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German Pages 260 [264] Year 1997
Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft Gutachten vom August 1994 bis Juni 1997
1. Band: Gutachten 2. Band: Gutachten 3. Band: Gutachten 4. Band: Gutachten
1948 bis Mai 1950 vom Juni 1950 bis November 1952 vom Dezember 1952 bis November 1954 vom Januar 1955 bis Dezember 1956
5. Band: 6. Band: 7. Band: 8. Band:
vom vom vom vom
Gutachten Gutachten Gutachten Gutachten
Januar 1957 bis März 1961 April 1961 bis März 1966 Juni 1966 bis Dezember 1971 März 1973 bis November 1975
9. Band: Gutachten vom November 1976 bis November 1977 10. Band: Gutachten vom Dezember 1978 bis Februar 1980 11. Band: Gutachten vom Januar 1981 bis Juni 1983 12. Band: Gutachten vom Dezember 1984 bis Dezember 1986 13. Band: Gutachten vom Juni 1987 bis März 1990 14. Band: Gutachten vom Juni 1990 bis Juli 1992
Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft
15. Band
Gutachten vom August 1994 bis Juni 1997
Herausgegeben vom Bundesministerium für Wirtschaft
Verlag Otto Schwartz & Co · Göttingen · 1997
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten.
ISBN 3-509-01666-1 Alle Rechte vorbehalten Verlag Otto Schwartz & Co. • 37075 Göttingen · 1997
Inhaltsverzeichnis
Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats
VII
Vorwort des Bundesministers für Wirtschaft
XI
Gutachten vom 31. August 1994 Thema: Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische Union
1693
Brief an Bundeswirtschaftsminister Dr. Günter Rexrodt vom 21. Januar 1995 Thema: Wirtschaftspolitische Folgerungen aus der Verfassungswidrigkeit des sogenannten Kohlepfennigs
1791
Gutachten vom 17./18. Februar 1995 Thema: Orientierungen für eine Postreform III
1797
Gutachten vom 19./20. Januar 1996 Thema: Langzeitarbeitslosigkeit
1819
Gutachten vom 30. August 1996 Thema: Anpassung des deutschen Kartellgesetzes an das europäische Recht?
1859
Gutachten vom 8./9. November 1996 Thema: Anstehende große Steuerreform
1873
Gutachten vom 25.126. April 1997 Thema: Wagniskapital
1897
Brief an Bundeswirtschaftsminister Dr. Günter Rexrodt vom 11. Juni 1997 Thema: Ein Beschäftigungskapitel im Maastricht Ii-Vertrag?
1929 V
Brief an Bundeswirtschaftsminister Dr. Günter Rexrodt vom 11. Juni 1997 Thema: Protokoll zu Art. 222 EG-Vertrag bezüglich der Einstandspflichten öffentlich-rechtlicher Körperschaften für ihre öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute
VI
Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft
Dr. Manfred J. M. Neumann
Professor fur Wirtschaftliche Staatswissenschaften, insbesondere Wirtschaftspolitik, an der Universität Bonn (Vorsitzender)
Dr. Wernhard Möschel
Professor für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht an der Universität Tübingen (Stellvertretender Vorsitzender)
Dr. Dres. h.c. Norbert Kloten
Präsident der Landeszentralbank in Baden-Württemberg i.R. Honorarprofessor fur Volkswirtschaftslehre an der Universität Tübingen (Vorsitzender 1.5.1992 - 30.4.1996)
Dr. Olaf Sievert
Präsident der Landeszentralbank in den Freistaaten Sachsen u. Thüringen, Leipzig, Honorarprofessor an der Universität des Saarlandes (Stellvertretender Vorsitzender 2 1 . 1 0 . 1 9 8 8 - 16.1.1993)
Dr. Manfred E. Streit
Professor, Geschäftsfiihrender Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Wirtschaftssystemen in Jena (Stellvertretender Vorsitzender 16.1.1993-30.9.1993)
Dr. Hermann Albeck
Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Saarbrücken (Stellvertretender Vorsitzender 1.10.1993-31.10.1995)
Dr. Dr. h.c. mult. Horst Albach
Professor fur Betriebswirtschaftslehre an der Humboldt-Universität zu Berlin VII
Dr. Peter Bernholz
Professor für Nationalökonomie, insbesondere Geld- und Außenwirtschaft, an der Universität Basel
Dr. Norbert Berthold
Professor für Volkswirtschaftslehre an der Bayerischen Julius-MaximiliansUniversität in Würzburg
Dr. Charles Β. Blankart
Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin
Dr. Dres. h.c. Knut Borchardt
Professor für Wirtschaftsgeschichte und Volkswirtschaftslehre an der Universität München
Dr. Ernst Dürr
Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Erlangen-Nürnberg
Dr. Christoph Engel
Professor für Rechtswissenschaften an der Universität Osnabrück
Dr. Wolfgang Franz
Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Konstanz
Dr. Dr. h.c. Gerard Gäfgen
Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Konstanz
Dr. Dr. h.c. mult. Herbert Giersch
Professor fur Nationalökonomie, insbesondere fiir Wirtschaftspolitik, an der Universität Kiel
Dr. Dres. h.c. Heinz Haller
Professor für Finanzwissenschaft und Wirtschaftstheorie an der Universität Zürich
Dr. Dr. h.c. Herbert Hax
Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Universität zu Köln
Dr. Martin Hellwig
Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Mannheim
Dr. Dr. h.c. Helmut Hesse
Präsident der Landeszentralbank in der Freien Hansestadt Bremen, in Niedersachsen u. Sachsen-Anhalt Honorarprofessor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Göttingen
VIII
Dr. Günter Knieps
Professor fur Volkswirtschaftslehre an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Dr. Dr. h.c. mult. Wilhelm Krelle
Professor für wirtschaftliche Staatswissenschaften an der Universität Bonn
Dr. Dr. h.c. Ernst-Joachim Mestmäcker
Professor, Direktor am Max-PlanckInstitut fur ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg
Dr. Dres. h.c. Hans Möller
Professor für Volkswirtschaftslehre unter besonderer Berücksichtigung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen an der Universität München (verstorben am 16.12.1996)
Dr. Manfred Neumann
Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Erlangen-Nürnberg
Dr. Dr. h.c. Karl Schiller
Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg (Verstorben am 26.12.1994)
Dr. Dr. h.c. mult. Helmut Schlesinger
Präsident der Deutschen Bundesbank i.R. Honorarprofessor an der Hochschule fiir Verwaltungswissenschaften Speyer
Dr. Dres. h.c. Hans K. Schneider
Professor fur wirtschaftliche Staatswissenschaften an der Universität zu Köln
Dr. Horst Siebert
Präsident des Instituts fur Weltwirtschaft Professor für Theoretische Volkswirt-schaftslehre an der Universität Kiel
Dr. Hans-Werner Sinn
Direktor des Center for Economic Studies Professor fur Nationalökonomie und Finanzwissenschaft: Universität München IX
Dr. Hermann Josef Wallraff SJ
Professor fur Wirtschaftsethik an der Philosoph.-theolog. Hochschule St. Georgen, Frankfurt am Main (Verstorben am 27.8.1995)
Dr. Roland Vaubel
Professor fur Volkswirtschaftslehre an der Universität Mannheim
Dr. Christian Watrin
Professor fur wirtschaftliche Staatswissenschaften an der Universität Köln
Dr. Carl-Christian von Weizsäcker
Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität zu Köln
Dr. Eberhard Wille
Professor fur Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft an der Universität Mannheim
Dr. Hans F. Zacher
Professor und Wissenschaftliches Mitglied des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Sozialrecht in München
X
Vorwort des Bundesministers für Wirtschaft
Wissenschaftliche Politikberatung ist unverzichtbare Grundlage fur die Gestaltung einer konzeptionell ausgewogenen und in sich schlüssigen Wirtschaftspolitik. Gerade in unseren Tagen, in denen der härter werdende internationale Wettbewerb, die hartnäckigen Arbeitsmarkt- und Strukturprobleme und die marktwirtschaftliche Transformation in den neuen Bundesländern der deutschen Wirtschaft enorme Anpassungserfordernisse aufzwingen, kommt wissenschaftlichen Orientierungshilfen für die Wirtschaftspolitik ein besonderes Gewicht zu. Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft nimmt seit fast 50 Jahren aus unabhängiger Sicht und mit großer Sachkompetenz zu den drängenden wirtschaftspolitischen Fragen der Zeit Stellung. Er folgt dabei stets einer klaren ordnungspolitischen Linie. Hiervon zeugen auch die in diesem Band zusammengefaßten Stellungnahmen, die er seit Mitte 1994 vorgelegt hat. In seinem Gutachten „Ordnungspolitische Orientierungen für die Europäische Union" hat der Beirat Grundfragen des Geld- und Finanzwesens, der Marktverfassung und einer europäischen Sozialpolitik erörtert. In einer Zeit der neuen Dynamik im europäischen Einigungsprozeß, hat der Beirat rasch reagiert und zu wichtigen Fragen der europäischen Wirtschaftsordnung im Vorfeld der Regierungskonferenz und der Erweiterung der Gemeinschaft Stellung genommen. Er hat dabei nicht nur ein klares Bekenntnis zur politischen und wirtschaftlichen Integration in Europa abgelegt, sondern auch aufgezeigt, daß der Erfolg des weiteren Integrationsprozeßes dann am besten zu gewährleisten ist, wenn Suchprozeßen durch den Markt Vorrang vor staatlicher Intervention eingeräumt wird. Zur Neuregelung der Verstromungssubventionen im deutschen Steinkohlebergbau hat der Beirat sich schon kurz nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Oktober 1994, in dem eine Neu-regelung angemahnt wurde, geäußert. Im Spannungsfeld zwischen dem ordnungspolitisch gebotenen Abbau der Verstromungssubventionen und den sozialen Folgen für die Betroffenen zieht er „Wirtschaftspolitische Folgerungen aus der Verfassungswidrigkeit des sogenannten Kohlepfennigs" und rät zu einer Einführung marktwirtschaftlicher Strukturen im deutschen Steinkohlebergbau. XI
Die Entwicklungen an den Märkten für Telekommunikations- und Postdienstleistungen behandelt der Beirat in seinen „Orientierungen für eine Postreform III". Mit dem Fall der Telekommunikationsmonopole in der Europäischen Union zum 1. Januar 1998 wird der deutsche Markt für Telekommunikationsdienstleistungen für den Wettbewerb geöffnet. Das Gutachten des Beirats enthält zahlreiche konkrete Vorschläge zur Ausgestaltung der Liberalisierung. Die großen beschäftigungspolitischen Herausforderungen, vor denen die deutsche Wirtschaft steht, erörtert der Beirat in seinem Gutachten „Langzeitarbeitslosigkeit". Ansatzpunkte für eine Verbesserung der Beschäftigungssituation und eine Umkehr des Trends zu einer zunehmenden Verweildauer in der Arbeitslosigkeit sieht der Beirat in einer Senkung der Arbeitskosten. Mit Vorschlägen für neue Wege in der Tarifpolitik und Reformen der Sozialsysteme bereichert er den beschäftigungspolitischen Diskurs und unterstreicht die Bedeutung der Anreizsysteme für die Entwicklungen am Arbeitsmarkt. Mit der vorgesehenen Novellierung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen befaßt sich der Beirat in seinem Gutachten „Anpassung des Kartellgesetzes an das europäische Recht?". Ausführlich und kritisch geht er insbesondere auf das Thema Generalklausel entsprechend Art. 85 Abs. 3 E G V ein. Die Stellungnahme des Beirats stellt eine wichtige Abrundung des Meinungsspektrums dar, das sich aufgrund der Anhörungen der Wirtschaft und der öffentlichen Diskussion über die Reform des Kartellgesetzes bisher ergeben hat. Entscheidende Weichenstellungen für mehr Wachstum und Beschäftigung liegen in der Rückführung der hohen Steuerbelastung und einer verbesserten, transparenteren und einfacheren Steuerstruktur. Der Beirat hat sich hierzu in seinem Gutachten .Anstehende große Steuerreform" geäußert. Vor dem Hintergrund des schärfer werdenden globalen Standortwettbewerbs werden Vorschläge für ein Tarifmodell entwickelt, das zu einer Nettoentlastung aller Steuerzahler und damit zu einer Verbesserung der Voraussetzungen für mehr Wachstum und Beschäftigung führt. Wichtige Empfehlungen für eine Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland hat der Beirat auch in seinen Stellungnahmen zu den Themen „Wagniskapital", „Ein Beschäftigungskapital im Maastrich Ii-Vertrag?" und „Protokoll zu Artikel 222 EG-Vertrag bezüglich der Einstandspflichten öffentlich-rechtlicher Körperschaften für ihre öffentlich-rechtlichen Kreditisntitute" angesprochen. Die dort empfohlenen Maßnahmen dienen einer Verbesserung der Funktionsbedingungen an den Märkten für Kapital und Arbeit. XII
Der Beirat hat es in allen hier veröffentlichten Gutachten verstanden, aktuelle wirtschaftspolitische Fragen frühzeitig aufzugreifen und diese mit längerfristig richtungsweisenden Vorschlägen zur Gestaltung der Wirtschaftspolitik in der Sozialen Marktwirtschaft zu beantworten. Sie sind ein überzeugendes Plädoyer fiir die Stärkung der Marktkräfte, für eine Erhöhung der Anpassungsflexibilität und fiir eine Rückführung staatlicher Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen. Für sein großes ehrenamtliches Engagement möchte ich dem Wissenschaftlichen Beirat meinen Dank aussprechen. Er hat der wirtschaftspolitischen Diskussion in Deutschland mit den hier publizierten Stellungnahmen wichtige Anstöße gegeben.
Bonn, im November 1997
Dr. Günter Rexrodt Bundesminister fiir Wirtschaft
XIII
Der Wortlaut der Gutachen Gutachten vom August 1994 Thema: Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische Union Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft hat sich in mehreren Sitzungen, zuletzt am 2. und 3. August 1994, mit Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische Union befaßt und ist dabei zu folgender Stellungnahme gelangt: Anlaß und Aufgabe des Gutachtens Der europäische Einigungsprozeß hat für die Bürger in Westeuropa seit nunmehr schon einem halben Jahrhundert viel zu Freiheit, Frieden und Wohlstand beigetragen. Das hat die Gemeinschaft zum Schrittmacher einer auf ein größeres Europa zielenden Integration werden lassen. Die Auseinandersetzungen über den Vertrag von Maastricht zeigen jedoch, welche tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten über das neue Europa und über den weiteren Weg dorthin noch bestehen. In der gegenwärtigen kritischen Phase des fortgeschrittenen europäischen Integrationsprozesses mangelt es an ordnungspolitischer Orientierung für die Europäische Union. Das Defizit sollte bis zur Revisionskonferenz von 1996, auf der Änderungen des Vertrages von Maastricht anstehen, behoben sein. Das Gutachten des Beirats greift dieses Thema auf. Im ersten Teil beschreibt es verfassungspolitische Grundsätze für die Fortentwicklung der Europäischen Union. Im zweiten Teil werden die Kompetenzzuordnung und das Kontrollproblem behandelt. Im dritten Teil geht es um die konkrete ordnungspolitische Gestaltung der Marktverfassung, der Geldverfassung und der Finanzverfassung sowie um Grundfragen einer Sozialunion. Der vierte Teil des Gutachtens faßt die zentralen ordnungspolitischen Aussagen mit Blick auf die weitere Gestaltung des europäischen Integrationsprozesses zusammen. 1.
Zur europäischen Verfassung
1.1
Die Stationen der europäischen Integration Politische Ziele, wirtschaftliche
Mittel
1. Die europäische Integration war von Anfang an auf politische Ziele gerichtet, die zunächst mit wirtschaftlichen Mit1693
Gutachten vom August 1994
teln verwirklicht werden sollten. Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl war Beginn eines Prozesses, der Deutschland schrittweise aus der Rolle des besiegten Kriegsgegners in die eines gleichberechtigten Partners führte. In der Präambel des EGKS-Vertrages werden die Sicherung des Weltfriedens und die Uberwindung der jahrhundertealten Rivalität in Europa als übergreifende Ziele bezeichnet. Die Montanunion vergemeinschaftete Industrien, denen nach dem damaligen Stand der Technik eine Schlüsselrolle für die Rüstung zukam. Sie war zwar von den proklamierten Grundsätzen her eine marktwirtschaftliche Gemeinschaft, das gewählte Instrumentarium aber war dirigistisch. Alsbald traten auch die Grenzen und Probleme einer auf bestimmte Wirtschaftszweige begrenzten Teilintegration hervor. Die vereinzelt geäußerte Vorstellung, die europäische Integration könne durch weitere sektorale Teilintegrationen nach dem Muster der Montanunion vorangebracht werden, fand in der Wissenschaft schon früh Kritik. Der Beirat warnte in seinem Gutachten zur wirtschaftlichen Integration Europas vom 1. Mai 1953 vor den Gefahren „einer Serie von additiven Teilintegrationen einzelner Wirtschaftszweige". Solche Teilintegrationen seien auch nicht geeignet, einen echten Binnenmarkt stufenweise zu verwirklichen. Ansätze einer europäischen Verfassung im EWG-Vertrag 2. Mit der Errichtung eines Gemeinsamen Marktes im Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft erfolgte 1958 die Abkehr von der ökonomischen Teilintegration. Festgehalten wurde an dem Ziel, durch den Zusammenschluß der Wirtschaftskräfte „Frieden und Freiheit zu wahren und zu festigen". Grundlage des Gemeinsamen Marktes bildeten eine Zollunion sowie die Gewährleistung der Freiheit des Warenverkehrs, der Dienstleistungen, des Kapitalverkehrs, der Niederlassungsfreiheit und der Freizügigkeit insbesondere der Arbeitnehmer. Die Gemeinschaft erhielt eigene Zuständigkeiten für die Wettbewerbspolitik, die Landwirtschaftspolitik, die Verkehrspolitik und die Handelspolitik gegenüber dritten Staaten. Das wichtigste Mittel, um das ordnungsgemäße Funktionieren des Gemeinsamen Marktes zu 1694
Ordnungspolitische O r i e n t i e r u n g für die Europäische U n i o n
ermöglichen, war die Rechtsangleichung. Mit der allgemein und inhaltlich unbestimmt gehaltenen Verpflichtung der Mitgliedstaaten, ihre Wirtschaftspolitik zu koordinieren, sollten die Reibungsverluste aus einem unabhängigen Vorgehen der nationalen Wirtschaftspolitik gemindert werden. Mit dem EWG-Vertrag wurden das Marktprinzip, das Wettbewerbsprinzip und ein weitgefaßtes Diskriminierungsverbot zu tragenden Elementen einer Europäischen Wirtschaftsverfassung. Der Erfolg der Gemeinschaft, ihre Ausstrahlung und ihre Anziehungskraft wurzeln in jenen Prinzipien. Der Erfolg reicht weit über das Wirtschaftliche hinaus. Die Agrarpolitik indes sowie andere dirigistische Aktivitäten, die mehr als 80 Prozent der Ausgaben und einen großen bürokratischen Apparat in Anspruch nehmen, haben mit dieser historischen Dimension nur wenig zu tun. Sie haben das, worauf es ankam, vielleicht politisch erst ermöglicht, gleichwohl gehören sie nicht zum Wesentlichen. Was nach dem heroischen Beginn kam, war allerdings nicht nur Ausbreitung, Entfaltung und Befestigung der Prinzipien der Römischen Verträge, sondern immer wieder auch der Versuch eines Aufstands gegen deren uneingeschränkte Geltung. Die Legitimation der Gemeinschaft für die Ausübung von Hoheitsbefugnissen ist „der EWG-Vertrag als Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft" (Europäischer Gerichtshof). Diese Verfassung ist durch Prinzipien gekennzeichnet, welche sich sowohl von den Satzungen internationaler Organisationen unterscheiden als auch von einer Staatsverfassung. Im Gegensatz zur potentiellen Universalzuständigkeit der Staaten verfügt die Gemeinschaft lediglich über funktional begrenzte Zuständigkeiten. Zur Erfüllung ihrer Aufgaben hat die Gemeinschaft eine Gesetzgebungsbefugnis, die sie in F o r m von Verordnungen und Richtlinien ausübt. Die letzte Entscheidung liegt beim Rat; er besteht aus den Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten. Der Rat hat allerdings die Vorschläge der Kommission aufzugreifen. Die Mitglieder der Kommission, die von den Regierungen im gegenseitigen Einvernehmen für jeweils fünf (früher vier) Jahre ernannt werden, sollen ihre Tätigkeit in voller Unabhängigkeit von 1695
Gutachten vom August 1994
den Regierungen der Mitgliedstaaten zum allgemeinen Wohl der Gemeinschaft ausüben. Neben der Mitwirkung an der Gesetzgebung besteht die wichtigste Aufgabe der Kommission darin, „für die Anwendung des Vertrags sowie der von den Organen auf Grund dieses Vertrags getroffenen Bestimmungen Sorge zu tragen". Soweit der Gemeinschaft exekutive Zuständigkeiten bei der Anwendung der Wettbewerbsregeln übertragen sind, werden sie von der Kommission wahrgenommen. Uber die Rechtmäßigkeit der Handlungen der Gemeinschaftsinstitutionen entscheidet der Europäische Gerichtshof. Im Gegensatz zum traditionellen Völkerrecht sind Subjekte der Gemeinschaft nicht nur die Staaten, sondern auch ihre Bürger. Ihre volle Bedeutung hat die Subjektstellung der Bürger durch die Rechtsprechung des Gerichtshofes gewonnen, der ursprünglich staatsgerichteten Teilen des Gemeinschaftsrechts unmittelbare Geltung zugunsten der Bürger beigemessen hat. Danach können sich die Bürger vor den zuständigen staatlichen Behörden und Gerichten auf Normen des Gemeinschaftsrechts berufen, obwohl diese ihrem Wortlaut nach an die Mitgliedstaaten gerichtet sind. Im Falle von Konflikten mit staatlichem Recht genießen die Normen des Gemeinschaftsrechts Vorrang. Auf diese Weise sind im Anwendungsbereich der Direktwirkung Anwendung und Auslegung des Gemeinschaftsrechts dem politischen Einfluß der Mitgliedstaaten entzogen. Da jede staatliche Stelle (einschließlich der Gerichte) an das Gemeinschaftsrecht gebunden ist, ist auf diese Weise seine Anwendung gleichzeitig dezentralisiert worden. Insgesamt ist die Öffnung der nationalen Märkte in hohem Maße auf die wegweisende Rechtsprechung des Gerichtshofes zur unmittelbaren Gewährleistung von Freiheitsrechten zurückzuführen. Der Luxemburger Kompromiß 3. Auf dieser gemeinschaftsrechtlichen Grundlage kam es von Anfang an zu Spannungen zwischen der Eigenständigkeit der Gemeinschaft und dem Souveränitätsverständnis der Mitgliedstaaten. Die Gemeinschaft schränkte deren politischen Handlungsspielraum in einer in dieser Form nicht vor1696
Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische U n i o n
hergesehenen Weise ein. Das System enumerierter Zuständigkeiten hinderte die Mitgliedstaaten, über die politischen Ziele der Gemeinschaft zu verfügen. Außerhalb der Landwirtschaft sahen sich die Institutionen der Gemeinschaft — nicht zuletzt durch die Rechtsprechung des Gerichtshofes — an marktwirtschaftliche Grundsätze weitgehend gebunden. Daraus entstanden Konflikte mit gegensätzlichen wirtschafts- und ordnungspolitischen Vorstellungen im Verhältnis der Mitgliedstaaten zueinander und mit den daraus abgeleiteten Forderungen an die Politik der Gemeinschaft. Der Gegensatz zwischen einer Politik offener Märkte — nach innen und nach außen — und industriepolitischen Interventionen ist so alt wie die Gemeinschaft selbst. Der Anspruch der Mitgliedstaaten auf die Letztentscheidung über den politischen Weg der Gemeinschaft kam im Luxemburger Kompromiß von 1966 zum Ausdruck. Das Veto der französischen Regierung gegen Mehrheitsentscheidungen im Rat, die im Vertrag von R o m vorgesehen sind, wurde durch die Feststellung überwunden, daß zwischen den Beteiligten keine Einhelligkeit über das Verfahren und die Zulassung von Mehrheitsbeschlüssen „bei wichtigen nationalen Interessen" bestehe (Bulletin E G 3/1966, S. 9). Der auf den Luxemburger Kompromiß folgende Stillstand in der Europapolitik wurde zwar schrittweise überwunden. Der Preis dafür war jedoch hoch: In zunehmendem Maße bewegte sich die Politik der Gemeinschaft weg von der Konkretisierung des mit den Verträgen vorgegebenen Verfassungsauftrages hin zu politisch motivierten Beschlüssen, auf welche sich die Regierungen der Mitgliedstaaten im Rat von Fall zu Fall verständigen konnten. Der „Kompromiß von Jannina" vom Frühjahr 1994 markiert den vorläufigen Endpunkt dieser Entwicklung. Die Einheitliche Europäische Akte 1986 4. Die verfassungsrechtliche Legitimation der Hoheitsbefugnisse der Gemeinschaft wurde im gleichen Maße fragwürdig, wie diese sich von der Aufgabe entfernte, offene Märkte und ein System unverfälschten Wettbewerbs zu gewährleisten. Neue Zuständigkeiten in der Forschungspolitik und im Um1697
Gutachten vom August 1994
weltschutz wurden in Anspruch genommen oder neu begründet, ohne daß die institutionelle Struktur der Gemeinschaft im Kern verändert wurde. Ungeklärt blieb, ob die neuen Aufgaben mit den gegebenen Legitimationsprinzipien vereinbar sein würden. Die Einheitliche Europäische Akte von 1986 normierte die Fortentwicklung des Gemeinsamen Marktes zu einem echten Binnenmarkt bis zum 31. Dezember 1992 (vgl. Stellungnahme des Beirats zum Weißbuch der EG-Kommission über den Binnenmarkt vom 22. Februar 1986). Das Ziel des Binnenmarktes sollte durch ein verbessertes Verfahren der Rechtsangleichung und durch wechselseitige Anerkennung mitgliedstaatlicher Normen (Art. 100 a, 100 b EG-Vertrag) erreicht werden. Eine extensive Anwendung des Art. 100 a EGVertrag drohte allerdings das Prinzip der enumerierten Zuständigkeiten auszuhöhlen. Das im Weißbuch enthaltene Programm zur Rechtsangleichung ist in wesentlichen Teilen verwirklicht worden. Unkoordinierte Richtlinien haben indes zu Rechtsunsicherheit geführt. Ferner hat sich das Instrument der Richtlinie als nur begrenzt geeignet erwiesen, die erstrebte Rechtseinheit herzustellen. Als Gründe sind zu nennen: Vorbehaltsklauseln zugunsten von dissentierenden Mitgliedstaaten, mit denen eine Mehrheit im Rat ermöglicht werden soll; das Ermessen der Mitgliedstaaten, in welcher Weise sie die Richtlinien in das staatliche Recht übernehmen; die verschiedenen rechtlichen, administrativen und wirtschaftlichen Bedingungen, auf welche die Richtlinien in den Mitgliedstaaten treffen; schließlich die mangelnde Bereitschaft von Mitgliedstaaten zur Umsetzung — selbst wenn sie der Richtlinie im Rat zugestimmt haben. Die sichtbar gewordenen Probleme lassen sich nicht durch bloße Korrekturen des Verfahrens und bessere Transparenz lösen. Die Rechtsetzung der Gemeinschaft nach Gegenständen und Instrumenten bedarf vielmehr einer Reform.
1698
Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische Union
Der Vertrag von Maastricht: verfassungsrechtliche Legitimation Gemeinschaft?
der
5. Mit dem Vertrag von Maastricht, der wichtigsten Etappe auf dem Wege des politischen und wirtschaftlichen Zusammenwachsens Europas nach den Römischen Verträgen, wurde die Frage nach der verfassungsrechtlichen Legitimation der Gemeinschaft in den Mittelpunkt gerückt. Die sich anschließende Diskussion hat gezeigt, daß der Vertrag den Willen zu einer engeren politischen U n i o n nicht so zum Ausdruck bringt, daß diese von einer breiten Mehrheit der Bevölkerungen in den Mitgliedstaaten als notwendig und legitim anerkannt wird. Das im Vertrag normierte Subsidiaritätsprinzip, das den offenbar gewordenen Mängeln zentraler Uberregulierung entgegenwirken soll, reflektiert die Erkenntnis, daß das Verhältnis der Gemeinschaft zu den Mitgliedstaaten reformbedürftig ist. Eine wesentliche Veränderung der Verfassungsstruktur der Gemeinschaft ist mit dem Vertrag von Maastricht aber nicht vorgenommen worden. Die Frage, wie die politische Einheit Europas aussehen und wie sie verwirklicht werden soll, bleibt unbeantwortet. Dazu hätte es eines verfassungspolitischen Entwurfs bedurft, der den Bürgern eine klare Vorstellung von den gewollten Institutionen, ihren Aufgaben und ihrer Legitimation vermittelt. In Europa ist die Sorge gewachsen, daß eine zunehmende Zentralisierung hoheitlicher Funktionen auf europäischer Ebene die jeweilige nationale Identität beeinträchtigen könnte. Befürchtet wird, neue Zuständigkeiten der U n i o n (ζ. B. in der Industriepolitik) könnten bereit?/ erreichte Errungenschaften der Wirtschaftsintegration gefährden. Erkennbar geworden ist die Tendenz, protektionistische und wettbewerbsverzerrende Befugnisse und Instrumente zur Wirtschaftsregulierung auf Gemeinschaftsebene zu begründen, die den Mitgliedstaaten gerade entzogen worden waren, weil sie sich als mit offenen Märkten unvereinbar erwiesen hatten. Unklare ordnungspolitische Orientierungen leisten einem europapolitischen Pessimismus Vorschub. D e m gilt es zu begegnen.
1699
vom August 1994
Warum soll es weitergehen? Europäische Integration: politisch geboten, wirtschaftlich vorteilhaft 6. Alle Bemühungen um eine europäische Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg dienten vornehmlich einem Zweck: Europa Frieden und Freiheit auf Dauer zu geben. Das Risiko gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen Nationalstaaten sollte durch Integration endgültig entfallen. Die europäische Einigung hat sich in dieser Hinsicht als so erfolgreich erwiesen, daß das Friedensziel heute, jedenfalls in den EU-Mitgliedstaaten ebenso wie in den EFTA-Staaten, weithin nicht mehr bewußt wahrgenommen wird. Dennoch ist das Friedensargument, gerade nach Uberwindung des Ost-West-Konfliktes, der Europa in einem Ausnahmezustand gehalten hatte, wichtiger denn je. Friedensstiftung durch Integration verhindert auch im größeren Europa eine Rückkehr zu den Rivalitäten der Nationalstaaten und zur Allianzbildung nach dem Muster des 19. Jahrhunderts. Politische Integration, d. h. letztlich „Kontrolle aller durch alle", ist das vorzugswürdige Paradigma. 7. Die im Vertrag von Maastricht weiterentwickelte politische Union erleichtert es, die wirtschaftliche Integration voranzubringen und zugleich das Erreichte zu sichern. Sie bietet Chancen, die ökonomische Arbeitsteilung zu vertiefen, etwa durch einen besseren Verbund der europäischen Verkehrsnetze, eine produktivitätsfördernde Standardisierung technischer Normen und Vorschriften, eine stärker aufeinander abgestimmte Bereitstellung öffentlicher Güter oder eine Internalisierung grenzüberschreitender externer Effekte. Sie bietet Möglichkeiten, eine Gefahrengemeinschaft zum Ausgleich zukünftiger nationaler Risiken zu schaffen. Sie ist die Basis für eine Entwicklung, die eines Tages bis zu einem europäischen Bundesstaat führen mag. Eine fortschreitende wirtschaftliche Integration erhöht die Mobilität von Arbeit und Kapital, von Waren und Dienstleistungen und mehrt derart die Vorteile, die aus wirtschaftlicher Arbeitsteilung erwachsen. Sie intensiviert den institutionellen Wettbewerb zwischen den Mitgliedsländern der
Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische Union
Gemeinschaft und stärkt so deren Bemühen, attraktiver Produktionsstandort zu bleiben oder es zu werden. Uber einen wirksameren Wettbewerb behebt sie Effizienzmängel, die sich unter der Schutzglocke protektionistischer Praktiken akkumuliert haben. 8. Politische Integration und wirtschaftliche Integration fördern sich gegenseitig. Das Integrationsgeschehen ist dabei als ein offener Prozeß zu sehen, der auf der Basis stets neuer Erfahrungen und Erkenntnisse, d. h. dynamisch und in unvorhersehbarer Weise, abläuft. Mit unerwünschten Nebenwirkungen befrachtet wird der Prozeß, falls er von politischem Wunschdenken, einer Ausrichtung auf die Interessen Beteiligter, Kompromißformeln und Vorkehrungen bestimmt ist, die aus wirtschaftspolitischer Sicht bedenklich erscheinen. N u r eine überzeugende ordnungspolitische Orientierung vermag der europäischen Integrationspolitik konzeptionelle Führung zu geben. Die Weichen für die Integrationspolitik sind so zu stellen, daß sie vom Erreichten ausgehen und zugleich Optionen für zukünftige Entwicklungen offenhalten. Dabei gilt es, sich auf Grundsätze zu einigen, die eine Balance zwischen europäischem Miteinander und kreativer Pluralität im Wettbewerb auf Dauer verläßlich sichern. Den Folgen früherer integrationspolitischer Fehlentwicklungen ist ebenso konsequent zu begegnen wie möglichen Gefährdungen, die aus dem Vertrag von Maastricht und dem zeitgleich abgeschlossenen Abkommen über die Sozialpolitik erwachsen können. Besondere Sorgfalt erfordert die Klärung der Frage, was in den kommenden Jahren Priorität haben soll. Auch wenn die Mitglieder des Beirats in der Abwägung möglicher Formen und Folgen des europäischen Einigungsprozesses im einzelnen unterschiedliche Ansichten vertreten, sind sie sich darin einig, daß die anstehenden Aufgaben nur in einer wohlbedachten Bewegung nach vorne adäquat gelöst werden können. Erweiterung der Union 9. Das ordnungspolitische Defizit ohne Verzug zu beheben, empfiehlt sich auch wegen der bevorstehenden „Nord-Er1701
Gutachten vom August 1994
Weiterung" der Gemeinschaft. Der Beitritt von Österreich und von Norwegen, Schweden und Finnland begründet eine Fülle von organisatorischen und rechtlichen Anpassungen. Er kompliziert die ohnehin schon umständlichen Prozesse der Willensbildung und Entscheidungsfindung auf europäischer Ebene. Vor allem aber verlangt er Klarheit über die integrationspolitischen Ziele und die verfassungspolitischen Grundsätze. Das gilt um so mehr, als die integrationspolitischen Erfolge der Europäischen Gemeinschaft und die ihr eigene Gravitation sie für weitere Länder im mittleren und im östlichen Europa anziehend gemacht haben. Eine Heranführung dieser Staaten an die Europäische Gemeinschaft würde es ihnen erlauben, an der friedensstiftenden Funktion der Europäischen Union teilzuhaben. Dies ist für sie besonders wichtig, da sie zumeist mit noch ungelösten Minderheitenproblemen konfrontiert sind. Doch geht es ihnen auch um die Gewißheit politischer Sicherheit nach außen. Von kaum geringerem Rang sind die Motive, die für eine Beteiligung an der Wirtschafts- und Währungsunion sprechen. Es ist daher verständlich, wenn die Staaten, die noch über Jahre hinweg schwer an den Lasten des Systemwandels zu tragen haben werden, auf offene Türen der Europäischen Union drängen. Die 1990 mit Ungarn, der Tschechoslowakei (heute Tschechische Republik und Slowakische Republik) sowie Polen abgeschlossenen Assoziierungsverträge („Europaverträge") sind ein erster Schritt zu dieser Öffnung. Noch sind allerdings wichtige Voraussetzungen für einen Beitritt nicht erfüllt. Es gehört zu den Aufgaben der Folgekonferenz 1996, die Institutionen der Gemeinschaft auf die Möglichkeit vorzubereiten, daß eines nicht zu fernen Tages die Länder Mittel-/Osteuropas in die Europäische Union aufzunehmen sind und dann vielleicht zwanzig oder noch mehr Mitgliedstaaten an der innergemeinschaftlichen Willensbildung teilhaben.
1702
Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische U n i o n
1.3
Grundpositionen für eine Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft Zentrale Werte und
Grundfreiheiten
10. Auszugehen ist von den grundlegenden Wertvorstellungen, auf denen die Politik der Europäischen Gemeinschaft und ihrer Mitgliedstaaten basiert. Diese Wertvorstellungen liegen den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, den Gemeinschaftsverträgen und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs teils ausdrücklich, teils implizit zugrunde. Die Gemeinschaft erkennt die Menschenrechte sowie politische und wirtschaftliche Grundfreiheiten an. Art. F EUVertrag normiert die ausdrückliche Verpflichtung der Gemeinschaft, die Grundrechte zu achten, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben. Ebenso hat die Union die nationale Identität der Mitgliedstaaten zu achten. Die europäischen Verträge und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs konstituieren zudem „eine offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" (so Art. 3 a EG-Vertrag), gestützt auf die vier wirtschaftlichen Grundfreiheiten: freier Warenverkehr, Freizügigkeit verbunden mit Niederlassungsfreiheit, freier Dienstleistungsverkehr und freier Kapitalverkehr. Die politischen und die wirtschaftlichen Grundfreiheiten begründen Zuständigkeiten der Gemeinschaft zu ihrer Gewährleistung, sie begründen aber auch Ansprüche der Bürger gegenüber der Gemeinschaft. Besonders wichtig: Grundfreiheiten schränken wie alle Freiheiten die Wahl der politischen Mittel ein. Verfassungsgrundsätze und dezentrale Ordnung 11. Die Verfassung der Europäischen Union hat mit ihren Institutionen und Regelungen den allgemein geltenden Prinzipien zu entsprechen. Bei der Formulierung von Aufgaben und Zuständigkeiten ist an jene anzuknüpfen. Allerdings lassen sich so noch keine konkreten Vorstellungen über das Regelwerk der Verfassung Europas ableiten. Vielmehr ist zu1703
Gutachten vom August 1994
sätzlich vor allem Einigkeit über die Grundsätze der Gestaltung der Verfassung erforderlich, auch über die sich mit einer Institutionalisierung im einzelnen stellenden Probleme. Die Zuweisung der Aufgaben, Kompetenzen und Mittel auf die — gegebenenfalls erst zu schaffenden — Organe der verschiedenen Ebenen muß den übergeordneten Gestaltungsprinzipien genügen. Erst dann ist zu erwarten, daß den gesetzten Zielen gemäß gehandelt wird. Folglich dürfen fundamentale Grundsätze nicht zur Disposition der Politik stehen. Das Beharren auf für richtig erkannten Grundsätzen beinhaltet nicht Starrheit im politischen Handeln. Vielmehr sind aus unveränderten Verfassungsgrundsätzen neue Folgerungen zu ziehen, wenn Änderungen in der historischen Konstellation dies erfordern. Bundesstaatlich verfaßtes Europa einstweilen nicht aktuell 12. Die Völker der Mitgliedstaaten verstehen sich noch nicht als Teile eines europäischen Volkes, welches Ausgangspunkt einer umfassenden demokratischen Legitimation sein könnte. Europa wurzelt in unterschiedlichen nationalen Kulturen. Dies bestimmt bis heute mehr als alles andere die europäische Wirklichkeit. Bislang hat sich keine europäische öffentliche Meinung herausgebildet. Ein gemeinschaftsweiter Diskurs, der Entscheidungen auf europäischer Ebene begleitet und kontrolliert, findet noch nicht statt. Daran hat auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Maastricht-Urteil erinnert. Ein Staatsvolk setzt mehr voraus als die Gleichheit eines staatsbürgerlichen Status. Es bedingt eine geschichtlich gewachsene innere Verbundenheit der Staatsbürger, eine wechselseitige Solidarität, welche für Minderheiten eine Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen überhaupt erst erträglich macht. Angesichts dieses Befundes empfiehlt es sich nach Auffassung des Beirats nicht, durch eine Veränderung von Institutionen die noch fehlenden Voraussetzungen für ein bundesstaatlich verfaßtes Europa herbeizwingen zu wollen. So wäre es auch bedenklich, dem Europäischen Parlament umfassende Kompetenzen aus der Absicht heraus zu übertragen, auf diese Weise in der Bevölkerung der Mitgliedstaaten ein größe1704
Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische U n i o n
res politisches Interesse an der praktischen Arbeit dieses Parlaments zu wecken. Ein europäisches Staatsvolk läßt sich nicht durch Dekrete schaffen, es muß sich vielmehr im Zuge der europäischen Integration entwickeln. Der Beirat hat vornehmlich aus solchen Erwägungen heraus sein Gutachten nicht in der Perspektive eines mittelfristig oder gar kurzfristig anzustrebenden europäischen Bundesstaates verfaßt, ohne indes ein derartiges Fernziel ausschließen zu wollen. Einige Mitglieder des Beirats befürworten energischere Schritte in Richtung auf eine politische Integration Europas. Sie machen geltend: Das politische Ziel, auf das der europäische Einigungsprozeß von Anfang an ausgerichtet war, erfordert eine einheitliche Willensbildung in Europa. Diese ist nur in einer föderativen Ordnung herbeizuführen, die über einen Staatenverbund deutlich hinausgeht. Die Voraussetzungen für eine solche Ordnung sind gegeben: Die Jugend Europas ist zusammengewachsen. Die Kommunikationsgemeinschaft ist prägende Realität. Die kulturelle Wurzel des christlichen Abendlandes ist nicht verdorrt. Das Modell der sozialen Marktwirtschaft ist weiter attraktiv. Die bisherige Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft ist ein historischer Erfolg und hat die Wiedervereinigung Deutschlands erleichtert. Zu Zögerlichkeit besteht kein Anlaß. 13. Aus dem Gebot einer demokratischen Legitimation erwachsen bei jedem Schritt hin zu weiteren Kompetenzen der Europäischen Union Begrenzungen. Das Demokratieprinzip schließt ein, daß ein Volk nicht nur durch Zustimmung zu einer Verfassung herrscht, sondern auch durch Wahlen die Repräsentanten bestimmt, die die Regierungsgewalt ausüben. Daß die Europäische Union nicht bundesstaatlich verfaßt ist, schlägt hier unmittelbar durch: Das Europäische Parlament repräsentiert nicht ein europäisches Wahlvolk. Es besteht vielmehr „aus Vertretern der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten" (Art. 137 EG-Vertrag). Seine Mitwirkung an der Gesetzgebung bleibt begrenzt. Der Ministerrat als Entscheidungsorgan ist nicht gemeinschaftsrechtlich, sondern staatsrechtlich legitimiert: D i e Legitima1705
Gutachten vom August 1994
tion bleibt auf den jeweiligen Mitgliedstaat bezogen. Diese gelegentlich mit Demokratiedefizit beschriebene Struktur erklärt sich aus der Eigenart der Europäischen Union, die zwar über das Muster einer völkerrechtlichen Kooperation weit hinausgeht, aber die Intensität eines bundesstaatlichen Verbundes bislang nicht erreicht. Es geht also in der Union nicht darum, einen politischen Willen demokratisch zu legitimieren, der sich inhaltlich unbestimmt in der Arena eines Parlamentes und der darin vertretenen gesellschaftlichen Kräfte formt. Strukturbestimmend ist vielmehr die vorgegebene institutionelle Balance zwischen Gemeinschaftsinteresse einerseits und Interesse der Mitgliedstaaten andererseits (worin auch die spezifische Rolle der Kommission wurzelt), ergänzt um eine ganz andere institutionelle Balance zwischen den großen Mitgliedstaaten und den kleinen Mitgliedstaaten. Aus diesen Strukturmerkmalen ergibt sich, daß Entscheidungsgegenstände, bei denen eine direkte demokratische Legitimation unverzichtbar erscheint — das schließt namentlich die Sanktionsmöglichkeit einer Abwahl als Reaktion auf getroffene Entscheidungen ein —, einer europäischen Zuständigkeit auf absehbare Zeit nicht überantwortet werden können. Dies ist zwingend, soweit im Ministerrat ein Mehrheitsprinzip im Gegensatz zum Prinzip der Einstimmigkeit herrscht: Diejenigen Bürger eines Mitgliedstaates, denen eine Entscheidung des Ministerrates mißfällt, können diesen selbst nicht zur Rechenschaft ziehen. Im Hinblick auf die eigene Regierung läuft solches Bemühen notwendig leer, soweit diese bei der Abstimmung überstimmt worden war. Insoweit muß es bei intergouvernementaler Zusammenarbeit bleiben, trotz aller hier zu beobachtenden Friktionen. Uberwindbar wird diese Begrenzung erst in dem Maße, wie ein „Europäisches Volk" entsteht, welches eine für jedermann verbindliche demokratische Legitimation herstellen kann. 14. Solange es keine bundesstaatliche Verfaßtheit der Europäischen Union gibt, es also bei dem primär staatsrechtlich legitimierten Ministerrat als dem dominierenden Entscheidungsorgan bleibt, ist eine Stärkung der demokratischen Legitima1706
Ordnungspolitische O r i e n t i e r u n g für die Europäische U n i o n
tionskette von den Mitgliedstaaten her vorzunehmen. Auf welche Weise sie diese Legitimation und Kontrolle gewährleisten, steht in ihrem Ermessen. D i e s kann und sollte im Einklang mit den jeweiligen Verfassungstraditionen geschehen. Ein Beispiel ist die Erweiterung der Mitwirkungsrechte von Bundestag und Bundesrat, welche in Deutschland aus Anlaß der Maastrichter Vereinbarungen in Art. 23 Grundgesetz aufgenommen wurden. Zugleich mit der Stärkung der demokratischen Legitimation von den Mitgliedstaaten her ist auf Gemeinschaftsebene die Transparenz der legislativen wie der exekutiven Entscheidungsprozesse zu verbessern. Eine Stärkung der Mitwirkungsrechte und der Kontrollbefugnisse des Europäischen Parlamentes aus dieser Erwägung heraus ist begründet. 15. Eine politische Ordnung, die den vorgegebenen Zielen u n d Grundfreiheiten entspricht, erfordert eine dezentrale Struktur. Dies schließt als konstituierende Elemente das Subsidiaritätsprinzip und das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigungen ein (im einzelnen s. 2.1).
