienst), (d) Einordnungen (Arbeitsschutz.
59. Juristische Fachtexte
Das Recht des Arbeitsschutzes umfasst alle Normen, die dem Arbeitgeber, ausnahmsweise auch dem Arbeitnehmer, öffentlich-rechtliche Pflichten zum Schutz der Arbeitnehmer auferlegt), Einordnungen mit Einschränkungen/ Bedingungen/Voraussetzungen (Schlüssigkeit für eine Klage oder einen Antrag liegt dann vor, wenn die vom Kläger oder Antragsteller vorgetragenen Tatsachen den Antrag rechtfertigen, sofern man sie als unstreitig ansieht), (e) Angabe von Regelungen (unter Angabe von situativen Bedingungen/Einschränkungen/Voraussetzungen (Schlechtwettergeld wird in Betrieben des Baugewerbes gewährt, wenn in der Schlechtwetterzeit aus Witterungsgründen an einem Arbeitstag mindestens 1 Arbeitsstunde ausfällt und das Arbeitsverhältnis nicht gekündigt werden kann; Arbeitsstättenverordnung. Die A. vom 20. 3. 1975 (BGBl. 1729) m. Änd. regelt einheitlich die Anforderungen an Arbeitsstätten im Interesse des Arbeits- und Betriebsschutzes), (f) Angabe von beispiel- oder fallbezogenen Entscheidungen (Schlägerei. Schon die bloße Beteiligung an einer S. kann strafbar sein, auch wenn dem Beteiligten nicht nachzuweisen ist, dass er einen anderen körperlich verletzt hat). Selbstverständlich sind diese Formulierungsvarianten abhängig vom juristischen Status des jeweiligen Definiendum. Begriffe, die sich auf Gesetze oder Verordnungen (ζ. Β. X regelt Y, X ist von Y erlassen, X wurde zum Schutz/wegen Y erlassen) beziehen, werden anders definiert als solche, die justiziable Handlungen (z.B. Raub, Verführung, Sachbeschädigung; Xbegeht, wer ..., X liegt dann vor, ... X setzt Y voraus) oder juristische Verfahrensabläufe (ζ. B. Prüfung, Schlichtung, Einspruch; X ist eine Handlung/ ein Verfahren, welchesldas ...) betreffen. Die Didaktik und Methodik des juristischen Fremdsprachenunterrichts muss nun bei der unterrichtlichen Behandlung von juristischen Texten und Textsorten darauf abzielen, solche typischen und textsortenspezifischen Handlungsmuster herauszuarbeiten. Erst auf dieser Basis ist eine intertextuelle Arbeit möglich und sinnvoll. 3.
Juristische Fachtexte in Lehrwerken für Deutsch als Fremdsprache: Gängige Praxis und didaktischmethodische Folgerungen
In der Unterrichtspraxis werden die rechtslinguistischen Grundlagen bislang kaum reflektiert. Das Angebot an speziellen juristischen
589 Lehrprogrammen für den universitären Unterricht ist recht schmal (vgl. Abrahámová 1997; Jung 1994; Kühn 1992). Wissenschaftsorientierte Lehrwerke für Deutsch als Fremdsprache enthalten gelegentlich einige Texte und Übungsaufgaben für Juristen. Vereinzelt finden sich in der didaktisch-methodischen Diskussion Ansätze einer textsortenbezogenen Spracharbeit (vgl. Stock 1985). Beurteilt man auf der skizzierten rechtslinguistischen Basis (vgl. Kap. 1. und 2.) die bisherigen didaktisch-methodischen Ansätze, so lässt sich Folgendes feststellen: (1) In wissenschaftsorientierten Lehrwerken oder juristischen Lehrprogrammen für Deutsch als Fremdsprache werden gelegentlich juristische Fachtexte herangezogen und behandelt. Die unterrichtliche Behandlung zielt dabei ab auf die Vermittlung grammatisch oder semantisch-syntaktisch korrekter Formulierungen der juristische Fachsprache: So müssen beispielsweise in Gesetzesparagraphen fehlende Präpositionen oder in Wortbildungskonstruktionen alternative Morpheme ergänzt werden („Aus dem BGB, § 8541 der Besitz einer Sache wird ... die Erlangung der tatsächlichen Gewalt ... die Sache erworben" (Schade 1982, 108); „Ergänzen Sie -bar oder -lieh. Achten Sie auf Adjektivendungen, a ) Besitz ist nur die tatsäch ... Sachherrschaft" (Jung 1994, 148)), oder aber die Aufgabe besteht darin, auf der Basis eines Lehrbuchtextes in einen Lückentext die entsprechenden semantisch-syntaktischen Kollokationen einzusetzen („Nach Abschluß des Vorverfahrens entscheidet der Staatsanwalt, ob Anklage ... werden muß" (Raab/Seibel 1978, 148)). Solche Übungen sind nur vordergründig textorientiert, denn die Texte dienen nur der Einübung formaler Fertigkeiten. Es handelt sich lediglich um Einsetzungs- und Kontrollübungen, die nicht auf das Textverstehen hin ausgerichtet sind. Solche Übungen sind aus rechtslinguistischer und verstehenstheoretischer Perspektive unbrauchbar. (2) In Lehrwerken D a F finden sich auch juristische Texte, die nicht ergänzt, sondern durch Transformationsübungen bearbeitet werden sollen (vgl. z.B. Wege, Lehrbuch 1992, 137; Raab/Seibel 1978,145). Die unterrichtliche Behandlung dieser Fachtexte ist dabei häufig ebenfalls auf die Vermittlung formaler, besonders grammatischer Kenntnisse eingeschränkt: Beliebt sind beispielsweise Transformationsübungen im Bereich der Modalität wie z.B. die Umformulierung von
590
VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
Konstruktionen mit haben + Infinitiv (zu) und sein + Infinitiv (zu) in müssen-Konstruktionen oder umgekehrt. Beispiel (Wege, Arbeitsbuch 1992, 164): „Der Arbeitgeber muß die Unterrichtsstunden auf die Arbeitszeit anrechnen. Der Arbeitgeber hat Die Unterrichtsstunden sind ". Hierbei handelt es sich um isolierte Transformationsübungen, die den Lernenden die semantische Gleichsetzung der verschiedenen grammatischen Formulierungen suggeriert (vgl. dagegen die „Semantik der Rechtssatzmodi" bei Lampe 1970, 35ff.). Gelegentlich werden - aus rechtslinguistischer Perspektive völlig falsche - funktionalstilistische Angaben gegeben („Die Konstruktionen mit müssen sind jedoch etwas umgangssprachlicher" (Wege, Arbeitsbuch 1992, 164)). Zudem wird nicht deutlich, welche Formulierungen für welche juristischen Textsorten typisch sind. Solche Übungsformen entsprechen auch in keiner Weise dem institutionellen Sprachgebrauch der Juristen. Busse (1992, 102ff. u. 112fr.) hat herausgearbeitet, dass in Gesetzestexten bei mwjseH-Konstruktionen - adressiert an die rechtsunterworfenen Bürger — direktive Sprachhandlungen (BEFEHL, ANORDNUNG, AUFFORDERUNG) im Vordergrund stehen (z.B. Fußgänger müssen die Gehwege benutzen), während die Jsi-zw-Formulierungen benutzt werden, „um Richtern oder anderen Rechtsanwendern (Verordnungsgeber, Verwaltungsbehörden) Anweisungen zur Anwendung gesetzlicher Bestimmungen zu geben" (Busse 1992, 112f.; z. B. Der Jagdschein ist zu versagen, wenn ...). Ähnliches gilt auch für AktivPassiv-Transformationen („Die Gerichte sprechen in etwa 85% der Fälle eine Geldstrafe aus. In etwa 85% der Fälle wird eine Geldstrafe ausgesprochen". (Raab/Seidel 1978, 139)), da der Aktiv-Satz in erster Linie richteradressiert zu interpretieren ist (vgl. auch Busse 1992, 115). Grammatisch-syntaktische Transformationsübungen (Umformulierung von Gliedsätzen in Präpositionalphrasen, Nominalisierung verbalisierter Ausdrücke, Transformation von Adjektivattributen in Relativsätze, Umwandlung eines Relativsatzes in ein Partizipialattribut, Übertragung der direkten Rede in die indirekte Rede usw. vgl. z. B. die Grammatikübungen bei Jung 1994) zählen bei der unterrichtlichen Behandlung juristischer Texte zu den Standardaufgaben; es handelt sich dabei um diejenigen grammatischen
Themen, die ganz allgemein für wissenschaftssprachliche Texte angenommen werden (vgl. Gutterer/Latour 1986). Damit wird nicht deutlich, welche grammatisch-syntaktischen Fragestellungen für bestimmte Texte und Textsorten typisch sind. Eine solche Grammatikarbeit ist zudem keine Arbeit mit juristischen Texten - häufig handelt es sich sogar um isolierte Sätze, die lediglich thematisch auf einen Ausgangstext bezogen sind. Solche grammatischen Übungen sind jedoch vor allem Selbstzweck, da sie nicht auf das Textverstehen funktionalisiert sind. Transformationsübungen sind nur dann sinnvoll, wenn durch die Umformulierung elliptische, komprimierte oder implikative Textinhalte unter Heranziehung des juristischen Wissensrahmens und/oder juristischer Auslegungstexte explizit gemacht werden können (vgl. dazu allgemein von Polenz 1985, 23ff.; für die juristische Textarbeit vgl. Kühn 1992, 94). So ist es beispielsweise wenig sinnvoll, konjunktionale Nebensätze durch Präpositionalphrasen zu ersetzen (vgl. z. B. Jung 1994, 85), da Präpositionen häufig polysem und semantisch oft viel ungenauer sind als Konjunktionen oder Konjunktionaladverbien. Reine Transformationsübungen („Eine Hauptverhandlung kann nicht stattfinden, ohne daß ein Eröffnungsbeschluß vorliegt" -+ Ohne Eröffnungsbeschluß kann keine Hauptverhandlung stattfinden-, vgl. Jung 1994, 94) sind nur formal und tragen nichts zum Textverständnis bei; sinnvoller wäre hier eine Auflösung der syntaktischen Nominalisierungen (Hauptverhandlung, Eröffnungsbeschluss) (vgl. dazu von Polenz 1985, 33). Von Polenz (1985, 29ff.) gibt in einem historischen Textvergleich zwischen den Zehn Geboten und den Grundrechten eine Vielzahl von Hinweisen und Beispielen für die Explizitheit und Komprimiertheit juristischer Texte. (3) In Lehrwerken wird die Aufgabe gestellt, juristische Begriffe, Sätze oder Texte semantisch zu paraphrasieren. Beispiel (Schumann 1996, 229): „§ 14 Ausländergesetz Formen Sie die Sätze schriftlich um. Benutzen Sie dabei nebenstehendes Vokabular: Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt nicht für einen Ausländer, der aus
59. Juristische Fachtexte
schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines besonders schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt wurde." Dieses didaktisch-methodische Vorgehen entspricht der naiven Vorstellung, die Bedeutungen juristischer Texte ließen sich dadurch erklären, dass man sie in die Alltagssprache „übersetzt". Durch solche Übungen wird gerade der besondere juristisch-institutionelle Sprachgebrauch verwischt: Religion ist nicht gleich Glaube, denn zur Religionsfreiheit gehört „die Freiheit des Glaubens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses" (Kaller 1996,279). Mit dem Rechtsbegriff Gefahr für die Allgemeinheit statt gefährlich sein werden im Gesetzestext die Bedingungen für das Vorliegen einer Gefahr der Allgemeinheit betont und nicht die Zuerkennung einer Eigenschaft: Die Gefahr der Allgemeinheit „liegt dann vor, wenn bei dem konkreten Vorfall nicht nur eine Behinderung erfolgte, sondern der Eintritt des Schadens wahrscheinlich war" (Kaller 1996, 138). Schwerverbrecher ist kein RechtsbegrifF: Derjenige, der wegen eines besonders schweren Verbrechens verurteilt wird, hat eine rechtswidrige Tat nach §12(1) begangen, für die im Gegensatz zum Vergehen — ein bestimmtes Strafmaß gilt. Bei einem „besonders schweren Verbrechen" sind zudem „die äußeren und inneren Tatumstände unter Heranziehung sämtlicher hierfür belangreicher Umstände gegeneinander abzuwägen" (Schönke/Schröder 1997, 606). Dies kann „schon" vorliegen „bei erheblicher Ausnutzung einer besonderen beruflichen Stellung zur Tat" oder auf Grund einer „außergewöhnlichen Hartnäckigkeit und Stärke des verbrecherischen Willens" (Schönke/Schröder 1997,606). Besonders schwere Verbrechen werden schweren und minder schweren Verbrechen gegenübergestellt: Bei Ausländern „können tatauslösende gesellschaftlich-kulturelle Auffassungen der Heimat trotz ihres Widerspruchs zu inländischen Wertvorstellungen die Schuld mindern und zur Annahme eines minder schweren Falles führen" (Schönke/Schröder 1997, 607 f.). Die Art der Aufgaben verdeutlichen nochmals die Notwendigkeit, zum Verstehen juristischer Normtexte entsprechende Auslegungstexte (ζ. B. Fachwörterbuchartikel, Kommentare, Fachaufsätze) heranzuziehen. (4) Neben Einsatz-, Transformations- und Paraphrasierungsübungen werden in juristi-
591 schen Lehrprogrammen gezielte Fragen zum Leseverstehen gestellt. Bei den Fragen zum Leseverstehen lassen sich zwei Typen unterscheiden: (a) Fachbezogene Fragestellungen (ζ. B. Welcher strafrechtliche Zusammenhang besteht zwischen Ursache und Erfolg?) setzen in erster Linie Fachwissen, fachliche Denkstrukturen und Arbeitsstrategien voraus. Juristische Fachlehrbücher (z.B. Braunschneider 1993), aber auch die wenigen juristischen Lehrwerke des Deutschen als Fremdsprache enthalten ausschließlich (z.B. Abrahámová 1997) oder überwiegend (z.B. Jung 1994) fachbezogene Aufgaben zum Textverständnis. (b) Fachsprachenbezogene Aufgaben (z. B. Der Gesetzestext enthält eine Reihe von Bedingungen, die gegeben sein müssen, wenn ein Bauherr Einfamilienhäuser absetzen möchte. Markieren Sie diese Bedingungen mit einem Textmarker; vgl. z. B. Kühn 1992, 84ff.) sind stärker textbezogen und zielen darauf ab, rechtsrelevante Aussagen unter Zuhilfenahme der juristischen Fachkompetenz textanalytisch, d. h. textpragmatisch zu erschließen. Diese textpragmatische Analyse bezieht sich dabei auf (1) die formale Textorganisation (z.B. Texte gliedern und strukturieren, Vor- und Rückverweise erkennen), (2) die Themenbehandlung und -entfaltung (z. B. Überschriften Textabschnitten zuordnen; Textabschnitte zusammenfassen, Textinhalte schematisieren und strukturieren sowie (3) auf die textsortentypischen Handlungsmuster (z. B. Bedingungen und Voraussetzungen herausarbeiten, Begründungen erkennen, Einschränkungen oder Verallgemeinerungen bestimmen, Bedingungen und Folgen aufeinander beziehen) (vgl. zu diesem textpragmatischen Ansatz Kühn 1992). Der Nachteil rein fachbezogener Fragestellungen ist die Nichtberücksichtigung sprachlicher Fähigkeiten der Lernenden, der Vorteil der fachsprachlich orientierten Fragestellungen liegt in der Kongruenz von Fach- und Sprachhandeln; gelegentlich weisen die juristischen Fachlehrbücher (vgl. z. B. Braunschneider 1993, 8 oder 33ff.) eine größere fachsprachendidaktische Orientierung auf als die juristischen Lehrwerke Deutsch als Fremdsprache (vgl. z. B. Abrahámová 1997). (5) Flucks (1992, 120) Feststellung, dass der schriftlich fixierte Fachtext „im Vordergrund des didaktischen Interesses" steht, trifft besonders auf die Lehrwerke für Jurastudie-
592
VII. Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen
rende zu. Eine Zusammenstellung juristischer Hörtexte sowie entsprechende Übungen fehlen völlig und sind ein dringendes didaktisches Bedürfnis: Das Lehrbuch „Deutsche Juristen im Gespräch" (Shaw 1994) enthält keine juristischen Hörtextsorten, sondern Interviews mit Juristen. Das Lese- und Arbeitsbuch „Rechtswissenschaft" (Jung 1994, 190) enthält Schriftsprachentexte (z.B. Zeitungsmeldungen, -berichte, Lehrbuchtexte), die als „Hörtexte" (z. B. als Vorträge oder Vorlesungen) präsentiert werden; auch die Aufgabenstellungen sind nicht auf spezifische Hörtextsorten bezogen (Stereotyp-Frage: Fassen Sie die wesentlichen
Punkte
des Inhalts
zusam-
men; vgl. Jung 1994, 34, 50 oder 94; vgl. zur Hörtextsorte Vortrag/Vorlesung Kühn 1996). In anderen Lehrwerken finden sich eher amüsant anmutende Vorstellungen über juristische Hörtext(sorten) und deren didaktischmethodische Verarbeitung: „Spielen Sie eine Gerichtsverhandlung. Sie brauchen einen Angeklagten (z. B. einen mutmaßlichen Einbrecher, Mörder, Erpresser, Flugzeugentführer) ..." (Stalb 1988, 132). Die Fixierung auf die Analyse von Schriftsprachentexten und deren Bearbeitung führt in juristischen Lehrprogrammen für Deutsch als Fremdsprache auch zur völligen Vernachlässigung von Übungsaufgaben, die sich auf das Verfahren schriftlicher Texte bzw. Textsorten oder aber auf die Ausbildung der mündlichen Sprachkompetenz beziehen (vgl. allgemein zur Didaktisierung der gesprochenen Wissenschaftssprache Benes 1982). Erste Anregungen und Hilfestellungen für die sprachdidaktische Arbeit können hier beispielsweise juristische Formularbücher (vgl. z. B. Albrecht/Barthelmess/ Bauer 1994; Michel 1987), juristische Lehrund Prüfungsbücher (vgl. z. B. Anders/Gehle 1991) oder Anleitungen zum Verfassen von Hausarbeiten und Klausuren (vgl. Braunschneider 1993) liefern. (6) In bisherigen Lehrwerken und Lehrprogrammen wird aber nicht mit juristischen Texten gearbeitet. Die Arbeit an Texten ist nicht auf das Textverstehen hin funktionalisiert; dies gilt im Besonderen für die Aufgaben zur Grammatik, Wortbildung, Wortverknüpfung oder zur Syntax. Eine Arbeit mit Texten, die erst das institutionenspezifische, juristische Textverstehen garantiert, ist eher selten. Eine solche Arbeit mit juristischen Texten lässt sich modellhaft als Dreischritt skizzieren: Ausgangspunkt sind konkrete Sachverhaltsdarstellungen („Fälle"), in denen ein bestimmtes juristisches Problem aufge-
worfen wird. Zur Lösung dieses Problems müssen anschließend rechtsrelevante Auslegungstexte herangezogen werden, in denen die Voraussetzungen zur Problemlösung diskutiert und aufgezeigt werden. Die Lösung in Form von juristischen Entscheidungstexten ergibt sich dabei aus dem Vergleich der Voraussetzungen mit dem Sachverhalt. Erst durch diesen textanalytischen Dreischritt (Problem — Lösungsvoraussetzungen — Vergleich zwischen Problem und Lösungsvoraussetzungen) stellt sich unter Berücksichtigung juristischer Denk- und Wissensrahmen das juristische Textverständnis ein. Die dabei gestellten Aufgaben und Übungen zum Textverstehen, aber auch die zur Grammatik, Semantik und Syntax, müssen auf die intertextuelle Arbeit funktionalisiert sein. Die juristischen Fachlehrbücher enthalten zwar diesen Dreischritt, es fehlt jedoch eine fachsprachendidaktische und -methodische Orientierung. Entsprechende fachsprachenjuristische Lehrbücher und -materialien sind nach wie vor ein Desiderat. 4.
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VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte 60. Lehren und Lernen 1.
2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
1.
Vorbemerkungen zur Lage der fremdsprachenlehr- und lernbezogenen Forschung Zu den Gegenständen der Fremdsprachenforschung Begriffliches zum Thema , Lehren und Lernen' Ziele des Lehrens und Lernens fremder Sprachen Verschiedene Perspektiven auf den Lehr-/ Lernprozess Interdependenz zwischen Lehrzielen, Lehrinhalten und Lehrverfahren Vorteile unterrichtlichen Lehrens und Lernens Zur Rolle der Interaktion beim Lernen und Lehren fremder Sprachen Zusammenfassung Literatur in Auswahl
Vorbemerkungen zur Lage der fremdsprachenlehr- und -lernbezogenen Forschung
Auf Grund generell veränderter „Rahmenund Finanzbedingungen" ist in der Forschung ein verstärkter Legitimationsdruck entstanden, der auch die Disziplinen betrifft, die sich mit der Erforschung des Lehrens und Lernens fremder Sprachen befassen (i.e. Angewandte Linguistik, Fremdsprachendidaktik, Sprachlehr-/-lernforschung, Zweitsprachenerwerbsforschung). Sie sind daher aufgefordert, darüber nachzudenken, welche Ergebnisse und Erträge ihre bisherige Arbeit erbracht hat. Besonders krass wird die Dringlichkeit, mit der die Fremdsprachenfachdidaktik bzw. die Fremdsprachenlehr- und -lernforschung ,gute' Forschung zu leisten habe, von Bleyhl formuliert: „Angesichts der gegenwärtigen Lage an den Universitäten ist es unabdingbar, dass Überzeugendes in der Disziplin geleistet wird, da andernfalls die Disziplin die Chance ihrer Daseinsberechtigung verwirkt" (Bleyhl 1996, 19).
Die Erforschung von Lehr- und Lernprozessen hat theoretische und praktische Ziele: es geht darum zu ermitteln, welche Faktoren an diesen Prozessen beteiligt sind, wie diese miteinander interagieren und welche praktischen Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Die Empirie ist der Schlüssel für eine gewinnbringende Integration von Theorie und Praxis. Insbesondere wichtig ist hier die Forderung nach einer spezifischen Empirie, nämlich einer fremdsprachenerwerbsspezifischen (vgl. dazu die Ausführungen der Arbeitsgruppe Fremdsprachenerwerb Bielefeld 1996). Eine solche Forschung sollte stets von Problemen und Fragestellungen ausgehen, die der fremdsprachenunterrichtlichen Praxis selbst entstammen. Die von ihr ausgehenden und in sie zurückwirkenden Impulse spielen für die Fremdsprachenforschung eine besondere Rolle, denn dieser „,Praxiseffekt' ist als Maßstab für die Effektivität bzw. Förderungswürdigkeit unserer Forschungen aus gesellschaftlicher Sicht" (Edmondson 1996, 54) zu sehen. Ganz ähnlich beschreibt Gnutzmann die Rolle der Fremdsprachendidaktik, nämlich als „eine der Praxis verpflichtete Wissenschaft" (...) [die] von der Praxis ihre Legitimation bezieht" (Gnutzmann 1996,64). Gleichzeitig machen Vertreter der o. g. Disziplinen aber auch keinen Hehl daraus, dass der Einfluss der fremdsprachendidaktischen und spracherwerblichen Forschung auf die Praxis häufig nur sehr gering ist (vgl. dazu v. a. Edmondson 1996; List 1996; Vollmer 1996). Die Fremdsprachenforschung betreibt Grundlagenforschung für die Didaktik und damit für die Praxis des Fremdsprachenlehrens und -lernens; da es sich bei ihrem Gegenstand um Erwerbs- und Lernprozesse handelt, kann es sich nur um längerfristig angelegte Untersuchungen handeln, aus denen nicht immer unmittelbare Didaktisierungen resultieren können; gerade diese Tatsache stößt bei Vertretern der Praxis häufig auf Un-
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VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte
Verständnis und führt zu Irritationen im Verhältnis zwischen Theoretikern, Empirikern und Praktikern. Generell besteht Konsens darüber, dass es an der Zeit ist, diese Situation konstruktiv zu verändern, z. B. indem man eine stärkere Integration von Theorie, Empirie und Praxis betreibt. In Bezug auf eine zu verändernde Forschungspraxis der Sprachlehrforschung macht Krumm beispielsweise die folgende Anmerkung: „Für die Sprachlehrforschung gewinnen dabei die Sichtweisen der beteiligten Lehrer und Schüler, ihre subjektiven Theorien und Situationsinterpretationen an Gewicht. Die Forschung ist auf ihre Auskünfte und Mitarbeit angewiesen, wenn sie verstehen will, was im Unterricht passiert" (Krumm 1995, 478f.). Nur durch die Einbeziehung der Lehrenden und der Lernenden, ihrer Selbstbeobachtungen und Interpretationen des Unterrichtsgeschehens scheint Erkenntnisfortschritt möglich. Es „müssen die reichhaltigen Erfahrungen und Einsichten, die von Lehrenden und Lernenden aus der unterrichtlichen Praxis gewonnen worden sind, als relevante empirische Daten und empirisch fundierte Hypothesen mitberücksichtigt werden. Es ist weiterhin notwendig, dass Lehrer und Lerner in den Forschungsprozess explizit miteinbezogen werden" (Edmondson/House 1993,313). Allerdings sollte hier zumindest angemerkt werden, dass die Bereitschaft der Beteiligten sich in den Forschungsprozess einzubringen, sich beobachten und befragen zu lassen, nicht so ohne weiteres vorausgesetzt werden kann; sie zu erwirken und damit die Akzeptanz von Forschung in der Praxis zu sichern, macht eine intensive und zugleich sensible Vorbereitung empirischer Forschung erforderlich.
2.
Zu den Gegenständen der Fremdsprachenforschung
Was ist Lernen und was ist Lehren? Wie interagieren diese beiden Prozesse miteinander und wie kann diese Beziehung expliziert werden? Das Ziel der Fremdsprachenforschung ist einerseits die Beschreibung und Erklärung des Fremdsprachenerwerbs - d. h. die Gewinnung von Erkenntnissen über Lernprozesse - und andererseits die Entwicklung von Konzepten zur Optimierung dieses Prozesses - d. h. Verbesserung des Lehrens zum Zwecke der Verbesserung des Lernens. Beide Aspekte sind in Bezug auf den institutionel-
len Fremdsprachenunterricht interdependent und ohne den jeweils anderen nicht denkbar. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass eine getrennte Betrachtung dieser Prozesse künstlich ist und nur mit forschungsökonomischen Argumenten zu rechtfertigen ist, nicht aber mit inhaltlich-theoretischen, insb. nicht mit spracherwerbstheoretischen. Die Segmentierung des komplexen Phänomens ,(Fremde) Sprache lehren und lernen' in seine einzelnen Komponenten ergibt die Forschungsbereiche ,(Fremde) Sprache',,Lernen' und , Lehren' und macht die Interdisziplinarität deutlich, die der Fremdsprachenforschung inhärent ist. Da die muttersprachliche Kompetenz allein nicht ausreicht, um eine Sprache aus unterrichten zu können, bedarf es einer gezielten Ausbildung, die Wissen und Können in Bezug auf die genannten Bereiche umfasst. Die (fremde) Sprache stellt ein zentrales Element des Lehr- und Lernprozesses dar. Sie ist nicht nur das Ziel der fremdsprachenunterrichtlichen Aktivitäten, sondern auch das Medium der Interaktion. Während die Erforschung des Fremdsprachenunterrichts anfangs ausschließlich auf die Steuerung des Lernens durch den Lehrenden und somit auf den ,Input' beschränkt war, rückte mit der Orientierung auf die Lernenden zunehmend der ,Intake' und schließlich der ,Output' in den Fokus. Eine alle genannten Aspekte umfassende und zugleich miteinander integrierende Sichtweise fokussiert die Interaktion zwischen Input, Intake und Output und damit auch die Interaktion zwischen den am Erwerbsprozess Beteiligten. In der Interaktion manifestieren sich die beobachtbaren Merkmale des Lehrens und Lernens. Für House besteht der Zweck von Interaktionsanalysen dann auch darin, „Korrelationen zwischen Lernprozessen im Fremdsprachenunterricht, Lehrstrategien und unterrichtlichen Handlungsmustern zu entdecken" (House 1995, 480). Die fremdsprachenunterrichtliche Interaktion und ihre Untersuchung stellt somit die zentrale Schnittstelle für den hier betrachteten Gegenstand ,Lehren und Lernen' dar. Von besonderer Relevanz erscheint ferner Wissen über die Vorgänge beim Spracherwerb und die Faktoren, die ihn beeinflussen (vgl. dazu auch Knapp/Knapp-Potthoff 1982, 14). Solches Wissen ist erforderlich, damit Lehrende ihr didaktisches Handeln problematisieren und begründen können, denn um erfolgreich lehren zu können, muss man wissen, wie gelernt wird.
60. Lehren und Lernen
Der Lehrprozess ist immer in irgendeiner Weise von den Annahmen und Erkenntnissen über die Beschaffenheit und den Verlauf des Lernprozesses beeinflusst und spiegelt sich in den jeweils als optimal angenommenen Lehrverfahren wider, oder wie Brown es beschreibt: „Your understanding of how the learner learns will determine your philosophy of education, your teaching style, your approach, methods and classroom techniques" (Brown 1987, 7). 3.
Begriffliches zum Thema , Lehren und Lernen'
Auch wenn abgesicherte Begriffsdefinitionen häufig erst am Ende der Erforschung des jeweiligen Konzepts oder Gegenstands formuliert werden können, ist zwecks einer möglichen Operationalisierung zumindest der Versuch einer Bestimmung von Nutzen. Alle Hypothesen und Theorien über das Lehren und das Lernen unterliegen dem Einfluss gesellschaftlicher, wissenschaftlicher und technologischer Entwicklungen. Bleyhls Forderung in Bezug auf die Forschung und ihre konzeptionellen Überlegungen lautet dementsprechend, dass sie sowohl dem „Weltverständnis wie dem Menschenbild der Zeit" (Bleyhl 1996, 25) gerecht werden müssen. Dies impliziert eine Kontextualisierung des Untersuchungsgegenstandes, d. h. dass bei dessen Beschreibung und Erklärung auch Forschungsergebnisse der relevanten Bezugsdisziplinen (wie ζ. B. die Kognitionswissenschaften oder die Neurobiologie) mitberücksichtigt werden müssen. So wurde lange Zeit die Frage „Do learners actually learn what they are taught?" (Ellis 1996, 565) überhaupt nicht ernsthaft gestellt, weil man davon ausging, dass es sich beim Lehren und Lernen um sozusagen spiegelbildlich verlaufende, strikt lineare und damit kausal aufeinander bezogene Vorgänge handelt. Es ist eine bekannte Tatsache, dass L2-Erwerb — ebenso wie der LI-Erwerb — prinzipiell auch ohne Beeinflussung von außen — d. h. ohne explizite Vermittlung - erfolgen kann. Dass Sprachen (er)lernbar sind, wissen wir also. Ob sie aber auch lehrbar sind — und wenn ja, wie - darüber besteht bisher kein Konsens. Die Tatsache allerdings, dass Fremdsprachenunterricht stattfindet und bestimmte Lehr- und Lernziele festgelegt werden, beruht auf der Annahme und dem Anspruch, dass Fremdsprachen gelehrt werden
597 können und dieser Erwerb steuerbar ist. Auf Grund der Beobachtung, dass es nur recht wenigen Lernenden gelingt, auf der Basis von Unterricht in einer fremden Sprache eine flüssige Sprechkompetenz zu erwerben, könnten allerdings Zweifel an der Effektivität lehrerseitiger Steuerungsversuche im Hinblick auf lernerseitigen Fremdsprachenerwerb aufkommen lassen. Worin könnte also der Sinn bzw. der Nutzen fremdsprachenunterrichtlichen Lehrens bestehen? Vollmer gibt in diesem Zusammenhang eine Minimaldefinition von ,Lehren', indem er feststellt, dass es ganz allgemein dazu dient, „die Qualität und Quantität des Kontakts mit der Fremdsprache für den einzelnen Lerner sicherzustellen" (Vollmer 1996, 146). Hier ist also eine Hauptfunktion des Lehrens angesprochen nämlich die Schaffung bzw. Bereitstellung von sprachlichem Input. 3.1. Lernen und Lehren: Definitionsversuche Doyé (1995) unternimmt den Versuch, sich einer Definition des Begriffspaares ,Lehren und Lernen' anzunähern. Während er Lernen - relativ vage und allgemein - als internal ablaufenden, nicht beobachtbaren Prozess der Änderung von Verhaltensdispositionen bezeichnet (Doyé 1996, 161), stellt Lehren für ihn die Gesamtheit der Aktionen dar, die in der Absicht unternommen werden, das Lernen von Menschen zu steuern. Spätestens hier wird deutlich, dass eine Definition von ,Lehren' ohne die Verwendung des Begriffs ,Lernen' nicht auskommt. Somit setzt eine Theorie des Lehrens eine Theorie des Lernens voraus. Eine Reihe von Prozessen, die während des Lernvorgangs vonstatten gehen, sind unbewusst und auch unabhängig vom Willen des Lernenden. Dies hat durchaus positive Konsequenzen für das Lernen, denn gerade die Tatsache, „dass wichtige und komplexe Prozesse nicht-bewußt ablaufen, macht sie zuverlässiger und störungsresistenter" (Bleyhl 1996, 26). Eine mögliche Konsequenz aus dieser Erkenntnis könnte eine Relativierung der Rolle sein, die dem Bewusstsein bei Informationsverarbeitungsprozessen zugeschrieben wird. Daraus resultiert wiederum eine Relativierung der Möglichkeit, solche Prozesse mittels Aktivitäten steuern zu können, die sich gezielt an das Bewusstsein richten. Damit einher geht die Ablehnung der Annahme einer klaren und strikt sequentiell verlaufenden Beziehung zwischen Lehren und Lernen, denn: „Diese laufende Rückbezüglichkeit, Rückkoppelung
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VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte
und Überprüfung innerhalb eines komplexen, vernetzten Systems, dieses schwer zu beschreibende nichtlineare Zusammenspiel von Zufall und Notwendigkeit bewirken, dass das traditionelle Modell des Schritt-für-SchrittVoranschreitens beim Sprachlernprozess unangebracht ist" (Bleyhl 1996, 23). Lernen ist also ein nichtlinearer, dynamischer Prozeß, dem Lehrende in der Vermittlungssituation dadurch gerecht werden können, dass sie ihm keine Progression ,aufzwingen', die er eigentlich nicht hätte. Dazu gehört bsw. auch die Berücksichtigung dessen, was Bleyhl die UrStrategie des Spracherwerbs nennt, nämlich: „Warte ab und hör zu" (Bleyhl 1996, 24). Abgeleitet ist diese Maxime u. a. von Beobachtungen beim Erstsprachenerwerb und der Tatsache, dass die Rezeptionsfahigkeit die Produktionsfahigkeit in der Regel übersteigt. Eine mögliche lernerzentrierte und von einer konstruktivistischen Sichtweise inspirierte Definition von Lernen lautet dann etwa so: Lernen ist nicht das Ergebnis der Instruktion durch den Lehrenden, sondern Lernen ist das Ergebnis der Konstruktion durch den Lernenden. Wichtig für Lehrende ist in diesem Zusammenhang die Anerkennung der Tatsache, dass es sich beim Lernprozess um einen von ihnen zwar beeinflussbaren, nicht aber unmittelbar steuerbaren Vorgang handelt; zumindest aber muss das Ergebnis des Lernprozesses nicht in einem direkten Kausalverhältnis zu einer vorangegangenen Instruktion stehen. So ließe sich auch der individuell verschiedene Lernerfolg verschiedener Lerner bei demselben Lehrenden, demselben Lehrstoff und demselben Unterricht erklären. 4.
Ziele des Lehrens und Lernens fremder Sprachen
4.1. Makro-Ziele Seit einiger Zeit gibt es verstärkt die Forderung nach mehr Lernerautonomie. Die für unsere Informationsgesellschaft charakteristische Fülle an schnell veraltendem Faktenwissen und die damit verbundene Erkenntnis, dass Lernen ein lebenslanger Prozess ist, macht die Fähigkeit zum flexiblen, selbstverantwortlichen Umgang mit einer sich permanent verändernden Umwelt im weitesten Sinne erforderlich. Die Forderung nach einer stärkeren Selbstverantwortung der Lernenden für ihren eigenen Lernprozess ist auch das Ergebnis
der intensiven Beschäftigung mit dem lernenden Individuum (vgl. in diesem Zusammenhang z. B. die Untersuchungen von Lernstilen, -einstellungen und -Strategien z.B. in Art. 78 und 70); ferner resultiert sie aus der Berücksichtigung und Einbeziehung von empirisch gewonnenen Ergebnissen anderer Disziplinen wie z. B. der Kognitions- und Neuropsychologie, in denen von der Selbstorganisation mentaler Prozesse und der individuellen Konstruktion von Wissen ausgegangen wird. Aus der Gedächtnispsychologie wissen wir, dass die Lern-, Behaltens- und Anwendungsleistung bei selbständiger, eigenverantwortlicher Erarbeitung und Aneignung von Wissen höher ist als bei dessen kleinschrittiger und fremdbestimmter Aufbereitung (vgl. dazu z. B. die Ausführungen in Elbers 1995). 4.2. Mikro-Ziele Wichtig für die Bestimmung dessen, was das Lehren von Fremdsprachen umfassen soll, ist das jeweilige Ziel, dass erreicht werden soll. Geht es in erster Linie um Verständigung, oder spielen die grammatische Korrektheit und die Flüssigkeit der Sprachverarbeitung die Hauptrolle? Eine in diesem Zusammenhang wichtige und viel diskutierte Frage lautet: unterscheiden sich die Lernprozesse danach, ob es sich um gesteuerten oder ungesteuerten Erwerb handelt? Die Beantwortung dieser Fragen hängt eng mit dem jeweiligen Lernkontext (z. B. DaF vs. DaZ), der Lernergruppe und ihren Bedürfnissen zusammen. Somit sind die Lernerfolge in unterschiedlichen Lernkontexten möglicherweise mehr von unterschiedlichen Lehr- und Lernzielen und weniger von unterschiedlichen Prozessen abhängig. Es findet häufig eine Gleichsetzung von Kontexten und Prozessen statt, die auf der Annahme beruht, dass in unterrichtlichen Situationen in erster Linie bewusst gelernt wird, während außerunterrichtliche Lernsituationen eher den unbewussten Spracherwerb fördern, was u. a. zu der Einschätzung führt, dass Lernprozesse eher mit einer Fremdsprache, Erwerbsprozesse eher mit einer Zweitsprache assoziiert werden (vgl. dazu Edmondson/House 1993, 12; für eine zusammenfassende Skizzierung der Unterscheidung nach DaF und DaZ, der Begrifflichkeit und der damit verbundenen Probleme, vgl. auch Knapp-Potthoff/Knapp 1982). Hier stellt sich also die Frage, ob unterschiedliche Lernbzw. Erwerbskontexte auch unterschiedliche Lern- bzw. Erwerbsprozesse involvieren, die dementsprechend theoretisch anders zu mo-
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60. Lehren und Lernen
dellieren sind - z.B. in Form einer fremdsprachen-unterrichtsspezifischen Lerntheorie - oder ob unabhängig von der Situation, in der das Lernen stattfindet, dennoch dieselben Prozesse ablaufen (vgl. in diesem Zusammenhang die für die erste Annahme sprechenden Forschungsergebnisse von Paradis 1994). Der Zweitsprachenkontext wird also als der natürliche, ungesteuerte betrachtet und deshalb häufig mit dem LI-Erwerbskontext in Verbindung gebracht. In Bezug auf den LI-Erwerb muss allerdings auch angemerkt werden, dass auch dieser nicht immer so a n gesteuert' verläuft, wie es häufig angenommen wird; d. h. auch hier finden Lehrprozesse statt, ζ. B. in Form von Korrekturen, Aufforderungen zur Selbstkorrektur, Aufforderung zur Wiederholung bzw. Sprachproduktion allgemein. Ferner kommt es auch beim LlErwerb zu — selbst-initiierten — Sprechübungen und pattern drills, indem der kindliche Sprecher durch ständiges Wiederholen das Sprechen übt und somit automatisiert. Darüber hinaus finden beim LI-Erwerb auch sprachliche interaktioneile Anpassungen von Seiten der „Experten" statt (vgl. dazu die Begriffe motherese
oder caretaker
speech)', all
diese Merkmale und Verhaltensweisen sind charakteristisch für Lehrsituationen. Insofern ist die traditionell gemachte Unterscheidung zwischen Lehren und Lernen unzutreffend, derzufolge „Erstsprachenerwerb" als Sprachenlernen und Zweitsprachenerwerb vorwiegend als Sprachen lehren thematisiert" (Kohn 1990, 7) wurde. Die Lernzielbestimmung ist von dem jeweiligen Kontext abhängig, in dem gelehrt und gelernt wird. So ist bspw. der schulische Fremdsprachenunterricht — wie der gesamte schulische bzw. institutionalisierte Unterricht überhaupt - bestimmten Reglements unterworfen, die keinerlei spracherwerbstheoretische Gründe oder Bezüge haben (vgl. ζ. B. Anzahl und Dauer der Unterrichtseinheiten, Prüfungen und Notengebung). Mit der Unterscheidung ,Lernen vs. Erwerben' sind eine Reihe weiterer dichotomisch konstruierter Begriffspaare verbunden wie z.B. ,gesteuert vs. natürlich', .explizit vs. implizit' oder ,bewusst vs. unbewusst', die mindestens ebenso umstritten sind wie das oben genannte Oppositionspaar. Das Aufstellen von Dichotomien verführt leicht dazu, ,entweder-oder-Zuordnungen' vorzunehmen, anstatt den Vorteil auszunutzen, den solche Dichotomien bieten, nämlich auf das zwischen den extremen Polen befindliche Kontinuum abzuheben und von einem ,mehr-oderweniger-Zutreffen' zu sprechen.
5.
Verschiedene Perspektiven auf den Lehr-/Lernprozess
Die am Fremdsprachenerwerbsprozess Beteiligten (also Lehrende und Lernende) haben subjektive Theorien darüber, wie Lehren und Lernen funktionieren' (vgl. v. a. Grotjahn 1991). Solche Theorien beruhen auf Alltagserfahrungen und eigenem unterrichtlichen Handeln. Ihre Erforschung ist v. a. deshalb interessant und relevant, weil sie einen handlungsstruktierenden Einfluss auf den Verlauf des fremdsprachenunterrichtlichen Geschehens und damit auch auf den spracherwerblichen Prozess ausüben. Die subjektiven Theorien manifestieren sich u. a. im sprachlichen Verhalten und zeigen sich in der Lehrendensprache z.B. in Form von Vereinfachungen, die die Lehrenden deshalb vornehmen, weil sie annehmen, dass sie von den Lernenden auf diese Weise leichter verstanden werden bzw. deren Spracherwerbsprozesse erleichtern. Auch das Bemühen, wohlgeformte Sätze zu produzieren, diese deutlich und langsam zu artikulieren, redundant zu sprechen, wenige Pronomen, eine unmarkierte Wortstellung und restringiertes Vokabular zu verwenden (vgl. dazu House 1995, 483), ist als Hilfestellung für ein besseres Verständnis intendiert. Allerdings sind empirische Belege für eine positive Korrelation zwischen dieser Art der Input-Manipulation durch die Lehrenden und dem L2-Erwerb insgesamt noch eher rar: besseres Verständnis allein muss nicht notwendigerweise Spracherwerb zur Folge haben. Einerseits verändern sich im Laufe der Zeit die verschiedenen Variablen/Faktoren, die am fremdsprachenunterrichtlichen Lehr-/Lernprozess beteiligt sind. Es verändern sich aber andererseits auch - ζ. B. durch neue Untersuchungsverfahren und -technologien — die Erkenntnisse über diese Variablen/Faktoren. So haben sich ζ. B. die Lernenden und die ihnen eigenen Merkmale in den vergangenen 15—20 Jahren zu einem zentralen Forschungsgegenstand entwickelt; sie werden inzwischen mehr als Subjekt ihres Lernprozesses (= Lernen als Ergebnis eines Konstruktionsprozesses) denn als Objekt eines Lernprozesses (= Lernen als Ergebnis eines Instruktionsprozesses) gesehen. Eine Möglichkeit, den fremdsprachenerwerbsspezifischen Konstruktionsprozess des Spracherwerbs zu untersuchen und zu Erkenntnissen bezüglich individueller und universeller Mechanismen zu gelangen, ist die Beobachtung, Erfassung und Analyse lerner-
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VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte
sprachlichen Verhaltens. Insb. der Vergleich möglichst vieler verschiedener LZ-Lernersprachen bietet die Möglichkeit „Aufschluß über die Universalität und Relativität lernersprachlicher Systeme und Spracherwerbsprozesse" (Kasper 1995,267) zu erhalten. Die Erforschung der Lernersprache hat gezeigt, dass sie - wie jedes andere natürliche Sprachsystem auch - eine gewisse Regelhaftigkeit und Systematizität aufweist. Im Unterschied zu einzelsprachlichen Sprachsystemen gibt es - nach Sprachstand - unterschiedliche Grade der Stabilität bzw. Variabilität des Lernersprachsystems. Generell gilt es als dynamisch, offen und dementsprechend ,anfallig'. Lerner konstruieren dieses Sprachsystem auf der Basis ihres sprachbezogenen Vorwissens und -könnens (z. B. in Bezug auf die LI und jede andere zuvor oder gleichzeitige erworbene Sprache). Dass Lernen weder der spiegelbildliche Prozess zum Lehren ist noch als gleichbedeutend mit ,Aufnahme und Wiedergabe von Lehrstoff gesehen werden kann, wurde bereits angemerkt, wird aber im vorliegenden Zusammenhang noch einmal daran erkennbar, dass Lerner sprachlichen Output produzieren, der in der geäußerten Form nicht im Input vorgekommen sein kann. Nachdem die Erforschung der Lernersprache lange Zeit in der punktuellen Sammlung und Analyse von ,Fehlern' bestanden hatte, ging man im Laufe der Zeit zu einer ganzheitlichen Betrachtung der Lernersprache über. Dem zu Grunde liegt die Erkenntnis, dass sich die „Regelhaftigkeit der Lernersprache (...) übergreifend auf alle lernersprachlichen Sätze, ungeachtet ihrer Einteilung in richtige und falsche Sätze" (Kohn 1990, 12) erstreckt. Das Fehler,system' ist also ebenso dynamisch und variabel wie die übrige Lernersprache. Um es auf eine knappe Formel zu bringen: je stabiler das jeweilige Lernersprachsystem, desto weniger Lernen findet statt. Die Gründe für eine solche Stabilität können vielfältig sein: so kann der Lernende sein lernersprachliches System als ausreichend für seine sprachlichen Ziele und Zwecke betrachten oder es kann auf Grund eines Mangels an relevantem Input zu keinen weiteren Konstruktionsprozessen und damit zu keiner Weiterentwicklung der Lernersprache kommen. 6.
Interdependenz zwischen Lehrzielen, Lehrinhalten und Lehrverfahren
Auf Grund einer zunehmenden Lernerorientierung ist man in der Zwischenzeit von adressatenunabhängigen, als universal gültig
angenommenen Lehrzielen, -inhalten und -verfahren abgegangen. Die veränderte Sicht auf die Lehrinhalte ist auch bestimmt von der Erkenntnis über die Kulturgeprägtheit bzw. -Spezifik von Diskursen und deren Auswirkung auf Kommunikationsprozesse mit der Konsequenz, dass in jüngster Zeit verstärkt die Forderung nach dem Lehrziel „Interkulturelles Lernen" erhoben wird (vgl. dazu z. B. House 1996). Welche Lehrmethoden und - damit unmittelbar verbunden — welche Lehrverfahren und Sozialformen gewählt werden, hängt ebenfalls davon ab, welche Annahmen über den Prozess des Lernens bestehen und welche Lehr- und Lernziele festgelegt worden sind. Der Unterrichtsform des allein vom Lehrenden geplanten und gesteuerten , Frontalunterrichts' z.B. liegt die Annahme zugrunde, dass imitativ-reaktives Lernerverhalten dem Spracherwerb am förderlichsten ist. Das primäre Lehrziel ist in diesem Fall offenbar der Aufbau eines bestimmten Wissensrepertoires, da auf die Vermittlung von Faktenwissen und die Betonung sprachlicher Korrektheit gesetzt wird und dem spontanen Sprechen (also dem Sprachkönnen) nur ein relativ geringer Stellenwert eingeräumt wird. Im Unterschied dazu zeichnet sich eine an dem Lernziel kommunikative Kompetenz' orientierte Didaktik durch folgende Charakteristika aus: - Insgesamt geht es eher um funktionale und nicht so sehr um strukturelle Kategorien. - Die zu erreichende sprachliche Kompetenz zeichnet sich eher durch ihre Authentizität und ihre kommunikative Angemessenheit als durch ihre Systematizität und grammatische Korrektheit aus. - Es geht primär um die Fähigkeit, eigene Redeabsichten zu verwirklichen. Dabei spielt die Toleranz gegenüber Fehlern eine größere Rolle als das Beharren auf grammatische Korrektheit. - Die Aktualität und Lebensnähe der jeweiligen Unterrichtsthemen wird als zentral für die Realisierung eigener Redeabsichten betrachtet. Es ist zu erwarten, dass die genannten Merkmale insgesamt eine höhere Motivation und damit verbunden eine größere Lernlust und -bereitschaft und auch eine positive Einstellung dem Lernen im Allgemeinen und der L2 im Besonderen gegenüber bewirken und damit insgesamt auch einen größeren Lernerfolg zur Folge haben.
60. Lehren und Lernen
7.
Vorteile unterrichtlichen Lehrens und Lernens
Hinsichtlich des Umgangs mit dem Phänomen der Faktorenkomplexion schlagen Edmondson/House eine differenzierte Gewichtung der Faktoren in Bezug auf ihre Beschaffenheit und ihre Auswirkungen vor, halten es jedoch für schwierig, „eine Art ,Bedeutungshierarchie' für die verschiedenen mitwirkenden Faktoren zu erarbeiten" (Edmondson/ House 1993, 26). Allerdings lassen sich dennoch zumindest einige Mindestvoraussetzungen - d. h. Basisfaktoren — für einen erfolgreichen Lehr-/Lernprozess bestimmen. Dazu gehören zunächst einmal die Motivation, überhaupt lernen zu wollen, der (lehrer)sprachliche Input und der lernersprachliche Output. Beim unterrichtlichen Fremdsprachenlernen sind diese Mindestbedingungen häufig nicht gegeben. So kann im Hinblick auf die Motivation nicht unbedingt davon ausgegangen werden, dass sie von vornherein und uneingeschränkt vorhanden ist. Auch der sprachliche Input ist nicht per se gegeben, sondern muss bereitgestellt werden, ebenso wie Anlässe zur Produktion von lernersprachlichem Output geschaffen werden müssen. Darüber hinaus weist der Fremdsprachenunterricht im allgemeinen eine Reihe von Ausgangsbedingungen auf, die zunächst einmal als ungünstig erscheinen. Da ist zum Einen die relativ kurze Unterrichts- bzw. Lehr-/ Lernzeit und zum Anderen das personelle Zahlenverhältnis, das sich umgekehrt proportional zu dem verhält, das man in natürlichen' Spracherwerbssituationen (i.e. im Zielsprachenland) vorfindet. Knapp/Knapp-Potthoff (1982) verkehren diese scheinbar ungünstingen Bedingungen in ihr Gegenteil und tragen eine Liste von positiven Funktionen und auch Vorteilen zusammen, die unterrichtliche Lehr-/Lernsituationen im Unterschied zu außerunterrichtlichen haben bzw. haben können. Da ist zunächst einmal die ,Strukturierung und Steuerung der Input-Präsentation', also die Auswahl und Aufbereitung von L2sprachlichem Material durch den Lehrenden. Dabei geht es darum, den zweitsprachlichen Input so zu organisieren, dass dem Lerner möglichst gute Hilfen für das Erkennen von Regelmäßigkeiten der L2 gegeben werden, die einen möglichst umwegfreien Ablauf seiner lernersprachlichen Hypothesenbildungen in Richtung auf die Zielsprache erlauben" (Rnapp/Rnapp-Potthoff 1982, 172) und ihm
601 dabei gleichzeitig ein Gefühl der Sicherheit hinsichtlich der Abrufbarkeit und Verwendung L2-sprachlicher Ausdrucksmittel zu vermitteln. Als nächstes nennen die beiden Autoren das ,kommunikative Feedback'. Dazu zählen sowohl Korrektur- als auch Bewertungsmaßnahmen von Seiten der Lehrenden, deren Funktion als nützliche Information für die Selbsteinschätzung des jeweiligen L2-Niveaus gesehen werden kann (vgl. Knapp/KnappPotthoff 1982, 154 f.). Was die Korrektur fehlerhafter Lerneräußerungen betrifft, so ist folgendes dazu zu sagen: Lernen ist die allmähliche Entwicklung einer Fähigkeit. Bis zu welchem Grad diese Fähigkeit entwickelt wird, spielt für den Lernprozess an sich keine Rolle. Wichtig ist lediglich, dass es sich um einen dynamischen Prozess handelt, also einen, der nicht notwendigerweise linear fortschreitet, sondern durch Restrukturierungen oder Sprünge, aber auch Stillstände und sogar Rückschritte gekennzeichnet ist. So gesehen stellen fehlerhafte sprachliche Äußerungen Indikatoren für Hypothesentest- und Konstruktionsprozesse dar. Lehrende haben verschiedene Möglichkeiten, auf solche lernersprachlichen Testprozesse zu reagieren. Das Feedback kann ebenso wie auch in LI-sprachlicher Lernerproduktion - aus Null-Reaktion, Reparatur oder Korrektur bestehen. Unterschiedliche Lehrmethoden, die - wie wir oben gesehen haben - kontextabhängig sind und mit unterschiedlichen Lernzielvorgaben verknüpft sind, implizieren dementsprechend unterschiedliche Umgangsweisen mit Fehlern, weil sie diesen Abweichungen von der Zielsprache unterschiedliche Stellenwerte zuweisen. Eine weitere Möglichkeit, die Lehrende haben, um die Lernenden bei ihrem Lernprozess zu unterstützen, besteht darin, ihnen Verfahren zur leichteren Aufnahme und Verarbeitung sprachlicher Inputs anzubieten und zwar in Form von Visualisierungen, expliziten Regelformulierungen und auch der gezielten Verwendung der Muttersprache. Alle diese Verfahren dienen der Vereindeutigung und können den Hypothesenbildungsprozess der Lernenden positiv beeinflussen bzw. beschleunigen. Ein weiterer Vorteil gegenüber außerunterrichtlichen Lernsituationen besteht in der Möglichkeit, den Lernenden effektive Lernund Kommunikationsstrategien anzubieten: „Fremdsprachenlehren als Unterstützung des Fremdsprachenlernvorgangs kann auch be-
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VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte
deuten, unabhängig von bestimmten sprachlichen Inhalten die Lern- und Kommunikationsweisen von Lernern günstig zu beeinflussen und die Lernfähigkeiten des Lerners zu aktivieren. Diese Art der Steuerung hat den Vorteil, dass sie auch außerhalb des Unterrichts selbst wirksam bleibt und den Lerner beim Spracherwerb unterstützen kann, der neben oder nach dem Unterricht stattfindet" (Knapp/Knapp-Potthoff 1982, 155). Persönlichkeitspsychologisch betrachtet kann die unterrichtliche Vermittlung bestimmter Strategien helfen, Stress und Angst beim Lernen abzubauen und damit der Vorbereitung auf selbständiges, außerinstitutionelles Lernen zu dienen. Wenn ein Ziel des Fremdsprachenunterrichts der Erwerb kommunikativer und interaktioneller Kompetenz sein soll, die sich nicht nur in rein formal-sprachlichen Fertigkeiten, sondern auch in pragmatisch angemessener Handlungsfähigkeit manifestiert, dann spielt auch die Vermittlung von Strategien zum Zweck der Förderung des autonomen Lernens eine entscheidende Rolle. Lehren, so wie es hier beschrieben und illustriert wird, ist also weniger ein Instruktionsverhalten als vielmehr eine beratende Unterstützung von Lernenden bei ihrem Wissenskonstruktions- und Automatisierungsprozess in Richtung auf ein Sprachkönnen. Auch wenn es nicht möglich ist, eine Sprache zu lehren, so gibt es dennoch zahlreiche Verfahren, das Lernen dieser Sprache zu ermöglichen. Was gelehrt werden kann, ist die Grammatik einer Sprache - also das sog. deklarative Wissen. Hierbei handelt es sich allerdings lediglich um metasprachliches Wissen, und dieses Wissen führt nicht automatisch zur Sprachbeherrschung. Für L2-Lerner kann ein solches Wissen solange nützlich sein, wie sie die L2 noch nicht beherrschen. Kompetente Sprecher - seien es LI- oder L2-Sprecher benötigen dieses Wissen über Sprache in der Regel jedoch nicht, um angemessen rezipieren oder produzieren zu können. 8.
Zur Rolle der Interaktion beim Lernen und Lehren fremder Sprachen
Die Rolle der sozialen Umwelt und der Interaktion ist im Hinblick auf den LI-Erwerb längst als zentral für sein Zustandekommen anerkannt. Inzwischen wird der Interaktion auch in Bezug auf den L2-Erwerb ein wichtiger Stellenwert eingeräumt (vgl. dazu z.B.
Henrici 1995). Die Hauptfunktion der Verwendung von Sprache allgemein und damit auch die einer L2 liegt in der Kommunikation, zu der der Fremdsprachenunterricht aber allererst befähigen muss. Sowohl der Input als auch das Feedback auf lernersprachlichen Output kann Sprachlernprozesse auslösen oder gar beschleunigen. Verschiedene Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass der unmittelbaren Notwendigkeit zu kommunizieren, eine wichtige Rolle für den Erwerbsprozess zukommt (vgl. dazu das Konzept des ,pushed output' von Swain/Lapkin 1995). Ein Vorteil, den die Notwendigkeit zu sprachlicher Produktion mit sich bringt, ist die fokussierte Aufmerksamkeit auf Seiten des Lernenden, die letztlich positive Auswirkungen auf den Erwerb hat (vgl. dazu z. B. Elbers 1995). Auch dem interaktiv ausgehandelten Input wird eine tendenziell günstige Wirkung auf den Erwerb zugesprochen, weil Lernende auf diese Weise die Möglichkeit haben, die von ihnen gebildeten Hypothesen zu testen und ein Feedback darauf zu erhalten. Unterrichtskommunikation per se zeichnet sich durch eine Asymmetrie hinsichtlich der Rollenverteilung der beteiligten Personen aus. Fremdsprachenunterrichtliche Kommunikation hat darüber hinaus eine spezifische Qualität, da nicht nur die inhaltliche, sondern auch die formale - also das Medium betreffende - Expertise und Kontrolle beim Lehrenden liegt. Die Rolle von Lehrenden muss sich jedoch nicht der von Input- und Feedback-Lieferanten erschöpfen. Sie können Sprechanlässe schaffen und für Sprechmöglichkeiten sorgen, die die Lernenden in die Lage versetzen, selbst initiativ zu werden und dabei auf Sprechverhaltensweisen zu verzichten, die zwar typisch für die unterrichtliche Kommunikation sind, in natürlichen Situationen jedoch häufig nur eine untergeordnete Rolle spielen, wie z. B. das Sprechen in vollständigen Sätzen. 9.
Zusammenfassung
Spätestens die Erkenntnis, dass das, was gelehrt wird, nicht notwendigerweise auch gelernt werden muss — dass also Input nicht automatisch zu Intake führt - und die Beobachtung, dass es der Leraerkontrolle obliegt, was wann und wie gelernt wird, hat eine zunehmende Wahrnehmung des Lernenden als Subjekt seines Lernprozesses bewirkt. Im Unterschied zum lehrerzentrierten Unterricht
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60. Lehren und Lernen
rücken damit die Selbststeuerung und Selbstverantwortung der Lernenden ins Zentrum der Beobachtung. Ein Ziel von Fremdsprachenunterricht ist die Ermöglichung bzw. Erleichterung des Erlernens fremder Sprachen. Dies geschieht u. a. durch die Schaffung von möglichst günstigen Bedingungen. Es ist inzwischen empirisch nachgewiesen, dass der Erwerbsverlauf nach individuellen und sozialen Faktoren variiert, von denen einige wie ζ. B. die Motivation durch den Fremdsprachenunterricht beeinflussbar sind. Andere Faktoren hingegen sind derart in der Persönlichkeit des lernenden Individuums verhaftet, dass eine Beeinflussung von außen nicht möglich ist (ζ. B. der Lernertyp). Im Hinblick auf die Berücksichtigung solcher Faktoren rät Kasper, „den Fremdsprachenunterricht so zu gestalten, dass Lerner mit unterschiedlichen Merkmalsprofilen Gelegenheit finden, ihre bevorzugten Herangehensweisen an Lernaufgaben anzuwenden und alternative Lernstile zu erproben" (Kasper 1995,469), d. h. der Unterricht muss den Lernenden angepasst werden und nicht umgekehrt (vgl. dazu auch Knapp/Knapp-Potthoff 1982, 183). Ihre Betrachtungen zum Verhältnis von Lehrmethoden und Lernerfolg fassen Edmondson/ House folgendermaßen zusammen: „Der Lernerfolg und die Qualität der Lehre sind nicht entscheidend von der im Unterricht verwendeten Sprachlehrmethode abhängig. Die Suche nach der ,besten' Lehrmethode ist sinnlos, sowohl in der Forschung als auch in der unterrichtlichen Praxis" (Edmondson/ House 1993, 309). Auch Krumm macht in seiner zusammenfassenden Darstellung der aktuellen Forschungslage darauf aufmerksam, dass es kein bestimmtes Lehrer- bzw. Lehrverhalten gibt, das an sich ,gut' oder ,schlecht' ist, sondern „daß vielmehr die Angemessenheit des Lehrverhaltens in einer jeweiligen Unterrichtssituation und mit einer spezifischen Teilnehmergruppe den Ausschlag" (Krumm 1995, 476) gibt.
Interaktion zentral für den Lernerfolg ist und dass die Befähigung zum Weiterlernen außerhalb des Unterrichts — ζ. B. in Form von Strategienvermittlung - gefördert werden sollte, ist eine zunehmende Beteiligung der Lernenden an der didaktischen Planung des Fremdsprachenunterrichts, um eine selbstverantwortliche und handlungsaktive Lehr-/Lern-situation zu schaffen. Generell ist ein Umdenkungsprozess erforderlich, als Folge dessen das Lernen fremder Sprachen in der zuvor beschriebenen Weise als ein dynamischer, nicht strikt linearer, rückgekoppelter Konstruktionsprozess betrachtet wird, der durch das Lehren zwar positiv beeinflusst, nicht aber gezielt gesteuert werden kann.
Der Rolle der Lehrmethode stellen Edmondson/House die Rolle der Unterrichtsinteraktion gegenüber: „Die Natur der Interaktion im Fremdsprachenunterricht ist für den Lehr- und Lernerfolg des Unterrichts höchstwahrscheinlich entscheidend; die Erforschung dieser Interaktion stellt somit eine wesentliche Aufgabe für die Sprachlehrforschung dar. Wie Lehrer ihre eigene Rolle konzipieren und realisieren, ist daher von zentraler Bedeutung" (Edmondson/House 1993, 310). Eine mögliche Konsequenz aus der Beobachtung, dass
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604
VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte
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(Deutschland)
61. Typen und Konzepte des Spracherwerbs 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Einleitung Komponenten des Spracherwerbs Der Prozess des Spracherwerbs Die wesentlichen Theorien Abschließende Bemerkung Literatur in Auswahl
1.
Einleitung
Zu den verschiedenen Gaben, mit denen die List der Natur den Menschen bedacht hat, zählt auch die Fähigkeit, eine Sprache zu erlernen und zu gebrauchen: ein jeder eignet sich als Kind eine Sprache, die Muttersprache, an und macht bald mit unterschiedlichem Glück und Geschick Gebrauch von ihr. Zwar ist dieser Prozess nicht, wie gelegentlich angenommen wird, schnell und mühelos. Er erstreckt sich über viele Jahre. Dies ist offen-
kundig für den Bereich des lexikalischen Erwerbs: neue Wörter oder auch nur neue Gebrauchweisen bekannter Wörter lernt man das ganze Leben. Es gilt aber durchaus auch für strukturelle Eigenschaften, etwa aus der Syntax oder der Morphologie. Selbst Achtbis Zehnjährige beherrschen manche Konstruktionen ihrer Sprache noch nicht. Dennoch: mit der Pubertät ist dieser Teil des Erstspracherwerbs im Wesentlichen abgeschlossen, und das Ergebnis ist in aller Regel eine ,perfekte' Beherrschung der Sprache. Mit „perfekt" ist hier nicht gemeint, dass das Sprachvermögen schon seinen denkbaren Höhepunkt erreicht hätte; nicht jeder Deutsche schreibt mit vierzehn Jahren wie Goethe mit vierzig; gemeint ist, dass ein jeder normale Mensch etwa mit der Pubertät über eine Sprachbeherrschung verfügt, die sich von je-
61. Typen und Konzepte des Spracherwerbs
ner seiner sozialen Umgebung nicht auffallig unterscheidet. In diesem Sinne ist also die Sprachbeherrschung eines Hilfsarbeiters mit einem Wortschatz von 500 aktiv gebrauchten Wörtern und schlichter, aber klarer Syntax ,perfekt', nicht hingegen die Sprachbeherrschung eines ausländischen Goetheforschers mit 5000 aktiv gebrauchten Wörtern und höchst komplexer, wenn auch bisweilen falscher Syntax und merklichem Akzent. In einem Satz: der Erstspracherwerb ist ein natürlicher Prozess, er wird nicht systematisch und planvoll von außen gesteuert, dauert recht lange und führt in der Regel zur ,perfekten' Beherrschung der zu lernenden Sprache. Die meisten lernen eine zweite, viele eine dritte oder vierte Sprache. Verlauf und Endergebnis des Zweitspracherwerbs (oder „Mehrspracherwerbs") sind, verglichen mit dem Erstspracherwerb, relativ uneinheitlich. Dafür sind viele Faktoren verantwortlich, von denen zwei besonders wichtig sind: Alter und Art des Erwerbs variieren beträchtlich. Der Erstspracherwerb setzt praktisch mit der Geburt ein (es gibt sogar Vorstellungen, dass schon pränatale Einflüsse eine Rolle spielen). Der Zweitspracherwerb beginnt zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten. Zum Ersten ist möglich, dass von Anfang an zwei Sprachen gelernt werden — ein Fall, den man sinnvollerweise nicht als .Zweitspracherwerb', sondern als ,bilingualen Erstspracherwerb' bezeichnet (Meisel 1994). Eine zweite Sprache kann aber zu jedem beliebigen späteren Zeitpunkt hinzutreten, im frühen Kindesalter, wenn kaum die ersten Strukturen der Muttersprache vorhanden sind, bis zum fortgeschrittenen Erwachsenenalter, in dem das Lernvermögen nicht nur für die Sprache nach allgemeiner Erfahrung nachgelassen hat: der Übergang ist daher gleitend. Das Lernalter führt, so sollte man zumindest annehmen, zu verschiedenen Formen des Zweitspracherwerbs. Ebenso wichtig ist aber die besondere Art des Erwerbs. Der Erstspracherwerb erfolgt in der alltäglichen Kommunikation, ohne systematisch steuernde Intervention von außen. Kinder haben zwar ein außerordentlich feines Ohr für sprachliche Eigenschaften, aber sie sind gegenüber korrigierenden Einflüssen auf ihre Art zu reden zumindest bis ins Schulalter sehr widerborstig. Sie verlassen sich nicht nur in dieser Hinsicht lieber auf das, was sie selber hören, als auf das, was man sie heißt. Der Zweitspracherwerb kann in derselben Weise, nämlich in der alltäglichen Kommunikation, erfolgen — etwa
605 bei Kindern, die mit geringer zeitlicher Verzögerung eine zweite Sprache lernen, weil ihre soziale Umgebung dies erfordert, oder beim Spracherwerb ausländischer Arbeiter im Erwachsenenalter. Er kann aber auch das Produkt einer systematischen Intervention, also des Sprachunterrichts, sein, und je nach Art dieses Unterrichts wiederum sehr unterschiedliche Formen annehmen. Dementsprechend spricht man von ungesteuertem und gesteuertem Zweitspracherwerb; für letzten sagt man oft auch Fremdspracherwerb. Je nach Alter und nach Art des Unterrichts gibt es hier wiederum sehr unterschiedliche Unterformen. Wenn man daher von „Typen" des Spracherwerbs redet, so muss man sich vor Augen halten, dass es sich um ein reiches Spektrum von Erscheinungsformen handelt, die gleitend ineinander übergehen und unter denen die eine oder andere besonders häufig, aus praktischen Gründen besonders wichtig oder unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten besonders aufschlussreich ist. Drei in diesem Sinne ,typische' Exponenten sind — der monolinguale Erstspracherwerb', er ist insofern von besonderer Bedeutung, weil jeder normale Mensch eine erste Sprache lernt; so liegt denn die Annahme nahe, dass er am reinsten die naturgegebenen Gesetzlichkeiten des menschlichen Sprachvermögens widerspiegelt; — der ungesteuerte Zweitspracherwerb im Erwachsenenalter, wie wir ihn bei ausländischen Arbeitern beobachten; nicht jeder lernt im Erwachsenenalter eine zweite Sprache, und insofern ist die Form des Spracherwerbs weniger „natürlich"; sie ist es aber insofern, als sie ganz von naturgegebenem Umgang mit neuem sprachlichem Material bestimmt ist und nicht zugleich die Auswirkungen einer gezielten, mehr oder minder sinnvollen Intervention - eben des Unterrichts - reflektiert; — der traditionelle grammatikorientierte Fremdspracherwerb in der Schule, wie wir ihn in besonders ausgeprägter Form im klassischen Lateinunterricht finden; kein Mensch lernt von Natur aus eine Sprache auf diese Weise; aber er kann sie auf diese Weise lernen, und in vielen Fällen, wie eben im Lateinunterricht, ist es sogar die einzige Möglichkeit. Diese drei Ausprägungen des Spracherwerbs haben charakteristische Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten, unter denen die folgenden besonders augenfällig sind:
606
VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte
A. Zweitspracherwerb und Fremdspracherwerb ist gemeinsam, dass (a) der Lerner bereits eine Sprache beherrscht, (b) er im Alter vorangeschritten ist, und (c) das Ergebnis in aller Regel nicht, wie beim Erstspracherwerb, eine,perfekte' Beherrschung der zu lernenden Sprache ist (obwohl dies auch wiederum nicht ausgeschlossen ist). B. Erstspracherwerb und Zweitspracherwerb sind gleichsam „natürliche" Prozesse, d. h. sie beruhen auf den uns von der Natur gegebenen Mechanismen der Sprachverarbeitung und den Prinzipien, die sie steuern. Der Fremdspracherwerb ist demgegenüber ein Versuch, auf diesen Prozess auf Grund gewisser Überlegungen oder auch praktischer Erfahrungen steuernd von außen einzuwirken, um ihn so zu optimieren. C. Der Erstspracherwerb ist nur eine Komponente in der gesamten kognitiven und sozialen Entwicklung des Kindes; bei Zweitspracherwerb wie bei Fremdspracherwerb ist diese Entwicklung hingegen in wesentlichen Teilen abgeschlossen. Nun sind, wie gesagt, diese drei Formen Extremfalle, zwischen denen es zahlreiche Zwischenstufen gibt - etwa den bilingualen Erstspracherwerb (weltweit gesehen vielleicht sogar der häufigere Fall als der monolinguale Erstspracherwerb), den Zweitspracherwerb im Kindesalter, den Fremdspracherwerb im kommunikativ orientierten, vielleicht gar monolingualen Unterricht, usw. usw. Ein weiterer Grenzfall ist der „Wiedererwerb" einer Sprache, die einmal gelernt worden war, dann aber mehr oder minder vergessen wurde. Es ist nach all dem kein Zufall, dass es in der Forschung keine einheitliche Terminologie für die verschiedenen Formen des Spracherwerbs gibt. Sinnvoller als der Versuch, feste „Typen" voneinander abzugrenzen, ist daher die Frage, welche Züge den unterschiedlichen Formen des Spracherwerbs gemeinsam sind und in welchen sie sich unterscheiden. Dies wollen wir im folgenden Abschnitt systematisch betrachten. 2.
Komponenten des Spracherwerbs
Der Spracherwerb gleich welcher Art ist immer ein sehr komplexer Prozess, der sich beim Kind wie beim Erwachsenen über viele Jahre erstreckt und dessen Verlauf wie dessen Endergebnis von einer Reihe von interagierenden Faktoren bestimmt wird. Bei aller
Unterschiedlichkeit im Einzelnen müssen jedoch immer drei Komponenten gegeben sein. Der Lerner muß über ein bestimmtes, im Gehirn gespeichertes Sprachlernvermögen verfügen, das wiederum ein Teil seines angeborenen und im Laufe des Lebens entfalteten Sprachvermögens ist. Für Letzteres sage ich hier mit einem hässlichen, aber in der Forschung gängigen Wort Sprachverarbeiter (,language processor'); das Sprachlernvermögen ist nichts als die Anwendung des Sprachverarbeiters auf neues Material. Zweitens muss der Lerner Zugang zu diesem neuen Material, also zu Äußerungen der zu lernenden Sprache haben; diesen Input kann er auf unterschiedliche Weise erlangen, und die unterschiedliche Form des Zugangs spielt für Verlauf und Endresultat des Erwerbsprozesses eine wesentliche Rolle. Drittens muss es einen besonderen Grund, ein Motiv, einen Antrieb geben, den Sprachverarbeiter auf den ihm zugänglichen Input anzuwenden; dieser Antrieb ist bei Erstspracherwerb, Zweitspracherwerb und Fremdspracherwerb sehr unterschiedlich, und auch dies hat Konsequenzen für den Erwerbsprozess. 2.1. Der Sprachverarbeiter Wir alle werden mit der Fähigkeit geboren, eine Sprache zu lernen und zu gebrauchen. Ob diese Fähigkeit bereits bei der Geburt voll ausgebildet ist, ist offen: das menschliche Hirn erfährt in den ersten zwei bis vier Lebensjahren zahlreiche massive Veränderungen, und es mag sein, dass diese Veränderungen auch den Sprachverarbeiter, oder zumindest Teile davon, betreffen. Man muss daher das speziesspezifische angeborene Sprachvermögen scharf trennen vom Lernvermögen zu einem bestimmten Zeitpunkt, sei es in der Kindheit, im Jugendalter oder als Erwachsener. Wie der „Sprachverarbeiter" eines Menschen in einem bestimmten Alter funktioniert, hängt von zweierlei ab, nämlich (a) von gewissen biologischen Determinanten, und (b) von dem gesamten Wissen, über das der Lerner zu dieser Zeit verfügt. 2.1.1. Biologische Determinanten Hierzu zählen zum einen einige periphere Organe, insbesondere der Artikulationsapparat vom Kehlkopf bis zu den Lippen und der gesamte Gehörtrakt (bzw., bei geschriebener Sprache, das Sehvermögen). Zum andern hat man einige Teile der zentralen Verarbeitung im Gehirn hierhin zu stellen, also höhere Aspekte der Wahrnehmung, Gedächtnis,
61. Typen und Konzepte des Spracherwerbs
Kognition, vielleicht auch - wie von manchen Sprachtheoretikern angenommen - ein eigenes „Sprachmodul", d.h. ein ausschließlich für die Sprache verantwortliches Teil in der Kortex. Hierfür gibt es allerdings bislang wenig empirische Belege, und es ist sicherlich ökonomischer, wenn man ohne eine solche Annahme auszukommen versucht. Beide Arten biologischer Determinanten sind dem Menschen angeboren; beide verändern sich im Laufe des Lebens in gewissen Grenzen, und solche Veränderungen sind sicher von großer Bedeutung für den unterschiedlichen Verlauf des Spracherwerbs in verschiedenen Lebensaltern. Möglicherweise erklären sie sogar den oben erwähnten zentralen Umstand, dass der Erwerb einer zweiten Sprache im Erwachsenenalter selten zu perfekter Beherrschung führt. Viele naturgegebene biologische Prozesse, von der Prägung der Graugänse auf ihre „Mutter" bis auf die Fähigkeit, ein Kind zu gebären, sind auf eine bestimmte Spanne, eine „kritische Periode", beschränkt. Der Biologe Eric Lenneberg (1967) hat auch für den Spracherwerb eine solche kritische Periode postuliert, die etwa bis zur Pubertät reicht; danach kann auf Grund von Veränderungen in dem Kortex zwar immer noch eine Sprache gelernt werden, aber nur in jenem Sinne, in dem man sich auch Kenntnisse über die Algebra oder die großen Schlachten der Geschichte aneignet. Diese in der Erwerbsforschung oft unbesehen geglaubte Theorie hat den bestechenden Charme einfacher Erklärungen, freilich auch den Mangel, dass alle bekannten Veränderungen im Hirn des Kindes wesentlich früher liegen - etwa bis zum Abschluss des vierten Lebensjahres; Kinder im Alter von acht oder zehn Jahren haben aber in der Regel keinerlei Probleme, eine weitere Sprache perfekt zu lernen. Dies spricht nicht gegen die Relevanz von biologischen Veränderungen für das Erlernen einer Sprache, wohl aber gegen die einfache Vorstellung einer „kritischen Periode" (für eine Würdigung und einen Überblick über die verschiedenen Alterseffekte siehe Singleton 1989). 2.1.2. Verfügbares Wissen Die biologischen Determinanten setzen gleichsam den Rahmen, innerhalb dessen sich der Spracherwerb vollziehen kann. Dieser Prozess ist aber nicht momentan, er dauert lange Zeit — in der Regel viele Jahre —, und in dieser Zeit verändert sich fortwährend das dem Lerner jeweils zu Verfügung stehende
607 Wissen. Zu diesem Wissen zählt zum ersten das gesamte Welt- und Faktenwissen des Ler-
ners zum jeweiligen Zeitpunkt. Dieses Wissen erlaubt ihm überhaupt erst, bestimmte Elemente des Schallstroms, der ihm aus seiner sozialen Umgebung entgegentönt, in kleinere Segmente aufzubrechen und diese mit einer Deutung zu versehen. Zum zweiten zählt dazu seine mehr oder minder begrenzte Kenntnis der zu lernenden Sprache (der Zielsprache) zum gegebenen Zeitpunkt. Der Spracherwerb ist immer ein kumulativer Prozess, bei dem Wissen auf Grund bereits vorhandenen Wissens aufgebaut wird. Drittens schließlich zählt beim gesteuerten wie beim ungesteuerten Zweitspracherwerb, nicht aber beim Erstspracherwerb, auch die Kenntnis der Erstsprache (oder auch mehrerer bereits beherrschter Sprachen) zum jeweils vorhandenen Wissen. Dieser letzte Umstand ist die Ursache für eines der wichtigsten Konzepte des Zweitspracherwerbs - den Transfer. Wenn man bereits eine Sprache kennt, so werden die Eigentümlichkeiten der neuen Sprache im Lichte der bereits vorhandenen Sprachkenntnisse wahrgenommen und interpretiert. Für das Verständnis des Transfer ist wesentlich, dass es sich nicht etwa um eine Beziehung zwischen zwei „Sprachsystemen" handelt, sondern um eine Interferenz zwischen verschiedenen Wissenskomponenten des Lerners zu einem gegebenen Zeitpunkt: das, was er zu dieser Zeit von der Ausgangssprache weiss, wirkt sich auf das aus, was er zu dieser Zeit von der Zielsprache weiss oder vielmehr zu wissen glaubt. Deshalb ist auch die sogenannte „kontrastive Linguistik" nur von begrenztem Nutzen für eine Erklärung des Transfers, denn sie vergleicht im allgemeinen sprachliche Systeme oder Teile davon, nicht aber das jeweils verfügbare Wissen eines Lernenden (vgl. Art. 16; 18; 19). Wie in allen Fällen, in denen vorhandenes Wissen den Aufbau neuen Wissens beeinflusst, in der Wissenschaft wie im Leben, kann dieser Einfluss positiv oder negativ sein; dementsprechend spricht man von positivem wie von negativem Transfer. Dabei ist sehr wohl möglich, dass ein Transfer, der ursprünglich das Lernen erleichtert hat, auf die Dauer negative Wirkungen zeitigt. Um es an einem Punkt zu illustrieren: Die Art und Weise, wie die Erstsprache bestimmte inhaltliche Bereiche, etwa den Ausdruck des Raumes und der Zeit, strukturiert, wird, sofern gewisse Ähnlichkeiten vorliegen, auf die
608
VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte
Zweitsprache übertragen; dies macht das Lernen zunächst leichter, hat aber unter Umständen zur Folge, dass die feineren Unterschiede nicht bemerkt werden. Ein Deutscher, der Englisch lernt, hat zunächst weniger Schwierigkeiten mit dem englischen present-perfect als ein Chinese: he has sung und er hat gesungen sind sehr ähnlich; im Chinesischen gibt es keine vergleichbare Markierung der Temporalität durch eine periphrastische Konstruktion. Auf der anderen Seite ist eben diese Ähnlichkeit zugleich ein Grund dafür, daß die tatsächlich bestehenden subtilen Unterschiede nicht wahrgenommen werden; deshalb wird der Lerner durch den zunächst einmal positiven Transfer verführt, diese Unterschiede vielleicht nie zu lernen - jedenfalls wenn er nicht ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht wird. Diesen gleichzeitig erleichternden und hemmenden Einfluss der Erstsprachkenntnisse finden wir auch in anderen Bereichen, beispielsweise in der Phonologie. So zeigt sich, daß spanischsprachige Arbeiter, die in der alltäglichen Kommunikation Deutsch lernen, zunächst wesentlich mehr Schwierigkeiten mit dem Konsonantismus, insbesondere mit den Konsonantenverbindungen, haben als mit dem Vokalismus; dies erklärt sich leicht durch den Einfluss der Erstsprache. Nach einer Weile kehrt sich dieses Verhältnis jedoch um - Konsonanten und Konsonantenverbindungen werden beherrscht, der Vokalismus bleibt stehen, eben wegen der relativen Ähnlichkeit (Tropf 1983). Dies erklärt zumindest teilweise eine der auffälligsten Eigenschaften des Zweitspracherwerbs - die Fossilierung. Der Lerner macht in bestimmten Bereichen keinerlei Fortschritte mehr, er ist nicht mehr aufnahmebereit für neuen Input bestimmter Art, obwohl seine Sprache von der seiner sozialen Umgebung noch weit entfernt ist. Es kann dies aber nicht die einzige Erklärung dafür sein, dass nur der Erstspracherwerb in der Regel zu perfekter Beherrschung führt: Im Fremdspracherwerb wird der Lerner nämlich ausdrücklich auf diese Unterschiede hingewiesen, und dennoch ist er oft nicht in der Lage, sie sich zu eigen zu machen (Überblicke über den gegenwärtigen Stand der Transferforschung geben Kellerman und Sharwood-Smith 1986; Odlin 1989; Ellis 1994, 299-346). 2.2. Der Input Der Sprachverarbeiter ist bei Geburt bei allen Menschen gleich - im Rahmen der Schwankungsbreite aller angeborenen Eigen-
schaften. Es ist dem einzelnen nicht angeboren, Mopan oder Twi zu lernen. Dass sich der Lerner eine bestimmte Sprache mit all ihren strukturellen Besonderheiten aneignet, liegt daran, dass die soziale Umwelt des Lerners diese Sprache spricht und sie als Input für seinen Sprachverarbeiter zugänglich macht. Wie wird dem Lerner die Sprache der sozialen Umgebung zugänglich? Er versteht diese Sprache ja noch nicht, er hat, mit dem heiligen Thomas von Aquin zu reden, von der Rede nur den flatus vocis, aus dem er einen gewissen Sinn zu machen versuchen muss. Er sieht sich in der Lage eines Menschen, der sich plötzlich in eine Welt versetzt findet, in der alle um ihn herum nur Malayalam reden. Anders gesagt: Der Input besteht zunächst einmal aus unanalysierten Schallwellen, die das Ohr des Lerners treffen, also nichts, was bereits in Phoneme, Wörter, Sätze zerlegt wäre. Den Schallstrom in kleinere Einheiten aufzubrechen und diese mit einem bestimmten Sinn zu versehen, ist die erste Aufgabe des Lerners, und wenn er dazu nur die Schallwellen zur Verfügung hätte, dann wäre sie nicht zu lösen. Wenn man einen Lerner Tage, Wochen, ja Jahre in ein Zimmer einsperren und mit Inuktitut beschallen würde, so würde er es doch nicht lernen. Man benötigt dazu auch die gesamte begleitende Information, Gesten, Handlungen, den ganzen situativen Kontext, mit dessen Hilfe es möglich ist, einzelne Teile aus dem Schallstrom herauszubrechen und sinnvoll zu interpretieren. Mit anderen Worten, der Input besteht eigentlich aus zwei parallelen Informationsquellen - dem Schallstrom und der gesamten situativen Parallelinformation. An diesen kann der Sprachverarbeiter ansetzen, um das Analyseproblem des Spracherwerbs zu lösen. Dabei spielt nun das gesamte jeweils verfügbare Wissen eine wesentliche Rolle, insbesondere Kenntnis der strukturellen Regularitäten einer bereits vorhandenen Sprache, die den Lerner bei der Lösung des Analyseproblems leiten und eben auch fehlleiten können. Dies gilt in gleicher Weise für den Erstspracherwerb wie für den ungesteuerten Zweitspracherwerb: Säugling wie Erwachsener hören zunächst nur blahblahblah in einem sozialen Kontext, und sie müssen ersteres mit Hilfe des letzteren deuten. Wie dies im Einzelnen geschieht, was also die natürlichen Gesetzlichkeiten des menschlichen Spracherwerbs sind, lässt sich nur empirisch klären. Beim gesteuerten Zweitspracherwerb ist dies in einem wesentlichen Punkt anders: die
61. Typen und Konzepte des Spracherwerbs
zu lernende Sprache wird dem Sprachverarbeiter zu großen Teilen nicht direkt zugänglich gemacht, sondern in Form einer linguistischen Beschreibung. Es wird gesagt, die strukturellen Gesetzlichkeiten einer Sprache sind so und so, eigne sie dir an! Das Sprachlernvermögen muss sich nicht dem Material selbst, sondern mit einer bestimmten Aufbereitung dieses Materials auseinandersetzen. Darauf ist der menschliche Sprachverarbeiter, so wie er sich im Laufe der Jahrtausende, vielleicht Jahrhunderttausende entwikkelt hat, nicht zugeschnitten. Das besagt keineswegs, dass das Ergebnis des Fremdspracherwerbs ein schlechteres sein müßte (in der Praxis ist oft das Gegenteil der Fall). Es besagt aber wohl, dass die Gesetzlichkeiten, die den Prozess des Fremdspracherwerbs kennzeichnen, teilweise andere sind als beim Zweitspracherwerb: Sie resultieren aus dem Versuch, in einen natürlichen, durch bestimmte Charakteristika gekennzeichneten Prozess von außen her steuernd einzugreifen. Die Folge ist, dass der gesteuerte Zweitspracherwerb durch die Interaktion dreier Formen sprachlichen Wissens gekennzeichnet ist. Dies sind: (a) Das intuitive Wissen über die strukturellen Eigenschaften der Erstsprache (oder auch mehrerer bereits beherrschter Sprachen). (b) Das „intuitive", d. h. durch die üblichen Prozesse des Spracherwerbs zustandegekommene partielle Wissen über die Zweitsprache; selbst bei ausgeprägt grammatischem Unterricht muss sich der Lerner ja auch mit dem Material selbst (hier oft in seiner geschriebenen Form) auseinandersetzen. Dieses Wissen kann man das (intuitive) Eigenwissen des Lerners nennen - das, was er selbst intuitiv aus dem ihm zugänglichen Input abgeleitet hat. (c) das Beschreibungswissen über die Zweitsprache, d.h. jene partielle Kenntnis der Zweitsprache, die auf Grund metalinguistischer Beschreibung dieser Zweitsprache zustandegekommen ist und das dem Lernenden durch den Unterricht oder durch Lehrbücher nahegebracht worden ist. Sprechen und Verstehen eines FremdsprachLerners zu einem gegebenen Zeitpunkt werden daher nicht von einem einheitlichen, zugrundeliegenden Wissen bestimmt, sondern von einer eigentümlichen Mischform mit drei Anteilen in variierender Gewichtung. Wie diese zusammenwirken, ist unklar. Auf Krashen geht die Vorstellung zurück, dass be-
609 wusst gelerntes Wissen, sofern genügend Zeit vorhanden ist, das unbewusst erworbene Wissen wie eine Überwachungsinstanz, ein „Monitor" steuert (zusammenfassend dargestellt in Krashen 1981). Dies ist aber eher eine schöne Metapher, die suggestiv beschreibt, wie man in einem gegebenen Fall bei der Produktion von Äußerungen in der Zweitsprache vorgeht; aber sie sagt wenig über die Gesetzlichkeiten, nach denen sich der Erwerbsprozess entfaltet. Die „Monitortheorie" hat in der Sprachlehrforschung einen ganz erstaunlichen Widerhall gefunden, allerdings mehr im Sinne eines deklamatorischen Überbaus; für die konkrete Anwendung oder gar für die empirische Erforschung des Spracherwerbs ist sie zu wenig konkret, so dass sie hier kaum eine Rolle gespielt hat. Es ist eine interessante und bislang wenig studierte Frage, was passiert, wenn Beschreibungswissen — also das, was man dem Lerner im Unterricht als Regel vorgegeben hat - und induktiv abgeleitetes Eigenwissen über die Zweitsprache in Widerstreit geraten. Eine der wenigen Untersuchungen zu dieser Frage, Carroll u. a. (1982) zeigt, dass dieser Konflikt bei Sprechern unterschiedlicher Herkunft, in diesem Falle Amerikanern und Japanern, unterschiedlich aufgelöst werden kann: letztere gewichten das Beschreibungswissen wesentlich höher als erstere, ein Umstand, der sich im Korrekturverhalten deutlich niederschlägt. Sie sind, um so etwas anders zu formulieren, Interferenzen aus dem Beschreibungswissen eher zugänglich als die Amerikaner, weil sie offenbar eine andere Einstellung dazu haben, was eigentlich gelernt werden soll. Dies bringt uns auf die letzte Komponente, die bei jedem Spracherwerb unabdinglich ist — den spezifischen Antrieb, der den Lerner veranlasst, seinen Sprachverarbeiter auf einen bestimmten Input anzuwenden. 2.3. Antrieb Es gibt verschiedene, zumeist Hand in Hand gehende Gründe, aus denen man eine Sprache lernen kann. Der wichtigste ist ohne Zweifel die soziale Integration. Ein Kind muss eine bestimmte soziale Identität erwerben, und dazu muss es die Sprache seiner sozialen Umgebung exakt reproduzieren. Es muss sich daher im sprachlichen (wie im sonstigen) Verhalten auch bestimmte Gewohnheiten zu eigen machen, deren Sinn es nicht sieht, weil sie keinen haben — im Deutschen beispielsweise die Genusunterscheidung, den Unterschied zwischen starken und schwachen
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VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte
Verben oder eine bestimmte Ausspracheweise, etwa ein stimmhaftes Ist im Silbenanlaut. Ein Kind, das das Is/ in allen Positionen gleich ausspräche, konsequent bei allen Objekten den Artikel „das" verwendete und „laufte" und „schwimmte" statt „lief und „schwamm" sagen würde, wäre im Grunde viel logischer und vernünftiger als seine soziale Umgebung — aber es wäre in dieser Umwelt ein Außenseiter. Es tut daher gut daran, alle Ungereimtheiten, sprachliche und sonstige, im Verhalten der sozialen Umgebung getreulich mitzumachen. Diese Notwendigkeit entfallt bei dem zweiten wesentlichen Grund, eine Sprache zu lernen — den kommunikativen Bedürfnissen. Man kann keine soziale Integration anstreben, ohne auch bestimmte kommunikative Bedürfnisse verwirklichen zu wollen; deshalb schließt der erste Grund den zweiten in einer bestimmten Ausprägung ein; aber umgekehrt will nicht jeder, der spanische Handelskorrespondenz lernt, auch ein Spanier werden. Die kommunikativen Bedürfnisse können sehr unterschiedlich sein, und dies wirkt sich in aller Regel auf Verlauf und Endzustand des Erwerbsprozesses aus. Ein ausländischer Arbeiter, der für einige Zeit nach Deutschland kommt, will in bestimmten Grenzen andere verstehen und sich selbst verständlich machen können; aber er muss nicht den Eindruck erwecken wollen, er wäre ein Hiesiger. Wenn ihm dies auch noch gelingt, so mag das mancherlei Vorteile haben; aber es ist nicht einfach zu erreichen, und es ist vielleicht gar bedrohlich für die eigene soziale Identität. Soziale Integration und kommunikative Bedürfnisse sind sicher die wichtigsten natürlichen Antriebsfaktoren im Spracherwerb. Sie spielen hingegen im schulischen Fremdsprachenerwerb zumeist eine untergeordnete Rolle. Latein lernt man, weil es zu einer bestimmten Vorstellung von Bildung gehört, und selbst der Englischunterricht auf dem Gymnasium ist nicht vornehmlich durch die kommunikativen Bedürfnisse der Schüler motiviert. Auf diesen Antriebsfaktor, sich eine Sprache anzueignen, ist das menschliche Sprachvermögen von Natur aus nicht angelegt, und deshalb bedarf es in diesem Falle gewöhnlich zusätzlicher Motivationen; dazu zählt beispielsweise der Druck der Noten, aber auch eine bestimmte emotionale Einstellung zum Gegenstand, die der Lehrer mit Glück und Geschick erzeugen kann. Die positive, manchmal auch negative Wirkung solcher affektiver Faktoren im Spracherwerb ist
hinlänglich bekannt; woraus sie diese Wirkung auf die Sprachverarbeitung - also einen psychischen Prozess, der sich irgendwo in unserem Hirn abspielt - beziehen, ist allerdings gänzlich ungeklärt (vgl. neuerdings jedoch Pulvermüller und Schumann 1994). 3.