Grundsätze für
Verfassungsänderungen
16. Jede Ä n d e r u n g einer Verfassung ist mit weitreichenden und zumeist dauerhaften Wirkungen verbunden. Eine solche Änderung bedarf daher der Orientierung an fest verankerten Grundsätzen. D a s gilt auch für die europäische Ebene. — D i e Gemeinschaft ist für den Beitritt neuer Mitglieder offen. Gerade neue Mitglieder können Anstöße zu fruchtbaren Reformen geben. D e r Beitritt darf allerdings nicht unverzichtbare Grundlagen der Verfassung in Frage stellen. Ausnahmebestimmungen für neue Mitglieder sind zeitlich zu befristen. — Jede Ä n d e r u n g der Verfassungsinhalte, insbesondere eine Vergemeinschaftung weiterer Aufgaben, basiert auf d e m Abschluß eines internationalen Vertrages. Dies bedingt die Z u s t i m m u n g aller Mitgliedstaaten. Dabei sollte es auf absehbare Zeit bleiben. — Allerdings haben einzelne Mitgliedstaaten wiederholt Ausnahmebestimmungen für sich aushandeln können, so daß de facto ein „ E u r o p a verschiedener Geschwindigkei1707
Gutachten vom August 1994
ten" des Integrationsprozesses bereits in Ansätzen besteht. Dies berührt den Grundsatz der gleichen Geltung des Gemeinschaftsrechts. Auch wird die Funktionsfähigkeit von Gemeinschaftsorganen beeinträchtigt, falls die Mitgliedstaaten im wechselnden Ausmaß an deren Entscheidungen beteiligt sind. Nicht weniger problematisch sind Mitentscheidungsrechte von Mitgliedstaaten in solchen Politikfeldern, in denen sie für sich eine Ausnahme in Anspruch genommen haben. — In der Beantwortung der Frage, ob den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft ein Recht auf Austritt zustehen soll, sind die Mitglieder des Beirats unterschiedlicher Auffassung. Ein solches Recht bietet auf der einen Seite eine Schranke gegen die unerwünschte Ausweitung zentraler Kompetenzen, es bedeutet andererseits aber auch ein Drohpotential zur Durchsetzung besonderer nationaler Interessen. Es kann eine am gemeinschaftlichen Interesse ausgerichtete Politik erheblich erschweren. De facto ist ein Austritt einem Mitgliedstaat schon mangels geeigneter Sanktionen nicht zu verwehren. Ein leichtfertiges Ausscheiden ist dennoch nicht zu erwarten, weil die Austrittskosten beträchtlich sind und mit fortschreitender Integration zwangsläufig weiter zunehmen werden. Maximen für die
Wirtschaftspolitik
17. Eine „offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" verpflichtet die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten, gesamtwirtschaftliche Ziele innerhalb einer marktwirtschaftlichen Ordnung zu verwirklichen. Effizienz und wirtschaftlicher Fortschritt — in den europäischen Verträgen postuliert — ergeben sich aus der Dynamik von Wettbewerbsmärkten. Daraus leiten sich zwingende Folgerungen für die einzelnen Politikbereiche ab. 18. Dynamische Wettbewerbsmärkte erfordern Kontinuität und Verläßlichkeit der Politik, die wettbewerbsorientierte Gestaltung der wirtschaftlichen Rahmenordnung und die Gewährleistung stabilen Geldes. Stabiles Geld ist für Unternehmen wie Konsumenten gleichermaßen bedeutsam. Es sichert die Lenkungsfunktion von Marktpreisen und trägt derart zur Ef1708
Ordnungspolitische O r i e n t i e r u n g für die Europäische U n i o n
fizienz der einzelwirtschaftlichen Produktionsentscheidungen bei. Es garantiert den Realwert von Geldkapitalanlagen und fördert damit die Sparbereitschaft. Geldwertstabilität schafft bei breiten Bevölkerungsschichten Vertrauen in die Zukunft und fördert so die Akzeptanz der marktwirtschaftlichen Ordnung. Der Beirat begrüßt daher, daß die Preisniveaustabilität in der Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) und der Europäischen Zentralbank (EZB) als vorrangiges Ziel europäischer Geldpolitik ausdrücklich genannt wird. 19. Eine „offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" erleichtert eine weiterreichende politische Einigung Europas. Das legitimiert indes keine Instrumentalisierung der Wirtschaft für beliebig definierbare Zwecke. Eine solche Instrumentalisierung führt zu Fehlentwicklungen, die letztlich sogar das Gelingen des Projektes Binnenmarkt in Frage stellen können. Die Gefahr ist noch nicht gebannt: Das im E U Vertrag genannte Ziel einer Behauptung der Identität der Gemeinschaft auf internationaler Ebene (Art. Β des Vertrages) könnte als der Primat politischer Zwecke in der Handelspolitik interpretiert werden. Die Nennung der Industriepolitik neben der Wettbewerbspolitik im Art. 3 EG-Vertrag begründet das Risiko, daß für alte und neue Industrien eine Strukturpolitik betrieben wird, welche diese Industrien den harten Zwängen eines Wettbewerbs auf offenen Märkten entzieht. 20. Freie wirtschaftliche Betätigung und Wettbewerbsmärkte bedürfen einer Ergänzung durch soziale Sicherheit. Sie ist primär durch die Sozialpolitik der Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Gemeinschaftliche Regelungen sind komplementär, legitimiert durch gemeinschaftliche sozialpolitische Ziele wie „ein hohes Maß an sozialem Schutz" oder die Förderung des „wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts" und der „Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten" (Art. 2 EG-Vertrag). Sie erleichtern es Betroffenen, sich Anpassungszwängen zu fügen, die als unzumutbar eingeschätzt werden. Die Finanzierung solcher Aufgaben ist Sache europäischer Fonds, vor allem der Strukturfonds. 1709
Gutachten v o m August 1994
21. Manche Transfers aus kollektiv finanzierten Fonds können als Zahlungen aus einer Versicherung auf Gegenseitigkeit interpretiert werden. Diese Sicht liegt nahe, wenn die Verfassung einer Gesellschaft deren Mitgliedern ausdrücklich oder implizit finanzielle Transfers in Notlagen zusichert. Der einzelne Bürger ist in einer derart verfaßten Gesellschaft gegen solche Eventualitäten versichert, soweit er den Schaden nicht durch Eigenvorsorge oder Kauf einer Versicherung am Markt decken kann. Die bisher geschaffenen Fonds der Europäischen Gemeinschaft sind aber so nicht zu begründen. Sie sind überwiegend als ein politischer Preis zu verstehen, der von der Gemeinschaft an Länder entrichtet wird, die besondere Anpassungslasten geltend gemacht haben. Das Versicherungsprinzip kann als Grund für die Einrichtung von Fonds überhaupt nur zum Tragen kommen, wenn unvorhersehbare Ereignisse Anlaß zu internationaler Solidarität geben. In solchen Notfällen müßten die Mitgliedstaaten an der Finanzierung der Fonds nach Maßgabe ihrer spezifischen Risiken beteiligt sein. De facto sind diese Risiken jedoch kaum bestimmbar. Also werden sich die Beitragsleistungen ersatzweise an Größen orientieren, die als ein Indiz möglicher Schadensumfänge angesehen werden. Nahe liegt es, das jeweilige Bruttosozialprodukt als Bemessungsgrundlage zu wählen und dementsprechend Umlagen zu erheben, sobald Schäden auszugleichen sind. Noch am ehesten dürften Naturkatastrophen mit den für sie typischen Verheerungen Anlaß für die Erklärung eines Versicherungsleistungen auslösenden Notfalles sein. Für die Anwendbarkeit des Versicherungsprinzips muß stets gelten, daß potentielle Schäden unvorhersehbar und nicht selbstverschuldet sind. Insbesondere dürfen sie nicht auf Fehler der nationalen Wirtschaftspolitik zurückgehen. Die Hilfsgarantie wird insoweit selbst zum Problem, als die Anstrengungen zur Verhütung von Schäden im Bewußtsein eines Versicherungsschutzes geringer ausfallen als ohne die zugesagten Regelungen. Folglich sollten eintretende Schäden 1710
Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische U n i o n
von der Europäischen Gefahrengemeinschaft grundsätzlich nicht voll abgedeckt werden. 22. Die ganz andere Forderung, das Wohlfahrtsgefälle zwischen den europäischen Regionen durch Umverteilungsmaßnahmen der Tendenz nach einzuebnen, verlangt ein Ausmaß an solidarischem Zusammenhalt, wie es allenfalls auf der Ebene eines Mitgliedstaates zu finden ist, aber auf der Ebene der Europäischen U n i o n noch fehlt. Jede übernationale Umverteilung erfordert eine spezifische Begründung. Zu bedenken ist dabei, daß der Binnenmarkt selbst auf eine Angleichung der Produktivitäts- und der Einkommensniveaus hinwirkt, unmittelbar durch Faktorwanderungen einschließlich des Wissenstransfers, mittelbar durch den Austausch von Waren und Dienstleistungen. Anpassungen dieser Art vollziehen sich jedoch nur allmählich. Es wird also vorerst bei großen Unterschieden im Entwicklungsstand bleiben. Sie nachhaltig zu verringern setzt voraus, daß die schwächeren Länder ihre wirtschaftliche Leistungskraft entwickeln. Die auf Gemeinschaftsebene vorgesehenen Maßnahmen zur Förderung des „wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts" können und dürfen so nur eine „Hilfe zur Selbsthilfe" sein. Die Risiken einer Ausnutzung von Ansprüchen auf Transfers oder opportunistischer Verhandlungsstrategien bei der Festlegung von Transfers sind aber niemals ganz auszuräumen. Zudem fördern Transferleistungen tendenziell die Neigung, es mit den eigenen Anstrengungen nicht mehr genau zu nehmen. Es bedarf daher konsequenter Beschränkung bei der Gewährung von Transfers und strenger Wirksamkeitskontrollen. U m Transfers in engen Grenzen zu halten, empfiehlt es sich, bei der Dotierung der Fonds grundsätzlich am Prinzip der Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten festzuhalten. Das sollte generell so sein bei der Regionalhilfe, bei der Entwicklungshilfe oder im Falle besonderer Zwecke der Kohäsionsförderung. Mehrheitsentscheidungen fördern die Bildung von Koalitionen, die — wenn auch versteckt — allein auf einen größeren U m f a n g der Umverteilung abzielen.
1711
Gutachten vom August 1994
2.
Zuständigkeiten und Kontrolle 23. Die in Abschnitt 1.3 benannten verfassungspolitischen Prinzipien geben die Orientierung für eine konkrete Ausgestaltung der Europäischen Union.
2.1
Regelung der Zuständigkeiten Prinzip der Einzelermächtigung 24. Der Vertrag über die Europäische Union (Art. F. Abs. 3) ermächtigt die Union, sich mit den Mitteln auszustatten, die zum Erreichen ihrer Ziele und zur Durchführung ihrer Politiken erforderlich sind. Daraus kann keine einem Staat entsprechende Allzuständigkeit abgeleitet werden. In dem durch Maastricht neugefaßten Art. 3 b EG-Vertrag wird im Gegenteil das Prinzip der Einzelermächtigung bestätigt. Eine begrenzende Wirkung ist mit dem Prinzip der Einzelermächtigung dann klar verbunden, wenn die Gemeinschaftsorgane in der Ausübung ihrer Kompetenzen an eine strikte, normative Fassung dieser Zuständigkeiten gebunden sind. Der Vertrag von Maastricht verpflichtet die Gemeinschaftsorgane, bei der Ausübung aller Kompetenzen die folgenden Ziele gleichzeitig zu berücksichtigen: die Ziele der Umweltpolitik (Art. 130 r Abs. 2 Satz 3 EG-Vertrag), der Industriepolitik (Art. 130 Abs. 3 Satz 1 EG-Vertrag), der Politik des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts (Art. 130 b Satz 1 EG-Vertrag) sowie der Kulturpolitik (Art. 128 Abs. 4 EGVertrag). Eine solche Koppelung von Gemeinschaftszielen ist mit dem Prinzip der Einzelermächtigung unvereinbar, wenn sie zur Austauschbarkeit der den einzelnen Zielen zugeordneten gemeinschaftsrechtlichen Instrumente führt. So könnte die Errichtung des Gemeinsamen Marktes dadurch ausgehöhlt werden, daß die Freiheitsrechte dem Ziel der harmonischen Entwicklung der Gemeinschaft untergeordnet werden. Dem ist durch eine sachgerechte Auslegung der einzelnen Vertragsbestimmungen entgegenzuwirken. Das System der Einzelermächtigung erfordert, die Zuständigkeit der Gemeinschaft von der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten abzugrenzen. Im geltenden Gemeinschaftsrecht wird darüber anhand einer funktionalen, am Ziel des Bin-
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Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische U n i o n
nenmarktes ausgerichteten Interpretation der in Betracht kommenden Vorschriften entschieden. Das wird besonders deutlich, wenn die Freiheitsgewährleistungen auf Lebensbereiche angewendet werden, die in den Mitgliedstaaten nicht der Wirtschaft zugeordnet sind. Ein Beispiel ist die Ordnung des Rundfunkwesens in der Bundesrepublik. Hier ist zwischen der Ordnung des Rundfunks aus nichtwirtschaftlichen Gründen und den Tätigkeiten zu unterscheiden, die in der Teilnahme am Wirtschaftsverkehr bestehen. Gemeinschaftsrechtlich geregelt werden nur die wirtschaftlich erheblichen Aspekte. U m solche problematischen Überschneidungen und damit schwierige Abgrenzungen von Zuständigkeiten zu vermeiden, wird in der politischen Diskussion gefordert, den Mitgliedstaaten für bestimmte Bereiche die ausschließliche Zuständigkeit vorzubehalten. Doch dann wäre immer noch über die Reichweite dieser ausschließlichen Zuständigkeit anhand gemeinschaftsrechtlicher Kriterien zu entscheiden. Dabei ist zu bedenken, daß über die Zuständigkeit der Gemeinschaft oder die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Verhältnis zur Gemeinschaft nicht anhand der gegebenen rechtlichen Einordnungen in den Mitgliedstaaten entschieden werden kann. Denn diese sind in den zwölf Staaten sehr unterschiedlich geregelt. Schon deshalb müssen die Zuständigkeiten anhand autonomer und funktionaler Kriterien des Gemeinschaftsrechts geregelt sein. Die theoretische Starrheit des Prinzips der limitierten Einzelermächtigung ist durch die Annexkompetenz der Gemeinschaft nach Art. 235 EG-Vertrag gelockert. Danach kann der Rat nach bloßer Anhörung des Europäischen Parlaments, allerdings nur auf Vorschlag der Kommission und nur einstimmig, die geeigneten Vorschriften erlassen, falls ein Tätigwerden der Gemeinschaft erforderlich ist, u m im Rahmen des Gemeinsamen Marktes eines ihrer Ziele zu verwirklichen, und die Befugnisse hierfür im Vertrag nicht vorgesehen sind. Die Vorschrift ist auf bloße Kompetenzergänzung und auf unvorhergesehene Fälle ausgerichtet. Sie bietet keine Handhabe für eine beliebige Kompetenzbegründung auf europäischer Ebene. Die mit ihr gewährleistete Flexibilität, verglichen mit der Alternative eines förmlichen Vertragsände1713
Gutachten vom August 1994
rungsverfahrens in all seiner Schwerfälligkeit, ist positiv zu sehen. Auf der anderen Seite besteht das Risiko, daß die Norm entgegen ihrem eigentlichen Zweck übermäßig ausgedehnt wird. Die in ihr enthaltenen Kautelen können sich aus der Sicht der Bürger, auch aus der Sicht von Gebietskörperschaften nach Art der deutschen Bundesländer als nicht voll ausreichend erweisen. Die bisherigen Erfahrungen mit dieser Ermächtigungsgrundlage geben alles in allem jedoch keinen Anlaß zu einer Dramatisierung des Problems. Eine ersatzlose Streichung der Vorschrift, wie verschiedentlich angemahnt, empfiehlt sich deshalb nicht. Jedenfalls erscheint eine solche Konsequenz übereilt. Doch bedarf diese „weiche Stelle" im Kompetenzgefüge der Gemeinschaft der sorgfältigen Beobachtung und der kritischen Diskussion in der politischen Öffentlichkeit der Mitgliedstaaten. Das Subsidiaritätsprinzip
als Zuordnungsregel
25. Eine allgemeine Orientierung für die Zuordnung von Kompetenzen innerhalb eines verfaßten Europas bietet das Subsidiaritätsprinzip. Ihm gemäß soll die untere Ebene Entscheidungen in eigener Sache selbst treffen: Die Präferenzen der Bürger kommen so am besten zur Geltung; diese sind als unmittelbar Betroffene am stärksten engagiert; die unteren Entscheidungsebenen verfügen über die besten Informationsmöglichkeiten. Nur dann, wenn bestimmte Aufgaben auf der unteren Ebene nicht ebensogut wie auf der übergeordneten Ebene wahrgenommen werden können, ist es gerechtfertigt und geboten, dieser die Zuständigkeit hierfür zu übertragen. Die übergeordnete Ebene muß also die anvisierten Ziele besser realisieren können oder es müssen geringere Kosten in Form von Einbußen bei anderen Zielen entstehen. 26. Das Subsidiaritätsprinzip schließt eine weitgehende Dezentralisierung der Zuständigkeiten ein. Das Prinzip ist grundsätzlich auf eine durchgehende Zuständigkeitsordnung anwendbar, von der zentralen europäischen Ebene bis hin zu Regionen und kleineren Körperschaften innerhalb der Mitgliedstaaten. Da seine innerstaatliche Anwendung aber weiterhin der Souveränität der einzelnen Mitgliedstaaten unterliegt, bleibt es für das EG-Recht auf das Verhältnis zwischen 1714
Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische U n i o n
der Gemeinschaft auf der einen Seite und den Mitgliedstaaten sowie deren Bürgern auf der anderen Seite beschränkt. Subsidiarität: die Version des EG-Vertrages 27. Das in Art. 3 b Abs. 2 EG-Vertrag enthaltene Subsidiaritätsprinzip bezieht sich nicht auf die Zuweisung von Kompetenzen als solche, sondern allein auf deren Wahrnehmung bei grundsätzlich gegebener Zuständigkeit. Außerdem beschränkt sich die Bewertung auf die Ziele einer in Betracht gezogenen Maßnahme (siehe 2.2). Aus diesem Subsidiaritätsprinzip im „engeren" oder — wie es in den Edinburgher Beschlüssen heißt — in einem „streng rechtlichen" Sinne ergibt sich eine Chance, Zentralisierungstendenzen in der Europäischen Gemeinschaft entgegenzutreten. Damit das Prinzip wirksam werden kann, ist darauf zu achten, daß es als ein spezielles Prinzip der Ausübung bestehender Kompetenzen nicht durch teilweise gegenläufige Prinzipien von allgemeinerer Art wie dem der Solidarität oder dem der Kohärenz ausgehöhlt wird. Verfehlt wäre es allerdings auch, würde man es zum Anlaß nehmen, vorhandene ausschließliche Zuständigkeiten der Gemeinschaft restringierend auszulegen und damit ein in den europäischen Rechtsgrundlagen enthaltenes Deregulierungspotential abzubauen. Als Rechtsnorm wird das Subsidiaritätsprinzip nur begrenzte Wirkungskraft entfalten können. Anwendungsschwierigkeiten verbinden sich schon damit, daß Art. 3 Abs. 2 E G Vertrag auf das Verhältnis der Gemeinschaft zu den Mitgliedstaaten insgesamt abstellt. Wichtiger noch ist die Einbettung des Prinzips in den Prozeß politischer Entscheidungsfindung mit all ihren Eigengesetzlichkeiten, insbesondere der Tendenz, Entscheidungen vielfach nur im Wege von Paketlösungen, also durch das Zusammenbinden völlig disparater Gegenstände, erreichen zu können. Von einer Rechtskontrolle durch den Europäischen Gerichtshof ist in diesem Zusammenhang wenig zu erwarten. In politiknahen Entscheidungsfeldern läßt er den Gemeinschaftsorganen erfahrungsgemäß einen weiten Beurteilungsspielraum. Dies ist nicht anders als in der Judikatur des deutschen Bundesverfassungsgerichts zu Art. 72 Abs. 2 Grundgesetz (Wahrnehmung einer 1715
Gutachten vom August 1994
konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit Bund).
durch den
28. Angesichts dieses Befundes ist es nur folgerichtig, wenn man auf Gemeinschaftsebene dem Subsidiaritätsprinzip mit Hilfe von Verfahrenslösungen Geltung verschaffen will. Am 25. Oktober 1993 haben Kommission, Ministerrat und Europäisches Parlament vereinbart, daß die Union jede zusätzliche Wahrnehmung von Kompetenzen ausdrücklich zu begründen hat. Das könnte bremsend wirken. Auch können sich die EG-Organe auf das Subsidiaritätsprinzip als Abwehrinstrument berufen, wenn sie von einzelnen Mitgliedstaaten oder aus dem Europäischen Parlament heraus zum Tätigwerden gedrängt werden sollten. Die meisten Initiativen werden in der Tat von außen an die Kommission herangetragen. Angesichts der Tragweite des Subsidiaritätsprinzips scheint dem Beirat eine zusätzliche Absicherung wünschenswert. Es sollte erwogen werden, eine eigene unabhängige Prüfungsinstanz zu schaffen, eine Art „Vertreter des öffentlichen Interesses", hier bezogen auf die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips in Zuständigkeitsfragen der Europäischen Union. Erreichen ließe sich derart eine Objektivierung in der Kontrolle. Eine solche Institution dürfte schon im Vorfeld politischer Entscheidungen eine nachhaltig verhaltenssteuernde Wirkung entfalten. 29. Mit dem Subsidiaritätsprinzip kompatibel sind allein Maßnahmen, die an Umfang und Intensität nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des jeweiligen Zieles erforderlich ist. Das gilt für alle Ebenen der Gemeinschaft. Der EGVertrag entspricht diesem Grundsatz im Ubermaßverbot des Art. 3 b Abs. 3, wenngleich das Verbot auf die Vertragsziele schlechthin bezogen wird. Bei einzelnen Maßnahmen sind Wirkungen auf andere Ziele als die direkt anvisierten zu berücksichtigen. Zudem ist zu beachten, daß alternative Maßnahmen im jeweiligen Vergleich miteinander ihrer Intensität und Wirkungsrichtung entsprechend nicht gleichrangig sein müssen. Die Rangordnung legt nahe: Umzusetzende Rahmenregelungen (im EG-Vertrag: Richtlinien) vor abschließenden Direktregelungen (Verordnungen), Regelbindungen 1716
Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische U n i o n
vor diskretionärem Ermessen, Anreizmaßnahmen vor Geund Verboten. Das Prinzip, bei allem das notwendige Maß nicht zu überschreiten, erfordert nicht immer wieder erneut andere Maßnahmen. Im Gegenteil: Oft genug ist es vorzugswürdig, nicht zu handeln oder frühere (interventionistische) Maßnahmen zurückzunehmen. 30. Der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips kann die Niederlassungsfreiheit in Europa, also die freie Standortwahl von Personen und Unternehmen, Grenzen setzen. Neben anderem wirken sich das Angebot an lokalen öffentlichen Gütern einerseits und die Steuer- sowie Regulierungslasten andererseits auf die Standortwahl aus. Hier bestehende größere Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten können zu einer Abstimmung „mit den Füßen" und mit dem Vermögensportfolio führen und so einen Wettbewerb zwischen den Staaten um Unternehmen und Bürger induzieren. Insoweit als ein solcher „Wettbewerb der Systeme" zu mehr oder weniger ausgeprägten Angleichungen — aber auch zu neuen Differenzierungen — führt, ohne daß es des Eingriffes übergeordneter Instanzen bedarf, befindet sich das im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip. Der Wettbewerb der Systeme trägt jedenfalls dazu bei, nationale Uberregulierungen, eine überteuerte Bereitstellung öffentlicher Leistungen sowie eine übermäßige Ausdehnung des öffentlichen Sektors und seiner Finanzierung einzudämmen. Ein völlig unregulierter Systemwettbewerb kann jedoch auch die Erfüllung als wesentlich eingeschätzter Ziele beeinträchtigen. Strebt etwa ein Land eine massive Umverteilung durch progressive Steuern und durch Transfers zugunsten der Armeren an, so werden Wohlhabende dem durch Abwanderung ausweichen. Es wird zu Produktionsverlagerungen ins Ausland und zu Strukturänderungen kommen. Einerseits ist zu erwarten, daß weniger arbeitsintensive Produktionsrichtungen mit hoher Arbeitsproduktivität an Boden gewinnen. Andererseits können Tendenzen zur Absenkung der Schutzstandards entstehen. Es ist denkbar, wenngleich nicht zu erwarten, daß der zwischenstaatliche Wettbewerb von den Gemeinschaftsstaaten so rigoros betrieben wird, daß im Extremfall die Steuern sich 1717
Gutachten v o m August 1994
zu bloßen Aquivalenzabgaben hin entwickeln und alle Regulierungen entfallen. Auf der Ebene der Diskussion über Ordnungsprinzipien läßt sich die Befürwortung eines Wettbewerbs der Systeme — sei es bei den Regulierungen, sei es bei der Besteuerung, sei es in der Sozialpolitik — nur als pragmatische Position formulieren. Ordnungstheoretisch muß man einräumen: Wenn der Staat tätig wird, weil Wettbewerb allein die bessere Lösung nicht hervorbringen kann, so läßt sich auch nicht die Vermutung begründen, die bessere Lösung werde dann im Wettbewerb der Staaten gefunden. Aus einer grundsätzlichen Sicht, wie sie mit dem Namen Selektionsthese bezeichnet werden kann, erscheint es verfehlt, die positive Beurteilung des Wettbewerbs zwischen Firmen auf den Wettbewerb zwischen Staaten zu übertragen, weil Staaten gerade jene Aufgaben übernommen haben, vor denen der private Markt versagt. Eine Wiedereinführung des Marktes durch die Hintertür des staatlichen Wettbewerbs könnte die Probleme, die den Staat begründet haben, auf höherer Ebene von neuem entstehen lassen. Wo wegen Wettbewerbsversagen staatlich gesetzte Spielregeln nötig sind, muß man sich immer auch mit der These auseinandersetzen, es gehöre zum Wesen einer Spielregel, daß sie für alle gleichermaßen gelte. Es ist freilich zu bedenken, daß das Finden der bestmöglichen Rahmenbedingungen selbst einen Suchprozeß voraussetzt, und bei ihm gibt es gute Gründe, auf den Wettbewerb als Entdeckungsverfahren mehr zu vertrauen als auf bürokratische Verfahren. Daraus folgt, daß man dem Wettbewerb der Systeme Raum für seine Entfaltung geben sollte, wo immer die Gegenargumente nicht wirklich durchschlagend sind. Einige Mitglieder des Beirats beurteilen diesen Wettbewerb freilich skeptischer. Sie geben der Selektionsthese ein größeres Gewicht: — Sie sehen die staatliche Umverteilung als Versicherungsschutz und mißtrauen der Konkurrenz der Staaten, weil sie in Form fiskalisch induzierter Wanderungsprozesse das Problem der Negativauslese „schlechter Risiken" wie1718
Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische U n i o n
deraufscheinen sehen, welche hinlängliche private Versicherungslösungen verhindert und den Staat ursprünglich auf den Plan gerufen hat. — Sie befürchten, daß der Steuerwettbewerb um mobile Produktionsfaktoren ruinös entartet, weil sich die Staaten Europas auf das Angebot jener Güter konzentriert haben, bei denen wegen spezifischer Größenvorteile in der Produktion auch der private Wettbewerb ruinös entartet. — Sie sehen die staatliche Qualitätskontrolle, wie sie aus Gründen des Verbraucherschutzes bei bestimmten Warengruppen vorgenommen wird, als Antwort auf eine gravierende Informationsasymmetrie zwischen Verbrauchern und Produzenten, und sie erwarten, daß eben diese Informationsasymmetrie einen überzogenen Deregulierungswettbewerb zwischen den Staaten Europas einleiten wird — einen Wettbewerb, der genauso wie ein unregulierter privater Wettbewerb zu einem unerwünschten Absinken der Produktqualitäten führen kann. U b e r die langfristige Bedeutung der Selektionsthese sind die Meinungen im Beirat geteilt. Alle Beiratsmitglieder stimmen jedoch überein, daß die mit der Selektionsthese beschriebenen Gefahren heute in Europa noch nicht unmittelbar drohen. Der Sozialstaat ist in vielen Ländern überdimensioniert. Viele Aufgabenbereiche des Staates gehören eigentlich in private Hand. Staatliche Regulierungen sind häufig überzogen und dienen eher protektionistischen Zielen als dem Konsumentenschutz. Angesichts dieses Sachverhaltes kann es nur begrüßt werden, wenn der Systemwettbewerb die weitere Entfaltung staatlicher Tätigkeiten zunächst einmal bremst. Die Zeit wird zeigen, ob, wann und in welchen Bereichen der Systemwettbewerb eingeschränkt werden muß und ob diese Einschränkung eines Tages einen staatlichen Ausbau der EG-Ebene nach sich ziehen wird.
Marktöffnung und
Regulierungskompetenz
31. Die Gemeinschaft ist nach Art. 100a EG-Vertrag zuständig, die Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zu treffen, welche die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes zum 1719
Gutachten vom August 1994
Gegenstand haben. Die Zuständigkeit der Gemeinschaft ist unbestritten, soweit das Gemeinschaftsrecht oder die Politik der Gemeinschaft darauf gerichtet sind, Hindernisse für den Zugang zu den Märkten der Mitgliedstaaten abzubauen. Gleichwohl haben sich aus dieser Zuständigkeit nachhaltige Konflikte zwischen zentraler Regulierung und dem Ziel offener Märkte bei unverfälschtem Wettbewerb ergeben. Sie erklären sich aus der Tendenz der Gemeinschaftsorgane, Regulierungen, die den Mitgliedstaaten untersagt sind, auf Gemeinschaftsebene im Wege der Harmonisierung einzuführen. Zur Begründung wird in der Regel geltend gemacht, unverfälschter Wettbewerb sei nur bei einheitlichen Wettbewerbsbedingungen möglich. Gemeinschaftsrechtlich ist diese Auffassung jedoch überholt. Der Europäische Gerichtshof hat die unmittelbar geltenden Freiheitsgewährleistungen des Vertrages so ausgelegt, daß das Prinzip offener Märkte weitgehend auch unabhängig von einer voraufgegangenen Harmonisierung Geltung beanspruchen kann. Die Entwicklung läßt sich kennzeichnen als das Fortschreiten vom Diskriminierungsverbot zum Beschränkungsverbot und vom Bestimmungslandprinzip zum Herkunftsland- bzw. Anerkennungslandprinzip („Ursprungslandprinzip"). Die Öffnung der Märkte steht jedoch unter bestimmten Vorbehalten. Für die Freiheit des Warenverkehrs sind dies der Schutz der Rechtsgüter des Art. 36 EG-Vertrag sowie andere „zwingende Erfordernisse". Bei Dienstleistungen werden Ausnahmen zugunsten des „Allgemeininteresses der Mitgliedstaaten" anerkannt. Daraus ergeben sich folgende Varianten für die Rechtsangleichung: — Koexistenz verschiedener staatlicher Regulierungen bei echtem Ursprungslandprinzip, — gemeinschaftsrechtliche Anerkennung gleichwertiger Regulierungen im Verhältnis der Mitgliedstaaten zueinander, — Rechtsangleichung nach Art. 100a Abs. 1 EG-Vertrag. Die Koexistenz mitgliedstaatlicher Regulierungen bei offenen Märkten bedeutet, daß Waren und Dienste nach den Zulassungsbedingungen des Ursprungslandes angeboten wer1720
Ordnungspolitische Orientierung f ü r die Europäische U n i o n
den und daß auch für die Zulassung zur Berufstätigkeit das Ursprungslandprinzip gilt. Dieses steht im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip, das den Mitgliedstaaten die primäre Zuständigkeit in eigener Sache beläßt. Es erleichtert überdies den Beitritt neuer Mitglieder, indem es die formalen Anforderungen an die Angleichung des nationalen Rechts vergleichsweise niedrig hält. Der entscheidende ökonomische Vorzug des Ursprungslandprinzips, ggfs. in Verbindung mit Mindestnormen, ist darin zu sehen, daß es regulativen Beschränkungen des innergemeinschaftlichen Wirtschaftsverkehrs entgegenwirkt und den Wettbewerb fördert. Der sich verschärfende Wettbewerb auf den Märkten stellt die nationalen Regulierungssysteme auf den Prüfstand ihrer Wettbewerbstauglichkeit. Die Fähigkeit der nationalen Anbieter, im EG-weiten Wettbewerb gut zu bestehen, hängt außer von der eigenen Tüchtigkeit mehr oder weniger stark von den berufsrechtlichen, branchenrechtlichen, arbeitsund tarifrechtlichen, den sonstigen wirtschaftsrechtlichen und nicht zuletzt auch von den steuerrechtlichen Regelungen im Heimatland ab. Eine einfache Zurechnung von offenkundigen Wettbewerbsschwächen auf die verschiedenen Einflußfaktoren wird oft nicht möglich sein. Den nationalen Regierungen ist die schwierige Aufgabe gestellt, selbst zu prüfen und dann zu entscheiden, wo und wie nationales Recht geändert werden muß. Angesichts des vom Markt ausgehenden politischen Anpassungsdrucks sollte man zwar erwarten dürfen, daß viele überzogene oder gar überflüssige nationale Regulierungen korrigiert werden. Wie schnell die Anpassung der nationalen Systeme in Richtung Wettbewerbstauglichkeit vorankommen wird, läßt sich jedoch nicht allgemein prognostizieren. Mitgliedstaaten, die hierbei zurückstehen und für die eigenen Staatsangehörigen und die Gebietsansässigen restriktivere Vorschriften gelten lassen als für deren Wettbewerber im Ausland, praktizieren eine sogenannte Inländer-Diskriminierung. Dies erklärt verbreitete Forderungen von Mitgliedstaaten und Unternehmen nach gemeinschaftsweiter Harmonisierung. Würde dem gefolgt, würden wichtige Elemente des 1721
vom August 1994
Wettbewerbs in der Gemeinschaft geschwächt werden. Die richtigen Adressaten für allfällige Änderungen der nationalen Regelungssysteme sind vielmehr die nationalen Regierungen. Kontrollmechanismen und kontrollierende Instanzen Kontrollaufgaben 32. Bei gegebener Zuweisung der Zuständigkeiten bleibt zu klären, wie deren Ausübung kontrolliert werden kann. Wesentliche Teile der Wettbewerbspolitik, der Vollendung und Erhaltung des Binnenmarktes, der gemeinsamen Handelspolitik, der Agrarmarktordnung, der Verkehrspolitik und von Euratom fallen in die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft. Kontrolliert werden muß hier die Einhaltung der Kompetenzgrenzen und des Ubermaßverbots bei Eingriffen. Bei konkurrierenden Zuständigkeiten von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten stellt sich das Problem, auf welcher Ebene in Betracht gezogene Maßnahmen besser anzusiedeln sind. Hier ist zusätzlich ständig auf die Wahrung des Subsidiaritätsprinzips zu achten. Ubermaßverbot und Subsidiaritätsprinzip kommen insoweit komplementär zur Anwendung. Transparenz 33. Gleich welche Gesichtspunkte bei der Kontrolle der Gemeinschaftstätigkeiten angewandt werden, eine wichtige Voraussetzung dafür, daß Kontrollmechanismen greifen, ist stets die Transparenz der Entscheidungsprozesse hinsichtlich des Vorgehens wie hinsichtlich der Inhalte der gefällten Entscheidungen. An dieser Transparenz hat es bisher vielfach gemangelt. So führen schon die komplizierte Vermengung von exekutiven und legislativen Funktionen und die für die Öffentlichkeit wenig durchsichtigen Rollen von Kommission, Ministerrat und Parlament in der Gesetzgebung zu mangelnder Unterrichtung der Bürger. Eine besondere Rolle bei der Herstellung von Transparenz spielt die öffentliche Meinung und damit die Vermittlung europäischer Politik und ihrer Probleme durch die Medien. Hierbei mögen zusätzliche institutionelle Vorkehrungen
Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische Union
hilfreich sein, doch dürften die Einsichtigkeit und die Eindeutigkeit von Entscheidungen und die Vermittelbarkeit der Entscheidungsinhalte an die Bürger den Ausschlag geben. Kontrollinstanzen 34. Wesentliche Kontrollaufgaben fallen selbst wieder in die Zuständigkeit europäischer Instanzen. Die bestimmungsgemäße und wirtschaftliche Verwendung der Gemeinschaftsmittel unterliegt der Uberprüfung durch den Europäischen Rechnungshof. Bei der Kontrolle über den Haushalt der Gemeinschaft kommen vornehmlich die Rechte des Europäischen Parlaments zum Zuge. Die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips mag, wie oben vorgeschlagen, von einer besonderen Instanz überwacht werden. Allerdings verbindet sich mit der Zuordnung von Kontrollfunktionen auch ein Eigeninteresse der jeweiligen Instanzen. So hat das Europäische Parlament ein Interesse an einer weitergehenden Zentralisierung der Zuständigkeiten auf europäischer Ebene. Eine Prüfinstanz par excellence wie der Europäische Gerichtshof prüft nicht nur die Tätigkeiten der europäischen Akteure auf ihre Rechtmäßigkeit, sondern spielt selbst eine aktive Rolle bei der Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts. Dabei hat er zwar die gegenseitige Anerkennung nationaler Regelungen gefördert, tendierte aber auch zu einer starken „Europäisierung" bei der Rechtsangleichung. Wo die besondere Interessenlage einer kontrollierenden Instanz zur Vernachlässigung wichtiger Prinzipien führen kann, ist daran zu denken, daß Prüfverfahren eingerichtet oder auch interinstitutionell vereinbart werden, bei denen mehrere Instanzen zusammenwirken, wie das bei der Subsidiaritätsprüfung verwirklicht wurde. Auch bildet eine Instanz oft ein Gegengewicht gegen das Tätigwerden einer anderen. So stellen die nationalen Parlamente ein Gegengewicht gegen zentralistische Tendenzen auf europäischer Ebene dar, soweit die nationale Gesetzgebung eine Rückbindung der Regierung in europapolitischen Fragen an diese Parlamente vorsieht (im Falle der Bundesrepublik Art. 23 des Grundgesetzes). Das Verhältnis zwischen Ministerrat und 1723
Gutachten vom August 1994
Kommission kann unter anderem als ein Kontrollverhältnis angesehen werden. Beispielsweise ermöglichen das Initiativrecht der Kommission und die Regelung, nach der gewisse Vorschläge der Kommission vom Ministerrat nur einstimmig abgeändert werden dürfen, daß Tendenzen im Ministerrat zu diskretionären Einzelfallentscheidungen abgeschwächt werden. Letztlich geht es also auf europäischer Ebene um Demokratie und Dezentralität, auch um einen weitergehenden Machtausgleich durch „checks and balances". 3.
Ordnungspolitische Vorgaben
3.1
Wirtschaftsordnung und Marktverfassung 35. Ein System offener und wettbewerbsorientierter Märkte als Wirtschaftsverfassung der Gemeinschaft ist ein Eckpfeiler der europäischen Integration. Der dadurch gesicherte Wettbewerb im Inneren der Gemeinschaft ist zugleich Garant für die internationale Wettbewerbsfähigkeit ihrer Wirtschaft. Die in den wirtschaftlichen Grundfreiheiten dokumentierte verfassungsmäßige Absicherung der Wirtschaftsordnung auf der Ebene der Gemeinschaft ist ein Fortschritt gegenüber offeneren Konzeptionen in den Mitgliedstaaten, auch in Deutschland. Die Maxime kann so nur sein, das Erreichte zu festigen und zu ergänzen, nicht es zu relativieren oder gar in seinem Kern zu ändern. Anzustreben sind Vereinbarkeit des Gewollten mit den herausgearbeiteten ordnungs- und verfassungspolitischen Grundsätzen, die innere Stringenz jeder einzelnen Ordnung und die Kompatibilität aller Ordnungen der Gemeinschaft miteinander. 36. Industriepolitische Kompetenzen wurden der Gemeinschaft trotz immer wieder erneuerter Initiativen der Kommission verwehrt, bis die Einheitliche Europäische Akte (1986) der Gemeinschaft Zuständigkeiten in der Forschungs- und Technologiepolitik sowie im Umweltschutz zugestand. Die Frage nach der Vereinbarkeit mit der gegebenen Verfassungsstruktur wurde dabei nicht aufgeworfen. Der Vertrag von Maastricht geht noch einen Schritt weiter, indem er in Art. 130 EG-Vertrag Gemeinschaft und Mitgliedstaaten beauftragt und in diesem Ausmaß legitimiert, industriepolitisch tätig
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O r d n u n g s p o l i t i s c h e O r i e n t i e r u n g für die Europäische U n i o n
zu werden, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen zu fördern, wo sie gefährdet erscheint. Daraus ergibt sich die tiefreichende Besorgnis, die Europäische Gemeinschaft werde mehr noch als bislang schon hinter die historische Entscheidung der Römischen Verträge für eine auf freie Märkte und unverfälschten Wettbewerb zielende Wirtschaftsverfassung zurückfallen. Es ist die Besorgnis, die immerwährenden Versuche, die Römischen Verträge im Vollzug ins Interventionistische zu wenden, hätten nun doch Erfolg. Ihr läßt sich nur begegnen, wenn es gelingt, die Anwendung der neuen Regelung von Anfang an und konsequent in Ubereinstimmung mit der allein wünschenswerten Auslegung des Art. 130 EG-Vertrag im Kontext mit den fortbestehenden Elementen der Wirtschaftsverfassung von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten zu halten. Von Anfang an und konsequent, darauf käme alles an. Auch ein Land wie Deutschland, das bisher einer industriepolitischen Kompetenz der Gemeinschaft widerstrebt hat, ist immer in der Versuchung, im konkreten Einzelfall die Zustimmung zu einem Abweichen vom Pfad des ordnungspolitisch Gebotenen politisch vorteilhaft zu finden. Das darf nicht sein, schon der präjudiziellen Wirkung wegen nicht. Eine ordnungspolitisch vernünftige Auslegung der neuen Regelungen ist keineswegs unbestritten, geschweige denn gefestigt. Auch die künftige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs wird nicht ignorieren, was die vertragschließenden Mitgliedstaaten in den ersten Jahren nach Maastricht als das von ihnen Gemeinte gemeinsam praktizieren.