Der Prozess des Spracherwerbs
Keine unter den vielen Formen des Spracherwerbs ist abrupt: es handelt sich stets um einen langwierigen, graduellen Prozess, der bestimmten, in Grenzen variablen Gesetzlichkeiten folgt. Dies ist offenkundig; aber es wird in der Forschung nicht immer ernst genommen. In einer der einflussreichsten Richtungen der Spracherwerbsforschung, der nativistischen Theorie der generativen Grammatik, wird sogar ausdrücklich vom Entwicklungscharakter abstrahiert - nicht weil man ihn bestreiten würde, sondern weil, so die Annahme, er für das Verständnis des Erwerbs nicht wesentlich ist. Aber auch andere Betrachtungsweisen versuchen in der Praxis selten, die innere Logik der Entwicklung aufzuklären; wir kommen darauf in Abschnitt 4. zurück. Wie jeder Prozess ist auch dieser durch drei Faktoren gekennzeichnet: Anfangszustand, Endzustand und Verlauf. Bei letzteren ist es sinnvoll, zwischen Tempo und Struktur zu unterscheiden. Mit Struktur des Verlaufs ist gemeint, in welcher Abfolge welche strukturellen Eigenschaften aus dem Input herausgearbeitet werden, mit Tempo des Verlaufs die unter Umständen wechselnde Geschwindigkeit, mit der dies geschieht. Der Anfangszustand ist einfach das Wissen, über das der Lerner zu Beginn des Lernprozesses verfügt (siehe oben Abschnitt 2.1.2.), und das ist, was die spezifischen Eigenschaften der Zielsprache angeht, zunächst einmal null. Dennoch mag der Lerner auch zu Beginn schon einiges über die Zielsprache wissen — nämlich all jenes, was allen Sprachen gemeinsam ist („Universalien") sowie all das, was Zielsprache und bereits beherrschte Sprachen gemeinsam haben. Über das Tempo des Verlaufs ist außer anekdotischen Beobachtungen wenig bekannt. Wir gehen deshalb im Folgenden nur auf Struktur des Verlaufs und Endzustand ein. 3.1. Struktur des Verlaufs Bei allen Formen des ungesteuerten Erwerbs, also beim Erstspracherwerb wie beim Zweit-
61. Typen und Konzepte des Spracherwerbs
spracherwerb im sozialen Kontext, ergibt sich die Struktur des Verlaufs daraus, wie es dem Sprachverarbeiter gelingt, den Input in elementare Einheiten aufzubrechen, diese in ihrer Funktion zu deuten und die Regeln zu entschlüsseln, nach denen sie sich zu komplexeren Einheiten verbinden lassen. Alles, was dem Lerner dazu zur Verfügung steht, ist seine biologisch gegebene Lernfähigkeit, sein Ausgangswissen sowie die beiden Komponenten des Inputs - der Schallstrom und die parallele situative Information. Gehen alle Lerner diese Aufgabe in gleicher Weise an? Das ist, wie schon die Alltagserfahrung zeigt, offenkundig nicht der Fall; es gibt eine gewisse Variabilität im ungesteuerten Spracherwerb. Die Frage ist bloß, wie weit sie geht und wovon sie abhängt. Beliebig kann sie jedenfalls nicht sein. Dies ergibt sich allein schon daraus, dass der Erwerb mancher Eigenschaften das Vorhandensein anderer voraussetzt. In den meisten Sprachen hängt die Grundwortstellung im Satz vor allem von der Position der Finitheitsmarkierung, und damit des finiten Verbs, ab. Im Deutschen steht die finite Komponente des Verbs im Hauptsatz normalerweise an zweiter Stelle, die infinite Komponente an letzter (Heute HAT er eine Rede gehalten). Wenn finite und infinite Komponente zu einer morphologischen Form verschmolzen sind, dann ist die Stellung der finiten Komponente maßgeblich (Heute hält er eine Rede). Um diese (hier vereinfacht dargestellte) Grundregel der deutschen Syntax aus dem Input abzuleiten, muss der Lerner wissen, wie die Finitheit im Deutschen markiert wird. Dies geschieht durch eine bestimmte Art der Verbflexion {hat, hält), also durch eine morphologische Markierung. Diese wiederum kann er erst erkennen, wenn er zumindest bestimmte Grundzüge der deutschen Phonologie gelernt hat, beispielsweise dass /a:/ und /ae:/ phonologisch distinkt sind. Solche und ähnliche Abhängigkeiten schränken die Struktur des Verlaufs ein. Aber sie lassen immer noch ein erhebliches Spektrum möglicher Entwicklungen zu, über die es nach wie vor mehr Spekulationen als empirisch gut gesicherte Erkenntnisse gibt. Im durch Unterricht gesteuerten Spracherwerb hängt der Verlauf des Prozesses nun außerdem davon ab, in welcher Weise die strukturellen Eigenschaften der Zielsprache präsentiert werden — vom „Curriculum". Dieser Faktor setzt die im ungesteuerten Erwerb wirksamen Lernprozesse sicher nicht außer Kraft; aber es ist unklar, welches Ge-
611 wicht ihm zukommt - ob, etwas zugespitzt formuliert, die Lerner wegen oder trotz des Unterrichts Fortschritte machen. Allgemeine Aussagen sind schon deshalb problematisch, weil Art und relatives Gewicht dessen, was dem Lerner in Form von Beschreibungswissen vermittelt wird, je nach Art des Unterrichts erheblich schwanken. Sie verbieten sich aber auch deshalb, weil wir die Gesetzlichkeiten des ungesteuerten Spracherwerbs, in die der Unterricht optimierend zu intervenieren sucht, allenfalls in Ansätzen kennen. 3.2. Endzustand Der Spracherwerb ist abgeschlossen, wenn der Lerner die Gesetzlichkeiten der Zielsprache beherrscht. Dies ist beim Erstspracherwerb wie beim ungesteuerten Zweitspracherwerb die Sprache der sozialen Umgebung, die den Input liefert; bei gesteuertem Spracherwerb ist es eine normative Beschreibung, die die Lehrenden für besonders wünschenswert halten („King's English", das Französische, so wie es in Grevisse und Petit Robert beschrieben ist, usw.). Beim Erstspracherwerb wird das Ziel gewöhnlich erreicht; jede Abweichung davon gilt als pathologisch. Beim Zweitspracherwerb im Erwachsenenalter wird es hingegen in aller Regel verfehlt: der Erwerbsprozess kommt schon früher zum Stillstand, er fossiliert auf irgendeiner Stufe, die der Zielsprache mehr oder minder nahekommt. Wie erklärt sich dieser Unterschied? Art und Menge des Inputs können nicht, oder jedenfalls nicht allein, verantwortlich sein, denn Kinder und ungesteuert lernende Erwachsene haben im Wesentlichen denselben Input. Umgekehrt ist der Input bei gesteuertem und bei ungesteuertem Zweitspracherwerb sehr verschieden, in beiden Fällen aber ist Fossilierung der Normalfall. Die Fossilierung korreliert jedoch offensichtlich mit dem Alter. Das deutet darauf, dass altersbedingte Veränderungen im Sprachverarbeiter verantwortlich sind. Dies können Veränderungen in den biologischen Gegebenheiten (den beteiligten Teilen der Hirnrinde oder in den peripheren Organen) sein, oder aber Unterschiede im jeweils verfügbaren Wissen, und hier ist der wesentliche Faktor das Vorhandensein einer oder mehrerer anderer Sprachen. Beide Möglichkeiten sind sehr plausibel, und wir haben sie oben unter den Stichwörtern „kritische Periode" und „(negativer) Transfer" bereits angesprochen. Beide aber können nicht erklären, weshalb Kinder vor der Pubertät, etwa im Alter von acht Jahren,
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VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte
gewöhnlich keine Fossilierung zeigen: sie haben kein Problem, eine zweite oder dritte Sprache ,perfekt' zu lernen (McLaughlin 1978). Die Kinder ausländischer Arbeiter sind ein bekanntes Beispiel. Möglicherweise liegt der Hauptgrund für die Fossilierung daher in der unterschiedlichen Form des Antriebs, insbesondere zwischen dem unbewussten Wunsch nach sozialer Integration, der perfekte Nachahmung verlangt, und anderen Motivationen, etwa dem Wunsch, sich zu begrenzten Zwecken verständlich zu machen oder aber das Abitur zu bestehen. Dies schließt nicht aus, dass auch andere Faktoren wirksam sind; schließlich lässt das Lernvermögen mit zunehmendem Alter nicht nur in Sachen Spracherwerb nach; aber das Gewicht verlagert sich etwas von biologischen auf sozialpsychologische Faktoren (Klein 1995). 4.
Die wesentlichen Theorien
Wenn sich das Interesse der Forschung einem neuen Gebiet zuwendet, so lässt es sich gewöhnlich von Methoden, Leitfragen und theoretischen Überlegungen leiten, von denen die Forscher meinen, dass sie sich in anderen, verwandten Gebieten bewährt haben. Die ernsthafte Erstspracherwerbsforschung ist gut hundert Jahre alt, und sie ist aus der Psychologie entstanden: Forscher wie Carl Preyer, Wilhelm Wundt, Clara und William Stern haben sich dafür interessiert, welche Rolle die Sprache in der gesamten kognitiven und sozialen Entwicklung des Kindes spielt, und so ist denn in dieser Tradition die Spracherwerbsforschung treu und brav und mit einiger Verzögerung den Mäandern der psychologischen Theoriebildung gefolgt. Ein zweiter, diesmal von der strukturellen Linguistik inspirierter Traditionsstrang setzt vor sechzig Jahren mit Roman Jakobson ein; prägend für diese linguistische Linie war vor allem Chomskys Vorstellung, wesentliche Elemente der Grammatik seien angeboren (und folglich universal), weil nur so der leichte, schnelle und von den Unzulänglichkeiten des Inputs unabhängige Spracherwerb des Kindes zu erklären sei. Diese „nativistische Theorie" hat verschiedene Wandlungen erfahren; für ihre heutige Form ist vor allem der Gedanke des „parameter setting" bestimmend; wir kommen gleich darauf zurück (einen Überblick über die verschiedenen Theorien des Erstspracherwerbs geben Slobin 1985, Bd. 2, sowie Fletcher und MacWhinney 1995).
Die Suche nach den Gesetzlichkeiten des Zweitspracherwerbs ist demgegenüber relativ jung; sie setzt vor etwa dreißig Jahren ein und hat drei wesentliche Inspirationsquellen; dies ist zum Einen der Fremdsprachunterricht und die Beobachtungen, die dabei über die Lernschwierigkeiten der Schüler gemacht worden sind, zum Zweiten die Forschung zum Erstspracherwerb, und zum Dritten jener Teil der Linguistik, der sich empirisch und theoretisch mit Problemen der sprachlichen Variabilität befasst — Dialektologie, Pidginforschung, Soziolinguistik. Anfänglich über diese Quellen vermittelt, dann auch direkt gehen in die Zweitspracherwerbsforschung seither wiederum die jeweils modischen Vorstellungen aus der Psychologie, der theoretischen Linguistik und der Psycholinguistik ein. Es gibt derzeit keine Theorie, die auch nur annähernd in der Lage wäre, den verschiedenen Formen des Spracherwerbs gerecht zu werden. Dies liegt an der Fülle der Faktoren, die darin eine Rolle spielen, und an der Schwierigkeit, einen so langwierigen und variablen Prozess empirisch zu untersuchen; das in den Abschnitten 2. und 3. Gesagte sollte dies deutlich gemacht haben. Dennoch haben sich kühne Forscher und Forscherinnen nicht abhalten lassen, allgemeine Theorien des Spracherwerbs aufzustellen. Ihre Reichweite ist gewöhnlich sehr begrenzt, sowohl was die Zahl ihrer Anhänger angeht wie nach dem Gegenstandsbereich, den sie tatsächlich abdecken. Im Folgenden konzentrieren wir uns, den Zielen dieses Handbuchs entsprechend, auf den Erwerb einer zweiten Sprache und diskutieren kurz zwei solcher Theorien, die in der Vergangenheit eine wesentliche Rolle gespielt haben, und zwei weitere, die das Bild der Forschung heute bestimmen (eine umfassende Darstellung findet sich in Ellis 1994 sowie, freilich stark aus amerikanischer Perspektive, in Ritchie und Bathia 1996). 4.1. Identitätshypothese Am einfachsten wäre es, wenn alle Arten des Spracherwerbs denselben Gesetzlichkeiten folgen würden. Diese Auffassung ist in der Tat vertreten worden, allerdings stets bezogen auf einige Einzelfälle, etwa die Reihenfolge, in der bestimmte Flexionsmorpheme im Englischen gelernt werden, oder den Erwerb der Negation (siehe dazu zusammenfassend Wode 1981). Insgesamt sind jedoch die Unterschiede zwischen den einzelnen Erwerbsformen zu offensichtlich, als dass man
61. Typen und Konzepte des Spracherwerbs
eine solche Beobachtung verallgemeinern könnte. Manche Formen zeichnen sich typischerweise durch Fossilierung aus, andere nicht, und zumal im gesteuerten Zweitspracherwerb hängt die Struktur des Verlaufs entscheidend von der Präsentation des Materials ab; wenn das simple past nach dem past progressive gelehrt wird, kann jenes nicht zuerst auftauchen. All dies schließt freilich nicht aus, dass es allgemeine Prinzipien des Spracherwerbs gibt; diese müssen aber auf einer relativ abstrakten Ebene liegen, wie dies beispielsweise in der Theorie des „parameter setting" angenommen wird. (vgl. Abschnitt 4.3.); nur ausnahmsweise äußern sie sich tatsächlich in identischem Verlauf, identischem Tempo und identischem Endzustand. 4.2. Kontrastivitätshypothese Beim gesteuerten wie beim ungesteuerten Zweitspracherwerb muss man sich lediglich jene strukturellen Eigenschaften aneignen, in denen sich die zweite Sprache von der ersten unterscheidet. Daraus kann man ableiten, dass ein Ausdrucksmittel, sei es ein Wort oder eine Konstruktion, um so schwieriger zu lernen ist, je stärker die beiden beteiligten Sprachen sich darin unterscheiden; möglicherweise bestimmt der Grad der Kontrastivität sogar Tempo und Struktur des Erwerbsprozesses. Dieser Gedanke hat zumindest eine erhebliche Anfangsplausibilität, und so ist er denn seit den Fünfzigerjahren immer wieder in verschiedenen Varianten vorgetragen worden. Nicht zuletzt hat er den Anstoß zu einer Reihe von „kontrastiven Grammatiken" gegeben. Ihr Nutzen für die Spracherwerbsforschung ist allerdings sehr begrenzt. Das hat eine ganze Reihe von Gründen. Zum Ersten kommt es für den Spracherwerb nicht darauf an, wo und wie sich zwei sprachliche Systeme unter irgendeiner linguistischen Analyse unterscheiden, sondern darauf, was sich davon im Wissen des Lerners zu einem gegebenen Zeitpunkt widerspiegelt: der Lerner muss nicht zwei Systeme zueinander in Bezug setzen, sondern seine Repräsentation der Ausgangssprache zu seiner Deutung des Inputs. Zum Zweiten ist ein massiver Unterschied gewöhnlich viel leichter zu erkennen als ein subtiler, und demnach sollte er auch leichter zu lernen sein. Zum Dritten zählen zur Sprachbeherrschung sowohl Verstehen wie Produktion, und eine strukturelle Eigenschaft mag leicht zu verstehen, aber schwer zu produzieren sein, und umgekehrt. Zum Vierten hängt die Struktur des Erwerbs of-
613 fenkundig von vielen anderen Faktoren ab, etwa der Häufigkeit im Input, der kommunikativen Relevanz - ein türkischer Arbeiter lernt nicht jene Wörter oder Konstruktionen zuerst, die dem Türkischen möglichst ähnlich sind, sondern jene, die er besonders dringend benötigt - oder auch den in Abschnitt 3.1. beschriebenen Abhängigkeiten zwischen strukturellen Eigenschaften. All dies besagt nicht, dass kontrastive Aspekte keinerlei Rolle im Zweitspracherwerb spielen; aber sie sind nur ein Faktor unter vielen, und wahrscheinlich kein besonders wichtiger. 4.3. Universalgrammatik und „parameter setting" In der Geschichte der Sprachwissenschaft, sowohl der traditionellen wie der strukturellen, ist der Spracherwerb eine Randerscheinung. Ein hoher theoretischer Status kommt ihm jedoch in der Generativen Grammatik Chomskys und seiner Schüler zu. Jedes Kind, so eine Annahme der generativen Grammatik, lernt normalerweise seine Muttersprache auch bei fehlerbehaftetem und unzulänglichem Input schnell und mühelos bis zur „Perfektion". Dies ist nicht durch einen induktiven Lernprozess zu erklären; vielmehr muss ein wesentlicher Teil der Sprachbeherrschung angeboren sein und lediglich in den ersten Lebensjahren aktiviert werden. Da aber keinem eine bestimmte Sprache angeboren ist, ist der Kern der menschlichen Sprachfähigkeit universal. Der eigentliche Gegenstand der linguistischen Theorie ist daher die Universalgrammatik. Diesen Gedanken hat Chomsky erstmals Mitte der Fünzigerjahre vorgetragen, und er hat sich durch alle Wandlungen der generativen Grammatik erhalten. Er hatte allerdings lange den Status eines theoretischen Arguments, ohne irgendwelche Konsequenzen für die tatsächliche Erforschung des Spracherwerbs. Erst zu Beginn der Achzigerjahre wurde er soweit konkretisiert, dass man ihn in konkrete empirische Forschungsprojekte - zunächst nur beim Kind, dann auch im Zweitspracherwerb — ummünzen konnte. Entscheidend dafür war der Begriff des „Parameters". Die Idee ist, sehr kurz gesagt, folgende (vgl. Chomsky 1981). Die gesamte Kompetenz eines erwachsenen Sprechers, der seine Sprache perfekt beherrscht, besteht aus einem „Kern" (core) und der „Peripherie". Letzteres sind alle idiosynkratischen Erscheinungen einer Sprache, also beispielsweise die besondere deutsche Form der Nominalfle-
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VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte
xion oder die besondere Laut-BedeutungZuordnung eines einzelnen deutschen Wortes; dass das Buch im Deutschen /bu:x/ heißt und nicht beispielsweise /kni:ga/, dass der Genitiv davon /bu:xas/ ist und nicht /ba:x/ dies sind Idiosynkrasien des Deutschen. Der Kern ist im Prinzip angeboren und universal; jedoch lässt die Universalgrammatik zu Beginn bestimmte Alternativen offen, die dann einzelsprachlich unterschiedlich ausfallen. Ebendies sind die Parameter. Ein besonders einfaches Beispiel ist der „head parameter": jede Konstruktion hat einen „ K o p f und ein „Komplement"; in frisches Brot ist Brot der Kopf und frisch das Komplement; in Brot essen ist essen der Kopf und Brot das Komplement. Die Universalgrammatik lässt zunächst offen, ob das Komplement dem Kopf folgt oder ihm vorausgeht: diese Eigenschaft ist parametrisiert, sie muss einzelsprachlich unterschiedlich belegt werden. Die Attraktivität dieses Gedankens liegt nun darin, dass ein einzelner Parameter oft eine ganze Reihe von strukturellen Eigenschaften zusammenfasst. Ein gutes Beispiel - das demnach auch im Spracherwerb am meisten untersucht wurde — ist der „Pro-drop parameter": manche Sprachen, wie Deutsch, Englisch, Französisch, haben ein obligatorisches Subjektpronomen, während andere, wie Lateinisch, Italienisch, Spanisch, es „auslassen" können. Diese Eigenschaft des „pro-drop" korreliert nun mit einer Reihe weiterer, insbesondere einer relativ reichen Verbalmorphologie, einer vergleichsweise freien Wortstellung sowie mit der Möglichkeit, Elemente aus bestimmten Nebensätzen herauszubewegen (dem sogenannten „that-trace effect"). Der Pro-drop parameter besagt nun, das all diese Eigenschaften davon abhängen, wie ein bestimmtes abstraktes Element der Satzstruktur („AGR") parametrisiert ist. Man beachte, dass die Auslassbarkeit des Subjektpronomens nicht der Parameter ist — sie ist eine von verschiedenen strukturellen Konsequenzen einer bestimmten Parametrisierung. Wenn der Parameter also erst einmal gesetzt ist — und das kann der Lerner im Prinzip an Hand jeder seiner strukturellen Konsequenzen im Input lernen - , dann folgen daraus automatisch auch alle anderen strukturellen Eigenschaften, darunter auch solche, die dem Input vielleicht nur sehr schwer zu entnehmen sind. Der Spracherwerb hat demnach zwei Komponenten: alle Eigenschaften der Peripherie müssen aus dem Input gelernt werden,
und ebenso muss die jeweils gültige Parametrisierung aus dem Input abgeleitet werden. Das wirft zwei Fragen auf: Erstens, welche Eigenschaften zählen zur Peripherie, welche zum Kern, und zweitens, was innerhalb des Kerns ist in welcher Weise parametrisiert? Die Antwort auf beide Fragen nimmt der Theorie viel von ihrem theoretischen Glanz. Aus dem Input gelernt werden muss auf jeden Fall der gesamte Wortschatz, ebenso die spezifische Form der verschiedenen morphologischen Teilsysteme, etwa die Nominalflexion, ebenso das spezifische Phoneminventar, und nicht zuletzt alle Idiosynkrasien der einzelsprachlichen Syntax - mit anderen Worten, fast alles. Nicht gelernt werden muss, was universal ist, abgesehen von jenen Eigenschaften, in denen die Universalgrammatik parametrisiert ist. Was aber sind nun die einzelnen Parameter? Darüber gibt es in der generativen Grammatik keinerlei Einigkeit; die beiden oben Genannten haben in der Erwerbsforschung eine große Rolle gespielt; aber sie haben sich zum Einen empirisch nicht bestätigen lassen, und sie sind inzwischen auch in der linguistischen Theorie selbst weithin aufgegeben. Dies macht es, bei aller Attraktivität des Gedankens, sehr schwer, seinen empirischen Gehalt zu überprüfen. Die Idee des Parametersetzens wurde zunächst nur für den Erstspracherwerb verfolgt (eine Übersicht geben Weissenborn, Goodluck und Roeper 1992), und erst mit einiger Verzögerung auf den Zweitspracherwerb übertragen (White 1989; Epstein u.a. 1997). Die Diskussion wurde dabei von zwei Fragen bestimmt: (1) In welcher Weise können und müssen Parameter „neugesetzt" werden? Beim Erstspracherwerb sind die Parameter ja zunächst offen, und das Kind muss aus dem Input ableiten, welche Parametrisierung für seine Muttersprache gilt. Wird eine weitere Sprache gelernt, so gibt es zwei Möglichkeiten: entweder die bisherige Parametrisierung wirkt weiter, und der Lerner wird in seinem Erwerb, sei es positiv, sei es negativ, davon beeinflusst, oder aber die Universalgrammatik wirkt so wie beim Kind, d. h. der Lerner geht den Input ganz neutral an. (2) Ist die Universalgrammatik nur beim Kinde wirksam, oder ist sie auch noch für den erwachsenen Zweitsprachlerner „zugänglich"? Diese Frage ist mit der ersten verwandt; es ist aber nicht die gleiche, denn es könnte auch sein (etwa im Sinne der Lennebergschen „kritischen Periode"), dass die Beschränkungen
61. Typen und Konzepte des Spracherwerbs
der Universalgrammatik im fortgeschrittenen Alter überhaupt nicht mehr wirksam sind; dann müsste es auch möglich sein, „unmögliche Sprachen" zu lernen, d. h. solche, die dem angeborenen menschlichen Sprachvermögen nicht entsprechen. Die letzte Frage ist bislang nicht empirisch überprüft worden. Zur Ersten gibt es hingegen eine ganze Reihe von Untersuchungen; sie gelten durchweg sehr fortgeschrittenen Lernern, die ihre Kenntnisse im Unterricht erworben haben, so dass man hier sicher nicht das freie Wirken der natürlichen menschlichen Sprachverarbeitung misst. Die Ergebnisse sind kontrovers. Was gezeigt werden konnte, ist das Weiterwirken bestimmter struktureller Eigenschaften der Ausgangssprache, also etwa Auslassbarkeit und Nichtauslassbarkeit des Subjektpronomens; dies ist aber auch durch einfachen Transfer zu erklären (wie man ihn in diesem Modell bei der „Peripherie" erwartet) und belegt nicht unbedingt ein „Neusetzen" eines ganzen Parameters, in dem ja viele solcher struktureller Erscheinungen gebündelt sind. 4.4. Lernervarietäten Allen bisher diskutierten Theorien ist eigen, dass sie den Erwerbsprozess vorrangig unter dem Gesichtspunkt des verpassten Ziels betrachten: es gibt einen Standard, den der Lerner erreicht haben sollte — nämlich die Zielsprache —, und man bemisst den Erwerb daran, wo und warum er dieses Ziel (noch) verfehlt. Unter normativen Aspekten ist dies eine höchst verständliche Betrachtungsweise, und ein Lehrer ist gut beraten, sie einzunehmen. Sie hat auch den nicht zu unterschätzenden Vorzug der methodischen Einfachheit: man ermittelt einfach die „Fehler" des Lerners, d. h. seine Abweichungen vom Ziel, und versucht, ihr Zustandekommen zu erklären. Dies erklärt den erstaunlichen Erfolg der „Fehleranalyse" (Corder 1981) bei der Erforschung des gesteuerten Zweitspracherwerbs. Es ist aber wenig wahrscheinlich, dass man auf diese Weise versteht, was im Erwerbsprozess eigentlich abläuft: dies wird davon bestimmt, wie der Lerner gewisse Fertigkeiten aus bestimmten Gründen auf einen bestimmten Input anwendet. Wenn man die immanente Gesetzlichkeit dieses Prozesses verstehen will, muss man den Lerner selbst in den Mittelpunkt rücken. Der Gedanke, dass die Äußerungen eines Lerners zu irgendeinem Zeitpunkt nicht nur schlechte Nachahmungen sind, sondern ihre eigene Systematik aufweisen, ist erstmals Anfang der Siebzigerjahre
615 unter Schlagwörtern wie „interlanguage", „approximate systems", „interim systems" und ähnlichen aufgekommen. Diese zunächst noch sehr vagen Vorstellungen sind in der Folge in einer Reihe von empirischen Projekten konkretisiert worden. Heute spricht man meist von „Lernervarietäten", und die meisten Untersuchungen zum Zweitspracherwerb außerhalb des Unterrichts folgen dieser Betrachtungsweise (Meisel u. a. 1981; Perdue 1983; Klein und Perdue 1992; Dietrich; Klein; Noyau 1995). Man kann die Grundgedanken in drei Punkten zusammenfassen: A. Im Verlauf des Erwerbsprozesses durchläuft der Lerner eine Reihe von Lernervarietäten. Sowohl die interne Organisation einer jeden solchen Varietät zu einem gegebenen Zeitpunkt wie auch der Übergang von einer Varietät zur Folgenden sind durch eine inhärente Systematik gekennzeichnet: eine Lernervarietät ist also ein eigenständiges, mit den angrenzenden Varietäten verwandtes sprachliches System. B. Es gibt eine beschränkte Anzahl von Organisationsprinzipien, die sich in allen Lernervarietäten finden. Die Struktur einer bestimmten Äußerung in einer Lernervarietät ergibt sich aus dem Zusammenwirken dieser Organisationsprinzipien. Ihr Zusammenspiel variiert in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren, beispielsweise der Ausgangssprache des Lerners, der fortlaufenden Inputanalyse und anderen. Wenn der Lerner beispielsweise dem Input ein neues Element der Nominalmorphologie „entrissen" hat, so mag dies das Gewicht der verschiedenen anderen Möglichkeiten, ein nominales Argument zu markieren, ändern. Ein neues Morphem, eine neue Konstruktion zu lernen, heißt bei dieser Betrachtungsweise nicht, dass es dem Lerner gelungen ist, einen weiteren Stein in das Puzzle „Zielsprache" einzufügen, das er zusammenlegen muss. Vielmehr führt es zu einer oft minimalen, bisweilen aber auch substantiellen Umorganisation der gesamten Varietät; dabei gleicht sich die Balance der einzelnen Faktoren allmählich jener an, die für die Zielvarietät charakteristisch ist. C. Lernervarietäten sind nicht unvollkommene Nachahmungen einer „eigentlichen Sprache" — nämlich der Zielsprache —, sondern eigenständige, in sich fehlerfreie Systeme, die sich durch ein besonderes lexikalisches Repertoire und besondere morphosyntaktische Regularitäten auszeichnen. Voll entwickelte Sprachen wie Deutsch, Englisch, La-
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VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte
tein sind einfach Grenzfälle von Lernervarietäten. Sie repräsentieren einen relativ stabilen Zustand des Spracherwerbs - jenen Zustand, zu dem der Lerner mit seinem Erwerbsprozess aufhört, weil es zwischen seiner Varietät und der Sprache seiner jeweiligen sozialen Umgebung keinen wahrnehmbaren Unterschied mehr gibt. In dieser Betrachtungsweise sind alle Lernervarietäten, und darunter als Grenzfall auch die „eigentlichen" Sprachen, Manifestationen der menschlichen Sprachfähigkeit. Wenn man das Wesen dieser Fähigkeit verstehen will und ebendies ist das Ziel der Linguistik - , dann empfiehlt es sich, nicht unbedingt mit den kompliziertesten Fällen, eben den voll ausgebildeten Sprachen, zu beginnen und von diesen auf die elementareren Manifestationen der menschlichen Sprachfahigkeit zurückzublicken. Die Spracherwerbsforschung ist keine Anwendung linguistischer oder psychologischer Einsichten und Begrifflichkeiten auf einen Randbereich - sie ist ein genuiner Beitrag zur Erforschung der menschlichen Sprachfähigkeit. 5.
Abschließende Bemerkung
Die beiden heute vorherrschenden Paradigmen nehmen viele Züge der älteren Theoriedebatte auf, beispielsweise die Idee der Pidginisierung (Schumann 1978) in der Vorstellung, dass Pidgins bestimmte elementare Lernervarietäten sind, oder die Rolle der Kontrastivität in der Vorstellung, dass Parameter neugesetzt werden müssen. Sie sind in vielen Punkten gegensätzlich, aber nicht in jeder Hinsicht unvereinbar (Eubank 1991). So bewegen sich die Untersuchungen von Meisel und Mitarbeitern zu Erst- und Zweitspracherwerb im generativen Paradigma, aber sie versuchen die Entwicklung verschiedener Varietäten über einen längeren Zeitraum nach ihrer internen Dynamik zu rekonstruieren und zeigen insofern viele Berührungspunkte mit dem Lernervarietäten-Ansatz. Umgekehrt haben Klein und Perdue (1997) gezeigt, dass sich ihre Befunde über die „Grundvarietät" und ihren weiteren Ausbau im Sinne des Minimalismus, der jüngsten Variante der generativen Grammatik, deuten lassen. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass es in der Zukunft zu einer Konvergenz dieser beiden Richtungen und damit zu einer geschlossenen, einheitlichen Theorie des Spracherwerbs kommen wird.
6.
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62. Deutsch als Fremdsprache — Deutsch als Zweitsprache 1. 2. 3. 4.
1.
Anmerkungen zur Geschichte und zur Benennung des Faches Differenzierungen zwischen D a F und DaZ — Konsequenzen für die Forschung Die Rolle der Muttersprache bei der Sozialisation ausländischer Kinder Literatur in Auswahl
Anmerkungen zur Geschichte und zur Benennung des Faches
Die wissenschaftliche Etablierung des Faches Deutsch als Fremdsprache (DaF) wird heute mit der Diskussion um die Einrichtung des Heidelberger MA-Studiengangs „Deutsch als Fremdsprachenphilologie" gleichgesetzt (vgl. Henrici/Koreik 1994,3). Vorher existierte DaF an den Hochschulen vor allem als Sprachkursangebot für Deutschlernende an den Universitäten in den „Lehrgebieten" DaF, die teilweise an die Akademischen Auslandsämter, teilweise an die Germanistik angegliedert waren. Daneben bestanden in der BRD Organisationen wie das Goethe-Institut und der Deutsche Akademische Austauschdienst, in der DDR das Herder-Institut, die sich um die Entwicklung von Sprachlehrund -lernmaterialien kümmerten, deren Tätigkeit aber in erster Linie auf eine Sprachverbreitungspolitik des Deutschen im Ausland gerichtet war (vgl. Art. 1; vgl. Ammon 1991, 524ff.). Das Fach DaF hat, wenn man der Geschichte des Sprachunterrichts nachgeht, durchaus auch Traditionen, die bisher wenig aufgearbeitet sind (vgl. Glück 1989). Denn Deutsch wurde auch vor dem Weltkrieg II gelehrt und gelernt, wobei expansionistische und kolonialistische Tendenzen zur Verbreitung der deutschen Sprache und Kultur eine Rolle spielten. Ammon (1991, 529ff.)
belegt, dass bereits im deutschen Kaiserreich eine aktive Sprachverbreitungspolitik für das Deutsche stattgefunden hat, die insb. über das deutsche Auslandsschulwesen gefördert wurde. Die staatliche Politik wurde dabei seit Ende des 19. Jhs. durch private Initiativen unterstützt, wobei insb. der 1881 gegründete Allgemeine deutsche Schulverein zu nennen ist, der 1901 in Verein zur Pflege des Deutschtums im Ausland (VDA) umbenannt wurde und der neben den staatlichen Kulturvertretungen der Bundesrepublik Deutschland auch heute noch eine aktive Rolle bei der Vertretung der deutschen Sprache und Kultur im Ausland spielt. (Sprach- und kulturpolitische Maßnahmen im Ausland werden auch noch in jüngster Zeit ζ. T. in Zusammenarbeit mit dem VDA abgewickelt.) Die Sprachverbreitungspolitik des deutschen Kaiserreichs wurde in der Zeit des Nationalsozialismus fortgesetzt und ist auch in der auswärtigen Kulturpolitik nach 1945 eine Konstante geblieben. Der finanzielle Aufwand zur Verbreitung des Deutschen im Ausland stieg nach dem Weltkrieg II in der Bundesrepublik Deutschland kontinuierlich an, so dass der Druck, der gewünschten außenpolitischen Bedeutung des Deutschen auch ein akademisches Fach DaF an die Seite zu stellen, wuchs. Diese Motivierung zur Einrichtung des Faches wird von Harald Weinrich anlässlich der Jahrestagung DaF in Bonn 1977 deutlich ausgesprochen: „Jeder weiß, dass eine Menge von Personen, die nur nach Millionen zu zählen ist, die deutsche Sprache als Fremdsprache und im Medium dieser Sprache manches andere von Deutschland lernt. (...) Wenn soviel Deutsch als Fremdsprache und generell soviel Deutsches als Fremdes in der Welt gelehrt
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VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte
wird, dann muss dieser spezifische Vermittlungsprozess selber zum Gegenstand der Lehre und folglich auch der Forschung gemacht werden." (Weinrich 1978, 77) Schon damals werden unterschiedliche Zielsetzungen innerhalb des Faches DaF deutlich. Während es Hauptanliegen des Heidelberger MA-Studiengangs war, ausländische Germanisten durch ein spezielles Studienangebot für ihre Tätigkeit als Dozenten des Deutschen bzw. der germanistischen Literatur- oder Sprachwissenschaft an ihren Heimatuniversitäten zu qualifizieren, legte der durch Weinrich begründete Münchner Studiengang den Schwerpunkt auf die Ausbildung deutscher Dozenten, die als Vertreter der deutschen Sprache und Kultur ins Ausland entsandt werden können. Damit sind zwei komplementäre Richtungen des Faches Deutsch als Fremdsprache charakterisiert, die ihre Legitimation bis heute aus den Zielen der deutschen Sprachverbreitungspolitik als Teil der auswärtigen Kulturpolitik erhalten. Da das Studium der traditionellen Germanistik an deutschen Universitäten nicht die Inhalte bereithält, die aus der Perspektive eines Faches DaF notwendig erscheinen, bedurfte es einer eigenen Konturierung des Faches. Inhalte, die bei der Diskussion über die Etablierung des Faches von Weinrich genannt wurden, waren 1. Kontrastive Linguistik, 2. Sprachnormenforschung, 3. Sprachlehrforschung, 4. Fachsprachenforschung, 5. Gastarbeiterlinguistik, 6. Deutsche Literatur als fremde Literatur, 7. Deutsche Landeskunde. - Interessant erscheint rückblickend, dass Weinrich sowohl die Sprachlehrforschung als auch Deutsch als Zweitsprache (DaZ) in der Benennung ,Gastarbeiter-Linguistik' als Teilbereiche des Faches DaF ansieht. Gerade diese beiden Punkte werden von Krumm (1978) ganz anders verortet, indem er das Deutsche als Fremdsprache der Sprachlehrforschung zuordnet, deren Gegenstandsbereich der fremdsprachliche Lehr- und Lernprozess selbst ist. Alle Formen des Lehrens und Lernens des Deutschen als Nicht-Muttersprache fallen nach dieser Bestimmung in den Bereich der Sprachlehrforschung. Die Teildisziplin DaF schließt für Krumm den „Deutschunterricht mit ausländischen Arbeitern" und mit „Kindern von Ausländern", also DaZ, explizit ein. Die spezifischen Adressaten, die Lernvoraussetzungen, die Lernbedingungen und die Lernsituation bringen Krumm dazu, „zwischen einem Deutschunterricht im Ausland und dem Deutsch-
unterricht an Ausländer im Inland", also DaF und DaZ zu unterscheiden, ohne dass er den Begriff DaZ verwenden würde (Krumm 1978). Diese Positionsbestimmung des Faches DaF hat sich weitgehend erhalten. Sie findet sich mit kleinen Akzentverschiebungen auch bei Henrici wieder, der 1986 ein Studienbuch für das „Fach Deutsch als Fremdund Zweitsprache" publiziert, später aber (Henrici 1992; Henrici; Koreik 1994) beide Teilbereiche wieder unter der gemeinsamen Etikette DaF zusammenfasst. Das Zentrum von DaF bildet dabei für Henrici „die Fremdsprachendidaktik, verstanden als Wissenschaft, die das Lehren und Lernen fremder Sprachen theoretisch-empirisch erforscht, praktisch erprobt und lehrt" (Henrici 1992, 273). Auch Glück (1991) unterscheidet zwischen DaF und DaZ, wobei er als Grundlage beider die Linguistik, und nicht die Sprachlehrforschung sieht. Die Konzeption des Faches DaF, wie sie von Weinrich (1978) vertreten wurde, stieß bei den Vertretern der „Gastarbeiter-Linie" des Faches auf Kritik. So kritisiert Reich (1980) in seinem Aufsatz „Deutschlehrer von Gastarbeiterkindern", dass die Lehrerausbildung für Kinder von Gastarbeitern in Deutschland als eine der wichtigsten Aufgaben des Faches DaF von Weinrich nicht ausreichend berücksichtigt werde. Reich (1980) gibt einen Überblick über den damaligen Stand der Ausbildungsmaßnahmen für Kinder ausländischer Herkunft. Reich verwendet den Begriff DaF im übrigen auch dann, wenn er sich ausschließlich auf den Unterricht mit ausländischen Kindern bezieht (vgl. Reich 1982a; b). Bereits die seinerzeit geführte Diskussion macht deutlich, dass die inhaltliche Gestaltung des Faches DaF stark davon abhängt, welcher gesellschaftliche Bedarf als Grundlage für den Lehr- und Forschungsbetrieb ins Auge gefasst wird. Der genannte Überblick von Reich (1980) zeigt auch, dass das Engagement für die Lehrerausbildung für ausländische Kinder vornehmlich von Vertretern in den Hochschulen gefordert wurde, die der Pädagogik (,Ausländerpädagogik') zuzurechnen sind. Die Heterogenität des Faches DaF speist sich damit aus den verschiedenen Entwicklungslinien des Faches und entsprechenden organisatorischen Einheiten, die sich den unterschiedlichen Aufgaben annehmen, als da sind (vgl. Art. 5): 1. die Aufgabe, ausländischen Studierenden deutsche Sprachkenntnisse zu vermitteln, die
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62. Deutsch als Fremdsprache — Deutsch als Zweitsprache
nach Ablegen einer entsprechenden Sprachprüfung zur Aufnahme des Studiums an einer deutschen Hochschule berechtigen; 2. die Aufgabe, ausländische Germanisten aus deutschen Hochschulen adressatengerecht auszubilden; 3. die Aufgabe, deutsche Germanisten für den Unterricht des Deutschen als Fremdsprache im Ausland vorzubereiten; 4. die Aufgabe, deutsche Germanisten und Deutschlehrer für den schulischen Unterricht mit ausländischen Kindern bzw. mit Kindern nicht-deutscher Muttersprache sowie auf den Sprachunterricht mit erwachsenen Ausländern bzw. mit Erwachsenen nicht-deutscher Muttersprache in Institutionen der Erwachsenenbildung vorzubereiten. Eine besondere Stellung zum Fach DaF nimmt die von Alois Wierlacher (Bayreuth) ins Leben gerufene ,Interkulturelle Germanistik' ein (vgl. Wierlacher 1987). Zwar könnte man die ,Interkulturelle Germanistik' dem Fach DaF im Sinne einer Literaturvermittlung im interkulturellen Kontext zurechnen, Wierlacher grenzt sich jedoch explizit vom Fach DaF ab und möchte die , Inter kulturelle Germanistik' als eigenes ,Fach' begründen. Die von Wierlacher vorgestellten Konzeptionen fügen sich in der Tat schlecht mit den Vorstellungen von interkulturellem Lernen zusammen, wie sie sonst im Fach DaF und DaZ vertreten werden. Die ,Interkulturelle Germanistik' wird deshalb im folgenden nicht weiter berücksichtigt. (Zur Kritik an der ,Interkulturellen Germanistik' vgl. Zimmermann 1989; Henrici 1990). Wissenschaftler, die sich seit den 70er Jahren der oben unter Punkt (4) genannten Aufgabe zuwandten, verwendeten zur Abgrenzung von den tradtionellen Aufgaben des Faches Deutsch als Fremdsprache den Begriff Deutsch als Zweitsprache. Bereits 1974 erscheint eine Monographie von G. Mahler mit dem Titel „Zweitsprache Deutsch—Die Schulbildung der Kinder ausländischer Arbeitnehmer", Meyer-Ingwersen u. a. (1977) sprechen in ihrer Monographie „Zur Sprachentwicklung türkischer Schüler in der Bundesrepublik Deutschland" von der „Didaktik des Deutschen als Zweitsprache". Seitdem ist der Begriff in der wissenschaftlichen Diskussion des Faches fest etabliert. Ende der 70er Jahre taucht der Begriff „Deutsch als Zielsprache" auf; er wurde kreiert, um den Spracherwerb der Spätaussiedler benennen zu können, ohne sprachpolitische Empfindlichkeiten an-
zurühren. Denn für die Aussiedler als deutsche Staatsangehörige sollte die verlorengegangene , Muttersprache' Deutsch weder ,Fremdsprache' sein, noch als ,Zweitsprache' bezeichnet werden wie bei den Arbeitsmigranten (vgl. Kultusminister des Landes NRW 1978; Ministerium für Kultus und Sport Baden-Württemberg 1989; Lewandowski 1992). Eine generelle terminologische Unterscheidung zwischen Zweit- und Zielsprache hat sich allerdings nicht durchgesetzt. Forschungsaktivitäten im Bereich DaZ sind, wie die obige Diskussion um die Abgrenzung von DaF und DaZ zeigt, teilweise auch im Fach Pädagogik angesiedelt. Nachdem sich in den 70er Jahren zunächst das Fach „Ausländerpädagogik" herausgebildet hatte (vgl. Boos-Nünning 1992; Boos-Nünning u. a. 1984), setzt sich in den 80er Jahren zunehmend der Begriff „Interkulturelle Erziehung" durch. Auch hier werden Fragestellungen des DaZ erörtert (vgl. Boos-Nünning 1992; Nieke 1992; vgl. auch die von A. J. Tumat seit 1984 im Schneider-Verlag, Baltmannsweiler, herausgegebene Reihe „Interkulturelle Erziehung in Praxis und Theorie"). 2.
Differenzierungen zwischen Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache Konsequenzen in der Forschung
Auch wenn Sprachlehrforschung und Fremdsprachendidaktik ein gemeinsames Dach für die Richtungen DaF und DaZ bilden, gibt es doch Unterschiede, welche die Inhalte der beiden Ausrichtungen wesentlich bestimmen. 1. Die Spracherwerbssituation: DaF-Lerner im Ausland, aber auch ausländische Studienbewerber, die nach Deutschland kommen, erlernen das Deutsche überwiegend gesteuert. Dagegen dominieren bei den Arbeitsmigranten und ihren Kindern die ungesteuerten Erwerbssituationen. - Verschiedene sozialpsychologische Faktoren, unter denen der Sprachkontakt mit Deutschen, Bindungen an das Aufnahmeland und Zukunftspläne die wichtigsten darstellen (vgl. Clahsen u. a. 1983), beeinflussen Spracherwerb und Sprachkompetenz der Zweitsprachenlerner. 2. Die Schichtzugehörigkeit: Die DaF-Lerner gehören meist der Mittel- und Oberschicht der Herkunftsländer an; sie haben eine abgeschlossene Schulbildung, haben auf
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VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte
der Schule bereits eine Fremdsprache gelernt und sind von ihrer Sozialisation her auf ein Studium im Ausland vorbereitet. - Die DaZLerner stammen in der Regel aus den unteren sozialen Schichten der Herkunftsländer, viele erwachsene Lerner sind im Herkunftsland nur einige Jahre zur Schule gegangen, manche sind Analphabeten. - Die beiden Gruppen sind deshalb nicht nur in ihrem Bildungsniveau, sondern auch in ihren Lerngewohnheiten sehr unterschiedlich. 3. Die sprachliche Sozialisation: Auf Grund der Sozialisationsbedingungen im Aufnahmeland verfügen die Kinder der Arbeitsmigranten z. T. weder über altersgemäße Kenntnisse in ihrer Herkunftssprache, noch in der Zweitsprache Deutsch. Während im Unterricht DaF altersgemäße Muttersprachenkenntnisse vorausgesetzt werden und ggf. darauf zurückgegriffen werden kann, müssen im Unterricht DaZ mit ausländischen Kindern besondere Maßnahmen ergriffen werden, um muttersprachliche und zweitsprachliche Entwicklung aufeinander zu beziehen. Diese unterschiedlichen Voraussetzungen der Adressaten von DaF und DaZ spiegeln sich auch in den Forschungsaktivitäten in beiden Teilbereichen wider. Die Forschung wurde dabei besonders durch den von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Jahr 1973 gebildeten und bis 1981 geförderten Schwerpunkt „Sprachlehrforschung" stimuliert. Die im Schwerpunkt geförderten Projekte sollen wegen ihrer charakteristischen Fragestellungen in der Forschung der Bereiche DaF und DaZ kurz vorgestellt werden. Im Bereich DaF wurden zwei Projekte gefördert, die beide im Goethe-Institut angesiedelt waren: 1. Im Projekt „Entwicklung von Lern- und Lehrverfahren sowie von Lern- und Lehrmaterialien zur gesprochenen Sprache von DaFLehrerstudenten" sollte die Deutschlehrerausbildung für die Sek. I an den Pädagogischen Hochschulen der Niederlande verbessert werden. Zu diesem Zweck wurde ein Katalog adressatenspezifischer Themen, Situationen und sog. Konfliktsituationen erstellt. Durch eine reflektierte Entwicklung der Sprechfertigkeit sollte zugleich eine Lehrkompetenz bei ausländischen DaF-Studenten aufgebaut werden. Die für die Niederlande entwickelten Vorschläge sollten Modellcharakter für den DaF-Unterricht im Ausland haben (Koordinierungsgremium 1983, 139). Die im Projekt geleisteten Arbeiten können
in gewisser Weise als Ergänzung der Arbeiten gelten, die zur Erarbeitung der Themen- und Situationslisten des Zertifikats Deutsch als Fremdsprache (vgl. Das Zertifikat Deutsch als Fremdsprache 1972; Hüllen u.a. (Hg.) 1977) führten. 2. Im Projekt „Lehrschwierigkeiten im Fach ,Deutsch als Fremdsprache' " wurden im Rahmen einer Fragebogenaktion bei DaF-Lehrern an Goethe-Instituten im In- und Ausland entsprechende Daten erhoben (Götze u.a. 1979). Als wichtigste Ergebnisse hielten die Autoren fest, dass interlinguale Fehlerursachen im DaF-Unterricht überschätzt würden und dass die Kenntnis der Regeln und der Gebrauchsnormen der deutschen Sprache unter den Lehrern des Goethe-Instituts nicht ausreichend sei. Die Autoren fordern die Durchführung von Lehrerfortbildungen (Koordinierungsgremium 1983, 159 ff.). Drei Projekte bezogen sich auf Fragestellungen von DaZ: 1. An der Universität Essen wurde der Bilingualismus türkischer und griechischer Kinder untersucht. Das Projekt schloss methodisch zunächst an die Untersuchung der sprachlichen Fähigkeiten jugoslawischer Schüler (Stölting u.a. 1980) an. Der Schwerpunkt der Projekte lag auf der Alphabetisierung in der Zweitsprache Deutsch und der Förderung des Wortschatzerwerbs. Um die Alphabetisierung zu verbessern, wurden die typischen Schreibfehler der Kinder dokumentiert und analysiert. Zur Vermittlung des Wortschatzes wurde der Wortschatz der Lehrbücher und der Wortschatz, der von den Lehrern im Klassengespräch verwendet wurde, analysiert (vgl. Koordinierungsgremium 1983, 97—101; Meyer-Ingwersen u.a. 1977). Der größte Teil der Kinder waren damals sog. Seiteneinsteiger, d.h. Kinder, die bereits im Herkunftsland in der Muttersprache beschult waren. Es ergab sich deshalb aus Sicht der Projekte schon bald die Forderung, Fortbildungsprogramme für deutsche Lehrer von Ausländerkindern zu entwickeln, wobei Kenntnisse in der Herkunftssprache der Migrantenkinder, insb. in der Herkunftssprache Türkisch, gefordert wurden. So entstanden adressatenspezifische Lehrerfortbildungsmaterialien und Herkunftssprachenkurse (vgl. z.B. Meyer-Ingwersen; Neumann 1982; Benholz u.a. 1987; Lehrerfortbildung NRW 1982ff.; vgl. auch bibliografische Hinweise zur Lehrerfortbildung bei Boos-Nünning (Hg.) 1990).
62. Deutsch als Fremdsprache — Deutsch als Zweitsprache
2. Die Frage, unter welchen Bedingungen ausländische Arbeitnehmer Deutsch lernen und welche Mitteilungsbedürfnisse zwischen ausländischen und deutschen Arbeitern bestehen, untersuchten Barkowski u. a. in dem Projekt „Theorie und Praxis des Fremdsprachenerwerbs - Deutsch für ausländische Arbeiter" (vgl. Koordinierungsgremium 1983, 130). Auf der Grundlage eines Korpus von ca. 150 Stunden Unterrichtsmitschnitten entwickelten sie Ansätze einer pädagogischen Grammatik für den Unterricht mit ausländischen Arbeitnehmern (vgl. Barkowski u.a. 1980a). Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang, dass es in dem Projekt nicht gelang, Aussagen darüber zu machen, ob durch einen veränderten Unterricht die Lücke zwischen der Lernsituation im Klassenraum und der „Anwendung des Gelernten außerhalb der Unterrichtssituation" verringert werden konnte (Koordinierungsgremium 1983, 132). Um Entscheidungshilfen für den Einsatz von geeigneten Lehrwerken für den Unterricht mit ausländischen Arbeitern bereitzustellen, wurden in dem Projekt Beurteilungskriterien entwickelt und auf dieser Grundlage ein Gutachten zu ausgewählten Lehrwerken publiziert (Barkowski u.a. 1980b). Die von den Autoren im Unterschied zur Beurteilung von Lehrwerken für DaF (vgl. Engel u.a. 1977; 1979) für die spezifische Adressatengruppe herausgearbeiteten Kriterien waren: 1. Darstellung und Verarbeitung des Kulturund Identitätskonflikts, 2. Angemessenheit der sprachlichen Handlungen und des Informationsmaterials an die Alltagswirklichkeit des ausländischen Arbeiters, 3. Umgangssprachlichkeit und Orientierung an den Verbalisierungsbedürfnissen der Lernenden, 4. Berücksichtigung und Verarbeitung der spezifischen Spracherwerbsbedingungen der ausländischen Arbeiter, 5. Angemessenheit der Lehrmethode an die Lernerfahrungen erwachsener Lerner, 6. Künstlerisch-ästhetische Verarbeitung der Sprachlernsituation, 7. Kurs- und lernorganisatorische Rahmenbedingungen des Lehrwerks (Barkowski u. a. 1980b) (vgl. auch XIV). - Das Projekt war eng mit der Arbeit des 1974 auf Initiative des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung und der Bundesanstalt für Arbeit gegründeten „Sprachverbands Deutsch für ausländische Arbeitnehmer e.V." verknüpft. So werden z.B. für die
621 Deutschkurse des Sprachverbandes bis heute nur Lehrwerke zugelassen, wenn sie auf der Kriterienliste, die vom Sprachverband weiterentwickelt wurde (vgl. Paleit 1990; Paleit 1997), positiv beurteilt wurden.
3. Das dritte große Projekt im Bereich DaZ, das im DGF Schwerpunkt „Sprachlehrforschung" gefördert wurde, war das Heidelberger Projekt „Pidgin-Deutsch" (Koordinierungsgremium 1983, 140ff.; Heidelberger Forschungsprojekt 1976; Klein 1984). In diesem Projekt wurden mit teilnehmender Beobachtung und linguistischen Interviews von 48 erwachsenen Ausländern Sprachdaten und Sozialdaten erhoben. Obwohl die Zielstellung des Projekts auf praktische Anwendung im Unterricht DaZ ausgerichtet war - es sollte das Erlernen des Deutschen durch ausländische Arbeiter untersucht und auf dieser Grundlage Vorschläge für die Verbesserung des Unterrichts gemacht werden - , haben die Ergebnisse in dieser Hinsicht nur wenig praktische Bedeutung erlangt. Die Bedeutung ist eher darin zu sehen, dass die Diskussion um Spracherwerbssequenzen und die soziolinguistischen Faktoren, die Spracherwerb beeinflussen, durch dieses Projekt in das Fach DaZ hineingetragen wurden. Auf den Erfahrungen des Heidelberger Projekts aufbauend konnten im Wuppertaler ZISA-Projekt Spracherwerbssequenzen herausgearbeitet werden, die bei der Erstellung von Lehr- und Lernmaterial heute beachtet werden (vgl. Clahsen u. a. 1983) (vgl. auch IX). Vergleicht man die Projekte in den beiden Teilbereichen DaF und DaZ, so lässt sich folgendes feststellen: Die Projekte im Bereich DaF haben - entsprechend den Interessen des Goethe-Instituts - eher universellen Charakter, d. h. es wird eine Übertragbarkeit auf das Lernen von DaF im globalen Maßstab angestrebt. Die DaZ-Projekte unterscheiden dagegen deutlich zwischen Kindern und Erwachsenen und berücksichtigen sozialpsychologische Faktoren sowie die Herkunftssprache und -kultur in ihren Analysen in starkem Maße. Die genannten Projekte im Bereich DaZ haben der Forschung wichtige Impulse gegeben, die bis in die heutige Zeit nachwirken (vgl. Kutsch/Desgranges 1985; Antos 1988). Ein Überblick über die wichtigsten Arbeiten im Bereich DaZ bis 1984 lässt sich mit der Bibliografie von Boos-Nünning (1990) gewinnen. Verursacht durch den Zuzug von Spätaussiedlern aus Polen Ende der 70er Jahre und
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VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte
aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion seit Ende der 80er Jahre wendet sich die Forschung im Bereich DaZ Fragestellungen der sprachlichen Integration dieser neuen Migrantengruppen zu. Eine Übersicht über diesbezügliche Forschungsprojekte wurde in Heft 1, 1995 der Zeitschrift Deutsch lernen gegeben. (Vgl. Baur u. a. 1999). Die Wirkung der im DFG-Schwerpunkt „Sprachlehrforschung" geförderten DaFProjekte auf die Entwicklung des Faches ist weniger deutlich auszumachen. Im Bereich DaF ist insgesamt ein sehr breites und heterogenes Forschungsspektrum vertreten. Versuche, die Vielfältigkeit der Forschungen und Methoden zu ordnen und wertvolle bibliographische Hinweise finden sich bei Henrici (1986); Glück (1991); Henrici/Koreik (1994); Rosier (1994) und Dittmar/Rost-Roth (1995). 3.
Die Rolle der Muttersprache bei der Sozialisation ausländischer Kinder
In den Untersuchungen zur Sprachentwicklung der Kinder ausländischer Arbeitnehmer war schon früh auf das Problem der Zweisprachigkeit und auf die Notwendigkeit der Förderung der Muttersprache aufmerksam gemacht worden (vgl. Meyer-Ingwersen u. a. 1977; Stölting u.a. 1980). Auffallend ist, dass der wichtigste Faktor, durch den sich die Migrantenkinder am deutlichsten von den monolingualen Kindern unterscheiden, nämlich die Muttersprache, nur selten in wissenschaftliche Untersuchungen zur sprachlichen Sozialisation der Ausländerkinder eingeschlossen wurde. Mit Ausnahme der Arbeit von Stölting u. a. (1980) gibt es bis in die 80er Jahre keine größere und systematische Untersuchung in der Bundesrepublik Deutschland, die die sprachliche Entwicklung in der Erstsprache bzw. Muttersprache und der Zweitsprache zueinander in Beziehung setzen würde. Dies ist um so erstaunlicher, als in der Diskussion um eine angemessene Sozialisation von Migrantenkindern das Verhältnis von muttersprachlicher und zweitsprachlicher Entwicklung eines der Kernthemen ist, das auch weitreichende unterrichtsorganisatorische Folgen hat. Die entscheidenden Fragen sind: 1. Welche Rolle spielt die Muttersprache für die Sozialisation eines Individuums, das in einer zweiten Sprache und Kultur eine den Mo-
nolingualen vergleichbare Handlungskompetenz erreichen soll? 2. Wie wird muttersprachliches und zweitsprachliches Lernen curricular umgesetzt? Dabei ist offensichtlich, dass die curriculare Organisation eigentlich in Abhängigkeit von der Antwort auf die erste, entwicklungspsychologische Frage vorgenommen werden müsste. Dies ist jedoch in der bildungspolitischen Realität selten der Fall - politische Zielsetzungen dominieren die organisatorischen Maßnahmen, ohne auf Erkenntnisse aus der Bilingualismusforschung (vgl. Art. 63) Rücksicht zu nehmen. Die Diskussion um den muttersprachlichen Unterricht für Ausländerkinder in der Bundesrepublik zeigt, dass es insb. darum geht, welche Bedeutung man der sog. Interdependenzhypothese zuweist. Die insb. von Cummins (1979; 1984) in zahlreichen Publikationen bekannt gemachte Interdependenzhypothese besagt, dass sich die kognitive Entwicklung des Individuums auf der Basis der Muttersprache vollzieht und dass die Muttersprache unter zweisprachigen Sozialisationsbedingungen bis zu einem gewissen Niveau vorrangig vor der Zweitsprache gefördert werden muss (erstes Schwellenniveau), wenn negative Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung vermieden werden sollen. Wenn sich die Muttersprache voll entwickeln kann, und auch Lese- und Schreibfertigkeiten in der Muttersprache ausgebildet werden (zweites Schwellenniveau), ergeben sich kognitive Vorteile für bilingual sozialisierte Individuen. Ausgangspunkt für die Interdependenzhypothese bildete die UNESCO-Untersuchung von Skutnabb-Kangas/Toukomaa (1976), bei der die Autoren die Sprach- und Schulentwicklung von 351 finnischen Kindern in Schweden untersuchten. Sie stellten fest, dass die Entwicklung in der Zweitsprache (Schwedisch) mit der Kenntnis der Muttersprache (Finnisch) korrelierte: Die Kinder, die eine normale muttersprachliche Entwicklung bis zu einem Durchschnittsalter von 972 Jahren nicht durchlaufen konnten, deren muttersprachliche Kompetenz also im Vergleich zur finnischen Normpopulation mangelhaft ausgebildet war, erreichten auch die schlechtesten Werte der Sprachbeherrschung in der Zweitsprache, und zwar unabhängig von der Aufenthaltsdauer im Aufnahmeland. Mit anderen Worten, die Defizite in der muttersprachlichen Entwicklung schienen sich auf die Entwicklung der Zweit-
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62. Deutsch als Fremdsprache — Deutsch als Zweitsprache
spräche auszuwirken und konnten auch nicht durch den Faktor ,Zeit' kompensiert werden. Den finnischen Kindern, die im Alter um 10 Jahre nach Schweden einwanderten, also das erste Schwellenniveau bereits überschritten hatten, eröffneten sich nach den Daten der Studie die besten Chancen für einen erfolgreichen Zweitsprachenerwerb und damit für das Erreichen normaler Schulleistungen im schwedischen Schulsystem, was den in jüngerem Alter eingewanderten Kindern versagt blieb. Wieder anders verlief die Entwicklung bei den mit 12 Jahren eingewanderten Kindern: Ihre Sprachentwicklung verlief etwas langsamer als die der 10jährigen, erreichte aber ebenfalls das Durchschnittsniveau monolingualer Schweden. SkutnabbKangas/Toukomaa (1976) schließen daraus, dass die sprachliche Entwicklung in der Muttersprache und die allgemeine kognitive Entwicklung in einer Wechselbeziehung zueinander stehen und dass die Muttersprachenentwicklung bis zur Phase des abstrakten Denkens (nach Piaget) durchlaufen sein muss, um eine ungestörte kognitive Entfaltung in allen Bereichen zu gewährleisten. Zu beachten ist bei der Entwicklung in der Zweitsprache, dass es Latenzzeiten von bis zu 6 Jahren geben kann. Skutnabb-Kangas (1981, 84) kritisiert, dass viele Untersuchungen zu kurzatmig angelegt sind, indem sie die Effekte von bestimmten didaktischen Interventionen unmittelbar nachgewiesen sehen wollen. Auf Grund der alarmierenden Daten der Studie setzen sich Skutnabb-Kangas und Cummins seitdem für einen konsequenten muttersprachlichen Unterricht ein (vgl. Toukooma/ Skutnabb-Kangas 1977; Skutnabb-Kangas 1981; Cummins 1984; Skutnabb-Kangas/ Cummins 1988). Unklarheiten in der Interdependenzhypothese diskutiert Noack (1987). Eine ausführliche zusammenfassende Darstellung der Probleme und Chancen bei der bilingualen Entwicklung des Kindes geben Fthenakis u.a. (1985). Unter dem Eindruck der internationalen Forschungslage und den beobachteten Problemen ausländischer Kinder an deutschen Schulen wurden Förderungsmaßnahmen für ausländische Kinder unter besonderer Berücksichtigung der Muttersprache immer nachdrücklicher gefordert. Boos-Nünning u.a. (1983) analysieren europäische Modellversuche zur sprachlichen Integration von Gastarbeiterkindern und machen darauf aufmerksam, dass der muttersprachliche Unterricht verstärkt und verbessert werden muss
und dass Sprachförderungsmaßnahmen als dauerhafte Aufgabe der Aufnahmeländer verstanden werden müssen und sich nicht auf die Zeit der Primarstufe beschränken ließen. Dazu bedürfe es auch einer qualifizierten Lehrerausbildung für Kinder ausländischer Arbeitnehmer. Mit der Veröffentlichung des „Memorandums
zum Muttersprachlichen
Un-
terricht" (1983) durch einen Arbeitskreis, an dem u.a. die Kirchen, Verbände ausländischer Arbeitnehmer, Vertreter der Botschaften der Herkunftsländer und deutsche Linguisten beteiligt waren, erreichte die Diskussion um eine zweisprachige schulische Sozialisation der Migrantenkinder einen Höhepunkt. (Vgl. auch die Dokumentation in BAGIV 1985, wo das Memorandum erneut veröffentlicht wurde.) Das Memorandum folgt unter Berufung auf Wygotski (1934) im Wesentlichen der Interdependenzhypothese und stellt fest, dass die volle Entfaltung der Muttersprache Vorbedingung des Schulerfolgs ausländischer Kinder sei. Die schulische Sozialisation der ausländischen Kinder müsse deshalb konsequent in eine bilinguale und bikulturelle Sozialisation eingebettet werden. Die Autoren schlagen vor, dass ausländische Kinder in sprachhomogenen Klassen zusammengefasst werden sollen und nicht nur muttersprachlicher Unterricht, sondern auch Fachunterricht in den Herkunftssprachen (und nachfolgend der Zweitsprache Deutsch) erteilt wird. Diese Position wird von Götze (1983) und Liebe-Harkort (1983) kritisiert. Götze behauptet, dass man auf Grund der Sozialisationsbedingungen ausländischer Kinder in der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr davon ausgehen dürfe, dass die schulische Sozialisation notwendigerweise in der Muttersprache erfolgen müsse, die Zweitsprache Deutsch würde für die Entwicklung von Sprache und Denken der Migrantenkinder zunehmend an Bedeutung gewinnen. Die soziolinguistischen Bedingungen für die Entstehung von Zweisprachigkeit hält Götze in der deutschen Gesellschaft für nicht gegeben. Er bezweifelt, dass ein bilingualer Unterricht in der Bundesrepublik in absehbarer Zeit überhaupt realisierbar sei. Schließlich hält er es für die Integration für schädlich, die Schüler in bilingualen Unterrichtsphasen von anderen, deutschen und ausländischen, Schülern abzutrennen. Liebe-Harkort sieht, im Gegensatz zu Götze, die Einbeziehung der Muttersprache der Migrantenkinder als eine grundlegende Bedingung an, um eine erfolgreiche
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VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte
Beschulung zu gewährleisten. Die schulisch vermittelte Lesefertigkeit in der Muttersprache hält er für wichtig, damit die schriftlichen Medien des Herkunftslandes zu einer Erweiterung der Weltsicht beitragen können. Gefahren sieht Liebe-Harkort darin, dass das Memorandum zur Segregation ausländischer Schüler missbraucht werden könnte, indem ausländische Kinder in eigenen Klassen zusammengefasst werden und minderwertige Schulabschlüsse erhalten, wie das im „Bayrischen Modell" der Fall sei. (Zur Kritik am Bayrischen Modell vgl. Boos-Nünning 1981; zur Zweisprachigkeit von Migrantenkindern vgl. Graf 1987; eine Übersicht über Beschulungsmodelle in der Bundesrepublik Deutschland geben Thürmann 1992 und Reich/Hienz de Albentiis 1998). Die Diskussion um die Rolle der Muttersprache bei der schulischen Sozialisation ausländischer Kinder wurde zu Beginn der 80er Jahre auf der Basis von Untersuchungen geführt, die nicht in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt worden waren. Es wurden Zweifel geäußert, ob die UNESCOStudie von Skutnabb-Kangas/Toukooma und die Interdependenz-Hypothese in ihrer Aussage verallgemeinerbar waren. Lediglich Stölting (1980) hatte auf der Grundlage von Daten aus den frühen 70er Jahren in seiner Untersuchung bereits auf die Gefahr einer doppelseitigen Halbsprachigkeit' (Semilingualismus) aufmerksam gemacht, wenn die Muttersprache der Migrantenkinder nicht ausreichend gefördert wird. In einem Modellversuch an Berliner Gesamtschulen zeigte sich eine auffallige Parallele zu den schwedischen Untersuchungen: Bei türkischen Kindern, die in der Türkei gute Muttersprachenkenntnisse bis zum Alter von etwa 10 Jahren erworben hatten, verlief die Sprachentwicklung im Deutschen besser als bei den in Deutschland aufgewachsenen Kindern, die häufig Defizite in beiden Sprachen aufwiesen (Steinmüller 1987): Auch Rehbein (1982; 1987) stützt mit qualitativen Analysen die Annahme der Interdependenzhypothese. Er stellt fest, dass die Muttersprache der Migrantenkinder in den Unterrichtsprozess eingeschlossen werden muss. — Eine Studie von Röhr-Sendlmeier (1985) wies scheinbar einen anderen Weg: Ohne Berücksichtigung der Zweisprachigkeit der Kinder untersuchte Röhr-Sendlmeier den Zuwachs von Deutschkenntnissen türkischer Erstklässler in einem Abstand von 9 Monaten und stellte fest, dass die Rinder mit besseren sprachlichen Ein-
gangsvoraussetzungen im Deutschen am Ende des Untersuchungszeitraums weiterhin die besseren Deutschkenntnisse hatten. Aus diesem vorhersehbaren Ergebnis leitet sie die kurzschlüssige Empfehlung ab, dass ausländische Eltern mit ihren Kindern Deutsch sprechen sollten, um deren Bildungschancen im deutschen Schulsystem zu verbessern. RöhrSendlmeier ignorierte damit die Bilingualismusforschung, die langfristige Maßnahmen und Beobachtungen für unabdingbar hält, und leistete den Kräften in der Politik Vorschub, die eine Assimilation der ausländischen Kinder durch Submersion (Verdrängung der Muttersprache durch die Zweitsprache) für richtig halten. Entscheidend ist, welches Spracherwerbsniveau längerfristig erreicht wird. In neueren Untersuchungen von Hepsöyler/Liebe-Harkort (1991) und Baur/Meder (1992) wird die Abhängigkeit der zweitsprachlichen Entwicklung ausländischer Kinder in der Bundesrepublik Deutschland von ihren Kenntnissen in der Muttersprache bestätigt (vgl. auch Müller 1997). Hepsöyler/Liebe-Harkort (1991) untersuchten das Sprachvermögen türkischer Schulanfänger (N = 60) in der Muttersprache und der Zweitsprache Deutsch. Die sprachlichen Daten wurden elizitiert, indem von den Versuchsleitern im Einzelgespräch mit den Schülern dieselbe Bildgeschichte auf Türkisch und auf Deutsch wiedergegeben wurde. Die Interviews wurden transkribiert und in Bezug auf Wortschatz und Grammatik analysiert. Um die Sprachkenntnisse der türkischen Kinder mit monolingualen deutschen Schülern vergleichen zu können, wurden entsprechende Sprachaufnahmen von 15 deutschen Kindern analysiert. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass die Sprachkompetenz im Deutschen nur rudimentär ist und Schulversagen der türkischen Kinder vorhersehbar ist, wenn die Muttersprache bei der schulischen Sozialisation nicht angemessen berücksichtigt wird. Die Muttersprache stelle bei der Mehrheit der türkischen Kindern ein stabiles Fundament für die Ausbildung einer altersgemäßen kognitiven Entwicklung und den Aufbau einer zweisprachigen Erziehung dar. Baur/Meder (1992) überprüften die Interdependenzhypothese, indem sie die schriftlichen Leistungen von 383 jugoslawischen und 372 türkischen Schülern in den Klassenstufen 5 - 1 0 in der Muttersprache und in der Zweitsprache Deutsch mittels eines C-Tests auswerteten. Die Interdependenzhypothese
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62. Deutsch als Fremdsprache — Deutsch als Zweitsprache
konnte dabei eindeutig bestätigt werden, d. h. die statistische Wahrscheinlichkeit, dass ein Schüler mit guten Muttersprachenkenntnissen gute Deutschkenntnisse und mit schlechten Muttersprachenkenntnissen auch schlechte Deutschkenntnisse hat, erwies sich in beiden Sprachgruppen als hochsignifikant. In derselben Untersuchung konnte auch gezeigt werden, dass die Schüler, die mehr Deutsch in ihren Familien sprachen, in den höheren Klassen keine besseren Sprachkenntnisse im Deutschen mehr aufwiesen als die Schüler, die im Elternhaus die Muttersprache verwendeten und daher die Muttersprache auch besser beherrschten. Die Pflege der Muttersprache in den Familien steht nach diesen Ergebnissen dem Erwerb guter Deutschkenntnisse nicht entgegen. Mrazovic/Stölting (1989) kommen in einer Untersuchung zum Wortschatz von (ehemals) jugoslawischen Kindern in der Muttersprache und im Deutschen zu dem Ergebnis, dass der deutsche Wortschatz bei den jugoslawischen Schülern zwar der präferierte sei, dass aber die Muttersprache einen eigenen Wert behielte und weniger subordiniert sei, als dies von den Ergebnissen her vermutet werden könne. Das Deutsche und die Muttersprache verteilen sich nach dieser Untersuchung auf verschiedene Domänen. Das Verhältnis der Sprachen zueinander kann dabei sehr individuell ausgeprägt sein. Die im schulischen Kontext besser erworbene deutsche Sprache bildet teilweise die Basis zum Erwerb mutter sprachlicher Äquivalente. Unterschiede im Niveau der Wortschatz- und Sprachkenntnisse in beiden Sprachen korrelieren in dieser Studie stark mit den Bildungsinteressen des Elternhauses. Aus den bisherigen Untersuchungen im Bereich DaZ lassen sich einige Forschungsdesiderate ableiten: 1. Vertiefte Untersuchungen zur Interdependenz der Entwicklung von Muttersprache und Zweitsprache bei Migranten (einschließlich Aussiedlern), so dass begründete didaktische Konzeptionen auf diesen Erkenntnissen aufbauen können. 2. Erforschung der Lernersprache und der spezifischen Lernschwierigkeiten von Migrantenkindern in fortgeschrittenen Lernstadien - insb. auch in Bezug auf den Anteil interlingualer Transferprozesse in beiden Richungen. 3. Erforschung der Entwicklung und Umsetzung von erfolgreichen Lernstrategien mit
dem Ziel, Lernstrategien auch lehren zu können (vgl. Rampillon/Zimmermann 1997; Nodari 1994). 4. Die Erforschung der Möglichkeiten, wie die sprachliche Integration von Migranten durch die Vermittlung von spezifischen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnissen in der Lehrerausbildung generell und in der Deutschlehrerausbildung im Besonderen verbessert werden kann (vgl. ζ. B. Landesinstitut 1987; Henrici/Riemer 1994). 5. Die Erforschung von Kulturkontakt auf der Ebene sprachlicher Interaktion und auf der Ebene der Sprachrezeption. Hierzu gehört einerseits die Erforschung von kommunikativen Stilen und Kommunikationsstrategien im Deutschen als lingua franca bei der Kommuni-
kation zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen und bei der Kommunikation zwischen Muttersprachlern und Nicht-Muttersprachlern (vgl. Clyne 1994). Auf der anderen Seite bedarf es der Erforschung kulturspezifischer Verarbeitungsmechanismen bei der Rezeption von Texten bei Angehörigen verschiedener Kulturen. Dazu ist auch die Verarbeitung von literarischen Texten im Rahmen von Lehr- und Lernprozessen Aufmerksamkeit zu schenken, wie es im schulischen Kontext als Ansatz interkulturellen Lernens gefordert wird (vgl. ζ. B. Rösch 1993).
4.
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63. Bilingualismus — Mehrsprachigkeit 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Definitionen Formen von Zweisprachigkeit Formen zweitsprachlicher Kompetenz Interdependenz in der Entwicklung Mehrsprachigkeit Literatur in Auswahl
1.
Definitionen
Ab wann kann man sagen, dass jemand zweioder mehrsprachig ist? Wo liegen die Grenzen der Mehrsprachigkeit? Jede Sprache weist bekanntlich zahlreiche Subsysteme auf. Diese Varietäten unterscheiden sich z.B. je nach Region (Dialekte), sozialer Schicht (Soziolekt) und Zeit (Sprache einer Epoche oder Generation). Die Fähigkeit zur Nutzung sprachlicher Varietäten kann auch als „innere Mehrsprachigkeit" (Wandruszka) bezeichnet werden. Da jeder Monolinguale sprachliche Varietäten zu gebrauchen vermag, folgt daraus, dass er - zumindest in Ansätzen — mehrsprachig ist bzw. über ein Potential zur Entwicklung von Mehrsprachigkeit verfügt. Man hat vorgeschlagen, jemanden dann als zweisprachig zu bezeichnen, wenn er eine fremde Sprache so perfekt beherrscht, wie ein Muttersprachler (vgl. Bloomfield 1935, 55f.). Eine solche Definition würde die Menge zweisprachiger Individuen extrem einschränken. Dabei sind die Kriterien aber keineswegs so klar, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mögen. Wann würden wir z.B. sagen, dass jemand Deutsch perfekt spricht? Sollte seine Aussprache von der eines Muttersprachlers ununterscheidbar sein oder wür-
den wir es auch akzeptieren, wenn er mit Akzent spräche? Und weiter: Mit welcher Gruppe von deutschen Muttersprachlern würden wir einen solchen Sprecher vergleichen wollen? Mit Hannoveranern, weil sie angeblich das beste Deutsch sprechen, oder eher mit Bonnern/Berlinern, weil dort die politische Macht zu Hause ist und Sprache „geprägt" wird? Eine Gegenposition lautet: Bilinguale sind Individuen, die in einer fremden Sprache vollständige und sinnvolle Äußerungen produzieren können (vgl. Haugen 1953, 7). Auf Grund dieser Definition wäre die Mehrheit der Weltbevölkerung zwei- oder mehrsprachig. Eine solche minimalistische Definition dürfte genauso unbefriedigend sein wie die oben angeführte maximalistische Position. Die typischen Fälle, denen wir im Alltag begegnen, scheinen irgendwo dazwischen zu liegen. Wir wollen hier deshalb eine vorläufige Definition geben, die unten präzisiert werden soll: Zweisprachigkeit ist die Fähigkeit zum alternierenden Gebrauch zweier Sprachen. Analog dazu lässt sich Mehrsprachigkeit als alternierender Gebrauch mehrerer (d. h. mindestens dreier) Sprachen bestimmen. 2.
Formen von Zweisprachigkeit
Zweisprachige Individuen lassen sich grob in drei (bzw. vier) Gruppen einteilen, in solche, die zwei Sprachen sehr gut beherrschen (Typ 1 : balanciert Bilinguale), solche, die ihre
63. Bilingualismus - Mehrsprachigkeit
zweite Sprache weniger gut beherrschen als ihre Erst- bzw. Muttersprache (Typ 2: Bilingualismus mit Dominanz der Erstsprache), solche, die ihre Zweitsprache besser beherrschen als ihre Erstsprache (Typ 3: Bilingualismus mit Dominanz der Zweitsprache) und schließlich solche, die nur über sehr begrenzte Fertigkeiten in ihrer Zweitsprache verfügen (Typ 4: Semilinguale). 2.1. Balanciert Zweisprachige Zu dieser Gruppe gehören Menschen, die sozusagen über zwei Erstsprachen verfügen. Sie können jederzeit von einer Sprache in die andere wechseln, ohne an Ausdrucksgrenzen zu stoßen. Man nennt sie darum auch balancierte Zweisprachige. Solche Individuen haben in der Regel ihre beiden Sprachen unter günstigen Bedingungen erworben, entweder zu Hause (d. h. Vater und Mutter haben unterschiedliche Erstsprachen gesprochen) oder in ihrer Umgebung, z.B. beim Spielen mit Gleichaltrigen. Wenn zwei Sprachen gleichzeitig (d. h. während der ersten vier Lebensjahre) erworben werden, spricht man auch vom primären Bilingualismus. Allerdings gibt es auch Fälle, wo Lerner sich eine Zweitsprache erst nach ihrem vierten Lebensjahr aneignen und dennoch in der Zweitsprache eine muttersprachähnliche Kompetenz entwickeln, so dass wir auch sie zu den balanciert Zweisprachigen rechnen können. Zu diesen Ausnahmeerscheinungen gehörte ζ. B. Elias Canetti, der erst mit acht Jahren Deutsch als Drittsprache zu lernen begann, oder Adalbert von Chamisso, der sich dem Deutschen erst mit 14 Jahren zuwandte. Bilinguale Schulen oder Eliteschulen (ζ. B. Europaschulen) können die Entwicklung einer hohen Kompetenz in einer Zweitsprache begünstigen. 2.2. Normale Zweisprachige Nicht alle Individuen, die wir auf Grund eines ersten Eindrucks für balanciert zweisprachig halten, sind jedoch in diesem Sinne zweisprachig. Viele entpuppen sich bei einer genaueren Überprüfung als normale Zweisprachige. Solche Personen verfügen über eine dominante Sprache, in der sie sich differenziert auszudrücken vermögen. Die dominante Sprache (auch „Denksprache") wird auch als starke Sprache bezeichnet (vgl. Kielhöfer/Jonekeit 1983, 12f.). Bei den meisten Menschen ist das die Erst- oder Muttersprache. Im Unterschied dazu gilt ihre Zweitsprache als schwache Sprache, weil sie in ihr nur über ein-
629 geschränkte Ausdrucksmöglichkeiten verfügen. Auch eine schwache Sprache kann flüssig gesprochen werden. Sie wird meist bewusster gehandhabt, und ihr Gebrauch wird darum auch als anstrengender empfunden. Normale Zweisprachige können sich mit Hilfe ihrer zweiten Sprache mehr oder weniger gut verständigen. Sie haben mit dem Erlernen ihrer zweiten Sprache in der Regel nach dem vierten Lebensjahr begonnen (nachzeitiger Ζ weitspracherwerb). Wurden ihre Aneignungsprozesse zusätzlich durch formale Unterweisungen unterstützt, spricht man auch vom sekundären Bilingualismus (Baetens Beardsmore 1982,8). Zu diesem Typ gehören ζ. B. Friesen in Schleswig-Holstein, für die Friesisch Erst- und Deutsch Zweitsprache ist, oder Sinti und Roma, die zu Hause Romani sprechen. Ihre Kinder lernen in Nachbarschaft und Schule Deutsch, sprechen in der Familie aber weiterhin ihre Erstsprache. Da die Beherrschung einer Sprache jedoch - ähnlich wie die Beherrschung eines Musikinstruments - nichts ist, was einmal gelernt und dann für immer beherrscht wird, können sich die Verhältnisse auch ändern, ja sogar umkehren. Äußere Bedingungen (ζ. B. politische Umwälzungen/Migration) oder innere (z.B. Karriereplanung/Partnerwahl) können dazu beitragen, dass Fertigkeiten in einer zweiten Sprache weiterentwickelt werden und die ursprünglich starke Sprache vernachlässigt wird, so dass sie allmählich weniger gut beherrscht wird (vgl. Stölting u.a. 1980, 185). In Extremfallen kommt es zu einem Sprachwechsel, d. h. die Zweitsprache wird zur starken und die Erstsprache zur schwachen Sprache. Solche Prozesse lassen sich vor allem bei Kindern von Immigranten (ζ. B. Türken, Italiener) beobachten, aber auch bei älteren Zuwanderera (ζ. B. Jugendlichen und jungen Erwachsenen). Neben einem solchen generellen Funktionswechsel der beiden Sprachen kann man auch beobachten, dass Sprachen in Abhängigkeit von Konventionen, Themen oder Personen gewechselt (bzw. gewählt) werden (vgl. Spolsky 1988, 109ff.), so wie z.B. Monolinguale je nach Gesprächspartner und/oder Gesprächssituation zwischen Dialekt-, Soziolekt und Hochsprache variieren. In städtischen Regionen, in denen Menschen mit unterschiedlichen Sprachen immer wieder aufeinander treffen, lassen sich solche bedarfsorientierten Sprachwechsel nicht nur zu Beginn von Gesprächen, sondern auch in Gesprä-
630
VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte
chen, ja sogar in einzelnen Sprecheräußerungen beobachten. Man nennt dieses Phänomen Kodewechsel. Auf Grund von Untersuchungen wissen wir, dass sich hinter Kodewechseln meist Optimierungsversuche verbergen, d.h. Versuche, sich genauer und ökonomischer auszudrücken. Kodewechsel können allerdings auch durch bestimmte Wörter oder Konstruktionstypen ausgelöst oder aus sprachmodischen Gründen eingesetzt werden. 2.3. Semilingualismus Neben balanciert Zweisprachigen und normalen Zweisprachigen gibt es auch Lerner, die sich in ihrer zweiten Sprache mehr schlecht als recht verständigen können und darum verstärkt körpersprachliche Mittel zur Verständigungssicherung einsetzen müssen. Sie sollen hier als „Halbsprachige" (Semilinguale) bezeichnet werden (vgl. Baker 1993, 9). Wir können auch sagen: Halbsprachigkeit ist das Gegenteil von balancierter Zweisprachigkeit. Solche Kinder verfügen in keiner der von ihnen gelernten Sprachen über eine altersgemässe Sprachkompetenz. Sie werden darum auch als doppelseitig halbsprachig bezeichnet, eine Bezeichnung, die ungenau und - wie wir sehen werden - irreführend ist. Beobachtungen zur Halbsprachigkeit sind allerdings nicht neu. So berichtete Bloomfield bereits in den dreißiger Jahren: „ Weißer Donner, ein Mann in den Vierzigern, spricht weniger Englisch als Menomini, was ein hartes Urteil ist, weil sein Menomini fürchterlich ist. (...) Man könnte sagen, daß er keine Sprache auf tolerable Weise spricht. "
(Zitiert nach Skutnabb-Kangas 1983, 250) Ähnliche Beobachtungen hat Hymes bei Quechua-Indianern gemacht. Sie gaben ihr Quechua auf, bevor sie richtig Spanisch gelernt hatten (vgl. Hymes 1974, 72). Auch in der Bundesrepublik wurde über „eine eingeschränkte Beherrschung beider Sozialisationssprachen" bei Kindern von Immigranten berichtet (vgl. Stölting u. a. 1980, 11). Es wurden dafür Bezeichnungen wie Analphabetismus in zwei Sprachen oder doppelseitige Halbsprachigkeit geprägt. Beide Ausdrücke werden meist abwertend gebraucht. Wer so kategorisiert wird, gilt sowohl in seiner Erst- als auch in seiner Zweitsprachkompetenz als eingeschränkt und defizitär. Wodurch können solche Eindrücke entstehen? Vergleicht man die Fertigkeiten eines bilingual aufwachsenden Kindes in seiner Zweit-
sprache mit den Fertigkeiten gleichaltriger monolingualer Kinder, fallen Unterschiede z. B. im Bereich von Wortschatz oder Syntax auf. Der Wortschatz in der schwachen Sprache ist in der Regel weniger entwickelt als bei vergleichbaren monolingualen Kindern, und auch die verwendeten syntaktischen Strukturen sind zumeist weniger komplex. Würde man jedoch alle Wörter, über die ein zweisprachig aufwachsendes Kind in seinen beiden Sprachen verfügt, zusammenzählen, so würde man feststellen, dass zweisprachige Kinder gewöhnlich über mehr Wörter verfügen als gleichaltrige monolinguale Kinder. Anders formuliert: Wer einen zweisprachig aufwachsenden Schüler auf Grund der Leistungen in seiner schwachen Sprache (Deutsch) beurteilt und die Fertigkeiten in seiner starken Sprache vernachlässigt, wird ein verzerrtes Bild vom Entwicklungsstand und der Leistungsfähigkeit eines solchen Schülers erhalten. Wird nun ein Schüler als „doppelseitig halbsprachig" eingestuft, begünstigt diese Kategorisierung spezifische Erwartungshaltungen. Es können dadurch „selbsterfüllende Prophezeihungen" in Gang gesetzt werden. Kurz: Aussagen wie „X ist doppelseitig halbsprachig" sollten vermieden werden, weil Kinder sich entwickeln, wenn sie Anregungen erhalten. Cook hat den Begriff Multi-Kompetenz geprägt, womit sie sowohl auf Kenntnisse und Fertigkeiten in der Erst- als auch in der Zweitsprache verweist. Zu Recht betont sie, dass es unfair ist, Menschen mit einer solchen Multi-Kompetenz wie „gescheiterte Monolinguale" zu behandeln (vgl. Cook 1995, 95).
3.