Artikel 130 EG-Vertrag: Die vernünftige
Auslegung
37. Zusammen ins Bild gehören — die vier Grundfreiheiten und — die wettbewerbspolitischen Vorkehrungen des EG-Vertrages, — namentlich das Beihilfeverbot und — die Einfügung auch der öffentlichen Unternehmen in ein System unverfälschten Wettbewerbs (Art. 90 EG-Vertrag), 1725
Gutachten vom August 1994
— der neue Auftrag an die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaft, industriepolitisch tätig zu werden, geleitet von dem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie zu stärken, — die Verpflichtung der Gemeinschaft, den ihr vorgegebenen Zielen gleichzeitig zu entsprechen, — das Bekenntnis der Gemeinschaft (an mehreren Stellen des Maastrichter Vertrages, auch im Art. 130 EG-Vertrag selbst) zu einem „System offener und wettbewerbsorientierter Märkte". Das Bekenntnis zu einem System offener und wettbewerbsrientierter Märkte ist für die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten als Schranke bei der Wahrnehmung industriepolitischer Aufgaben anzusehen. Das gleiche gilt für das Beihilfeverbot gemäß Art. 92 EG-Vertrag. Denn selbst Art. 130 EG-Vertrag schafft, wie es in Abs. 3 ausdrücklich heißt, keine Legitimation für Maßnahmen, die zu Wettbewerbsverzerrungen führen könnten. Was den Test der Wettbewerbsaufsicht — ihr allein dient auch die Beihilfeaufsicht nach Art. 92 ff. EG-Vertrag — nicht besteht, ist also industriepolitisch ebenfalls nicht zulässig. Zweifel an der wettbewerbsaufsichtlichen Funktion der Beihilfeaufsicht — und einer entsprechenden Verpflichtung der Kommission — sind schon deshalb nicht erlaubt, weil sich mit ihr Klagerechte sowohl aller Mitgliedstaaten als auch der von Wettbewerbsverzerrungen betroffenen Unternehmen verbinden. Die Industriepolitik bleibt daher verwiesen auf generelle wirtschaftsfördernde Maßnahmen, und zwar so generelle auch in der Wirkung, daß sich aus ihnen keine punktuelle Begünstigung einzelner Sektoren oder Regionen ergeben darf. Dabei ist zudem auf die Gleichstellung der öffentlichen Wirtschaft mit der privaten Wirtschaft zu verweisen. Daß die Beihilfeaufsicht über die indirekten und verdeckten Formen der Subventionierung durch die Mitgliedstaaten, einschließlich der punktuellen Begünstigung durch Infrastrukturmaßnahmen, noch im argen liegt, hat praktische und politische Gründe. Ordnungspolitisch und verfassungspolitisch ist sie aber uneingeschränkt zu fordern, und es sollte zu den 1726
Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische U n i o n
Aufgaben der Verfassungskonferenz 1996 gehören, der Gemeinschaft einen Regelungsrahmen zur Pflicht zu machen, der die Praxis mehr in Ubereinstimmung mit dem bringt, was die Normen des EG-Vertrages schon heute gebieten. Die Schranken, die wettbewerbsverzerrende Maßnahmen verbieten oder ihnen — auf Gemeinschaftsebene — die Legitimation verweigern, werden auch nicht geöffnet durch die Pflicht der Gemeinschaft, den ihr gegebenen Zielen gleichzeitig zu entsprechen. Diese Verpflichtung hat den deklaratorischen Charakter, wie er für Rechtstexte typisch ist, welche Zielvorgaben für die Politik formulieren. Sie ist inhaltlich insoweit von Bedeutung, als es der Gemeinschaft nicht gestattet sein soll, ihre Kräfte und Ressourcen einseitig bestimmten Zielen zuzuwenden, andere hingegen zu vernachlässigen. Sie schafft aber keinen allgemeinen Abwägungsauftrag für Fälle, in denen eine bestimmte geplante Maßnahme den Entscheidungsträger vor einen Zielkonflikt zu stellen scheint. Wettbewerbsverzerrende Maßnahmen bleiben verboten, auch wenn dies der Industriepolitik bestimmte Handlungsmöglichkeiten nimmt. Es macht sie damit nicht handlungsunfähig. Sie muß nur ihre Ziele auf andere — nicht wettbewerbsverfälschende — Weise verfolgen. Und mehr, als sie auf diese Weise erreichen kann, ist mit dem industriepolitischen Auftrag des Maastrichter Vertrages auch nicht geboten oder legitimiert. Artikel 130 EG-Vertrag: Die Risiken 38. Eine solche Sicht der mit dem Maastrichter Vertrag fortentwickelten Wirtschaftsverfassung der Gemeinschaft könnte die ordnungspolitischen Besorgnisse, die sich mit der neuen Rechtslage verbinden, in Grenzen halten. Aber es kann leider nicht die Rede davon sein, daß diese Sicht in allen Mitgliedstaaten geteilt wird oder sich jedenfalls als die maßgebliche Sicht in der Gemeinschaft von selbst durchsetzen wird. Die erwähnten Besorgnisse sind daher sehr ernst zu nehmen. 39. Die Ermächtigung zur Industriepolitik kann im Kontext mit anderen Zuständigkeiten der Gemeinschaft die verfassungsmäßige Garantie einer wettbewerblichen Wirtschaftsordnung gefährden. Was durch die Wirtschafts- und Währungs1727
vom August 1994
union wie auch durch die politische Union gesichert werden sollte, würde dann erst einmal verschlechtert (vgl. die „Stellungnahme" des Wissenschaftlichen Beirats vom 24. Januar 1992 „zu den Vorschriften über eine Industriepolitik in den Verträgen über die Europäische Politische Union und die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion"). Daß die Gemeinschaft gehalten ist, den ihr vorgegebenen Zielen gleichzeitig zu entsprechen, könnte dafür mißbraucht werden, mit Hilfe des Art. 130 EG-Vertrag eine Koppelung von gegebenenfalls einander widersprechenden Gemeinschaftszielen herbeizuführen. Das Gebot einer strikten Ausrichtung von Kompetenzen, die der Gemeinschaft zugewiesen sind, auf die jeweils zugehörigen Ziele und Mittel wären dann nicht eingehalten. Industriepolitische Zwecke könnten Vorrang vor wettbewerbspolitischen Anliegen erhalten. Die Gemeinschaftsorgane haben einen gewissen, vom Europäischen Gerichtshof nicht voll nachgeprüften Spielraum, ihre Bindungen an die materiell-rechtlichen Normen des EG-Vertrages zugunsten einer diskretionären Industriepolitik zu lockern. Überdies fällt es wegen des gleichzeitigen industriepolitischen Auftrages sowohl an die Gemeinschaft als auch an die Mitgliedstaaten schwer, eine scharfe Grenze zwischen den Zuständigkeiten auf gemeinschaftlicher und nationalstaatlicher Ebene zu ziehen. Die Mitgliedstaaten könnten die Gemeinschaft in industriepolitischer Absicht nötigen, interventionistische Praktiken entweder zu tolerieren oder zu generieren. Abs. 2 der Vorschrift über die Industriepolitik, der deren Aktivitätsfelder enumeriert, ist so umfassend und zugleich so unbestimmt gehalten, daß er keine deutlich zwingende Begrenzung für Formen einer dirigistischen Industriepolitik enthält. 40. Die Besorgnis, mit Art. 130 EG-Vertrag könne der Weg für Protektion, Subvention und staatlich dirigierte Kooperation zugleich geebnet werden, stützt sich nicht zuletzt auf das mögliche Zusammenspiel zwischen industriepolitischen Aktivitäten im engeren Sinne einerseits und Aktivitäten, die aus sachlich verwandten Ermächtigungen erwachsen, andererseits. Schon Art. 130 EG-Vertrag ermöglicht Anpassungshil-
Ordnungspolitische Orientierung f ü r die Europäische U n i o n
fen im Strukturwandel sowie Maßnahmen zu dessen Beschleunigung. Finanzierungsmöglichkeiten ergeben sich sowohl unmittelbar aus dem Vertrag selbst als auch durch einen Rückgriff auf den Regionalfonds (Art. 130 c EG-Vertrag) und den Sozialfonds (Art. 124 EG-Vertrag). Die Berufung auf Titel 130 Abs. 3 Satz 1 EG-Vertrag, wonach „die Gemeinschaft durch die Politik und die Maßnahmen, die sie aufgrund anderer Bestimmungen dieses Vertrages durchführt, zur Erreichung der Ziele des Absatzes 1 (beiträgt)", könnte als Handhabe genutzt werden, die bislang eher strenge Beihilfenpraxis der Kommission gemäß Art. 92 ff. EG-Vertrag aufzuweichen. Eine Legitimation für eine Politik der gezielten Beschleunigung des Strukturwandels ergibt sich vor allem aus der in Titel XV verankerten Einzelermächtigung der Gemeinschaft, Forschung und technologische Entwicklung zu fördern. Aber auch Titel XII (Transeuropäische Netze) läßt sich für industriepolitische Aktivitäten instrumentalisieren. Der Spannweite der Aktionsmöglichkeiten sind nur undeutliche Grenzen gesetzt. Da hier ordnungspolitisch legitime Möglichkeiten der Strukturpolitik unmittelbar neben illegitimen liegen, ist es zwar schwierig, eine Handlungsermächtigung scharf zu fassen. Aber im Grunde war das Unbedenkliche auch bisher schon zulässig. Dazu hätte es neuer Vorschriften nicht bedurft. Der neue Art. 130 EG-Vertrag könnte sich zudem auf die gemeinschaftsrechtliche Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen auswirken. Zwar orientiert sich die Praxis der Fusionskontrolle ausschließlich an wettbewerblichen Eingriffskriterien. Doch fehlt noch eine abschließende Bestätigung seitens des Europäischen Gerichtshofes. Ein Drängen einzelner Mitgliedstaaten, die Fusionskontrolle auch an industriepolitischen Zielsetzungen auszurichten, ist unverändert gegeben. Ähnliche Gefahren lassen sich für die Politik der Freistellung vom Kartellverbot des Art. 85 Abs. 1 EGVertrag formulieren, sei es bei der Einzelanwendung der N o r m , sei es im Rahmen von Verordnungen über Gruppenfreistellungen. Zielkonflikte vergleichbarer Art könnten schließlich im Falle großtechnischer Vorhaben seitens der Gemeinschaft entstehen. 1729
Gutachten vom August 1994
Mehr Mut zum Wettbewerb 41. Was zu befürchten ist, muß so nicht kommen. Doch trotz einer unverkennbaren Annäherung der europäischen Völker und ihrer politischen Repräsentanten im konzeptionellen Denken gehen nach wie vor die Urteile über die Rolle des Staates in der Wirtschaftspolitik und auch über Rang und Formen eines unverfälschten Wettbewerbs weit auseinander. Zudem sprechen Erfahrung und Einsicht in die Eigendynamik von Institutionen und von Regelwerken mit interventionistischem Potential dafür, daß Eingriffsmöglichkeiten auch genutzt werden. Die Interessenlage der Beteiligten gibt dem Rückhalt und Vorschub. Die europäische Agrarpolitik belegt, wie aus vergleichsweise harmlosen Anfängen bald ein unkontrollierbares Netzwerk von Interventionen erwachsen kann. Die Sorge wäre geringer, wenn der europäische Binnenmarkt tatsächlich zum 1. Januar 1993 vollständig hätte verwirklicht werden können. Grenzkontrollen bestehen fort. In sensiblen Bereichen wie Luftverkehr, Telekommunikation und leitungsgebundene Energieversorgung blockieren gravierende nationale Regulierungen das Entstehen eines echten Binnenmarktes. Auch wurde an Art. 115 Abs. 2 des EG-Vertrages festgehalten, Schutzmaßnahmen betreffend bei der Verlagerung von innergemeinschaftlichen Handelsströmen, — er gilt nunmehr ohne Einschränkung, nachdem die ursprüngliche Befristung mit Art. 13 der Einheitlichen Europäischen Akte bereits abgelaufen war. Zudem fehlt ein eindeutiges Bekenntnis zu einem freien internationalen Handel ohne protektionistische Praktiken. Ein Binnenmarkt ohne Grenzen ist zur Zeit noch nicht gegeben. Was zunächst mit großer Energie und auch beachtlichen Erfolgen vorangetrieben worden ist, hat an Schwungkraft verloren. Gerade deshalb wäre es angezeigt gewesen, einen solchen Binnenmarkt zur Voraussetzung für den Eintritt in die dritte Stufe einer Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion zu machen. Das hätte die Prioritäten auf dem Wege zur Wirtschafts- und Währungsunion anders geordnet, die spontan sich vollziehende Konvergenz über die Märkte beschleunigt und die verordnete Konvergenz über auferlegte Strukturziele eingegrenzt. 1730
Ordnungspolitische O r i e n t i e r u n g für die Europäische U n i o n
Obwohl Art. 115 EG-Vertrag im Prinzip nur jenen Restbereich betrifft, in dem die Mitgliedstaaten noch eine handelspolitische Kompetenz besitzen, wird er im praktischen Ergebnis für protektionistische Außenhandelspolitik der Gemeinschaft herangezogen. Dabei sollte außer Frage stehen, daß Vorschriften dieser Art innerhalb eines echten Binnenmarktes keine Funktion mehr haben. Das gilt sowohl für die Formen einer strukturkonservierenden defensiven Protektion als auch für diejenigen einer strukturgestaltenden aggressiven Protektion. Für ein handelspolitisches Fehlverhalten solcher Art hat Maastricht mit dem industriepolitischen Auftrag eher günstigere Voraussetzungen geschaffen. Jedenfalls sind die Sorgen größer geworden. 42. Der Beirat hat in seiner Stellungnahme zur Industriepolitik der Bundesregierung den Rat gegeben, bei den anstehenden Verhandlungen über weitere Änderungen des EG-Vertrages auf eine Streichung des Art. 130 EG-Vertrag zu drängen. Ein faktisches Obsoletwerden hätte die gleiche Wirkung. Auch wenn es nicht dazu kommen sollte, geht es u m eindeutigere Inhalte. Es geht darum, sich auf ein Verständnis der industriepolitischen Ermächtigung der Gemeinschaft zu einigen der Art, daß Diskriminierungen zwischen Regionen, industriellen Aktivitäten und Beschäftigungsarten wirklich ausgeschlossen sind. Rechtlich gibt das die Gesamtheit der Regelungen zur Wirtschaftsverfassung der Gemeinschaft auch ohne weiteres her. Auch sollte durch den Verzicht auf Art. 115 EG-Vertrag nachgeholt werden, was in Maastricht versäumt wurde. Wo Hilfen aus sozialpolitischen oder regionalpolitischen Gründen gewährt werden können, sind zeitliche Begrenzungen und — jedenfalls im Grundsatz — ein degressiver Verlauf vorzusehen, ferner verläßliche Verfahren einer Evaluierung der Wirkungen von Anpassungsmaßnahmen. Wenn all dem entsprochen wird, mag durchaus noch industriepolitischer Spielraum für Aktivitäten bestehen, die günstige Rahmenbedingungen schaffen sollen. Im Bereich von Forschung und Technologie kommt der Staat schon durch die Bereitstellung von finanziellen Mitteln zugunsten von Forschungsinstituten, wissenschaftlichen Gesellschaften und Universitäten nicht umhin, für seine eigene Zuweisungs- und 1731
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Vergabepolitik politische Leitlinien zu erarbeiten. Auch sind Formen einer Kooperation zwischen Staat und Unternehmen denkbar, die aus ordnungspolitischer Sicht mit wettbewerbspolitischen Grundpositionen vereinbar sind. Allerdings droht dabei vieles schnell in eine Grauzone abzugleiten. Daher bedarf es weiterer Vorkehrungen, etwa gegen einen möglichen Mißbrauch von Maßnahmen, die bestimmten Sektoren und Subsektoren Entwicklungsimpulse sowie ein höheres Maß an internationaler Wettbewerbsfähigkeit verleihen sollen. Abzulehnen ist dagegen die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen im wettbewerbsnahen Raum. Vielmehr sollten der Forschungswettbewerb intensiviert und die Gewährung von Schutzrechten für geistiges Eigentum verbessert werden. 43. Industriepolitisch motivierte Handelsschranken werden vor allem von den Befürwortern einer strategischen Handelspolitik propagiert. Die zentrale These besagt: Dirigistische Eingriffe empfehlen sich, wenn unter bestimmten Bedingungen für heimische Anbieter zukunftsträchtige Marktpositionen zu erschließen oder gegen ausländischen Wettbewerb zu verteidigen sind, wenn unter dem Schutz von Handelsschranken Felder besetzt werden sollen, in denen eine bestimmte Technik Schlüsselfunktion oder große Breitenwirkung auf die Nutzung anderer Techniken hat — dies mit dem Ziel, ausländischen Konkurrenten von vornherein das Eindringen zu verwehren —, oder wenn ausländische Dominanz gebrochen werden soll. Der Beirat hat sich in seinem Gutachten vom Juni 1990 zum Thema „Außenwirtschaftspolitische Herausforderungen der Europäischen Gemeinschaft an der Schwelle zum Binnenmarkt" mit den befürwortenden Argumenten auseinandergesetzt und sein per saldo ablehnendes Urteil begründet. Die Völker Europas, ebenso die Handelspartner außerhalb, bedürfen der Klarheit über den handelspolitischen Kurs der Gemeinschaft und der Gewißheit, daß er konsequent eingehalten wird. 44. Vorrangiges Ziel ist die Entkoppelung von miteinander konkurrierenden Zwecken unterschiedlichen Ranges, denen die Gemeinschaft zu entsprechen hat. Priorität steht den wettbewerbspolitischen Zwecken zu — und das eindeutig. 1732
Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische U n i o n
Das ist nicht nur dem Vertrag zu entnehmen, sondern auch sachlich geboten. Soweit industriepolitische Aktivitäten bleiben, sollten sie den Wettbewerb eher intensivieren, keinesfalls jedoch hemmen. Das bedeutet eine klare Absage an Maßnahmen einer interventionistischen sektoralen Politik. Uber sie hat die Kommission der Europäischen Gemeinschaften selbst in ihrem Memorandum „Industriepolitik für die 90er Jahre" festgestellt, daß sie „kein wirksames Instrument zur Förderung der strukturellen Anpassung sind. Sie haben bei dem Versuch, die Industrie wettbewerbsfähig zu machen, versagt, indem sie die Durchführung der notwendigen Anpassung verzögerten, zu einer Fehlallokation von Ressourcen führten und die Probleme des Haushaltsungleichgewichts verschlimmerten". Wie die Organe der Gemeinschaft auf unverfälschten Wettbewerb verpflichtet sind, so sollte — über das Beihilfeverbot hinaus — gleiches für die Mitgliedstaaten gelten. In vielem waren zudem de facto sie und nicht die Kommission in Brüssel die eigentliche Triebkraft für zahlreiche auf Interventionismus und Handelsschranken hinauslaufende Aktivitäten. Die Kommission hatte sich immer wieder massiver dirigistischer Ansinnen aus den Mitgliedstaaten zu erwehren. Das ist ihr durchaus gelungen, wenngleich oft genug mit Mühe. 45. Wie schon erwähnt, ist die Anwendung wettbewerbsorientierter Regelungen gegenüber einem Eindringen industriepolitischer Forderungen abzuschirmen. Wettbewerbspolitik hat sich allein an den für sie geltenden Maßstäben zu orientieren. Dabei ist bewußt zu halten, daß Wettbewerb heute in vielen Bereichen in weltweitem Maßstab stattfindet. Bevor man hier eine Fortentwicklung der vorhandenen Rechtsgrundlagen anstrebt, sollte der Prozeß der Konkretisierung durch die Rechtsprechung abgewartet werden. Es zeichnet sich ab, daß etwa innerhalb der europäischen Fusionskontrolle sehr viel mehr Sachverhalte vor den Europäischen Gerichtshof gelangen, als ursprünglich manche Beobachter erwartet hatten. In diesem Zusammenhang ist namentlich aus Deutschland die Forderung erhoben worden, ein unabhängiges Europäisches Kartellamt zu schaffen. Bundesregierung wie Bundeskartellamt liegen auf dieser Linie. Der Beirat un1733
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terstützt solche Forderungen nur für den Fall, daß die materiellen Eingriffskriterien des europäischen Wettbewerbsrechts im übrigen unverändert bleiben. Rechtsanwendung durch eine unabhängige Behörde vermag dann größere Politikferne zu gewährleisten und bietet eine Chance, daß die Entscheidungen von sachfremden, insbesondere industriepolitischen Erwägungen freibleiben. Skepsis ist dagegen angebracht, wenn ein solches unabhängiges Kartellamt sich nur unter der Bedingung realisieren läßt, daß sich die Wettbewerbsregeln einer Berücksichtigung wettbewerbsrelativierender oder wettbewerbstranszendierender Zwecke öffnen. Ein zweistufiges Verfahren der europäischen Fusionskontrolle nach dem Muster des deutschen Kartellgesetzes — Wettbewerbsprüfung durch das Kartellamt, ggf. Kommissionserlaubnis eines Zusammenschlusses aus überwiegenden Gemeinwohlgründen — wäre abzulehnen. Ein solches Verfahren wäre zwar in der Lage, verglichen mit dem bestehenden Rechtszustand für erhöhte Transparenz innerhalb des Entscheidungsprozesses zu sorgen. Doch würde man damit den säkularen Erfolg in der europäischen Fusionskontrolle zunichte machen, wonach die materiellen Eingriffskriterien sich ausschließlich am Schutz unverfälschten Wettbewerbs zu orientieren haben. Ein solcher Preis wäre zu hoch. Neue Subventionen verweigern; alte abbauen 46. Binnenmarkt und unverfälschter Wettbewerb bedingen eine Rückführung der in ganz Europa verbreiteten Subventionen. Gemeinschaftshilfen und auch nationale Hilfen an Landwirtschaft, Steinkohlebergbau, Stahlindustrie und Werften, werden nun schon seit vielen Jahren in verschwenderischer Weise gewährt und waren trotzdem nicht geeignet, die jeweiligen begrenzten Subventionsziele zu erreichen. Dem muß ein Ende bereitet werden. Erst recht kommt es darauf an, den im industriepolitischen Auftrag des Maastrichter Vertrages potentiell angelegten neuen Subventionsbegehren einen Riegel vorzuschieben. Es wird eine große politische Kraftanstrengung erfordern, die alten Suventionsströme auszutrocknen und neue Subventionsquellen gar nicht erst entstehen zu lassen. 1734
O r d n u n g s p o l i t i s c h e O r i e n t i e r u n g für die Europäische U n i o n
O b durch Initiativen auf Gemeinschaftsebene zu erreichen ist, was auf nationalstaatlicher Ebene — auch in der Bundesrepublik — immer wieder im Sand stecken blieb, wird sich erweisen. Die verbreitete Skepsis ist verständlich. Immerhin fehlt es nicht an Vorschlägen für eine Problemlösung. Selbst in der Agrarpolitik sind Anzeichen einer konzeptionellen Neuorientierung erkennbar, die allerdings kaum den durchschlagenden Erfolg bringen dürften. Die Eingliederung der europäischen Landwirtschaft in ein weltweites Netz marktwirtschaftlicher Beziehungen, ja, schon die unabdingbare Öffnung der Gemeinschaft nach Osten, ist ohne eine durchgreifende Änderung der über Jahrzehnte hinweg entstandenen Agrarmarktordnung der Gemeinschaft nicht zu verwirklichen. Die Alternative schließt strukturpolitisches Handeln, gegebenenfalls Sonderregelungen in Abstimmung mit einer Politik zugunsten der ländlichen Räume, nicht aus. Doch auch dafür bedarf es klarer ordnungspolitischer Leitlinien in der Gemeinschaft sowie in den Mitgliedstaaten. Europäische Netzwerke marktwirtschaftlich gestalten 47. Die europäischen Netzwerke im Verkehr, bei den Energieversorgungsunternehmen und in der Telekommunikation sind noch immer weit von den Erfordernissen eines Raumes ohne Binnengrenzen entfernt. Die Schaffung leistungsfähiger Netze in der Union und über ihre Grenzen hinaus ist so in der Tat ein Vorhaben von europäischem Rang. Auch die Bundesrepublik, als das Transitland par excellence, kann hier hohe Ansprüche auf Mitfinanzierung der Infrastrukturkosten anmelden. Die Kommission interpretiert ihr Mandat gemäß Titel X I I EG-Vertrag als die Wahrnehmung einer Katalysatorfunktion unter Beachtung der durch die Subsidiarität gezogenen Grenzen (siehe deren „Weißbuch über Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung" vom Dezember 1993). Sie anerkennt, daß das Fehlen offener und wettbewerbsorientierter Märkte einer optimalen Nutzung der bestehenden Netze entgegensteht und deren Ausbau hemmt. So geht es nicht allein darum, wie dem geschätzten Bedarf an „direkten" Investitionen von insgesamt 400 Mrd. E C U (davon 220 Mrd. im Bereich Verkehr, 150 Mrd. im Bereich Telekommu1735
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nikation und 13 Mrd. im Bereich Energietransport) entsprochen werden kann, sondern auch und nicht weniger um Kooperationsbereitschaft über nationalstaatliche Grenzen hinweg. Dazu gehört die Aufhebung administrativer Beschränkungen, hemmender Einfuhr- und Ausfuhrrechte und der Transportmonopole, auch die Integration bislang segmentierter Märkte etc. Gelänge es der Kommission, Hindernisse solcher Art zu beschneiden und die Möglichkeit einer wechselseitigen Nutzung der Netze („Interoperabilität") auf Gemeinschaftsebene zu verbessern, zum Teil erst herzustellen, und dies vornehmlich durch marktorientierte Lösungen bei gleichzeitiger Respektierung des Subsidiaritätsprinzips, so wäre damit ein Weg beschritten, der sich durchaus mit den in diesem Gutachten vertretenen ordnungspolitischen Grundsätzen im Einklang befindet. Doch auch hier sind erst die noch vorhandenen Zweifel durch adäquates Handeln auszuräumen. Abzulehnen ist die Absicht der Kommission, ihren eigenen infrastrukturpolitisch begründeten Finanzierungsbedarf durch Anleihen zu decken. Auf diese Frage geht das Gutachten in Ziff. 56 ff. ausführlich ein. Monetäre Ordnung 48. Geldwertstabilität ist die im Vertrag von Maastricht hervorgehobene Zielsetzung der Währungsunion. Geldwertstabilität zu verankern, erfordert eine Geldverfassung, die diesem Ziel den Primat gibt und zudem ausschließt, daß die Geldpolitik vom politischen Prozeß in die Pflicht genommen werden kann, eine Expansion von Staatsausgaben oder eine nicht stabilitätsgerechte Lohnpolitik monetär zu alimentieren. Dies wird erreicht durch eine Verfassung, die der politischen Exekutive die Kompetenz zur Kontrolle der Geldversorgung vollständig entzieht und sie einer unabhängigen Zentralbank überantwortet. Dabei kommt es nicht allein auf die Garantie der funktionellen Unabhängigkeit der Zentralbank an. Hinzutreten muß eine anreizverträgliche Bindung der Mitglieder des obersten Beschlußorgans, also des Zentralbankrats, an das Ziel der Geldwertstabilität. Dies erfordert institutionelle Sicherungen persönlicher Unabhängigkeit.
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49. Das in Maastricht beschlossene Statut für eine unabhängige Europäische Zentralbank (EZB) trägt wichtigen Anforderungen funktioneller Unabhängigkeit Rechnung. So werden Weisungen von Mitgliedsregierungen oder der Europäischen Kommission ausdrücklich untersagt, und eine direkte Kreditgewährung der Europäischen Zentralbank an Mitgliedstaaten oder Organe der Gemeinschaft ist verboten. Ein Erwerb staatlicher Schuldtitel am offenen Markt wird allerdings zugelassen. Der Beirat hält dies für nicht geboten. Mit dem Erwerb staatlicher Schuldtitel in größerem Umfang gerät die Geldpolitik in die Nähe der Finanzierung öffentlicher Haushalte. Für die Funktionsfähigkeit der Geldpolitik sind solche Geschäfte ohnehin entbehrlich. Mit der Alternative des Offenmarktgeschäfts mit Rücknahmevereinbarung — die faktisch eine Kreditgewährung an Banken darstellt — ist ein hinreichend flexibles Instrument zur Steuerung der Versorgung mit Zentralbankgeld vorhanden. 50. Geldwertstabilität läßt sich nur erreichen und bewahren, wenn die Geldpolitik nicht durch wechselkurspolitische Vorgaben behindert wird. In dieser Hinsicht sind die Handlungsmöglichkeiten der Europäischen Zentralbank eingeschränkt. Daß daraus nicht ein Einfallstor für Kräfte wird, die die Europäische Zentralbank an einer konsequent auf Geldwertstabilität bedachten Politik hindern wollen, ist eine schwierige, aber äußerst wichtige Aufgabe. Nach dem Maastrichter Vertrag kann der Ministerrat einstimmig förmliche Vereinbarungen über ein Wechselkurssystem für die E C U gegenüber Drittlandwährungen, etwa ein Festkurssystem, treffen. Die Leitkurse für die E C U in einem Festkurssystem, die die Zentralbank gegebenenfalls durch Interventionen zu stützen hätte, legt der Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit fest. Auch ohne ein — einstimmig zu beschließendes — Wechselkurssystem gegenüber Drittlandwährungen kann der Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit allgemeine Orientierungen für die Wechselkurspolitik gegenüber solchen Währungen aufstellen. Orientierungen dieser Art dürfen allerdings das vorrangige Ziel der Europäischen Zentralbank, die Geldwertstabilität zu gewährleisten, nicht beeinträchtigen. Die legislative Absicht ist eindeutig: 1737
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Wechselkurspolitische Orientierungen brauchen von der Europäischen Zentralbank dann nicht beachtet zu werden, wenn sie diese mit dem Ziel der Preisniveaustabilität für nicht im Einklang stehend hält. Der Begriff von der bloßen „Orientierung" sollte genau dies zum Ausdruck bringen. Nach den Vorgaben, welche das Bundesverfassungsgericht in seinem Maastricht-Urteil gemacht hat, bestehen keine Zweifel, daß eine Uminterpretation dieser Formulierung in Richtung eines Verbindlichkeitsanspruchs als eine Änderung des Vertragswerkes zu qualifizieren wäre. Für deutsche Staatsorgane könnte eine veränderte Interpretation nur dann Gültigkeit beanspruchen, wenn sie kodifiziert und in sämtlichen Mitgliedstaaten gemäß deren verfassungsrechtlichen Vorschriften ratifiziert worden wäre. Klarheit in der Rechtsgrundlage ist bei einer auf Dauer angelegten Geldverfassung um so wichtiger, als Rat und Kommission versucht sein könnten, die Wechselkurspolitik in den Dienst der Konjunkturstimulierung und protektionistischer Interessen der Exportförderung einerseits und der Importbehinderung andererseits zu stellen. Nach Auffassung der Mehrheit des Beirats wäre es sogar richtig gewesen, der Europäischen Zentralbank auch für den Fall, daß Vereinbarungen über ein Wechselkurssystem für den E C U gegenüber Drittlandwährungen zustande kommen, ein Vetorecht bei der Festsetzung der ECU-Leitkurse innerhalb eines solchen Systems einzuräumen. Tatsächlich gibt es nur eine Pflicht des Ministerrates, die Europäische Zentralbank anzuhören „in dem Bemühen, zu einem mit dem Ziel der Preisstabilität im Einklang stehenden Konsens zu gelangen". Ein Vetorecht würde eine Bedrohung der auf Preisstabilität ausgerichteten Geldpolitik durch unangemessene Wechselkursvorgaben ausschließen. Es wäre aber sehr weitgehend und könnte im Rahmen eines Wechselkurssystems zu internationalen Unzuträglichkeiten führen. Der Beirat spricht sich daher für eine weniger einschneidende Lösung aus. Die Europäische Zentralbank sollte für den Fall einer schwerwiegenden Gefährdung des internen Geldwertes das Recht haben, die im Rahmen eines Wechselskurssystems bestehende Interventionsverpflichtung auszusetzen. Selbst wenn eine 1738
Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische U n i o n
Ergänzung des Vertrages nicht in Betracht kommen sollte, kann die Bundesregierung, gestützt durch das Einstimmigkeitserfordernis, darauf hinwirken, daß eine Vereinbarung über ein Wechselkurssystem, wenn überhaupt, dann nur mit einer Klausel abgeschlossen wird, die der Europäischen Zentralbank das Recht gibt, sich im Notfall von der ihr auferlegten Interventionspflicht zu befreien. 51. Funktionelle Zentralbankunabhängigkeit bedarf ergänzender institutioneller Vorkehrungen zur Sicherung der persönlichen Unabhängigkeit der Zentralbankiers, um eine Bindung dieser Personen an das Ziel der Geldwertstabilität zu erreichen. Dabei muß man für hinreichend lange Amtszeiten sorgen. Dies erleichtert eine persönliche Ablösung von den direkten Interessen des politischen Prozesses. Der Vertrag von Maastricht bestimmt für Direktoriumsmitglieder der Europäischen Zentralbank einmalige Amtszeiten von acht Jahren, für die nationalen Gouverneure eine Mindestamtszeit von nur fünf Jahren, wobei die Frage einer Wiederbestellung ungeregelt, also der nationalen Entscheidung überlassen bleibt. Längere Amtszeiten wären besser gewesen, will man unabhängiges Verhalten fördern. Ebenso ist zu bedenken, daß der nationale Freiraum zur Regelung von Amtszeit und von Modalitäten der Wiederbestellung den Mitgliedsregierungen Ansatzpunkte für politische Einflußnahmen gibt. Der Beirat spricht sich dafür aus, daß die Direktoriumsmitglieder ebenso wie die nationalen Gouverneure einen einmaligen Vertrag mit einer Amtszeit von mindestens zwölf Jahren erhalten. 3.3
Ordnung der Finanzen 52. Die Nationalstaaten in Europa besaßen eine fast unumschränkte Finanzautonomie. Ihre Regierungen konnten die ihnen verfassungsmäßig zugestandenen Steuerquellen ohne Rücksicht auf ihre Nachbarn nach eigenem Gutdünken ausschöpfen. Handelsschranken sowie Ein- und Auswanderungsrestriktionen für Arbeit und Kapital stützten diese Autonomie. Im weiteren gab es in diesem Europa keine von den Staaten gemeinsam zu tragenden öffentlichen Projekte. Vereinzelte A b k o m m e n bildeten die Ausnahme von der Regel. 1739
Gutachten vom August 1994
Seit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1958) und besonders seit der Schaffung des freien Binnenmarktes (1993) hat sich dieses institutionelle Umfeld für die Staaten der Gemeinschaft wesentlich verändert. Eine neue integrative Ebene ist an die Stelle der alten Kooperationsbeziehungen zwischen Nationalstaaten getreten. Gleichzeitig sind die zwischennationalen Schutzschranken, welche die nationale Finanzautonomie stützten, weggefallen. Mit dem Fortschreiten zu einer vertieften politischen Union Europas werden sich diese Tendenzen weiter verstärken. Dies wirft neue Fragen für die Finanzverfassungen sowohl der U n i o n wie der Mitgliedstaaten auf. Für die Union ist zu klären, wie ihre Finanzverfassung gestaltet sein soll, damit sie in der Lage ist, die heutigen und die in absehbarer Zeit auf sie zukommenden gemeinsamen Aufgaben zu lösen. Kann es bei der gegenwärtigen Finanzierung des EG-Haushalts aus Eigenmitteln bleiben oder sind gemeinsame von der EG erhobene Steuern erforderlich? Für die Mitgliedstaaten stellt sich die Frage, ob nach dem Fall der nationalen Schranken eine gemeinsame Koordination ihrer Steuerpolitiken erforderlich ist, oder ob sie sich dezentral an die neue Lage anpassen können und sollen. 3.3.1 Die Finanzverfassung der EG Die heutige Lage 53. Bis heute werden in der Gemeinschaft die Aufgabenfelder und der verfügbare Finanzrahmen durch die Mitgliedstaaten vorgegeben. Nach wie vor folgt die Zuweisung hoheitlicher Aufgaben dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Zu einer Aufgabe der Gemeinschaft kann nur werden, was vom Rat einstimmig beschlossen und von den Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften ratifiziert worden ist. Mit der Aufgabenzuweisung ergibt sich ein Rahmen für die finanzwirtschaftliche Tätigkeit, der insbesondere die Gemeinschaftsausgaben auf bestimmte Zwecke begrenzt. Ahnliches gilt für die Zuordnung der Einnahmekompetenzen. Nach Art. 201 EG-Vertrag sind die Ausgaben durch Ei1740
Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische U n i o n
genmittel zu finanzieren. Was Eigenmittel sind, bedarf der einstimmigen Festlegung durch den Rat und der Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten. Die bisherigen Eigenmittelbeschlüsse legen den Maximalbetrag der Einnahmen als v. H.Satz des Bruttosozialprodukts der Mitgliedstaaten fest (von 1,2 v.H. in 1993 auf 1,27 v . H . in 1999 steigend) und ordnen in diesem Rahmen der Gemeinschaft folgende vier Arten eigener Einnahmen zu: die Abschöpfungen und sonstigen Abgaben im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik; die Zölle, die auf der Grundlage des gemeinsamen Außenzolltarifs im Handel mit Drittstaaten erhoben werden; den sog. Mehrwertsteueranteil, ein Finanzierungsbeitrag der Mitgliedstaaten in Höhe von derzeit maximal 1,4 Prozent einer vereinheitlichten Bemessungsgrundlage für die Erhebung der Mehrwertsteuer; eine Umlage, die im Rahmen des Maximalsatzes der gesamten Einnahmen von z.B. 1,2 v.H. des Bruttosozialprodukts bei den Mitgliedstaaten erhoben wird (sogenannter BSP-Beitrag). Die jährliche H ö h e der Umlage läßt sich erst bestimmen, wenn im Rahmen des jährlichen Haushaltsverfahrens die H ö h e der übrigen Einnahmen und die H ö h e der geplanten Ausgaben bekannt ist. Die entsprechenden Festlegungen erfolgen deshalb im Rahmen des jährlichen Haushaltsverfahrens durch die zuständigen Gemeinschaftsorgane. 54. In den durch Aufgabenzuweisung und Eigenmittelplafondierung gezogenen Grenzen entscheidet die Gemeinschaft autonom über Einnahmen und Ausgaben. Das geltende Haushaltsrecht sieht dafür ein relativ kompliziertes Verfahren mit spezifischen Kompetenzzuweisungen an Ministerrat und Europäisches Parlament bei differenzierten Mehrheitserfordernissen vor. Beide Organe bilden die gemeinsame Haushaltsbehörde. Der Haushaltsplan wird nach Abschluß des Verfahrens durch Beschluß des Parlamentspräsidenten festgestellt. Der Ministerrat, der auf der Grundlage eines Vorentwurfs der Kommission den Haushaltsentwurf mit qualifizierter Mehrheit beschließt, hat im Ergebnis das Letztentscheidungsrecht bei jenen Ausgaben, „die sich zwingend aus dem Vertrag oder den auf Grund des Vertrages erlassenen Rechtsakten ergeben" (obligatorische Ausgaben, Art. 203 Abs. 4 1741
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Satz 2 EG-Vertrag). Bei allen anderen — den nichtobligatorischen — Ausgaben kann das Parlament mit der Mehrheit seiner Mitglieder und zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen seinen Willen durchsetzen. Es kann mit den gleichen Mehrheiten aus wichtigem Grund auch den ganzen Haushaltsentwurf an den Rat zurückverweisen. Um die Ausgabendynamik zu bremsen, hat die Kommission für den Anstieg der nichtobligatorischen Ausgaben alljährlich einen nach bestimmten Kriterien ermittelten Höchstsatz festzulegen, der vom Parlament nur überschritten werden darf, wenn der Ministerrat das mit qualifizierter Mehrheit gutheißt. Dem gleichen Ziel dienen „Grundsätze der Haushalts- und Finanzdisziplin" (1984) und die „Interinstitutionelle Vereinbarung über die Haushaltsdefizite und die Verbesserung des Haushaltsverfahrens" (1988); sie sehen u.a. eine unterdurchschnittliche Expansion der Agrarausgaben und eine mittelfristige Vorabfestlegung der großen Ausgabenblöcke (Agrarbereich, Strukturfonds, längerfristige Politiken) für den gleichen Zeitraum vor, für den der Eigenmittelplafond festgelegt ist. Mit dem Vertrag von Maastricht neu eingeführt wurde die Vorschrift des Art. 201a EG-Vertrag, wonach die Kommission keine Vorschläge für Rechtsakte der Gemeinschaft unterbreiten und keine Durchführungsmaßnahmen erlassen darf, die den der Gemeinschaft vorgegebenen Finanzrahmen überschreiten würden. Die Durchführung des Haushaltsplans obliegt gemäß Art. 205 EG-Vertrag der Kommission. Schon vorher findet bei den einzelnen Organen eine interne Kontrolle der geplanten Mittelverwendungen durch Finanzkontrolleure statt (Art. 24 Haushaltsordnung). Die eigentliche Kontrolle des Haushaltsgebarens von außen ist Sache des Rechnungshofs, der mit dem Vertrag von Maastricht die volle Organqualität erlangt hat. Die Mitglieder des Rechnungshofs nehmen ihr Amt in richterlicher Unabhängigkeit wahr; ihre Kontrolltätigkeit erstreckt sich nicht nur auf die Verwendung von Haushaltsmitteln durch Gliederungen der Gemeinschaft, sondern gemäß Art. 87 Haushaltsordnung auch auf die Mittelverwendung bei Subventionsempfängern; geprüft wird sowohl die Rechtmäßigkeit und Ordnungsmäßigkeit von Einnahmen 1742
Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische Union
und Ausgaben als auch die Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung (Art. 188 c EG-Vertrag). Kritische Bemerkungen zur Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung haben dem Rechnungshof in der Vergangenheit wiederholt den Vorwurf der Kommission eingetragen, er überschreite seine Kompetenzen. 55. Die derzeitige Finanzverfassung der Gemeinschaft ist in weiten Teilen bestimmt von dem Versuch, einen Interessenausgleich zwischen Europäischem Parlament und den im Rat repräsentierten Regierungen der Mitgliedstaaten zu finden. Aus der Sicht des Ministerrats bedürfen sämtliche von der Haushaltsbehörde beschlossenen Ausgaben, und damit auch die vom Europäischen Parlament in Abweichung von den Vorstellungen des Rates beschlossenen Ausgaben, grundsätzlich eines Rechtsetzungsaktes, für dessen Erlaß der Rat letztverantwortlich zuständig ist. Das Europäische Parlament vertritt demgegenüber die Auffassung, daß seine Ausgabenbeschlüsse auch ohne legislativen Akt des Rates von der Kommission durchgeführt werden müssen, der politische Gestaltungsauftrag der Gemeinschaft durch das Haushaltsrecht folglich erweitert ist. Zu den Streitfragen zwischen beiden Organen gehört die genaue Grenzlinie zwischen obligatorischen und nichtobligatorischen Ausgaben, die ja zugleich eine Grenzlinie für das Letztentscheidungsrecht der einen oder anderen Seite ist. Als unstreitig obligatorisch gelten lediglich die Ausgaben der „Abteilung Garantie" des Agrarfonds (Marktregulierung), als unstreitig nichtobligatorisch die Verwaltungsausgaben und die Ausgaben der meisten Strukturfonds einschließlich der Ausgaben für Forschung und technologische Entwicklung sowie für Entwicklungshilfe. 56. Ein weiterer Streitpunkt ergibt sich aus der Tatsache, daß der Haushaltsplan nicht sämtliche finanziellen Aktivitäten der Gemeinschaft erkennen läßt. Die gesamte Anleihen- und Darlehenstätigkeit vollzieht sich außerhalb des Gemeinschaftshaushalts. Problematisch ist diese finanzielle Aktivität der Gemeinschaft dabei nicht nur deswegen, weil die haushaltsrechtlichen Grundsätze an sich die Einstellung sämtlicher Einnahmen und Ausgaben der Gemeinschaft in 1743
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ihren Haushalt verlangen. Ordnungspolitisch und rechtlich umstritten ist vor allem, ob die Gemeinschaft überhaupt Ausgaben über Anleihen finanzieren darf. Diese Praxis hatte sich ursprünglich nur im Rahmen der Tätigkeit der Europäischen Investitionsbank entwickelt. Maßgeblich war einmal die Ansicht, daß Anleihen grundsätzlich kein allgemeines Finanzierungsmittel für den Gemeinschaftshaushalt darstellen; sie gehörten daher nicht zu den „eigenen Mitteln" im Sinne von Art. 201 EG-Vertrag. Die zunehmende Einführung von Anleihen als allgemeine Einnahmequelle der Gemeinschaft droht indessen das EigenmittelRegime zu sprengen. Das setzte eine Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten voraus. Ein förmliches Ratifizierungsverfahren ließe sich zwar über eine Inanspruchnahme von Art. 235 EG-Vertrag umgehen. Doch für die Aufnahme von Anleihen, welche die Eigenmittel späterer Jahre binden, wäre dieser Ausweg wohl kaum zulässig. Denn der vorzeitige Zugriff auf zukünftige Eigenmittel über das Instrument der Anleihe würde spätere Eigenmittelanhebungen erzwingen, mithin Entscheidungen vorwegnehmen, die der einstimmigen Zustimmung der Mitgliedstaaten bedürfen. Es entspricht dem Prinzip der begrenzten Einzelkompetenz, daß die Vorschriften des EG-Vertrages keine allgemeine Ermächtigung der Europäischen Gemeinschaft (Europäischen Union) zur Aufnahme von Anleihen enthalten. Die im EGKS-Vertrag in Art. 49 bzw. im EURATOM-Vertrag in Art. 172 Abs. 4 enthaltene Anleiheermächtigung betrifft jeweils eine sektorale Politik der Gemeinschaft; diese Anleiheermächtigungen lassen sich mit dem Grundsatz der begrenzten Einzelkompetenz noch vereinbaren. 57. Der Rat hat indes seit 1975 verschiedentlich Art. 235 EGVertrag als Rechtsgrundlage in Anspruch genommen, um der Gemeinschaft, begrenzt für bestimmte Tätigkeiten, eine Ermächtigung zur Aufnahme von Anleihen einzuräumen. Das geschah erstmals im Jahr 1975 zum Zweck der Finanzierung ölpreisbedingter Zahlungsbilanzdefizite der Mitgliedstaaten mit den beiden Verordnungen (EWG) Nr. 387 und 398/75. Die Anleiheermächtigung war zeitlich befristet, wurde aber 1744
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mit der Verordnung (EWG) Nr. 682/81 — wiederum begrenzt zur Stützung der Zahlungsbilanz der Mitgliedstaaten — unter Modifizierung des Systems erneuert. Mit der Verordnung (EWG) Nr. 1969/88 vom 24. Juni 1988 wurde ein einheitlicher Mechanismus über einen mittelfristigen finanziellen Beistand für den Fall von Zahlungsbilanzschwierigkeiten der Mitgliedstaaten eingerichtet. Diese begründet erneut eine Anleiheermächtigung der Gemeinschaft und faßt zugleich die bisherigen Ermächtigungen zusammen. Die Voraussetzungen zur Inanspruchnahme von Gemeinschaftsanleihen wurden dabei erweitert. Gemeinschaftsanleihen können nunmehr unabhängig von der Ursache der Zahlungsbilanzschwierigkeiten, selbst zur Finanzierung von Darlehen, die aus Gründen von Kapitalbilanzschwierigkeiten gewährt werden, in Anspruch genommen werden. Die Gemeinschaft hat unlängst die Gewährung von Zahlungsbilanzkrediten an Rumänien, Bulgarien und Moldawien beschlossen. Ihre Finanzierung soll ebenfalls über Anleihen erfolgen, zu deren Aufnahme die Gemeinschaft aber noch auf der Grundlage einer Verordnung nach Art. 235 EGVertrag ermächtigt werden muß. Eine weitere Anleiheermächtigung der Gemeinschaft besteht seit 1978 aufgrund des Beschlusses 7 8 / 8 7 0 / E W G des Rates. Die auf der Grundlage dieser Ermächtigung aufgenommenen Mittel werden als sogenanntes Neues Gemeinschaftsinstrument zu Zwecken der Investitionsförderung den Mitgliedstaaten darlehensweise zur Verfügung gestellt. Der maßgebliche Beschluß wurde inzwischen dreimal mit jeweiliger Mittelaufstockung, zuletzt durch den Beschluß 87/182/ E W G vom 9. März 1987, verlängert. 58. D a in dem Gemeinschaftshaushalt auf der Einnahmenseite nicht nur die eigenen Einnahmen, vielmehr auch alle sonstigen Einnahmen der Gemeinschaft einzustellen sind, würde eine Budgetierung der Anleihen der Gemeinschaft z.B. zu Zwecken der Finanzierung von Zahlungsbilanzkrediten an Mitgliedstaaten, auch an Drittstaaten oder zur Finanzierung von Darlehen zum Zwecke der Strukturförderung den Grundsätzen des Haushaltsrechts entsprechen. D o c h Kom1745
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mission und Rat stellen diese Einnahmen und die entsprechenden Ausgaben — entgegen den Forderungen des Europäischen Parlamentes — nicht in den Gemeinschaftshaushalt ein, weil dies dem Europäischen Parlament als zweiter Haushaltsbehörde ein nicht gewünschtes Mitentscheidungsrecht über die Vergabe der Mittel gewähren würde. Die derzeitige Praxis von Rat und Kommission steht im Einklang mit der Regelung, daß das Europäische Parlament bei der Inanspruchnahme der Ermächtigung des Art. 235 EG-Vertrag durch den Rat kein Mitwirkungsrecht hat; seine Mitwirkungsbefugnis ist auf eine Konsultation beschränkt. Die aus der Sicht des Beirats gebotene verfassungsrechtliche Wertung ist in Ziffer 24 dargestellt.
Die Transferpolitik im Rahmen der Fonds 59. Transfers zwischen den Mitgliedstaaten werden einmal über die sogenannten Strukturfonds geleistet. Zu diesen gehören der Europäische Fonds für die regionale Entwicklung (EFRE), der Europäische Sozialfonds (ESF) und die Abteilung „Ausrichtung" des Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL). Hinzu kommt im weiteren der im Vertrag von Maastricht vereinbarte Kohäsionsfonds für Vorhaben in den Bereichen Umwelt und transeuropäische Verkehrsnetze. Von großer Bedeutung ist schließlich die Abteilung „Garantie" des EAGFL, über welche die Agrarmarktinterventionen laufen. Die Beträge, die über diese Abteilung geleistet werden, dienen ausschließlich der Stützung der Landwirtschaft; sie haben nichts mit den Transfers der Strukturfonds zu tun, die vorwiegend den ärmeren Regionen der Union zugute kommen. Alle diese Fonds gehen in den Haushalt der Gemeinschaft ein. Sie umfassen etwa vier Fünftel aller im Gemeinschaftshaushalt eingestellten Ausgaben, davon entfallen etwa zwei Drittel auf die Agrarstrukturförderung und die Agrarmarktregulierung. Weitere Transferaktivitäten der Gemeinschaft stehen im Zusammenhang mit dem Entwicklungsfonds, dessen Ausgaben nicht in den Haushalt eingehen. 60. Die Strukturfonds sind als Instrumente des Finanzausgleichs zwischen den EG-Mitgliedstaaten zu verstehen. Doch unter1746
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scheidet sich dieser Finanzausgleich von demjenigen innerhalb eines Bundesstaates wie der Bundesrepublik Deutschland dadurch, daß den Mitgliedstaaten keine ungebundenen Direkttransfers ausgeschüttet werden, sondern nur (projekt-) gebundene Transfers in Politikfeldern, die im Verantwortungsbereich der Mitgliedstaaten verbleiben. Der Aufbau einer leistungsfähigen Infrastruktur und die Förderung ausgewogener Produktions- und Beschäftigungsstrukturen werden als genuine Aufgaben der Mitgliedstaaten angesehen. Die Hilfe über die Strukturfonds soll es den relativ ärmeren Mitgliedstaaten ermöglichen, über ein beschleunigtes Wachstum den Abstand zu den wohlhabenderen Mitgliedstaaten zu verringern und im Wettbewerbsprozeß zu bestehen. 61. Die Gemeinschaft besaß ursprünglich keine Kompetenzen für eine derartige Politik. Der mit dem Vertrag von Rom errichtete Sozialfonds, der die mitgliedstaatliche Arbeitsmarktpolitik fördert, war eine Ausnahme. Die Zuständigkeit der Gemeinschaft zur Förderung der Regionalpolitik der Mitgliedstaaten wurde erst 1970 anläßlich des ersten Anlaufs zur Umgestaltung der Gemeinschaft in eine Wirtschafts- und Währungsunion mit der Einrichtung des Regionalfonds geschaffen. Die Zuständigkeit im Bereich der Agrarstrukturpolitik (Abteilung „Ausrichtung" des E A G F L ) wurde bereits mit der Schaffung der Agrarmarktorganisation in den 60er Jahren begründet. Sie war aber ursprünglich hinsichtlich des Fördervolumens ebenfalls nur gering und ist erst in neuester Zeit stark angewachsen. D i e Schaffung des Kohäsionsfonds stellt die bisher jüngste Etappe im Rahmen dieser europäischen Transferpolitik dar. 62. Diese „Fondswirtschaft" hat verschiedentlich zu Kritik geführt. Einmal komme es zu Mittelverschwendung, weil durch die Transfers Investitionen in jenen Bereichen stattfänden, die ohne Mitfinanzierung durch die Gemeinschaft von den Mitgliedstaaten nicht vorgenommen worden wären. Dieser Vorwurf mag aus der Sicht der Empfängerländer verständlich klingen. Sie würden aus direkten, ungebundenen Transfers, die sie nach ihren eigenen Prioritäten ausgeben können, größeren Vorteil ziehen. Für die Geberländer ver1747
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hält es sich indessen anders. Sie sind in erster Linie an spezifischen Investitionen, die sie als wachstumspolitisch wichtig erachten, interessiert, und nicht an Ausgaben nach den Prioritäten der Empfängerländer. Zweckgebundenes Spenden ist daher für die Geberländer attraktiver. O f t sind sie nur unter dieser Bedingung bereit, überhaupt Geld zu spenden. Bei solcher Sachlage stehen sich im Endeffekt beide, Geber- und Empfängerländer, besser, wenn beim Regime zweckgebundener Transfers verblieben wird. Die eigentlichen Schwachstellen zweckgebundener Transfers liegen anderswo. Zum einen stellt sich das Problem, die Projekte auszuwählen. Die Auswahl erfolgt durch Entscheidung der Gemeinschaft. Damit nimmt die Europäische Gemeinschaft Kompetenzen wahr, die eigentlich im Bereich der Mitgliedstaaten verbleiben sollten. So kann es sich beispielsweise ergeben, daß über die Projektauswahl im Regionalfonds eher die Zentralisierung als die Dezentralisierung gefördert wird. Fragwürdig ist zum anderen die Effektivitätskontrolle. Die bisher vorgelegten Berichte über die Arbeitsweisen der Strukturfonds stellen eher Erfolgsmeldungen der an Transfers Interessierten dar als wirksame Effektivitätskontrollen, die dann auch wieder zu Rückwirkungen auf die Auswahl der Projekte führen würden. Schließlich sind die Strukturfonds aus ordnungspolitischer Sicht zu kritisieren. Denn sie sind häufig das Ergebnis von politischen Tauschgeschäften. Sie werden als „juste retour" für das Mitmachen im gemeinsamen Markt mit seinen vier Grundfreiheiten und seinem Anspruch auf Sicherung eines unverfälschten Wettbewerbs angesehen. Solche Tauschgeschäfte sind um so wichtiger geworden, seitdem in der Entwicklung weiter zurückliegende Länder beigetreten sind. Mit den Erweiterungen der Gemeinschaft in den Jahren 1973, 1981 und 1986 hat sich deren Struktur in der Weise gewandelt, daß aus einer Gemeinschaft mit etwa gleich entwickelten Volkswirtschaften eine Gemeinschaft mit einem beträchtlichen Wirtschaftsgefälle entstanden ist. Die Politik des „wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts" wird bezeichnenderweise von den weniger wohlhabenden Mitgliedstaaten als Ausgleich dafür verstanden, daß ihnen der ge-
O r d n u n g s p o l i t i s c h e O r i e n t i e r u n g für die E u r o p ä i s c h e U n i o n
meinsame Markt angeblich keine gleichwertigen Vorteile bringt. Sollte der Anspruch auf einen ,,juste retour" akzeptiert und als ungeschriebener Verfassungsbestandteil in die Politik der Europäischen U n i o n eingehen, so könnte er sich zu einer Quelle des allgemeinen Strebens nach finanziellen Vorteilen („rent seeking") entwickeln. Werden politische Tauschgeschäfte zugelassen und über die Allgemeinheit finanziert, so vermindern sich bald die Vorteile der Europäischen U n i o n im Ganzen. Einzelne Mitgliedstaaten werden dann für sich Sonderregelungen durchsetzen und damit die Nettozahllast der übrigen noch erhöhen. D e r Zusammenhalt der Gemeinschaft wird dann weiter belastet. Fonds können so entgegen ihrer Bestimmung eher das Auseinanderfallen als die Kohäsion fördern. Eine verfassungsmäßige Begrenzung der Fonds ist anzustreben.
Die Bereitstellung europaweiter öffentlicher Güter 63. Eine vordringliche Aufgabe der U n i o n ist die Bereitstellung europaweiter öffentlicher Güter. Gemeint sind jene Güter, die von den Bürgern der Mitgliedstaaten gemeinsam genutzt werden und bei denen daher die einzelnen Mitgliedstaaten einen Anreiz haben, sich auf Kosten der anderen als Trittbrettfahrer zu verhalten. O h n e EG-weite kollektive A k t i o n würde zu wenig von diesen Gütern bereitgestellt. Öffentliche Güter erfordern aber auch finanzielle Ressourcen, die gemeinsam aufgebracht werden müssen. Es ist zu prüfen, ob die derzeitigen Institutionen der Gemeinschaft ausreichen, u m dem Bedarf an öffentlichen Gütern in einer fortgeschrittenen Europäischen U n i o n Rechnung zu tragen, oder o b umfassendere finanzpolitische Kompetenzen erforderlich sind. Hierzu werden im folgenden die wichtigsten der derzeit bereitgestellten und diskutierten öffentlichen Güter auf ihre finanzpolitischen Konsequenzen hin überprüft. 64; Unter den europaweiten öffentlichen Gütern sind zuallererst die Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaft, namentlich die individuellen Freiheitsrechte einschließlich der vier Grundfreiheiten zu nennen. Die Verwirklichung der 1749
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Rechtsordnung erfordert finanzielle Ressourcen, die in der Regel unumstritten bewilligt werden und bisher im Rahmen der EG-Eigenmittel weitgehend problemlos erbracht werden konnten. 65. Als weiteres öffentliches Gut wird derzeit die europaweite Verteidigung diskutiert. Ein gemeinsames Vorgehen liegt hier besonders nahe, weil dadurch Kosten gespart werden können. Im Hinblick auf die Finanzverfassung ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, wie dieses gemeinsame Vorgehen gestaltet sein soll. Der Maastrichter Vertrag sieht in Art. J.4. EU-Vertrag und in der Schlußakte eine Revitalisierung der Westeuropäischen Union vor. Diese soll das bestehende Bündnis der NATO ergänzen, aber nicht ersetzen. Eine gemeinsame Verteidigungspolitik ist „auf längere Sicht" vorgesehen und eine gemeinsame Verteidigung, die dann auch eine gemeinsame Armee umfassen könnte, als Zukunftsvorstellung „zu gegebener Zeit" ins Auge gefaßt (Art. J.4. Abs. 1 EU-Vertrag). Solange aber jeder Mitgliedstaat seine eigenen Streitkräfte beibehält und nur die Einsatzpläne koordiniert werden, wird es bei der nationalen Finanzierung der Streitkräfte der Mitgliedstaaten bleiben. Die Einrichtung eigener europäischer Budgets für die Verteidigung ist dann nicht erforderlich. 66. Ein weiteres Beispiel für öffentliche Güter stellt der internationale Umweltschutz dar. Ein Teil der nationalen Schadstoffe überträgt sich durch Luft und Wasser auf andere Länder und führt dort zu Umweltschäden. Die Verminderung solcher Schäden kann als internationales öffentliches Gut betrachtet werden, für welches keiner der beteiligten Staaten einen Beitrag zu leisten bereit ist, da es sich für ihn lohnt, sich als Trittbrettfahrer zu verhalten. Bei derartiger Sachlage kommt in Betracht, den Mitgliedstaaten auf der Basis des EG-Rechtes Korrekturmaßnahmen vorzuschreiben, z.B. Lenkungssteuern zur Verminderung der Schadstoffemission. Die Erträge solcher Steuern verblieben dann bei den Mitgliedstaaten. Die Budgets der Europäischen Gemeinschaft wären nicht berührt. So könnte man sich eine Lenkungsteuer auf die Einleitung von Kali und anderen Schad1750
Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische U n i o n
Stoffen in den Rhein vorstellen. Eine solche Steuer würde subsidiär eingreifen, wenn Verhandlungen zwischen den Anrainerstaaten ergebnislos geblieben sind. Demgegenüber sind all jene Umweltprobleme nicht direkt EG-relevant, die nur den einzelnen Mitgliedstaat betreffen. Fragwürdig ist unter diesem Aspekt ζ. B. die Richtlinienkompetenz der Europäischen Gemeinschaft für Fauna, Flora und Trinkwasserqualität. Solche Belange können Sache der einzelnen Mitgliedstaaten bleiben, sie erfordern keine zentrale Steuerung durch die Europäische Gemeinschaft. Ähnliches gilt für Lärm und Müllablagerung. Wenn sich in solchen Fällen aufgrund nationaler Regulierungen die Wettbewerbsverhältnisse verändern, so sollten diese Unterschiede nicht durch EG-weite Normen wieder eliminiert werden. Die Knappheit der Umweltressourcen ist von Land zu Land verschieden. Der Preis, den man in dicht bevölkerten und reichen Mitgliedstaaten dafür zu bezahlen bereit ist, mag höher als in anderen Ländern sein. Sich ergebende Preisunterschiede dürfen nicht als Wettbewerbsverzerrungen interpretiert werden. Vielmehr erhöht der Handel, der durch unterschiedliche nationale Umweltpreise zustande kommt, ebenso den Wohlstand der Länder wie ein Handel, der durch andere örtliche Produktionsbedingungen wie Rohstoffe, Klima usw. sowie durch Spezialisierung induziert wird. Es bleiben die weltweiten Umweltprobleme wie ζ. B. jene der CO,- und FCKW-Emission. Die Europäische Gemeinschaft kann diese nicht in eigener Kompetenz lösen. Sie kann sich aber engagieren, indem sie mit anderen Staaten in Verhandlungen tritt und hierbei ihr Gewicht als Handelspartner in die Waagschale wirft. Solche Aktivitäten mögen finanzielle Konsequenzen nach sich ziehen. Aber die Union wird aus guten Gründen zurückhaltend sein, den anderen Staaten umweltpolitisches Wohlverhalten „abzukaufen". 67. Ein weiteres Gebiet für eine EG-weite gemeinsame A k t i o n kann der Schutz des gemeinsamen kulturellen Erbes darstellen. Art. 128 EG-Vertrag sieht Fördermaßnahmen der Europäischen Gemeinschaft auf diesem Gebiet vor. Aus ökonomischer Sicht besteht keine Notwendigkeit einer EG-weiten 1751
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Finanzierung des kulturellen Erbes. Kulturelle Angebote können, soweit ein Interesse daran besteht, aus Gebühren, Eintrittspreisen u.ä. von den Nutzern direkt finanziert werden. EG-Subventionen kommen höchstens zur Deckung eines darüber hinausgehenden Optionsnutzens der EG-Bürger in Betracht. Dessen Existenz ist jedoch schwer faßbar. Die Frage des Optionsnutzens wird daher leicht zu einem Objekt wirtschaftlicher Spekulationen. Zu Recht macht daher Art. 128 Abs. 5 EG-Vertrag solche Fördermaßnahmen von der Einstimmigkeit des Rates abhängig. Größere finanzielle Verpflichtungen der Europäischen Gemeinschaft auf diesem Gebiet sind infolgedessen in absehbarer Zukunft nicht zu erwarten. 68. Europaweite Rechtsregeln sind den öffentlichen Gütern zuzurechnen. Sie wirken als Standards der zwischenmenschlichen Kommunikation. Wenn Menschen dieselben Standards anwenden, so erleichtert dies die Verständigung unter ihnen. Koordinierte Standards senken die Transaktionskosten. Der Gedanke gilt namentlich für Standards im Industrieund im Dienstleistungsbereich. Insbesondere die transnationalen Netze von Eisenbahnen, Telekommunikation, Post und Fernsehen kommen für eine Vereinheitlichung in Betracht. Diese mag eine EG-weite Koordination erfordern. Doch ist Vorsicht am Platz. Standardisierung bringt zwar eine Senkung der Transaktionskosten, aber auch eine Einschränkung der Vielfalt mit sich, die bei unterschiedlichen Bedürfnissen erwünscht wäre. Ferner wird das Suchen nach neuen Lösungen durch die Standardisierung erschwert. Standardisierung ist vornehmlich in jenen Bereichen angezeigt, in denen auf wettbewerbliche Suchprozesse nicht vertraut werden kann. Konsequenzen für die Finanzverfassung der Europäischen Gemeinschaft 69. Die derzeitige Finanzverfassung der Europäischen Gemeinschaft beruht auf den drei Grundsätzen der begrenzten Einzelermächtigung, der Eigenmittelplafondierung und der Budgetdeckung, d. h. der Finanzierung der Ausgaben aus laufenden Mitteln. Eine nachhaltige Änderung wäre erst bei ei1752
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nem Ubergang von der Europäischen Union zu einem europäischen Bundesstaat angezeigt. Dann entstünde eine Vielzahl neuer gemeinsamer Anliegen, welche einer gemeinsamen Finanzierung bedürften. Gegenwärtig sind solche gemeinsamen Anliegen, wie die vorangegangene Analyse der Fonds und der europaweiten öffentlichen Güter gezeigt hat, kaum vorhanden. Die Finanztranfers über die Fonds sind in der Vergangenheit eher zu weit getrieben worden. Eine Bereitstellung europaweiter öffentlicher Güter mag vereinzelt erforderlich sein. N e u e finanzpolitische Kompetenzen sind zu deren Erfüllung in der Regel aber nicht geboten. 70. Die Finanzverfassung der Europäischen Gemeinschaft sollte allerdings nicht so starr sein, daß sie sich ausschließlich am Status quo der Integration ausrichtet. Neben den heute absehbaren Aufgaben muß den noch unbekannten zukünftigen kollektiven Bedürfnissen der Gemeinschaft Rechnung getragen werden. Unbekanntes läßt sich naturgemäß nicht konkret benennen, aber es läßt sich ein Verfahren angeben, mittels dessen solche Bedürfnisse zu gegebener Zeit geltend gemacht werden können. In der Europäischen Gemeinschaft dienen derzeit Einzelermächtigungen im Verbund mit Eigenmittelplafondierungen diesem Zweck. Derart ist einem spezifischen Bedarf an gemeinschaftsweiten öffentlichen Gütern zu entsprechen, doch müssen eben gleichzeitig die Mittel dafür bereitgestellt werden, sei es, daß bestehende Ausgabenprogramme gekürzt oder sei es, daß zusätzliche Einnahmen beschlossen werden. Letzteres bedarf der Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten. Minderheiten können nicht überstimmt werden. Der Einstimmigkeitsgrundsatz mag auf den ersten Blick als integrationsfeindlich erscheinen. Aber er ist die Voraussetzung dafür, daß die Mitgliedstaaten überhaupt bereit sind, kollektive Beschlüsse dieser Art zu akzeptieren. Mehrheitsbeschlüsse hätten desintegrative Folgen. Sie böten überstimmten Minderheiten Anreize, den Integrationsprozeß eher zu bremsen, als ihn voranzubringen. 71. Die bestehende EG-Finanzverfassung gibt der europäischen Finanzpolitik insgesamt eine tragfähige Grundlage. Jedoch 1753
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ist sie gefährdet. Zum einen wird im EG-Haushalt das Prinzip der Budgeteinheit mißachtet. Dieser Grundsatz erfordert, daß alle Einnahmen, auch jene aus Anleihen, und alle Ausgaben in das Budget eingestellt und auf dem verfassungsmäßig vorgeschriebenen Weg verabschiedet werden. Das EGBudget genügt dieser Anforderung nicht. Die von Kommission und Rat zunehmend über die Hintertür des Art. 235 EG-Vertrag aufgenommenen Anleihen gehen am ordentlichen Haushalt vorbei. Es sollte daher das in Art. 199 EGVertrag verankerte Prinzip der Budgeteinheit strikt eingehalten werden. Es bleibt zum anderen das Problem der Verschuldungsmöglichkeit selbst. Art. 201 EG-Vertrag verlangt zwar die Budgetdeckung ausschließlich aus laufenden Einnahmen. Dennoch besteht eine unverkennbare Verschuldungsneigung der EGBehörden. Eine Verschuldung auf EG-Ebene läßt sich aber nicht rechtfertigen: Fordert die Europäische Gemeinschaft von ihren Mitgliedstaaten mehr Geld, so können sich diese die zu erbringenden Mittel durchaus über Verschuldung verschaffen, wenn sie Einsparungen oder Steuererhöhungen als ausgeschlossen betrachten. Als Staaten haben sie die Möglichkeit, sich kostengünstig auf dem Kapitalmarkt zu verschulden. Die Europäische Gemeinschaft braucht ihnen dies nicht abzunehmen. Daher sollte es bei der Finanzierung des EGHaushalts aus laufenden Einnahmen bleiben. 3.3.2 Zu den Finanzverfassungen der Mitgliedstaaten 72. Die Erfüllung staatlicher Aufgaben bleibt weiterhin ganz überwiegend in der Autonomie der Mitgliedstaaten. Dementsprechend obliegt diesen auch die Finanzierung. Bleibt die nationale Finanzautonomie somit in ihrem Kern unangetastet, wird sich der Handlungsspielraum für die nationale Finanzpolitik zukünftig verengen. Denn mit dem Wegfall der Binnengrenzen verschärft sich der Wettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten um mobile Produktionsfaktoren. Die Attraktivität der nationalen Standorte wird durch die Gestaltung der staatlichen Leistungsangebote und deren Finanzierung beeinflußt. 1754
Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische Union
Die theoretische Analyse der möglichen Folgen dieses Wettbewerbs zwischen den einzelstaatlichen Leistungs- und Finanzierungssystemen führt je nach den gesetzten Annahmen (vor allem über den Grad der Mobilität der Faktoren, die aufzuwendenden Transaktionskosten und die Bedeutung anderer als staatlich geprägter Standortfaktoren) zu unterschiedlichen Ergebnissen. In dem einen Extremfall wird befürchtet, der Wettbewerb der Systeme sei ruinös. Unter dem Abwanderungsdruck mobiler Faktoren würden die Möglichkeiten einer Umverteilungspolitik sowie einer Bereitstellung von Infrastruktur unvertretbar schrumpfen. In dem anderen Extremfall wird gehofft, der Wettbewerb würde die Expansion staatlicher Aktivitäten nicht nur begrenzen, sondern auch die inhaltliche Ausgestaltung des staatlichen Leistungsangebots und dessen Finanzierung verändern. Die Staatstätigkeit würde den Präferenzen der Bürger in hohem Maße entsprechen und der Wettbewerb würde auch im Bereich staatlicher Leistungen zu Innovationen anregen. Die Annahmen, unter denen die beiden extremen Ergebnisse erzielt werden, sind realitätsfern. Ein Wettbewerb der Systeme war bereits vor der Vollendung des Binnenmarktes durchaus zu beobachten. Er brachte keine extremen Resultate hervor. Sollte die Intensivierung des Wettbewerbs im Binnenmarkt zu ruinösen Entwicklungen führen, so wäre eine EG-weite Koordination der Besteuerung jedenfalls dann veranlaßt, wenn die Möglichkeiten einer intergouvernementalen Kooperation ausgeschöpft sind. Schon jetzt kann geprüft werden, ob die Mitgliedstaaten grundsätzlich in der Lage sind, mögliche negative Konsequenzen eines Wettbewerbs in der Besteuerung durch eigene und damit dezentrale Maßnahmen zu überwinden. Der Beirat begründet im folgenden seine Einschätzung, daß eine EG-weite Koordination bei den Steuern auf Arbeits- und Kapitaleinkommen vorläufig nicht, bei den Konsumsteuern dagegen schon heute erforderlich ist. Steuern auf das
Arbeitseinkommen
73. Zu den ergiebigsten Steuern gehören in der Europäische Gemeinschaft die Steuern auf das Arbeitseinkommen. Zwar wird die Besteuerung des Faktors Arbeit aus einer Reihe von 1755
Gutachten vom August 1994
Gründen kritisiert, so insbesondere weil sie eine Abwanderung in die Freizeit und die Schattenwirtschaft bewirke. Das hat im Zuge von nationalen Steuerreformen zu Änderungen und in einigen EU-Staaten auch zu einer Verringerung der Besteuerung der Arbeitseinkommen geführt. Gleichwohl ist die Besteuerung der Arbeitseinkommen eine der wichtigsten Steuerarten geblieben. Die Wahrscheinlichkeit, daß die volle Freizügigkeit der Arbeitskräfte in der Union Wanderungen bewirken wird, die Hochsteuerländer zu einer Senkung ihrer Steuern auf Arbeitseinkommen zwingt, ist gering einzuschätzen. Denn die durch soziale Bindungen, Verschiedenheit der Sprache und nationale Kulturen begründeten Mobilitätshemmnisse werden vorerst kaum gemindert fortbestehen. Dazu paßt, daß sich die EG-Staaten in den letzten 20 Jahren nicht in eine verstärkte Steuerkonkurrenz begeben haben, obwohl Mobilitäts- und Niederlassungsbarrieren in der Europäischen Gemeinschaft abgebaut worden sind. Erfahrungen aus der Schweiz stützen diese Einschätzung. In diesem Land betreiben die 26 Kantone eine autonome, untereinander kaum abgestimmte Politik der Besteuerung der natürlichen Personen, ohne daß es bisher zu einer gegenseitigen Auszehrung der kantonalen Besteuerungsbasen gekommen wäre. Die Steuererträge reichen aus, um nicht nur die kantonale Infrastruktur, sondern auch einen Großteil der fiskalischen Umverteilung (ausgenommen die Rentenversicherung) zu finanzieren. Bundeseinheitlich wird nur die in ihrem Gewicht relativ bescheidene direkte Bundessteuer erhoben. Obwohl die steuerlichen Belastungen der natürlichen Personen, d.h. insbesondere der Arbeitseinkommen, nicht unbeträchtliche interkantonale Unterschiede aufweisen, gibt es, wie empirische Studien zeigen, keine wesentlichen Wanderungen, die hierauf zurückgeführt werden könnten.
Steuern auf das
Kapitaleinkommen
74. Größere Probleme stellen sich demgegenüber bei der Besteuerung von Kapitaleinkommen. Kapital ist erheblich mobiler als Arbeit. Die volle Verwirklichung der Grundfreiheiten 1756
Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische U n i o n
dürfte die Kapitalmobilität weiter erhöhen. Das hat weitreichende Folgen für die nationale Kapitaleinkommenbesteuerung. Die derzeitigen Probleme mit der Zinsbesteuerung belegen dies. Die Konsequenzen einer Kapitaleinkommenbesteuerung lassen sich anschaulich am Grenzfall der vollkommenen Kapitalmobilität illustrieren. Die Nettoertragsrate, die das Kapital im Rest der Welt verdienen kann, muß dann auch zu Hause angeboten werden. Jede Besteuerung des Faktors Kapital führt unter diesen Bedingungen zu dessen Abwanderung. Im Inland geht das Kapitalangebot so lange zurück, bis die Nettoertragsrate wieder dieselbe ist wie im Rest der Welt. Getragen wird die Kapitaleinkommenbesteuerung von den immobilen Faktoren, wie umgekehrt eine steuerliche Entlastung des Kapitaleinsatzes, die die Kapitalkosten verringert, die Einkommen der immobilen Faktoren erhöht. Denn die Steuersenkung läßt zusätzliche Investitionspro)ekte rentabel werden. Infolgedessen steigt das Volkseinkommen und mit ihm auch das Einkommen der immobilen Faktoren. Selbst wenn die immobilen Faktoren herangezogen werden, den Steuerausfall wettzumachen, liegt es immer noch in ihrem Interesse, daß die Kapitalbesteuerung abgeschafft wird. 75. Die Realität weicht aus mehreren Gründen von diesem Extremmodell ab. — Auch der Faktor Kapital ist nicht völlig mobil. Unternehmen haben ressourcenspezifische Standortvorteile, sie brauchen vielfach die Nähe zu Absatzmärkten, und sie ziehen in der Regel Vorteile aus der räumlichen Nähe zu anderen Unternehmen. Auch Währungsrisiken verhindern die völlige Elimination von internationalen Renditedifferentialen. Dieses Mobilitätshindernis wird in der Europäischen Währungsunion allerdings fortfallen. Eine Besteuerung der Kapitaleinkommen ist daher zukünftig noch in dem Maße möglich, wie die verbleibenden Mobilitätshemmnisse greifen und so die Mobilität des Kapitals mindern. — Die Beherbergung des Sachkapitals verursacht Infrastrukturkosten am betreffenden Ort. N u r wenn das Unterneh1757
Gutachten v o m August 1994
men diese Kosten längerfristig über Steuern trägt, wird die Gebietskörperschaft bereit sein, dem Unternehmen Niederlassung zu gewähren. Die marginalen Infrastrukturkosten stellen somit das Mindeststeuerniveau dar, das auch dann nicht unterschritten werden könnte, wenn das Kapital vollkommen mobil wäre. 76. O b die so erzielbaren Steuererträge noch ausreichen, um das Infrastrukturangebot kostendeckend zu finanzieren, stellt eine in der Wissenschaft umstrittene Frage dar. Insbesondere bei zunehmenden Skalenerträgen in der Nutzung könnte es — so wird gesagt — im Falle eines Standortwettbewerbs unter den Mitgliedstaaten zu nicht kostendeckenden Steuererträgen kommen. Der Beirat ist jedoch mehrheitlich der Auffassung, daß eine solche Gefahr derzeit nicht besteht. Viele staatliche Leistungen haben ähnliche Rivalitätseigenschaften wie private Güter. Die zusätzlichen Kosten, die eine einzelne zuziehende Unternehmung über ihre Steuern tragen muß, sind damit nicht niedriger als jene, die die schon ansässigen Unternehmen tragen. Trotzdem wird die Erosion der Kapitaleinkommensteuern bis zu dieser kostendeckenden Untergrenze wohl anhalten. Als Umverteilungsinstrument eignen sich diese Steuern insoweit nicht mehr. Dies ist jedoch nicht unbedingt zu bedauern. Denn die über Kapitaleinkommensteuern erzielte Doppelbesteuerung der Ersparnis wirkt effizienzmindernd und geht zu Lasten des Wirtschaftswachstums. Überdies ist die Wirkungsrichtung der Umverteilung über Kapitaleinkommensteuern unklar. Von alledem abgesehen können Kapitaleinkommensteuern in ihrer Idealform als Steuern auf den Vermögenszuwachs ohnehin nicht erhoben werden. 77. Es gibt eine Alternative zu den Kapitaleinkommensteuern, der diese Mängel nicht in gleichem Maße anhaften: die Cashflow-Steuern. Ihr gemeinsames Wesensmerkmal ist die Möglichkeit der Sofortabschreibung der in der Periode getätigten Investitionen bei gleichzeitiger Besteuerung der Gewinne (Zahlungsüberschüsse) aus den Altanlagen zu einem einheitlichen Satz. Je nach der Spielart dieser Steuern können auch die Zinseinkommen der Haushalte (bei gleichzeitiger Ab1758
Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische Union
zugsfähigkeit der Schuldzinsen) steuerlich belastet werden. Zu einer Kapitalflucht k o m m t es dann nicht, wenn die Zinsen nach dem Quellenlandprinzip mit einer Quellensteuer (die in der Regel nicht hinterziehbar ist) belastet werden. Damit wird einem wichtigen Anliegen der Bundesregierung Rechnung getragen. U m Verzerrungen zu vermeiden, ist es dann allerdings wichtig, daß die Zinseinkommen zu den gleichen Sätzen wie die einbehaltenen Gewinne belastet werden. Marginale Investitionsprojekte, die durch die traditionelle Kapitaleinkommenbesteuerung verdrängt werden, bleiben bei Cash-flow-Steuern hinsichtlich der Normalverzinsung des Kapitals steuerfrei. So gesehen ist diese Steuer investitionsneutral. Jeder Mitgliedstaat hat ein Interesse, eine solche Steuer aus eigenem Antrieb einzuführen, wenn die Mobilität des Kapitals unter seinem gegenwärtigen Steuersystem zu einem größeren Problem wird. Einer europaweiten Koordination bedarf es dann nicht. Konsumsteuern 78. Zu fragen bleibt nach dem Reform- und Harmonisierungsbedarf bei der Konsumbesteuerung, der zweiten großen Säule des Steuersystems. Die große allgemeine Konsumsteuer ist heute in allen Ländern der Gemeinschaft die Mehrwertsteuer. Sie wird auf allen Produktions- und Handelsstufen erhoben, jedoch jeweils abzüglich der auf Vorleistung schon gezahlten Steuer. Auch die Vorsteuer auf Investitionen ist sofort und voll abzugsfähig. Im internationalen Handel wenden alle westlichen Industrieländer, soweit sie überhaupt eine Mehrwertsteuer haben, das sogenannte Bestimmungslandprinzip an. Dabei werden die Exporte von der Mehrwertsteuer freigestellt und vom Importland mit dessen Mehrwertsteuer nachbelastet. D e r internationale Wettbewerb findet also — im gewerblichen Bereich — auf der Basis der Erzeugerpreise ohne Mehrwertsteuer statt. D i e Belastung des Konsums richtet sich nach den Steuersätzen des Landes, in dem die Konsumausgabe getätigt wird. 1759
vom August 1994
Damit sind zugleich die beiden Merkmale bezeichnet, die den Siegeszug der Mehrwertsteuer begründet haben. Sie liegt, anders als die Einkommensteuer, nicht auf Investitionen — genauer: nicht auf Ersparnissen —, ist also keine wachstumsschädliche Steuer. Und sie ist selbst bei beliebig großen Steuersatzunterschieden, von Gut zu Gut und von Land zu Land, eine wettbewerbsneutrale Steuer, verzerrt also die Bedingungen für die internationale Arbeitsteilung nicht. Bei all diesen Vorzügen, die keinen gemeinschaftlichen Regulierungsbedarf anzeigen, gibt es doch auch Unvollkommenheiten in administrativer, in allokativer und in fiskalischer Hinsicht. Die Erhebung der Mehrwertsteuer ist nach dem Wegfall der innergemeinschaftlichen Steuergrenzen für die Unternehmen und die Finanzämter schwieriger geworden. Die einfache Kontrolle des Exportvorgangs an der Grenze gibt es nicht mehr. Entscheidend ist jetzt die Meldepflicht des versendenden und des empfangenden Unternehmens einer grenzüberschreitenden Lieferung, verbunden mit den entsprechenden Kontrollaufgaben. Es gibt eine lange Liste von Klagen aller Beteiligten über das neue Verfahren, das auch von vornherein nur als Zwischenlösung eingeführt worden ist, weil man sich nicht rasch genug auf Besseres hat einigen können. Die Mehrwertsteuer ist nicht uneingeschränkt wettbewerbsneutral. Der nichtgewerbliche Verkehr, also der grenzüberschreitende Kauf privater Haushalte in der Europäischen Gemeinschaft, unterliegt einem anderen Besteuerungsprinzip als der gewerbliche. Für die privaten Haushalte gilt das Prinzip des Ausgabenorts. Sie können überall im Binnenmarkt Güter kaufen und diese entweder dort verbrauchen oder — seit dem 1. Januar 1993 — ohne steuerliche Konsequenzen in ihr Heimatland überführen. Ausnahmen gelten nur für den Kauf neuer Fahrzeuge und für den Versandhandel. Auf diese Weise können sie gleichsam Umsatzsteuerarbitrage betreiben, indem sie Niedrigsteuerländer bevorzugen. Das hat allokative Konsequenzen für die internationale Arbeitsteilung im Bereich des Einzelhandels und der Dienstleistungen für
Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische U n i o n
Touristen. Der etwa nötige Verzicht auf den günstigen Wohnstandort oder die Mehrkosten an Zeit und Geld, die der Einkauf im Ausland verursacht, halten die Auswirkungen zwar in Grenzen, jedoch nicht in jedem Falle gering. Bei Gütern von hohem Wert und geringen Transportkosten, kostbarem Schmuck zum Beispiel, lohnt sich eine Einkaufsfahrt wegen merklicher Steuersatzunterschiede am ehesten. Ihre Hauptbedeutung hat die Steuersatzarbitrage aber wohl im Tourismus. Die Verteilung von Steuerquellen ist Verteilung von Vermögen und Verteilung der Anreize, sie auszubeuten und zu pflegen. Die Mehrwertsteuerrichtlinie der Europäischen Gemeinschaft hat die Steuerquelle „Konsumausgaben", genauer: die Bemessungsgrundlage der Mehrwertsteuer, ausschließlich dem Land zugeteilt, in dem die Konsumausgabe stattfindet. Das war angesichts der Gründe, die für das Bestimmungslandprinzip sprachen, verständlich, es war fiskalisch gesehen nicht vernünftig. Daß das Steueraufkommen dem Ort — hier: dem Staat — der Konsumausgabe folgt, mag für eine lokale Umsatzsteuer, wie es sie in großen Teilen der Welt auch heute noch gibt, ein vernünftiges Prinzip sein, nicht aber für eine der beiden großen Steuern des Steuersystems. Es fehlt hier an Ubereinstimmungen zwischen Besteuerungsidee und Zuordnung des Steueraufkommens. In dem N a m e n „Mehrwert"-Steuer lebt die Besteuerungsidee noch fort, die dann — um der Wettbewerbsneutralität im internationalen Handel willen — mit der Freistellung der Exporte und der Nachbesteuerung der Importe ignoriert wurde. Die Zuweisung des Steueraufkommens nach der anteiligen Wertschöpfung, die zur Mehrwertsteuer eigentlich gehört, käme allgemeinen Äquivalenzvorstellungen bezüglich Staatsleistungen und Besteuerung entgegen und trüge auch der Tatsache Rechnung, daß schon die andere große Steuer des Steuersystems, die Einkommensteuer, im wesentlichen nach dem Wohnsitzlandprinzip und damit nach einem dem Prinzip des Ausgabenorts sachlich nahen Kriterium erhoben wird. Die Durchbrechung des Prinzips der Besteuerung auf allen Produktions- und Handelsstufen im Falle der Ausfuhr — und dann folgerichtig die Nachbesteuerung der Einfuhr — hat fis1761
Gutachten vom August 1994
kaiisch eine doppelte Folge. Der Staat geht beim Mehrwertsteueraufkommen leer aus, wenn Güter exportiert werden und seine Bürger sie oder andere jenseits der nationalen Grenze kaufen. Das ist bedeutsam entsprechend dem Saldo beim Reiseverkehr und bei der Direkteinfuhr. Ebenso geht der Staat beim Mehrwertsteueraufkommen leer aus, wenn Güter exportiert werden, die den Realtransfer zu einer gleichzeitigen Kapitalausfuhr bilden. Man kann dies auch so sehen: Bei einer Mehrwertsteuer, die nach dem Bestimmungslandprinzip erhoben wird, liegt die Steuerbefreiung von Investitionen nicht in der fiskalischen Last desjenigen Landes, in dem eine Investition stattfindet, sondern in der Last des Landes, aus dem die reale Alimentation der Investition — letztlich die Ersparnisbildung — stammt. Das ist bedeutsam entsprechend den Salden beim Kapitalverkehr. Die fiskalischen Fehlanreize, die die Zuteilung des Mehrwertsteueraufkommens nach dem Prinzip des Ausgabenorts mit sich bringt, wirken sich vor allem im Bereich des Tourismus, nicht zuletzt des Einkaufstourismus, aus. Staatliche Stellen streben verständlicherweise danach, Steueraufkommen auf sich zu ziehen. Die Förderung des Ausländertourismus gehört heute in etlichen Ländern zu den Schwerpunkten ihrer entwicklungspolitischen Strategie. Das hat legitime, aber auch illegitime Gründe. Tourismusförderung lohnt sich, solange solche Subventionierung weniger kostet, als die von ihr bewirkte Verlagerung von Konsumausgaben vom Ausland ins Inland an zusätzlichen Mehrwertsteuereinnahmen einbringt. Denn Mehreinnahmen sind hier zu gewinnen nach Maßgabe des Umsatzes, nicht nur, wie es gerechtfertigt wäre, nach Maßgabe der inländischen Wertschöpfung. Die Sache wird nicht harmlos, wenn es zu einer Verlagerung von Ausgaben überhaupt nicht kommt, etwa weil die Nachbarländer die Herausforderung zur Förderkonkurrenz annehmen, zum Beispiel, wie es alltäglich ist, die Konkurrenz um den Einkaufstourismus in grenznahen Gebieten. Das Ergebnis ist dann eine unsinnige Förderung des für den Tourismus bedeutsamen Leistungsangebots allüberall.
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Ordnungspolitische Orientierung f ü r die Europäische U n i o n
80. Die administrativen Unzuträglichkeiten der Zwischenlösung bei der Erhebung der Mehrwertsteuer im grenzüberschreitenden innergemeinschaftlichen Handel sollen behoben werden — den erklärten Absichten nach ab 1997 —, indem Inländer und Ausländer steuertechnisch gesehen gleichbehandelt werden. Die Freistellung der Exporte im Ursprungsland einer Lieferung wird aufgehoben, ebenso die Nachbelastung der Importe. Der Vorsteuerabzug im Bestimmungsland tritt dann an die Stelle des „Grenzausgleichs". Dabei ergeben sich Verlagerungen im Steueraufkommen aufgrund der von Land zu Land unterschiedlichen Steuersätze, sowie auf Grund der unausgeglichenen bilateralen Handelsbilanzen. Diese sollen kompensiert werden mit Hilfe eines Clearing-Systems der Mitgliedstaaten. Einfach wird auch dies nicht sein. Man spricht hinsichtlich des neuen Verfahrens amtlicherseits von einem Übergang zum Ursprungslandprinzip. Das ist aber eher irreführend, weil nur an äußerlichen Faktoren, dem Wegfall des Grenzausgleichs für das einzelne Handelsgeschäft, anknüpfend. Sachlich bleibt es beim Bestimmungslandprinzip. Der Wettbewerb im internationalen Handel spielt sich weiterhin auf der Basis der Erzeugerpreise ohne Mehrwertsteuer ab. Importgüter bleiben auf der Konsumstufe mit dem im Inland geltenden Satz belastet, und dem inländischen Fiskus steht das so erzielte Steueraufkommen letztlich zu. 81. Der Anreiz zur unerwünschten Umsatzsteuerarbitrage der Konsumenten läßt sich abbauen durch Abbau der internationalen Unterschiede in den Steuersätzen. Das ist auch in Gang gekommen. Die Mitgliedstaaten haben gemeinschaftlich Bandbreiten für die zulässigen nationalen Mehrwertsteuersätze festgelegt und verabredet, daß künftige Steuersatzänderungen auf Konvergenz der Steuersätze in der Gemeinschaft hinauslaufen müssen. Daß man hier den Weg der zentral dekretierten Mindestharmonisierung beschritten hat, war sachgerecht. Dem steuerpolitischen Wettbewerb der Mitgliedstaaten hat man die gewünschte Konvergenz der Steuersätze nicht anvertrauen können und nicht anvertrauen wollen. Die Hebelwirkung der von einer wachsenden Direkteinfuhr verletzten Interessen reichte für den nötigen Angleichungsdruck 1763
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vermutlich nicht aus; dafür hat selbst eine wesentlich erhöhte Direkteinfuhr gesamtwirtschaftlich ein zu geringes Gewicht. U n d selbst wenn es sich anders verhielte, gäbe es Einwände. Die Mehrwertsteuer ist eine Steuer, bei der man sich am wenigsten zu wünschen hat, daß die Ergiebigkeit der Steuerquelle unter dem steuerpolitischen Wettbewerb der Mitgliedstaaten leidet. Denn sie gehört ihrer Wachstumsneutralität wegen zu den vergleichweise am wenigsten ungünstig zu beurteilenden Steuern. Radikaler hätte man das Problem der arbitragebedingten Direkteinfuhr nur angehen können durch einen Systemwechsel. Bei einem Ubergang vom Prinzip des Vorsteuerabzugs zum Vorumsatzabzug, verbunden mit einer Aufhebung des Grenzausgleichs, also einem Ubergang zum echten Ursprungslandprinzip, käme es zu einer Einebnung der internationalen Preisunterschiede auf der Ebene der Konsumentenpreise; denn der internationale Wettbewerb findet dann durchgängig auf der Basis von Preisen einschließlich Mehrwertsteuer statt. Insoweit entfiele der Anreiz zur Direkteinfuhr. Eine solche Lösung hätte trotz des Fortfalls der Grenzkontrollen wesentliche Vorzüge des europäischen Mehrwertsteuersystems bewahrt. So hätte die wachstumsfördernde Steuerbefreiung der Investitionen trotz unterschiedlicher nationaler Steuersätze Bestand gehabt. Es hätte allerdings mindestens zwei Probleme gegeben. Erstens hätten sich internationale Unterschiede im Maß der Mehrwertsteuervergünstigungen, wie sie durch reduzierte Steuersätze gewährt werden, in Wettbewerbsverzerrungen niedergeschlagen. Zweitens wären massive Wechselkursänderungen nötig gewesen, um den Wegfall der Steuerbefreiung der Ausfuhr und der Nachbelastung der Einfuhr auszugleichen. Da beim echten Ursprungslandprinzip der Grenzausgleich auch gegenüber Drittländern hätte wegfallen müssen — zur Vermeidung von Umwegeinfuhren —, wären es gegenüber Drittlandswährungen Wechselkursänderungen nach Maßgabe der vollen Mehrwertsteuerbelastung gewesen! Es kann dahingestellt werden, für wie gravierend diese Nachteile im Vergleich zur Lösung der administrativen Aufgaben des Clearing-Systems sowie der mit dem Tourismus und den Direktkäufen verbundenen Proble1764
Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische U n i o n
me zu halten sind. Verständlich und vertretbar wird aber die politische Entscheidung, es trotz der Aufhebung der Steuergrenzen beim Bestimmungslandprinzip in Europa zu belassen, zumal wenn sie von einer weiteren Harmonisierung der Steuersätze begleitet wird. 82. Auch die Nachteile, die das Bestimmungslandprinzip bezüglich der Zuordnung des Steueraufkommens aufweist und die sich letztlich aus der Durchbrechung des Prinzips der Besteuerung auf jeder Produktions- und Handelsstufe ergeben, ließen sich im Grunde nur durch einen Systemwechsel beheben. Beim echten Ursprungslandprinzip — d.h. beim Vorumsatzabzug — wäre das Steueraufkommen konsequent nach Maßgabe der Wertschöpfungsanteile zugeteilt. Die Verantwortung für die H ö h e der Steuersätze und der Anspruch auf das Steueraufkommen fielen zusammen. Einen Bedarf an zentral dekretierter (Mindest-) Harmonisierung der Steuersätze gäbe es nicht, auch keine fiskalischen Fehlanreize zur übermäßigen Förderung des Tourismus, namentlich des Einkaufstourismus. D a dieses Konzept aber wohl nicht mehr zur Wahl steht, mag man versuchen, das geplante ClearingSystem so auszugestalten, daß das Ergebnis des Clearings der Verteilung des Steueraufkommens beim Vorumsatzabzug einigermaßen nahekommt. Ohne erhebliche Willkür bei der Festlegung der dafür nötigen Kriterien wird das freilich kaum möglich sein, von dem gewiß erscheinenden Widerstand der „Verlierer" einer solchen Reform ganz zu schweigen. 3.3.3 Stabilitätspolitische Budgetregeln 83. Stabilitätspolitische Budgetregeln dienen dem Zweck, die Verschuldung öffentlicher Haushalte in vorbestimmten Grenzen zu halten. Ihr ordnungspolitischer Rang besteht darin, daß sie dem Grundsatz der Finanzierung von Staatsausgaben durch Steuern Anerkennung verschaffen. Sie wirken einerseits als Bremse für das Wachstum der Staatsausgaben und verhindern andererseits, daß der finanzpolitische Spielraum durch einen stetig steigenden Schuldendienst immer mehr verengt wird. Unter längerfristigem Aspekt sichern Budgetregeln, daß es für zukünftige Generationen 1765
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nicht zu einem Mißverhältnis zwischen dem Wert der ihnen vererbten staatlichen Infrastruktur und der zu übernehmenden Schuldenlast kommt. 84. Der Vertrag von Maastricht sucht einer übermäßigen Verschuldung der Mitgliedsländer durch Obergrenzen von 3 Prozent bzw. 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Defizit und Schuldenstand vorzubeugen. Im Rahmen der künftigen Europäischen Union werden effektive Begrenzungen der Verschuldung sogar wichtiger, weil die zinstreibende Wirkung einer übermäßigen Beanspruchung des Kapitalmarkts durch einzelne Mitgliedsländer sich bei gemeinsamer Währung auf die Kreditkosten aller Länder auswirkt. Ein Anstieg des realen Zinsniveaus für die gesamte Union verdrängt private Investitionen auch in den finanzpolitisch disziplinierteren Ländern. Solche Wohlfahrtsverluste könnten vielleicht hingenommen werden, wenn gesichert wäre, daß die öffentliche Verschuldung nur der Finanzierung wachstumsfördernder Investitionen in die Infrastruktur diente. O h n e eine begrenzende Budgetregel ist aber nicht damit zu rechnen, daß eine Schuldenfinanzierung staatlichen Konsums unterbleibt. Allerdings verlieren die Mitgliedsländer mit dem Eintritt in die Union und der Aufgabe nationaler Währungen ihre geldpolitische Autonomie. Sie können nicht länger darauf gehen, durch überraschende Geldwertverschlechterung den Realwert der Staatsschuld senken und auf diese Weise die zukünftige Haushaltsbelastung mildern zu können. Dies für sich gesehen läßt erwarten, daß die Länder in der Union eine zurückhaltendere Schuldenpolitik betreiben werden als bisher. Andererseits setzt die Union auch Bedingungen, die eine stärkere Verschuldung begünstigen. So entsteht, insbesondere für einige südeuropäische Länder, mit dem Wegfall selbstbestimmter inflationärer Geldemission eine Finanzierungslücke, die leichter durch zusätzliche Verschuldung als durch eine kompensierende Kürzung der Staatsausgaben oder ein Anheben der Besteuerung geschlossen werden kann. Vor allem kommt es in der Union im Vergleich zu heute zu einer Senkung der effektiven Kreditkosten für hochverschuldete Mitgliedsländer. Zum einen entfällt der Risikozuschlag für 1766
Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische U n i o n
Abwertungsverdacht auf Verschuldung, die in anderen Mitgliedsländern gehalten wird; zum anderen ist damit zu rechnen, daß Bonitätsrisiken zu geringeren Risikozuschlägen als bisher führen werden, weil die Glaubwürdigkeit des gegenseitigen Haftungsausschlusses der Mitgliedsländer in Frage steht. Dieser Entlastungseffekt bei den staatlichen Zinsausgaben und der Umstand, daß im größeren Kapitalmarkt verschuldungsbedingte Zinssteigerungen geringer ausfallen, weil sie sich auf alle Volkswirtschaften verteilen, begünstigt die Tendenz zur Ausweitung nationaler Staatsverschuldung. 85. Insgesamt gesehen ist die Gefahr, daß einzelne Länder sich in der Union eher mehr denn weniger verschulden werden, nicht gering zu schätzen. Deshalb sieht der Vertrag von Maastricht eine abgestufte Folge von Sanktionen für den Fall vor, daß ein Mitgliedsland die Obergrenzen für Defizit und Schuldenstand überschreitet. Vor allem wird in Art. 104 b EG-Vertrag eine gegenseitige Haftung der Mitgliedsländer für die Staatsschuld ausgeschlossen. Der Haftungsausschluß ist von größter Bedeutung, weil er die Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten für unsolide Finanzpolitik festschreibt. Allerdings ist nicht sicher, daß die Mitgliedsländer jede Hilfe verweigern könnten, wenn es bei übermäßiger Verschuldung eines größeren Landes zu einer plötzlichen Vertrauenskrise an den Finanzmärkten käme, die die Solvenz von Kreditinstituten aller Unionsmitglieder bedrohte. Für diesen Fall müßte nicht nur mit Forderungen nach besonderen Garantien und Finanztransfers gerechnet werden, sondern auch mit erheblichem politischen D r u c k auf die Europäische Zentralbank, das Ziel der Preisstabilität hintanzusetzen. Insofern ist die Glaubwürdigkeit des Haftungsauschlusses in Frage gestellt. Deshalb gilt es vorbeugend zu verhindern, daß eine solche Lage überhaupt entstehen kann. Dazu bedarf es einer stabilitätspolitischen Budgetregel und ihrer Sicherung durch frühzeitige, fühlbare Sanktionen. 86. Allerdings ist darauf aufmerksam zu machen, daß unter realistischen Annahmen die im Vertrag von Maastricht festgelegte Obergrenze von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für den Schuldenstand nicht wird eingehalten werden können, 1767
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wenn die tatsächlichen Budgetdefizite bei normaler Kapazitätsauslastung nicht deutlich unter der Defizitobergrenze von 3 Prozent gehalten werden. Zunächst ist der funktionale Zusammenhang zwischen Defizitquote und Schuldenquote zu berücksichtigen. Ist die Obergrenze der Schuldenquote von 60 Prozent erreicht und wird die Defizitquote bei 3 Prozent gehalten, so nimmt die Schuldenquote nur dann nicht weiter zu, sofern das nominale Wachstum des Bruttoinlandsprodukts mindestens 5 Prozent beträgt. Weil es für das Einhalten der Obergrenzen nur auf nominales Wachstum ankommt, kann fehlendes reales Wachstum durch höhere Inflation kompensiert werden. Unter der Annahme, daß die Europäische Zentralbank das Ziel der Preisstabilität im Sinne einer Inflationsrate von 2 Prozent interpretieren wird, würde ein reales Wachstum von 3 Prozent es ermöglichen, die vorgesehene Verschuldungsgrenze einzuhalten. Ein so hohes Wachstum dürfte nur unter günstigen Umständen erreicht werden. Doch selbst eine solche Wachstumsrate würde für jene Mitgliedsländer nicht ausreichen, deren Schuldenquote schon heute 60 Prozent weit übersteigt. Um eine allmähliche Absenkung ihrer Schuldenquote in Richtung der festgesetzten Obergrenze zu bewirken, müßten diese Länder entweder ein dauerhaftes Wachstum von mehr als 3 Prozent erreichen, oder sie müßten einschneidende Konsolidierungsmaßnahmen ergreifen, um das um Zinsausgaben bereinigte Primärdefizit durch Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen zu senken, wenn nicht gar in einen Primärüberschuß zu verwandeln. 87. Der Beirat spricht sich daher dafür aus, die gewünschte Begrenzung der Verschuldung der Mitgliedsländer durch die Einführung einer Budgetregel abzusichern. Solange es an einer solchen Regel fehlt, kann nicht einmal damit gerechnet werden, daß die Defizitobergrenze von 3 Prozent eingehalten werden wird. Kein Land ist dann gehindert, schon in Zeiten guter Konjunktur den durch die maximale Defizitquote gegebenen Spielraum voll zu nutzen mit der unvermeidlichen Folge, daß die maximale Quote bei rückläufiger Konjunktur 1768
Ordnungspolitische O r i e n t i e r u n g für die Europäische U n i o n
automatisch überschritten wird. Zwar soll für diesen Fall die in Art. 104 c EG-Vertrag vorgesehene Haushaltsüberwachung durch die Kommission zum Tragen kommen. Aber im Falle einer Rezession werden Empfehlungen der Kommission bzw. des Europäischen Rats zur Defizitkorrektur innenpolitisch kaum durchsetzbar sein. Daher muß damit gerechnet werden, daß die 3-Prozent-Quote in der politischen Praxis zunächst als Normalquote interpretiert werden wird und bei häufiger werdenden Uberschreitungen durch mehrere Mitgliedsländer die Forderung nach einer Anhebung der Q u o t e aufkommen wird. Tatsächlich wurde diese Forderung schon vorgetragen. Eine solche Revision ist nach Art. 104 c Abs. 14 EG-Vertrag möglich. Weil die Obergrenze von 3 Prozent nicht unterlaufen werden darf, um ein weiteres Ansteigen der Schuldenquoten zu verhindern, ist es ratsam, mittels einer konjunkturbegleitenden Budgetregel dafür zu sorgen, daß die Defizitquote im mehrjährigen Durchschnitt unter 3 Prozent liegt. Diese Regel sollte einerseits für den Fall einer Rezession einen hinreichende Spielraum zur Neuverschuldung ermöglichen, damit auf rezessionsbedingte Steuerausfälle nicht mit prozyklischen Ausgabenkürzungen reagiert werden muß. Sie sollte andererseits für wirtschaftlich gute Zeiten einer normalen oder sogar überdurchschnittlichen Kapazitätsauslastung die zulässige Neuverschuldung durch deutlich niedriger liegende Obergrenzen beschränken, damit die Referenzwerte des Vertrages von Maastricht eingehalten werden können. 88. Der Beirat empfiehlt daher, zur vorbeugenden Sicherung gegen das Entstehen übermäßiger Defizite ergänzend zu Art. 104 c EG-Vertrag eine Regel einzuführen, die die jeweilige Konjunkturlage anhand gestaffelter Höchstsätze der Neuverschuldung berücksichtigt. Die maximale Defizitquote von 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts wäre durch eine an dem Grad der gesamtwirtschaftlichen Kapazitätsauslastung oder der konjunkturellen Schwankung des realen Wachstums ausgerichtete Staffel von Defizitquoten zu ersetzen. Die Einhaltung dieser Höchstsätze wäre von der Kommission nach einheitlichen Grundsätzen kontinuierlich zu überwachen. Dabei wären auch Schattenhaushalte zu berücksichtigen. 1769
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Im Unterschied zu der derzeitigen Bestimmung einer einzigen Höchstquote wäre eine solche Regel geeignet, das Verschuldungsverhalten der Mitgliedsländer glaubwürdig zu begrenzen. Sie würde dem Aufbau struktureller Defizite vorbeugen, weil die im Vertrag von Maastricht bestimmten Sanktionen frühzeitig zur Anwendung kämen, also nicht erst dann, wenn ein Land in einer Rezession über keinen finanzpolitischen Spielraum mehr verfügt. Wenn man es dahin kommen läßt, werden im Europäischen Rat Sanktionen politisch kaum durchsetzbar sein, insbesondere dann nicht, wenn mehrere Länder gegen das Gebot des Art. 104 c EGVertrag verstoßen. 89. Der Beirat hält es jedenfalls für geboten, die finanzpolitischen Bestimmungen des Art. 104 c EG-Vertrag strikt anzuwenden und durch frühzeitig einsetzende finanzielle Sanktionen zu härten. Das Ausmaß der Sanktionen sollte nicht erst im konkreten Anwendungsfall bestimmt werden, sondern vorweg an generell festgelegte Tatbestände geknüpft und somit nicht verhandelbar sein. Es empfiehlt sich, die Höhe der zu haltenden unverzinslichen Einlagen und der Geldbußen als Prozentsatz der unerlaubten Neuverschuldung festzusetzen. Die bisher vorgesehene Regelung dagegen wird finanzpolitische Disziplin kaum sichern können, weil der Europäische Rat ein nach Auffassung der Kommission bestehendes übermäßiges Defizit nicht feststellen muß und weil überdies mit einer solchen Feststellung keine unmittelbare Anwendung von Sanktionen verknüpft ist, sondern es dafür eines weiteren Beschlusses des Europäischen Rats bedarf. Wenig überzeugend ist auch die abgestufte Folge der Sanktionen. Viel Zeit kann mit wirkungslosen Empfehlungen des Rats zur Korrektur eines Defizits vergehen, bis schließlich zu finanziellen Sanktionen gegriffen wird, die nur als ultima ratio vorgesehen sind. Europäische Sozialpolitik Die Bereiche
90. Gelegentlich wird gefordert, die geplante Wirtschafts- und Währungsunion durch eine Sozialunion zu ergänzen. Gemeint sein kann eine Vereinheitlichung, eine Annäherung
Ordnungspolitische Orientierung f ü r die Europäische U n i o n
oder eine Koordination der einzelstaatlichen sozialpolitischen Vorschriften, und zwar hauptsächlich in folgenden Bereichen: Sozial- und arbeitsrechtliche Regulierungen, Sozialversicherungen und redistributive Ausgestaltung des Steuerund Transfersystems. Eine Sozialunion in Form einer vollen Vereinheitlichung aller drei Bereiche wird praktisch kaum in Betracht zu ziehen sein. Es stellt sich aber die Frage, inwieweit die Vollendung des Binnenmarktes und insbesondere die zunehmende internationale Mobilität der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital eine sozialpolitische Annäherung oder Koordination zwischen den Mitgliedstaaten erfordern. Im folgenden wird dargelegt, daß im Bereich der Sozialversicherung eine gegenseitige Abstimmung durchaus in Betracht kommt und in der Gesetzlichen Rentenversicherung auch seit langem praktiziert wird, während die Angleichung arbeits- und sozialrechtlicher Regulierungen erhebliche wirtschaftliche Probleme zur Folge haben kann. Was schließlich die Umverteilung über das Steuer- und Transfersystem angeht, so lassen sich zwar Argumente für eine Annäherung oder Koordination anführen; es ist jedoch fraglich, ob die empirischen Prämissen, von denen sie ausgehen, im Vielvölker-Kontinent Europa auf absehbare Zeit erfüllt sein werden. Bisheriger sozialpolitischer
Kurs
91. Grundlegendes sozialpolitisches Ziel der Gemeinschaft ist von Anfang an, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte zu verbessern und „dadurch auf dem Wege des Fortschritts ihre Angleichung zu ermöglichen" (Art. 117 EG-Vertrag). Dieses Ziel soll erreicht werden sowohl durch das Wirken des Gemeinsamen Marktes als auch durch sozialpolitisches Handeln der Gemeinschaft einschließlich einer Angleichung der einzelstaatlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften. Der Priorität der Marktintegration entsprechend waren die sozialpolitischen Handlungsbefugnisse der Gemeinschaft zunächst bescheiden. Der Gründungsvertrag begrenzte sie im wesentlichen auf die Gleichbehandlung von Mann und Frau beim Arbeitsentgelt, auf die Anrechnung von Renten1771
Gutachten vom August 1994
ansprüchen bei zwischenstaatlichen Wanderungen von Arbeitnehmern und auf die finanzielle Förderung beruflicher und räumlicher Arbeitsmobilität im Rahmen des Europäischen Sozialfonds. Die Einheitliche Europäische Akte erweiterte die Regulierungskompetenz auf die Verbesserung der „Arbeitsumwelt". Der Ministerrat darf Mindestvorschriften zum Schutz von Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer erlassen, und zwar mit qualifizierter Mehrheit im Verfahren der Zusammenarbeit gemäß Art. 189 c EG-Vertrag. Im Gefolge der „Sozialcharta" von 1989 mit ihren weitergehenden programmatischen Forderungen brachte das Sozialpolitische Abkommen von Maastricht die bisher stärkste Ausweitung sozialpolitischer Gemeinschaftskompetenzen. Das gilt sowohl für Art und Umfang der Regelungsbereiche als auch für die Möglichkeiten des Ministerrats, europäische sozialpolitische Mindestnormen mit qualifizierter Mehrheit zu beschließen. Ausdrücklich aus der Regelungskompetenz herausgenommen sind das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht und das Arbeitskampfrecht. Weiterhin einstimmig zu entscheiden ist vor allem in den Bereichen soziale Sicherheit und sozialer Schutz der Arbeitnehmer, Kündigungsschutz, Mitwirkung der Arbeitnehmer im Betrieb und Unternehmen sowie finanzielle Beiträge zur Förderung der Beschäftigung und zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Das Abkommen, das bekanntlich von Großbritannien nicht signiert worden ist, sieht auch vor, daß im Sinne des Subsidiaritätsprinzips überall dort, wo dies möglich und geboten ist, diesbezügliche Regelungen auf der Ebene der Sozialpartner getroffen und entsprechende Vereinbarungen vom Ministerrat per Richtlinie durchgeführt werden können. Insgesamt liegt das Schwergewicht der sozialpolitischen Handlungsbefugnisse bisher eindeutig bei den arbeits- und sozialrechtlichen Regulierungen. Es gibt mittlerweile zahlreiche Richtlinien und Richtlinienentwürfe, die europaweite Vorschriften vor allem für den technischen Arbeitsschutz, aber auch für die Arbeitszeit, die Stellung der Betriebsräte und andere arbeitsrechtliche Materien enthalten. Die europäischen Mindestnormen gehen regelmäßig und teilweise deutlich über das niedrigste der vor1772
Ordnungspolitische Orientierung f ü r die Europäische U n i o n
her erreichten nationalen Niveaus hinaus. Kommission und Parlament neigen dazu, durch extensive Auslegung von Vertragsbestimmungen, etwa des Begriffs „Arbeitsumwelt" in Art. 118 a EG-Vertrag, den Anwendungsbereich von Mehrheitsentscheidungen möglichst weit auszudehnen. Der aktuelle Entwurf einer Entsendungsrichtlinie sieht vor, daß die für länger als einen Monat in einen anderen Mitgliedstaat entsandten Arbeitnehmer Anspruch auf die dort geltenden Arbeitsbedingungen — namentlich Arbeitsschutz, Mindesturlaub und Mindestlohn — haben, wenn diese zwingend sind oder von dem betreffenden Mitgliedstaat für allgemein anwendbar erklärt werden. Fragwürdigkeit von Regulierungen 92. Soweit sich Sozialpolitik staatlicher Vorschriften bedient, die die Vertragsfreiheit einschränken, handelt es sich um Regulierungen. Sie werden zumeist damit begründet, daß Mängel des Wettbewerbs, der Information, unberücksichtigte Externalitäten und hohe Transaktionskosten marktlicher Lösungen durch staatliche Vorschriften über Mengen, Preise, Qualitäten und Konditionen ausgeglichen werden müßten. Dabei wird nicht selten verkannt, daß auch Regulierungen häufig keine effiziente Lösung sozialpolitischer Probleme bringen. Staatliche Instanzen verfügen regelmäßig nicht über bessere Informationen als die Marktakteure. Der politische Entscheidungsprozeß ist seinerseits Verzerrungen unterworfen, etwa durch den Einfluß von Interessengruppen. Zudem gibt es andere Instrumente, die einen geringeren Informationsstand des Staates voraussetzen. Wenn es an Wettbewerb mangelt, so ist die Wettbewerbspolitik das einschlägige Instrument, um fehlende Informationen und Handlungsanreize zu schaffen. Wenn einer Marktseite oder auch beiden Seiten Informationen fehlen, die der Staat besitzt, so sollte er sie bekanntgeben. Wenn externe Wirkungen internalisiert werden sollen, so setzen Abgaben bzw. Subventionen in der Regel weniger Lenkungswissen voraus als Preis- und Mengenregulierungen. Gleichwohl ist eine differenzierte Sicht geboten. Nicht alle externen Wirkungen lassen sich durch Abgaben bzw. Sub1773
Gutachten vom August 1994
ventionen kostengünstig internalisieren. Als Beispiele seien genannt Verbot von Kinderarbeit, Normen zum Jugend- und Mutterschutz, Unfallverhütungsvorschriften. Eine allgemeine Pflicht zur Sicherung gegen existenzgefährdende Risiken kann individuelle Informationsmängel kompensieren und Trittbrettfahrerverhalten vermeiden. Bei asymmetrischer Machtverteilung können Schutzvorschriften für die schwächere Marktseite dazu beitragen, daß der Wettbewerb in fairen Bahnen verläuft. Regulierungen sind deshalb nicht per se als sozialpolitisches Instrument zu verwerfen. Es bedarf aber der fortwährenden und sorgfältigen Prüfung, ob sie nach Art und Umfang angemessen sind. Vorzugswürdig sind allemal Regelungen, die den erstrebten sozialpolitischen Zweck sichern, ohne in die Vertragsfreiheit einzugreifen und insoweit den Marktmechanismus außer Kraft zu setzen. Auswirkungen harmonisierter Arbeitsbedingungen 93. Wenn Regulierungen international angeglichen oder gar vereinheitlich werden, entstehen zusätzliche Probleme. Denn die Nachfrage der Bürger nach Freizeit, Arbeitskomfort, Kündigungsschutz und manch anderen Aspekten der Sicherheit hängt vom Einkommen ab. Die Einkommensunterschiede zwischen den Ländern der Europäischen Union sind aber beträchtlich. In Dänemark und Luxemburg ist das ProKopf-Einkommen etwa dreimal so hoch wie in Portugal oder Griechenland. In der einkommenstärksten Region ist es etwa sechsmal so hoch wie in der Region, die das niedrigste Einkommen aufweist. Zwischen den Regionen der Europäischen Union sind die Einkommensunterschiede auch wesentlich größer als zwischen den Staaten der USA. Angesichts dessen müssen sich die sozialpolitischen Regulierungen zwischen den Mitgliedstaaten unterscheiden können. Es ist daher fraglich, ob der Europäischen Union überhaupt sozialpolitische Regulierungskompetenzen übertragen werden sollten. Nicht zweckmäßig ist es jedenfalls, wenn die Europäische Union ihre bestehenden Kompetenzen dazu nutzen will, einzelstaatliche Vorschriften zu harmonisieren, wie das in Art. 118 a Abs. 1 EG-Vertrag für den Bereich der „Arbeits1774
Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische Union
umweit" vorgesehen ist. Im Bereich der Sozialverfassung bleiben Vielfalt und Wettbewerb als Entdeckungsverfahren unverzichtbar. Wenn die sozialpolitischen Regulierungen in den Niedriglohnländern der U n i o n durch europäische Mindeststandards deutlich angehoben werden, so hängt die Wirkung davon ab, o b die Tarifpartner in diesen Ländern der Erhöhung der Lohnnebenkosten durch Lohnzurückhaltung Rechnung tragen. Tun sie es nicht, so nimmt die Arbeitslosigkeit in den Niedriglohnländern zu, und die Hochlohnländer werden gedrängt, durch zusätzliche Nettotransfers zur Finanzierung der Arbeitslosigkeit oder arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen beizutragen. D o c h selbst wenn die Lohnanpassung vollständig wäre und die Nachfrage nach Arbeitskräften daher unverändert bliebe, hätte sich die Lage der Arbeitnehmer in diesen Ländern verschlechtert, weil ihr Arbeitsertrag jetzt eine niedrigere Lohnkomponente und einen höheren Anteil an Lohnnebenleistungen enthielte, als sie — bei guter Information über die Bedeutung von Arbeitsbedingungen — wünschen würden.