F o r m e n zweitsprachlicher Kompetenz
3.1. Teilbereiche Bei normalen Zweisprachigen lassen sich im Bereich der vier Grundfertigkeiten (Hörverstehen, Sprechen, Lesen und Schreiben) gewöhnlich unterschiedliche Beherrschungen nachweisen. Mängel fallen z. B. in ihren schriftlichen Texten auf, etwa im Bereich der Wortbildung, wenn mögliche, aber ungebräuchliche Bildungen wie unausreichend verwendet oder gebräuchliche Wörter in einen falschen Kontext eingesetzt werden (z. B. Belichtung statt Lichtverhältnisse), wenn Wörter verkürzt und vereinfacht werden (z. B. gleichrechtig statt gleichberechtigt). Nun hängt jede der vier Grundfertigkeiten von Teilfertigkeiten ab, die ihrerseits wiederum unterschied-
63. Bilingualismus — Mehrsprachigkeit
lieh entwickelt sein können. So wird bsw. das Hörverstehen in einer fremden Sprache einerseits von Fähigkeiten zur Lautdiskriminierung bestimmt, andererseits aber auch vom Wortschatzumfang und dem dazugehörigen Bedeutungs- und Begriffsnetz. Hinzu kommen Kenntnisse und Fertigkeiten im grammatischen Bereich (z.B. Wortbildung, Flexion, Syntax) sowie Kenntnisse im pragmatischen und stilistischen Bereich. Je nach der Entwicklung dieser Teilfertigkeiten werden die Hörverstehensleistungen eines Lerners besser oder schlechter sein. Normale Zweisprachige gebrauchen ihre beiden Sprachen in unterschiedlichen Situationen und zu unterschiedlichen Zwecken. Man spricht auch von funktionalem Bilingualismus (vgl. Baetens Beardsmore 1982, 12). Nehmen wir z.B. einen Grundschüler mit türkischer Erstsprache (bzw. Muttersprache). Er kann am Ende des ersten Schuljahrs gesprochenes Türkisch (seine Familiensprache) gut und Deutsch ausreichend verstehen, sich auf Türkisch fließend, auf Deutsch noch etwas stockend ausdrücken, hat auf Deutsch relativ flüssig zu lesen gelernt, erhielt keine Unterweisung im Türkischen und kann daher nur seinen Namen und einige wenige Wörter auf Türkisch lesen, kann auf Deutsch etwa das schreiben, was seine Klassenkameraden auch gelernt haben, ist hingegen nicht in der Lage, mehr als seinen Namen auf Türkisch zu schreiben, weil eine Alphabetisierung auf Türkisch nicht erfolgte. Um nun die sprachlichen Voraussetzungen dieses Schülers genauer bestimmen und ihn angemessen fördern zu können, müsste man aber nicht nur wissen, über welche Grundfertigkeiten (Hören, Sprechen, Lesen, Schreiben) er in beiden Sprachen verfügt, man müsste auch herausfinden, wie die dazugehörigen Fertigkeiten in den entsprechenden Teilbereichen (phonetische, graphemische, morpho-syntaktische, lexikalische, semantische und textuell-stilistische Ebene) beherrscht werden. Mit anderen Worten: In jeder Sprache müssten über zwanzig verschiedene Teilaspekte erfasst werden. 3.2. Rezeptive und produktive Zweisprachigkeit Wenn wir sagen, dass jemand eine fremde Sprache gebrauchen kann, so impliziert dies immer auch Sprechfertigkeiten. Auf Grund unserer Alltagsvorstellungen würden wir einen Menschen, der sich in einer fremden Sprache nicht auszudrücken vermag, kaum als zweisprachig bezeichnen. Es gibt jedoch
631 Individuen, die fähig sind, Äußerungen, die in einer fremden Sprache gemacht werden, zu verstehen, oder Texte, die in dieser Sprache verfasst wurden, zu lesen. Diese Sonderform eines funktionalen Bilingualismus wird auch als rezeptiver Bilingualismus bezeichnet. So gibt es z.B. in ländlichen Regionen Süddeutschlands (etwa der Pfalz oder in Bayern) Dialektsprecher, die die Hochsprache zwar verstehen und lesen, nicht aber sprechen können. Ähnliches gilt für die skandinavischen Länder. Dort kann ein Däne mit einem Norweger Dänisch sprechen und wird verstanden und der Norweger kann in seiner Varietät antworten. Der Gegenbegriff dazu, der mündliche (u. U. auch schriftliche) Fertigkeiten einschließt, ist produktiver Bilingualismus. Diese Unterscheidung ist vor allem im Hinblick auf Mehrsprachigkeit von Bedeutung, weil Mehrsprachige nicht alle ihre fremden Sprachen auch produktiv beherrschen müssen. Unsere Definition von Zweisprachigkeit kann nun erweitert und präzisiert werden: Ein alternierender Gebrauch zweier Sprachen setzt nicht voraus, dass beide Sprachen auch produktiv beherrscht werden. Es genügt, wenn eine fremde Sprache verstanden wird. Dies gilt insbesondere für Mehrsprachigkeit. 3.3. BICS und CALP Nach allem was wir wissen, entwickeln sich Fertigkeiten im Bereich der Aussprache relativ unabhängig von solchen in den Bereichen Semantik und Grammatik. Kindern fällt die Aneignung der Aussprache einer fremden Sprache in der Regel leichter als älteren Lernern. Wegen ihrer korrekten Aussprache und ihrer sprachlichen Flüssigkeit werden sie in ihrem sprachlichen Leistungsvermögen oft überschätzt. Tatsächlich lassen diese beiden Indikatoren jedoch keine Rückschlüsse auf den Sprachstand eines Lerners in den übrigen Bereichen (z.B. Hörverstehen oder Leseverstehen) zu. Wenn nun so überschätzte Kinder ζ. B. Schwierigkeiten mit dem Lesen haben, liegt die (falsche!) Vermutung nahe, dass sie entweder dumm oder faul sind. Tatsächlich hat Leseverstehen aber sehr viel mit Wortschatzumfang und Weltwissen zu tun. Und es bestehe ein nachweislicher Zusammenhang zwischen dem Leseverstehen eines Schülers und dem sozioökonomischen Status seiner Familie. Auch scheint es Zusammenhänge zwischen diesen Fertigkeiten, der syntaktischen Reife eines Individuums und seiner Beherrschung von Synonymen im Bereich des
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VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte
Wortschatzes zu geben. Aus solchen u. ä. Gründen wurde vorgeschlagen, zwei Kompetenzbereiche zu unterscheiden (vgl. Cummins 1984, llff.): 1. Sprachliche Grundfertigkeiten im interpersonalen Bereich (basic interpersonal communicative skills kurz: BICS) und 2. die Fähigkeit, kognitiv anspruchsvollere und kontextreduzierte Texte zu verarbeiten (cognitive!academic language proficiency kurz: CALP). Es wird davon ausgegangen, dass sich BICS in jeder Sprache relativ unabhängig entwickelt, während die Entwicklung von CALP in einer Zweitsprache eine entwickelte Erstsprache voraussetzt. Mit anderen Worten: Kognitive und schriftsprachliche Fertigkeiten können aus der Erstsprache in die Zweitsprache transferiert werden, während die Entwicklung von Fertigkeiten im interaktiven Bereich sowohl in der Erst- als auch in der Zweitsprache stärker von Persönlichkeitsmerkmalen abzuhängen scheint (vgl. Cummins 1991a, 78). Hinter dieser Unterscheidung stehen folgende Überlegungen: Wenn wir uns mit jemandem verständigen, so tun wir dies gewöhnlich eingebettet in einen Kontext. Vieles von dem, was gesagt wird, lässt sich in solchen Fällen erraten. Im Unterschied dazu sind z. B. schriftliche Texte weitgehend dekontextualisiert. Mit anderen Worten: Der Kontext kann nicht mehr über visuelle Stimuli (z.B. vorausgegangene Handlungen oder situative Gegebenheiten) erraten werden. Er lässt sich nur noch über sprachliche Hinweise im Text entschlüsseln. Natürlich gibt es auch da Unterschiede, z.B. Erzähltexte, die leichter erschließbar sind, und Texte, in denen eher abstrakte und theoretische Überlegungen dargestellt werden. Kurz: Auch schriftliche Texte können mehr oder weniger dekontextualisiert sein. Minoritätenkinder, so Cummins Argumentation, scheitern in Schulen und Hochschulen häufig, weil nicht rechtzeitig erkannt wird, dass sie in ihrer Zweitsprache zwar über kommunikative Grundfertigkeiten (BICS), nicht aber über die sprachlichen Mittel (CALP) verfügen, die notwendig wären, um einem Fachunterricht in der fremden Sprache folgen oder Fachtexte erschließen zu können. Erfahrungsgemäß lassen sich Grundfertigkeiten für den interpersonalen Bereich (BICS) in einer fremden Sprache in ein bis zwei Jahren entwickeln. Die Entwicklung von komplexeren (insbesondere schriftsprach-
lichen) Formen (CALP) kann dagegen vier bis sieben Jahre in Anspruch nehmen (vgl. Skutnabb-Kangas 1983, 112f.). Während dieser Zeit besteht die Gefahr, dass der Sprachentwicklungsstand eines Lerners falsch eingeschätzt wird. Cummins Konstrukt (BICS und CALP) besitzt Plausibilität. Die Unterscheidung deckt sich weitgehend mit den Ergebnissen von Biber (1986). Auch gibt es neuere Untersuchungsergebnisse, die Cummins Konzeption zu bestätigen scheinen (vgl. Dalier 1995). 4.
Interdependenz in der Entwicklung
4.1. Additiver Bilingualismus Wer eine zweite Sprache lernt, ohne seine erste zu vernachlässigen, fügt seinen Ausdrucks- und Interaktionsmöglichkeiten etwas hinzu, erweitert also nicht nur seine sprachlichen, sondern auch seine kognitiven und sozialen Potentiale. Mit anderen Worten: Wenn ein Lerner Instruktionen in einer Sprache X erhält und auf Grund dieser Instruktionen in dieser Sprache Fertigkeiten entwickelt, so wird er diese Fertigkeiten auch auf eine Sprache Y übertragen können, vorausgesetzt, er hat ausreichenden Sprachkontakt (in Schule oder Umfeld) mit Y und verfügt über eine angemessene Motivation. Entwickelt er in beiden Sprachen ein hohes Niveau, so kann das entstehen, was auch als additiver Bilingualismus bezeichnet wird. Diese Zweisprachigkeit wirkt sich positiv auf das gesamte Leistungsvermögen eines Menschen aus. Additiven Bilingualismus finden wir vor allem dort, wo zwei Sprachen in einer Gesellschaft hohes Ansehen genießen. 4.2. Subtraktiver Bilingualismus Wird die Erstsprache hingegen während der Aneignung einer fremden Sprache vernachlässigt oder gar verdrängt, so kann sich dies (vor allem bei Kindern) auf die Aneignung der Zweitsprache negativ auswirken. Eine solche Form der Zweisprachigkeit finden wir häufiger bei Angehörigen von Minoritäten. Nehmen wir einmal an, eine Minoritätensprache habe nur eine geringe Verbreitung (z.B. Kurdisch oder Albanisch) oder würde von einer Mehrheit der Deutschen mit negativen Assoziationen belegt (z.B. Romani, die Sprache der Sinti und Roma). Unter solchen Voraussetzungen könnte die Weiterentwicklung oder der Erhalt der Erstsprache gefährdet sein, könnte es zu einer Verdrängung der
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63. Bilingualismus - Mehrsprachigkeit
starken Sprache durch die schwache kommen, wie in dem oben zitierten Fall der Quechua-Indianer. Ein Sprachwechsel ist immer mit Stress und einer großen emotioanlen Verunsicherung verbunden. Da von der Erstsprache auch Impulse auf die kognitive und emotionale Entwicklung ausgehen und der nachzeitige Erwerb einer Zweitsprache abhängig ist vom Entwicklungsstand in der Erstsprache, kann sich ein solcher Sprachwechsel bei Kindern negativ auf den weiteren Entwicklungsverlauf auswirken. Aber auch dann, wenn kein sichtbarer Sprachwechsel stattfindet, besteht die Gefahr, dass die Vernachlässigung der Erstsprache negative Konsequenzen hat. Kurz: Es kann dann das entstehen, was auch als subtraktiver Bilingualismus bezeichnet wird. Statt—wie im Falle des additiven Bilingualismus—zu bereichern, wirkt die Zweisprachigkeit dann eher als Lernhindernis. Ob wir es mit einer additiven oder einer subtraktiven Zweisprachigkeit zu tun haben, können wir daran erkennen, wie die beiden Sprachen eingesetzt werden. Während im Falle des additiven Bilingualismus beide Sprachen zumeist komplementär (bzw. funktional) gebraucht werden, treten beim subtraktiven Bilingualismus beide Sprachen in Konkurrenz zueinander. In Deutschland werden ζ. B. türkische Kinder in der Schule ihre Erstsprache sprechen, wenn sie sich mit türkischen Mitschülern verständigen wollen, andererseits die Majoritätssprache (Deutsch) im Umgang mit deutschen Lehrkräften und anderen Mitschülern gebrauchen. Angenommen, ein türkischer Schüler hat keine Gelegenheit, seine Erstsprache zu entwickeln, ζ. B. weil beide Eltern arbeiten oder weil er versucht, sich zu assimilieren und darum den Gebrauch seiner Erstsprache vermeidet. In einem solchen Falle würden Voraussetzungen für einen subtraktiven Bilingualismus bestehen. Als Folge davon könnten Identitätsprobleme auftreten, die wiederum die Bewältigung von Lernaufgaben erschweren würden.
5.
Mehrsprachigkeit
5.1. Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit Auf der Erde gibt es ca. 5000 Sprachen und etwa 200 Länder. Daraus folgt, dass in vielen Ländern mehr als eine Sprache gesprochen wird. Monolinguale Länder mit einer homogenen Bevölkerung wie Island oder die Mongolei gehören zweifellos zu den Ausnahmen. Es gibt Länder, die offiziell als einsprachig
gelten (ζ. B. Deutschland oder England), es de facto aber längst nicht mehr sind, andere, die offiziell bilingual sind (z.B. Kanada mit Englisch und Französisch), in denen daneben aber viele Minoritätensprachen gesprochen werden, und schließlich Länder wie die Schweiz, wo Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch nationale Sprachen sind. Während in Deutschland ca. 60% der Bevölkerung als monolingual gelten und in England gar 74%, sprechen in Dänemark nur 40% keine Fremdsprache und in den Niederlanden sind es sogar nur 28% (vgl. Finkenstaedt/Schröder 1990, 18). Wie sieht es demgegenüber in der viersprachigen Schweiz aus? [2 steht für gut zweisprachig, 3 für gut dreisprachig] Bevölkerungsanteil
2
3
Erstspr. Dt. 70% Erstspr. Frz. 18% Erstspr. It. 12%
35% 42% 60%
19% 19% 33%
Die Tabelle zeigt, dass 70% der Schweizer Bevölkerung deutschsprachig sind, 35% davon sind zwei- und 19% dreisprachig. Sie zeigt auch, dass die italienischsprachigen und französischsprachigen Minoritäten eher zwei (oder drei) Sprachen lernen als Angehörige der deutschsprachigen Majorität. Da es in der Schweiz so gut wie keine Binnenmigration gibt (vgl. 96% der Deutschsprachigen leben in der deutschsprachigen Region, 92% der Französischsprachigen in der französischsprachigen Region und 79% der Italienischsprachigen in der italienischsprachigen Region), fehlen natürliche Anreize zur Entwicklung und Pflege von Mehrsprachigkeit. Wir haben es hier darum mit einer gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit zu tun, die auf dem Prinzip eines territorialen Monolingualismus basiert. Komplizierter sind die Verhältnisse in Ländern wie Ghana oder Indien, wo wir es mit gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit und regionaler Vielsprachigkeit zu tun haben. In Ghana werden beispielsweise 45 Sprachen gesprochen, zwölf davon sind offizielle Sprachen, die auch in der Schule vermittelt werden, fünf überregionale Verkehrssprachen (Akan, Ewe, Waale, Hausa und Englisch). Der größte Teil der Bevölkerung ist zweioder dreisprachig. Menschen, die nicht in ihrer Heimatregion leben, sprechen meist noch eine weitere regionale Sprache, die sie z.B.
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VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte
auf dem Markt benötigen. Jeder, der Englisch kann, ist zumindest zwei-, meist aber dreioder gar vier sprachig (vgl. Kropp Dakubu 1994, 1434f.). Ähnliches gilt für Indien (vgl. Kachru 1992, 182 ff.). Dort gibt es schätzungsweise 1600 Sprachen, 15 davon sind nationale Sprachen und zwei überregionale Verkehrssprachen (Hindi und Englisch). In Indien gilt darum für Sprachen die Formel 3 ± 1. Mit anderen Worten: Es gibt Gebiete, in denen Hindi und Englisch ausreichen (d.h. 3 — 1), es gibt aber auch Regionen (z.B. in Südindien), wo neben lokalen Sprachen (z.B. Telugu oder Kannada) zunächst lokale Bildungs- und Verkehrssprachen (z. B. Tamil oder Maharati) gelernt werden, ehe mit Hindi oder Englisch begonnen wird. Dort gilt also die Formal 3 + 1. Welche Auswirkungen hat die Mehrsprachigkeit auf die ökonomische Entwicklung eines Landes? Mehrsprachige Länder sind meist „jüngere" Länder, in denen sprachliche Rationalisierungsprozesse noch nicht so wirken konnten, wie z. B. in Frankreich. Dort hat es immerhin mehr als zweihundert Jahre gedauert, bis die Varietät der Ile-de-France überregional durchgesetzt werden konnte. Andererseits zeigt uns das Beispiel Schweiz, dass eine mehrsprachige Bevölkerung kein Hindernis für eine positive ökonomische Entwicklung sein muss. Kurz: Mehrsprachigkeit bedeutet nicht notwendig politische Instabilität. Kontakte zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen begünstigen die Entstehung von natürlicher Zwei- und Mehrsprachigkeit insbesondere dann, wenn es sich bei den beteiligten Sprachen um hochbewertete Sprachen handelt. Dagegen werden die Sprachen von Minderheiten von Majoritätsangehörigen nur selten gelernt, während Majoritätsangehörige umgekehrt (und selbstverständlich) davon ausgehen, dass Minoritätsangehörige ihre Sprache lernen. Durch diese Asymmetrie, die immer auch Ausdruck eines Machtgefalles ist, können die Sprachen von Minoritäten (in Deutschland z.B. Friesisch oder Sorbisch) in ihrem Bestand bedroht werden. Dennoch dürften sich im 21. Jh. sprachliche Rationalisierungsprozesse auf demokratischem Wege kaum mehr durchsetzen lassen, weshalb zu erwarten ist, dass ein vereinigtes Europa ein vielsprachiges Europa sein wird.
5.2. Individuelle Mehrsprachigkeit Es gibt viele Gründe, sich Sprachen anzueignen oder erworbene Sprachen zu bewahren. Berufliche Anforderungen können dafür genauso ausschlaggebend sein wie ein Umzug in eine anderssprachige Region. Die Aneignung einer neuen Sprache kann durch Lebensumstände (Flucht, Vertreibung) erzwungen werden. Sprachen können aber auch aus religiösen Gründen gelernt oder gepflegt werden (vgl. z.B. Arabisch, Latein, Sanskrit oder Pali). Und da Sprachen immer auch ein Identitätskennzeichen sind, bemühen sich viele Menschen um den Erhalt ihrer Erstsprache, auch wenn die Gebrauchsmöglichkeiten dieser Sprache eingeschränkt sind. Schließlich gibt es Lebensformen, die die Entstehung von Mehrsprachigkeit geradezu erzwingen. Bei den Vaupé-Indianern, die im nordwestlichen Amazonas-Gebiet leben, dürfen bsw. Frauen nur Männer heiraten, wenn diese eine andere Sprache sprechen als sie selbst. Es wird berichtet, dass jedes Mitglied mindestens drei Sprachen fließend spricht, viele sogar vier oder fünf Sprachen beherrschen und einige bis zu zehn Sprachen verstehen können (vgl. Jackson 1974, 53f.). Daraus können wir schließen, dass Mehrsprachigkeit ein natürliches Phänomen ist. Doch wie viele Sprachen können maximal gelernt werden? Wir alle kennen Menschen, die über eine besondere Begabung zum Sprachenlernen verfügen, so wie Heinrich Schliemann, der die ersten Ausgrabungen in Troja leitete. Von ihm wird berichtet, dass er 19 Sprachen gesprochen habe, darunter so „exotische" wie Türkisch, Arabisch, Persisch und Hebräisch. Er veröffentlichte Bücher und Aufsätze in englischer, französischer, italienischer, russischer sowie neugriechischer Sprache (vgl. Scherer 1992). Andere mussten auf Grund ihrer Lebensumstände verschiedene Sprachen erlernen. So wird über Kolumbus erzählt, dass seine erste Sprache Genuesisch war, „ein Dialekt, der noch heute nicht standardisiert ist. Er lernte Geschäftsbriefe in Latein zu schreiben, (...) heiratete eine Portugiesin und vergaß wahrscheinlich das Italienische fast ganz. Er sprach Portugiesisch, schrieb aber nie ein Wort in dieser Sprache. Während seiner neun Jahre in Lissabon gewöhnte er sich an, in Spanisch zu schreiben. (...) Kolumbus schrieb also zwei Sprachen, die er nicht sprach, und er sprach mehrere andere. Dergleichen schien für ihn und
63. Bilingualismus - Mehrsprachigkeit seine
Zeitgenossen
nicht
weiter
635 problema-
tisch. " (mich 1982, 19/20) Mehrsprachige beherrschen nur in Ausnahmefállen (z.B. als Simultandolmetscher) alle ihre Sprachen auf gleichem Niveau. Normale Mehrsprachige setzen ihre Sprachen zumeist (wie Zweisprachige) funktional ein. Und wie bei diesen ist die Beherrschung ihrer Sprachen auch dynamischen Veränderungen unterworfen. So berichtete ein amerikanischer Kollege, der sich längere Zeit in der Türkei aufgehalten hatte, dass er sich auf einer Deutschlandreise zu verständigen versuchte und entsetzt feststellte, dass er ungewollt Türkisch sprach (vgl. Selinker/Baumgartner-Cohen 1995, 115). Offenbar hatte die intensive Auseinandersetzung mit dem Türkischen dazu geführt, dass eine andere Sprache (Deutsch), die bereits erlernt wurde, blockiert war. Dies gilt erfahrungsgemäß auch umgekehrt: Wer eine vernachlässigte Zweit- oder Drittsprache wieder aktiviert, wird beim späteren Wechsel in seine Viert- oder Fünftsprache anfangs ebenfalls mit Ausdrucksproblemen zu kämpfen haben. Auch kann man beobachten, dass durch längeren Nichtgebrauch sprachliche Fertigkeiten verloren gehen. Solche Verluste lassen sich in der Regel zuerst bei den produktiven Fertigkeiten beobachten (vgl. Cohen 1989), während rezeptive (Lesen, Hörverstehen) davon weniger betroffen sind. Insgesamt lassen sich sprachliche Erosionserscheinungen aber auf allen sprachlichen Ebenen nachweisen. Es kann sogar die Sprechflüssigkeit darunter leiden. Allmählich macht sich dann wieder ein stärker werdender Akzent bemerkbar (vgl. DeBot/Clyne 1989, 168). Umgekehrt können sich erlernte Sprachen aber auch gegenseitig stützen, so dass ein Vergessen erschwert wird. Und sie können das Erlernen neuer (insbesondere verwandter) Sprachen auch erleichtern (vgl. Krumm 1990,96ff.). Im lexikalischen Bereich lässt sich dies z. B. an Hand von gleich oder ähnlich klingenden Wörtern nachweisen. Ahnlich klingende Wörter werden schneller gelernt als Wörter, die fremd klingen. Untersuchungsergebnisse zeigen zudem, dass selbst fremd klingende Wörter im Kontext von vertraut klingenden rascher aufgenommen und gespeichert werden (vgl. dazu Ard/Homburg 1983, 62). Je mehr vertraut klingende (oder vom Schriftbild her bekannte Wörter) wir daher in einer fremden Sprache auffinden können, desto leichter wird uns die Erschließung
und Erarbeitung eines Grundwortschatzes fallen. Was für die lexikalische Ebene nachgewiesen wurde, dürfte auch für den morphosyntaktischen Bereich gelten: Ein Transfer von einer flektierenden SVO-Sprache (z.B. Polnisch) auf eine andere flektierende SVOSprache (z.B. Deutsch) ist wahrscheinlich, weil ähnliche Strukturen (z. B. Präpositionalkasus) existieren. Mit einem Transfer von einer agglutinierenden SOV-Sprache (z. B. Türkisch) auf eine flektierende SVO-Sprache kann hingegen kaum gerechnet werden, da z. B. Präpositionen des Deutschen im Türkischen mit Postpositionen oder Endungen wiedergegeben werden müssen. Aus solchen u. ä. Gründen wird im Allgemeinen mehr Zeit zur Aneignung entfernterer als zur Aneignung verwandter Sprachen benötigt, (vgl. dazu Apeltauer 1997, 75f.). Aus Erfahrung wissen wir: Je besser eine fremde Sprache beherrscht wird, desto mehr Abläufe sind automatisiert, desto weniger Energie wird für eine bewusste Steuerung benötigt. Je geringer die Kenntnisse in der fremden Sprache, desto mehr Bewusstheit und Konzentration muss für die Verständigung aufgewendet werden. Und noch etwas: Sprachen, in denen jemand nur rudimentäre Kenntnisse erworben hat, sind stärker vom Vergessen bedroht als Sprachen, in denen solide Grundkenntnisse entwickelt wurden, weil im letzteren Falle eine extensivere und mit größeren Redundanzen versehene Einbettung in kognitive Strukturen erfolgt ist, so dass diese Informationen gegen Vergessen besser geschützt sind (vgl. De Bot/Clyne 1989, 174). Mit anderen Worten: Wenn Kenntnisse in zwei Sprachen bereits erarbeitet wurden, so begünstigen diese die Aneignung und „Vernetzung" einer weiteren fremden Sprache. Man sagt, dass derjenige, der mehrere fremde Sprachen erlernt hat, auch das Fremdsprachen-Lernen gelernt hat. Diese Aussage trifft sicherlich auf verwandte Sprachen zu. Wer Latein gelernt hat, der weiß schon viel über Italienisch und Spanisch und wird beide Sprachen daher auch leichter erlernen. Wer aber Vietnamesisch oder Türkisch zu lernen versucht, wird feststellen, dass hierfür völlig andere Automatismen entwikkelt werden müssen, so dass die Aneignungsprozesse anfanglich eher Züge eines Erstspracherwerbs annehmen werden. Dass selbst unter solchen Bedingungen bereits erlernte Sprachen hilfreich sein können, lässt sich etwa an folgendem Beispiel verdeutlichen: ile
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VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte
bedeutet im Türkischen mit, im Polnischen wie viel. Wer die Form einmal gelernt hat, muss bei der neuen Sprache also nur noch die Bedeutungszuordnung erlernen, zweifellos eine Erleichterung des Lernprozesses. Es gibt allerdings auch Fälle, wo eine vertraute Form irritieren kann. So bedeutet inmek im Türkischen aussteigen. Es wird jedoch gerne mit einsteigen verwechselt. Solche Zusammenhänge sind gegenwärtig jedoch noch wenig erforscht. In Analogie zur Unterscheidung zwischen starker und schwacher Sprache wollen wir auch im Bereich der Mehrsprachigkeit von einer starken und einer (bzw. mehreren) schwachen fremden Sprache(n) sprechen. Mehrsprachige, die man nach ihren Sprachkenntnissen befragt, vermögen meist in diesem Sinne zu differenzieren und benennen gewöhnlich neben ihrer Erstsprache eine starke Fremdsprache und weitere schwache Sprachen, wie die folgenden Angaben ausländischer Studierender zeigen. US-Amerik. Indien
Ghana
Engl. + + +, Norweg. +, Deutsch + + Telugu + +, Tamil + + +, Hindi + + , Englisch + + + , Deutsch + + Akan + + +, Ese + + + , Englisch + + + , Nzema + +, Fante + + , Franz. +, Deutsch + +
(Die Erstsprache ist jeweils durch Fettdruck hervorgehoben, die Reihenfolge entspricht der Reihenfolge des Erwerbs.) Welche Sprachen entwickelt, gepflegt oder erhalten und welche vernachlässigt oder vergessen werden, darüber entscheidet der alltägliche Sprachenbedarf. Wer in einer mehrsprachigen Umgebung wohnt (z.B. in London, Luxemburg oder in Ghana), wird von seinen Sprachkenntnissen häufiger Gebrauch machen können. Wer sich hingegen für ein oder zwei Jahre in ein fremdes Land begibt und dort eine Sprache erlernt, wird nach seiner Rückkehr die gelernte Sprache in der Regel wieder vernachlässigen, sofern keine beruflichen oder partnerschaftlichen Gründe zu einem weiteren intensiven Gebrauch nötigen. 5.3. Zur Forschungslage Während der Zweitspracherwerb seit vielen Jahrzehnten erforscht wird, hat die Erforschung der Mehrsprachigkeit erst vor wenigen Jahren begonnen (vgl. z. B. Ruke-Dravina 1967; Stedje 1976; Mägiste 1984; Thomas
1985; Möhle 1989; Cohen 1989; Jaspaert/Lemmens 1990; Swain u. a. 1990; Khoo u. a. 1993; Benoussan u. a. 1995). Sieht man einmal von einigen wenigen Fallstudien ab, so kann man sagen, dass experimentelle und quasi-experimentelle Untersuchungen gegenwärtig überwiegen. Daneben gibt es aber auch Befragungen unterschiedlicher Art (vgl. z. B. Hufeisen 1991, 131 f.). Im Zentrum des Interesses stehen gegenwärtig einerseits Sprachlernstrategien und Verarbeitungsprozesse von Anfangern und Experten (vgl. Thomas 1985; Nation/ McLaughlin 1986; McLaughlin/Nayak 1989), andererseits Beeinflussungen von Produktionsprozessen durch zuvor gelernte Sprachen. Untersuchungen stützen sich dabei entweder auf Testanalysen (vgl. z. B. Ahukanna u. a. 1981; Mägiste 1984) bzw. auf eine Kombination aus teilnehmender Beobachtung und Test (vgl. Jaspert/Lemmens 1990), oder auf eine Analyse von Beschreibungsaufgaben, die unter kontrastiven Gesichtspunkten analysiert werden (vgl. z. B. Möhle 1989; Hufeisen 1991). Einige Ergebnisse seien hier festgehalten: -
-
-
-
-
Multilinguale sind beim impliziten Lernen einer neuen Sprache sowohl Bilingualen als auch Monolingualen überlegen (vgl. Nation/McLaughlin 1986). Multilinguale scheinen stärker zu abstrahieren und Muster leichter wiederzuerkennen sowie auf Lernaufgaben flexibler zu reagieren und Gedächtnisstrategien effektiver einsetzen zu können (McLaughlin/ Nayak 1989). zuvor gelernte Sprachen wirken sich auf neu zu lernende Sprachen besonders dann aus, wenn eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen diesen Sprachen besteht (vgl. Möhle 1989). in rezeptiven Bereich scheint der Einfluss der Erstsprache stärker zu sein als der zuvor gelernter Sprachen (vgl. Möhle 1989). bereits die Beherrschung unterschiedlicher Schriftsysteme scheint sich auf die Aneignung einer Drittsprache positiv auszuwirken (vgl. Swain u.a. 1990; Thomas 1985).
Unklar ist gegenwärtig noch die Dynamik der Einflüsse zwischen Sprachen, auch warum es unter bestimmten Bedingungen z.B. zu einem Rückgang der Interferenzen kommt und in anderen Fällen zu einem Anwachsen (vgl. Hufeisen 1991, 93 f.). Die Forschung steht zweifellos erst am Anfang eines langen Weges.
63. Bilingualismus — Mehrsprachigkeit
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(Deutschland)
64. Theorie und Empirie 1. 2. 3. 4.
Wissenschaftsgeschichte und -theorie Reduktive und integrale Theorien Empirie Literatur in Auswahl
1.
Wissenschaftsgeschichte und -theorie
Ehe die in sich komplexen Kategorien Theorie und Empirie mit Bezug auf das Deutsche als Fremdsprache von der Systematik des Ge-
genstandes her dargelegt werden, empfiehlt sich eine kurze Rekonstruktion der diesbezüglich einschlägigen wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklungen (vgl. Kap. II), besonders der Gegenstandsbestimmungen (vgl. Kap. I). D e n n die Subsumierung dieses Artikels unter das Kapitel Lernen: Begriffe und Konzepte macht eine Präsupposition, die so selbstverständlich nicht ist. Deutsch als Fremdsprache ist keine Disziplin, sondern ein Fach, genauer: ein Teilfach
64. Theorie und Empirie
der Germanistik mit linguistischem Schwerpunkt - so lautet eine wissenschaftssystematische Auffassung (Glück 1989), welcher die emphatische Betonung disziplinärer Eigenständigkeit, insbesondere in Form der Sprachlehr-/ Sprachlernforschung (Bausch u. a. 1986), gegenübersteht - bei gleichzeitiger Proklamation interdisziplinären Sachbezuges (Krumm 1988) (vgl. Art. 1). Zentraler Gegenstand ist hier das (institutionelle) Lehren und Lernen der deutschen Sprache als Fremdsprache, dort die (fremde) deutsche Sprache in all ihren Erscheinungsformen. Diese Divergenz ist Ausdruck davon, dass die Wissenschaften für eine komplexe praktische Aufgabenstruktur ihre Lösungs-Verantwortung zu übernehmen bereit sind und infolgedessen die neuen wie auch ihre gewohnten Gegenstände von den gesellschaftlichen Bedürfnissen her in innovativer Weise zu betrachten beginnen. So werden des weiteren Disziplingrenzen - und seien es vergleichsweise kleine wie die zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft (Weinrich 1979, Krusche 2000) - perspektivisch überschreitbar, besser: aufhebbar. Das kann, ja muss auf die analytischen Kategorien und Methoden zurückwirken. Methodologisch bedeutet dies, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht auf der Basis von Bedeutungspostulaten oder Definitionen gewonnen und dargestellt werden, wie dies für axiomatische Systeme wie die Mathematik oder die formale Logik geschieht, sondern durch Kategorien, die ihre Präzision der Rekonstruktion des Konkreten im Begriff verdanken, welche einer reflektierten Empirie verpflichtet ist (s. 3.); das Alltagswissen wie das bereits bestehende wissenschaftliche Wissen wird hierbei in Form einer hermeneutischen Spirale — nicht eines Zirkels - kritisch einbezogen (Rehbein 1995). Einer so bestimmten Theorie eignet grundsätzlich eine permanente, historisch-gesellschaftliche Entwicklungsdimension und eine ständige Offenheit für Revisionen angesichts der konkreten Realität. Damit werden auch die methodischen Dichotomien „deduktiv" versus „induktiv" und „quantitativ" versus „qualitativ" (aus fremdsprachendidaktischer Sicht Hart u.a. 1987) als in ihren Isolationen falsche Alternative dialektisch aufhebbar (Ehlich 1982). 2.
Reduktive und integrale Theorien
Ein junges Fach wie Deutsch als Fremdsprache birgt neben der beschriebenen Chance zur Innovation die Gefahr einer nachlaufen-
639 den Entwicklung relativ zu den traditionell mit einzelnen Sachaspekten befassten Theorien und Methoden. Voreilige Applikationen sowie verkürzt rezipierte Versatzstücke linguistischer Analysen begründeten regelrechte Konjunkturen mit parallelen Euphorien versus Verwerfungen (vgl. Heibig 1994). Leicht entsteht der Eindruck eines emphatischen jeweiligen Neubeginns, der bereits gewonnene Erkenntnisse vorschnell hinter sich zu lassen geneigt machen könnte. Angesichts der komplexen neuen Gegenstandsstruktur scheint es unabdingbar, sie als integrale Gesamtheit ernst zu nehmen und von da her analytische Differenzierungen zu gewinnen. Insofern sind die Befassung mit dem Deutschen als dem Anzueignenden, mit dem Modus der Aneignung als unter EigenFremd-Perspektive stehend, mit der Aneignung als mentalem Prozess selbst und mit der interaktiven Vermitteltheit dieser Aneignung in der außerinstitutionellen oder institutionellen Praxis im eigenen oder im fremden Land allesamt erforderlich — und allesamt im konkreten, funktionalen Bezug der Gegenstandsmomente aufeinander zu begreifen (vgl. Rehbein/Schwerdtfeger 1986). Für den Sprachbegriff wie für den lern- oder Erwerbsbegriff und den Lehr-Lern-Begriff sind demnach umfassende, integrale Bestimmungen vorzunehmen. Das geschieht leider nicht immer. Vielmehr dominieren reduktionistische Konzeptionen. Dies hat nicht selten die Konsequenz, dass die von Henrici (1995: 12) hierarchisch differenzierten „Referenzwissenschaften" in ihren Gegenstandsbestimmungen und Erkenntnissen kaum miteinander zu vermitteln sind. 2.1. ,Sprache' Hinsichtlich des Sprachbegriffs wird überwiegend ein Verständnis in Anspruch genommen, das zu Beginn des Jahrhunderts im Wege einer methodischen Dezision durch F. de Saussure geprägt wurde: Sprache als System („la langue"; vgl. Kap. III). Dem steht ein Begriff von Sprache als einer - durchaus systematischen — Form des Handelns diametral gegenüber (Ehlich 1996). Selbst wenn pragmatische Analysen, etwa von Sprechhandlungen, als Phänomene der Sprach-Verwendung in die Betrachtung aufgenommen (vgl. Art. 20) und darauf bezogene Funktionen von Sprache thematisiert werden, bleibt die reduktive Systemauffassung häufig präsupponiert, wenngleich der Blick von Saussures zentralem Gegenstandsbereich der Sprachwissenschaft hin zum dichotomischen
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VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte
Gegenpol, dem Sprachgebrauch („la parole"; vgl. Kap. IV), erweitert ist. Grammatik und Semantik werden dann im Wesentlichen der System-Analyse überantwortet. Zudem führen sprachsystembasierte Analysen häufig dazu, entweder der Wortschatz- und Grammatikvermittlung - möglicherweise mit Einblendungen semantisierter Pragmatik — oder der Vermittlung kommunikativer Fähigkeiten Priorität einzuräumen. Pragmatik als Handlungstheorie von Sprache rekonstruiert demgegenüber stets die Form und die Funktion gemeinsam sowie systematisch den mentalen Bereich der beiden Interaktanten. Das Lehren und Lernen des Deutschen als Fremdsprache wird dann nicht in unvermittelte Lehr- und Lernziele und curriculare Sektionen zerlegt, sondern das Ziel besteht darin, in allen sprachlichen Dimensionen „fremdsprachlich handeln" zu lernen. Mit Blick auf die Analyse des Erst- und Zweit-Spracherwerbs sind parallele Divergenzen zu verzeichnen (vgl. Kap. IX). Hier ist theoriegeschichtlich besonders von Interesse, wie ein anfänglich kritisierter Behaviorismus in Form eines Neo-Behaviorismus reaktiviert zu werden scheint, nämlich in der (gegenüber LAD-basierten Anfangen avancierten) kognitiven Sprach(erwerbs)theorie. Die Präsupposition eines Sprachsystems im Saussureschen Sinne ist vor allem in den meisten Behandlungen von Interferenz und Transfer unangetastet (vgl. Grießhaber 1990). Die Grundkategorien in der semiotischen und handlungstheoretischen Linguistik sind different. Im einen Fall wird das (sprachliche) Zeichen als Basiselement des Sprachsystems betrachtet, im anderen Fall das Handeln, woraus das Zeichen - als zweckmäßiges Mittel — systematisch abgeleitet werden kann. In der durch Bühler (1934) für Deixeis angestoßenen Erkenntnis, dass bereits einzelne Lexeme und sogar Morpheme (z. B. Temporalmorpheme) dem Vollzug von verbalen Handlungen dienen, und nicht erst ganze Äußerungen, erweist sich die semiotische InhaltsFrage nach dem Relat (Referenzobjekt) eines Zeichens als starre Dingfestmachung und stattdessen die Rekonstruktion mentaler Prozeduren von Sprecher und Hörer, die mittels dieser Ausdrücke vollzogen werden, als erforderlich. Die Instruktionssemantik Weinrichs kann als Vorstufe einer handlungstheoretischen Verflüssigung betrachtet werden. All dies hat erhebliche Konsequenzen für die Bedeutungsanalyse und Bedeutungsvermittlung
sowie für eine sprachtypologisch reflektierte kontrastive Sprachbetrachtung des Deutschen. 2.2. ,Lernen' Hinsichtlich des Lernbegriffs sind ebenfalls divergente theoretische Bestimmungen zu verzeichnen. Dabei ist zunächst zwischen einem weiten und einem engen Phänomenverständnis zu differenzieren. Im weiten Sinne wird mit Lernen die Ausbildung all jener Tätigkeiten erfasst, die nicht zur biologischen Ausstattung des Menschen in der Weise gehören, dass sie automatisch mit der Geburt aktivierbar bzw. entwickelbar sind. Insofern hat Lernen stets mit der Entfaltung von Fähigkeiten, mehr noch mit Kenntnisgewinnung zu tun, um in der Wirklichkeit aktiv werden zu können. In einem engeren Sinne wird Lernen dem Erwerben kontrastiert (vgl. Kap. IX). Während ersteres die komplementäre Tätigkeit zum Lehren, d. h. zum interaktiven Vermitteln von Lerngegenständen durch einen Wissenden darstellt, ist letzteres rein von dem Individuum aus konzipiert, dessen Fähigkeit erweitert wird, unter Absehung insbesondere von institutioneller Lehre. Beide Termini präsupponieren individuelle Aktanten in ihrer Vereinzelung. Demgegenüber erfasst ein dritter Begriff, die Aneignung, die aktiv lernenden Aktanten als soziale Wesen und die Fähigkeitsgewinnung als auf historisch-gesellschaftlich geprägte und praktisch zu bewältigende Wirklichkeit gerichtet, so dass auch das Angeeignete selbst gesellschaftliche Qualität hat. Ist die historisch-gesellschaftliche Qualität des Denkens und Handelns von Menschen - im Unterschied zum Tier (vgl. die phylogenetische Ableitung bei A. N. Leontjew 1973) erst einmal anerkannt, bedarf es keiner diesbezüglich emphatischen Kategorisierung mehr. Auch die Gegenüberstellung von Erwerben und Lernen oder, vom Verlauf und dessen Phänographie her gefasst, zwischen „ungesteuertem"/„natürlichem" und „gesteuertem"/„schulichem" Fremdspracherwerb (vgl. Art. 67) erweist sich als inadäquat, sobald allgemein akzeptiert ist, dass sich Spracherwerb generell im Wege der Interaktion vollzieht (vgl. Art. 81). Curriculare Geplantheit und Methodik der Vermittlung beim schulischen Lernen wären dann reflektierte Verfahren, die an Kenntnisse über das menschliche Lernen produktiv anzuknüpfen haben - freilich unter den Bedingungen institutioneller Lehre (s. 2.3.).