Soziales Dumping: ein unhaltbarer Vorwurf 94. Zugunsten einer internationalen Angleichung der sozialpolitischen Regulierungen wird oft vorgebracht, daß die bestehenden Unterschiede den Wettbewerb verzerrten und „Sozialdumping" vermieden werden müsse. Die Argumentation hat eine lange Geschichte. Sie führte zum Beispiel zur Gründung der International Labour Organisation (ILO) und findet neuerdings auch in die Verhandlungen über die Aufgaben der World Trade Organisation ( W T O ) Eingang. In der Außenhandelstheorie und -politik spricht man von Dumping, wenn Anbieter im Ausland zu niedrigeren Preisen verkaufen als im Inland, oder wenn sie Preise fordern, die unter ihren (variablen Durchschnitts-)Kosten liegen. Im Falle der sozialpolitischen Regulierungen ist keine dieser beiden Voraussetzungen erfüllt: Die Arbeitsanbieter in den Niedriglohnländern machen sich keiner Preisdiskriminierung schuldig und sie bieten auch nicht unter ihren (Opportunitäts-) Kosten an. Ihre Kosten sind niedriger, ihr Arbeitsangebot 1775
vom August 1994
ist reichlicher als in den Hochlohnländern. Sie erhalten geringere Löhne, weil ihre Produktivität niedriger ist. Der Vorwurf des Sozialdumpings steht auf schwachen Füßen. Maßnahmen gegen die „Niedriglohnkonkurrenz" sind marktwidrige Eingriffe in die Faktorpreisbildung. Soweit die Unterschiede in den sozialpolitischen Regulierungen Präferenzunterschiede spiegeln, stellen sie auch keine Wettbewerbsverzerrungen dar. Es handelt sich vielmehr um Standortmerkmale, die sich in Kostenvorteilen niederschlagen. Nicht solche Unterschiede in den sozialpolitischen Regulierungen, sondern die Bestrebungen, sie durch europäische Mindestnormen zu verringern, verzerren den Wettbewerb. Präferenzbedingte Unterschiede in den sozialpolitischen Regulierungen lösen deshalb auch keine ökonomisch unerwünschten Wanderungen aus. Zu solchen Wanderungen kann es jedoch kommen, wenn europäische Mindestnormen in den Niedriglohnländern Arbeitslosigkeit verursachen. Wenn die europäischen Mindestnormen mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden können, besitzen die Regierungen und Produzenten der hochregulierten Mitgliedstaaten nicht nur den Anreiz, sondern auch die Möglichkeit, ihr eigenes Regulierungsniveau auf die Niedriglohnländer auszudehnen und so deren Wettbewerbsfähigkeit zu schwächen. Machten sie von dieser Möglichkeit Gebrauch, so hinderten sie die Niedriglohnländer daran, ihre Arbeits- und Lebensbedingungen im Rahmen der Wachstumsdynamik des Gemeinsamen Marktes zu verbessern und den Abstand zu den Hochlohnländern zu verringern. Bedenkt man, daß es nach Art. 117 EG-Vertrag das erklärte Ziel der gemeinschaftlichen Sozialpolitik ist, „auf eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte hinzuwirken und dadurch auf dem Weg des Fortschritts ihre Angleichung zu ermöglichen", so stellt sich die Frage, ob insbesondere das Sozialpolitische Abkommen von Maastricht nicht kontraproduktiv wirkt. Es liefe dann auch dem Subsidaritätsprinzip zuwider, denn sozialpolitische Kompetenzen würden auf zentraler Ebene in wohlfahrtsmindernder Weise wahrgenommen.
O r d n u n g s p o l i t i s c h e O r i e n t i e r u n g für die Europäische U n i o n
Sozialversicherungen: unerwünschte
Wanderungsanreize
95. Auch in der Sozialversicherung ist eine internationale Differenzierung wünschenswert. Der optimale Versicherungsschutz steigt typischerweise mit dem Einkommen. Zu fragen ist deshalb, wie unterschiedliche Versicherungsniveaus aufrechterhalten werden können, ohne zu unerwünschten Wanderungen — dem „Sozialtourismus" — anzureizen und ohne die Arbeitsmobilität unnötig zu beeinträchtigen. Beide Bedingungen wären erfüllt, wenn die nationalen Sozialversicherungen strikt dem Aquivalenzprinzip entsprächen und die staatliche Umverteilung ganz in das Steuer- und Transfersystem verlagert wäre. Die mobilen Arbeitskräfte, ja alle Versicherungspflichtigen könnten dann selbst entscheiden, von welcher Versicherung sie den vorgeschriebenen Mindestschutz beziehen. Beim Wandern zwischen Mitgliedstaaten könnte jeder Migrant bei seinem gewählten Versicherungsschutz bleiben. Tatsächlich wollen die Mitgliedstaaten jedoch über ihre Sozialversicherungen interpersonell umverteilen und weichen deshalb vom Aquivalenzprinzip ab. Sie nehmen dann den schwerwiegenden Nachteil in Kauf, die Wahlfreiheit des einzelnen und den Wettbewerb zwischen den Versicherungen beschränken zu müssen. 96. Wer als sozialversicherungspflichtiger Arbeitnehmer zwischen Mitgliedstaaten wandert, muß auch zwischen den entsprechenden Sozialversicherungen wandern. Das kann mit Vorteilen oder Nachteilen verbunden sein. Ein gewichtiger Nachteil wäre der Verlust erworbener Rentenansprüche. Die bisherigen Koordinationsregeln sehen deshalb eine Zusammenrechnung aller in den Mitgliedstaaten erworbenen Rentenansprüche vor. Bei vorübergehendem Auslandsaufenthalt muß nicht notwendig die gesetzliche Krankenversicherung gewechselt werden. So darf ein Deutscher, der in einen Mitgliedstaat entsandt wird, bis zu zwei Jahren in der bisherigen Krankenkasse bleiben. Größere Breitenwirkung hätte hier der generelle Ubergang vom Sachleistungsprinzip (Krankenschein) zum Prinzip der Kostenerstattung. Diese und andere Koordinationsregeln beseitigen wichtige Wanderungshemmnisse, aber nicht die unerwünschten Wande1777
Gutachten vom August 1994
rungsanreize. Kinderreiche Familienväter etwa können durch Wanderung schlagartig Ansprüche auf kostenlose Mitversicherung von Familienangehörigen erlangen, die sie sonst nicht gehabt hätten und zu deren Finanzierung sie als Ledige oder Kinderlose in der betreffenden Solidargemeinschaft nichts beigetragen haben. Auch in vielen anderen Fällen entstehen durch bloßen Wechsel der nationalen Solidargemeinschaften individuelle Wanderungserträge, die zu „Sozialtourismus" anreizen. 97. Wenn es allen Migranten verboten wäre, die Sozialversicherung zu wechseln, könnte von den unterschiedlichen Versicherungsniveaus kein Anreiz zu unerwünschten Wanderungen ausgehen. Eine solche Regelung entspricht dem Herkunftslandprinzip. Das andere Extrem ist eine Regelung gemäß dem Wohnsitzlandprinzip: Der Migrant verliert alle Ansprüche an die Sozialversicherung seines Heimatlandes und wird statt dessen in der Sozialversicherung seines neuen Wohnsitzlandes so versichert, als ob er von Anfang an dort gearbeitet hätte. Das Wohnsitzlandprinzip dürfte mit niedrigeren Verwaltungskosten verbunden sein als das Herkunftslandprinzip, es reizt aber stärker zu unerwünschten Wanderungen an. Eine Zwischenlösung orientiert sich am „Rucksackprinzip". Der abwandernde Bürger erhält seine Beiträge zuzüglich einer normalen Verzinsung ausgezahlt und zahlt sie an seiner neuen Wirkungsstätte wieder in die dortige Versicherung ein. Das Prinzip findet in der betrieblichen Altersvorsorge gelegentlich Anwendung. Im Bereich der Sozialversicherung ergibt sich jedoch die Schwierigkeit, daß die Versicherungsansprüche in den meisten Mitgliedstaaten nicht nur von den Beitragsleistungen abhängen. Vieles spricht für eine andere Zwischenlösung: die Kombination von Versicherungsverträgen („Kombinationsprinzip"). Nach geltendem Gemeinschaftsrecht erhält jeder Bürger von den Sozialversicherungen der Mitgliedstaaten in dem Maße Rente oder Pflegegeld, wie er dort entsprechende Ansprüche erworben hat. Ein Problem ist dabei, daß in einigen Mitgliedstaaten kurze Versicherungszeiten genügen, um vergleichs1778
Ordnungspolitische O r i e n t i e r u n g für die Europäische U n i o n
weise hohe Renten zu erzielen, und in anderen Mitgliedstaaten sehr kurze Versicherungszeiten überhaupt keinen Versicherungsanspruch begründen. Aus diesen und anderen Gründen kann es dazu kommen, daß je nach Kombination von Rentenansprüchen einem Versicherten ein höherer Leistungsbetrag zusteht, als ihm zustünde, wenn er nur in einem Mitgliedstaat versichert gewesen wäre („Uberversorgung"). Die Mitgliedstaaten versuchen, diesem Problem durch eine Vielzahl von Antikumulierungsvorschriften (Kürzungsregeln) zu begegnen. Einfacher und wahrscheinlich wirksamer wäre jedoch ein anderes Verfahren: Jede Rentenversicherung würde zunächst den Betrag errechnen, der sich ergeben hätte, wenn der Bürger sein gesamtes Leben in diesem Land geblieben wäre; sie würde dann diesen Betrag mit dem Anteil der Versicherungsjahre multiplizieren, den der Bürger in dem betreffenden Mitgliedstaat verbracht hat. Das Verfahren wird bereits jetzt praktiziert, wenn ein Ausländer aus einem anderen Mitgliedstaat nach dem Recht des Gastlandes keinen eigenständigen Rentenanspruch besitzt, weil er nicht lange genug Beiträge an die Sozialversicherung des Gastlandes gezahlt hat (§ 46 II der EWG-Versorgung 1408/71). Sowohl Kürzungsregeln als auch das hier beschriebene Verfahren setzen voraus, daß die einzelne Sozialversicherung zuverlässig feststellen kann, wie lange der Anspruchsberechtigte insgesamt in den Mitgliedstaaten der Union sozialversichert war. D i e Sozialversicherungen der verschiedenen Mitgliedstaaten müssen diese Informationen untereinander austauschen. D e r Informationsaustausch, das Berechnungsverfahren und die höhere Zahl der Versicherungsverträge verursachen zusätzliche Verwaltungskosten. Es ist deshalb nicht eindeutig, ob die Kombination von Versicherungsansprüchen kostengünstiger ist als das Herkunftslandprinzip, wenn das Aquivalenzprinzip verletzt ist. Vieles spricht dafür, die Bürger, die nacheinander oder gleichzeitig in mehreren Mitgliedstaaten sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, selbst zwischen der Kombination inländischer und ausländischer Versicherungsansprüche und dem vollständigen Verbleib in der Sozialversicherung des Heimatlandes wählen zu lassen. Mittel- und längerfristig wäre es hilfreich, wenn die 1779
Gutachten vom August 1994
Versicherungsprämien und -leistungen mehr als bisher an versicherungsmathematischen Prinzipien ausgerichtet würden und die jeweils gewünschte Umverteilung über das Steuer- und Transfersystem realisiert würde.
Nationale Umverteilung stößt auf Grenzen 98. Für eine regional differenzierte Umverteilung über das Steuer- und Transfersystem sprechen redistributive und allokative Gründe. Die Umverteilungspräferenzen unterscheiden sich von Land zu Land. Aus allokativen Gründen müssen Transfers wie beispielsweise die Sozialhilfe einen gebührenden Abstand zu den örtlichen Löhnen — den unteren Lohngruppen halten. Stärker noch als eine Sozialversicherung, die nicht auf risikoäquivalenten Prämien fußt, kann die regionale Differenzierung von redistributiven Steuern und Transfers jedoch unerwünschte Wanderungen hervorrufen. In dem Maße, in dem Nettoempfänger zuwandern und Nettozahler abwandern, geht der redistributive Spielraum des einzelnen Mitgliedstaates zurück. Bei vollkommener Mobilität würde der paradoxe Fall eintreten, daß zwar jeder Mitgliedstaat ein gewisses Maß an Umverteilung anstrebt, dieses aber im Alleingang nicht durchsetzen kann, weil sein Streben Wanderungen auslöst und auf diese Weise positive Wirkungen bei den Partnerstaaten erzeugt: Er würde ihnen die mobilen Reichen zutreiben und die mobilen Armen abnehmen, so daß die an sich gewollte Umverteilung mangels Masse zusammenbrechen würde. Die Produktionsfaktoren können also nur insoweit zur Finanzierung der Umverteilung herangezogen werden, wie ihre Mobilität unvollkommen ist.
Harmonisierung nicht empfehlenswert 99. Unerwünschte Wanderungen ließen sich vermeiden, wenn ihr Anlaß, die national unterschiedlichen Umverteilungen, beseitigt würde. Das setzte eine vollständige Harmonsierung der nationalen Steuer- und Transfersysteme, praktisch also eine Verlagerung der Umverteilungskompetenz auf die europäische Ebene voraus. Für eine solche Verlagerung von Umverteilungskompetenz und damit auch Steuerkompetenz fehlt jedoch nicht nur der Verfassungsauftrag, sondern auch eine 1780
Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische U n i o n
entscheidende ökonomische Voraussetzung: Die Durchschnittseinkommen der Mitgliedstaaten dürften nicht so verschieden sein, wie sie es heute sind. Ein europäischer „Umverteilungstarif" würde letztlich massive Transfers von den reicheren zu den ärmeren Ländern mit sich bringen und daher von den Nettozahlern nicht akzeptiert werden. An einen Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten wäre nicht mehr zu denken. Ein weniger weit greifender Harmonisierungsansatz wäre die innereuropäische Angleichung nur der redistributiven Steuern. So haben die Finanzminister einiger Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission gefordert, auch im Bereich der direkten Steuern Mindeststeuersätze einzuführen. Dieser Ansatz hat der Art nach gleiche Nachteile, die auch gegen eine Zentralisierung der Umverteilungskompetenzen sprechen. Der Beirat hat an anderer Stelle dieses Gutachtens seine Einschätzung begründet, warum eine EG-weite Koordination der direkten Steuern vorläufig nicht erforderlich erscheint (3.3.2). Umverteilung nach Herkunftsland: eine umstrittene Möglichkeit 100. Die notwendige sozialpolitische Differenzierung könnte mit jeder beliebigen Mobilität in Einklang gebracht werden, wenn für die Umverteilung immer nur das Herkunftsland zuständig wäre. Die historischen Erfahrungen zeigen, daß diese Lösung für den Bereich der Sozialhilfe durchaus praktikabel sein kann. Wenn im Bereich der Redistribution das Herkunftslandprinzip gälte, wäre es nur noch das regional unterschiedliche Angebot an öffentlichen Gütern, das den Wanderungswettbewerb bestimmt. Diesem Vorteil stehen aber gewichtige Nachteile gegenüber, vor allem bei der Besteuerung. Aus der Sicht des Steuerpflichtigen gehört dazu, daß er seinen Heimatbehörden gleichsam ausgeliefert wäre. Die Frage, wie er möglicherweise auf politischem Weg auf die Umverteilungspolitik seines Herkunftslandes sollte Einfluß nehmen können, bliebe offen. Seine Nationalität mag er zwar in jungen Jahren wählen können. Danach dürfte dies jedoch nicht mehr möglich sein. Man kann auch fragen, ob die Ent1781
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Scheidung für und die Identifikation mit einer Nationalität in erster Linie von der Wahl des Umverteilungssystems bestimmt sein sollte. Überdies ergeben sich Schwierigkeiten in der Abgrenzung dessen, was Umverteilung ist. In der praktischen Politik werden Allokations- und Umverteilungsentscheidungen vermischt. Unter den üblicherweise getroffenen nichteinstimmigen Entscheidungen wird die Vermischung sogar bewußt herbeigeführt, weil dadurch die Annahmechancen steigen. Das Herkunftslandprinzip könnte sich daher nur auf einzelne, klar abgegrenzte Budgets im Bereich der Transfers beziehen, ζ. B. auf die Sozialhilfe. Ob der Ubergang zum Herkunftslandprinzip in diesen Fällen zu empfehlen ist, wird im Beirat unterschiedlich beurteilt. Dringlich ist er jedenfalls nicht, weil nach geltendem Freizügigkeitsrecht nichterwerbstätige Personen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, in der Regel keinen Anspruch auf Freizügigkeit besitzen. Sozialstaat in Gefahr? 101. Wenn die Mobilität zwischen den Mitgliedstaaten zunimmt, werden der staatlichen Umverteilung engere Grenzen gesetzt. Die Frage, ob diese grundsätzlich wünschenswert ist, läßt sich ohne Werturteile nicht entscheiden. Unstreitig sollte aber sein, daß die Verbesserung von Dynamik und Flexibilität der Märkte einen besonders hohen Stellenwert hat. Ihr wäre dienlich, wenn die dem heutigen Sozialsystem eigenen Anreizminderungen behoben werden könnten. Daß sich aus einer Zunahme der Mobilität engere Grenzen für staatliche Umverteilung ergeben, muß daher nicht in jedem Fall von Nachteil sein. Die Erfahrungen mit einer weitgehend dezentralisierten Sozialpolitik, wie sie für die Schweiz und ihre Kantone, für Kanada und — mit Einschränkungen — für die USA typisch ist, zeigen, daß die regionale Mobilität selbst in einheitlichen Sprachräumen und Währungsgebieten den Sozialstaat nicht in Frage stellen kann. In Europa mit seinen gewachsenen Kulturen dürfte dies auf absehbare Zeit erst recht so sein. Hoch ist nur die potentielle Mobilität derer, die in die Europäische Union einwandern wollen. Viel spricht deshalb dafür, sich in 1782
Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische Union
der Union auf eine gemeinsame Einwanderungspolitik zu einigen und in diesem Zusammenhang auch die Frage zu behandeln, welche Transfers Bürger aus Drittstaaten erhalten sollen. 4.
Ordnungspolitische Orientierung: Worauf es ankommt 102. Das Gutachten geht aus von der Verfassungswirklichkeit der Gemeinschaft nach Maastricht. Es ist auf einen überschaubaren Zeitraum hin geschrieben. Orientierungspunkt ist die für 1996 vereinbarte Folgekonferenz. Sie wird sich mit allen Vertragsinhalten beschäftigen, für die „eine Revision vorgesehen ist". Zudem kann die Tagungsordnung der Konferenz um Initiativanträge der Mitgliedstaaten oder der Kommission erweitert werden, sofern nur der Ministerrat — nach Anhörung des Europäischen Parlaments und gegebenenfalls der Kommission — zustimmt (Art. Ν 1 Abs. 1 und 2 EU-Vertrag). Die Vorbereitungen für die Konferenz haben begonnen. Alles deutet darauf hin, daß der Prozeß der Europäischen Integration seit Maastricht auf der Konferenz und in ihrem Umfeld umfassend gewürdigt werden wird. Die Folgekonferenz dürfte somit besonders geeignet sein, Tragweite und Inhalte einer ordnungspolitischen Orientierung, wie sie der Beirat für unabdingbar hält, ins Bewußtsein der Beteiligten zu rücken. 103. Die Verhandlungsgegenstände, die schon durch Maastricht auf die Tagesordnung der Folgekonferenz gesetzt wurden, betreffen vornehmlich Anliegen einer politischen Union, die zurückgestellt werden mußten. Das gilt für die vorgesehene Überprüfung der Bestimmungen über die „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik" (Art. J.10. EU-Vertrag), auch für eine etwaige „Vergemeinschaftung" der bei den Mitgliedstaaten verbliebenen Zuständigkeit im Bereich der Verteidigungspolitik (Art. J.4. Abs. 6 EU-Vertrag) sowie im Bereich der Innenpolitik und der Justizpolitik (Art. Β tiret 5 E U Vertrag). Vereinbart sind ferner Verhandlungen über die Kodezisionsrechte des Europäischen Parlamentes (Art. 189 b Abs. 8 EG-Vertrag) und über die Zahl der Mitglieder von Kommission und Europäischem Parlament — ein Anliegen, dem eigentlich bis spätestens Ende 1992 zu entsprechen ge1783
Gutachten v o m August 1994
wesen wäre (Erklärung Nr. 15 zum EU-Vertrag). Das europäische Rechtssystem besser strukturieren soll eine Systematisierung der Rechtsakte der Gemeinschaft mittels einer angemessenen Rangordnung („Hierarchisierung") der verschiedenen Arten von Normen (Erklärung Nr. 16 zum EU-Vertrag). Auf der Agenda stehen aber auch die Zuständigkeit der Gemeinschaft für den Katastrophenschutz, die Energieversorgung und die Fremdenverkehrswirtschaft (Erklärung Nr. 1 zu EU-Vertrag). Die Begründung neuer Rechte auf Aktionsfeldern, auf die schon die Regelungen des gemeinsamen Marktes (freier Waren- und Dienstleistungsverkehr, Kartellund Subventionsaufsicht) Anwendung finden, kann letztlich nur auf die Einräumung zusätzlicher industriepolitischer Kompetenzen an die Gemeinschaft abzielen. Das wäre ordnungspolitisch nicht gerechtfertigt. Eine Verabredung von Verhandlungsgegenständen beinhaltet aber noch keine a priori-Festlegung auf Verhandlungspositionen und schon gar nicht auf zu erwartende Ergebnisse. 104. Was schon heute das Programm der Folgekonferenz ausmacht, ist ordnungspolitisch von Rang. Für Tagesordnungspunkte, die auf Initiative der Kommission oder der EUStaaten auf der Folgekonferenz zusätzlich behandelt werden, dürfte wohl überwiegend gleiches gelten. Auch bei ihnen wird es einerseits um die Ausrichtung auf eine politische Ordnung gehen, die Rechte und Pflichten von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten in jeder Phase des europäischen Integrationsprozesses ausbalanciert und so der Gemeinschaft erst die verfassungsmäßige Legitimation im Urteil der Völker Europas verleiht, andererseits um die Ausrichtung der Gemeinschaft auf eine offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb. Revision und Ergänzung der Vertragstexte bedürfen der ordnungspolitischen Orientierung; sie bedürfen ihrer um so mehr, als die heutigen Verfassungsgegebenheiten und die der überschaubaren Zukunft Durchgangsstadien markieren, die von Spannungen nicht frei sein können. Diese Spannungen vergrößern sich mit jeder neuen Kompetenz, die der Gemeinschaft zuwächst, und mit jeder Erweiterung der Gemeinschaft. Die öffentliche Diskussion nach Maastricht hat 1784
Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische Union
vieles ins Bewußtsein gerückt, was zuvor kaum bedacht worden war. Zunehmend wird gefordert, die demokratischen Institutionen der Gemeinschaft ebenso wie die der Mitgliedstaaten mehr als bislang an Willensbildung und Entscheidungsfindung zu beteiligen, vor allem an der Kontrolle der Ausübung politischer Macht. Das Europäische Parlament ist bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben zu stärken, namentlich im Sinne einer erhöhten Transparenz der Entscheidungsprozesse. Den nationalen Legislativen bleibt vorbehalten, sich auf ihre Weise in die Prozesse politischer Willensbildung einzuschalten. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993 wird Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat zwingen, sich intensiver mit dem europäischen Geschehen zu befassen. Denn mit ihm wird der Anspruch erhoben, nach Maßstäben deutschen Rechts darüber zu entscheiden, ob Gemeinschaftsrecht zulässig ausgelegt oder — da eine förmliche Vertragsänderung voraussetzend — unzulässig fortentwickelt worden ist. Richtig verstanden und in integrationspolitischer Absicht praktiziert, kann dieser Richterspruch dazu beitragen, in Deutschland bestehende Vorbehalte gegenüber der Europäischen Gemeinschaft abzubauen. Allerdings begründet das Urteil gleichzeitig ein rechtliches und, in der Folge davon, politisches Konfliktpotential auf der Ebene der Gemeinschaft selbst. Bei vielem kommt es sehr auf den Konsens der Beteiligten an, vor allem bei der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips. Wird die Maxime allseits respektiert, dann mindert das schon für sich die Gefahr einer Relativierung des Subsidiaritätsprinzips durch ein Geltendmachen des Kohärenz- und Solidaritätsgebotes. Zudem ist eher zu erwarten, daß dem Ubermaßverbot entsprochen sowie Regelbindungen der Vorzug vor diskretionärem Handeln und Anreizmaßnahmen vor Geboten und Verboten eingeräumt wird. Diese verfassungsrechtlichen Muster stießen auf größere Zustimmung, wäre gewährleistet, daß sich die gemeinschaftsspezifischen Kontrollorgane an den Grundfreiheiten und den konstituierenden Prinzipien der Gemeinschaft konsequent ausrichteten. Der Europäische Gerichtshof hat hier systemprägenden Einfluß. Vorherrschender Eindruck bislang 1785
Gutachten vom August 1994
war, daß für ihn das Vorankommen auf dem Integrationspfad allemal Vorrang hatte. Nicht selten wurde sogar geargwöhnt, er lasse sich von dem Grundsatz leiten, der Integrationszweck als solcher heilige die Mittel. Viel wäre gewonnen, wenn der Gerichtshof in seinen Entscheidungen stärker auf die ordnungspolitische Konsistenz des gemeinschaftlichen Handelns bedacht wäre. 105. Die mit den Römischen Verträgen, der Einheitlichen Europäischen Akte und dem Vertrag von Maastricht konstituierte marktwirtschaftliche Ordnung verpflichtet Gemeinschaft und Mitgliedstaaten — die Märkte nach innen und außen offenzuhalten, — den Grundsatz offener Märkte nicht von einer Harmonisierung der Bedingungen, unter denen Wettbewerb stattfinden soll, abhängig zu machen, — auf eine „strategische Handelspolitik" gegenüber Drittstaaten zu verzichten, — Möglichkeiten administrativer Regelungen wirtschaftlicher Vorgänge nicht politischer Zwecke wegen instrumentalisieren zu wollen, — bei der gleichzeitigen Wahrnehmung von formal gleichrangigen Zielen durch Gemeinschaftsorgane das Handeln an ordnungspolitisch begründete Prioritäten zu binden, — das Deregulierungspotential der Gemeinschaft nicht durch eine restringierende Auslegung ausschließlicher Zuständigkeiten der Gemeinschaft auszuhebeln und — die gemeinschaftlichen wie die nationalen Regulierungssysteme auf ihre Verträglichkeit mit dem Wettbewerbspostulat hin zu überprüfen. Dazu passende Änderungen des Maastrichter Vertragstextes mögen das Anliegen erleichtern, imperativ sind sie nicht. Wichtiger ist es, den gegebenen Rechtsrahmen ordnungspolitisch konsequent zu nutzen. Der Grundgedanke, Suchprozessen durch den Markt Vorrang einzuräumen, legt auch Formen eines Wettbewerbs der Systeme nahe, wo immer die zugehörigen Funktionsbedingungen erfüllt sind oder erfüllt werden können, es sei denn, 1786
Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische U n i o n
daß einem solchen Wettbewerb aus wohlerwogenen Gründen gemeinschaftlich verordnete Grenzen zu setzen sind. 106. Wirtschaftspolitisch ist das Ziel eines Europäischen Binnenmarktes mit Nachdruck weiterzuverfolgen. N o c h immer sind gravierende Hemmnisse zu beseitigen. Binnenmarkt und offene Grenzen zu Drittstaaten erzeugen wirtschaftliche Dynamik. Schon deswegen ist das neue GATT-Recht — Ratifikation durch die Mitgliedstaaten und die Europäische Union vorausgesetzt — in das Recht der Europäischen Union ohne Abstriche zu integrieren. Die dann gebotene Klärung der Kompetenzabgrenzung zwischen Mitgliedstaaten und Gemeinschaft ist als Präzedenzfall für politische Lösungen im künftigen Europa anzusehen. Das Ziel muß es sein, multilaterale Wettbewerbsregeln als Ergänzung zu den multilateralen Handelsregeln des G A T T und der neuen Welthandelsorganisation zu entwickeln. Gegenüber den östlichen Reformstaaten bedarf es einer weiteren Öffnung der Märkte: Auf kurze Sicht durch das Vorziehen von Fristen für den Zollabbau und die Aufhebung der mengenmäßigen Beschränkungen, auf mittlere Sicht ergänzt um Formen einer wirtschaftlichen Kooperation je nach angestrebter Gestaltung der Beziehungen zu diesen Staaten. Leitgedanke sollte sein, daß die Länder Mittel-/Osteuropas eines nicht zu fernen Tages in die Europäische Union aufgenommen werden. Ministerrat und Kommission sollten sich schon bald auf eine eindeutig marktwirtschaftliche Auslegung von Art. 130 EGVertrag verständigen. Ein fundamentaler Streit über die Industriepolitik ließe sich so vermeiden. K o m m t es nicht zu einer solchen Interpretation, gehört das Thema auf die Folgekonferenz. Auch den Sorgen um eine dirigistische Forschungsund Technologiepolitik würde durch eine Erklärung begegnet, gemäß der das F & Ε-Potential in der Gemeinschaft vornehmlich durch einen europaweiten Wettbewerb unter innovations- und investitionsfreundlichen Rahmenbedingungen auszuschöpfen ist. Einer ordnungspolitischen Durchleuchtung bedürfen die Inhalte des Weißbuches der Kommission vom Dezember 1993 und des Aktionsplanes des Europäischen Rates vom Dezember 1993. Gleiches gilt für die vorgesehene Rolle der Kommission bei der Verwirklichung 1787
Gutachten vom August 1994
europäischer Netzwerke. Schon im Vorgriff auf die Folgekonferenz sollten die beanspruchten Tätigkeiten der Gemeinschaft in den Bereichen Energie, Katastrophenschutz und Fremdenverkehr auf ihre Verträglichkeit mit ordnungspolitischen Grundsätzen geprüft werden. Mehr als überfällig ist die Aufgabe der bisherigen europäischen Agrarmarktordnung zugunsten von Formen einer Agrarmarktpolitik und einer Politik der ländlichen Räume, die trotz wohl weiterbestehender Dirigismen noch zu vertreten ist. Das unbestrittene Ubermaß an Subventionen hier und anderswo ist nur durch eine konsequente Orientierung an ordnungspolitischen Maximen zu beschneiden. Zu erwägen ist, ob nicht der Ministerrat neben der Deregulierungskommission eine weitere Kommission zur Evaluierung der Subventionspraktiken auf Gemeinschaftsebene und auf der Ebene der Mitgliedstaaten einsetzen sollte. Geldpolitisch sollte Einigkeit herrschen, daß die Europäische Zentralbank mit dem ihr prinzipiell erlaubten Erwerb staatlicher Schuldtitel am offenen Markt nicht in die Nähe der indirekten Finanzierung öffentlicher Haushalte geraten darf. Dem ermutigenden Beispiel Frankreichs und Spaniens, die ihren Zentralbanken jeweils einen autonomen, wenngleich nicht in allem überzeugenden Status verliehen haben, sollten die EG-Staaten, deren Notenbanken noch von Weisungen der Regierungen abhängig sind, folgen und möglichst noch konsequenter die Unabhängigkeit institutionell absichern. Bei wechselkurspolitischen Vorgaben für die künftige Europäische Zentralbank im Rahmen eines Festkurssystems mit Drittlandwährungen könnte es zu einer nachhaltigen Gefährdung des Geldwertes kommen. Für diesen Fall sollte der Bank das Recht eingeräumt werden, Interventionen auszusetzen. Bei der Fortentwicklung der Finanzverfassung der Gemeinschaft ist an den Grundsätzen der begrenzten Einzelermächtigung, der Eigenmittelplafondierung und der Budgetdeckung ohne Abstriche festzuhalten. Konsens sollte erreicht werden über das Gebot der Budgeteinheit, den Verzicht auf Nebenhaushalte und das Verbot einer Kreditfinanzierung gemeinschaftlicher Anliegen. Gemeinschaft und Mitgliedstaaten 1788
Ordnungspolitische O r i e n t i e r u n g für die Europäische U n i o n
sollten einem Leistungs- und Finanzierungswettbewerb zwischen nationalen Finanzsystemen nichts in den Weg legen, ihn jedoch in seinen Auswirkungen sorgfältig beobachten. Einer europaweiten Koordination bei der Besteuerung der Arbeitseinkommen bedarf es nicht. Die gegenwärtige Form der Kapitaleinkommenbesteuerung mag in einem Europa ohne Binnengrenzen nicht mehr haltbar sein. Notwendige Reformen erfordern indes keine Harmonisierung auf Gemeinschaftsebene. Was die Sozialpolitik angeht, spricht sich der Beirat mit Nachdruck gegen eine Angleichung der Normen innerhalb der Gemeinschaft aus, unbeschadet eines nicht strittigen Sockels verbindlicher Mindestrechte. Zwischenstaatliche Unterschiede sowohl der sozial- und arbeitsrechtlichen Regulierungen als auch der Sozialversicherungen sind ökonomisch zu rechtfertigen, ebenso wie Differenzierungen bei der Einkommensumverteilung über das Steuer- und Transfersystem. 107. Der Katalog der Gegenstände, die auf der Folgekonferenz aus diesem Grunde über die jetzt schon festliegende Agenda hinaus verhandelt werden sollten, ist begrenzt. Nur weniges bedarf einer Revision des Vertragstextes, und das auch nur dann, wenn eine Einigung über das Verständnis des Vertragstextes und eine damit übereinstimmende Praxis nicht die gewünschte Klärung gebracht haben. Daher sollte schon im Vorfeld der Konferenz nach konsensfähigen Auslegungen umstrittener Vertragsbestimmungen gesucht werden. Das gilt vornehmlich für den geforderten Verzicht auf Art. 115 EG-Vertrag und auf Art. 130 EG-Vertrag, auch für die angemahnte Präzisierung der Eigenmittelvorschrift (Art. 201 EG-Vertrag) und der Budgetregel (Art. 104 c EG-Vertrag) sowie für die wechselkurspolitische Kompetenzregelung in der Währungsunion. Eine Änderung der Bestimmungen über die Dauer der Mandate von Mitgliedern des Europäischen Zentralbankrates (bei gleichzeitigem Ausschluß einer Erneuerung) nach Art. 109 a (2) b) EG-Vertrag erfordert allerdings zwingend eine Revision des Vertragstextes. Die Errichtung einer unabhängigen Prüfinstanz zwecks 1789
Gutachten vom August 1994
Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips bedarf der Verankerung im Vertragstext. Sinnvolle und kontrollierbare Verfahrensregeln können indes ein akzeptables Substitut bilden. In der Öffentlichkeit hat kaum etwas stärker irritiert als die zeitlichen Vorgaben für den Eintritt in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion. Als kaum mehr strittig gilt, daß der frühe Eintrittstermin (Januar 1997) nicht eingehalten werden kann. Doch auch die Zweifel am „endgültigen" Termin (Januar 1999) mehren sich. Zeitliche Horizonte des Integrationsprozesses und politische Prioritäten müssen vertrauensfördernd, also überzeugungskräftig sein. Spätestens 1996 ist hier ein klärendes Wort geboten. An den Konvergenzkriterien ist in einer stabilitätspolitisch konformen Auslegung strikt festzuhalten. Das erfordert substantielle Konvergenzfortschritte der Mitgliedsländer. Überwachung und Abstimmung im Sinne einer Kontrolle auf Gegenseitigkeit obliegen dem Rat und der Kommission gemäß Art. 103 EG-Vertrag. Grundsätzlich sollte der Eintritt in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion von der Verwirklichung des Binnenmarktes weit über das inzwischen erreichte Maß hinaus abhängig gemacht werden. 108. Neben der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament obliegt es den Mitgliedstaaten, die europäische Integration voranzubringen. Es sollte vorrangiges Anliegen der Bundesregierung sein, anläßlich der Revisionskonferenz von 1996 der Europäischen Union eine politisch und wirtschaftlich zukunftsweisende Richtung zu geben und die in diesem Gutachten herausgearbeiteten ordnungspolitischen Prinzipien umzusetzen. Das Ziel einer Einigung Europas verpflichtet. Tübingen, den 31. August 1994 Der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft Professor Dr. Norbert Kloten
1790
Gutachten vom Januar 1995 Thema: Wirtschaftspolitische Folgerungen aus der Verfassungswidrigkeit des sogenannten Kohlepfennigs Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft hat sich am 20. und 21. Januar 1995, mit dem Thema Wirtschaftspolitische Folgerungen aus der Verfassungswidrigkeit des sogenannten Kohlepfennigs befaßt und an den Bundesminister für Wirtschaft, Herrn Dr. Günter Rexrodt, folgenden Brief geschrieben: Sehr geehrter Herr Bundeswirtschaftsminister! Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 11. Oktober 1994 die Verfassungswidrigkeit der Sonderabgabe festgestellt, mit der die Verstromung deutscher Steinkohle finanziert wird. Das Urteil bezieht sich allein auf die Finanzierung der Verstromungssubvention, nicht auf die Subvention selbst. Die Verfassungswidrigkeit des sogenannten Kohlepfennigs hat jedoch insofern eine neue Lage geschaffen, als die Frage nach einer zukünftigen Subventionierung aus dem öffentlichen Haushalt nicht losgelöst von der Frage nach der Rechtfertigung des Subventionszwecks entschieden werden kann. Für die Verstromungsfinanzierung des Jahres 1996 ist sogar die Geschäftsgrundlage entfallen, während die Mittelbeschaffung für die Jahre 1997 bis 2005 gesetzlich noch nicht geregelt ist. 1 ) 1. Der Steinkohlebergbau ist der geradezu klassische Fall für einen langanhaltenden Anstieg der Subventionen, sobald die Politik sich zu einer derartigen Sonderbehandlung eines Wirtschaftszweiges einmal entschlossen hat. Die Gesamtsubvention des Steinkohlenbergbaus belief sich 1994 auf über 10 Mrd D-Mark, das sind umgerechnet über 100000 D-Mark pro Kopf der Belegschaft; das liegt um die Hälfte über dem Bruttojahresverdienst 1994 der Angestellten und Arbeiter in der westdeutschen Metallindustrie. Der sogenannte Kohlepfennig ') Zur Verstromungssubventionierung vergleiche: Gesetz z u r Sicherung des Einsatzes von Steinkohle in der Verstromung und zur Änderung des Atomgesetzes und des Stromeinspeisungsgesetzes v o m 19. Juli 1 9 9 4 (im folgenden „Artikelgesetz" genannt). 1791
Gutachten vom Januar 1995
insbesondere geht zu Lasten von Stromkunden, die sich selbst im Wettbewerb behaupten müssen. Die mit dem Strompfennig finanzierte Subventionierung der Steinkohleverstromung schmälert nicht zuletzt auch die Wettbewerbsfähigkeit der Steinkohlekonkurrenten, insbesondere die der ostdeutschen Braunkohle. Der Beirat beobachtet mit Sorge, wie auf das Urteil reagiert wird. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht bietet das Urteil die Chance, die vom Gericht verlangte Umstellung der Subventionsfinanzierung zum Anlaß zu nehmen, die Subventionierung der heimischen Steinkohle als solche und im ganzen zu prüfen: Worin besteht ihr gesamtwirtschaftlicher Nutzen, was kostet sie? Solche Forderungen sind in der öffentlichen Diskussion indessen nur wenig zu hören. Die Auseinandersetzungen befassen sich vielmehr ganz überwiegend mit der Frage, wie die Haushaltsmittel für die Verstromungssubvention aufgebracht werden sollten. Was hierzu vorgetragen wird, verheißt nichts Gutes. Wenn sich solche Vorstellungen in der Politik durchsetzen sollten, muß befürchtet werden, daß sich alte Fehlentwicklungen fortsetzen, Faktorbindungen in hoffnungslos unrentablen Verwendungen fortbestehen und — je nach Art der Finanzierung — neue Fehlentwicklungen hinzukommen. Der Beirat regt an, die deutsche Steinkohle — endlich — in die marktwirtschaftliche Ordnung zu überführen. Er möchte mit seinem Schreiben Sie, Herr Bundesminister, zu einer Initiative ermutigen, die die deutsche Kohlepolitik auf diesen Weg bringt. Mit dem Artikelgesetz ist ein erster Schritt getan worden. Es stellt insofern einen Fortschritt dar, als es die zu verströmende Kohlemenge nicht mehr festschreibt, die Gesamtsubvention plafondiert und für die Jahre ab 2001 eine Degression vorsieht, deren Festlegung die „dann gegebene gesamtwirtschaftliche und energiewirtschaftliche Situation sowie haushaltspolitische Erfordernisse" (§ 3 ArtGes) zu berücksichtigen hat. Die für die nächsten Jahre festgelegte Subvention ist jedoch zu hoch, die Degression setzt zu spät ein und ist zu schwach und das Prüfkriterium für die Subventionsbemessung ab dem Jahre 2001 zu wenig präzise. 2. Als das Artikelgesetz beschlossen wurde, konnte die Finanzierung der Verstromungssubvention noch den Stromverbrauchern aufgebürdet werden; jetzt ist die Politik mit der Frage konfrontiert, ob sie den 1792
Wirtschaftspolitische Folgerungen
überstrapazierten öffentlichen Haushalten eine neue Ausgabe für diesen Zweck zumuten darf. Die Antwort ist aus gesamtwirtschaftlicher Sicht eindeutig: Nein. Es gibt keine Subventionsfinanzierung für die Steinkohleverstromung, die nicht schwere gesamtwirtschaftliche Schäden verursacht. Mit dem Artikelgesetz wird die Subvention modifiziert und für sie eine begrenzte Kürzung in Aussicht gestellt, nicht aber eine totale Streichung. Der Vertrauensschutz verlangt, dies bei der Entscheidung über Tempo und Form des Subventionsabbaus zu beachten. D e m wird dann angemessen Rechnung getragen, wenn der Subventionsabbau über mehrere Jahre gestreckt wird. 3. Die kritische Lage der öffentlichen Haushalte gebietet es, zusätzliche Ausgaben ohne Ausweitung des Haushaltsvolumens zu finanzieren. Es ist allerdings äußerst schwierig, Streichungen und Kürzungen bisheriger Ausgaben in einem Ausmaße zu erreichen, das hinreicht, um die in den nächsten zwei, drei Jahren noch hinzunehmende Verstromungssubvention vollständig zu finanzieren. 4. Die meisten Vorschläge zur Neuregelung der Verstromungssubvention sehen nicht eine Umschichtung der Ausgaben im öffentlichen Gesamthaushalt, sondern eine Ausweitung der öffentlichen Einnahmen vor. Im Vordergrund steht dabei die Einführung einer allgemeinen Energiesteuer, die ohnehin breite Zustimmung findet, weil mit ihr der aus ökologischer und ressourcenpolitischer Sicht geforderte Umbau des Steuersystems in Gang gebracht werden könne. Für die Finanzierung aus einer allgemeinen Energiesteuer spreche auch, so heißt es, daß sie eine vergleichsweise geringe Zusatzbelastung bringe: Die Abschaffung des Kohlepfennigs entlaste ja die Stromverbraucher, und weil alle Energieverbraucher auch Strom bezögen, könne die Belastung aus einer allgemeinen Energiebesteuerung zwecks Finanzierung der Verstromungssubvention wenigstens zu einem guten Teil durch einen niedrigeren Strompreis ausgeglichen werden. Diese Argumentation ist vordergründig. Entscheidend ist, daß es ganz und gar unzulässig ist, die steuersystematisch zentrale Frage eines U m b a u s unseres Steuersystems mit der Kohlesubventionierung zu verbinden. Beides muß für sich geprüft und entschieden werden. Die Einführung einer allgemeinen Energiesteuer steht vor der bisher ungeklärten Frage, wie die verschiedenen 1793
Gutachten vom Januar 1995
Energieträger auf einen gemeinsamen „Energienenner" gebracht werden könnten, um eine einheitliche, den Energiewettbewerb nicht verzerrende Steuerbemessungsgrundlage zu schaffen. Außerdem sind die ressourcenökonomischen und ökologischen Wirkungen gegen die anderen gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen, insbesondere auf die Wettbewerbsfähigkeit und den U m f a n g der rentablen Arbeitsplätze, abzuwägen. Bei der Kohlesubventionierung beantwortet auch die scheinbar naheliegende Finanzierung durch eine allgemeine Energiesteuer nicht die Fage, welchen gesamtwirtschaftlichen Nutzen sie denn bringe — es ist dieselbe Frage wie bei der Umschichtung innerhalb des öffentlichen Haushalts. Wie man es dreht und wendet: Es gibt kein Argument, das es rechtfertigen könnte, eine auf längere Sicht angelegte Fortsetzung der Verstromungssubvention gutzuheißen und dafür die öffentlichen Haushalte in Anspruch zu nehmen. 5. Neben der allgemeinen Energiesteuer sind auch Ökosteuern vorgeschlagen worden, die neben anderen Zwecken auch zur Kohlesubventionierung herangezogen werden könnten. Hierzu gehört auch eine C 0 2 - S t e u e r oder -Abgabe, die in der politischen Diskussion eine prominente Rolle spielt. Umweltschädigende und gesundheitsgefährdende Emissionen mit einer Abgabe zu belegen, kann ein durchaus sinnvoller Weg sein, auf dem die Umweltschutzpolitik versucht, ihre Ziele zu erreichen. Es ist jedoch geradezu widersinnig, eine C 0 2 - A b g a b e als Instrument zur Finanzierung von Kohlesubventionen in Erwägung zu ziehen: Die Steinkohle ist nach der Braunkohle der größte C0 2 -Emittent unter den Energieträgern, so daß ihre Finanzierung aus einer C 0 2 - A b g a b e zwangsläufig eine Förderung von C 0 2 - E m i s s i o n e n darstellt. 6. Es wäre nach alledem falsch, für die weitere Finanzierung der im übrigen schnell abzubauenden Subventionierung Steuern neu einzuführen oder bestehende Steuern zu erhöhen. Es muß daher alles daran gesetzt werden, die Finanzierung der Kohlesubventionen in der hierfür festzulegenden Auslaufzeit durch Umschichtungen auf der Ausgabenseite und eine besonders sparsame Haushaltsführung zu erreichen. N u r so lassen sich die negativen Anreize einer weiteren Erhöhung der Staatsquote und der Abgabenquote vermeiden, und nur so wird insoweit auch nicht die Chance für ein in den nächsten Jahren schneller wachsendes Steueraufkommen verbaut. 1794
Wirtschaftspolitische Folgerungen
7. Der Kohleschutz kann nicht länger fortgesetzt werden. Das belegt schon der schiere Umfang der Steinkohlesubventionierung. Im Jahre 1994 beliefen sich diese Subventionen auf 10,4 Mrd D-Mark, davon allein 6,3 Mrd D-Mark über den sogenannten Strompfennig für den Kohleverkauf an Kraftwerke und 2,8 Mrd D-Mark über die Kokskohlebeihilfe. Zu den Subventionen kommen noch weitere Schutzmaßnahmen hinzu, die ebenfalls Produktionsfaktoren in unrentablen Verwendungen binden. Der Gesamtumfang der volkswirtschaftlichen Kosten des Kohleschutzes, gemessen an Einbußen bei gesamtwirtschaftlicher Produktion und rentablen Arbeitsplätzen, geht weit über das hinaus, was der Subventionsumfang vermuten läßt. Auch die regionalpolitischen Schäden des Kohleschutzes wiegen schwer. Indem dieser die strukturelle Erneuerung der Reviere verzögerte, wurde er mitverantwortlich für dort anhaltende Strukturschwächen und die damit verbundene Arbeitslosigkeit. 8. Den hohen Kosten des Schutzes heimischer Steinkohle steht kein gesamtwirtschaftlicher Nutzen aus höherer Versorgungssicherheit der Inlandskohle als Gegenposten gegenüber. Die Verfügbarkeit über Auslandskohle ist nicht geringer einzuschätzen als die über deutsche Steinkohle. Kohle ist weltweit reichlich vorhanden und kostet nur einen Bruchteil der deutschen Steinkohle. Ihre Vorkommen sind regional weit gestreut, die Vorkommen in politisch sicheren Ländern sind hinreichend umfangreich und leicht zugänglich, die Anzahl der Anbieter ist sehr groß, und nichts weist darauf hin, daß Weltmarktkohle jemals teuerer werden könnte als deutsche Steinkohle. Nicht einmal während der beiden Ölkrisen war das der Fall. 9. Die deutsche Politik hat bedeutende Beiträge zur Wettbewerbsordnung der Europäischen Gemeinschaft geleistet, nicht jedoch bei der Steinkohle. Es steht der Bundesrepublik Deutschland schlecht an, wenn sie für ihren Steinkohlebergbau immer wieder aufs neue beihilferechtliche Sonderregelungen verlangt. Der Beirat empfiehlt, den Ubergang in die wettbewerbliche Ordnung des Steinkohlemarktes jetzt einzuleiten. Der Abbau der Subventionen sollte spätestens bis zum Jahre 2005 erfolgen; die in § 3 des Artikelgesetzes vorgesehene Regelung, die eine Weiterführung der Subventionen vorsieht, ist abzulehnen. Das bietet Unternehmen wie Arbeitnehmern im Steinkohlebergbau immer noch mehr Zeit, sich auf 1795
Gutachten vom Januar 1995
die neuen Bedingungen einzustellen, als den vielen anderen, denen eine Verschärfung des Wettbewerbs auf Inlands- oder Auslandsmärkten hart zusetzt. Eine Förderung des Aufbaus einer neuen regionalen Wirtschaftsbasis ist allemal besser als die Erhaltung unrentabler Produktionsstrukturen. Mit freundlichen Grüßen Der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft Professor Dr. Norbert Kloten
1796
Gutachten vom 17./18. Februar 1995 Thema: Orientierungen für eine Postreform III D e r Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft hat sich in mehreren Sitzungen, zuletzt am 17./18. Februar 1995, mit dem T h e m a
Orientierungen für eine Postreform III befaßt und ist dabei zu folgender Stellungnahme gelangt:
I.
Handlungszwang für den Gesetzgeber 1. Nach der Postreform des Jahres 1989 hat der Bundesgesetzgeber im vergangenen Jahr die Postreform II verabschiedet. Mit Beginn dieses Jahres sind die bisherigen Sondervermögen Deutsche Bundespost T E L E K O M , P O S T D I E N S T und POSTB A N K in selbständige Aktiengesellschaften umgewandelt worden. 1996 soll die Deutsche Telekom A G im Wege einer Kapitalerhöhung teilprivatisiert werden. Der Bund wird vorerst die Mehrheit der Anteile behalten. Schon heute steht fest, daß das umfängliche Gesetzeswerk des Jahres 1994, welches eine Änderung des Grundgesetzes mit einschloß, nur ein Zwischenschritt sein kann. N o c h in der gegenwärtigen Legislaturperiode wird es zu einer Postreform III kommen. Sie wird ausgelöst von einem Beschluß des Rates der Europäischen Union vom 17. November 1994. Dieser legt fest, daß zum 1. Januar 1998 nicht nur der gesamte Sprachtelefondienst, sondern auch die Telekommunikationsinfrastruktur, also die Netze, dem Wettbewerb geöffnet werden. Darin k o m m t die Ansicht zum Ausdruck, daß Größenvorteile des Angebots, die bisher noch für die Monopolisierung der Netzinfrastruktur sprachen, nunmehr gegenüber anderen Faktoren wie Dienstevielfalt und dadurch ausgelöste Suchprozesse entscheidend an Bedeutung verloren haben. D e r Beschluß des Rates bedeutet eine vollständige Umgestaltung der Telekommunikationsordnung. Die Vorstellung, daß ein öffentliches Monopolunternehmen mit flächendeckender Versorgungspflicht notwendig sei, um die staatliche Infrastrukturverantwortung wahrzunehmen, ist überholt. Sie wird abgelöst von 1797
Gutachten vom 17./18. Februar 1995
der Leitidee, daß eine auf Gewerbefreiheit, Individualrechten und Wettbewerb beruhende Ordnung zu einer gesamtwirtschaftlich überlegenen Lösung führt. 2. Der Wissenschaftliche Beirat nimmt diese Entwicklung zum Anlaß, der Postreform III im Sektor Telekommunikation Orientierung zu geben. Es gilt, Bestrebungen entgegenzuwirken, die den Regelungsauftrag des Europäischen Gemeinschaftsrechts mit Blick in die Vergangenheit nur halbherzig umsetzen wollen. Eine auf Dauer tragfähige Konzeption verlangt, daß die überkommenen Strukturen in ein Wettbewerbssystem überführt werden. Dazu gehört, der Deutschen Telekom AG eine Unternehmensverfassung zu geben, welche den zwingenden Normen des allgemeinen Aktienrechts entspricht. Der auf den 1. Januar 1998 ausgerichtete Liberalisierungsbeschluß des Rates der Europäischen Union ist die ordnungspolitische Schlußfolgerung aus technischen und wirtschaftlichen Entwicklungen, welche den Telekommunikationsbereich in den vergangenen 20 Jahren weltweit grundlegend verändert haben. Der deutsche Gesetzgeber hat dem bei der Postreform II insoweit Rechnung getragen, als er wesentliche Teile des Gesetzeswerkes auf den 31. Dezember 1997 befristet hat. 3. Telekommunikation, elektronische Datenverarbeitung und Bürotechnik sind bereits in hohem Maße miteinander verschmolzen. Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich ab im Verhältnis von Individualkommunikation und Massenkommunikation, also Hörfunk, Fernsehen und Video. Am weitesten ist die Entwicklung in den USA und in Großbritannien fortgeschritten. Diese Länder haben ihren Telekommunikationssektor früh und entschlossen dem Wettbewerb geöffnet. Sprache, Daten, bewegte Bilder lassen sich über einheitliche Netze speichern, übertragen, abrufen, reproduzieren und kopieren. Die überkommene Trennung zwischen Übertragungstechnik („conduit") und Ubertragungsgut bzw. -inhalten („content") hat den bisherigen Ordnungsrahmen geprägt. In Deutschland hat sie etwa zur Unterscheidung zwischen der Zuständigkeit des Bundes im Fernmeldewesen und der Zu1798
Orientierungen für eine Postreform III
ständigkeit der Länder für den Rundfunk geführt. Auch diese Kompetenzordnung wird durch die genannte Entwicklung in Frage gestellt. Zugleich sprechen alle Anzeichen dafür, daß die Bedeutung der Telekommunikation weiterhin stark zunehmen wird. Für den Wirtschaftsstandort Deutschland, für die Wettbewerbsfähigkeit nicht nur der Telekommunikationsindustrie im engeren Sinne, sondern für weite Teile der Wirtschaft überhaupt, sind die modernen Informationstechniken von größter Bedeutung. Die Europäische Kommission nimmt an, daß gegen Ende dieses Jahrzehnts sieben Prozent des Bruttosozialprodukts in der Gemeinschaft direkt vom Telekommunikationssektor abhängig sein werden, im Vergleich zu zwei Prozent wie noch in den 80er Jahren. Der Weltmarkt für Telekommunikationsgeräte und -dienstleistungen sowie Informationstechnik zusammen weist bereits heute ein Volumen von rund 1,5 Billionen D M pro Jahr auf. Die wachsende volkswirtschaftliche Bedeutung der Telekommunikation wird durch solche Zahlen indessen nicht vollständig verdeutlicht, denn die hohen Produktivitätsfortschritte, die für diesen Sektor typisch sind, werden die Preise der von ihm angebotenen Dienstleistungen senken und von daher seinen Anteil am Sozialprodukt verringern. Der volkswirtschaftliche Vorteil der Telekommunikation liegt in erster Linie in der Erleichterung wirtschaftlicher Austauschprozesse, von der alle Sektoren der Wirtschaft profitieren. Er geht weit über die unmittelbaren Vorteile im Bereich der Telekommunikation hinaus.
II.
Defizite der bisherigen Postreformen 4. D i e 1989 in Kraft getretene Postreform I war in ihrem Kern eine Organisationsreform. Sie bemühte sich mit der Verselbständigung von drei Betriebseinheiten um höhere Effizienz für das öffentliche Monopolunternehmen Deutsche Bundespost. Ordnungspolitische Anliegen wie z.B. die Liberalisierung der Endgerätemärkte oder die Trennung von hoheitlichregulativen Aufgaben einerseits und unternehmerischen Aufgaben andererseits wurden nur in dem Ausmaße verwirklicht, wie es nach dem Europäischen Gemeinschaftsrecht 1799
Gutachten vom 17./18. Februar 1995
unausweichlich war. Mit dem Versuch, die Monopolrechte weitgehend zu wahren, bildete sie ein Beispiel für eine kurzsichtige, ihrer Verantwortung schwerlich gerecht werdende Politik. In der Postreform II stehen die formelle Privatisierung der drei Postunternehmen und die beabsichtigte materielle Teilprivatisierung für die Deutsche Telekom AG ganz im Vordergrund. Die rechtlichen Restriktionen, denen die Telekom als Teil der Bundesverwaltung unterlag, erwiesen sich zunehmend als Belastung. Die Reformperspektive begrenzte sich indessen auf das öffentliche Großunternehmen selbst. An den überkommenen Ordnungsprinzipien wurde festgehalten, die neuen Fragen wurden nicht berücksichtigt. 5. Die Gesetzgebung wird nicht einmal den Erfordernissen einer organisationsrechtlichen Neuordnung im Verhältnis der privatisierten Unternehmen zur öffentlichen Hand gerecht. Die neu gegründete Bundesanstalt für Post und Telekommunikation Deutsche Bundespost soll, wie es in der amtlichen Begründung zum Neuordnungsgesetz heißt, der historisch gewachsenen Einheit des Post- und Fernmeldewesens sowie der Bedeutung der bisherigen Bundespost für die Infrastruktur Rechnung tragen. Darin kommt das Bemühen zum Ausdruck, die bisherigen Strukturen soweit wie möglich zu erhalten und nur diejenigen organisatorischen Änderungen vorzunehmen, die unerläßlich sind, der Telekom den Zugang zu ausländischen Märkten und zum Kapitalmarkt zu öffnen. 6. Die Anteile des Bundes an den Nachfolgegesellschaften der Deutschen Bundespost hält die Bundesanstalt. Ihre wichtigste Aufgabe ist es, die Aktien auf dem Kapitalmarkt schrittweise zu veräußern. Dazu hätte es dieser Organisation nicht bedurft. Die genannte Aufgabe wird ohnehin von einem international erfahrenen Bankenkonsortium wahrgenommen. Wenn schon die Schaffung einer Holding-Gesellschaft aus politischen Gründen nicht zu vermeiden war, wäre dafür eine Aktiengesellschaft besser geeignet gewesen, weil sie ebenso wie die zu privatisierende Telekom an zwingende Normen des Aktienrechts gebunden wäre. Davon soll aber die Bundesanstalt in wichtigen Belangen gerade ausgenommen sein. Deutlich wird dies zunächst an der Konstruktion des Verwal1800
Orientierungen für eine Postreform III
tungsrates der Bundesanstalt, der bei privatrechtlicher Rechtsform am ehesten mit einem Aufsichtsrat vergleichbar ist. In dem Verwaltungsrat stehen einem Vorsitzenden und je einem Vertreter der drei zuständigen Ministerien sechs Repräsentanten des Unternehmens gegenüber, von denen drei Arbeitnehmervertreter sind. Mithin haben die dem Unternehmen verbundenen Mitglieder des Verwaltungsrates in diesem Kontrollorgan die Mehrheit. Bei aktienrechtlicher Betrachtung wäre solche Konstruktion schon deshalb unzulässig, weil nicht Aufsichtsratsmitglied sein kann, wer als Vorstandsmitglied gesetzlicher Vertreter eines von der Aktiengesellschaft abhängigen Unternehmens ist. Eben dies trifft aber im Verhältnis zur Bundesanstalt als Mehrheitsaktionärin der Nachfolgegesellschaften zu. In der Ausübung ihrer Rechte als Aktionärin soll die Anstalt selbst nicht den grundlegenden Normen des Aktienrechts verpflichtet sein. Nach dem allgemeinen Aktienrecht wäre sie an Gesetz und Satzung und damit an die allen Aktionären gemeinsamen Interessen gebunden. Die Anstalt soll dagegen die nicht näher definierten Interessen der Bundesrepublik Deutschland mit Vorrang wahrnehmen (§ 32 Abs. 2 der Anstaltssatzung). Dies geht sogar so weit, daß aktienrechtliche Nichtigkeits- und Anfechtungsgründe (Rechtswidrigkeit, Sittenwidrigkeit) im Interesse der Bundesrepublik Deutschland außer acht gelassen werden können. Die erste Aufgabe des Gesetzgebers sollte darin bestehen, die Privatisierung in Übereinstimmung mit den zwingenden Normen des Aktienrechts auszugestalten. 7. Der Bundesanstalt ist durch Gesetz die Aufgabe übertragen, die Unternehmensplanungen der drei Nachfolgegesellschaften zu koordinieren sowie einen Gewinn- und Verlustausgleich zwischen ihnen zu ermöglichen. Die Koordinierung kann jedoch nicht gegen den Willen der beteiligten Unternehmen durchgeführt werden. Das folgt nicht nur aus ihrer Mehrheit im Verwaltungsrat, sondern auch aus ihrer Beteiligung am Abschluß von gesetzlich vorgeschriebenen Betriebsführungsverträgen. Die Aktiengesellschaften sind nämlich verpflichtet, entgeltliche Betriebsführungsverträge mit der 1801
Gutachten vom 17./18. Februar 1995
Bundesanstalt über die Wahrnehmung der dieser obliegenden nichtunternehmerischen Aufgaben abzuschließen. Aus dem Entgelt soll die Bundesanstalt ihre Tätigkeiten finanzieren. Gegenstand der Koordinierung sind auch Infrastrukturverpflichtungen aufgrund von Regulierungsauflagen (§11 Bundesanstalt Post-Gesetz). Im Vordergrund steht der Zweck dieser Regelungen, die Einheit der Postunternehmen unter den neuen Bedingungen zu erhalten und den Unternehmen maßgeblichen Einfluß auf die Ausübung der Aufsichts- und Eigentümerfunktionen des Bundes zu sichern. Der Gesetzgeber sollte diese erneute Vermischung verschiedener und teilweise kollidierender Funktionen auflösen. 8. Eine ähnliche Vermischung ordnungspolisch besser zu trennender Funktionen ist gegeben, wenn dieselben Personen im Postministerium Regulierungsfunktionen und im Aufsichtsrat der Telekom AG unternehmerische Funktionen wahrnehmen. Letzteres wäre in den USA strikt verboten; die Einführung von Telekom-Aktien an amerikanischen Börsen kann dadurch verhindert werden. Eine Trennung der Wahrnehmung von Kapitaleignerinteressen einerseits und der Durchführung von Regulierungsbefugnissen andererseits ist für den Telekommunikationsbereich EG-rechtlich gefordert. Ein Vertreter der Regulierungsbehörde im Aufsichtsrat der Telekom AG ist nach deutschem Verwaltungsverfahrensrecht daran gehindert, in einem Verfahren tätig zu werden, an welchem die Telekom AG Beteiligte ist. Auch hier sollte der Gesetzgeber für eine strikte personelle und institutionelle Funktionstrennung sorgen. 9. Der Gesetzgeber, der ein staatliches Fernmeldemonopol dem Wettbewerb öffnen will, hat ein ganzes Bündel ordnungspolitischer Probleme zu lösen. Ihnen ist gemeinsam, daß sie in ihrer grundsätzlichen Bedeutung infolge der organisatorischen Einheit von Staat und Unternehmen lange Zeit nicht wahrgenommen oder verdrängt wurden. Der Staat vereinigte in sich die folgenden, in einer Marktwirtschaft zu trennenden Funktionen: die der politisch verantwortlichen Regierung, die des 1802
O r i e n t i e r u n g e n für eine Postreform III
Regulierers, die des Unternehmers und schließlich die des Eigentümers. Aus der Vermengung dieser Funktionen sind Strukturen entstanden, die Kontrollmechanismen teils rechtlich, teils faktisch weitgehend außer Kraft gesetzt haben. Die Entscheidungen über Telefontarife, denen unternehmerisch und gesamtwirtschaftlich die größte Bedeutung zukommt, orientierten sich an politischer Opportunität und am Kapitalbedarf des Unternehmens oder des Bundes. Die unangefochtene Monopolstellung führte dazu, daß das Unternehmen und der Staat nicht gezwungen waren, einen Zusammenhang zwischen Tarifen und Kosten herzustellen. Unbekannt ist, inwieweit die Kosten wegen fehlenden Rationalisierungsdrucks überhöht sind. Die Verbindung hoheitlicher und unternehmerischer Aufgaben hat ferner dazu geführt, daß im Gegensatz zum Recht der USA keine materiellrechtlichen Prinzipien und rechtsstaatlichen Verfahren für die Monopolaufsicht über die Postunternehmen entwickelt wurden. Dahinter stand die Fiktion, daß die Beteiligung des Staates die Übereinstimmung des Unternehmensinteresses einerseits und des öffentlichen Interesses andererseits garantiert. So konnte sich ein Unternehmen entwickeln, das infolge seiner Größe und seiner ertragreichen Monopole in wirtschaftlichen Schlüsselbereichen der politischen und rechtlichen Kontrolle ebenso entzogen war, wie der durch den Markt. 10. Wenn in den Materialien zur Postreform II von Wettbewerb die Rede ist, dann geht es um die Wettbewerbsfähigkeit der Telekom, nicht aber um den Zugang von Wettbewerbern zu bisher geschlossenen Märkten. Zu den Instrumenten, welche die Wettbewerbsfähigkeit sichern sollen, gehört die Übertragung der bisher staatlichen Monopole — nämlich die des Netzmonopols und des Telefondienstmonopols — auf die Telekom. Der Gesetzgeber verweist für die Rechtsstellung der neuen Monopolinhaber auf den bisherigen Rechtszustand und die bisher geltende Regulierung. Damit werden aber die qualitativen Veränderungen, die mit der Übertragung der Monopolrechte auf private Unternehmen verbunden sind, unberücksichtigt gelassen. Die Privatisierung ist zwar eine wichtige Voraussetzung, um auf den Telekommunikationsmärkten Wettbewerb zu ermöglichen, sie ist jedoch nicht hin1803
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reichend. Gewiß entfallen die Schranken, die für die unternehmerische Handlungsfreiheit eines Staatsunternehmens vor allem auf Auslandsmärkten gelten. Auch die Personalstruktur wird durch den schrittweisen Abbau des Beamtenstatus flexibler. Die Privatisierung der Unternehmen ist von der Übertragung der Monopolrechte auf die privatisierten Unternehmen zu unterscheiden. Diese Aufrechterhaltung der Monopole erschwert die Herstellung von Wettbewerb. Auch als zeitlich begrenzte Ubergangsmaßnahme läßt sie sich nicht rechtfertigen. Sie verschärft vor allem die Probleme der Monopolaufsicht. Das Unternehmen erhält die Möglichkeit, sich mit Hilfe von Monopolgewinnen faktisch beherrschende Stellungen auf angrenzenden Märkten zu sichern, sich an Unternehmen im Einzugsbereich der Monopole zu beteiligen und sich Vorzugsstellungen im grenzüberschreitenden Wettbewerb mit Hilfe von „strategischen Allianzen" zu verschaffen, die auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit zwischen privilegierten Unternehmen beruhen. Die Interessen der Aktionäre stehen solchen Verhaltensweisen nicht entgegen. Sie sind am Gewinn des Unternehmens unabhängig davon interessiert, ob er unter Einsatz von Monopolmacht oder im Wettbewerb erzielt wird. 11. Das Gesetz über die Regulierung der Telekommunikation und des Postwesens ist nicht geeignet, den Gefahren, die mit der Monopolisierung gesamtwirtschaftlich wichtiger Märkte verbunden sind, wirksam zu begegnen. Die Aufgabe der Regulierung, die bisher in die Zuständigkeit des Ministers für Post und Telekommunikation fiel, wird zwischen dem Ministerium und dem in Regulierungsrat umbenannten Infrastrukturrat geteilt. Alle wichtigen Regulierungsmaßnahmen des Ministers sind an die Zustimmung des Regulierungsrates gebunden, der ein politisches Gremium ist. Er hat 32 Mitglieder, von denen je die Hälfte vom Bundestag und von den Ländern entsandt werden. Die Regulierung soll sicherstellen, „daß in den Bereichen der Telekommunikation und des Postwesens flächendeckend angemessene und ausreichende Dienstleistungen erbracht werden" (§ 2 PTRegG). Ein wesentliches Instrument, um das zu 1804
Orientierungen für eine Postreform III
bewirken, ist die Genehmigung von Tarifen im Monopolbereich durch den Regulierungsrat. Das Gesetz schweigt indes über die für die Regulierung maßgeblichen wettbewerbsbezogenen materiellrechtlichen Kriterien, über die Mitwirkungspflichten der zu kontrollierenden Unternehmen, über das Regulierungsverfahren und über die dem Regulierer zu Gebote stehenden Sanktionen. Nicht berücksichtigt werden die Erfordernisse einer Politik, die darauf gerichtet ist, Telekommunikationsmärkte fortschreitend für Wettbewerb zu öffnen. Solche Öffnung der Märkte setzt im wesentlichen die Gewährleistung des Zugangs zum Netz der Telekom für Unternehmen voraus, die eigene Telekommunikationsleistungen mit Hilfe des Netzes erbringen wollen. Die Gewährleistung von Tarifen, die die Verbraucher nicht ausbeuten, unternehmerische Nutzer im internationalen Wettbewerb nicht benachteiligen und den Marktzutritt von Wettbewerbern nicht gezielt verhindern, erfordert eine Tarifaufsicht, die auf wettbewerbsanaloge Preise zielt und sich an Märkten orientiert, auf denen bereits Wettbewerb herrscht. Eine solche Tarifpolitik hätte zudem den Vorteil, daß sie die Nachfrage steigert und dem Monopolunternehmen Anreize gibt, eine Verbesserung der Ertragslage in einer Ausweitung des Angebots zu suchen. Auch wenn man die Möglichkeiten einer effektiven Tarifkontrolle nicht überschätzen darf, ist es angesichts der fortbestehenden Hindernisse für den Zugang zu den Ortsnetzen unerläßlich, eine wirksame Monopolaufsicht zum Schutz der Verbraucher und des Wettbewerbs zu entwickeln. Regulierungsgrundsätze im Rahmen der Postreform III 12. Die Postreform III muß über die genannten Aspekte der Unternehmensverfassung hinaus diese ungelösten Regulierungsaufgaben bewältigen und hierfür einen Rahmen schaffen, der auf die Erfordernisse des europäischen Gemeinschaftsrechts abgestimmt ist. Die Gewährleistung der Freiheit des Warenund des Dienstleistungsverkehrs sowie eines Systems unverfälschten Wettbewerbs sollten nicht als lästige Verpflichtungen angesehen werden. Es kommt vielmehr darauf an, den nationalen Ordnungsrahmen für die Telekommunikation an1805
Gutachten vom 17./18. Februar 1995
hand der Prinzipien weiterzuentwickeln, welche für die Liberalisierung im grenzüberschreitenden Verkehr gelten. Dazu gehören Grundsätze für die Zulassung von Wettbewerb zwischen Kommunikationsnetzen, sei es durch Aufhebung von Nutzungsbeschränkungen für vorhandene Netze, sei es durch Errichtung und Betrieb neuer Netze. Der verfassungsrechtliche Auftrag einer flächendeckenden und ausreichenden Versorgung der Verbraucher mit Kommunikationsleistungen entspricht den gemeinschaftsrechtlichen Vorbehalten zugunsten des Universaldienstes. Auch dieses Ziel m u ß unter gewandelten technischen und ökonomischen Bedingungen mit wettbewerbskonformen Mitteln verfolgt werden (vgl. Ziffer III.3). Hierzu bedarf es einer konkretisierenden Gesetzgebung. Der Beirat behandelt im folgenden Regulierungsgrundsätze für Lizenzierung, f ü r Preisregulierung, für den Universaldienst und f ü r die institutionelle Verankerung der Regulierung. III. 1.
Lizenzierung 13. N a c h dem EU-Ministerratsbeschluß soll in der Telekommunikation Gewerbefreiheit an die Stelle eines staatlichen Monopols treten. D u r c h sie und nicht durch das regulierte Monopol soll die Versorgung der Bevölkerung gewährleistet werden. Unter dem bisherigen Regime waren Lizenzen für weitere Anbieter von Telekommunikationsleistungen als Ausnahmen gedacht. Jetzt aber, wo die Ausnahme zur Regel wird, ist f ü r Lizenzen im Sinne einer Kontingentierung des Marktzugangs grundsätzlich keine Berechtigung mehr gegeben. Insbesondere gibt es keine Rechtfertigung dafür, den anfänglich von Großbritannien eingeschlagenen Weg zu gehen, nämlich zunächst n u r einen und erst irgendwann einmal mehrere Anbieter für Telekommunikationsinfrastruktur (Vermittlungsund Übertragungseinrichtungen, Kabel und Funkstrecken) zuzulassen. Wenn sich dennoch Marktzugangsregelungen im Bereich der Telekommunikationsinfrastruktur empfehlen, so deshalb, weil die Leistungsanbieter auf Wegerechte, Frequenzen und N u m m e r n angewiesen sind, über die der Staat verfügt. Lizen-
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Orientierungen für eine Postreform III
zierung bedeutet unter dem neuen Regime nur noch, daß ein privater Anbieter Zugang zu diesen Rechten erhält, bevor er seine eigenen Leistungen auf den Markt bringen kann. Solche Offenheit des Marktzugangs schließt nicht aus, daß privaten Lizenznehmern Auflagen z.B. hinsichtlich der Verbindung von Netzen und ihrer Kompatibilität gemacht werden können. 14. Umstritten ist, ob Unternehmen, die über gesetzlich geschützte Monopole auf anderen Märkten verfügen, ζ. B. die Elektrizitätsversorgungsunternehmen, daran gehindert werden sollten, mit ihrer Infrastruktur in den Markt einzutreten. Es wird befürchtet, sie könnten das Monopol auf ihren Stammärkten dazu ausnützen, ihr eigenes Telekommunikationsangebot intern zu subventionieren, und damit den Wettbewerb mit den sonstigen Anbietern verfälschen. Angesichts der überkommenen Monopolstellung der Telekom sollte ein Unternehmen, das auf einem anderen Markt über eine Monopolstellung verfügt, nicht vom Marktzutritt ausgeschlossen werden. Von solchen Neuanbietern muß jedoch verlangt werden, die Telekommunikation über eine ausgegliederte Gesellschaft zu betreiben. 15. Die leitungsgebundene Übertragung bildet wegen ihrer hohen Zuverlässigkeit nach wie vor das Rückgrat der modernen Telekommunikation. Mit dem Aufkommen der Glasfaserkabel ist die Leistungsfähigkeit dieser Übertragungsform noch einmal beträchtlich gesteigert worden. Die Übertragungskosten sind stark gesunken. Der Vorteil dieser Technologie läßt sich aber nur ausnützen, wenn Wege- bzw. Kabelverlegungsrechte zur Verfügung stehen. Für die Gewährung solcher Rechte sind flexible, den Bedürfnissen der Anbieter angepaßte Verfahren, notwendig. Im Ausland haben sich Kabelbetreiber bisher vor allem der nichtöffentlichen Trassen bedient, entlang derer sie ihre Leitungen verlegten. D o c h ist diese Einschränkung keineswegs zwingend. Die etablierten Fernmeldegesellschaften, wie die Deutsche Telekom, benutzen demgegenüber vor allem die öffentlichen Wege zur Verlegung ihrer Kabel. Dieses Recht sollte auch den anderen Anbietern gewährt werden. 1807
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Ein Entgelt für solche Nutzung in Anlehnung an die Praxis der Konzessionsabgaben zu Lasten der Energieversorgungsunternehmen sollte nicht eingeführt werden. Die öffentlichen Eigentümer solcher Wege sind lediglich Treuhänder ihrer Bürger und können deshalb nicht mit sonstigen Privateigentümern gleichgestellt werden. Nur wenn die Kabelverlegung zu wirklicher Knappheit an Kabelräumen in öffentlichen Wegen führt — in Innenstädten mag dies häufiger vorkommen als auf dem Lande — sind Knappheitspreise für die Nutzung des Bodens angebracht. Sie sind von der Deutschen Telekom ebenso zu tragen wie von den privaten Anbietern. Dabei versteht es sich von selbst, daß Bauauflagen zu erfüllen und die anfallenden Baukosten von den Lizenznehmern selbst zu tragen sind. Gegenseitige Beeinträchtigungen mehrerer Kabelverleger sind möglichst auf dem Verhandlungsweg zu lösen, wobei der Staat Prioritätsrechte festlegen kann. 16. Die Nutzung von Frequenzen bedarf einer Regelung, damit sie störungsfrei erfolgen kann. Dabei empfiehlt sich ein zweistufiges Verfahren, wie es die „Gutachterkommission für Grundsatzfragen der Frequenzregulierung im zivilen Fernmeldewesen" (1991) vorgeschlagen hat. Es umfaßt zunächst die sehr breit definierte „Zuweisung" von Frequenzen zu Aktivitäten wie Rundfunk, Mobilfunk, etc. Dies geschieht in der Regel auf der Basis internationaler Abkommen. Der „Zuweisung" folgt dann die „Zuteilung" von Frequenzen für bestimmte Anbieter von Diensten. Die Kriterien für die „Zuteilung" sollten den veränderten wettbewerbsorientierten Bedingungen entsprechen. Im Falle von Fernmeldefrequenzen kommen namentlich Versteigerungen in Betracht. Dieses Verfahren hat sich in den USA bereits bewährt. 17. Mit der zunehmenden Zahl von Telekommunikationsanbietern wird auch der nutzbare Nummernraum zunehmend zu einem knappen Gut. Er muß auf die einzelnen Verwendungen aufgeteilt werden. So werden in internationalen Abkommen ζ. B. Länderzuordnungen vorgenommen. Auf nationaler Ebene sind Nummernpläne zu erstellen. Die Antragsteller erhalten dann auf administrativem Weg einzelne Nummerniäume
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Orientierungen für eine Postreform III
zugeteilt. Falls konkurrierende Bedürfnisse bestehen, sollte eine Zuteilung gegen Gebot erfolgen. 18. Zur Gewährleistung der Interoperabilität der Dienste kann weiter erwogen werden, den Marktzugang von der Zusammenschaltung der Netzinfrastrukturen abhängig zu machen. Allerdings kann ein Verbund nicht von jedwedem Netzinfrastrukturanbieter erzwungen werden. Es mag geschlossene Nutzergruppen geben, die gerade deshalb effizient sind, weil nicht jeder Außenstehende ihre Anlagen mitnutzen kann. Corporate Networks sind ein Beispiel hierfür. Ein Zwang zur Zusammenschaltung bzw. ein Kontrahierungszwang nach vorgegebenen Regeln sollte aber in jenen Fällen angezeigt sein, wo Netzkapazität einer nicht näher definierten Allgemeinheit angeboten wird und wo der Betreiber eine strategische Stellung dazu ausnützen kann, seine Standards und Monopolpreise durchzusetzen. Dies ist ein Anwendungsfeld der staatlichen Mißbrauchs- und Preisaufsicht (vgl. Textziffer 19).
III. 2. Preisregu lieru ng 19. Auch nach der Öffnung der Märkte für Infrastrukturleistungen in der Telekommunikation wird die Deutsche Telekom noch geraume Zeit über eine marktbeherrschende Stellung als Anbieter von Netzkapazität in Deutschland verfügen. Um die damit verbundenen Mißbrauchsgefahren zu vermeiden, ist sie einer Preisregulierung zu unterwerfen. Hierfür eignet sich das in Großbritannien und in den USA schon erprobte und in Deutschland vorgesehene Verfahren der Preisniveaubegrenzung (Price-Cap-Regulierung): Für einen vorgegebenen Warenkorb der Endabnehmerstufe wird ein Ausgangspreisniveau anhand des Vergleichsmarktkonzepts bestimmt. Dieses Niveau darf in der Folge jährlich um nicht mehr als der Gesamtindex der Konsumgüterpreise abzüglich eines Faktors x, der dem mutmaßlichen überdurchschnittlichen Produktivitätsfortschritt der Branche entspricht, ansteigen. Wie das Unternehmen seine Einzelpreise innerhalb dieses Warenkorbs verändert, bleibt grundsätzlich seine Sache. Nur der gewichtete Gesamtpreis darf um nicht mehr als die erwähnte Rate steigen beziehungsweise muß mindestens um diese gesenkt werden. 1809
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Nach einer Variante dieses Verfahrens werden zusätzlich Höchstpreise für einzelne Telekommunikationsleistungen als Beschränkung in die Price-Cap-Regulierung einbezogen. Das Unternehmen darf die Preise nur unter Einhaltung der Price-Cap-Grenze des allgemeinen Warenkorbes und der erwähnten Höchstpreise verändern. Dieses Verfahren kann namentlich dann zum Einsatz kommen, wenn die im folgenden Abschnitt III.3 zu behandelnde Universaldienstauflage eingeführt werden sollte. Auf der Großhandelsstufe geht es um die Regulierung der Verbindungspreise zwischen einem marktmächtigen Netzbetreiber wie der Telekom und ihren Netzbetreiber-Konkurrenten (vgl. oben Textziffer 18). Auch diese Preise lassen sich grundsätzlich nach dem Price-Cap-Verfahren festlegen, was im Verhältnis zu den Mobilfunknetzanbietern in Deutschland bereits praktiziert wird. III.3.
Universaldienstauflage
20. Die Liberalisierung der Netzinfrastruktur, die vom EU-Ministerrat zum 1. Januar 1998 beschlossen worden ist, steht unter der Auflage der Erhaltung bzw. Gewährleistung eines Universaldienstes. In ihrem Grünbuch definiert die EU-Kommission den Universaldienst wie folgt: „Der universelle Dienst gewährleistet allen Benutzern den Zugang zu einem festgelegten Minimaldienst mit einer spezifizierten Qualität zu einem erschwinglichen Preis, basierend auf den Grundsätzen der Allgemeinheit, Gleichheit und Kontinuität" (Grünbuch über die Liberalisierung der Telekommunikationsinfrastruktur und der Kabelfernsehnetze, 1995, Teil II, S. 133). Als Minimaldienst werden u. a. der einfache Telefonanschluß, der Auskunftsdienst, die öffentlichen Telefonzellen, der Zugang zu Notdiensten, die Versorgung von Armen und Gebrechlichen und die Bereitstellung von Telefonbüchern genannt. 21. Weil leitungsgebundene Telekommunikationsleistungen in der Regel unter Dichtevorteilen produziert werden, weil also die Durchschnittskosten in den Ballungsgebieten oft niedriger sind als an der Peripherie, stellt sich das Universaldienstproblem vor allem in Mitgliedstaaten mit starker regionaler 1810
Orientierungen für eine Postreform III
Ungleichverteilung der Bevölkerung wie möglicherweise in Großbritannien, Schweden, Italien, Griechenland. In diesen Ländern sind die Randgebiete bei einem politisch vorgegebenen Höchstpreis und gegen die Peripherie hin steigenden Durchschnittskosten u. U. nicht mehr kostendeckend zu versorgen. Unter solchen Bedingungen kann insbesondere der Telefonanschluß für den Kunden in der Peripherie gefährdet sein. Ein Höchstpreis impliziert allerdings nicht einen flächendeckenden Einheitspreis. Für Deutschland mit seiner regional im ganzen ausgeglichenen Bevölkerungsverteilung ist die Erfüllung der Universaldienstauflage nicht eigentlich ein Problem. Die derzeit in den neuen Bundesländern noch bestehenden Defizite der regionalen Versorgung mit Telekommunikationsleistungen dürften in den nächsten Jahren weitgehend beseitigt sein. Im übrigen lassen technische Entwicklungen, namentlich die drahtlose Übertragung, die Entfernungskomponente zunehmend obsolet werden. Schließlich werden sich auch in der Telekommunikation die jetzt noch getrennten nationalen Märkte zu einem europäischen Binnenmarkt fortentwickeln. Nachfrage kann dann durch grenzüberschreitendes Angebot befriedigt werden. 22. Wenn hier gleichwohl auf die Universaldienstauflage näher eingegangen wird, so deshalb, weil die EU-Kommission (sich damit) sehr ausführlich in ihrem Grünbuch auseinandersetzt (1995, Teil II, insbesondere S. 91—98). Die Kommission skizziert in groben Umrissen ein Verfahren, wie die Universaldienstauflage unter Wettbewerbsbedingungen gegebenenfalls eingehalten werden könnte. Zudem ist die Universaldienstauflage im Zuge der Postreform II in das Grundgesetz eingegangen. Nach dem neuen Art. 87f. gewährleistet der Bund „flächendeckend angemessene und ausreichende Dienstleistungen". Es ist damit zu rechnen, daß diese Regelung von Anbietern zum Anlaß genommen wird, den Zugang zum Markt in ungerechtfertigter Weise zu beschränken. Von Nachfragern könnte sie benutzt werden, ungerechtfertigte Sonderkonditionen zu verlangen. Es ist also nicht auszuschließen, daß die Universaldienstauflage zu einem äußerst kostenaufwendigen 1811
Gutachten vom 17./18. Februar 1995
Subventionierungsinstrument wird und derart die Vorteile aus dem Netzwettbewerb wieder zunichte gemacht werden. Das Verfahren, das die Universaldienstauflage sichert, verdient daher höchste Aufmerksamkeit. Die Gefahr eines kostensteigernden Mißbrauchs besteht erst recht, wenn der regionale Aspekt des Universaldienstes durch einen sozialen überlagert wird. Als subventionswürdig wird dann nicht nur der Kunde an der Peripherie, sondern der wirtschaftlich schwache Kunde überhaupt angesehen mit der Folge, daß der politisch vorgegebene Höchstpreis sozial gestaffelt wird. 23. Die EU-Kommission schlägt vor, daß die bisher über das Monopol und die Quersubventionierung erbrachte Universaldienstauflage jetzt, nach Einführung des Wettbewerbs mittels offener Subventionen an die Betreiber von Netzen und Diensten in abgelegenen Gebieten erfüllt werden soll. Die Mittel für diese Zahlungen sollen innerhalb der Telekommunikation aufgebracht werden. Hierfür werden zwei Möglichkeiten angeboten: Es sollen entweder Zuschläge zu den Zugangspreisen zum N e t z des Universaldienstanbieters, also in der Regel des dominanten Unternehmens, verlangt werden, oder es sollen von allen Telekommunikationsbetreibern Zahlungen in einen Fonds, den Universaldienstfonds, geleistet werden. Die Präferenz der Kommission liegt bei der letzteren Lösung. (i.) Der falsche Weg 24. Die EU-Kommission beabsichtigt offenbar, den Mitgliedstaaten einen Spielraum bei der Wahl des Weges zu gewähren, über den sie die Universaldienstauflage erfüllen. Es ist zu befürchten, daß sich in der Politik jener Weg durchsetzt, der den etablierten Interessen am besten dient, auch wenn damit das Ziel der Einführung des Wettbewerbs im Bereich der Telekommunikationsinfrastruktur in Frage gestellt wird. Dieser im Urteil des Beirates falsche Weg könnte wie folgt aussehen: U m die Universaldienstauflage zu finanzieren, erhebt die Deutsche Telekom, ausgehend von einem kostenorientierten Netzzugangspreis, einen Zuschlag, der verbreitet „Netzzu1812
Orientierungen für eine Postreform III
gangsgebühr" oder „Access Charge" genannt wird. Mit den daraus erzielten Erträgen subventioniert sie die von ihr erbrachten defizitären Universaldienste. Der Zuschlag läßt sich am Markt durchsetzen. Denn die privaten Netzbetreiber werden noch auf lange Zeit auf die komplementäre Nutzung des Netzes der Deutschen Telekom angewiesen sein, namentlich bei dem Zugang zu den Endabnehmern. 25. Dieses Verfahren läßt sich politisch zwar möglicherweise leichter verwirklichen: — Die Finanzierung der Universaldienste über Netzzugangsgebühren wird von der EU-Kommission als zulässige, wenngleich nicht als bestmögliche Lösung angesehen. — A n der Organisation der Universaldienstbereitstellung ändert sich gegenüber dem Status quo wenig. A n die Stelle der Quersubventionierung über das M o n o p o l der Telekom tritt jetzt die Quersubventionierung über Netzzugangsgebühren. D e m stehen indes ins Gewicht fallende wirtschaftliche Nachteile gegenüber: — Die Telekom erhält de facto ein neues Monopol, nämlich das ausschließliche Recht, die Universaldienstauflage erfüllen zu dürfen. Damit verbunden ist ein Informationsmonopol über die mindestnotwendigen Kosten zur Erfüllung der Auflage. Sicherlich kann, wie die EU-Kommission vorschlägt, ein unabhängiges Sachverständigengremium Mindestkosten berechnen; nur diese werden erstattet. Ein solches Gremium erhält seine Informationen aber von der Deutschen Telekom. Es kann also deren Kosteninformationsmonopol nicht wirklich brechen. — Infolge ihres Kosteninformationsmonopols kann die Deutsche Telekom die geographische Zurechnung von Kosten und damit die Ausdehnung der zu subventionierenden Gebiete beeinflussen. Mit einer übermäßigen Ausdehnung ist insbesondere zu rechnen, wenn die Deutsche Telekom an Wettbewerbsfähigkeit verliert. 1813
vom 17./18. Februar 1995
— Eine Zweckentfremdung der Subventionsmittel ist nicht auszuschließen, insbesondere wenn diese reichlich bemessen sind. Aus der Sicht der Telekom mag es wichtiger sein, die Subventionsmittel zur Verdrängungskonkurrenz auf umstrittenen Märkten zu verwenden als zur Erfüllung der Universaldienstauflage. Eine solche Mittelverschiebung wird sich faktisch schwer nachweisen lassen. Zur Wettbewerbsverzerrung kann sie beträchtlich beitragen. — Netzzugangsgebühren diskriminieren außenstehende Wettbewerber. Denn nur deren Zuleitungen werden belastet, nicht aber Leitungen, welche die Telekom selbst betreibt. Netzzugangsgebühren verwässern also das eigentlich angestrebte Ziel der Einführung von Wettbewerb. — Auf lange Sicht dürfte das Konzept der Netzzugangsgebühren ohnehin nicht zu halten sein. Wenn sich einmal leistungsfähige Konkurrenten mit eigenen Netzen im Markt etabliert haben, wird das Netz der Deutschen Telekom wegen seiner Netzzugangsgebühren gemieden werden. (ii.J Ein besserer Weg 26. Alles spricht dafür, daß in Deutschland der Markt das Problem des Universaldienstangebots aus eigenen Kräften zu lösen vermag (vgl. oben Textziffer 21). Daher ist es nicht angezeigt, von vornherein ein Subventionssystem zu etablieren. Mindestens ist eine abwartende Strategie einzuschlagen. Die Grundidee ist die folgende: Die Deutsche Telekom soll kein ausschließliches Recht haben, die Universaldienstauflage zu erfüllen. Wenn der Universaldienst örtlich in Gefahr ist, so soll auf dem Markt geprüft werden, wer ihn dort am kostengünstigsten erbringt: die Telekom oder ein anderer Anbieter. Wenn sich beispielsweise die Telekom nach der Einführung des Wettbewerbs nicht mehr in der Lage sieht, einzelne Kunden, Kundengruppen oder Regionen zu den politisch festgelegten Höchstpreisen zu bedienen, so prüft die Regulierungsbehörde, wie der Universaldienst gewährleistet werden kann. Sie wählt auf dem Wege der Ausschreibung das günstigste An-
Orientierungen für eine Postreform III
gebot aus und gibt dem betreffenden Unternehmen den Zuschlag. Führt dieses Angebot zu Preisen, die für die Kunden über dem politisch festgelegten Höchstpreis liegen, so bietet sich eine Finanzierung aus dem öffentlichen Haushalt an. Der wesentliche Einwand dagegen liegt in dem Risiko, daß diese Möglichkeit in der Auseinandersetzung der politischen und gesellschaftlichen Kräfte mißbräuchlich genutzt wird. Der von der EU-Kommission vorgeschlagene nationale Universaldienstfonds ist eine weitere Option der Finanzierung. Der durch das genannte Verfahren ermittelte Finanzbedarf soll durch eine Abgabe, die allen Beteiligten der Telekommunikation auferlegt wird, gedeckt werden. Gegenüber diesem Finanzierungsvorschlag sind aus ökonomischer Sicht Bedenken anzumelden: Spezielle Abgaben verzerren die Produktionsstruktur und rufen über die Finanzierungslast hinaus eine Zusatzlast durch Abweichungen von den optimalen Wirtschaftsplänen hervor. Die Attraktivität des Wirtschaftsstandortes Deutschland wird beeinträchtigt. Aus rechtlicher Sicht bestehen Bedenken, ob es sich bei den Zahlungen an den Fonds nicht schon um eine verfassungsrechtlich unzulässige Sonderabgabe handelt. Gegenüber dem System der Netzzugangsgebühren überwiegen bei beiden Finanzierungsformen jedoch die Vorzüge: — Dem etablierten Anbieter Telekom wird kein politisch verwertbares Monopol über defizitäre Versorgungsgebiete mehr zugeteilt. — Die Kosten für die Universaldienstauflage werden endogen, über den Markt für Alternativangebote, aufgedeckt. Es braucht keine Sachverständigen mehr, welche diese Kosten aufgrund von Angaben der Telekom berechnen. Somit entfällt eine leidige politische Diskussion um die „richtigen" Kosten. — Die Deutsche Telekom hat keinen Anreiz mehr, überhöhte Kosten anzugeben oder die zu subventionierenden Regionen übermäßig auszudehnen. Denn sie riskiert, potentiell lukrative Märkte an Wettbewerber zu verlieren. 1815
Gutachten vom 1 7 . / 1 8 . Februar 1995
— Weil mit diesem Verfahren die Gefahr überhöhter Subventionen deutlich reduziert ist, vermindern sich auch die Möglichkeiten der Telekom, die Subventionsmittel zweckwidrig einzusetzen. Man mag dagegen insgesamt einwenden, die Deutsche Telekom verfüge über die festen Anlagen und könne daher jeden Wettbewerber, der bereit wäre, die Universaldienstauflage zu erfüllen, vom Marktzutritt abhalten. Ein Wettbewerb im Bereich der defizitären Universaldienste könne gar nicht zustande kommen. Doch es bleibt ein großer Unterschied, ob defizitäre Dienste diskussionslos der Deutschen Telekom überlassen und ihr unbesehen bezahlt werden oder ob die Telekom damit rechnen muß, ihren Auftrag zur Erbringung der Universaldienstauflage zu verlieren. Die festen Anlagen der Telekom insbesondere im Ortsnetz, mögen derzeit einen Faktor darstellen, der Wettbewerber davor abschreckt, ebenfalls an der Bereitstellung subventionierter Universaldienste teilzunehmen. Mit dem Fortschreiten der Technik können aber die heutigen Anlagen der Telekom rasch veralten, ökonomisch irrelevant werden und damit neue Anbieter anreizen, in den Markt der Ortsnetzdienste einzusteigen. Die schnurlose Telefon-Technologie der zweiten Generation (DECT — Digital European Cordless Telecommunications) kann eine solche Möglichkeit bieten. Kurz: Ein Versorgungsmonopol der Telekom in nichtlukrativen Regionen ist, sofern es derzeit faktisch bestehen sollte, nicht auf Dauer gewährleistet. Aus all diesen Gründen sollte äußerst sorgfältig bedacht werden, wie ein Verfahren zur Erfüllung der Universaldienstauflage konkret ausgestaltet wird. Nochmals sei betont: Für die Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland sieht der Beirat in der Gewährleistung eines Universaldienstes ohnehin kein wirkliches Problem (vgl. oben Textziffer 21). III. 4.