64. Theorie und Empirie
Die gängigen Lerntheorien sind zwischen den Extremen behavioristischer und kognitiver Konzeptionen angesiedelt. Kaum vorangetrieben werden die Forschungen, die auf den entwicklungspsychologischen Grundlagen von Vygotskij in der sowjetischen Lerntheorie durchgeführt wurden (Galperin/ Leontjew 1972; genauer 79). Die Kritische Psychologie (Holzkamp 1983) und die linguistische Tätigkeits- und Handlungstheorie haben daran angeknüpft (Geier u. a. 1974; Rehbein 1977), sind jedoch — nicht zuletzt in Folge veränderter politischer Bedingungen für fremdsprachendidaktische Fragen wenig rezipiert worden. Lediglich der Sprach- und Entwicklungspsychologe Bruner (ζ. B. 1970) und der Lernpsychologe van Parreren (1966) haben eine etwas breitere Rezeption erfahren, wenngleich kaum bezogen auf ihre unterrichtstheoretischen Überlegungen (Bruner 1965; van Parreren 1966). 2.3. Institutionelles ,Lehren und Lernen' Der Begriff des Lehrens und Lernens kann, bei genauerer Betrachtung, nicht unabhängig von einem Institutionsbegriff diskutiert werden. Häufig wird jedoch selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Tradierung gesellschaftlichen Wissens von einem Wissenden an einen Nicht-Wissenden im Rahmen von Bildungseinrichtungen erfolgt, typischerweise in Schulen. Insofern gilt dem - alltäglichen wie wissenschaftlichen - common sense schulisches bzw. unterrichtliches Lehren und Lernen als Lehren und Lernen par excellence. Dabei wird verkannt, dass dies ein historisch besonderer, aus dem außerschulischen Lehr-LernZusammenhang abgeleiteter Fall ist, welcher als solcher viele zum (Fremdsprachen-)Unterricht konstatierten Probleme systematisch zeitigt. Ganze Phasen der Sozialisation vor und parallel zur Schule sind durch das Verhältnis von Lehren und Lernen ausgezeichnet, und immer wieder sind in alltägliche Handlungszusammenhänge Lehr-Lern-Sequenzen eingelagert (ζ. B. in Sprachkontaktsituationen, Dausendschön-Gay 1987). Gleichwohl bestehen qualitative Unterschiede. Lehren und Lernen außerhalb von Ausbildungsinstitutionen ist dadurch gekennzeichnet, dass der Lernende in einem bestimmten Handlungszusammenhang eine Neugierde, ein Wissensbedürfnis ausbildet und sich deshalb einem als Wissenden anerkannten Interaktanten anvertraut, so dass dieser seine Wissenslücke schließen kann. Dies mag verbal, aber auch
641 aktional (etwa durch das Vormachen einer Handlung) geschehen. Ein derartiger LehrLern-Diskurs basiert, wie Ehlich (1981) entfaltet, mithin auf Freiwilligkeit und gegenseitiger Anerkennung der Aktanten - beides verliert sich systematisch im institutionellen Unterrichtsdiskurs. Die außerinstitutionellen Handlungsformen des Wissenstransfers werden modifiziert, ja zuweilen zerbrochen. Ehlich/Rehbein (1986) analysieren dies exemplarisch für die Handlungsmuster Lehrerfrage oder Regiefrage durch den Lehrer, Lehrervortrag (mit verteilten Rollen), Aufgabenstellen/-lösen, Rätselraten in der Schule und Begründen. Institution kann dann nicht länger rein deskriptiv konzipiert werden (so in der avancierten ethnomethodologischen Konversationsanalyse; fremdsprachdidaktisch bezogen Bausch u. a. 1989), sondern wird als gesellschaftlicher Apparat erkennbar (wissenschaftshistorisch Ehlich/Rehbein 1979, theoretisch Koerfer 1994). Die Institution Schule (ebenso wie die Institution Hochschule; ζ. B. Boueke u.a. 1983) weist in unseren entwikkelten Gesellschaften die Qualität einer versprachlichten Institution auf (vgl. Lauerbach 1989); Lehren und Lernen geschehen also wesentlich durch sprachliche Handlungen - ein Umstand, der im Fremdsprachenunterricht zu einer Verschärfung des Vermittlungsproblems führt. Die Grundlagenforschung zum sprachlichen Handeln im Unterricht ist seit Beginn der siebziger Jahre in den USA wie in Europa intensiv vorangetrieben worden (zu Ziel und Leistungsfähigkeit der innovativen Analyseverfahren vgl. Ehlich/Rehbein 1976, zum Forschungsstand nach dem ersten Dezennium Redder 1983). Dennoch scheint es, als wenn bezogen auf den Fremdsprachenunterricht eine Repetition der Forschungsentwicklung verzeichnet werden müsse — abgesehen von der vermittelnden Analyse durch Lörscher (1983). So setzt der ausführliche Überblick von Henrici (1990) allein bei den Analysen zum fremdsprachlichen Unterrichtsdiskurs an, insbesondere bei den kanadischen Studien von Chaudron (ζ. Β. 1988), die sich auf die Diskussion von ESL beziehen, und fügt die seitens der Englisch- und Französischdidaktik sowie der Sprachlehrforschung in Europa unternommenen Forschungen ergänzend hinzu. Er diskutiert die unterschiedlichen theoretisch-methodischen Konzeptionen, insbesondere ,Interaktionsanalyse' und ,Diskursanalyse' - letzteres im Sinne einer deutschen Übersetzung der aus der Ethno-
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VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte
graphie des Sprechens abgeleiteten und terminologisch an Harris' Distributionalismus anknüpfenden amerikanischen discourse analysis (in diesem Sinne ist auch sein programmatischer Titel 1995a zu verstehen). Die Gemeinsamkeit der dort angesprochenen Theorien besteht darin, dass der Gegenstand wesentlich in seinen Erscheinungsformen ausgemacht wird, insbesondere also in der sprachlichen Oberfläche. Die Kategorie der Interaktion (vgl. House 1989) soll demgemäß gegenüber Sprecher- und hörerindifferenten Sprachtheorien (Strukturalismus, aber auch Searles Sprechakttheorie) seit Goffman und mit Hymes emphatisch den Umstand hervorheben, dass sprachliche Kommunikation sich im Wechsel zwischen mehr als einem individuellen Aktanten realisiert. So wird der Fokus insbesondere auf ein Phänomen gerichtet, welches den zentralen Gegenstand der CA (Conversation Analysis) ausmacht, auf den ,turn' (Redebeitrag im Wechsel zwischen S und H), sowie auf lokal und individuell konstituierte Beeinflussungen des Ablaufs der Interaktion. Beobachtbar und insofern im Rahmen der Theorie beschreibbar werden Konfigurationen von Abfolgen (sequences), die sich gegebenenfalls über mehr als einen turn-Wechsel (pair-Struktur) erstrecken, also eine Dreischrittigkeit (Mehan) oder größere „Makro"-Struktur aufweisen, was in der britischen discourse analysis nach Möglichkeit in Konstituenzbeziehungen gefasst wird (bes. Sinclair/Coulthard; vgl. Edmondson 1981). Gemeinsam ist den angesprochenen Theorien des weiteren eine grundsätzlich individualistische statt gesellschaftliche Basierung des menschlichen Handelns und eine dezidierte (CA, ethnography of speaking) oder weitgehende (deutsche ethnomethodologische Konversationsanalyse von Gülich, Kallmeyer, Kotschi, Quasthof!) Ausblendung des mentalen Bereichs. Die Gesellschaftlichkeit der Individuen wird durch Rollenkonzepte (Goffman) und den Bezug auf Konventionen, Normen, Maximen (Lewis, Grice) oder - zur Sicherung des gegenseitigen Verstehens — durch Kontextualisierungshinweise (Gumperz) einzuholen versucht. Das systematisch ausgeblendete Mentale wird akzidentiell eingeholt durch Konzepte wie das Erfahrungswissen um Standardformen oder Routinen sowie das „kognitive" Konzept der ,Strategie', das in Folge des Fokusschwenks auf die Lernertätigkeiten und deren prozessuale Entwicklung insbesondere Kasper (1981) und Faerch/Kasper (1983) für
die Sprachlehrforschung etablieren konnten (vgl. Kasper 1995). Die integrale Anlage der funktional-pragmatischen Kommunikationsanalyse koppelt hingegen Interaktion - als wesentliche Erscheinungsweise menschlicher Handlungen - nicht vom gesellschaftlichen Begriff der Arbeit ab und gesteht insofern dem gegenüber Interaktion spezifischeren Begriff der Kommunikation nicht eine soziale Fundierungskraft zu, wie Habermas - dem das Plädoyer für „kommunikative Kompetenz" als Lernziel zu verdanken ist - dies modelliert (Ehlich 1991); vielmehr wird, wie Ehlich im Uberblick ausführt, gerade der systematische Zusammenhang rekonstruiert, wird die Kategorie des ,Handlungsmusters' — im Unterschied zum oberflächenbezogenen ,Handlungsschema' (neuerdings ebenfalls ,-muster') bei Kallmeyer u.a. - als historisch-gesellschaftlich bewährte Verknüpfung von Handlungswegen zur Befriedigung repetitiver Bedürfnisse in repetitiven Situationen gefasst, wobei die innere Struktur von Handlungsmustern durch Zwecke bestimmt ist. Systematisch und insofern sprachpsychologisch sind zudem mentale Tätigkeiten (wie Einschätzungen, Wissenskonsultierungen, Entscheidungen und Bewertungen) in die Strukturanalyse der Muster einbezogen. Im Laufe der Sozialisation eignen sich die Gesellschaftsmitglieder ein Wissen darum („Musterwissen") an - auch um schulspezifische Muster zur Bewältigung des Unterrichtsdiskurses, was in kontrastiven Analysen zu berücksichtigen wäre und gewiss einen Teil der sog. „Lerngewohnheiten" ausmacht. An zwei DaF-Unterrichtstranskripten diskutiert Rodi (1994) exemplarisch die Konsequenzen, die sich für die Lernprozesse der Fremdsprachlerner ergeben, wenn die Lehrer von der Lehrerfrage im Unterschied zur Aufgabenstellung Gebrauch machen. Die Differenz ist in den mentalen Positionen der beiden Handlungsmuster festzumachen. Zugleich wird deutlich, dass nicht jede Lehreräußerung, die eine fragende Form aufweist, illokutiv als L-Frage zu bestimmen ist. Die Problematik der illokutiven Qualifizierung und Identifikation von Mustern ist seit den sprechakttaxonomischen Anfängen der Analyse von Unterrichtsdiskurs bekannt, allerdings methodisch — auch mit Blick auf die Kodierentscheidungen (cf. Rehbein/Mazeland 1991) - noch wenig umgesetzt. In einigen Projekten zum Fremdsprachenunterricht (vgl. Henrici 1988; Hüllen 1990) versucht man, im Wege detaillierter paraphrasierender
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64. Theorie und Empirie
Ablaufbeschreibungen dieses Problem zu bearbeiten. Besondere Aufmerksamkeit gilt beobachtbaren Korrekturen oder Reparaturen (Henrici/Herlemann 1986; Rost 1989). Im Unterschied zu den handlungstheoretischen Analysen von Rehbein (1984), in denen detailliert die verschiedenen Reparaturformen, diskursiven Plazierungen und mentalen Konsequenzen für die Äußerungs-, propositionale und illokutive Planung fremdsprachlicher Äußerungen bei den Lernern aufgezeigt werden, geht es bei diesen konversationsanalytischen Bestimmungen stärker um die Modifikationen im Ablauf des Unterrichtsdiskurses. Ferner liegen eine Reihe von Untersuchungen zu (Bedeutungs-)Erklärungen vor (Henrici/ Herlemann 1987; Köster 1994). Sie wären vor dem Hintergrund der Einsichten in institutionsspezifische Modifikationen des Begründens anstelle eines Erklärens (Ehlich/Rehbein 1986) sowie des Erläuterns (Bührig 1996) weitergehend darauf zu befragen, inwieweit der Wissenstransfer im Unterrichtsdiskurs die für Erklärungen notwendige Gesamtstruktur des lernerseitigen Wissens wie des Wissensgegenstandes analog zum außerschulischen Lehr-Lera-Diskurs systematisch einbeziehen kann oder nicht. Vor diesem Hintergrund wären auch einige didaktische — nicht methodische - Fragen nach der Umsetzung theoretischer, linguistischer Kenntnisse über die fremde Sprache in die Praxis des Unterrichtsdiskurses anzugehen. Bolte (1994) widmet sich am Beispiel von Grammatikunterricht den traditionell eingeschliffenen Verfahrensweisen der Wissensvermittlung (ζ. B. Referenz auf Paradigmen), die für ein an Wissen und Bedürfnis der Schüler adaptiertes diskursives Vorgehen blind machen. Sprachliches Handeln und mit ihm verknüpftes (fremdsprachliches) Lernen bzw. Anwenden von Wissen „unterhalb" des offiziellen Unterrichtsdiskurses diskutieren Götz (1994) und Knapp-Potthoff (1994) - man könnte von einem Implement des Lehr-Lern-Diskurses im Unterrichtsdiskurs sprechen. Sprache bzw. sprachlichem Handeln als Gegenstand und als Vermittlungsmedium im Unterrichtsdiskurs steht schließlich das sprachliche Handeln als Methode zur Seite. Die anfänglich euphorische Erkenntnis von Sprache als einem Mittel des kommunikativen Handelns wurde in ihrem Innovationspotential wissenschaftsgeschichtlich über diese drei Dimensionen hin verschoben, so dass heute unter einem „kommunikativen Unterricht" im Wesentlichen ein solcher verstanden
wird, der zwar sprachliche Kommunikation als Methode einsetzt, jedoch eine traditionelle Gegenstandsvermittlung betreibt. Hinsichtlich des Unterrichtsdiskurses ist Kommunikativität nicht selten darauf zurückgefallen, dass den Lernern Anlässe und Möglichkeiten zur turn-Übernahme eingeräumt werden undifferenziert nach dem sprachlichen Handlungsmuster und den ihm inhärenten kognitiven Möglichkeiten und Grenzen. Man könnte in dieser Zurücknahme eine Parallele zur Marginalisierung der Pragmatik in der Sprachwissenschaft sehen, noch bevor die Leistungsfähigkeit reflektiert entfaltet werden konnte. Die häufigsten kommunikativen Methoden sind Rollenspiel, (Theater-)Spiel (Wagner 1983) und - zur eigenen Unterrichtsform verselbständigt — Konversation (Rost 1989). Im „Konversationsunterricht" wird jedoch nicht „Konversation" getrieben - dies steht nämlich in einem fundamentalen Widerspruch zur institutionellen Situation, die durch die Freigabe des Propositionalen keineswegs außer Kraft gesetzt ist, wie sich bis in die sprachlichen Formulierungen hinein zeigen ließe (vgl. zum Modalverbgebrauch, bes. in einer „Verfügungsstunde", Redder 1984). Eine detailliertere Kenntnis über die Differenzen und Differenzierungen der sprachlichen Handlungen bis zu den Bewegungsformen der konzeptionellen Widersprüche steht noch aus; erst sie könnte aber die vermittlungsmethodischen Kapazitäten und Grenzen erschließen. Für das Rollenspiel haben die exemplarischen, am empirischen Vergleich mit der Realität von Bewerbungsgesprächen gewonnenen Analysen Grießhabers (1987) didaktische und daraus folgende methodische Einsichten ermöglicht. 3.
Empirie
Für Wissenschaften zur Vermittlung einer Fremdsprache ist eine enge Wechselbeziehung zwischen Praxis und Theorie charakteristisch. Daraus leitet sich wissenschaftsmethodisch ein hoher Stellenwert empirischer Forschung ab (Bausch u.a. 1984; Hart u.a. 1987). Der Empiriebegriff kann nicht unabhängig vom Theoriebegriff betrachtet werden (s. 1.). Positivistische Theorien sind in ihren Grundverfahren deduktiv angelegt, so dass empirische Bezüge allenfalls illustrierenden Charakter - Beispielcharakter im Sinne des Belegs, des Vor-Augen-Führens — gewinnen. Die Dialoganalyse (Hundsnurscher 1986)
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VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte
geht beispielsweise so vor. Dementsprechend wird eine theoretische Explikationskraft statt vermeintlich „bloßer Beschreibungsadäquatheit" integraler Theorien beansprucht (vgl. zur Lehrerfrage dialoganalytisch Bäk 1996). Gegenpol ist der positivistische Empirismus, der einzig den beobachtbaren Daten („data") wirkliche Dignität zugesteht und — formallogisch in Protokollsätzen - der minutiösen Beschreibung oder dem close reading Erkenntniskraft beimisst. Die Ethnographie des Sprechens und die conversation analysis bzw. Konversationsanalyse verfahren derart (zum Verdacht von deren „geheimem Positivismus" s. Flader/von Trotha 1991). Die reflektierte Empirie, derer sich eine dialektisch-hermeneutisch verfahrende Theorie methodisch bedient, soll die Grundlage für wissenschaftliche Erkenntnisse bilden, indem diese aus dem empirischen Material heraus gewonnen werden. Der Schritt vom Besonderen zum Allgemeinen wird im Wege der begrifflichen Rekonstruktion vollzogen (s. 1.). In jedem Falle ist freilich zwischen Forschung und Darstellung zu unterscheiden. Eine mit empirischen Beispielen reich ausgestattete Darstellung ist nicht notwendig Ausdruck einer sorgfaltigen analytischen Auswertung des Konkreten, wie umgekehrt eine empiriearme Darstellung sehr wohl das Ergebnis intensiver empirischer Analyse sein mag. Die jeweilige Argumentation ist mithin genauer zu beachten. Zudem sind zu Zwecken der Darstellung zuweilen die Abfolge der Erkenntnisgewinnung am Konkreten sowie die Ausführlichkeit und Form der Zitierung empirischer Daten zu modifizieren. Stets muss jedoch für die Rezipientlnnen eine Überprüfung im Nachvollzug der Argumentation gewährleistet sein, d. h. die Daten müssen vollständig und unredigiert zugänglich sein - ein Erfordernis, dem insbesondere bei eher illustrierend verfahrender Empirie noch keineswegs selbstverständlich nachgekommen wird. Pro Fragestellung different sind die Orte, an denen Empirie in die Analyse eingeht - sowie schließlich die Art und Weise der empirischen Verfahren. Rückgebunden sind sie alle an die Frage, wann eine empirische Sättigung der theoretischen Aussagen erreicht, wann also Generalisierbarkeit gewährleistet ist. Die Probleme der Empirie stellen sich für die Fremdspracherwerbsforschung nicht spezifisch, sondern für alle geisteswissenschaftlichen Disziplinen in vergleichbarer Weise. Ich verweise deshalb auf
die zahlreichen Diskussionen dazu und konzentriere mich auf experimentelle und FeldForschung. 3.1. Experimentelle Forschung Sowohl im lernpsychologischen und spracherwerbsanalytischen Bereich als auch in der Unterrichtsforschung (z.B. Chaudron 1988) werden gezielt Situationen hergestellt, um bestimmte Elemente des Gegenstandes bzw. der Gegenstandshandhabung durch die Versuchspersonen zu ermitteln. Die experimentellen Settings differieren in Reflektiertheit und Komplexion erheblich. Dennoch kann man allgemein sagen, dass die Zeit simpler Labor-Empirie vorbei ist. Genauer: experimentelle Prüfverfahren gewinnen in der Fremdspracherwerbsanalyse zunehmend eine ergänzende statt einer einzig grundlegenden Funktion (vgl. Burmeister 1979). Begann etwa Kasper (1981) noch mit künstlichen Settings, werden heute zunächst Feldforschungen bevorzugt, ehe dann wiederum an traditionell psychologische Verfahren wie die Introspektion (Faerch/Kasper 1987) oder das laute Denken (Herrmann 1994) angeknüpft werden kann. Das Spektrum raffinierter Experimente reicht von stärker diskursanalytisch reflektierten (z. B. Rehbein 1987) bis hin zu modernsten PC-gestützten Verfahren (Legenhausen/Wolff 1990). Nicht experimentell, sondern eher im Übergang zur Feldforschung sind traditionelle Fragebogenerhebungen, Diskurs- oder Texterhebungen wie z. B. — leider häufig zuvor oder in der Darstellung mehr oder minder redigierte — Schüleraufsätze (Pommerin 1982) oder Bildverbalisierungen (Redder 1985; Oomen-Welke 1987) und mehr oder minder freie („narrative") Interviews angesiedelt (Projekt HDP 1977). Das daran anknüpfende langjährige europäische Forschungsprojekt nutzte experimentelle Settings, Interviews und Feldforschungsmethoden parallel (Perdue 1993). Die Probleme der angeführten Verfahren bestehen darin, dass die untersuchten Aktanten jeweils in eine Aufgabe-Lösungs-Konstellation hineingestellt werden. Diese Handlungsbedingungen mögen zwar mit solchen schulischen fremdsprachlichen Handelns vergleichbar sein, nicht jedoch mit außerschulischem Handeln. Zudem ist dem Experiment die Gefahr, dass lediglich eine Lösung abgeliefert wird - und also die Lösungsbewertung für den betreffenden Aktanten gleichgültig ist - , systematisch inhärent, denn eher
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64. Theorie und Empirie
zufällig und vereinzelt erfahrt die „Versuchsperson" die Auswertung des Experiments; die direkte Lösungsbewertung muss ihm gar meist vorenthalten werden. Dieser Umstand spricht für einen behutsamen und sparsamen Umgang mit solchen Verfahren. 3.2. Feldforschung Die klassische Feldforschung besteht in teilnehmender Beobachtung. Das sog. Beobachterparadox ist als resultierendes Problem vieldiskutiert, faktisch jedoch selten derart ausgeprägt, dass sich empirische Feldforschung - es sei denn aus ethischen Gründen - verbieten oder selbst konterkarieren würde. Häufiger besteht das Verfahren konkret eher in dem einer beobachtenden Teilnahme; so etwa zu Beginn des Heidelberger Forschungsprojekts (1975) - leider ohne das hochinteressante Material umfassend auszuwerten. Mit der Entwicklung technischer Aufzeichnungsmedien wird das begleitende oder aus dem Gedächtnis erstellte Protokoll zunehmend durch die Fixierung des authentischen Handelns auf Datenträgern abgelöst. So besteht der Standard heutiger Feldforschung zumeist in audio-visueller Aufzeichnung - verdeckt, offen oder nachträglich aufgedeckt und anschließender Transkription (Verschriftung) der verbalen, nonverbalen und aktionalen Handlungen. Dies gilt insgesamt für moderne Forschungen zum (fremd-)sprachlichen Handeln im Unterricht. Die Differenzen bestehen in den Transkriptionsverfahren. Speziell für Zwecke der Mehrpersonenkommunikation im Unterricht wurde Mitte der siebziger Jahre das Verfahren der „halbinterpretativen Arbeitstranskription (HIAT)" entwickelt und für die Notation nonverbaler und paraverbaler Informationen ausgebaut sowie für DOS- und Macintosh-Systeme technisiert (Ehlich 1993). Die papierene Form von z.B. Unterrichts-Transkripten (Redder 1982) kann heute durch CDs wieder in Originalton zu Gehör gebracht werden (Redder/Ehlich 1994; Wagener 1994 zum Dokumentationsstand insgesamt). Die andere Transkriptionstradition rührt vor allem von der conversation analysis und ihren meist zwei Aktanten umfassenden Interaktionen her und wird auf Bedürfnisse der Mehrpersonenkommunikation hin modifiziert (s. die Diskussion in Edwards/ Lampert 1993). Auf dieser Grundlage sind die Transkripte zum Lernen einer Fremdsprache bzw. des Deutschen als Fremdsprache in den Bielefelder Forschungen erstellt (ζ. B. Henrici 1995a). Eine Zwischenform wählen Hüllen
und Lörscher. Transkriptionen erfordern einen hohen Zeitaufwand, der neben Schwierigkeiten der Erschließung des Feldes zuweilen zu methodischen Kurzschlussversuchen verleitet. Für die Analyse des fremdsprachlichen Handelns in Lehr-Lern-Diskursen, Unterrichtsdiskursen und sonstigen Diskursarten ohne Lehr-Lern-Qualität dürfte sich eine derartige Empirie als unverzichtbar erweisen. Sie kann um einige weitere Verfahren, insbesondere die Triangulation (Konfrontation der Beteiligten mit der Aufnahme bzw. dem Transkript) vertieft werden. Darüber hinaus wird im Rahmen der Authentizitätsdiskussion auch für die praktische Rückkopplung in Form von Lehrmaterialien zunehmend eine empirisch fundierte Erstellung von Beispielen für Mündlichkeit gefordert. Erste Nutzungen von Transkripten erfolgten z.B. im zweisprachigen Lehrwerk von Aksoy u. a. (1992). Für die didaktische DaF-Ausbildung haben Henrici/Riemer (19962) auf Transkriptionen zurückgegriffen; Wiesmann (1999) analysiert Hochschulkommunikation und zieht Konsequenzen für ausländische Studienbewerber. Zwar bewusst erstelltes, aber doch teilweise von authentischen Aktanten realisiertes Handeln im Umfeld von Restaurant und Hotel nutzt Braun (1993). Ein interkulturelles Training an Hand eines teilverdeckt aufgenommenen Materials aus dem Auslandsamt schlagen Liedke u.a. (1999) vor. Dies seien einige Beispiele, an denen auch der Weg von einer empirisch fundierten Theorie zurück zu einer empirienahen und reflektierten Vermittlungs-Praxis verdeutlicht werden kann.
4.
Literatur in Auswahl
Aksoy, Aydan u.a. (1992): Lehrbuch Deutsch für Türken. Eine praktische Grammatik in zwei Sprachen. Hamburg. Bäk, Yong-Ik (1996): Das Frage-Antwort-Sequenzmuster in Unterrichtsgesprächen (Deutsch-Koreanisch). Tübingen. Bausch, K.-Richard u.a. (Hg.) (1984): Empirie und Fremdsprachenunterricht. Tübingen. Bolte, Henning (1994): Grammatikinstruktion (kommunikativen) Fremdsprachenunterricht. recht.
im Ut-
Boueke, Dietrich; Gert Henrici; Frieder Schülein (1983): Handlungsfunktionen und Diskursgliederung in selbständig arbeitenden studentischen Lerngruppen. In: Konrad Ehlich; Jochen Rehbein (Hg.): Kommunikation in Schule und Hochschule. Tübingen, 137—155.
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VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte
Braun, Christine (1993): „Guten Tag! Sie wünschen bitte?" Szenen aus Hôtellerie, Gastronomie und Tourismus. Arbeitsbuch + Videofilm. München. Bruner, Jerome S. (1965): Toward a Theory of Instruction. Cambridge/Mass, (dtsch. 1974, Düsseldorf).
terricht „Deutsch als Fremdsprache". In: Angelika Redder (Hg.): Diskursanalysen in praktischer Absicht. = OBST 49, 39-62.
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648
VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte
65. Deutsch als Tertiärsprache 1. 2. 3. 4. 5. 6.
1.
Definition und Begründung des Forschungsgegenstandes Zur Entwicklungsgeschichte des Forschungsgegenstandes Forschungsmethodische Fragen Unterrichtsdidaktische und -methodische Fragen Ausblick Literatur in Auswahl
Definition und Begründung des Forschungsgegenstandes
Bei der Definition von Deutsch als Tertiärsprache gehen wir von folgenden Aspekten aus: Deutsch ist bereits die dritte oder weitere Sprache, die jemand spricht; jemand hat Deutsch strukturiert gelernt und nicht wie eine Muttersprache oder Zweitsprache erworben. Da die Aneignungstypen „lernen" und „erwerben" sich durch zahlreiche externe Faktoren voneinander unterscheiden (z.B. auf wenige Stunden beschränkter Unterricht mit Lehrwerken, expliziten Grammatikregeln und eher gestellten Kommunikationssituationen vs. aneignen in einer Immersions(ähnlichen)-Situation im Zielsprachenland), sollen sie hier getrennt und als zwei eigenständige Unterformen von Sprachaneignung gesehen werden (vgl. Art. 55 und 78). Die folgenden Aussagen beziehen sich folglich ausschließlich auf den Aneignungstyp „lernen". Als Erstsprache wird hier die Muttersprache (= LI) verstanden. L2 ist die erste Fremdsprache, die jemand lernt. Dies erfolgt meist im Fremdsprachenunterricht in der Regelschule, und der Erstspracherwerb kann bei Beginn des Fremdsprachenunterrichts als weitgehend abgeschlossen gelten. Die Tertiärsprache ist mindestens die dritte Sprache, d.h. die zweite Fremdsprache, die jemand lernt. Zu diesem Zeitpunkt ist die Person älter und erfahrener als zum Zeitpunkt des Erlernens der ersten Fremdsprache. Deutsch als Fremdsprache ist eine typische Tertiärsprache, da sie selten als L2 und oft oder häufig als L3 oder Lx (x > 3) gelernt wird. D.h. die meisten Lernenden beginnen mit Deutsch, nachdem sie bereits eine andere Fremdsprache gelernt haben. In vielen Fällen ist dies Englisch. Auch in Ländern, in denen bisher häufiger Deutsch als erste Fremdsprache unterrichtet wurde, wie z.B. Ungarn, übernimmt seit Beginn der neunziger Jahre Englisch die Rolle der L2 und hat Deutsch
den Platz der L3 inne. Selbst in Ländern mit Englisch als LI nimmt Deutsch - wenn eine L3 überhaupt curricular vorgesehen ist meist den Rang der L3 ein, z. B. nach Spanisch (seit dem NAFTA-Zusammenschluss) als immer häufiger gewählte L2 in den USA, oder nach Französisch als L2 im englischsprachigen Kanada oder in Großbritannien. In den nordafrikanischen Ländern beispielsweise wird Deutsch als L3 häufig nach Französisch als L2 gelernt. Aus lerntheoretischer, kognitionspsychologischer und konstruktivistischer Sicht macht es Sinn, deutlich zwischen dem Lernen einer L2 und dem Lernen einer L3 oder L3 + η zu unterscheiden. Wenn Lernende beginnen, eine L2 zu lernen, müssen sie als völlig unerfahren im Hinblick auf das Fremdsprachenlernen gelten. Bei Beginn des L3-Lernens können sie jedoch als kompetentere Fremdsprachenlernende gelten, weil sie auf ihre Erfahrungen mit dem L2-Lernen zurückgreifen können. Sie sind älter, verfügen über mehr Lebenserfahrung und Intellektualität, sie kennen wahrscheinlich inzwischen ihren Lerntyp und nähern sich in dieser Weise dem neuen Gegenstand an. Möglicherweise haben sie bereits Fremdsprachenlern- sowie Kommunikationsstrategien und subjektive Theorien über das Sprachenlernen (vgl. Kallenbach 1996; Mißler 1999) entwickelt, die ihnen, besonders zu Beginn des Lernprozesses, das Lernen erleichtern. L3-Lernende gehen selbstsicherer als L2-Lernende an einen Text heran. Sie schauen gezielt nach vertrauten Strukturen und Worten, suchen nach Kognaten, raten bei Neuem und Unbekanntem und versuchen, nicht jedes Detail zu verstehen, sondern die Essenz, die Hauptaussagen des Textes zu erfassen. Sie kennen aber auch das Gefühl, etwas sagen zu wollen, ohne zu dem Zeitpunkt über die sprachlichen Mittel dafür zu verfügen. Dank ihrer vorherigen Fremdsprachenlernerfahrung haben sie aber wahrscheinlich inzwischen gelernt, mit dieser vorübergehenden „Unzulänglichkeit" souveräner und selbstsicherer umzugehen. So werden mögliche Schwierigkeiten im Lernprozess (ζ. B. Ambiguitäten oder Überforderung) antizipiert oder zumindest wiedererkannt und von daher auch gelassener ertragen. Insgesamt ist ihr Lernen durch stärkere Systematizität, Analysefahigkeit und dem Wunsch nach Bewusstmachung geprägt. Der Schritt, eine weitere, d.h. dritte oder vierte usw. Fremdsprache zu lernen, ist nicht
649
65. Deutsch als Tertiärsprache
mehr so gravierend wie der von der ersten zur zweiten Fremdsprache (vgl. Hufeisen 1998, 163f.). Man kann dies folgendermaßen veranschaulichen: Universalien Lernumwelt LI Abb. 65.1: Erwerb einer LI.
Je nach Qualität und Quantität von Input wird eine LI erworben.
einer anderen Fremdsprache und zweitens durch spezifische Fremdsprachenlernerfahrungen und -Strategien, die nicht deckungsgleich mit allgemeinen Lebens- und Lernerfahrungen und Lernstrategien sind. Wenn wir hingegen den Fall einer L4 annehmen, so erweitert sich der eben hinzugekommene Bereich nicht so fundamental wie zwischen L2 und L3: Universalien Lernumwelt Lebens- und Lernerfahrungen und Lernstrategien
Universalien Lern umweit Lebens- und Lernerfahrungen und Lernstrategien
Fremdsprachenlernerfahrungen und -Strategien
Wissen um den eigenen Lerntyp Abb. 65.2: Lernen einer L2.
Das Individuum bringt allgemeine Lebensund Lernerfahrungen und Strategien in den Lernprozeß ein. Li interagiert — positiv oder auch negativ - in individuell unterschiedlichem Ausmaß mit dem L2-Lernprozess. Universalien Lernumwelt Lebens- und Lernerfahrungen und Lernstrategien
Fremdsprachenlernerfahrungen und -Strategien
Wissen um den eigenen Lerntyp
Abb. 65.3: Lernen einer L3.
Die Einflussfaktoren beim Lernen einer L3 sind nicht nur komplexer geworden, sondern unterscheiden sich auch qualitativ deutlich vom L2-Lernen, erstens durch die Kenntnis
Abb. 65.4: Lernen einer L4.
Mit der L2 wird folglich ein Grundstein für die allgemeine Mehrsprachigkeit gelegt, und dies hat Folgen für das Sprachenlernen und Sprachenlehren. Auf Grund der genannten Unterschiede zwischen dem Lernen einer L2 und dem Lernen einer L3 lässt sich die Etablierung des Forschungsgegenstandes des Deutschen als Tertiärsprache (als einer spezialisierten Unterform des Deutschen als Fremdsprache allgemein) in Abgrenzung zu Deutsch als Zweitsprache ableiten. Insgesamt ist festzustellen, dass Tertiärsprachenforschung hauptsächlich in Europa, Nordafrika und einigen asiatischen Ländern betrieben wird, sehr viel weniger jedoch in Nordamerika oder Australien. Dies mag zum einen damit zusammenhängen, daß dort die Tertiärsprachenproblematik systematisch nicht so häufig auftritt, zum anderen aber auch mit dem dort stark vertretenen psycholinguistischen Ansatz, der Mehrsprachigkeit als ein allgemeines Konzept sieht, in dessen Rahmen z.B. die Besonderheiten des „Lernens" und „Erwerbens" nur marginal betrachtet werden und zwischen Zwei- und Dreisprachigkeit nicht unterschieden wird.
650 2.
VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte
Zur Entwicklungsgeschichte des Forschungsgegenstandes
In der Spracherwerbsforschung wurden ursprünglich und gelegentlich auch heute noch L3-spezifische Fragen einfach der L2-Forschung subsumiert, weil davon ausgegangen wurde, daß kein Unterschied zwischen dem Lernen einer L2 und dem Lernen einer L3 oder auch jeder weiteren Fremdsprache besteht. So verbergen sich hinter etlichen L2Studien tatsächlich eigentlich L3- bzw. L3 + n-Studien, z.B. Köhler (1975, 21) oder Faerch/Kasper (1986,211). Erst praktische Probleme im Schulalltag, wie Interferenzerscheinungen zwischen den verschiedenen Fremdsprachen, lenkten das Augenmerk auf das Phänomen, dass nicht nur die Muttersprache (LI) mit anderen Sprachen (Lx) interagiert. Auch verschiedene Fremdsprachen (Lx und Ly) interagieren miteinander — oft sogar unabhängig von der LI. Es zeigte sich, dass Lernende z. B. im Französischunterricht in Deutschland Fehler produzierten, die offenbar auf den Einfluss des Englischen als erster Fremdsprache zurückgingen, nicht aber durch den Einfluß des Deutschen als LI erklärt werden konnten. Bis dahin hatte die LI als die einzige Interferenzfehlerquelle gegolten. Die ersten Arbeiten zu dem Phänomen L3 entstanden so als eine Warnung für den Fremdsprachenunterricht, die beiden Fremdsprachen sorgfältig getrennt voneinander zu lehren, eine der ersten bereits 1937 (Braun 1937, 121). Eine größere Anzahl von Arbeiten zur selben Thematik entstand in den siebziger Jahren, als von lernpsychologischer Seite eine strenge Trennung der Sprachen voneinander als wichtig angenommen wurde, z. B. Hombitzer (1971, 21 und 34), de Vriendt (1972, 49), Ernst (1975, 88 und 97) und Lübke (1977, 96 und 100). Man sah diese Interaktion zwischen den Sprachen ausschließlich als Interferenzquelle an und empfahl deshalb, jeglichen Sprachenkontakt zu vermeiden. Erst in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren entdeckte man, dass diese Interaktion zwischen den Sprachen nicht allein Fehler produziert und zu Interferenzen führt, sondern auch Chancen bieten kann für den Fremdsprachenunterricht. Man erkannte, dass Lernende vorhandene, vorher erlangte Kenntnisse und Fertigkeiten aus der und über die L2 auf den Lernprozeß, die Perzeption, die Rezeption und die Produktion der L3 übertragen können, um sie auf verschiedenen Ebenen zu erleichtern, z. B. Abel (1971, 356),
Bieritz (1974,1-4), Hufeisen (1991,97130), Müller (1993, 119 und 121 f.) und Schild (1993, 350 und 253). Auf struktureller, lexemsemantischer und pragmatischer Ebene gilt dies besonders für verwandte Sprachen. Allgemeine Fremdsprachlernerfahrungen und Lernstrategien lassen sich aber auch auf den Lernprozess einer nichtverwandten Sprache anwenden. Es ging also nicht mehr in erster Linie um die Interferenz, sondern um den positiven Transfer und vor allem die Einbeziehung von Lernerfahrungen und Lernweisen im Allgemeinen, z. B. Zapp (1979,9) und Zapp (1983, 194), und von Fremdsprachenlernerfahrungen im Speziellen, die über die Sprachenkompetenz per se hinausweisen. Dem Lateinischen war von bildungsbürgerlichem Volksmund dieser positive Effekt, zumindest für das Erlernen romanischer Sprachen, aber auch für das Erlernen sprachlicher Strukturen, logischer Einsicht und allgemeiner Lernfähigkeit schon sehr viel länger nachgesagt worden. Die wissenschaftlich fundierte Übertragung dieser Erkenntnis auf moderne Fremdsprachen erfolgte jedoch erst viel später. Der Forschungsgegenstand L3 beginnt sich zu etablieren, L3-spezifische Forschungsprojekte werden eingerichtet, z. B. Bahr/Bausch/ Kleppin u.a. (1996, 15-33), Dissertationen geschrieben, Tagungen, Konferenzen und Symposien abgehalten, um dem Phänomen auf die Spur zu kommen, und zahlreicher werdende Veröffentlichungen dokumentieren den Fortgang der Entwicklung, z.B. Hufeisen (1993c, 15) und Bausch (1995, 449f.) und Hufeisen/Lindemann (1998). Erst in jüngster Zeit und recht zögerlich erweiterte sich der Forschungsgegenstand L3 auch auf die Zielsprache Deutsch, z.B. Stedje (1976, 15f.), Welge (1987, 193 f. und 201 f.), Bauer (1989) und Bausch/Heid (1990, 11-18: „Zu den Besonderheiten des Lehrens und Lernens von Deutsch als zweiter Fremdsprache", Thesen und Empfehlungen eines Expertenkolloquiums des Goethe-Instituts). Angesichts der zahlreichen möglichen Sprachenkonstellationen vor Deutsch als L3 wird es umfangreiche Forschungen erfordern, um den Gegenstand angemessen zu beschreiben. Die bislang am häufigsten untersuchte Sprachenreihenfolge ist X als LI, Englisch als L2 und Deutsch als L3, und nur sehr wenige Arbeiten beschäftigen sich bisher mit X als LI, Französisch als L2 und Deutsch als L3.
651
65. Deutsch als Tertiärsprache
3.
Forschungsmethodische Fragen
Die meisten Arbeiten zu den Gebieten L3 allgemein und Deutsch als Tertiärsprache sind in erster Linie Fehleranalysen, ζ. B. Hufeisen (1993b) oder Vogel (1992), ein Umstand, der sich einerseits aus der Genese des Forschungsgegenstandes - erhöhte Aufmerksamkeit den Fehlern im schulischen und universitären Unterricht gegenüber, die aus den vorher gelernten Fremdsprachen resultieren — erklären lässt, zum anderen aus der Tatsache, dass der Forschungsgegenstand überhaupt erst einmal abgesteckt werden muss. Dabei sind Fehleranalysen der Untersuchungstyp, der am einfachsten und schnellsten durchzuführen ist. In den meisten Fällen werden die von ein oder zwei Probandengruppen produzierten Daten in einer Querschnittsuntersuchung analysiert. Dabei gibt es verschiedene Varianten: Die Daten einer Gruppe mit einer LI, einer L2 und einer zielsprachlichen Sprache L3 werden mit Daten einer anderen Gruppe verglichen, bei der die LI mit der LI der ersten Gruppe identisch ist, für die aber die Zielsprache erst die erste Fremdsprache, also die L2 ist. Besonderes Augenmerk wird auf die Normabweichungen gelegt, die durch die L2 entstehen. Ein anderer Untersuchungstyp wählt eine größere Gruppe mit unterschiedlichen LI, bei der jedoch die L2 und die L3 gleich sind. Auf Dauer ist dieser Methodenansatz jedoch unbefriedigend, weil er ausschließlich auf Produktionsdaten basiert. Zwar muss es noch eine Vielzahl von Fehleranalysen zu den verschiedenen Sprachenkombinationen geben, aber eine Hinwendung zu Prozessdaten einerseits und lernerorientierten Daten andererseits ist wünschenswert, um dem Forschungsgegenstand ein noch schärferes Profil zu verleihen. Dabei ist an Cloze Tests, Lernerbefragungen (Interviews und Retrospektionen), Introspektionen (ζ. B. Lerntagebücher) zu denken, weiterhin an Datenerhebungen durch Lautes Denken und Akzeptabilitätsbeurteilungen. — Alle Verfahren kommen nicht umhin, die Lernprozesse aus den erhobenen Daten zu deduzieren, aber eine mehrperspektivische Sicht, d. h. eine Kombination aus verschiedenen Erhebungstypen ermöglicht eher eine valide Erklärung als allein Fehleranalysen. Zudem basieren die meisten vorliegenden Ergebnisse in erster Linie auf Querschnittsuntersuchungen mit quantitativen Aspekten. Eine größere Anzahl an longitudinalen Stu-
dien mit qualitativen Auswertungszielen wäre wünschenswert. Augenscheinlich entwickeln sich die europäische und die nordamerikanische Forschung auf diesem Gebiet immer stärker auseinander (vgl. Hufeisen 2000b). Während sich in Deutschland und Europa allgemein ein Trend zu stark lernerbezogenen Daten, die von den Lernenden selbst geliefert werden, also z. B. Lautes Denken oder Introspektion, abzeichnet, lehnt die nordamerikanische Forschung diese Daten als zu unzuverlässig und nicht valide ab und arbeitet nach wie vor stärker mit psycholinguistisch angelegten Erhebungen, aus denen z. B. Lernstrategien oder Erkenntnisse über das Sprachenlernen allgemein abgeleitet und deduziert werden. 4.
Unterrichtsdidaktische und -methodische Fragen
Die oben beschriebenen Sachverhalte werden sich in eigenen didaktischen und methodischen Konzepten niederschlagen müssen, dazu z.B. Hufeisen (1994), Krumm (1995) und Neuner (1996). Vorbedingungen wie vorgängige Sprachenkompetenzen bei Lernenden und Lehrenden sind zu klären, einzelne auf die jeweilige Sprachenfolge abgestimmte Curricula zu entwickeln, und möglicherweise ist ein ganz neuer Typ von Fremdsprachenlehrwerk zu kreieren, der die verschiedenen Fremdsprachen mehr miteinander verzahnt. Es ist zu testen, ob die Zusammenarbeit der Fremdsprachenlehrenden einer Lerngruppe gestärkt werden kann, ob sie phasenweise vielleicht gemeinsam unterrichten, ob insgesamt beispielsweise im Anfangsunterricht die vorher gelernte Fremdsprache den Status einer Meta-/Erklärsprache (vgl. hierzu Hufeisen 1993a, 169) bekommen kann. Ein Gymnasium in Luxemburg beispielsweise erteilt den Englischunterricht (die Lernenden sind zu diesem Zeitpunkt etwa 14 Jahre alt) auf Deutsch, den Italienischunterricht auf Französisch (die Lernenden sind zu diesem Zeitpunkt zirka 16 Jahre alt). Dies bedeutet insgesamt eine konsequenter multilingual ausgelegte Fremdsprachen(aus)bildung als dies bisland noch der Fall ist. Dies gilt vor allem auch für die Fremdsprachenlehrerausbildung, Fort- und Weiterbildung. Ganz konkret bedeutet dies aber auch, dass die Fremdsprachenlehrenden voneinander zumindest wissen müssen, welche Inhalte auf welche Weise sie zu einem gegebenen
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VIII. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte
Zeitpunkt unterrichten. Sie sollten wenigstens über passive und rezeptive Fähigkeiten und Fertigkeiten in den anderen unterrichteten Fremdsprachen verfügen. Ein weiterer wichtiger Punkt für die didaktisch-methodische Planung des L3-Unterrichts ist das Alter der Lernenden. Wenn die Lernenden mit der L3 beginnen, sind die meisten fast erwachsen. Die Lernweisen unterscheiden sich stark von denen von Kindern oder jüngeren Jugendlichen. Die Tertiärsprache wird bewusster, kognitiver und konstruktivistischer gelernt. Dies hat natürlich Folgen, z. B. für die Grammatikprogression eines Lehrwerkes, deren Verarbeitung stärker in die Verantwortung der Lernenden selbst gestellt werden kann. Die Lernenden können sich mit selbstentdeckendem Lernen noch aktiver in den Lernprozess einschalten. Sie können die fortlaufende Organisation und Reorganisation von Wissen sicherer steuern. Komplexere sprachliche Einheiten, wie z. B. der Text, seine spezifische Struktur und Funktion und seine systematische Zugehörigkeit zu einer bestimmten Textsorte kann in den Vordergrund gerückt werden. In diesem Zusammenhang wird auch über die Übersetzung nachgedacht werden müssen: Inwiefern kann sie als interkulturelle Mittlerinstanz zwischen den Fremdsprachen Aufgaben bei der Bewusstmachung, Kontrastierung und Kognitivierung übernehmen? Bei einer eventuellen Zusammenarbeit in den Fremdsprachen bietet sich hier beispielsweise ein Vergleich der verschiedenen Realisationen einer bestimmten Textsorte in den verschiedenen Fremdsprachen an. Die Lernprogression kann möglicherweise sehr viel steiler angelegt werden als bisher. Insgesamt zeichnet sich der Lernprozess durch größere Systematizität (ohne linguistische Vollständigkeit anzustreben), Bewusstmachung, Analyse und stärker selbstgesteuertes Lernen aus. Die Inhalte der Lehrwerke müssen sich sicher von denen für jüngere Lernende unterscheiden. Es geht nunmehr wahrscheinlich weniger um typisch jugendspezifische Themen, wie z. B. Informationen über eine gleichaltrige peer-group im Zielsprachenland, sondern mehr um Fakten und Wissenswertes des jeweiligen Landes. Es ist wahrscheinlich, dass die L3 in vielen Fällen nicht mehr zum Pflichtkanon der Bildungsinstitutionen gehört, sondern aus eigenem Antrieb heraus gelernt wird. Die Motive (beruflicher, touristischer oder anderer Art) mögen variieren, aber die Motivation ist sicher erheblich höher als zum Zeitpunkt des Beginns des L2-Lernens.
5.
Ausblick
Es ist wahrscheinlich, dass die Zahl der empirischen Untersuchungen zur Thematik L3 in den nächsten Jahren in erheblichem Maße zunehmen werden, um die Spezifik noch stärker herauszuarbeiten und vor allem von der allgemeinen Zweit-, Fremdsprachen- und Spracherwerbsforschung abzugrenzen. Schwierigkeiten bei der Sichtung des Forschungsstandes werden sich aus den zahlreichen Möglichkeiten zur Untersuchung von unterschiedlichen Sprachenkonstellationen und den verschiedenen methodischen Zugriffsmöglichkeiten ergeben. Diese werden eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse weiter erschweren. Die L3-Forschung allgemein und Deutsch als Tertiärsprache als ein Teilgebiet haben sich in den letzten Jahren ihren Platz in der Forschungslandschaft gesichert und werden diese Position auf Grund der noch bestehenden Forschungsdesiderata ausbauen. 6.
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IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II: Erklärungsansätze für den Zweitsprachenerwerb und das Fremdsprachenlernen 66. Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung I: der behavioristische Ansatz 1. 2. 3.
7. 8.
Einleitung Behavioristische Lerntheorie Die sog. Kontrastivhypothese — ihre Grundaussagen Kritik an der Kontrastivhypothese Neuere modifizierende Entwicklungen im Kontext der Kontrastivhypothese Didaktische Aspekte der Kontrastivhypothese Schlussbemerkungen Literatur in Auswahl
1.
Einleitung
4. 5. 6.
Es ist eine allgemeine Erfahrung, dass beim Erwerb einer zweiten Sprache die Ausgangssprache einen spürbaren Einfluss ausübt. Dieser zeigt sich besonders deutlich in der Aussprache, aber auch in den Bereichen von Grammatik und Wortschatz einschließlich seiner Bedeutungsstrukturen. Diese vorwissenschaftliche Erfahrungstatsache führte zu Überlegungen und Überprüfungen auch von wissenschaftlicher Seite. Die Annahme, dass die Ausgangssprache der Lernenden den Erwerb einer zweiten Sprache maßgeblich steuert bzw. festlegt, lag also nahe. Forschungsgeschichtlich bildeten sich jedoch unteerschiedliche Positionen heraus, was die Intensität des ausgangssprachlichen Einflusses betraf. Dabei lässt sich feststellen, dass nur zu Beginn eine im engeren Sinne „deterministische" Position eingenommen wurde. Dies geschah unter dem Einfluss der behavioristischen Lerntheorie. 2.
Behavioristische Lerntheorie
Die behavioristische Lerntheorie entstand in den USA. Als Hauptvertreter gelten die Psychologen Watson (1924) und insbesondere Skinner (1957). Sie beeinflussten stark die Diskussion um lernpsychologische und
fremdpsrachendidaktisch relevante Aspekte innerhalb der Linguistik bis zum Ende der 60er Jahre. Ihre Lerntheorie geht vom äußerlich beobachtbaren Verhalten aus, was nach dem englischen Wort „behavior" der Theorie ihre Bezeichnung gab. Diese Lerntheorie verzichtete somit auf kognitivistische bzw. mentalistische Erklärungsmuster. Sie wurden als theoretisch nicht erklärbar und empirisch nicht beweisbar abgelehnt. Zentral wurde dabei der Begriff der „Gewohnheiten" (engl, habits) und Lernen galt als ein Prozess der Herausbildung von Gewohnheiten (engl, habit formation). Dieser Prozess erfolgt den behavioristischen Lernpsychologen zufolge im Wesentlichen durch Imitation und Verstärkung (reinforcement), indem richtiges Verhalten belohnt und falsches Verhalten bestraft wird. Diese Theorie des Lernens wurde auch auf den Erst- und Zweitspracherwerb übertragen, also als geeignet betrachtet, sowohl das allgemeine Lernen als auch das Erlernen von Sprachen zu erklären. Für den Zweitspracherwerb und seine Erklärung bedeutete dieser Ansatz, dass mutter- bzw. erstsprachliche Gewohnheiten auf die Fremdbzw. Zweitsprache übertragen werden. Damit rückte auch der Begriff des Fehlers ins Blickfeld, denn erstsprachliche Gewohnheiten würden dort zu Fehlern führen, wo die Strukturen der Zweitsprache von den Strukturen der Erstsprache abwichen und somit der Lerner neue Gewohnheiten erwerben müsste. Fehler in der Zweitsprache konnten als falsches Verhalten betrachtet werden. Auf der Grundlage der behavioristischen Lerntheorie wurde dann die Kontrastivhypothese formuliert. 3.