Wer soll regulieren ? 27. Je schneller es gelingt, den Wettbewerb in der Telekommunikation zu verwirklichen, desto weniger wird die hier vorgeschlagene Tarifaufsicht erforderlich sein und desto weniger wird sich die spezielle Regulierung in der Telekommunika-
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Orientierungen für eine Postreform III
tion noch von der allgemeinen Wettbewerbsaufsicht in anderen Bereichen unterscheiden. Gleichwohl bedarf es auf absehbare Zeit einer Verhaltens- und Strukturkontrolle, die im wesentlichen die Mißbrauchs- und Tarifaufsicht umfaßt. Diese Aufgabe sollte von einer unabhängigen Behörde wahrgenommen werden. Am ehesten bietet sich dafür das Bundeskartellamt an. In seinem Aufgabengebiet hat es sich mit vergleichbaren Fragen zu befassen. Bei dem hier insgesamt vorgeschlagenen Weg der Verrechtlichung und Entpolitisierung entfällt jeder Bedarf, einzelne Kategorien von Entscheidungen, etwa der Zulassung von Netzwettbewerbern, auf der Ebene eines Ministeriums als eines politisch legitimierten Organs anzusiedeln. Auch diese können einem erweiterten Bundeskartellamt übertragen werden. Legislative Aufgaben wie namentlich die Umsetzung von EG-Richtlinien in nationales Recht obliegen unverändert den hierfür zuständigen Verfassungsorganen. Tübingen, den 9. März 1995 Der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft Prof. Dr. Norbert Kloten
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Gutachten vom 19./20. Januar 1996 Thema: Langzeitarbeitslosigkeit Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft hat sich in mehreren Sitzungen, zuletzt am 19. und 20. Januar 1996, mit dem T h e m a
Langzeitarbeitslosigkeit befaßt und ist dabei zu folgender Stellungnahme gelangt:
Anlaß des Gutachtens (1)
I.
Die Uberwindung der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit stellt die vordringlichste wirtschaftspolitische Aufgabe dar. Besonders bedrückend ist der hohe Anteil von Langzeitarbeitslosen. In einer modernen Industriegesellschaft, in welcher die soziale Position des einzelnen und seine Selbsteinschätzung stark von seiner Beteiligung am Erwerbsleben abhängen, führt langanhaltende Erwerbslosigkeit zu Isolierung, Verbitterung und Entfremdung von der Gesellschaft.
Hohe und sich verfestigende Arbeitslosigkeit 1. Ausmaß und Struktur der Arbeitslosigkeit (2)
Die Arbeitslosigkeit ist in Westeuropa verglichen mit den fünfziger und sechziger Jahren deutlich angestiegen. In Westdeutschland war die Arbeitslosigkeit wegen der Kriegsfolgen bis Mitte der fünfziger Jahre hoch, sie wurde jedoch bei hohem Wachstum des Sozialprodukts und hoher Umschlagsleistung des Arbeitsmarktes nach und nach abgebaut. In den sechziger Jahren kam es nach Ausschöpfung des Arbeitskräftereservoirs und Versiegen des Zustroms zum Arbeitsmarkt zu einem akuten Mangel an Arbeitskräften mit der Folge, daß Arbeitskräfte im Ausland angeworben wurden. 1970 betrug die Arbeitslosenquote, gemessen als Anteil an den unselbständigen Erwerbspersonen, nur 0,6 v. H. Von da an verminderte sich die Zunahme der Beschäftigung. Die Zahl der Arbeitslosen und auch die Verweildauer in der Arbeitslosigkeit stiegen im Trend an. Seit Mitte der siebziger Jahre verlangsamte sich das wirtschaftliche Wachstum in Westdeutschland wie auch im übrigen Westeuropa. Hatte die durchschnittliche Wachstumsrate des realen Sozialpro1819
Gutachten vom 19./20. Januar 1996
dukts in der Bundesrepublik von 1960 bis 1970 noch 4,4 v.H. betragen, so ging sie in der Dekade 1970—1980 auf 2,7 v.H. zurück und verringerte sich im Zeitraum 1980—1990 noch weiter auf 2,2 v. H. Die Arbeitslosigkeit stieg in Westdeutschland in den Rezessionsperioden schubweise an und bildete sich in den darauffolgenden konjunkturellen Aufschwungsphasen nicht wieder auf das alte Niveau zurück. Dieses Phänomen einer wachsenden „Sockelarbeitslosigkeit" finden wir im gleichen Zeitraum auch in den anderen westeuropäischen Ländern. Im Durchschnitt des Jahres 1995 belief sich die Quote der registrierten Arbeitslosen in Westdeutschland auf 8,3 v.H. (3)
Von der Bundesanstalt für Arbeit wird als arbeitslos registriert, wer als Arbeitnehmer vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht oder nur eine kurzzeitige Beschäftigung ausübt (derzeit bis 18 Stunden wöchentlich), in der Bundesrepublik wohnt und sich persönlich beim zuständigen Arbeitsamt gemeldet hat, der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Nicht als arbeitslos gelten Arbeitnehmer in Kurzarbeit und Arbeitskräfte, die an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder an Qualifizierungsprogrammen teilnehmen. Für internationale Vergleiche wird von der OECD eine standardisierte Arbeitslosenquote verwendet. Hierbei wird die Zahl der Arbeitslosen dahingehend korrigiert, daß nur diejenigen Personen im erwerbsfähigen Alter gezählt werden, die tatsächlich sowohl erwerbsfähig sind als auch aktiv nach Arbeit suchen. Die so definierte Quote lag Anfang der achtziger Jahre in Westdeutschland nur geringfügig unter der Quote der registrierten Arbeitslosigkeit, wie sie in Deutschland berechnet wird. 1980 etwa betrug die standardisierte Quote der OECD 2,9 v. H. im Vergleich zur Quote der registrierten Arbeitslosen von 3,2 v.H. Die Differenz zwischen den beiden Quoten hat sich seit Mitte der achtziger Jahre ständig vergrößert. So lag im Jahre 1994 die standardisierte Quote der OECD für Westdeutschland bei 6,9 v.H., verglichen mit der in Deutschland berechneten Quote von 8,3 v. H. Das hängt damit zusammen, daß in Deutsch-
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Langzeitarbeitslosigkeit
land trotz zwischenzeitlicher Korrekturen bei der Erfassung immer noch zahlreiche aus dem Erwerbsleben ausgeschiedene Arbeitnehmer als arbeitslos registriert werden, obwohl sie letztlich keine Beschäftigung mehr suchen. Im internationalen Vergleich ist die standardisierte Q u o t e der O E C D für Westdeutschland mit 6,9 v. H . im Jahre 1994 vergleichsweise niedrig. In Frankreich belief sie sich im gleichen Jahr auf 12,5 v.H., im Vereinigten Königreich auf 9,6 v.H. Sogar in den Vereinigten Staaten war die Rate in den meisten Jahren — mit Ausnahme von 1987, 1988 und 1994 — höher als in Westdeutschland. Freilich hat sich dort kein wachsender Sockel von Arbeitslosen herausgebildet. (4)
Oftmals wird als „stille Reserve" zu den rund 3,5 Millionen in West- und Ostdeutschland statistisch gezählten Arbeitslosen eine Schätzgröße für diejenigen hinzugefügt, die ohne als arbeitslos gemeldet zu sein, ausgesprochen oder unausgesprochen bei den gegebenen Lohnsätzen zur Annahme einer Arbeit bereit wären. Tatsächlich kommen bei einer Zunahme der Nachfrage nach Arbeitskräften nicht nur Arbeitslose und Berufsanfänger, sondern immer auch Bewerber aus der stillen Reserve zum Zuge. Die zur stillen Reserve gezählten Erwerbslosen sollten aber, was die soziale Problematik anbelangt, nicht mit jenen gleichgesetzt werden, die wirklich aktiv nach Arbeit suchen. Im übrigen ist zu bedenken: Jegliche erfaßte oder geschätzte Erwerbslosenzahl kann schon von der Anzahl derer her, die überhaupt arbeiten wollen, eine Folge überhöhter Reallöhne sein. Bei einem niedrigeren Lohnniveau wäre die Arbeitsplatzlücke nicht nur deshalb kleiner, weil es mehr rentable Arbeitsplätze gäbe, sondern unter Umständen auch deshalb, weil in diesem Falle das Angebot an Arbeitskräften geringer ausfiele.
(5)
Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten brachte besondere Beschäftigungsprobleme mit sich. Die Menschen mußten erleben, daß der Zusammenbruch der sozialistischen Wirtschaft Millionen von Arbeitsplätzen obsolet werden ließ. Zu hohe tarifpolitisch erzwungene Löhne machten weitere Arbeitsplätze unwirtschaftlich oder verhinderten 1821
vom 19./20. Januar 1996
die Errichtung neuer. Arbeitnehmer, die ihren Arbeitsplatz verloren, wurden vorzeitig Rentner. Andere resignierten und meldeten sich nicht mehr als arbeitssuchend, obwohl sie gerne Arbeit hätten. Wieder andere änderten ihren Lebensplan und schieden freiwillig — zumindest vorübergehend — aus dem Erwerbsleben aus. Das Angebot westdeutscher Sozialleistungen trug zu diesem Verzicht auf Erwerbstätigkeit bei, etwa bei jungen Müttern. Die Erwerbsgewohnheiten haben sich inzwischen denen des Westens angenähert, so daß sich die Erwerbsquote im östlichen Deutschland, die 1991 noch 53,4 v.H. betragen hatte, 1994 nur noch auf 49,9 v. H. belief, verglichen mit 46,7 v. H. im westlichen. Die Abnahme der Anzahl der Erwerbspersonen hat die Lage am Arbeitsmarkt entlastet. Dennoch betrug die Quote der registrierten Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern im Jahre 1995 14,0 v.H. Sie wäre noch wesentlich höher, hätten nicht viele Personen durch staatliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen eine Beschäftigung gefunden und gäbe es nicht zahlreiche Umschulungsprogramme. Langzeitarbeitslosigkeit — ein Aspekt anhaltend hoher Arbeitslosigkeit (6)
Ein bedeutender Anteil der Arbeitslosen ist langzeitarbeitslos, d.h. länger als ein Jahr ohne Beschäftigung. In Westdeutschland lag der Anteil im Jahr 1994 bei etwa einem Drittel, in manchen anderen Ländern Westeuropas noch höher. In den Vereinigten Staaten ist die Langzeitarbeitslosigkeit deutlich niedriger. Der Anteil der Langzeitarbeitslosen beläuft sich dort nur auf rund 10 v.H. In den Rezessionsphasen aufeinander folgender Konjunkturzyklen ist nicht nur die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik schubweise angestiegen, sondern auch die Langzeitarbeitslosigkeit hat nach dem gleichen Muster zugenommen. Dabei stieg sowohl die Zahl der Langzeitarbeitslosen als auch ihr Anteil an der Gesamtzahl der Arbeitslosen. Im Jahre 1977 belief sich dieser Anteil in Westdeutschland bei einer Arbeitslosenquote von 3,6 v. H. auf 14,3 v. H. Bei einer Arbeitslosenquote von 6,4 v. H. im Jahre 1986 lag der Anteil
Langzeitarbeitslosigkeit
bei 32 ν. Η. Eine derart enge Verbindung von Langzeitarbeitslosigkeit mit hoher allgemeiner Arbeitslosigkeit ist nicht zwangsläufig. Vielmehr verbergen sich dahinter sowohl bestimmte Verhaltensweisen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber sowie der Tarifvertragsparteien als auch Auswirkungen staatlicher Regulierungen. (7)
Arbeitslosigkeit geht mit fortwährenden Bewegungen am Arbeitsmarkt einher. In jedem Jahr scheiden Arbeitnehmer freiwillig oder unfreiwillig aus Beschäftigungsverhältnissen aus, und gleichzeitig werden neue Arbeitsverhältnisse auf schon bestehenden oder auf neu geschaffenen Arbeitsplätzen begründet. Die von der Zahl der Auflösungen und Neubegründungen von Arbeitsverhältnissen — bezogen auf den Beschäftigtenbestand — bestimmte Umschlagshäufigkeit am Arbeitsmarkt kann auf einem Wandel der Struktur von Wirtschaftszweigen und Unternehmen beruhen. Der Strukturwandel erzwingt ständig — wenngleich verzögert — Freisetzungen. Die Umschlagshäufigkeit hängt aber auch davon ab, wie leicht Beschäftigungsverhältnisse aufgelöst und neue begründet werden können. Im internationalen Vergleich zwischen Ländern ähnlicher Wirtschaftsstruktur und ähnlich hohem Wirtschaftswachstum beruhen Unterschiede in der Umschlagshäufigkeit am Arbeitsmarkt in der Hauptsache auf dem zweiten der beiden genannten Bestimmungsgründe. Eine Gegenüberstellung der Umschlagshäufigkeit am Arbeitsmarkt und der Quote der Langzeitarbeitslosigkeit innerhalb der O E C D zeigt, daß die Langzeitarbeitslosigkeit dort vergleichsweise gering ist, wo, wie in den USA, die Umschlagshäufigkeit am Arbeitsmarkt hoch ist.
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Langzeitarbeitslosigkeit entsteht besonders dann, wenn erstens die Nachfrage nach Arbeitskräften bei nachlassendem Wachstum im Trend sinkt und wenn zweitens gleichzeitig die Löhne nach unten nicht ausreichend flexibel und die Arbeitskräfte nicht sehr mobil sind. Bei einem hohen wirtschaftlichen Wachstum führt Strukturwandel in der Regel zu weniger Entlassungen als bei geringem Wirtschaftswachstum: Der Strukturwandel vollzieht sich bei hohem Wachstum vielfach innerhalb bestehen1823
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der Unternehmen. Bei geringem Wachstum dagegen schrumpfen manche Wirtschaftszweige nicht nur relativ zu anderen, sondern auch absolut. Es kommt vermehrt zu Stillegungen von Betrieben und Entlassungen. Der Schaffung neuer Arbeitsplätze und neuer Beschäftigungsverhältnisse stehen Rigiditäten des Arbeitsmarktes entgegen, so daß die Umschlagshäufigkeit der Arbeitskräfte am Arbeitsmarkt abnimmt. Bei Neueinstellungen wird sehr zögerlich verfahren, neue Arbeitsmöglichkeiten werden nicht wahrgenommen. (9)
Für die Arbeitgeber sind sowohl Neueinstellungen als auch Entlassungen mit hohen Kosten verbunden. Bei Neueinstellungen fallen Kosten der Einarbeitung an, und die Kosten eines in späteren Situationen greifenden Kündigungsschutzes sind als Risiko zu bedenken. Anpassungen der Belegschaft bei veränderten Marktdaten werden dadurch erschwert; man versucht z.B. bei steigender Nachfrage möglichst mit einer unveränderten Belegschaft auszukommen. Restriktive Arbeitszeitregelungen verringern den zeitlichen Nutzungsgrad von Produktionsanlagen, erhöhen so die Kapitalnutzungskosten und senken die Rentabilität der Arbeitsplätze. Der sozialpolitisch motivierte Ausbau des Arbeitnehmerschutzes seit den siebziger Jahren hat zur Erhöhung der Quote der Langzeitarbeitslosigkeit beigetragen. Regelungen über den Bezug von Sozialeinkommen und über die Zumutbarkeit der Annahme eines neuen Arbeitsplatzes ermöglichen es den Arbeitslosen, angebotene Arbeitsplätze abzulehnen und die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz zu verlängern. Eine seit 1982 geltende Anordnung der Bundesanstalt für Arbeit nennt zwar restriktive Kriterien dafür, welcher Arbeitsplatz einem bestimmten Arbeitslosen zuzumuten ist; diese lassen sich aber oft nur schwer anwenden. All dies kontrastiert stark mit den Verhältnissen in den USA, wo bei einer viel kürzeren Dauer der Arbeitslosenunterstützung Arbeitslose gezwungen sind, zur Sicherung ihres Lebensunterhalts auch eine niedriger entlohnte Arbeit anzunehmen, so daß nicht zuletzt aus diesem Grunde die Dauer der individuellen Arbeitslosigkeit geringer und die
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Langzeitarbeitslosigkeit
Quote der Langzeitarbeitslosigkeit niedriger ist als in Deutschland. Zur Entstehung von Langzeitarbeitslosigkeit tragen zwei Sachverhalte auf der Arbeitgeberseite bei. Bei einem konjunkturell oder durch Strukturwandel bedingten Nachfragerückgang werden zuerst die weniger leistungsfähigen u n d / oder älteren Arbeitskräfte entlassen, die dann meist nur schwer einen neuen Arbeitsplatz finden. Neue Arbeitsplätze stellen zudem oft neue Anforderungen an Arbeitnehmer. N e u eingestellte Arbeitskräfte müssen eingearbeitet werden. Die Unternehmen müssen also in betriebsspezifisches Humankapital investieren. Sie bevorzugen dabei jüngere Arbeitskräfte, nicht zuletzt deshalb, weil eine längere Amortisationszeit der Investition in Humankapital erwartet werden kann. (10) Die im Trend zunehmende Verweildauer in der Arbeitslosigkeit beruht auch auf Selbstverstärkungsprozessen. Je länger die Arbeitslosigkeit einer Person andauert, desto mehr nimmt die Eignung zur Wiederaufnahme einer Beschäftigung ab. Das in den Arbeitslosen verkörperte Humankapital entwertet sich, und die Fähigkeit zum Erwerb neuen Humankapitals nimmt ab. Das trifft ältere Arbeitslose stärker als jüngere und gilt für Berufe mit besonders raschem technischen Wandel in stärkerem Maße als für andere Berufe. Auch schwächt sich die Arbeitsmotivation bei vielen ab, und die Gewöhnung an die Disziplin des Arbeitslebens geht verloren. Es verwundert daher nicht, daß Arbeitgeber bei Bewerbungen unter anderem die Länge der Zeit, während derer ein Bewerber arbeitslos war, schon als ein Signal mangelnder Eignung ansehen. Bei Arbeitslosen ohne berufliche Ausbildung, die ohnehin vom Strukturwandel stärker betroffen sind und von denen man annimmt, daß ihnen eine Qualifizierung schwerer fällt als anderen, signalisiert eine längere Zeit ohne Beschäftigung eine verstärkte Entwöhnung von der Arbeitswelt. Langzeitarbeitslose sind quasi stigmatisiert und werden an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Mit der Zeit erweist sich das daraus erwachsende gesellschaftliche Problem als immer schwerwiegender. 1825
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(11) Zwischen Arbeitsplatzbesitzern (sog. Insidern) und Arbeitslosen (sog. Outsidern) besteht ein Interessengegensatz. Können die Insider, vertreten durch die Gewerkschaften, hohe Löhne durchsetzen, die für alle potentiellen Arbeitnehmer faktisch verbindlich sind, so haben die Arbeitsuchenden keine Möglichkeit, ihre schlechten Chancen bei der Einstellung dadurch zu kompensieren, daß sie sich — zumindest für die Einarbeitungszeit — mit einem geringeren Lohn zufrieden geben. Dabei beruht die „Machtstellung" der Insider auf gerade den Umständen, welche die Hartnäckigkeit der Arbeitslosigkeit mitverursachen, nämlich den hohen Kosten von Einstellungen und Kündigungen. (12) Der empirische Befund entspricht dem bisher Gesagten. Unter den Langzeitarbeitslosen befinden sich besonders viele Minderqualifizierte, Personen mit angeschlagener Gesundheit und vor allem ältere Arbeitnehmer. Gut 60 v. H. aller Langzeitarbeitslosen sind älter als 45 Jahre; zwei Drittel von ihnen wurden nach jahrelanger Berufstätigkeit zum ersten Mal arbeitslos. Belegt ist auch der Einfluß sozialpolitischer Regelungen. Nach einer Befragung im Jahre 1992 suchen nur etwa 40 Prozent der älteren Langzeitarbeitslosen aktiv eine neue Beschäftigung. Rund zwei Drittel aller Befragten planen einen „Ubergang in die Rente". Für einen nicht geringen Teil (13 v. H.) soll mit der Meldung als arbeitslos die Voraussetzung für den Bezug anderer Leistungen als die der Bundesanstalt für Arbeit geschaffen werden, z.B. Sozialhilfe oder Unterhalt vom geschiedenen Ehepartner. Ungefähr gleich viele Langzeitarbeitslose sind finanziell abgesichert und haben sich vor allem arbeitslos gemeldet, um Rentenanwartschaften zu sichern. II.
Was zu tun ist 1. Die Ansatzpunkte (13) Zur Uberwindung der Langzeitarbeitslosigkeit muß es vor allem darum gehen, Arbeitslosigkeit generell zu verringern und damit Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß Langzeit-
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arbeitslosigkeit erst gar nicht entsteht. Notwendig ist eine Stärkung der Wachstumskräfte. Dazu gehört vieles, nicht zuletzt ein nachhaltiger Kurswechsel in der Tarifpolitik und eine Korrektur von Fehlanreizen im Sozialsystem. Ergänzend kommt es darauf an, Langzeitarbeitslose gezielt wieder in ein Beschäftigungsverhältnis zu bringen. 2. Mehr Beschäftigung durch Stärkung der Wachstumskräfte (14) Die Nachfrage nach Arbeit, d.h. das Angebot an Arbeitsplätzen seitens der Unternehmen, hängt von der erwarteten Rentabilität des Arbeitseinsatzes ab. Diese kann durch Lohnzurückhaltung gesteigert werden. Wichtig sind auch technischer Fortschritt, die Erschließung neuer Märkte und eine Verstärkung der Kapitalbildung. (15) Staatliche Wirtschaftspolitik steht insbesondere im Hinblick auf eine mögliche Verstärkung der Kapitalbildung in der Verantwortung. Hier verfügt der Staat — der nicht zuletzt selbst durch restriktive Regulierungsmaßnahmen, problematische Regelungen im Steuerrecht sowie eine übermäßige Inanspruchnahme des Kapitalmarktes zu den ungünstigen Investitionsbedingungen in Deutschland beigetragen hat — unbeschadet der Globalisierung der Kapitalmärkte über Handlungsmöglichkeiten. Obwohl der internationale Kapitalverkehr zwischen den westlichen Industrieländern heute kaum noch Beschränkungen unterliegt, unterscheiden sich die Kapitalnutzungskosten dieser Länder. Die Kapitalnutzungskosten können durch steuerliche und andere Maßnahmen nachhaltig gesenkt werden. Eine Kehrtwende in der Steuerpolitik in Richtung auf eine Verbesserung des Investitionsklimas käme dem Arbeitsmarkt zugute. Sie würde die erwartete Profitabilität des Arbeitseinsatzes erhöhen, zusätzliche Arbeitsplätze ermöglichen und die Chance eröffnen, ein hohes Lohnniveau gegen die Konkurrenz aus Niedriglohnländern in Ubersee und Osteuropa zu verteidigen. Falsch wäre es, alte und neue Formen defensiver Erhaltungsprotektion oder industriepolitisch motivierte aggressive Protektion positiv zu bewerten. Auch arbeitsmarktpolitisch ist 1827
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es sehr wichtig, eine Wirtschaftsordnung zu verwirklichen, die dem Wettbewerb mehr Raum gibt. (16) Häufig wird die Auffassung vertreten, eine forcierte Politik des Umweltschutzes sei ein Garant für die Entstehung zusätzlicher Arbeitsplätze. Umweltschutz ist als Bedingung für nachhaltiges Wachstum ein wichtiges Ziel der Wirtschaftspolitik. Die Hoffnung aber, mit der Verfolgung dieses Ziels zugleich die Voraussetzungen für mehr Beschäftigung schaffen zu können, ist trügerisch. Umweltschutz erfordert Ressourcen, bringt aber direkt keine am Markt verkäuflichen Güter hervor. In welchem Ausmaß Ressourcen benötigt werden, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß in Deutschland etwa 5 v. H. der Investitionen der Unternehmen dem Umweltschutz dienen. Die Vorstellung, eine ökologisch orientierte Wirtschaftspolitik schaffe Arbeitsplätze, ist deshalb nur insoweit begründet, als Ansprüche an das Sozialprodukt entsprechend zurückgeschraubt werden. Wegen der internationalen Mobilität des Kapitals und unterschiedlicher Bewertungen und Erfordernisse des Umweltschutzes in den einzelnen Ländern ist Umweltschutz zu Lasten des Kapitaleinkommens kaum realisierbar. Kapital würde auswandern, Arbeitsplätze gingen verloren. Es entstünde ein Druck auf die Lohnentwicklung. Von einer ökologisch orientierten Steuerreform kann ein positiver Beschäftigungseffekt nur erwartet werden, wenn es zu einer aufkommensneutralen Umschichtung von Steuern, die die Schaffung von Arbeitsplätzen belasten, zu Umweltsteuern kommt. Nur dann wäre eine vermehrte Beschäftigung bei verringerter Umweltverschmutzung zu erwarten, weil nur dann die Firmen einen Anreiz haben, zu arbeitsintensiveren und zugleich umweltschonenderen Produktionsprozessen zu wechseln. Von den Verfechtern der These, Umweltschutz schaffe neue Arbeitsplätze, wird demgegenüber ins Feld geführt, die deutschen Umweltschutzanforderungen hätten den Anstoß zu Innovationen in der Umweltschutztechnologie gegeben. Deutschland sei damit auf diesem Gebiet weltweit führend geworden. Daraus ergäben sich Exportchancen, deren Realisierung neue Arbeitsplätze schaffen würde. Indessen sind die 1828
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Exportmöglichkeiten begrenzt, da in anderen Ländern vielfach weit geringere oder andere Anforderungen an den Umweltschutz gestellt werden, als das in Deutschland der Fall ist. Zudem führen Vorschriften zur Sicherung der Umweltverträglichkeit (integrierter Umweltschutz) zu einer Verteuerung deutscher Produkte und mindern ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit. Unabhängig davon steht dem Argument, durch Umweltschutzanforderungen würden technischer Fortschritt induziert und Arbeitsplätze geschaffen, entgegen, daß mit den für Forschung und Entwicklung eingesetzten Ressourcen auch auf anderen Gebieten Erfolge möglich gewesen wären, die ebenfalls neue Arbeitsplätze hervorgebracht hätten. Tatsächlich sind in der Vergangenheit durch Umweltschutzaktivitäten Innovationen in zukunftsträchtigen Gebieten, wie zum Beispiel in der für die Zukunft der Pharmaindustrie und der Landwirtschaft grundlegenden Gentechnologie, in Deutschland erschwert worden. Ferner sind Investitionen im Verkehrsbereich, die zu Kostensenkungen beigetragen und dadurch die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gestärkt hätten, teils zeitweilig blockiert, teils völlig verhindert worden. Bei einer Abwägung der positiven und negativen Effekte des Umweltschutzes auf die gesamtwirtschaftliche Beschäftigung ergibt sich eher ein negativer Saldo. (17) Noch immer wird argumentiert, Lohnerhöhungen seien erforderlich, um die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu stimulieren und auf diese Weise die Arbeitslosigkeit zu senken. Gegen das Kaufkraftargument ist viel vorzubringen. Durchschlagend ist schon das Kostenargument. Ein Unternehmen kann seine Wettbewerbsfähigkeit nur sichern, wenn die Lohnkosten und die Produktqualität stimmen. Die Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft erfordert also beides: eine Korrektur der Lohnstückkosten und ein politisches Handeln, das konsequent darauf gerichtet ist, die Investitionsbereitschaft zu mehren und den technischen Fortschritt zu begünstigen. Entscheidend ist eine wieder zunehmende Rentabilität von 1829
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Investitionen, nicht zuletzt von arbeitsplatzschaffenden Investitionen. Nur auf diese Weise kann das gegenwärtige Reallohnniveau im internationalen Wettbewerb verteidigt und zugleich Arbeitslosigkeit abgebaut werden. Vielfach wird ein positiver Zusammenhang zwischen Lohnzuriickhaltung, Gewinnen und Investitionen in Zweifel gezogen. Tatsächlich läßt sich ein solcher Zusammenhang aber nachweisen. Die moderate Lohnpolitik im Verlaufe der 80er Jahre hat die Gewinnsituation der Unternehmen deutlich verbessert und so auch die Investitionsquote wieder steigen lassen. Die Zahl der Arbeitsplätze nahm kräftig zu. Der Zusammenhang zwischen Gewinnen und Investitionen ist heute im Inland gelockert, weil Gewinne der Unternehmen mehr als früher für Investitionen im Ausland verwendet werden. Der Zusammenhang dürfte in dem Maße wieder enger werden, als es zu besseren Investitionensbedingungen hierzulande kommt. Von Investitionen im Inland werden dann höhere Gewinne erwartet. Eine aggressive Lohnpolitik kann eine solche Erwartung untergraben. Gelegentlich wird argumentiert, eine Zurückhaltung in der Lohnentwicklung und verstärktes Produktivitätswachstum würden die internationale Wettbewerbsfähigkeit nicht verbessern, weil es dann zu einer kompensierenden Aufwertung der heimischen Währung komme. So etwas kann vorkommen. Aber die Aufwertungen, die wir erlebt haben, hatten überwiegend andere Ursachen. Und dann besteht doppelter Anlaß zu lohnpolitischer Zurückhaltung. Der Einwand, daß die Wettbewerbswirkung von Lohnänderungen durch konterkarierende Wechselkursveränderungen vollkommen kompensiert werde, ist auch — zumindest was die langfristigen Wirkungen angeht — nicht stichhaltig. Der Kompensationseffekt kann sich immer nur auf die international mobilen Güter und Produktionsfaktoren beziehen. Selbst in einer Welt mit flexiblen Wechselkursen gilt, daß die Preise der immobilen Faktoren hinreichend niedrig und die vom Staat gesetzten Rahmenbedingungen hinreichend günstig sein müssen, um die mobilen Faktoren zu attrahieren. Arbeit ist international weitgehend immobil, Finanz1830
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kapital und Industriegüter sind hingegen sehr mobil. Der Zinssatz, die Kapitalgüterpreise und die Preise anderer Industriegüter werden daher, gerechnet in Einheiten international handelbarer Devisen, auf längere Sicht weitgehend vom Weltmarkt her bestimmt. Ein wichtiger Freiheitsgrad, der ' einem Land für die Sicherung seiner Wettbewerbsfähigkeit verbleibt, liegt in der Anpassung seines Reallohnniveaus. Das Wechselkursargument ist deshalb nicht geeignet, die Tarifpartner aus ihrer Verantwortung zu entlassen. 3. Neue Wege in der Tarifpolitik (18) Eine Politik zur Stärkung der Wachstumskräfte ist in ihrer beschäftigungspolitischen Durchschlagskraft darauf angewiesen, daß die Tarifpolitik neue Wege beschreitet. Wenn jede Belebung der Investitionstätigkeit und jeder Produktivitätsfortschritt in höhere Löhne oder kürzere Arbeitszeiten umgesetzt wird, bleibt Arbeit zu teuer. Der Zwang zum arbeitssparenden Rationalisieren und zur Verlagerung der Produktion in kostengünstigere Länder hält an. Im Ergebnis nützt eine derartige Tarifpolitik denen, die ihre Beschäftigung behalten. Sie schadet all jenen, die arbeitslos sind und eine Stelle suchen. Nötig sind Korrekturen im Niveau: Die realen Arbeitskosten je Produkteinheit sind insgesamt zu hoch. Nötig sind auch Korrekturen in der Struktur: Die Spreizung der tariflichen Arbeitsbedingungen trägt den differenzierten Beschäftigungsmöglichkeiten und Beschäftigungswünschen auf einzelnen Arbeitsmärkten zu wenig Rechnung. Von der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit in Westdeutschland sind vor allem beruflich weniger qualifizierte Arbeitskräfte betroffen. Die Kosten für einfache Arbeit müssen in Relation zu den Löhnen für qualifizierte Arbeit sinken, damit ihre Beschäftigung für die Unternehmen attraktiv wird. (19) Tarifpolitik vollzieht sich in Deutschland im Rahmen der Tarifautonomie. Artikel 9 Abs. 3 des Grundgesetzes räumt jedermann das Recht ein, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden. Aus diesem individuellen Grundrecht auf Koalitionsbildung wird die verfassungsrechtliche Legitimation der Ta1831
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rifautonomie abgeleitet: des Rechts von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, für ihre Mitglieder verbindliche Mindestarbeitsbedingungen festzulegen. Die praktizierte Form der Tarifautonomie führt ganz überwiegend zu branchenweiten und flächendeckenden Tarifverträgen. Vordergründig ist das Reflex der gegebenen Organisationsstruktur; dahinter stehen aber bestimmte Zielsetzungen und Interessenlagen. Für Gewerkschaften hat der Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit" traditionsgemäß einen hohen Rang. Arbeitgeber wiederum haben häufig ein Interesse daran, über branchenweit geltende Arbeitsbedingungen sog. Schmutzkonkurrenz zu verhindern und sich die Mühen des Aushandelns von Arbeitsbedingungen sowie mögliche Konflikte auf der betrieblichen Ebene zu ersparen. Von den tariflich festgelegten Arbeitsbedingungen darf in der Regel nicht nach unten abgewichen werden: Nach der Regelungssperre des § 77 Abs. 3 Betriebsverfassungsgesetz dürfen Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Die Kollektivvereinbarung auf der Tarifebene hat Vorrang vor einer Kollektiwereinbarung auf der Betriebsebene. Zudem schreibt das sogenannte Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 Tarifvertragsgesetz vor, daß im Einzelarbeitsvertrag von den Tarifnormen nur abgewichen werden darf, wenn dies für den Arbeitnehmer günstiger ist; ein Verzicht auf tarifliche Rechte ist im Grundsatz unzulässig (§ 4 Abs. 4 TVG). Die Arbeitsgerichte wiederum interpretieren das Günstigkeitsprinzip meist so eng, daß Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen gegenüber den tariflichen Vorgaben als ungünstiger gewertet werden, und zwar auch dann, wenn ein Verzicht auf tarifliche Rechte etwa beim Lohn oder bei der Arbeitszeit dazu dienen soll, den Arbeitsplatz zu sichern. Insgesamt sind die Befugnisse zur Festlegung von Mindestarbeitsbedingungen deshalb im wesentlichen bei den branchenweise organisierten Arbeitsmarktverbänden gebündelt.