Die sog. Kontrastivhypothese Ihre Grundaussagen
Die Kontrastivhypothese als Zweitspracherwerbshypothese besteht aus zwei Kernaussa-
66. Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung I
gen: Stimmen Ausgangs- und Zielsprache in Regeln und Strukturen überein, kann der Lerner seine muttersprachlich automatisierten Gewohnheiten ohne Probleme analog auf die Ziel- bzw. Zweitsprache übertragen. Es kommt dann zu positivem Transfer. Unterschiede zwischen Ausgangs- und Zielsprache führen hingegen zu negativem Transfer oder Interferenz. Der Lerner macht dann Fehler in der für ihn neuen Zweitsprache. Auf den Gesamtprozess des Zweitspracherwerbs bezogen erleichtert positiver Transfer das Erlernen, während negativer Transfer oder Interferenz es erschwert. Ausgehend von diesen psychologischen Überlegungen können systematische Vergleiche von Sprachen zeigen, in welchen Strukturbereichen es Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen ihnen gibt und damit Interferenz zu erwarten ist oder im Falle von Übereinstimmung nicht zu erwarten ist. Somit kann und soll die kontrastive Analyse als Teil der deskriptiven Linguistik in den Dienst der Fremdsprachenvermittlung gestellt werden. Fries (1945) und Lado (1957) waren die Linguisten, die das Transferkonzept und die damit verbundenen Überlegungen in dieser Weise entwickelten. Sie hatten also versucht, Lernpsychologie und linguistischen Strukturalismus direkt miteinander zu verknüpfen. 3.1. Die zwei unterschiedlichen Versionen der Kontrastivhypothese Die Verbindung von behavioristischer Lernpsychologie und linguistischem Strukturalismus führte zu der weiteren Annahme, dass Fehler bei Lernern völlig vorhersagbar sein müssten. Automatisierte Gewohnheiten aus der Muttersprache und Strukturunterschiede zwischen den beiden Sprachsystemen determinierten so sehr das Verhalten des Lerners, dass seine Fehler immer interferenzbedingt seien und die Vorkommensbereiche sowie ihre Art prognostiziert werden könnten. Darüber hinaus gebe es für den Lerner Schwierigkeitshierarchien, die sich in Abhängigkeit von den strukturellen Unterschieden zwischen den beiden Sprachsystemen genau vorherbestimmen ließen. In Anlehnung an Wardhaugh (1970) bezeichnet man diese Überlegungen und ihre Verbindung miteinander als die „starke Version" der Kontrastivhypothese. Diese Position wurde aber eher selten vertreten (vgl. Lee 1968, 180). Die „schwache Version" geht nicht von der Prognostizierbarkeit der Fehler aus, sondern beansprucht lediglich, von diagnostischem
655
Wert zu sein. Demnach lässt sich bestimmen, welche der bereits vorliegenden Lernerfehler auf Interferenz zurückzuführen sind. Auch auf Prognosen hinsichtlich schwieriger, weniger schwieriger, leichterer oder völlig problemloser Strukturbereiche und Regeln der Zweitsprache für den Lerner verzichtet die schwache Version der Kontrastivhypothese. Danach sind also Schwierigkeitshierarchien ebenso wenig prognostizierbar wie einzelne Fehler von Zweitsprachlernern. Der Einfluss der Ausgangssprache wird dabei insgesamt relativiert. Forschungsgeschichtlich weist die schwache Version der Kontrastivhypothese bereits in die Richtung der sog. Fehleranalyse, die auf der Basis von größeren Korpora Lernerfehler identifizieren und klassifizieren soll, um Fehlertypologien aufstellen und Fehler erklären zu können. Interferenzbedingte Fehler stellen in der Fehleranalyse nur noch einen Teilaspekt dar. 3.2. Linguistische Aspekte der Kontrastivhypothese Neben den lernpsychologischen Überlegungen des amerikanischen Behaviorismus tauchten zwei wichtige linguistische Aspekte im Rahmen der Kontrastivhypothese auf. Es ging um die Frage der zu vergleichenden Bereiche, womit der deskriptive Aspekt in den Mittelpunkt rückte. Der zweite, nicht minder wichtige Aspekt betraf die Arten und die Grade bzw. Abstufungen der interlingualen Unterschiede. Auf der Grundlage strukturalistischer Vorstellungen kam es zu phonologischen und syntaktischen Vergleichen des Englischen und Spanischen (Stockwell/Bowen 1965; Stockwell/Bowen/Martin 1965), aber auch zu analogen Vergleichen zwischen Englisch und europäischen Sprachen, die in den USA als Schulfremdsprachen gelehrt wurden, wie Deutsch und Italienisch (Moulton 1962; Kufner 1962; Di Pietro 1966a; Di Pietro 1966b). Auch das Chinesische als nichteuropäische Sprache wurde phonologisch mit dem Englischen und Spanischen kontrastiert (Reed/ Lado/Shen 1948). Die Tendenz, Laut- und Satzstruktur von Sprachen zu vergleichen, war also stark dominant, wobei auch distributionelle Unterschiede zwischen zwei Sprachen stets in die kontrastive Analyse einbezogen wurden. Diese Vergleiche erschienen sowohl fremdsprachenpädagogisch als auch linguistisch sinnvoll. Im Sinne der Kontrastivhypothese hielt man diese Bereiche für besonders interferenzanfällig. Dahinter stand
656 allerdings auch eine stark eingeschränkte Auffassung von kontrastiver Sprachanalyse. Lexikalisch-semantische und pragmatische Vergleiche rückten erst gar nicht ins Blickfeld, da die amerikanische Linguistik ihren Gegenstandsbereich bereits sehr früh erheblich eingeschränkt hatte (Bloomfield 1933). Diese wissenschaftshistorische Tradition wirkte sich bis zum Ende der 60er Jahre aus und wurde durch die Kontrastivhypothese und deren lernpsychologische Voraussetzungen zusätzlich unterstützt, da lautliche und satzstrukturelle Gewohnheiten von Lernern für das Transferkonzept besonders in Frage zu kommen schienen. Der zweite Aspekt betraf die Möglichkeiten, wie sich interlinguale Unterschiede zeigen könnten. Der unproblematischste Fall für den Lerner wie für den analysierenden Linguisten war das völlige Fehlen einer interlingualen Differenz. Die Sprachen stimmten überein, und der Lerner konnte ihm vertraute Strukturen und Regeln auf die Zweitsprache übertragen. Damit wurden sprachliche Bereiche postuliert, in denen es eigentlich gar nicht zu Fehlern kommen konnte, zumindest in der starken Version der Kontrastivhypothese. Hinsichtlich der Unterschiede zwischen Sprachen ergeben sich eine Reihe von Möglichkeiten. So können zwei Elemente in der Erstsprache zu einem Element in der Zweitsprache zusammenfallen (die sog. Konvergenz), was ebenfalls als unproblematisch für Lerner angesehen wurde. Eine wichtige Art der interlingualen Differenz kann darin bestehen, dass ein Element in der einen Sprache fehlt, während es in der anderen Sprache existiert. Darüber hinaus können Elemente in beiden Sprachen vorhanden sein, aber eine unterschiedliche Distribution aufweisen, was am häufigsten, aber nicht ausschließlich in den Lautbeständen von Sprachen anzutreffen ist. Im Gegensatz zu dem oben beschriebenen Konvergenzphänomen steht das Divergenzphänomen, wenn nämlich die Zweitsprache eine Differenzierung kennt, die die Ausgangssprache des Lerners nicht hat. Einem Element der Erstsprache entsprechen dann mindestens zwei Elemente der Zweitsprache. Wenn es gar mehr als zwei Elemente gibt, erschwert das die Aufgabe des Lerners noch mehr. Eine besonders markante Differenz ist dann gegeben, wenn eine Sprache etwas lexikalisch ausdrückt, was die andere Sprache grammatisch wiedergibt, sich also die Wahl der Mittel völlig unterscheidet. Bei diesen hier aufgelisteten Unterschieden macht nun
IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II
die Kontrastivhypothese geltend, dass von interlingualen Differenzen in ihrer Abstufung auf Schwierigkeitsgrade beim Lernen geschlossen werden kann, was in der Praxis zur Aufstellung von Schwierigkeitshierarchien führen kann oder sogar sollte. Damit stellt sie einen unmittelbaren Zusammenhang von Lernpsychologie und Linguistik her. Linguistische Beschreibungskategorien erhalten automatisch einen psychologischen Status. Zwei Wirklichkeitsbereiche werden als im Wesentlichen identisch angesehen. Wurden in Amerika im Kontrastreichtum die Schwierigkeiten für den Lerner gesehen, so kam in Europa die Überlegung auf, dass Kontrastmangel Fehler begünstige. Dies wurde so verstanden, dass sich Sprachen in einem bestimmten Bereich sehr ähnlich sind, aber damit doch einen Unterschied aufweisen, der für Lerner eher „versteckt" auftritt. Juhász (1970, 92 f.) konnte auf Grund von eigenen empirischen Daten nachweisen, dass gerade auch Ähnlichkeiten zwischen Erstund Zweitsprache zu Fehlern führen. Er bezog sich auf das sog. ranschburgsche Phänomen, wonach Lerner ihre Aufmerksamkeit eher auf die Unterschiede richten und damit bei Kontrastmangel eine „homogene Hemmung" eintritt. Mit dieser empirisch untermauerten Überlegung, der zufolge gerade große interlinguale Ähnlichkeiten von Lernern nicht genügend wahrgenommen werden und somit durchaus lernrelevante Probleme darstellen, verblieb der ungarische Germanist Juhász zwar im Bereich der Kontrastivhypothese, setzte aber innerhalb dieser einen neuen Akzent. Ein bis dahin vernachlässigtes Lernproblem wurde zum Gegenstand der sprachwissenschaftlichen und didaktischen Reflexion. 4.
Kritik an der Kontrastivhypothese
Der Übergang von den 60er zu den 70er Jahren markierte zugleich auch einen tiefen Einschnitt in der Diskussion um die kontrastive Erwerbshypothese. Nun traten sowohl in den USA als auch in Europa Kritiker auf den Plan. Dabei kristallisierten sich drei Schwerpunkte der Kritik heraus. Diese sollen in den folgenden Abschnitten behandelt werden. 4.1. Kritik aus empirischer Sicht Da die kontrastive Erwerbshypothese Aussagen über lernertypische Fehler zu machen versuchte, konnte sie daher auch empirischen
66. Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung I
Überprüfungen unterzogen werden. Es war nahe liegend, die Anzahl interferenzbedingter Fehler an der Gesamtmenge der von Lernern gemachten Fehler statistisch zu ermitteln. Dieser wissenschaftsmethodische Ansatz dominierte in den USA, was zur Folge hatte, dass die empirisch begründete Kritik dort zuerst wichtige und interessante Ergebnisse zeitigte. Im Laufe der 70er und 80er Jahre erfolgten dann aber auch in Deutschland empirische Untersuchungen, die ebenfalls die Kontrastivhypothese in ihren wesentlichen Punkten in Frage stellten, gestützt auf entsprechende Datenbefunde. Eine Übersicht von Ellis über amerikanische Studien zeigt, dass der Anteil interferenzbedingter Fehler bei Lernern des Englischen als Zweitsprache und mit sehr unterschiedlichen Ausgangssprachen im Durchschnitt bei 33% liegt (vgl. Ellis 1985,29). Diese Werte stellen die Kontrastivhypothese substantiell in Frage. Die schärfste Kritik kam dabei von Dulay und Burt im Rahmen ihrer Untersuchungen zum Morphemerwerb des Englischen durch spanischsprachige Kinder (vgl. Dulay/Burt 1973, 245f.). Eine Anschlussuntersuchung derselben Autoren mit Chinesisch als zusätzlicher Ausgangssprache im direkten Vergleich mit spanischsprachigen Kindern ergab für das Englische ganz ähnliche Ergebnisse (vgl. Dulay/Burt 1974, 37f.). Besonders wichtig erschien den Autoren dabei die Tatsache der im Wesentlichen identischen Erwerbsreihenfolgen bzw. -Sequenzen der beiden ausgangssprachlich so verschiedenen Lernergruppen. Sie übten einen besonders starken Einfluss auf die Diskussion aus und trugen maßgeblich dazu bei, dass die Kontrastivhypothese in den 70er Jahren speziell in den USA gänzlich verworfen wurde und der muttersprachliche Einfluss als äußerst gering beim Zweitspracherwerb eingestuft wurde. Das Pendel schlug sozusagen in die entgegengesetzte Richtung aus. Mit dem Problem der stark festgelegten Erwerbssequenzen hatte sich die Fachdiskussion ohnehin deutlich verlagert. Die Interessenschwerpunkte lagen nun nicht mehr beim Aspekt der Kontrastivität und ihren sprachlernpsychologischen Konsequenzen. Von eurpäischen Forschern ist diese Entwicklung natürlich mit Interesse registriert worden. Auch in Deutschland entstanden empirische Untersuchungen, wenngleich mit nicht so ausgeprägter statistischer Orientierung wie in den USA. Sie bestätigten aber die Erkenntnis, dass die Erstsprache durchaus ei-
657
nen begrenzten Einfluss auf den Zweitspracherwerb hat und in jedem Falle keinen maßgeblichen Steuerungsfaktor darstellt, ohne sich dabei allerdings den radikalen Schlussfolgerungen von Dulay und Burt anzuschließen. Wode untersuchte den Lauterwerb des Englischen durch deutsche Kinder. Ihm zufolge gibt es unbezweifelbare Belege für phonologischen Transfer, die aber nicht den Gesamtprozess bestimmen (vgl. Wode 1980, 136). Er stellt auch fest, dass phonologische Fehlertypen und Erwerbssequenzen zwischen gesteuertem und ungesteuertem Zweitspracherwerb übereinstimmen (vgl. Wode 1980, 130f.). Bei einem Vergleich von Englischlernern mit verschiedenen Ausgangssprachen ergibt sich ebenfalls ein hohes Maß an Übereinstimmung, wenngleich einzelne erstsprachbedingte Transferphänomene zu beobachten sind (vgl. Wode 1980, 132 f.). Für den syntaktischen Bereich liegen ebenfalls Forschungsergebnisse vor. Felix untersuchte den ungesteuerten Syntaxerwerb des Deutschen durch vier Kinder mit englischer Muttersprache. Deren Einfluss erwies sich als gering und als schwächer als der muttersprachliche Einfluss beim Lauterwerb, wie Felix mit Blick auf Wode feststellt (vgl. Felix 1978, 227). Wichtig ist auch die Erkenntnis, dass Transferphänomene in bestimmten Entwicklungsphasen des Zweitspracherwerbs eine größere Rolle spielen als in anderen, was sich vor allem an Längsschnittdaten ablesen lässt. In diesem Sinne fasst Wode die empirischen Forschungsergebnisse der 70er und 80er Jahre zu Transfer und Interferenz zusammen (vgl. Wode 1988, 99). Damit erweisen diese sich als dynamische Größen, die im Laufe des Erwerbsprozesses Wandlungen unterworfen sind. Zu ganz entsprechenden Ergebnissen kommt Kuhberg nach seiner Longitudinaldatenanalyse zweier Kinder mit Türkisch und Polnisch als Ausgangssprachen insbes. hinsichtlich der Verbestellung und der tempussemantischen Aspektualität (vgl. Kuhberg 1987, 407f.; Kuhberg 1990, 25f.). Zugleich zeigt sich auch bei seinen Daten, dass selbst die Summe der Interferenzen für den Gesamterwerbsprozess keinen eigenständigen und dominierenden Steuerungsfaktor darstellt wie von der Kontrastivhypothese ursprünglich behauptet, sondern vielmehr weitgehend ausgangssprachenunabhängige Entwicklungsgesetzmäßigkeiten den Zweitspracherwerb ausmachen (vgl. Kuhberg 1990, 42). Damit kommt er bei tempusgrammatischen und tempussemantischen Ausdrucksmitteln zu analogen Resultaten wie Wode und Felix bei Phono-
658 logie und Syntax. Aufschlussreich sind auch Untersuchungen über erwachsene Lerner. So zeigte sich beim ungesteuerten Deutscherwerb von 45 italienischen, spanischen und portugiesischen Arbeitsmigranten für syntaktische Parameter wie Negation, Interrogation und Verbstellung, dass sie bestimmte und typische Entwicklungsphasen durchlaufen, die nicht auf der Grundlage interlingualer Kontrastivität erklärt werden können (vgl. Clahsen/Meisel/Pienemann 1983, 249 f.). In einer weiteren Studie mit Querschnittdaten von zehn türkischen Deutschlernern unterschiedlichen Beherrschungsniveaus lassen sich beim Erwerb der Temporalität einzelne muttersprachliche Einflüsse als Transferphänomene identifizieren, insbes. wie bei den Längsschnittdaten von Kuhberg: Versuche der Aspektmarkierung bei deutschen Verben. Aber diese Transfererscheinungen spielen im Gesamterwerbsprozess eine untergeordnete Rolle und steuern ihn nicht (vgl. v. Stutterheim 1986, 346). Auch Erwachsene, bei denen man die Übertragung muttersprachlich erworbener und verfestigter Regel- und Strukturgewohnheiten noch eher erwarten könnte, tun dies nur in sehr begrenztem Maße. Darüber hinaus führten bei allen erwähnten Untersuchungen interlinguale Kontraste keineswegs automatisch zu Fehlern. Dies war ja ursprünglich ein weiterer Kerngedanke der Kontrastivhypothese. Bei Erwachsenen wie auch bei Kindern konnte die Kontrastivhypothese als globale Zweitspracherwerbshypothese folglich empirisch auf keinen Fall bestätigt werden. 4.2. Kritik aus theoretischer Sicht Der erste substantielle theoretische Einwand gegen die behavioristische Lerntheorie wurde bereits Ende der 50er Jahre vorgetragen. Chomsky (1959, 26 f.) hat in seiner Auseinandersetzung mit Skinner kritisiert, dass dieser tierisches Lernverhalten auf Menschen übertrage und den Aspekt der Kreativität gerade beim menschlichen Sprachenlernen völlig ausklammere. Ihm erschien Skinners Ansatz viel zu mechanistisch und vereinfacht. Als „simplistisch" galt Skinners Ansatz auch in psycholinguistischer Hinsicht. Die Gleichsetzung von linguistischen Strukturunterschieden und psycholinguistischen Prozessen wie Transfer und Interferenz in Verbindung mit der Gleichung „sprachlicher Unterschied = Lernschwierigkeit" könne der Komplexität des Zweitspracherwerbs keineswegs gerecht werden (vgl. Bausch/Kasper 1979,6): Ein dritter, auch empirisch erhärteter Einwand
IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II
betraf die Tatsache, dass sich Kontraste zwischen Sprachen nicht als Fehler des Lerners auswirken, sondern als Vermeidung (avoidance) von bestimmten zweitsprachlichen Strukturen. Lernschwierigkeiten werden dann gar nicht als Fehler manifest, verbergen sich vielmehr hinter durchaus korrekten Lerneräußerungen (vgl. Schachter 1974,205f.). Ein Beispiel dazu wäre etwa ein Lerner, der zwecks Vermeidung des Konjunktivs auf die indirekte Redewiedergabe verzichtet und sich stattdessen der direkten Rede im Indikativ bedient. Der vierte Einwand bezog sich auf die Tatsache, dass der Zweitsprachgebrauch eines Lerners bei unterschiedlichen kommunikativen Aufgaben und in verschiedenen Situationen variieren kann und als Folge davon auch sein Fehlerverhalten (vgl. Tarone/Frauenfelder/Selinker 1976, 93 f.). Diese Überlegungen wiesen in die Richtung psycho-, sozio- und pragmalinguistischer Problemaspekte, die von der Kontrastivhypothese gar nicht erfasst werden konnten. Sie offenbarten so zugleich den engen theoretischen Rahmen der Hypothese. Ein weiterer sehr grundsätzlicher Einwand hatte mit dem statischen Interferenzbegriff zu tun. Er kann die Dynamik des auf die Zweitsprachennorm gerichteten Erwerbsprozesses weder theoretisch noch empirisch erfassen (vgl. Bausch 1973, 159f.). Wie unter 4.1. erwähnt, konnte nach der primär theoretisch begründeten Kritik von Bausch die völlige Unhaltbarkeit dieser statischen Betrachtungsweise auch empirisch untermauert werden. Ein anderer ganz wesentlicher Kritikpunkt kam von psycholinguistischer Seite. Der Lerner verarbeitet nicht nur die beiden Sprachsysteme der Erstund Zweitsprache in ihrem Verhältnis zueinander, sondern auch die Elemente, Regeln und Strukturen innerhalb des Systems der Zweitsprache. Innerzielsprachliche Regelfindungs- und Strukturbildungsprozesse werden dabei im Gesamterwerbsprozess als klar dominant gegenüber kontrastiv bedingten Übertragungsmechanismen eingestuft. Daher ergeben sich nicht nur interlingual, sondern auch intralingual zu erklärende Fehler. Solche sog. intraligualen Interferenzfehler sind die Folge der Übergeneralisierung einer bestimmten zweitsprachlichen Regel. Sie können von der interlingual orientierten Kontrastivhypothese gar nicht berücksichtigt und erklärt werden (vgl. Bausch/Kasper 1979, 7). Z. B. sind die Abweichungen „habe gekommen" und „kommte" in einer Lernersprache überwiegend Ergebnisse der Übergeneralisierung. Sie sind auch aus dem Erstspracherwerb bekannt, in dem inter-
659
66. Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung I
lingualer Transfer nicht möglich ist. Nach diesen sechs Einwänden, in deren Rahmen sozusagen innerlinguistisch argumentiert wird, betrifft ein zusätzlicher Kritikpunkt die Unfähigkeit der Kontrastivhypothese, außerlinguistische Variablen und ihren Einfluss auf Zweitspracherwerbsprozesse zu erklären. Unterschiedliche individuelle, soziale, ökonomische und kulturelle Voraussetzungen, die sich in unterschiedlichen individual- und sozialpsychologischen Einflussfaktoren widerspiegeln, sind auch psycholinguistisch von Bedeutung, auch wenn das Wie ihres Einflusses nicht genau zu bestimmen ist. Sie beeinflussen in jedem Falle das Sprachverhalten und damit auch das Fehlerverhalten von Lernern (vgl. Clahsen/Meisel/Pienemann 1983, 258f.). Damit eng zusammen hängt auch das Problem unterschiedlicher Erwerbskontexte („natürlich" vs. unterrichtlich), das von der Kontrastivhypothese ebenso wenig erfasst werden kann (vgl. Henrici 1986, 98). Mit diesen sieben Haupteinwänden, wie sie im Laufe der 70er und 80er Jahre vorgetragen wurden, erfuhr die Kontrastivhypothese auch theoretisch eine deutliche und forschungsgeschichtlich einschneidende Relativierung, die mit der empirischen Hand in Hand ging. 4.3. Kritik aus praktischer Sicht In praktischer Hinsicht ergaben sich drei wichtige Kritikpunkte, die mit fremdsprachenpädagogischen Erfahrungen und Überlegungen in Zusammenhang standen. Analog zu den wissenschaftlich-empirischen Befunden, wonach der Anteil der Interferenzfehler wesentlich geringer war, stellten auch Fremdsprachenlehrer fest, dass viele Fehler nicht mit dem Einfluss der Muttersprache zu tun hatten. Daraus resultierte die Überlegung, dass die Kontrastivhypothese didaktisch von geringerem Nutzen war, als sie vorgab. Zumindest schien sie ungeeignet zu sein, auf ihrer Basis fremdsprachendidaktische Prozesse global zu steuern und Auskunft darüber geben zu können, welchen Elementen, Regeln und Strukturen mehr Gewicht in der Vermittlung einzuräumen sei (vgl. Ellis 1985, 32). Dies hing vor allem mit ihrem so geringen prognostischen Wert zusammen. Der zweite praktische Haupteinwand betraf ihre Einstellung gegenüber Fehlern von Fremdsprachenlernern. Sie wurde als zu negativ empfunden. Praktiker hielten dem entgegen, dass Fehler auch von der Kreativität des Lerners im Umgang mit den neuen Lernstoffen der Fremdsprache zeugen würden und sogar zeigten,
dass er damit indirekt Hypothesen über Regeln und Strukturen der zu erlernenden Fremdsprache aufstellt. Ein arbeitsökonomischer und unterrichtspraktischer Gesichtspunkt rundete die Kritik ab: Angesichts des geringen didaktischen Nutzens der Kontrastivhypothese schien es nicht sinnvoll, intensive kontrastive Analysen zwischen Mutterund Fremdsprache durchzuführen und im Unterricht Ansätze und Beschreibungen aus der kontrstiven Linguistik zu verwenden mit der Gefahr, Fremdspachenlehrer und vor allem Lerner zu überfordern.
5.
Neuere modifizierende Entwicklungen im Kontext der Kontrastivhypothese
Die forschungsgeschichtliche Entwicklung der 70er und 80er Jahre war zwar durch eine starke Relativierung der kontrastiven Erwerbshypothese gekennzeichnet, hatte jedoch nicht zu ihrer völligen Widerlegung und Preisgabe in der psycholinguistischen und fremdsprachendidaktischen Diskussion geführt. Dabei kristallisierten sich drei linguistisch relevante Bereiche heraus. Im Rahmen der Hypothese kam es zu interessanten Modifikationen und Schwerpunktverschiebungen. 5.1. Psycholinguistik Im Kontext psycholinguistischer Überlegungen erfolgten am Ende der 70er Jahre und zu Beginn der 80er Jahre Modifikationen mit dem Ziel, über Transfer und Interferenz hinaus auch andere Aspekte zu berücksichtigen. So stellte Corder (1978) den Strategiebegriff in den Mittelpunkt. Lerner verwenden Strategien, um Situationen sprachlich zu bewältigen. Interferenz ist dann nicht immer das Ergebnis eines unbewussten und mechanischen Vorgangs, sondern geschieht bewusst und kompensatorisch in Ermangelung der zweitsprachlich normgerechten Realisierung, die dem Lerner (noch) nicht verfügbar ist. Interferenz kann also eine Lernerstrategie sein (vgl. Sridhar 1981, 235f.). Ein anderer Neuansatz verknüpfte das Konzept von Transfer und Interferenz mit dem Konzept der Spracherwerbsuniversalien, das bereits von Chomsky (1959) in seiner Erwiderung auf Skinner entwickelt worden war. Demzufolge durchlaufen Zweitsprachenlerner auf Grund angeborener, universell gültiger kognitiver Verarbeitung von sprachlichen Inputs den Erwerbs- bzw. Lernprozess im Wesentlichen in übereinstimmender
660 Weise, wobei aber die Muttersprache die Dauer der so festgelegten Entwicklungsphasen und -muster beeinflusst. Als dritter Faktor wirken dann noch Spezifika innerhalb der Zweitsprache (vgl. Gass 1980, 180). Eine weitere Fragestellung rückte erst in den 80er Jahren stärker ins Blickfeld und interessierte sich für den Zusammenhang von sprachtypologischen Unterschieden und Zweitspracherwerbsprozessen. So konnte festgestellt werden, dass arabische Lerner des Englischen nicht die VSO-Stellung ihrer Muttersprache mit SVO als Stellungsmuster übertrugen. Entsprechende Beobachtungen wurden bei japanischen Englischlernern gemacht hinsichtlich des Nichttransfers der SOV-Stellung des Japanischen (vgl. Rutherford 1983, 367). Bei türkischen Deutschlernern wurden Stellungsbesonderheiten teilweise transferiert und teilweise nicht (vgl. Kuhberg 1990, 35f.). Das Phänomen des Nichttransfers im Kontext sprachtypologisch orientierter Überlegungen und Datenauswertungen führt auch zu der Frage, ob es möglicherweise sprachliche Bereiche gibt, die gar nicht oder kaum transferierbar sind. Während in den phonologischen und lexikalisch-semantischen Bereichen die Transferierbarkeit wenig eingeschränkt ist, sie also weitestgehend offen sind für Transfer, zeigen sich Restriktionen für Transfer bzw. Transferierbarkeit in der Wortstellungssyntax und insbes. in der Flexionsmorphologie (Wode 1988, 257). Flexionsmorpheme scheinen demnach weit weniger transferanfällig zu sein als die Segmentalia und Suprasegmentalia der Phonologie und das Lexikon. Eine weitere Einschränkung der Transfermöglichkeiten wird im Zusammenhang mit Markiertheitsabstufungen gesehen. Danach werden phonologisch markiertere Elemente der Erstsprache ersetzt, was zu Aussprachefehlern führt. Hingegen geschieht dies nicht, wenn die Elemente der Zweitsprache unmarkiert sind (vgl. Wode 1988, 206f.). Eckman (1977, 320f.) hatte als erster die Überlegung, dass unterschiedliche Markiertheitsstufen zwischen Sprachen unterschiedliche Lernschwierigkeiten zur Folge hätten und diese daher vorhersagbar seien. Dabei würden Bereiche der Zweitsprache, die anders, aber weniger markiert sind als in der Erstsprache, keine Schwierigkeiten bereiten. 5.2. Kontrastive Pragmatik Erst das Aufkommen und dann rasche Erstarken der Pragmalinguistik führte zu einer Erweiterung und Verlagerung der Transferproblematik in Richtung kommunikativ-pragma-
IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II tischer Fragestellungen. Gerade Handlungsmuster, die zugleich auch sprachliche Handlungsmuster darstellen, wurden als transferfähig und als mit dem behavioristischen Gewohnheitsbegriff durchaus vereinbar betrachtet (vgl. Kasper 1981, 246f.). Realisierungen von Sprechakten, Höflichkeit, Indirektheit, Gesprächseröffnungen und -beendigungen unterscheiden sich interkulturell und damit auch interlingual (Kühlwein 1990, 24). Kotthoff (1989) wies konversationeilen Transfer von Deutschen in den USA und Günthner (1993) bei chinesischen Deutschlernern nach. Auch worüber man überhaupt spricht, worüber man scherzt, wie man dies tut, wozu und wie man Fragen stellt, wie man etwas hervorhebt und wie man seinen Wunsch nach sprachlicher Äußerung signalisiert, differiert von Kultur zu Kultur und kann sich als pragmatischer Transfer manifestieren (vgl. Tannen 1984, 189f.). All dies ist gerade im Hinblick auf die Forderung nach kommunikativer Kompetenz als oberstem Lernziel von unterrichtspraktischem Nutzen. 5.3. Kontrastive Textlinguistik Etwa seit der Mitte der 80er Jahre ist eine Hinwendung der Textlinguistik zu kontrastiven Fragestellungen zu beobachten. So stellte man fest, dass die Mittel der Textkohäsion in ihrer Auswahl, Frequenz und textsortenspezifischen Verteilung zwischen Sprachen Unterschiede aufweisen (vgl. Enkvist 1984,48 f.). Differenzen wies Clyne (1987) auch für die Textorganisation von englischen und deutschen wissenschaftlichen Texten nach. Insgesamt zeichneten sich sowohl textgrammatische als auch textstrukturelle Unterschiede ab, die größer waren als anfangs vermutet und für die Zukunft die Überlegung plausibel erscheinen lassen, dass auch auf Textebene mit Transfer zu rechnen ist. Textorganisatorische Differenzen, die auf die Ausgangskultur und -spräche der Schreiber zurückzuführen sind, konnte Bickes (1993) bei griechischen und deutschen Probanden nachweisen. 6.
Didaktische Aspekte der Kontrastivhypothese
Auf Grund der verschiedenen Einwände gegen die Kontrastivhypothese als Erwerbshypothese und insbes. in Folge des Nachweises der Unhaltbarkeit ihrer starken Version wird ihr didaktischer Nutzen als eher gering eingestuft. Es besteht Konsens darin, dass sie auch bei ausgangssprachlich homogenen Lernergrup-
661
66. Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung I
pen als Grundlage für eine globale Steuerung der didaktischen Prozesse untauglich ist. Hier sind die Prinzipien steigender Komplexität und kommunikativer Relevanz klar übergeordnet. Sie fungieren als eigenständige didaktische Einflussgrößen. Hinzu kommt, dass Lernschwierigkeiten bzw. Schwierigkeitshierarchien nicht auf kontrastivem Wege hergeleitet werden können, womit eine Progression auf kontrastiver Basis ausscheidet. Andererseits zeigt aber sowohl die unterrichtspraktische Erfahrung als auch die forschungshistorische Entwicklung seit dem Beginn der 80er Jahre, dass die Kontrastivhypothese nicht völlig ohne didaktischen Nutzen ist. So wird zumindest in Erwägung gezogen, sie in untergeordneter und selektiver Weise nutzbar zu machen. Pädagogische Grammatiken und Lehrerhandbücher sollten explizite Hinweise auf mögliche interlinguale Problembereiche enthalten und diese darüber hinaus in Lehrwerken durch Beispiele mit Erklärungen und spezielle Übungen kognitiv bewusst gemacht werden (vgl. Marton 1981, 147f.). Dies wird auch von Autoren empfohlen, die sich dabei stärker auf vorherige fehlerempirische Untersuchungen stützen, so etwa von Pütz (1991, 252f.) für norwegische Deutschlerner oder von Putzer (1994, 100f., 210f. und 314f.) für Lerner mit Italienisch als Ausgangssprache. Letzterer plädiert dabei für einen sehr sparsamen Einsatz kontrastiver Erklärungen durch den Lehrer, um die Lerner kognitiv und metasprachlich nicht zu überfordern (vgl. Putzer 1994, 197). Eine selektive Integration der Kontrastivhypothese in fremdsprachendidaktische Planungsprozesse könnte sich auch hinsichtlich der sprachlichen Strukturebenen ergeben. Wie in 5.1. erwähnt, sind unterschiedliche Bereiche der Sprache unterschiedlich anfällig für (negativen) Transfer. M.W. gibt es zu diesem Detailproblem z. Zt. aber noch keine didaktisch systematische Positionsfestlegung. Im sog. positiven Transfer wird im Allgemeinen nach wie vor eine lernpsychologische Chance gesehen und der explizite Verweis auf Übereinstimmungen und interlinguale Strukturanalogien im Fremdsprachenunterricht zumindest nicht ausgeschlossen.
sätze als auch in didaktisch-unterrichtspraktische Planungsprozesse als untergeordnetes Teilelement integriert. Diese Entwicklung ist seit den 80er Jahren zu beobachten. Einigkeit besteht darin, dass sie keinen prognostischen Anspruch erheben kann und sie in die als umfassender zu betrachtende Fehleranalyse diagnostisch einzubeziehen ist. Dabei können Fehler oft nicht bloß monokausal etwa als Folge von Interferenz erklärt werden. Mehrheitlich gibt es andere Einzelursachen oder sogar einen Komplex von verschiedenen Ursachen. Systematische Schwierigkeitshierarchien können aus interlingualen Kontrasten nicht hergeleitet werden, wobei sich Ähnlichkeiten für den Lerner als größere Stolpersteine erwiesen haben als markante Kontraste. Hinzu kommt, dass bis heute der psycholinguistische Status der verschiedenen interlingualen Kontrasttypen (vgl. 3.2.) nicht geklärt ist. Hinsichtlich der sprachlichen Strukturbereiche gelten inzwischen Phonologie, Lexikon und Syntax als deutlich transferanfälliger als Flexion und Wortbildung. Als Forschungsdesiderat existiert m. E. noch immer die Frage nach sprachtypologischen Unterschieden und deren Auswirkungen auf Transfer und Transferierbarkeit. Die größte Schwäche der kontrastiven Erwerbshypothese liegt in ihrer Nichtberücksichtigung der sozialpsychologischen und individuellen Einflussfaktoren auf Lernprozess und Fehlerverhalten und in ihrer „Blindheit" gegenüber unterschiedlichen Erwerbskontexten. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern, weil diese außerlinguistischen Faktoren in ihr als Frage nicht angelegt sind. Dafür zeichnet sich besonders in den 90er Jahren in anderer Hinsicht eine interessante Entwicklung ab: Interkulturell bedingte Unterschiede in Pragmatik und Textorganisation scheinen im Sinne der Kontrastivhypothese als Fehlerquellen von Bedeutung und gleichzeitig lohnende Aufgaben für die zukünftige Forschung zu sein. In didaktischer Hinsicht dürfte die Kontrastivhypothese auch aus diesem Grund von punktuellem Nutzen sein. Für eine globale didaktische Steuerung ist sie hingegen untauglich.
7.
8.
Schlussbemerkungen
Die Kontrastivhypothese als Folge des behavioristischen Ansatzes erwies sich in ihrer anfänglichen „starken" deterministischen Version als nicht haltbar. Sie wurde aber in abgeschwächter nichtdeterministischer Form sowohl in psycholinguistische Erklärungsan-
Literatur in Auswahl
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67. Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung II: der kognitivistische und nativistische Ansatz 1. 2. 3. 4.
7. 8.
Vorbemerkung Das logische Problem des Ll-Erwerbs Die Universalgrammatik (UG) U G und L2-Erwerb. Ein Vorläufer: die Identitätshypothese Das logische Problem des L2-Erwerbs Haben erwachsene L2-Lerner Zugang zur Universalgrammatik? Schlussbemerkung Literatur in Auswahl
1.
Vorbemerkung
5. 6.
In Abkehr von behavioristischen Lerntheorien betrachten kognitive Ansätze den Spracherwerb nicht als imitativen, sondern als kreativen Prozess und interessieren sich für die ursächlichen, allerdings nicht beobachtbaren mentalen Strukturen und Prinzipien, die „black box". Spracherwerb resultiert danach aus dem Generieren und Testen von Hypothesen zur Beschaffenheit der Zielsprache durch den Lernenden. Chomskys (1959) berühmte Skinner-Rezension markiert einen wichtigen Wendepunkt, dem die Entwicklung einer bis heute sehr einflussreichen und fortwährend weiterentwickelten linguistischen Theorie, der Generativen Grammatik (vgl. Chomsky 1965; 1981; 1986), folgte, die eine universelle Erklärung des Ll-Erwerbs beinhaltete und die in der Folge auch die Zweitsprachenerwerbsforschung beeinflusste und Ansätzen zur Erklärung des L2Erwerbs eine grundsätzlich andere Ausrichtung verlieh. Wurde innerhalb der Kontra-
stivhypothese (behavioristischer Einfluss) z. B. Transfer aus der LI eine zentrale Bedeutung zugesprochen, so geriet dieser Faktor neben anderen (wie etwa Motivation oder weiteren affektiven und sozialen Faktoren) in kognitiven Erklärungsansätzen in den Hintergrund, die sich zunächst in der „Identitätshypothese" oder „LI = L2-Hypothese" äußerten. In dieser Hypothese wird die Existenz universeller, angeborener sprachspezifischer kognitiver Erwerbsmechanismen — zunächst von Chomsky als LAD („language acquisition device"), später als UG („Universal Grammar") bezeichnet - angenommen, über die Lerner in den unterschiedlichen Spracherwerbstypen (LI-Erwerb, ungesteuerter L2Erwerb und gesteuerter L2-Erwerb) gleichermaßen verfügen und die zu vergleichbaren Lernprozessen und -abläufen führen, die sich z. B. in der Einhaltung von Erwerbssequenzen (vgl. Art. 68) erkennen lassen. Dieser psycholinguistischen Theorie des Spracherwerbs und dabei insb. ihrer Relevanz für den gesteuerten L2-Erwerb wurde von der neu begründeten deutschen Sprachlehrforschung vehement v. a. mit dem Argument widersprochen, dass die Multidimensionalität des Fremdsprachenerwerbs („Faktorenkomplexion") nicht berücksichtigt werde (vgl. Koordinierungsgremium Sprachlehrforschung 1983). Die daraus entstandene Kontroverse zwischen der deutschen Zweitsprachenerwerbsforschung und Sprachlehrforschung ist z. B. in den Beiträgen von Bausch/ Königs (1983); Felix/Hahn (1985); Wode
664
IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II
(1985) und Bausch/Königs (1985) dokumentiert. In den letzten Jahren wich die Identitätshypothese Überlegungen, ob und inwieweit Lerner auf ihr angeborenes linguistisches Wissen - die Universalgrammatik - auch während des L2-Erwerbs Zugang haben.
als Verursacher hierfür kann ausgeschlossen werden. Des Weiteren spielen individuelle Unterschiede wie etwa Intelligenz oder soziales Umfeld offensichtlich keine Rolle, der kindliche LI-Erwerb gelingt, abgesehen von pathologischen Einzelfällen, mit großer Leichtigkeit.
2.
3.
Das logische Problem des LI-Erwerbs
Natürliche Sprachen verstehen und produzieren zu können, gilt als gattungsspezifische Fähigkeit des menschlichen Individuums. Dass Menschen allerdings den Erwerb dieser sprachlichen Fähigkeiten zumindest für den LI-Erwerb gleichermaßen erfolgreich bewältigen, wird häufig als „logisches Problem" bezeichnet, mit dem eine Absage an die in den 50er und 60er Jahren gängige behavioristische Auffassung des Spracherwerbs verbunden ist. Zentral hierfür ist die Beobachtung, dass Kinder linguistisches (implizites) Wissen erwerben, das ihnen die Produktion (und Rezeption) grammatisch akzeptabler Sätze und Äußerungen erlaubt, die aber nicht allein dem sprachlichen Umfeld entstammen können (= „poverty
of stimulus"-Argument).
Induk-
tive Generalisierung scheidet als alleinige Lernstrategie aus, denn: Das Umfeld liefert (a) quantititiv ungenügenden Input, was Kinder nicht daran hindert, auch sprachliche Strukturen zu erwerben, die im Input unterrepräsentiert sind; (b) qualitativ ungenügenden Input, d.h., Kinder entwickeln ein System von Regeln und Prinzipien der Zielsprache, obwohl der Input diese nicht explizit liefert (Eltern lehren ihre Kinder gewöhnlich keine Grammatikregeln); (c) fehlerhaften Input, aber Merkmale der gesprochenen Sprache (morphosyntaktische Abweichungen, Abbräche, Versprecher etc.) beeinträchtigen den Spracherwerb nicht; (d) keine oder kaum negative Evidenz, d. h., Kinder erhalten kaum oder keine externen Hilfen wie negatives Feedback zur Zurückweisung grammatisch inakzeptabler Konstruktionen bzw. scheinen gegen Fremdkorrekturen resistent zu sein. Ein weiteres LI-Erwerbsphänomen sind sprachliche Entwicklungsstufen, die sprachliche Formen aufweisen, die nicht der zielsprachlichen Norm entsprechen, aber dennoch systematischen Charakter haben. Input
Die Universalgrammatik (UG)
Die nativistische Position löst dieses logische Problem in der Annahme angeborener mentaler Fähigkeiten zum Spracherwerb, genauer: angeborenen linguistischen Wissens, das bei vorhandenem sprachlichem Input aktiviert wird und den Spracherwerb erst ermöglicht. „Wissen" ist innerhalb der deutschen Sprache ein problematischer Terminus, da sein semantisches Feld eine Relation zu „Bewusstheit" einschließt. Wissen innerhalb der Theorie der Generativen Grammatik bedeutet allerdings stets „implizites", unbewusstes Wissen, das auf der Performanzebene, im Können, nur indirekt beobachtbar ist. Spezifikum dieses linguistischen Moduls, das als Universalgrammatik (UG) bezeichnet wird, ist seine Unabhängigkeit von anderen kognitiven Fähigkeiten wie etwa allgemeinen Problemlösungs- und Lernstrategien. Inhalt dieses angeborenen Spracherwerbsmechanismus sind die sog. Prinzipien, die sprachuniversell sind und als höchst abstrakte, unbewusst im mentalen System repräsentierte Kerngrammatik zu verstehen sind, die Edmondson (1999, 25) auch als „grammar of enablement, not a grammar of proficiency" oder als „some inborn feeling about how language can work" beschreibt. Der Zugang zu diesen genetisch angelegten Prinzipien während des Spracherwerbs führt dazu, daß keine „wilde", d.h. völlig unsystematische Grammatik entwickelt wird. Verfügbar ist vielmehr ein Wissen darüber, dass im System natürlicher Sprachen etwa Wortarten oder Wortstellungsregeln enthalten sind. Sharwood Smith (1994, 144) beschreibt dies auch eingängig mit „UG ist not ,a' grammar but a set of limits". Als Beispiel für ein bekanntes Prinzip soll hier das „Subjazenzprinzip" (subjacency) genannt werden, das die Möglichkeiten zur Bildung von Satzumstellungstransformationen (in von Sprache zu Sprache unterschiedlichem Ausmaß) einschränkt. Das durchgängig behandelte Beispiel sind inakzeptable Transformationen von Sätzen mit
665
67. Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung II
Fragepronomen, insb. das „wh movement" im Englischen. Die Prinzipien der UG werden ergänzt durch eine begrenzte Anzahl von sprachspezifischen Optionen, sog. Parameter. Ein innerhalb der Generativen Grammatik bekannter Parameter ist der „Pro-Drop-Parameter", der die Grammatikalität von Sätzen, in denen die Subjektposition unbesetzt bleibt, z.B. im Italienischen, nicht beeinträchtigt, wohingegen dies normalerweise für das Deutsche nicht zutrifft (Jens liest, aber: *liest). Die Festlegung auf einen Parameter, die Parameterfixierung, erfolgt durch sprachspezifischen Input, den das sprachliche Umfeld liefert, und stellt die eigentliche Lernaufgabe dar: Der (hier noch: kindliche) Spracherwerber muss durch das Generieren und Testen von Hypothesen lernen, wie in der jeweiligen Sprache die Prinzipien repräsentiert sind und welche Parameter zu beachten sind. Das Hypothesentesten ist hierbei weitgehend als interner Prozess des Abgleichens der Sprachproduktion mit der Universalgrammatik aufzufassen, da negative Evidenz nur selten vorliegt. Des weiteren besagt die Theorie, dass nicht jeder Parameter durch die Verarbeitung des Inputs fixiert wird, da durch den Erwerb eines Parameters gleichzeitig andere, die durch ihn impliziert sind, mitgelernt werden (ζ. B. ein Parameter zur Wortstellung inklusive des Pro-Drop-Parameters). Dieses angenommene Potential der UG, bekannt als „Projektionshypothese", reduziert die zu bewältigende Lernaufgabe und löst gleichzeitig das Problem der Unterdeterminiertheit des verfügbaren Inputs. Demnach ist die UG als ein System von Prinzipien und Parametern bezüglich des syntaktischen Systems natürlicher Sprachen zu beschreiben. Nicht jeder sprachliche Aspekt ist damit allerdings erfasst, mit fremdsprachendidaktischen Augen gesehen eher nur ein kleiner: Das Lexikon, weite Teile der Phonologie und Flexionsmorphologie und, nicht zu vergessen, Semantik und Pragmatik, müssen individuell und sprachspezifisch gelernt werden. Dennoch liefert die UG eine Erklärung für den LI-Erwerb als einen Lernprozess sui generis und die Lösung seines logischen Problems (vgl. die Einführungen von Fanselow/ Felix 1987 und Cook 1988). 4.
U G und L2-Erwerb. Ein Vorläufer: die Identitätshypothese
Akzeptiert man die Hypothese, dass Menschen angeborene Spracherwerbsfähigkeiten besitzen, liegt die Vermutung nahe, dass diese
mentale Ausstattung nicht nur den LI-, sondern auch den L2-Erwerb steuert. In der Tat ist dieses von der Fremdsprachenerwerbsforschung seit den 60er Jahren vielfach behauptet, empirisch untersucht und zunächst als „Identitätshypothese" oder „LI = L2-Hypothese" bekannt geworden. Erste - inzwischen sehr umstrittene - Evidenzen erbrachte mit den bekannten produktorientierten Morphemstudien und Fehleranalysen das Forscherteam Dulay und Burt (1974a; 1974b), das zu dem Schluss kam, dass dem LI- und L2-Erwerb dieselben psycholinguistischen Prozesse zu Grunde liegen und deshalb die Kontrastivhypothese abzulehnen sei. Lerner entwickeln danach mit Hilfe des fremdsprachlichen Inputs Hypothesen über die Struktur der Zielsprache, die permanent modifiziert werden; diese Beschreibung des Erwerbsprozesses wurde als „creative construction" bekannt, was gleichermaßen die kognitive Leistung und die universelle Ausprägung des Spracherwerbs betont. Die von Dulay und Burt propagierte starke Version der Identitätshypothese besagt, dass sowohl die Prozesse als auch die Produkte des LI- und L2Erwerbs identisch seien, was man insb. durch gleichförmige Erwerbsfolgen nachzuweisen suchte. Bereits in den 70er Jahren wurde diese starke Version falsifiziert, da Vergleichsstudien abweichende Erwerbssequenzen ergaben. Die schwache
Version der Identitäts-
hypothese behauptet dagegen lediglich eine Ähnlichkeit zwischen LI- und L2-Erwerb. Nachgewiesene Ähnlichkeiten auf der Produktebene sind allerdings damit nicht ausschließlich auf angeborene sprachliche Fähigkeiten zurückzuführen, sondern auch mit der kreativen Entschlüsselung des zielsprachlichen Systems inklusive der Verwendung vorhandener Wissensbestände (z.B. LI-Wissen, bereits vorhandenes explizites oder implizites L2-Wissen sowie Weltwissen) und allgemeiner Lernstrategien zu erklären, was Ergebnisse der Lernersprachenforschung bestätigen (vgl. Bausch/Kasper 1979; Ellis 1985).
5.
Das logische Problem des L2-Erwerbs
Die in 2 aufgeführten Faktoren der Unterdeterminiertheit des Inputs sind angesichts mancher Vagheiten und undifferenzierter Spracherwerbskontexte nicht ohne Kritik geblieben (vgl. z.B. Wode 1988, 18ff.). Die Identitätshypothese beruht v. a. auf dem Ver-
666 gleich zwischen dem LI-Erwerb und dem ungesteuerten Zweitsprachenerwerb und Erkenntnissen über deren ähnliche Erwerbsverläufe. Durch den ursprünglichen Ausschluss des gesteuerten Erwerbskontextes waren Einflussnahmen externer Faktoren wie explizite grammatische Instruktion auszuschließen. Die aufgefundenen Ähnlichkeiten sind allerdings nicht unbedingt als Beleg für die Wirksamkeit der UG zu interpretieren; beobachtbare identische oder vergleichbare Entwicklungssequenzen auf der Ebene der lernersprachlichen Performanz sind noch kein Beweis für die Wirksamkeit angeborener mentaler Prinzipien (Edmondson 1999). Dennoch kann das „poverty of stimulus"-Argument auch auf die unterschiedlichen Kontexte des L2-Erwerbs übertragen werden. Auch L2Lerner kreieren lernersprachliche Produkte, die nicht allein dem zielsprachlichen Umfeld entstammen können, die außerdem entwicklungsspezifische Phänomene (Fehler) aufweisen und keiner „wilden" Grammatik entstammen. Die Unterschiede zwischen dem LI- und L2-Erwerb jedweden Typs sind jedoch offensichtlich (vgl. auch Bley-Vroman 1989). (a) Während Misserfolg im LI-Erwerb unwahrscheinlich ist, ist das Erlangen muttersprachenähnlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten in einer L2 für die meisten Fremdsprachenlerner eine Illusion. Besonders problematisch scheint der Erwerb der zielsprachlichen Aussprache zu sein, aber auch grammatische Kernbereiche (wie etwa die Wortstellung im Deutschen) bleiben auch für viele weit fortgeschrittene L2-Lerner ein Problem. Das letztlich erreichbare fremdsprachliche Leistungsniveau ist durch individuelle Variation gekennzeichnet. (b) Während es keine Belege dafür gibt, dass der LI-Erwerb in bestimmten Sprachen schwieriger ist als in anderen, ist die Klage von L2-Lernern alltäglich, dass bestimmte Fremdsprachen schwieriger als andere seien. (c) L2-Lerner verfügen bereits über ihre LI und können ihr LI-Wissen bewusst oder unbewusst einsetzen. (d) Der Faktor Alter spielt eine wichtige Rolle (auch in der Annahme unterschiedlicher Erfolgs Wahrscheinlichkeiten), erwachsene L2-Lerner sind in ihrer allgemeinen kognitiven Entwicklung ausgereift, während bei Kindern die Kerngrammatik erworben ist, bevor die kognitive Ausreifung fortgeschritten bzw. abgeschlossen ist. Auch die Anpas-
IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II
sung an das soziale Umfeld ist bei Erwachsenen fortgeschritten. (e) Im Unterschied zu LI-Lernern haben L2-Lerner eher Zugang zu negativer Evidenz, insb. im Kontext des gesteuerten L2-Erwerbs (negatives Feedback durch den Lehrer; Korrekturen), und schätzen diese als notwendig oder zumindest nützlich ein. Qualität und Quantität der negativen Evidenz variieren innerhalb und zwischen den unterschiedlichen L2-Erwerbstypen, deshalb ist nicht auszuschließen, dass wie im LI-Erwerb die positive Evidenz entscheidenden Anteil in der Unterstützung des Hypothesengenerierens und -testens hat. (f) Fossilierung und Back-Sliding im Bereich Grammatik sind bekannte Phänomene in lernersprachlichen Entwicklungen, aber für den Ll-Erwerb unbelegt. (g) Im Unterschied zum Ll-Erwerb spielen individuell unterschiedlich ausgeprägte Faktoren wie ζ. B. Motivation, Einstellungen, soziales Umfeld oder Lernstile und Einsatz von Lernstrategien nachgewiesenermaßen eine wichtige Rolle für erfolgreichen L2-Erwerb. Nicht alle erwähnten Unterschiede sind als Argumente wider die Wirksamkeit der UG im L2-Erwerb zu interpretieren, da viele nicht die kerngrammatischen Belange der Zielsprache betreffen. Dennoch scheint die Frage erlaubt, welche empirisch nachweisbaren Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Spracherwerbstypen noch eine stärkere oder schwächere oder gar keine Version der LI = L2-Hypothese logischerweise zulassen. Übersetzt man das logische Problem des L2Erwerbs mit „Warum existiert individuelle Variation?", so kann das nativistische Konzept keine umfassende Antwort bieten. Angemessener ist lediglich die Erwartung, Hinweise bezüglich der Existenz eines auch im L2-Erwerb wirksamen angeborenen sprachspezifischen Moduls zu erhalten. 6.
Haben erwachsene L2-Lerner Zugang zur Universalgrammatik?
Seit den 80er Jahren sind empirische Untersuchungen, die sich mit unterschiedlichen Prinzipien der UG und Parameterfixierungen im L2Erwerb von Erwachsenen beschäftigen, Teil eines relevanten und kontrovers diskutierten Forschungsbereichs in der Fremdsprachenerwerbsforschung (vgl. Cook 1988, 170ff.; White 1989). Zur Lösung des logischen Problems des L2-Erwerbs sind vier Erklärungsan-
67. Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung II
sätze zu unterscheiden, die die Relevanz und den Anteil eines sich während des L2-Erwerbs entfaltenden angeborenen Programms und der allgemeinen intellektuellen Entwicklung des Lerners unterschiedlich einschätzen. Die Zuordbarkeit einzelner empirischer Studien zu den Ansätzen ist dabei sicherlich nicht eindeutig. In einer Untersuchung von Bley-Vroman/Felix und loup (1988) wurde ζ. B. festgestellt, dass Lerner des Englischen über Wissen bezüglich des Subjazenzprinzips verfügen, obwohl das „wh movement" in ihrer LI (hier: Koreanisch) kaum ausgeprägt ist. Dies könnte als Beleg für Position 6.1. interpretiert werden: Die UG ist verfügbar, da reiner Zufall ausgeschlossen werden konnte. Da Parameterfixierung kein Untersuchungsgegenstand ist, wäre auch eine Version von 6.2. (die Prinzipien sind verfügbar) denkbar. Eine andere Lesart, die erklärt, warum aber die getesteten Lerner im Vergleich zu Muttersprachlern im Test schlechter abschneiden, bietet Position 6.3. (UG wird blockiert). 6.1. Vollständiger Zugang Die Auffassung, auch erwachsene Lerner verfügten über vollständigen Zugang zur UG, entspricht einer starken Version der Identitätshypothese. Danach sind alle UG-Prinzipien aktivierbar; L2-Parameter, die der LI nicht entsprechen, können ohne den Einsatz allgemeiner Lernstrategien neu fixiert werden. Im Äquivalenzfall sei allerdings der Lernprozess vereinfacht, damit wird der LI bzw. dem LI-Wissen ein bedeutsamer Einfluss zugestanden, eine Relevanz des Faktors Alter wird zurückgewiesen. Diese Position wird von Flynn (1987) vertreten; in White (1989), die verschiedene empirische Studien zur Parameterneufixierung vorstellt, wird jedoch deutlich, dass die Ergebnisse keineswegs eindeutig sind und als Hinweise dafür interpretierbar sind, dass eher einer abgeschwächten Version der Hypothese zuzustimmen sei. 6.2. Teilweiser Zugang Nach dieser Auffassung (vertreten z.B. von Schachter 1988) sind lediglich die Prinzipien, nicht aber die Parameter zugänglich. Alternativ dazu wurde ermittelt, dass lediglich diejenigen Prinzipien und Parameter, die während des LI-Erwerbs aktiviert bzw. fixiert wurden, auch während des L2-Erwerbs wirksam werden. Eine Neufixierung von Parametern gelingt nur (und möglicherweise für bestimmte Strukturen der L2 nie vollständig) durch den Einsatz allgemeiner Lernstrategien. White
667
(1986) stellt ζ. B. für den Pro-Drop-Parameter fest, dass Lerner, deren LI (hier: Spanisch = + pro-drop) und L2 (hier: Englisch = - prodrop) unterschiedliche Werte dieses Parameters aufweisen, größere Schwierigkeiten haben, die Ungrammatikalität von fremdsprachlichen Sätzen, bei denen das Subjekt getilgt wurde, zu erkennen, wohingegen Lerner mit hinsichtlich dieses Parameters äquivalenter LI (hier: Französisch = — pro-drop) beim Grammatikalitätstest besser abschneiden. 6.3. Konkurrierende kognitive Systeme Einen anderen Ansatz zur Lösung des logischen Problems des L2-Erwerbs bietet Felix (1982; 1985) in einer Kombination der Theorien Chomskys und Piagets, der auch imstande ist, individuelle Unterschiede im Erfolgsgrad des L2-Erwerbs jenseits des (indirekten) Einflusses der LI zu erklären. Dieser Ansatz ist auch als „competition model" bekannt. Danach haben auch erwachsene Lerner Zugang zur UG (hier als „languagespecific cognitive system" = LSC bezeichnet), diese wird in ihrer Wirksamkeit jedoch durch einen „potenten Konkurrenten" eingeschränkt, nämlich durch die ausgereiften allgemeinen kognitiven Fähigkeiten („problemsolving cognitive system" = PSC), die „quasi eine Art Bremsfunktion" einnehmen (Felix 1982: 292). Dieses PSC würde zur Lösung von Problemen - und als solche Aufgabe wird der Spracherwerb vom mentalen System eines Erwachsenen aufgefasst - eingesetzt und könnte nicht bewusst unterdrückt werden, obwohl es für den Spracherwerb weitgehend ungeeignet sei. Allenfalls der Umfang, in dem das PSC die Aktivierung der LSC hemmt, sei individuell unterschiedlich, ebenso der Einfluss externer Faktoren (etwa soziales Umfeld oder Motivation) auf das PSC. Insbesondere dem gesteuerten Fremdsprachenerwerb wird relative Chancenlosigkeit nachgesagt, da im Fremdsprachenunterricht insbesondere das PSC stimuliert würde. Bley-Vroman (1989, 60 f.) gibt allerdings berechtigterweise zu bedenken, dass man die Hypothese der konkurrierenden kognitiven Systeme auch so interpretieren könne, dass gute Problemloser oder gut motivierte Lerner folglich die schlechteren Lerner seien und vice versa, was angesichts der Forschungslage zu individuellen Unterschieden abzulehnen sei. Auch die Falsifizierbarkeit der Hypothese scheint problematisch zu sein: Wie kann der jeweilige Anteil von PSC und LSC nachvollziehbar und valide aufgezeigt werden?
668
6.4. Kein Zugang Mit der „Fundamental Difference"-Hypothese (Bley-Vroman 1989) wird die Auffassung vertreten, dass nach abgeschlossenem LI-Erwerb die UG nicht mehr verfügbar ist - also nicht einmal die Prinzipien der UG und allgemeine Problemlösungs- und Lernstrategien verwendet werden. Daraus folgt, dass dem LI - und L2-Erwerb keinerlei identische oder ähnliche Prinzipien zu Grunde liegen, die Spracherwerbstypen damit fundamental unterschiedlich sind. Die „Fundamental Difference"-Hypothese markiert damit die Gegenposition zur Identitätshypothese. Ein Überblick von Clahsen und Muysken (1986) über mehrere empirische Studien zum Erwerb der deutschen Wortstellung im kindlichen LI- und erwachsenen (ungesteuerten) L2-Erwerb, woraus einige Ergebnisse im folgenden exemplarisch dargestellt werden sollen, unterstützt diese Position. Die Autoren können aufzeigen, dass Kinder das UG-Prinzip des „move alpha" (was in etwa soviel bedeutet wie „bewege irgendwas") für den Erwerb der deutschen Verbstellung in Hauptund Nebensätzen realisieren. Die folgenden Beispielsätze einer Implikationsskala (entnommen aus Clahsen/Muysken 1986, 98 f.) zeigen, dass zunächst keine fixierte Verbstellung besteht, aber sowohl für finite als auch infinite Verbformen die Endstellung vorherrscht, während das Prinzip der Verschiebung finiter Verbformen erst in späteren Stadien erworben wird. Stadium 1: ich bau ein mast der teddy zu dick ist ich schaufei haben rausholt hier Stadium 2: deckel drauftun purzel pierkorb rausräum Stadium 3: die Schere hat Julia ein Schiff muss du erst jetzt bauen hab ein wurst mach Stadium 4: guck was ich in mein Tasche hab ich will mal sehen ob das schwarz ist Beeindruckenderweise scheinen Kinder keine Probleme mit der finalen Position des finiten Verbs in komplexen Nebensatzkonstruktionen zu haben. Die syntaktische Form ist zeitgleich mit ihrem Auftreten in der kindlichen Sprache fehlerfrei. L2-Lerner bewältigen den
IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II
Erwerb dieser Struktur dagegen nur mit Schwierigkeiten und durchlaufen mehrere Stadien (vgl. die Ergebnisse des ZISA-Projekts; s. Art. 68), wobei lange Zeit (oder bei Fossilierung endgültig) die Stellung des Verbs in Postsubjektposition beibehalten wird. Lerner unterschiedlicher Erstsprachen produzieren in frühen (vgl. a—b) und späten (vgl. c - d ) Erwerbsphasen Äußerungen wie die folgenden (entnommen aus Clahsen/Muysken 1986, 107 ff.): (a) das er kaufen in de strass (b) ein herr verkaufen blumen (c) er macht grammatik so dass wir kann nicht verstehen (d) wenn sie will gehen Dieses lernersprachliche Phänomen erklären die Autoren mit Übergeneralisierung der kanonischen Wortstellung — Transfer aus der LI wird mit dem Verweis auf Herkunftssprachen, die nicht der SVO-Wortstellung entsprechen (hier: Türkisch), zurückgewiesen. L2-Lerner würden also nicht auf die UG rekurrieren, sondern allgemeine Problemlösungsstrategien aktivieren. Über weitere Belege für die „Fundamental Difference"-Hypothese aus den Bereichen deutsche Konjugation und Negation berichten Clahsen und Muysken (1989). 7.
Schlussbemerkung
Im Vorangegangenen wurde kaum auf methodologische Aspekte der UG-Forschung eingegangen. Dabei ist die Frage, welche empirischen Daten Evidenzen für ein angeborenes sprachspezifisches mentales Modul erbringen können, ein noch nicht befriedigend gelöstes Problem. Neben der Analyse von einmalig oder longitudinal erhobenen Lernerproduktdaten (wie etwa in Clahsen/Muysken 1986; 1989) wurden insb. sog. „Grammatikalitätsurteile" eingeholt, bei denen die Testpersonen Sätze der LI oder L2 auf ihre grammatische Akzeptabilität einschätzen solen (z.B. in den im vorangegangenen angesprochenen Studien von White 1986 und Bley-Vroman/Felix/Ioup 1988). Die Fähigkeit, Sätze z.B. der LI, die ein kompetenter native speaker möglicherweise noch nie gehört hat, auf ihre grammatische Richtigkeit hin zu beurteilen (ohne dass hierfür explizites grammatisches Wissen vorliegt), wird als Beleg für die Existenz der UG bewertet. Welche kognitiven Fähigkeiten eine Testperson bei
67. Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung II
dieser Aufgabe - und bes. wenn es sich um fremdsprachliche Sätze handelt - einsetzt, ist letztlich jedoch nicht überprüfbar; außer der UG wären andere denkbar: allgemeine Problemlösungsstrategien, Weltwissen, LI-Wissen, vorhandenes explizites und implizites L2-Wissen oder vielleicht auch Erfahrungen mit anderen Fremdsprachen (vgl. auch Ellis 1991). Auch das Problem, wieviel individuelle Variation oder Variation innerhalb der Versuchsgruppen noch auf Zugang zur UG schließen lässt, wird unterschiedlich gehandhabt. Welche der im Vorangegangenen dargestellten Positionen dem L2-Erwerb am besten gerecht wird, ist momentan schwer einschätzbar. Edmondson (1999, 51 ff.) diskutiert einige UG-orientierte Studien und kommt zu dem Schluss, dass Ergebnisse, die die Positionen 6.1. bis 6.3. unterstützen, auch mit Verzicht auf die UG zu interpretieren seien. Aber auch eine Favorisierung der „Fundamental Difference"-Hypothese muss nicht mit der generellen Absage an einen nativistischen Erklärungsansatz des L2-Erwerbs verbunden sein auch wenn stark ausgeprägte individuelle Unterschiede bestehen: Die Fähigkeit, in gewissem Umfang eine Fremdsprache zu erwerben, ist ein menschliches Spezifíkum und weist auf eine bestimmte Ausstattung hin - die nicht notwendigerweise sprachspezifischer Natur sein muss. Didaktische Empfehlungen aus den theorieorientierten Forschungen zur Universalgrammatik abzuleiten, ist kaum möglich, da ihr Untersuchungsgegenstand (Kerngrammatik) nur einem kleinen Teilbereich der fremdsprachenunterrichtlichen Wirklichkeit mit ihren weitgestreuten Lernzielen entspricht (vgl. auch Ellis 1995). Auch eine denkbare negative Empfehlung besäße kaum Innovationskraft: alle grammatischen Bereiche, die die Universalgrammatik (eventuell) steuert, zu vernachlässigen und den „Rest" ins Zentrum des Fremdsprachenunterrichts zu rücken. 8.
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Theo-
Claudia Riemer, Hamburg (Deutschland)
68. Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung III: der sequenzielle Ansatz 1. 2. 3. 4.
10.
Einleitung Die Erwerbssequenzhypothese Terminologie Zwei Arten von Erwerbssequenz und zwei Forschungsrichtungen Vorbild LI-Forschung Ziele Illustrationsbeispiele Kritik Sequenzieller Ansatz und Fremdsprachenunterricht : Die Lehrbarkeitshypothese Literatur in Auswahl
1.
Einleitung
5. 6. 7. 8. 9.
Aus welcher Sicht auch immer man Zweitsprachenerwerb betrachtet, völlig unstrittig dürfte die Feststellung sein, dass die dabei involvierten Vorgänge eine zeitliche Dimension besitzen. Sprachen bzw. sprachliche Subsysteme werden nicht ,νοη heute auf morgen' erworben; spracherwerbliche Vorgänge ziehen sich vielmehr über Wochen, Monate und Jahre hin. Insofern sind deskriptive Aussagen über den Erwerb bestimmter sprachlicher Teilbereiche stets (implizit oder explizit) Aussagen über Erwerbsverläufe. Dies wiederum impliziert ein sequenzielles Moment, denn um Erwerbsverläufe überschaubar zu machen und Vergleiche zwischen Lernern zu ermöglichen, muss versucht werden, das Kontinuum
des Verlaufs in eine Abfolge von zeitlich aufeinander folgenden Schritten einzuteilen. Derartige Aussagen zum Verlauf des Zweitsprachenerwerbs sind in der Literatur allgegenwärtig; überall, wo Spracherwerbsverläufe beschrieben werden, ist in irgendeiner Weise von aufeinander folgenden Phasen oder Stadien die Rede. Nicht alle Studien jedoch, in denen Zweitsprachenerwerb in Form einer Abfolge von Stadien beschrieben wird, sind dem sequenziellen Ansatz zuzurechnen, wie er im Titel genannt ist. Wie aus dem ersten Teil der Überschrift hervorgeht, wird es hier um solche Studien gehen, in denen die gefundenen Abfolgen der Erwerbsschritte als überindividuelle Gesetzmäßigkeiten interpretiert werden. Die jeweils beschriebene sprachliche Entwicklung der Lerner wird insofern als prädeterminiert betrachtet, als die postulierten Erwerbsabfolgen für alle Lerner Gültigkeit besitzen und für künftige vergleichbare Fälle von Zweitsprachenerwerb vorhersagbar sein sollen. Einem solchen Verständnis des Zweitsprachenerwerbs liegt die Erwerbssequenzhypothese zu Grunde. 2.
Die Erwerbssequenzhypothese
In ihrer einfachsten Form besagt die Erwerbssequenzhypothese, dass beim Spracherwerb eine geordnete Folge von Erwerbssta-
68. Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung III
dien durchlaufen wird. Da der Erwerb einer Sprache ein äußerst komplexer Vorgang ist, bei dem sich gleichzeitig Entwicklungen in allen sprachlichen Teilbereichen (Lauterwerb, Erwerb des Flexionssystems, Syntaxerwerb, Erwerb des Wortschatzes usw.) vollziehen, können Erwerbssequenzen nur jeweils innerhalb mehr oder weniger großer Subsysteme der Zielsprache postuliert werden. Ergebnisse in Form von Erwerbssequenzen sind in erster Linie in Studien zum Erwerb von Negation, Fragebildung, grammatischen Morphemen sowie Wortstellungsregeln erarbeitet worden. Des Weiteren ist im Rahmen des sequenziellen Ansatzes der Erwerb von Relativsätzen, modalen Hilfsverben, Pronominalsystemen u. a. analysiert worden. Prinzipiell sind keine sprachlichen Teilbereiche von der Erwerbssequenzhypothese ausgeschlossen. 3.
Terminologie
Für die Abfolge von Schritten im Erwerb sprachlicher Teilbereiche werden in der deutschsprachigen Fachliteratur die Termini Reihenfolge und Sequenz verwendet, während sich in der englischsprachigen Literatur dafür die Begriffe order und sequence finden. Das Begriffspaar (Reihen-) FolgetSequenz tritt meist in Form von Komposita in Kombination mit Entwicklung bzw. Erwerb auf (Erwerbsreihenfolge, Entwicklungsfolge, Erwerbsfolge, Entwicklungssequenz, Erwerbssequenz). In der englischsprachigen Literatur werden die Termini order und sequence mit acquisition (al) bzw. development (al) kombiniert (order of acquisition, acquisition order, sequence of acquisition, sequence of development, developmental sequence). Daneben werden - innerhalb einer bestimmten Richtung des sequenziellen Ansatzes (vgl. 7.) — die Begriffe morpheme order und natural order verwendet. Zur Bezeichnung der einzelnen unterscheidbaren Phasen im Erwerbsverlauf dient der Terminus Stadium (engl, stage), allein oder in Zusammensetzungen wie Entwicklungsstadium, Erwerbsstadium, developmental stage, stage of development, acquisitional stage, stage of acquisition. Nicht selten werden die genannten Begriffe weitgehend synonym verwendet (z. B. Klein 1984, 37f.; 59; Lightbown/Spada 1993,57), wobei jedoch durchaus gesehen wird, dass die behandelten Reihenfolgen/Sequenzen unterschiedliche Konzepte darstellen. Die erforderliche terminologische Differenzierung innerhalb
671
des sequenziellen Ansatzes findet sich u. a. bei Ellis (1994, 73), der deutlich zwischen order of acquisition und sequence of acquisition unterscheidet und als Oberbegriff developmental pattern verwendet. 4.
Zwei Arten von Erwerbssequenzen und zwei Forschungsrichtungen
4.1. Der terminologischen Unterscheidung, die Ellis vornimmt, liegt die folgende konzeptuelle Unterscheidung zugrunde: (a) Man kann den Erwerbsverlauf beschreiben, indem man ermittelt, zu welchen Zeitpunkten die Elemente eines bestimmten Teilbereichs der Zweitsprache zielgerecht beherrscht werden. Will man die Frage nach dem Erwerbsverlauf in diesem Sinne beantworten, so ist es erforderlich, auf der Basis der erhobenen Daten bestimmte Zeitpunkte für den Erwerb einzelner Elemente (z. B. der deutschen Personalpronomina) festzulegen. Aus der Chronologie der jeweiligen Erwerbszeitpunkte ergäbe sich dann etwa die Abfolge du vor ich vor er usw. Für diese Art von Erwerbsabfolge verwendet Ellis den Begriff order of acquisition. (b) Ebenso kann eine Beschreibung des Erwerbsverlaufs darin bestehen, dass Aussagen über die (teilweise fehlerhaften) Schritte auf dem Weg hin zur zielgerechten Beherrschung eines sprachlichen Teilbereichs gemacht werden. So können etwa die Stadien beschrieben werden, die ein Zweitsprachenlerner beim Erwerb einiger Grundregeln der deutschen Negation durchläuft. Bei einer solchen Darstellung des Erwerbsverlaufs werden in der Chronologie nicht nur die Zeitpunkte des Erwerbs korrekter Negationsstrukturen berücksichtigt, sondern ebenso diejenigen nichtzielgerechter Formen/Strukturen wie z.B. ich nein schlafen. Für eine Abfolge in diesem Sinne verwendet Ellis den Terminus sequence of acquisition. 4.2. In allen Übersichtsdarstellungen zur Zweitsprachenerwerbsforschung (z. B. Dulay/ Burt/Krashen 1982; Ellis 1994; Klein 1984; Knapp-Potthoff/Knapp 1982; Larsen-Freeman/Long 1991; Lightbown/Spada 1993; Wode 1988) wird deutlich zwischen diesen beiden Konzeptionen von Erwerbssequenz unterschieden, auch wenn sich dies nicht immer in einer konsistenten terminologischen Unterscheidung spiegelt. Gelegentlich werden die Studien, die der einen oder der ande-
672
IX. Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II
ren Konzeption zuzurechnen sind, zusammenfassend als Morphemstudien (die nach einer order of acquisition suchen) und Syntaxstudien (die nach einer sequence of acquisition suchen) apostrophiert (ζ. Β. Knapp-PotthofF/ Knapp 1982, 81 ff.). Diese Unterscheidung hat vorwiegend historische Gründe; es wäre allerdings ein Missverständnis anzunehmen, dass sich Morphologieerwerb nur mit dem Order-Konzept und Syntaxerwerb nur mit dem Sequenz-Konzept erfassen lassen. So demonstrieren Wode u.a. (1978), dass im L2Erwerb einzelner Morpheme des Englischen auch Abfolgen im Sinne einer (developmental) sequence erkennbar sind. Es ist jedoch zutreffend, dass Erwerbsverläufe im Sinne einer order vornehmlich in den sog. morpheme-order-studies (vgl. vor allem Dulay/Burt 1973; 1974; 1980) beschrieben worden sind, während die größeren umfassenderen Projekte wie ζ. B. das Wuppertaler Projekt ZISA (Zweitspracherwerb italienischer, spanischer und portugiesischer Arbeiter; vgl. Clahsen/ Meisel/Pienemann 1983) und das Kieler Projekt zum Spracherwerb (vgl. Wode 1981; 1988; Felix 1978; 1982) Erwerbsverläufe vorwiegend in Form von sequences beschrieben haben. Im Folgenden benutzen wir als Kurzform zur Bezeichnung dieser beiden Forschungsrichtungen die Termini Order-Forschung und Sequence-Forschung. 5.
mal not) steht in der Regel am Anfang, gelegentlich auch am Ende, nie jedoch innerhalb der Satzstruktur. II. Einfügen von neg in S: Das Negationselement (jetzt auch in der Form can't oder don't, die beide noch unanalysiert sind) steht zwischen dem (späteren) Subjekt und dem (späteren) Prädikat. III. Ausbildung von Aux: Die Regeln für den Gebrauch der Negation in Verbindung mit Hilfsverben sind erworben; Formen wie don't und can't sind als bimorphematisch erkannt. Brown untersucht u. a., in welcher Reihenfolge die drei Kinder 14 grammatische Morpheme des Englischen erwerben. Auf der Basis der drei individuellen, aber vergleichsweise homogenen Erwerbsabfolgen wird eine durchschnittliche Erwerbsabfolge ermittelt, die folgendes Aussehen hat: 1. Present progressive; 2 - 3 . in, on\ 4. Plural; 5. Past irregular; 6. Possessive; 7. Uncontractible copula; 8. Articles; 9. Past regular; 10. Third person regular; 11. Third person irregular; 12. Uncontractible auxiliary; 13. Contractible copula; 14. Contractible auxiliary (Brown 1973, 317). Diese Erwerbsabfolge bildet den Ausgangspunkt für die Orc/er-Forschung, während Erwerbsabfolgen der Art, wie sie Klima/Bellugi postulieren, der Sequence-Forschung als Vorbild dienen.
Vorbild LI-Forschung
Beide Hauptströmungen innerhalb des sequenziellen Ansatzes der L2-Forschung haben sich in vielfacher Hinsicht am Vorbild entsprechender Untersuchungen in der LlForschung orientiert. Hier sind in erster Linie die Studien von Klima/Bellugi (1966) sowie von Brown (1973) zu nennen, in denen auf der Basis von Longitudinaldaten der Erwerb des Englischen als LI durch drei amerikanische Kinder beschrieben wird. Klima/Bellugi untersuchen den Erwerb der Negation und der Interrogation und beschreiben die Entwicklungen in diesen Bereichen in Form von spezifischen Regeln, die den negierten Äußerungen bzw. den Fragen der Kinder in jeweils drei Zeitabschnitten (,periods 1 — 3') zu Grunde liegen. Wode (1974, 22f.) gibt den LI-Erwerb der englischen Negation auf der Basis der Ergebnisse von Klima/Bellugi in Form der folgenden drei groben Erwerbsstadien wieder: I. Randstellung (Anfang oder Ende) von neg: Das Negationselement (meist no, manch-
6.
Ziele
Ziel der Order-Forschung wie der SequenceForschung ist es, möglichst breite Evidenz für eine universelle Gültigkeit der postulierten Erwerbsverläufe zu erbringen. Dabei lassen sich verschiedene Stufen der universellen Gültigkeit erkennen, je nachdem, ob die Untersuchung unterschiedliche Lernergruppen, Erwerbstypen, Sprachen einbezieht (vgl. Bahns/Burmeister 1987, 431 ff.): (1) Gilt der beobachtete Erwerbsverlauf für alle Lerner, die die fragliche Sprache als L2 erwerben, unabhängig von der jeweiligen LI, vom Alter des Lerners, von der Art der Daten sowie von der Art der Datenerhebung? Verläuft also bspw. der L2-Erwerb der deutschen Negation bei Kindern mit Italienisch als LI genauso wie bei Erwachsenen mit Spanisch als LI? (2) Lässt sich eine L2-Erwerbssequenz ebenso beobachten, wenn die fragliche Sprache als Erstsprache oder durch Fremdspra-
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chenunterricht erworben wird? Lässt sich also bspw. im Bereich der deutschen Negation stets der gleiche Erwerbsverlauf erkennen, unabhängig davon, ob es sich um den Erwerb des Deutschen als LI, als L2 oder um Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht handelt? (3) Wenn die Erwerbsverläufe in verschiedenen Sprachen miteinander verglichen werden sollen, so muss von den einzelnen konkreten sprachlichen Elementen abstrahiert werden. Bestimmte Vertreter der SequenceForschung versuchen, auf diese Weise (möglichst universell gültige) Erwerbsprinzipien zu entdecken (z.B. Wode 1981, 306ff.), die den beobachteten Erwerbsverläufen zu Grunde liegen. Hier lässt sich fragen, ob die Erwerbsprinzipien, die dem Erwerb eines bestimmten Strukturbereichs in einer bestimmten Sprache zu Grunde liegen, auch im Erwerb desselben Strukturbereichs in einer anderen Sprache gelten. Verläuft also bspw. der Erwerb der Negation im Englischen genauso (d.h. nach den gleichen Erwerbsprinzipien) wie im Deutschen? Während sich die Onfer-Forschung weitgehend darauf beschränkt, universelle Erwerbssequenzen für die grammatischen Morpheme im Englischen zu belegen, geht die SequenceForschung mit der Einbeziehung weiterer Strukturbereiche, anderer Spracherwerbstypen sowie weiterer Sprachen deutlich darüber hinaus. In diesem Unterschied dürfte auch einer der Gründe dafür liegen, dass in den zusammenfassenden Darstellungen der Zweitsprachenerwerbsforschung rückblickend der Sequence-¥or&c\mng größere Bedeutung beigemessen wird als der Order-Forschung (ζ. B. Ellis 1994, 111). 7.
Illustrationsbeispiele
Den Prototyp der Order-Forschung stellen die sog. morpheme-order-studies dar; hier handelt es sich um einen Untersuchungstyp, der insbes. in der ersten Hälfte der 70er Jahre in der nordamerikanischen Zweitsprachenerwerbsforschung dominierend war. Ausgehend von Browns Ergebnissen versuchen zunächst Dulay/Burt (1973) im L2-Erwerb des Englischen durch Kinder mit Spanisch als LI eine Erwerbsabfolge für eine Reihe von grammatischen Morphemen zu ermitteln. Ihr Ergebnis wird anschließend mit den Erwerbsabfolgen einer Serie anderer Studien verglichen, in denen (a) Kinder mit Chinesisch als
673
LI untersucht werden (Dulay/Burt 1974), (b) erwachsene Lerner mit unterschiedlichen LI untersucht werden (Bailey/Madden/Krashen 1974), (c) Lerner untersucht werden, die Englisch durch Lehrverfahren erworben haben (Perkins/Larsen-Freeman 1975), (d) schriftliche Daten (statt mündlicher) ausgewertet werden (Krashen et al. 1978). Die Ergebnisse aller dieser und weiterer morpheme-orderstudies weisen eine so weitgehende Ähnlichkeit auf, dass Krashen (1982, 12) auf dieser Basis seine natural-order-hypothesis entwikkelt. Während die Orúfer-Forschung durch die weitgehende Beschränkung auf den L2-Erwerb grammatischer Morpheme des Englischen vergleichsweise überschaubar ist, ist es nicht möglich, innerhalb des vorgegebenen Rahmens einen Überblick über die SequenceForschung zu geben, da hier verschiedene Strukturbereiche, Spracherwerbstypen und Sprachen involviert sind. Diese Breite in der Anlage der Sequence-Forschung soll stattdessen am Beispiel des Kieler Projekts zum Spracherwerb, das sich weitgehend auf die Ermittlung von Erwerbs- bzw. Entwicklungssequenzen konzentriert hat, kurz demonstriert werden. Der Schwerpunkt des Kieler Projektes liegt zweifellos in der Analyse und Beschreibung des natürlichen L2-Erwerbs des Englischen durch Kinder mit Deutsch als LI. Daneben hat es aber diverse Teilprojekte gegeben, die sich mit dem LI-Erwerb des Deutschen (Wode 1976; 1977), dem L2-Erwerb des Deutschen durch Kinder mit Englisch als LI (Felix 1978) sowie dem gesteuerten L2-Erwerb des Englischen durch Kinder mit Deutsch als LI (Felix 1982; Felix/Hahn 1985) befasst haben. Bei den schwerpunktmäßig unter Erwerbssequenzgesichtspunkten analysierten Strukturbereichen handelt es sich um Interrogation und Negation. Einige Studien gehen aber auch über die Syntaxebene hinaus, indem sie Erwerbssequenzen im semantisch-pragmatischen Bereich ermitteln: So beschreibt Burmeister (1989) eine Abfolge im Erwerb von Sprechakten und Vogel (1989) versucht bei der Analyse des Erwerbs von Tempus und Aspekt Erwerbssequenzen auf den Ebenen Morphologie, Semantik und Pragmatik zu korrelieren. Als repräsentatives Beispiel für die Sequence-Forschung im Bereich Deutsch als Zweitsprache sei das ZISA-Projekt (vgl. 4.2.) angeführt. Seine Aufmerksamkeit gilt insbes. dem Erwerb der deutschen Wortstellungsre-
674
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geln. Die für diesen Aspekt ermittelte Erwerbssequenz, die den Ausgangspunkt für Pienemanns Lehrbarkeitshypothese (vgl. 9.) darstellt, hat folgendes Aussehen: (1) SVO (Die Lerner produzieren Sätze in der kanonischen Wortfolge Subjekt-Prädikat-Objekt: Die Kinder spielen mi'm Ball.) (2) ADV-VOR (Adverbien werden dem Satz vorangestellt, ohne dass die zielsprachliche Inversion zu finden ist: Da Kinder spielen.) (3) PARTIKEL (Die Lerner trennen Modal- und Vollverb durch einen Einschub. Das Vollverb erscheint in finaler Stellung: Alle Kinder muss die Pause machen.) (4) INVERSION (Das Subjekt folgt dem Verb, wenn der Satzanfang durch ein Element besetzt ist, das nicht Subjekt ist: Dann hat sie wieder die Knochen gebringt.) (5) V-ENDE (Flektierte Verben erscheinen in Nebensätzen am Satzende: ... weil genau inne Hand hat Unfall gekriegt.). Erklärt wird diese Reihenfolge damit, dass die jeweils zu erlernenden Regeln an kognitiver Komplexität zunehmen, d.h., dass die entsprechenden Sprachstrukturen schwerer zu verarbeiten sind. 8.
Kritik
Die dem sequenziellen Ansatz verpflichtete Zweitsprachenerwerbsforschung ist in vielfacher Hinsicht kritisiert worden. Immer wieder genannte Problembereiche dieses Forschungsansatzes (vgl. Ellis 1994, 112ff.) betreffen (1) den beschränkten Gegenstandsbereich: Auch wenn es vereinzelte Versuche gegeben hat, Erwerbssequenzen in den Bereichen Phonologie, Lexikon, Pragmatik u. a. zu ermitteln, ist der sequenzielle Ansatz weitgehend auf die Erforschung des Erwerbs grammatischer Strukturen beschränkt geblieben; (2) die zweifelhafte Vergleichbarkeit der Ergebnisse der Einzelstudien: Wenn Lerner aus unterschiedlichen Erwerbskontexten untereinander verglichen werden sollen, muss gewährleistet sein, dass sie ungefähr den gleichen Entwicklungsstand erreicht haben. Es fehlt der Zweitsprachenerwerbsforschung aber bisher ein allgemein anerkanntes Messinstrument zur Feststellung des sprachlichen Entwicklungsstandes; (3) die Variation im Erwerbsverlauf von Lerner zu Lerner: Erwerbsverläufe für ver-
schiedene Individuen sind vermutlich nie völlig identisch. Wie stark dürfen sich Lernersprachen unterscheiden, damit man dennoch von (weitgehend) gleichen Erwerbsverläufen sprechen kann? (4) die Variabilität in der Lernersprache des einzelnen Lerners: Kein Lerner ist konsistent in der Anwendung von Lernersprachenregeln. Wie kann festgestellt werden, wann der Lerner eine bestimmte Form/Struktur/Regel erworben hat? (Zum Problem eines Erwerbskriteriums vgl. auch Bahns 1983); (5) die Forschungsmethodologie: An der Order-Forschung sind insbes. die Datenerhebungsverfahren sowie die Art der statistischen Auswertung, an der Sequence-Forschung die meist geringe Zahl der untersuchten Lerner sowie die mangelnde Durchschaubarkeit der Kriterien für die Abgrenzung der Stadien kritisiert worden. Trotz der teilweise massiven Kritik ist immer wieder versucht worden, die Ergebnisse des sequenziellen Ansatzes für den Fremdsprachenunterricht fruchtbar zu machen. 9.
Sequenzieller Ansatz und Fremdsprachenunterricht: Die Lehrbarkeitshypothese
Die Ergebnisse der Order-Forschung sind insbes. von Krashen in Form des Natural Approach in Empfehlungen für den Fremdsprachenunterricht umgesetzt worden. Sucht man nach Anwendungsmöglichkeiten der Ergebnisse der Sequence-¥orscbm\% auf den Fremdsprachenunterricht, so stellt sich die Frage, ob und inwieweit die (internen) Erwerbsmechanismen, wie sie sich in Form der festgestellten Sequenzen in natürlichen Erwerbssituationen manifestieren, durch Lehrverfahren beeinflussbar sind. Die pauschale Empfehlung, die grammatische Progression im Unterricht den Erwerbssequenzen nachzubilden und Strukturen in der Reihenfolge zu lehren, in der sie (ohne Lehrverfahren) gelernt werden, ist mit dem Argument zurückgewiesen worden, dass dieses Vorgehen auch das Lehren von nicht-zielgerechten Strukturen implizieren würde, da Erwerbssequenzen auch solche Strukturen berücksichtigen. Etwas differenzierte Überlegungen zum Verhältnis von grammatischer Progression (Lehren) und Erwerbssequenzen (Lernen) finden sich u.a. bei Bahns (1989; 1990), Vogel (1991), Vogel/Bahns (1989) sowie bei Pienemann (1984; 1989), dessen Ar-
68. Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung III
beiten zur Beeinflussbarkeit der Zweitsprachenerwerbsverläufe durch Lehrverfahren zur sog. Lehrbarkeitshypothese geführt haben. Diese Hypothese besagt, dass das Lehren bestimmter grammatischer Strukturen erst dann Aussicht auf Erfolg hat, wenn der Lerner in seiner internen Sprachentwicklung ein bestimmtes Stadium erreicht hat, das gewissermaßen die Voraussetzung für die Aufnahme und Verarbeitung der neuen Struktur e n ) darstellt. Empirisch untermauert Pienemann (1984) die Lehrbarkeitshypothese durch ein Unterrichtsexperiment mit 10 Kindern (7 bis 9 Jahre alt) mit Italienisch als Muttersprache, die Deutsch als L2 erwerben. Pienemann versucht herauszufinden, ob sich die Erwerbssequenz der deutschen Wortstellungsregeln, wie sie durch Clahsen/Meisel/Pienemann (1983) ermittelt worden ist (vgl. 7.), durch Lehrverfahren beeinflussen lässt. Die Lerner befinden sich in unterschiedlichen Stadien, ohne jedoch mit dem Erwerb von INVERSION begonnen zu haben. Dies stellt er durch die Analyse der Spontansprache der Kinder vor dem Experiment fest. In zwei Lehrsequenzen wird versucht, den Lernern INVERSION beizubringen. Zwischen den Lehrsequenzen wird ein Interview durchgeführt und die Spontansprache verdeckt aufgenommen. Pienemann stellt fest, dass durch den Unterricht der Gebrauch von Inversionsstrukturen bei allen Lernern zunimmt. Bei der Analyse der Spontansprache wird jedoch ein Unterschied zwischen den Lernern deutlich: Lerner, die sich erst im Stadium 2 befinden (PARTIKEL ist noch nicht erworben), produzieren INVERSION nur in formelhaften Strukturen wie Was soll ich tun?, d. h. in Sätzen, die in Übungen vorgekommen und auswendig gelernt worden sind. In der Spontansprache dieser Lerner kommt INVERSION nicht vor. Es ist sogar ein negativer Effekt feststellbar: Die vorher bereits häufig verwendete Struktur ADV-VOR geht in der Spontansprache um 75% zurück, weil die Lerner aus Angst vor Fehlern jetzt diese Struktur vermeiden. Anders dagegen verhält es sich mit den Lernern, in deren Spontansprache PARTIKEL schon auftreten. Hier ist ein positiver Effekt der Lehrverfahren feststellbar. Diese Lerner beginnen nun mit der Verwendung von INVERSION in der Spontansprache in kreativ gebildeten Sätzen wie Has du noch eine Bon-
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ren nur dann zu einem positiven Resultat führen, wenn sie das jeweilige Stadium berücksichtigen, in dem die Lerner sich befinden. Pienemann legt Wert auf die Feststellung, dass die Lehrbarkeitshypothese keine neue Lehrmethode darstellt und deshalb auch die gängigen Methoden nicht in Frage stellt. Sie definiert nur die Grenzen, innerhalb derer unterrichtliche Verfahren wirksam werden können. Die Lehrbarkeitshypothese bezieht sich auch nicht auf die ganze Komplexität des Erwerbsprozesses, sondern ist auf den Erwerb bestimmter struktureller Merkmale von Sprachen beschränkt. Ohne die Hypothese generell in Frage zu stellen, äußert Ellis (1992, 97) Bedenken, was die Umsetzung in die Praxis angeht. Er hält die Unterrichtenden für überfordert, wenn sie möglichst oft den jeweiligen Entwicklungsstand der Lernersprache testen sollen, um dann differenziert darauf eingehen zu können. Während Pienemann praktisch eine permanente Anpassung der Lehrprogression an den Entwicklungsstand der Lerner fordert, finden sich bei Bahns und Vogel weniger weitreichende Forderungen: Bahns (1990) empfiehlt der Fremdsprachendidaktik, sich nur in solchen Bereichen der grammatischen Progression an den Ergebnissen der Se