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Tarifnormen gelten unmittelbar und zwingend freilich nur für die Mitglieder der vertragsschließenden Gewerkschaft im Verhältnis zu den ebenfalls tarifgebundenen Arbeitgebern. Das betrifft rund ein Drittel aller Arbeitnehmer. D a durch Allgemeinverbindlicherklärungen nicht sehr viele Arbeitnehmer zusätzlich in die Tarifbindung einbezogen werden, dürften im Bereich der Entgelttarifverträge die tariflichen Regelungen unmittelbar und zwingend nur für etwa zwei Fünftel aller Arbeitnehmer gelten. Für eine Mehrheit der Arbeitnehmer ist ein Unterschreiten der tariflichen Arbeitsbedingungen vom Tarifrecht her nicht verwehrt. Gleichwohl haben die Tarifverträge eine enorme Breitenwirkung, allein schon deshalb, weil Arbeitgeber aus ökonomischen Gründen praktisch gezwungen sind, auch ihren nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern wenigstens Tariflöhne zu zahlen. Deshalb ist es durchaus berechtigt, die tariflichen Arbeitsbedingungen als weithin wirksame Mindestarbeitsbedingungen zu betrachten. (20) Der Flächentarifvertrag kann vorteilhafte Wirkungen nur entfalten, wenn die Vertragsparteien die Grenzen respektieren, die von den Möglichkeiten rentabler Produktion und Beschäftigung gezogen sind. Sie müssen sich verständigen auf einen tarifpolitischen Kurs, der der jeweiligen Beschäftigungssituation angemessen ist. Bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage heißt das: Orientierung der Tarifabschlüsse am Ziel einer Stabilisierung der Stückkosten im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt. In der Hauptsache ist das eine Orientierung am Zuwachs der Arbeitsproduktivität, der mittelfristig, also über die konjunkturellen Wechsellagen hinweg aufgrund technologischer Verbesserungen erzielbar ist. Von der Lohnentwicklung gehen dann keine destabilisierenden Impulse aus. F ü r eine marktlagenorientierte Differenzierung der Effektivlöhne bleibt genügend Spielraum. In der gegenwärtigen Situation anhaltend hoher Arbeitslosigkeit müssen die Tarifabschlüsse jedoch Raum lassen für eine nachhaltige Senkung der realen Arbeitskosten je Produkteinheit und damit zugleich für die Schaffung von Ar1833
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beitsplätzen, die eine geringere Produktivität aufweisen. Die von Rezession zu Rezession steigende Sockelarbeitslosigkeit ist auch Reflex einer Tarifpolitik, die nach wie vor hohe Einkommensansprüche durchsetzt, obwohl sich die Bedingungen der Einkommenserzielung im weltwirtschaftlichen Strukturwandel nachhaltig verschlechtert haben. Zu Beginn der neunziger Jahre hat zudem die Öffnung nach Osten den Knappheitspreis für Arbeit gesenkt und die Konkurrenzsituation der heimischen Arbeitskräfte verschlechtert, jedenfalls die der Arbeitsplätze einfacher Qualifikationen. Der rasante und sich voraussichtlich fortsetzende Arbeitsplatzabbau in der Industrie ist mitverursacht durch eine Lohnpolitik, die den vom internationalen Wettbewerb gezogenen und wesentlich enger gewordenen Verteilungsspielraum mißachtet. Das zwingt die im Wettbewerb stehenden Firmen dazu, durch Rationalisierung und Freisetzung von Arbeitskräften die Produktivität der verbleibenden Arbeitskräfte zu steigern und damit den Anstieg der Lohnstückkosten zu begrenzen. Insofern ist eine hohe Produktivitätssteigerung durch hohe Lohnsteigerungen induziert. Deshalb ist es ganz und gar unzulässig, die tariflichen Lohnerhöhungen nach der tatsächlichen bzw. erwarteten weiteren Produktivitätssteigerung zu bemessen. Produktivitätssteigerungen müssen, solange hohe Arbeitslosigkeit fortbesteht, vielmehr primär für eine Senkung der Lohnstückkosten und damit für die Schaffung neuer Arbeitsplätze genutzt werden, statt den noch Beschäftigten als höheres Einkommen zugute zu kommen. Schon die Orientierung am Ziel einer Reallohnsicherung kann sich als ehrgeizig erweisen. Um eine nachhaltige Korrektur der realen Lohnstückkosten zu erreichen, müßte sie mehrere Jahre andauern. Reallohnsicherung darf dabei nicht verstanden werden als Sicherung der realen Bruttolöhne. Sonst könnte jede Erhöhung der Abgabenlast in zusätzliche Bruttolohnsteigerungen und damit in entsprechend höhere Arbeitskosten umgemünzt werden. Hinzunehmen sind auch Steigerungen der Konsumgüterpreise, die sich als Folge einer politisch gewollten Erhöhung öffentlicher Abgaben bzw. Senkung von Subventionen einstellen. Der Versuch einer 1834
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lohnpolitischen Kompensation würde über zusätzlich steigende Arbeitskosten nur den Preisauftrieb verstärken oder, wo der Wettbewerb Überwälzungen nicht zuläßt, die Ertragslage der betroffenen Unternehmen schwächen. Beides würde die dringend gebotene Verbesserung der Beschäftigungslage erschweren. Die neue Linie der Tarifpolitik muß sich primär an den jeweils unterschiedlichen Beschäftigungsbedingungen orientieren, damit möglichst schnell viele Arbeitsplätze geschaffen werden können. Diese Linie im Rahmen des Flächentarifvertrags zu finden, ist nicht einfach. Aber es ist möglich und gesamtwirtschaftlich lohnend. Beispielsweise sind die Möglichkeiten einer Vereinbarung von ertragsabhängigen Lohnbestandteilen bei weitem nicht ausgeschöpft. Sie sollten erneut und ernsthaft geprüft werden. Gleiches gilt für die Vereinbarung von Investivlohnregelungen. Gerade in einer Zeit, in der weltweit Arbeit relativ reichlich verfügbar, Kapital hingegen knapp geworden und ein Mehr an Beschäftigung deshalb möglicherweise nur zu erreichen ist, wenn Einbußen bei den realen Arbeitsentgelten hingenommen werden, könnte eine stärkere Beteiligung der Arbeitnehmer an den Erträgen des Faktors Kapital den notwendigen Kurswechsel in der Tariflohnpolitik erleichtern. Auf die Linie tarifpolitischer Vernunft einzuschwenken, ist nicht nur beschäftigungspolitisch geboten. Es liegt auch im wohlverstandenen Interesse der Tarifvertragsparteien. Die Auseinandersetzung um kollektive Arbeitsbedingungen kann weiterhin außerhalb der Betriebe stattfinden; damit bleiben die Vorteile erhalten, die daraus resultieren, daß nicht dezentral an vielen verschiedenen Stellen verhandelt wird. Politische Auseinandersetzungen wegen sonst notwendiger Änderungen des arbeitsrechtlichen Regelwerks entfallen. Daß gleichwohl immer wieder tarifpolitische Unvernunft waltet, zeigt einen ungedeckten Bedarf an Regeln, die gemeinwohlschädliches Verhalten verhindern. Die Tarifvertragsparteien wären gut beraten, sich selbst solche Regeln zu geben. Nötig und möglich wäre beispielsweise ein stärkeres Gewicht kleiner und mittlerer Unternehmen in der innerverbandlichen Willensbildung der Arbeitgeber. Auf Ge1835
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werkschaftsseite wären Wege zu finden, das Beschäftigungsinteresse der Arbeitnehmer in wirtschaftsschwachen Bereichen — auch das der Arbeitslosen — stärker in die Willensbildung einzubringen. (21) Gelingt die Kursänderung im Rahmen grundsätzlich branchenweiter und flächendeckender Tarifverträge nicht, müssen andere Wege beschritten werden, um einem vitalen Beschäftigungsinteresse der Arbeitnehmer und insbesondere der Arbeitslosen besser Geltung zu verschaffen. Man muß davon wegkommen, daß zunächst Verbandsvertreter Mindestarbeitsbedingungen vereinbaren und danach die einzelnen Arbeitgeber nur zu entscheiden haben, wieviel Arbeitnehmer bei den tarifpolitischen Vorgaben noch rentabel zu beschäftigen sind. Ein besserer Weg ist, die Befugnisse zur Festlegung von Arbeitsbedingungen mehr als bisher auf die betriebliche Ebene zu verlagern. Ihn zu beschreiten setzt voraus, die Unabdingbarkeit der Verbandstarifverträge zu lockern. Ein Mittel dazu sind Öffnungsklauseln, die es den Betriebsparteien — Belegschaftsvertretungen und Unternehmensleitungen — erlauben, unter bestimmten Voraussetzungen von den Regelungen des jeweiligen Flächentarifvertrags „nach unten" abzuweichen. Unter dem Blickwinkel der Tarifautonomie verdienen dabei tarifliche Offnungsklauseln den Vorzug vor gesetzlichen Offnungen des Tarifvertrags. Das gilt solange, wie die Tarifparteien ihrer beschäftigungspolitischen Verantwortung gerecht werden. (22) Durch betriebsindividuelle Regelungen der Arbeitszeit lassen sich substantielle Kosteneinsparungen realisieren. Flexiblere Arbeitszeitregelungen machen erhebliche Produktivitätsfortschritte durch Veränderung der Arbeitsorganisation möglich. Sie erlauben den Unternehmen einen Abbau von Uberstundenzuschlägen, Samstagszuschlägen und sonstigen Sonderzahlungen für Arbeitszeiten, die nach dem starren Zeitraster von Flächentarifverträgen nicht zur Normalarbeitszeit gehören. Die Entkoppelung von individuellen Arbeitszeiten und Maschinenlaufzeiten erlaubt eine bessere Nutzung des betrieblichen Anlagevermögens, was die Kapitalnutzungskosten senkt. Eine flexiblere Anpassung des 1836
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betrieblichen Arbeitsvolumens an eine schwankende Produktnachfrage macht es auch zumindest teilweise entbehrlich, auf Absatzflauten mit Kurzarbeit zu reagieren. D a s erspart die Zahlung von Kurzarbeitergeld und mindert insoweit den Kostendruck, der von den Sozialabgaben ausgeht. Durch flexiblere Arbeitszeitregelungen lassen sich oft auch die Wünsche der Arbeitnehmer bezüglich Dauer und Lage etwa der Wochen- und Jahresarbeitszeit besser erfüllen, was für sich genommen wohlfahrtssteigernd ist. Die Tarifvertragsparteien haben den Weg zu betriebsnäheren flexiblen Arbeitszeiten schon vor geraumer Zeit beschritten. Die Möglichkeiten einer zugleich kostensenkenden und für die Mitarbeiter nutzenstiftenden Flexibilisierung insbesondere von Wochen- und Jahresarbeitszeiten sind aber bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Sie sollten stärker genutzt werden. (23) Eine Öffnung der Verbandstarifverträge für betriebsnähere Gestaltung sollte auch für Arbeitsentgelte erprobt werden. Das käme vor allem mittleren und kleinen Unternehmen zugute, die oft geringere Möglichkeiten der Kostenentlastung durch flexiblere Arbeitszeiten haben. Schon heute unterschreiten Unternehmen in wirtschaftlichen Notlagen tariflich vorgegebene Mindestlöhne, in Westdeutschland gelegentlich, in Ostdeutschland bei dem dort weit größeren Lohnkostendruck häufig. Arbeitnehmer und Belegschaftsvertreter stimmen dem regelmäßig zu, um die Arbeitsplätze zu sichern; von Gewerkschaftsseite wird es oft stillschweigend geduldet. Was die praktische Vernunft der unmittelbar Beteiligten an beschäftigungsfreundlichen Lockerungen der Verbandstarifverträge bewirkt hat, kann auf eine legale und breitere Basis gestellt werden, wenn in tariflichen Offnungsklauseln ausdrücklich vorgesehen wird, daß auf der Betriebsebene von tariflichen Entgeltregelungen in einer bestimmten Weise abgewichen werden darf. Derartige Abweichungen können beispielsweise Optionsklauseln oder Härteklauseln sein. Bei Optionsklauseln wird den Betrieben das Recht zugestanden, unter bestimmten Voraussetzungen das tarifvertraglich 1837
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festgelegte Lohnerhöhungsvolumen unterschiedlich zu nutzen, beispielsweise weniger Barlohnerhöhung im Austausch gegen größere Beschäftigungssicherheit, die Gewährung zusätzlicher Freizeit oder sonstiger geldwerter Vorteile, eine Beteiligung am Unternehmensertrag etwa in Form von Bonussystemen, eine Beteiligung am Unternehmenskapital durch Investivlohnregelungen u. a. m. Bei der ertragsabhängigen Komponente könnten Mindestwerte eingeführt werden, um zu vermeiden, daß sie negativ wird. Die ertragsabhängige Komponente ließe sich auch mit Vermögensbildungsmaßnahmen verknüpfen. Wird ihre Höhe für den einzelnen Beschäftigten an Merkmale seines individuellen Leistungsverhaltens geknüpft, lassen sich Leistungsmotivation und Produktivität verbessern. Staffelungen nach der Dauer der Betriebszugehörigkeit können der Gefahr vorbeugen, daß sich die bereits Beschäftigten (Insider) gegen die Einstellung zusätzlicher Arbeitnehmer (Outsider) stemmen, weil sie befürchten müssen, bei der Aufteilung des gemeinsam erwirtschafteten Ertrags auf eine größere Zahl von Köpfen werde jetzt weniger für sie abfallen. Tarifliche Härteklauseln erfüllen eine Art Feuerwehrfunktion. Sie ermöglichen es den Betriebsparteien, in vorab definierten wirtschaftlichen Notlagen, etwa drastischen Absatzeinbrüchen oder sonstigen akuten Gefahren für die Beschäftigung, vom Tarifvertrag abweichende Vereinbarungen zu treffen. Die Betriebsparteien werden damit in die Lage versetzt, tariflich vereinbarte Lohnerhöhungen nur teilweise oder gar nicht vorzunehmen oder notfalls sogar bisher gültige Tarifentgelte zu unterschreiten. Betriebsnähere Gestaltungen der Arbeitsentgelte bergen Chancen. Sie liegen darin, daß die unterschiedliche wirtschaftliche Lage der einzelnen Firmen bei den Arbeitsentgelten besser berücksichtigt wird und es so zu einer beschäftigungsfreundlicheren Differenzierung der Arbeitsentgelte nach Branchen und Regionen kommt. Es können auch die Betriebe existieren, deren Arbeitsplätze man für einen hohen Beschäftigungsstand braucht. Wenn sich Unternehmen durch die Vereinbarung alternativer Entgeltformen einem 1838
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ansonsten wirksamen Lohnkostendruck entziehen können, mag auch ihre Bereitschaft größer sein, mehr als bisher Investivlöhne zu vereinbaren oder Teile des Arbeitsentgelts unmittelbar von der H ö h e des Unternehmensertrags abhängig zu machen. Der weitgehende Stillstand auf dem Gebiet der Ertragsbeteiligung könnte so eher überwunden werden. Jedenfalls bieten Offnungsklauseln den Betriebsparteien einen zusätzlichen Verhaltensspielraum, in dem der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren wirken kann. Die Änderung der Kompetenzenstruktur im Bereich kollektiver Entgeltregelungen birgt auch Risiken. Die Zuweisung von Regelungsbefugnissen im Bereich der Arbeitsentgelte an Betriebsräte kann dazu führen, daß zusätzliche Spannungen zwischen Belegschaften und Geschäftsführung entstehen. Gerade der Bereich der Arbeitsentgelte ist besonders konfliktträchtig. Deshalb empfiehlt sich ein im Tarifvertrag festgelegter Einlassungs- und Unterwerfungszwang unter ein vereinbartes Schiedsverfahren. Wenn die Parteien des Tarifvertrags in dem Bewußtsein verhandeln, daß tarifpolitische Vorgaben auf der Betriebsebene notfalls korrigiert werden, könnte es auch sein, daß diese Vorgaben großzügiger bemessen werden. Eine verantwortungsvolle und damit akzeptable N u t z u n g der Tarifautonomie wäre das nicht. (24) Betriebsnähere Entgeltregelungen begünstigen eine regionale Lohnstruktur, die den Arbeitsmarktverhältnissen am jeweiligen Standort Rechnung trägt. Sie führen aber nicht notwendigerweise zu einer größeren Aufspreizung des Arbeitskostenfächers nach Qualifikationen. Hier bleiben die Parteien des Tarifvertrags nach wie vor gefordert. Sie müssen verstärkt dem Erfordernis Rechnung tragen, daß für beruflich wenig qualifizierte Arbeitskräfte Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen werden. Spezielle Lohngruppen würden das Angebot entsprechender Arbeitsplätze erleichtern. Abschläge bei Neueinstellungen (Einstiegslöhne) senken die Zusatzkosten der Produktion und tragen dem Umstand Rechnung, daß es auch bei einfachen Verrichtungen einer gewissen Einarbeitungszeit bedarf, bis die volle Produktivität erreicht ist. Erste Schritte in dieser Richtung sind in jün1839
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gerer Zeit gemacht worden, etwa mit der Vereinbarung niedrigerer Einstiegslöhne in der chemischen Industrie. Weitere und deutlichere Schritte sollten folgen. Gegen die beschäftigungspolitische Wirksamkeit einer größeren Lohnspreizung nach unten scheint die Tatsache zu sprechen, daß in der Industrie die unteren Lohngruppen oft nur schwach besetzt sind, also eine schon bestehende tarifliche Lohnspreizung gar nicht für Mehrbeschäftigung ausgeschöpft wird. Bei der Beurteilung dieses Sachverhalts ist jedoch Vorsicht geboten. Uber viele Jahre hinweg war die Tarifpolitik darauf gerichtet, die niedrigsten Lohngruppen ganz zu beseitigen und bei den verbleibenden Lohngruppen den Abstand zum Ecklohn zu verringern. Die Unternehmen haben sich bei der Wahl der Produktionsverfahren darauf eingerichtet, einfache Arbeit zu sparen. Die schwache Besetzung unterer Lohngruppen ist deshalb Reflex eines Zusammenspiels von nivellierender Tariflohnpolitik und reagierender Investitionspolitik, die einfache Arbeit entbehrlich macht. Dieser Prozeß ist möglicherweise nicht umkehrbar. Er ließe sich aber zumindest verlangsamen, wenn die Tariflohnpolitik einen klaren und nachhaltigen Kurswechsel hin zu einer größeren Differenzierung vollzieht. Vor allem: Das Argument schwach besetzter unterer Lohngruppen gilt keineswegs für alle Wirtschaftsbereiche. Insbesondere im Dienstleistungssektor, auch im öffentlichen Dienst, dürfte eine stärkere Lohndifferenzierung das Entstehen von Arbeitsplätzen und die Beschäftigung von Arbeitnehmern in Bereichen einfacher Arbeit erleichtern. Voraussetzung dafür ist allerdings, daß nach einer Aufspreizung des Lohnfächers nach unten noch genügend Arbeitskräfte in den unteren Lohngruppen arbeiten wollen. Dies hängt entscheidend ab vom Verhältnis von Arbeitsentgelt und erreichbarem Sozialeinkommen. (25) Die lohn- und tarifpolitische Diskussion hat mit dem Vorschlag des I G Metall-Vorsitzenden, ein „Bündnis für Arbeit" zu schmieden, neue Impulse erhalten. Die IG Metall ist bereit, im Jahre 1997 auf reale Lohnsteigerungen zu verzichten und befristeten Abschlägen vom Tariflohn bei der 1840
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Einstellung von Langzeitarbeitslosen zuzustimmen. I m Gegenzug fordert sie allerdings, daß die metallverarbeitenden Unternehmen in den nächsten drei Jahren auf betriebsbedingte Kündigungen verzichten, 300000 neue Arbeitsplätze schaffen, zusätzlich 30000 Langzeitarbeitslose einstellen und die Zahl der Ausbildungsplätze um jährlich 5 v . H . erhöhen. Die Bundesregierung müsse sich verpflichten, auf die geplanten Kürzungen bei der Arbeitslosenhilfe zu verzichten, die Regeln für den Bezug von Sozialhilfe nicht zu verschärfen, allen ausbildungswilligen Jugendlichen zu einem Ausbildungsplatz zu verhelfen und Unternehmen, die nicht oder zu wenig ausbilden, zu einem Lastenausgleich heranzuziehen. Anzuerkennen ist: Die IG Metall räumt mit ihrem Vorschlag ein, daß eine moderate Lohnpolitik die Beschäftigung fördert und Einstiegstarife einen wichtigen Beitrag leisten können, Langzeitarbeitslose wieder in Arbeit und Brot zu bringen. Für sich genommen ist dies ein sinnvoller Ausgangspunkt für zukünftige Lohnverhandlungen. N i m m t man Signale anderer Gewerkschaften hinzu, so könnte dies zu einem Einstieg in eine neue, beschäftigungsfördernde Lohnpolitik führen. Abzulehnen ist allerdings eine verbandspolitische Koppelung des Versprechens von Lohnzurückhaltung mit der Forderung nach globalen Arbeitsplatzzusagen. Solches Denken verkennt die Funktionsbedingungen des Arbeitsmarktes. In einer marktwirtschaftlichen Ordnung sind die Arbeitsmarktparteien weder legitimiert noch in der Lage, auf Verbandsebene über Zahl und Struktur der Beschäftigten zu befinden. Insbesondere können Arbeitgeberverbände für ihre Mitglieder keine bindenden Zusagen solcher Art geben. Beschäftigungsgarantien und Einstellungszusagen können allenfalls auf betrieblicher Ebene ausgehandelt werden. U n d auch das ist nur möglich, wenn entweder außerhalb von Verbandstarifverträgen auf betrieblicher Ebene zwischen Geschäftsleitung und Betriebsrat über Lohn und Beschäftigung verhandelt wird oder die gegenwärtigen Flächentarifverträge durch Rahmentarifverträge ersetzt werden, die den Betriebspartei1841
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en den notwendigen Spielraum für wirtschaftlich tragbare beschäftigungssichernde Vereinbarungen gewähren. Es kann auch nicht sein, daß die staatliche Politik sich in verpflichtende Absprachen am „runden Tisch" einbinden läßt. Es ist vielmehr alles zu vermeiden, was dazu beiträgt, die beschäftigungspolitische Verantwortung der Tarifvertragsparteien zu verwischen. Aufgabe der staatlichen Politik ist es, den Arbeitsmarktparteien Rahmendaten für deren Entscheidungen vorzugeben. Schritte zur Reform des Sozialstaates sind unumgänglich. Die vorgesehene Reform der Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe enthält gerade Elemente und Anreize, die es den Arbeitslosen erleichtern sollen, wieder eine Beschäftigung zu finden. 4. Abbau von Fehlanreizen im Sozialsystem (26) Die Uberwindung der Langzeitarbeitslosigkeit und die Rückkehr zu einem hohen Beschäftigungsstand werden erschwert durch Fehlanreize im Sozialsystem. Sie sind vielfältiger Art und in den einzelnen Sicherungsbereichen verschieden. Ein neuralgischer Punkt ist das Verhältnis von Arbeitseinkommen zu Sozialeinkommen, das die Bereitschaft zum Arbeitsangebot bestimmt. Je höher das Sozialeinkommen, um so höher der Lohn, der mindestens geboten werden muß, um Arbeitnehmer in eine Beschäftigung zu bringen. Anreizprobleme entstehen auch durch Umfang und Entwicklung von Lohnzusatzkosten, die das Beschäftigen von Arbeitnehmern für die Arbeitgeber zunehmend unattraktiv machen. (27) Die mögliche effektive Lohnspreizung nach unten wird vor allem bestimmt durch die Regeln für den Bezug von Sozialhilfe. In Deutschland räumt das Bundessozialhilfegesetz jedem Bürger einen Rechtsanspruch auf Sozialhilfe ein. Voraussetzung für diesen Anspruch ist, daß der Betreffende nicht selbst in ausreichendem Umfang für sich sorgen kann und auch die Unterhaltsverpflichteten dazu nicht in der Lage sind. Der Nachrang der Sozialhilfe gegenüber der Eigenhilfe verlangt grundsätzlich, daß arbeitsfähige Personen zunächst einmal ihre Arbeitskraft einsetzen müssen, um ihren 1842
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Lebensunterhalt zu bestreiten. Der Anreiz zur Aufnahme einer offiziellen Beschäftigung ist aber gering oder fehlt ganz, wenn der durch Arbeit realisierbare Lebensstandard nicht deutlich über dem liegt, was mit Hilfe der Sozialleistungen möglich ist. Das sozialhilferechtliche Lohnabstandsgebot soll deshalb sicherstellen, daß zwischen den laufenden Mindesteinkommen der Sozialhilfe — vor allem Regelsätze — und dem durch Arbeit erzielbaren Nettoeinkommen ein gebührender Abstand besteht. Was ein gebührender Abstand ist, war bis 1992 relativ allgemein formuliert: Die sogenannten Regelsätze sollten zusammen mit den Durchschnittsbeträgen für die Kosten der Unterkunft unter den durchschnittlichen Arbeitsentgelten unterer Lohngruppen zuzüglich Kindergeld und Wohngeld liegen. Weil Sozialhilfe bedarfsorientiert gewährt wird und deshalb mit der Haushaltsgröße ansteigt, Löhne aber prinzipiell leistungsorientiert und deshalb von der Haushaltsgröße unabhängig sind, ist für den konkreten Lohnabstand entscheidend, welche Haushaltsgröße man dem Vergleich von Sozialhilfe und Arbeitsentgelt zugrunde legt. Wichtig ist u.a. auch, welche Referenzgrößen für die Kosten der Unterkunft und für die Arbeitsentgelte gewählt werden. Je nach Wahl der Referenzgrößen konnte man zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen über die Einhaltung des Lohnabstands kommen. Für bestimmte Haushaltstypen lagen die Sozialhilfeleistungen in der Nähe oder teilweise über dem, was in der betreffenden Region in der untersten Tariflohngruppe verdient werden konnte; das galt vor allem für sogenannte Leichtlohnbranchen wie Textil oder Handel. Mit dem 1993 neu gefaßten § 22 Bundessozialhilfegesetz wurden als Referenz-Haushaltstypen „Haushaltsgemeinschaften bis zu 5 Personen" festgelegt. Im Ergebnis bedeutete das eine deutlich restriktivere Fassung des Abstandsgebots. In die gleiche Richtung gehen Präzisierungen, die derzeit vorgesehen sind. So sollen einmalige Zahlungen an Arbeitnehmer und einmalige Leistungen der Sozialhilfe in die Vergleichsrechnung einbezogen werden. Regionale Unterschiede in Mieten und Löhnen werden künftig automatisch in die Bestimmung des Lohnabstands eingehen, was 1843
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bisher wegen der Orientierung an Bundesdurchschnitten nicht der Fall war. Zusammen mit einer ebenfalls vorgesehenen formelgebundenen Anpassung der Regelsätze — zunächst an die Entwicklung der Nettoarbeitsentgelte — ergibt sich zudem eine gewisse Gewähr, daß ein einmal fixierter Lohnabstand im Zeitablauf beibehalten wird. Vorgesehen ist auch, den einzuhaltenden Lohnabstand auf 15 v.H. festzulegen und insoweit den bisherigen Ermessensspielraum der für die Sozialhilfe zuständigen Kommunen, Landkreise und Länder zu beseitigen. Hinzu kommt, daß künftig eine Kürzung des Regelsatzes um 25 v.H. verbindlich vorgeschrieben werden soll, wenn Sozialhilfeempfänger zumutbare Arbeit verweigern. Durch die bereits vorgenommenen und die geplanten Korrekturen im Sozialhilferecht wird der Lohnabstand deutlich vergrößert, vor allem dann, wenn die vorgesehene Kürzung des Regelsatzes um 25 v. H. tatsächlich greift. Er wird ferner vergrößert durch die Erhöhung des Grundfreibetrags bei der Einkommensteuer. Der größere Abstand kann die wünschenswerte Spreizung der Arbeitskosten nach unten erleichtern, auch das Zustandekommen von Löhnen unterhalb tariflicher Mindestlöhne, beispielsweise in kleinen Betrieben des Handels und Dienstleistungsgewerbes. Das wäre beschäftigungspolitisch erwünscht. Es müßte gegebenenfalls abgesichert werden gegen die Durchsetzung von Gleichbehandlungsforderungen, insbesondere dagegen, daß jene Unternehmen, die unter Tarif bezahlen, auf dem Umweg über Allgemeinverbindlicherklärungen in bestehende Tarifverträge einbezogen werden. (28) Art und Umfang der Arbeitsanreize sind auch abhängig von den Regeln, nach denen ein erzieltes Arbeitseinkommen auf das Sozialeinkommen angerechnet wird. Bei der Sozialhilfe gehen die dafür zuständigen Bundesländer meist so vor, daß ein verdientes Arbeitseinkommen bis zu 25 v. H. des Regelsatzes eines Haushaltsvorstandes gar nicht auf die Sozialhilfe angerechnet wird; das sind derzeit monatlich rund 130,— DM. Von jeder darüber hinaus verdienten Mark werden 85 Pfennige von der Sozialhilfe abgezogen. Was über 50 v.H. des Eckregelsatzes, derzeit also über 260,— D M hinausgeht, 1844
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führt in voller Höhe zur Kürzung von Sozialhilfeansprüchen. Damit bleibt einem Sozialhilfeempfänger, der erwerbstätig ist, vom Ertrag seiner Arbeit praktisch kaum etwas übrig; sein Arbeitsentgelt wird einem Grenzsteuersatz von nahezu 100 v.H. unterworfen. Für eine fünfköpfige Familie können sich Grenzsteuerbelastungen von faktisch 100 v.H. im Einkommensbereich bis etwa 30000,— D M pro Jahr ergeben. Es liegt auf der Hand, daß derartige Anrechnungsregeln offizielle Arbeit weitgehend unattraktiv machen. Hier sind Korrekturen dringend geboten. (29) Wenn der Lohnabstand größer ist und von einem verdienten Arbeitseinkommen weniger auf das Sozialeinkommen angerechnet wird, werden mehr Personen intensiv nach einer bezahlten Beschäftigung suchen. Das mindert die Arbeitslosigkeit zunächst einmal insoweit, wie bisher als arbeitslos registrierte Unterstützungsempfänger jetzt eine vorhandene Beschäftigungsmöglichkeit ergreifen. Zugleich dürfte die Zahl der unterstützten Personen steigen, die bislang nicht auf dem Arbeitsmarkt waren und nun eine Stelle suchen. Ein beschäftigungspolitischer Gewinn ist zu erwarten, wenn der größere Angebotsdruck zu geringeren Arbeitsentgelten führt. Soweit die bisherige Sockelpolitik der Tarifvertragsparteien bestimmt war von dem Motiv, den Arbeitnehmern unterer Lohngruppen ein verfügbares Einkommen deutlich über dem staatlich gewährten Mindesteinkommen zu sichern, wird die Vergrößerung des Lohnabstandes die wünschenswerte Auffächerung der Tariflöhne nach unten erleichtern. Die relative Absenkung von Sozialeinkommen und die geringere Anrechnung von Erwerbseinkommen auf Sozialeinkommen macht es für Arbeitskräfte attraktiver, zu einem Lohneinkommen zu arbeiten, das mehr oder weniger weit unter dem liegt, was zu den bisherigen tariflichen Mindestlöhnen und Arbeitszeiten erzielbar ist. Ihre Beschäftigung ist dann auch für Arbeitgeber attraktiver. Das dürfte vor allem für Bereiche gelten, in denen Teilzeitarbeit gut organisierbar ist, wo also mit stundenweiser oder halbtägiger Arbeit oder Arbeit an bestimmten Wochentagen das Sozialeinkommen aufzubessern ist. Wird es den Beziehern von Sozialeinkommen nicht mehr verwehrt, reguläre Arbeit zu 1845
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Löhnen unter den tariflichen Mindestlöhnen anzunehmen, werden sich auch die Voraussetzungen für eine marktlagenorientierte Reaktion der Löhne auf anhaltende Angebotsüberschüsse verbessern. Die Mehrbeschäftigung von Sozialhilfeempfängern kommt zustande, weil der Anreiz entsteht, einen Teil des bisherigen Sozialeinkommens durch Arbeitseinkommen zu ersetzen und das Einkommen insgesamt durch Mehrverdienst zu erhöhen. Je nach Lohnabstand und Anrechnungsregeln könnte es allerdings auch für bisher nicht unterstützte Personen attraktiv werden, die Voraussetzungen für den kombinierten Bezug von Arbeitseinkommen und Sozialeinkommen herbeizuführen. Für die öffentlichen Kassen wäre das dann möglicherweise sehr teuer. Um dieser Gefahr zu begegnen, müßten Absenkung der Sozialhilfe und geringere Anrechnung so austariert werden, daß das Gesamtvolumen der Sozialhilfezahlungen möglichst nicht steigt. (30) Ein möglicher Grund für den steigenden Sockel an Langzeitarbeitslosen ist die zulässige Dauer des Bezugs von Lohnersatzleistungen. Die maximale Bezugsdauer von Arbeitslosengeld beispielsweise ist gestaffelt nach Alter und bisheriger Dauer einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung und reicht von 12 Monaten für Arbeitslose unter 42 Jahren bis zu 32 Monaten für Arbeitslose ab 54 Lebensjahren. Das Arbeitslosengeld beträgt 67 v. H. bzw. 60 v. H. (mit bzw. ohne Unterhaltspflicht) des bisher verdienten regelmäßigen Nettoarbeitsentgelts. Nach einjähriger Bezugsdauer wird diese Bemessungsgrundlage an die durchschnittliche Bruttolohnsteigerung im vergangenen Kalenderjahr angepaßt, also dynamisiert. Die tatsächliche Bezugsdauer von Leistungen in Höhe des Arbeitslosengeldes kann verlängert werden, etwa durch Teilnahme an Maßnahmen der beruflichen Fortbildung, für die Unterhaltsgeld in Höhe des Arbeitslosengeldes gezahlt wird. Mündet die Qualifizierung in erneute Arbeitslosigkeit, kann erneut Arbeitslosengeld gezahlt werden; hält die Arbeitslosigkeit an, können die Betroffenen wieder an einer Qualifizierungsmaßnahme teilnehmen und Unterhaltsgeld beanspruchen. Die Höhe des Unterhaltsgel1846
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des bzw. Arbeitslosengeldes wird dabei stets von der ursprünglichen, gegebenenfalls dynamisierten Bemessungsgrundlage aus berechnet, so daß es grundsätzlich möglich ist, weit über die maximale Bezugsdauer von Arbeitslosengeld hinaus Sozialtransfers in H ö h e des Arbeitslosengeldes zu beziehen. Artgleiches gilt bei der Teilnahme an anderen arbeitsmarktpolitischen Programmen, etwa Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Derartige Regelungen können eine relative Verarmung der Betroffenen über eine beträchtliche Zeitspanne hinweg verhindern. Das ist auch ihr sozialpolitischer Zweck. Sie vermindern damit aber zugleich den Zwang, Einkommensansprüche an verschlechterte Möglichkeiten der Einkommenserzielung anzupassen. Das gilt weniger für die Betroffenen selbst, die als Empfänger von Arbeitslosengeld schon beträchtliche Einkommenseinbußen hinzunehmen haben. Es gilt vor allem für die Tarifvertragsparteien, die weit weniger unter Zugzwang stehen, die Mindestarbeitsbedingungen so festzulegen, daß die Betroffenen größere Chancen auf Beschäftigung und selbstverdientes Einkommen haben. Dies wiegt deshalb besonders schwer, weil es überwiegend Hochlohnbranchen sind, die seit Jahren unter verschärftem internationalem Konkurrenzdruck Arbeitsplätze abbauen, neue Arbeitsplätze aber vor allem im Dienstleistungsbereich entstehen, wo im Durchschnitt niedrigere Löhne erwirtschaftet werden. Der notwendige Wandel in der sektoralen Beschäftigtenstruktur ist deshalb verbunden mit einer entsprechenden Anpassung von Einkommensansprüchen. Er geht um so langsamer vor sich, je langsamer diese Anpassung erfolgt. (31) Die Ausweitung des Sozialstaates hat die Personalzusatzkosten stark erhöht. Weil diese Expansion nicht durch entsprechende Minderlohnsteigerungen aufgefangen wurde, sind damit auch die gesamten Arbeitskosten gestiegen. Die Personalnebenkosten, die Anfang der siebziger Jahre im verarbeitenden Gewerbe noch knapp die Hälfte des durchschnittlichen Stundenlohns betragen hatten, liegen heute bei einem Anteil von gut vier Fünfteln. Von den gesamten Personal1847
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nebenkosten sind rund 56 v.H. tariflich oder betrieblich und knapp 44 v. H. gesetzlich festgelegt. Obwohl ein beträchtlicher Teil dieser Nebenkosten den Charakter spezifischer Arbeitsentgelte hat, treibt ihre Expansion einen immer breiteren Keil zwischen die gesamten Arbeitskosten, an denen sich die Nachfrageentscheidung der Arbeitgeber orientiert, und das für die Angebotsentscheidung der Arbeitnehmer maßgebliche Entgelt. Damit wächst die Gefahr von Fehlsteuerungen im Marktprozeß. (32) Anreizfreundliche Korrekturen im Sozialsystem müssen sich orientieren an bestimmten konzeptionellen Richtpunkten. Der erste ist eine stärkere Betonung des subsidiären Charakters staatlicher Zwangssicherung im Alter, bei Krankheit und bei Arbeitslosigkeit. Der zweite Richtpunkt ist eine stärkere Beachtung des Aquivalenzprinzips. Sie verbessert die Transparenz der Systeme und fördert ein wirtschaftliches Verhalten aller Beteiligten. Eine stärkere Betonung des Aquivalenzprinzips erlaubt auch größere Wahlfreiheiten der Versicherten und mehr Wettbewerb zwischen Versicherungsträgern und Leistungsanbietern, insbesondere im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung. Korrekturen sind dringlich, nicht zuletzt weil ohne sie in den nächsten Jahrzehnten schon wegen der Entwicklung der Altersstruktur der deutschen Bevölkerung mit massiv steigenden Beitragssätzen in der Renten-, der Kranken- und der Pflegeversicherung zu rechnen ist. Abzulehnen ist der Vorschlag, die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen der Bundesanstalt nicht mehr über Beiträge, sondern über Steuern zu finanzieren. Der Bedarf an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen ist abhängig von der Arbeitsmarktlage und diese wiederum vom Verhalten der Tarifvertragsparteien, die in den Entscheidungsgremien der Bundesanstalt mit zwei Dritteln der Mitglieder repräsentiert sind. Wenn die negativen Beschäftigungsfolgen tarifpolitischen Handelns im Haushalt der Bundesanstalt nur noch abgeschwächt wirksam werden, wird ein kollektives moral hazard-Verhalten begünstigt.
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5. Beschäftigungsförderung für Langzeitarbeitslose (33) Eine Politik, die insgesamt mehr rentable Beschäftigung ermöglicht, ist die wichtigste Voraussetzung dafür, daß Langzeitarbeitslosigkeit nicht immer wieder neu entsteht und auch die schon lange Zeit Arbeitslosen bessere Beschäftigungschancen haben. Sie reicht aber nicht aus. Langzeitarbeitslosigkeit ist zu einem guten Teil Reflex ungleicher Beschäftigungschancen: Arbeitswillige Arbeitslose sind, tatsächlich oder vermeintlich, weniger als andere in der Lage, auf Arbeitsplätzen mindestens so viel zu erwirtschaften, wie ihre Beschäftigung den Arbeitgeber kostet. Dieser Startchancennachteil kann von Anfang an bestehen, etwa wegen fehlender beruflicher Qualifikation oder gesundheitlicher Einschränkungen. Er kann aber auch im Laufe der Arbeitslosigkeit entstehen aus selbstverstärkenden Prozessen der Dequalifizierung und Demotivierung, die das Leistungsvermögen der Betroffenen immer weiter unter das Niveau absinken lassen, das auf angebotenen Arbeitsplätzen verlangt wird. Eine Politik der Beschäftigungsförderung für Langzeitarbeitslose muß versuchen, diese Startchancennachteile zu beseitigen und ihre Entstehung zu verhindern. Dazu stehen ihr grundsätzlich zwei Wege offen. Erstens kann sie versuchen, die spezifischen Produktivitätsnachteile der Betroffenen durch geeignete Qualifizierungsmaßnahmen zu mindern und so ihre Wiedereingliederung in reguläre Beschäftigungsverhältnisse zu fördern. Zweitens kann sie versuchen, die Kosten der Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen an deren geringeres Leistungsvermögen heranzuführen und so eine Wiederbeschäftigung zu erleichtern. Der erste Weg zielt auf Beseitigung, der zweite auf kostenseitige Kompensation der spezifischen Nachteile, die Arbeitslose und insbesondere Langzeitarbeitslose im Wettbewerb um knappe Arbeitsplätze haben. (34) Arbeitsförderung durch Qualifizierung gehört zu den zentralen Aufgaben der Arbeitsmarktpolitik. Die Bundesanstalt für Arbeit zielt mit speziellen Programmen für Langzeitarbeitslose darauf ab, deren spezifische Qualifikations1849
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nachteile zu mindern. Parallel versucht sie mit allgemeinen Maßnahmen zur Fortbildung und Umschulung zu verhindern, daß Arbeitslosigkeit entsteht oder fortdauert. Der Idee nach geht es um eine Minderung des Angebots an gering oder falsch qualifizierten Arbeitskräften, für die es keine ausreichenden Beschäftigungs- und Verdienstmöglichkeiten gibt, und um eine Erhöhung des Angebots an Arbeitskräften mit guter Qualifikation, die gute Beschäftigungsund Verdienstchancen haben. Qualifizierungspolitik kann damit einen besseren Ausgleich beruflicher Teilarbeitsmärkte bewirken und so die Voraussetzung dafür schaffen, daß insgesamt mehr rentable Produktion und damit auch mehr Beschäftigung für bislang weniger qualifizierte Arbeitskräfte entsteht. Für schwer vermittelbare Arbeitslose sind die Möglichkeiten der Qualifizierung allerdings oft sehr begrenzt. Ihre Beschäftigung ist meist nur mit ergänzenden Hilfen möglich. Im übrigen ist wirksame Qualifizierungspolitik an eine Reihe von Voraussetzungen gebunden (Ziff. 38). (35) Für die kostenseitige Kompensation von Startchancennachteilen bieten sich zwei Ansatzpunkte an. Der erste sind die Arbeitskosten selbst. Die Bundesanstalt fördert die Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen und sonstigen schwer vermittelbaren Personen dadurch, daß sie deren Beschäftigung subventioniert. Wer für diese Personengruppen zusätzliche Arbeitsplätze schafft, erhält bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen finanzielle Hilfen in teilweise sehr beträchtlicher Höhe (Einarbeitungszuschüsse, Eingliederungsbeihilfen, allgemeine Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für ältere Arbeitnehmer, produktive Lohnkostenzuschüsse, §§ 249 h, 242 s AFG). Einen zweiten Ansatzpunkt bieten die spezifischen Vermittlungshemmnisse, die Dequalifizierungsprozesse begründen oder erleichtern. Manche Arbeitslose sind gut qualifiziert und motiviert und werden doch nicht eingestellt, weil ihre bisherige Dauer der Arbeitslosigkeit als Signal für eine geringe Leistungsfähigkeit oder Leistungsbereitschaft genommen wird. Dieses Vermittlungshemmnis läßt sich durch 1850
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hinreichend lange Probezeiten abmildern; Arbeitgeber können dann die tatsächliche Produktivität des Arbeitnehmers testen, ohne das Risiko eines kostenträchtigen Fehlgriffs einzugehen. Es geht hier nicht zuletzt um ältere Arbeitnehmer, die wegen Reorganisation oder Zusammenbruch ihres Unternehmens entlassen worden sind. Bei ihnen kommt hinzu, daß die erwartete Amortisationsdauer für eventuell notwendige Einarbeitungs- und Umschulungsaufwendungen weit kürzer ist als bei jüngeren Arbeitskräften. Dieses Einstellungshemmnis läßt sich beseitigen, wenn die Kosten von Einarbeitung und Umschulung nicht vom Arbeitgeber zu tragen sind, sondern in F o r m niedrigerer Einstiegslöhne von den betroffenen Arbeitnehmern übernommen werden, gegebenenfalls in Kombination mit öffentlichen Zuschüssen. Nicht selten sind die Einstellungschancen für ältere Arbeitnehmer auch deshalb relativ schlecht, weil die Arbeitgeber wissen, daß sie bei einem Absatzrückgang nach Ablauf der Probezeit im Zweifelsfall einen jüngeren Arbeitnehmer entlassen müssen. Hier könnte es helfen, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer im individuellen Arbeitsvertrag den Ausschluß der Sozialauswahl oder des besonderen Kündigungsschutzes für ältere Arbeitnehmer vereinbaren dürften. D e m würden nur Arbeitnehmer zustimmen, die sich davon eine Verbesserung ihrer Lebenssituation durch verbesserte Beschäftigungschancen versprechen. (36) Einstellungshemmnisse ergeben sich auch aufgrund der institutionellen Regelungen des Arbeitsmarktes, da durch hohe Entlassungskosten Arbeitsplatzbesitzer zu Lasten der Arbeitsmarktchancen von Arbeitslosen begünstigt werden. So hat sich der Kündigungsschutz aufgrund der Auslegung der Gerichte zunehmend zur Einstellungsbarriere entwickelt. Zudem ist der Ausgang von Kündigungsschutzstreitigkeiten aufgrund der nicht mehr überschaubaren Rechtsprechung kaum noch sicher prognostizierbar. Insbesondere zur Sozialauswahl bei betriebsbedingten Kündigungen sowie zur sozialen Rechtfertigung von Kündigungen wegen Krankheit oder krankheitsbedingter Leistungsminderung ist die Rechtsprechung völlig unübersichtlich. Daneben belasten Sozialpläne die davon betroffenen Unternehmen zum Teil 1851
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erheblich. Auch können Unternehmen wegen der Dauer der Verhandlungen über die Sozialpläne ihre ursprünglich für notwendig gehaltenen Ziele oft nur verzögert oder nur eingeschränkt erreichen. Deshalb sind Korrekturen im Kündigungsschutzrecht durch Präzisierung der Kündigungsgründe und der Kriterien bei der Sozialauswahl sowie durch Einengung des Anwendungsbereiches angebracht. Bei den gesetzlichen Regelungen über Sozialpläne sollten die Kriterien, welche die Einigungsstelle bei ihrer Entscheidung zu berücksichtigen hat, enger gefaßt und die Schwellenwerte erhöht werden. (37) Generell gilt, daß die Einstellung eines Arbeitnehmers für Betriebe eine Investition ist, die um so eher Fixkostencharakter hat, je weniger das eingegangene Beschäftigungsverhältnis zu lösen ist. Bessere Möglichkeiten zum Abschluß befristeter Arbeitsverträge können deshalb die Einstellungsbereitschaft wesentlich vergrößern. Das in den Niederlanden eingeführte START-Modell geht in diese Richtung: Arbeitnehmerüberlassungsgesellschaften stellen schwer vermittelbare Arbeitslose ein und überlassen sie Betrieben, die der jeweiligen Uberlassungsgesellschaft die Kosten für Vermittlung und Betreuung der betreffenden Arbeitslosen vergüten und diesen selbst die betriebsüblichen Entgelte zahlen, ohne mit ihnen ein formales Beschäftigungsverhältnis einzugehen. Das entleihende Unternehmen vermeidet so das Fixkostenrisiko des Haltenmüssens von Arbeitskräften, wenn diese nicht mehr wirtschaftlich einzuzsetzen sind; es ist damit auch eher bereit zu prüfen, ob Langzeitarbeitslose den betrieblichen Anforderungen entsprechen. Die Bundesregierung will diesen Weg erproben und hat dafür bis Ende 1996 Mittel für eine Anschubfinanzierung bereitgestellt. Sie hat aber, anders als in den Niederlanden, die Uberlassungsgesellschaften zum Abschluß unbefristeter Arbeitsverhältnisse verpflichtet und damit das gesamte beschäftigungshemmende Fixkostenrisiko auf sie verlagert. Damit wird der mögliche positive Beschäftigungseffekt von vornherein gemindert. Das ist kontraproduktiv.
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(38) Wirksame Beschäftigungsförderung für Langzeitarbeitslose muß bestimmte Effektivitätsanforderungen erfüllen. Ein erstes Erfordernis ist die hinreichende Nähe zur Arbeitswelt. Ohne Kenntnis der tatsächlichen Lage in den Betrieben läßt sich die Subventionierung von Beschäftigungsverhältnissen nicht wirksam kontrollieren. Kenntnis der tatsächlichen betrieblichen Tätigkeitsanforderungen ist auch eine der Voraussetzungen dafür, daß berufliche Bildung, Fortbildung und Umschulung nicht am Markt vorbei erfolgen. Die relativ niedrigen Quoten der Wiedereingliederung von Teilnehmern an geförderten Bildungsmaßnahmen zeigen, daß Qualifizierungspolitik oft in erneute Arbeitslosigkeit oder erneute Teilnahme an Maßnahmen staatlicher Arbeitsmarktpolitik mündet. Insbesondere außerbetriebliche Bildungsmaßnahmen stehen unter dem Risiko der Fehlqualifizierung, vor allem wenn die Qualifizierer selbst nicht hinreichend für ihre Aufgabe qualifiziert sind. Innerbetriebliche Qualifizierung ist hier überlegen; ihre externe Finanzierung beinhaltet aber die Gefahr erheblicher Mitnahmeeffekte. Abhilfe zu schaffen, ist nicht allein Sache der Arbeitsverwaltung. Die Unternehmen können die Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen auch durch Anpassung der Arbeitsorganisation (Anforderungsprofile, standardisierte Tätigkeiten, Einbindung in Teams, on the job coaching) erleichtern. Dies gilt sowohl für die Produktionsbereiche als auch für die Dienstleistungsbereiche in den Unternehmen. Ein zweites Erfordernis ist die hinreichende Individualisierung der Förderpolitik. Qualifizierungsprogramme sind vor allem dann erfolgreich, wenn an ihnen Arbeitslose mit ähnlichen Vermittlungsproblemen teilnehmen und die Inhalte und Methoden der Ausbildung auf ihre spezifischen Bedürfnisse zugeschnitten sind. Arbeitsvermittlung und andere Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik sind um so treffsicherer, je präziser die individuellen Vermittlungshemmnisse und die konkreten Beschäftigungsmöglichkeiten bekannt sind. Detailliertes Wissen um die Fähigkeitsprofile der geförderten Arbeitnehmer ist auch nötig, um die Subventionierung von Lohnkosten auf bestimmte Zielgruppen und auf klar umrissene Tätigkeitsfelder begrenzen zu können. 1853
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Ein drittes Erfordernis ist eine Organisation der Arbeitsmarktpolitik, die genügend Möglichkeiten und Anreize bietet, damit das für eine wirksame Beschäftigungsförderung nötige Wissen entsteht und zielgerecht verwertet wird. In Deutschland sind die Funktionen der Unterstützungszahlung, der Arbeitsvermittlung und der Arbeitsförderung in einer Stelle vor Ort vereinigt. Damit entfallen viele Koordinationsprobleme, die die Trennung von Arbeitslosenversicherung und Arbeitsmarktpolitik in anderen Ländern mit sich bringt. Vermutlich ließe sich die Arbeitsmarktpolitik noch wirksamer gestalten, wenn die einzelnen Arbeitsämter auf die jeweils spezifischen Verhältnisse vor Ort und ihre Änderungen flexibler reagieren könnten. Beurteilungskriterium für die Wirksamkeit der Arbeitsmarktpolitik insgesamt und der einzelnen arbeitsmarktpolitischen Instrumente sollte dabei insbesondere sein, inwieweit die Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt gelingt. (39) Wegen der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit wird häufig verlangt, die arbeitsmarktpolitische Förderung von Beschäftigungsverhältnissen auszuweiten. So wird vorgeschlagen, die in Ostdeutschland u. a. praktizierte Politik der Arbeitsbeschaffung durch Lohnkostensubventionen gemäß § 249 h AFG auf Westdeutschland auszudehnen. Tatsächlich wurde Mitte 1994 mit der Ausweitung der Subventionspolitik im Rahmen des § 242 s AFG ein Schritt in diese Richtung getan. Forderungen dieser Art zielen letztlich darauf ab, durch staatliche Zuschüsse zu den Arbeitskosten für viele Arbeitslose und in vielen Bereichen dafür zu sorgen, daß verstärkt Nachfrage nach Arbeitskräften entfaltet wird und so ein spezifischer und ergiebiger Arbeitsmarkt für Arbeitslose entsteht (zweiter Arbeitsmarkt). Gestützt werden die Forderungen unter anderem auf das Argument, daß es besser sei, anstelle einer bloßen Finanzierung der Arbeitslosigkeit die Lohnersatzleistungen für die Finanzierung von Arbeit zu verwenden. Die damit verbundene Erwartung einer weitgehenden Selbstfinanzierung arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen ist jedoch trügerisch. So hätten die für ABM ausgegebenen Gelder auch für andere, volkswirtschaftlich sinn1854
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vollere Projekte verwendet werden können. Auf diese positiven Wirkungen einer anderweitigen Mittelverwendung muß man verzichten, wenn man das Geld für Zwecke der Arbeitsmarktpolitik verwendet. Die Subventionierung von Beschäftigungsverhältnissen dürfte schon rein fiskalisch negative Effekte und damit negative Auswirkungen auf die Beschäftigungsentscheidungen der Unternehmungen haben. Weit gewichtiger sind andere Risiken umfangreicher arbeitsmarktpolitischer Subventionen. Auf den Gütermärkten werden private nichtsubventionierte Aktivitäten verdrängt. Damit wird der erste Arbeitsmarkt gestört. Beim Arbeitseinsatz kommt es verstärkt zu Mitnahmeeffekten und zur Substitution von nicht subventionierter durch subventionierte Arbeit. Vor allem: Durch ein umfangreiches Herabsubventionieren von Lohnkosten wird der dringend nötige Kurswechsel in der Tarifpolitik vertagt. Aus all diesen Gründen muß die Beschäftigungsförderung mit öffentlichem Geld auf schwer vermittelbare Arbeitslose begrenzt bleiben. Nur dort ist sie geboten.
III. Die Weichen neu stellen (40) Langzeitarbeitslosigkeit ist kein unabwendbares Schicksal. Die Langzeitarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik läßt sich durchaus auf ein Maß zurückführen, das gesellschaftspolitisch noch tragbar erscheint. Gleichzeitig ist die Beschäftigung Langzeitarbeitsloser zu fördern (Ziff. 33—39) und sind Fehlanreize im Sozialsystem abzubauen (Ziff. 26—32). Doch auch wenn derart verfahren wird, ändert das wenig daran, daß eine anhaltend hohe und voraussichtlich noch zunehmende Arbeitslosigkeit dazu tendiert, Langzeitarbeitslosigkeit zu generieren, zumal in Phasen einer ausgeprägten Wachstumsschwäche. Das eigentliche Problem ist damit das Phänomen einer sich verfestigenden und im Trend steigenden allgemeinen Arbeitslosigkeit. Die Bundesrepublik sieht sich, wie andere europäische Länder, mit diesem Phänomen konfrontiert. Anhaltende Arbeitslosigkeit ist vor allem Begleiterscheinung eines sich mehrenden Wettbewerbsdruckes, der in einer rasch zusam1855
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menwachsenden Weltwirtschaft vornehmlich von innovations· und wachstumsstarken jüngeren Industriestaaten und Schwellenländern mit ausgeprägten Lohnkostenvorteilen ausgeht und die alten Industriestaaten immer wieder erneut zu enormen Anpassungen zwingt. Der Standort Deutschland konkurriert international mit seinen Rahmenbedingungen und Faktorkosten um investitionsbereites Kapital, das neue Arbeitsplätze schafft. Wer in diesem Wettbewerb den Kürzeren zieht, hat Arbeitslosigkeit, abnehmende Investitionsbereitschaft und sinkende Wachstumsraten zu gewärtigen. Dann überwiegen Rationalisierungsinvestitionen, neue Arbeitsplätze werden vornehmlich im Ausland geschaffen. Die Bundesrepublik ist heute das Land mit den höchsten Arbeitskosten, mit einer im Durchschnitt geringen Rentabilität der Arbeitsplätze, mit lähmenden Regulierungen, auch auf dem Arbeitsmarkt, mit einer weit höheren steuerlichen Abgabenlast als unsere wichtigsten Wettbewerber auf den Weltmärkten und einer sehr hohen und noch immer steigenden Soziallastquote. Die Folgen sind eine nachlassende Investitionsbereitschaft zu Hause und stark expandierende Investitionen im Ausland. Die Vereinigten Staaten, in vielem nicht ohne weiteres vergleichbar, belegen, daß es anders sein kann. Dort sind in den letzten Jahrzehnten viele Millionen neuer Arbeitsplätze entstanden, nicht zuletzt für weniger qualifizierte Arbeitskräfte. Die Mobilität der Arbeitskräfte ist hoch, die Dauer der Arbeitslosigkeit ist kurz, die Langzeitarbeitslosigkeit gering — und das alles bei einer höheren Beschäftigungsquote als in der Bundesrepublik. Die Kehrseite sind fast gleichbleibende Reallöhne und eine im Durchschnitt wenig gestiegene Arbeitsproduktivität. In den letzten Jahren haben die Vereinigten Staaten wieder an Wettbewerbskraft und an Attraktivität für anlagesuchendes Kapital gewonnen. (41) Der Beirat hat sich immer wieder für das Leitbild einer sozial verpflichteten Marktwirtschaft ausgesprochen, doch die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ist dafür die conditio sine qua non. Wachsender Wohlstand und Beschäf1856
Langzeitarbeitslosigkeit
tigung auf hohem Niveau sind Eckpfeiler der Sozialen Marktwirtschaft. Auch wenn der arbeitslohnbestimmte Wettbewerb durch den Systemwandel in Mittel- und Osteuropa noch an Intensität gewonnen hat, muß es wieder rentabel sein, Arbeitssuchenden einen Arbeitsplatz anzubieten. Der Beirat hat aufgezeigt, welche neuen Wege in der Gestaltung und Anwendung der Tarifverträge beschritten werden müssen, um eine wirksame Veränderung der desolaten Arbeitsmarktlage einzuleiten (Ziff. 18—25). Es ist nun an den Tarifparteien, die verschiedenen Optionen wirksam umzusetzen. Tun sie es nicht, werden sie also ihrer beschäftigungspolitischen Verantwortung nicht gerecht, dann wird bei weiter ansteigender Arbeitslosigkeit der soziale Konsens über den Rang der Tarifautonomie zerbrechen. Wollen die Tarifpartner die Tarifautonomie bewahren, müssen sie jetzt handeln. Auch auf zentralen Feldern der Finanz- und der Sozialpolitik sind die Weichen neu zu stellen: ohne Verzug, konsequent und in innerem Zusammenhang. Die politisch Verantwortlichen dürfen nicht mit dem Blick auf erwartete Widerstände zögern, die gebotenen Reformen in der notwendigen Breite und Tiefe voranzutreiben. In der Bevölkerung ist die Einsicht in das Notwendige gewachsen. Die Aussichten, für gut vorbereitete und in sich stimmige Reformen die öffentliche Unterstützung zu gewinnen, sind heute viel günstiger als noch vor wenigen Jahren. Tübingen, den 31. Januar 1996 Der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesmininsterium für Wirtschaft Professor Dr. Norbert Kloten
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Gutachten vom 12./13. Juli 1996 Thema: Anpassung des deutschen Kartellgesetzes an das europäische Recht? Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft hat sich in mehreren Sitzungen, zuletzt am 12./13. Juli 1996, mit dem Thema Anpassung des deutschen Kartellgesetzes an das europäische Recht? befaßt und ist dabei zu folgender Stellungnahme gelangt:
Anlaß des Gutachtens 1. Die Bundesregierung beabsichtigt, noch in dieser Legislaturperiode das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) umfassend zu novellieren. Am 2. Mai dieses Jahres hat das Bundeswirtschaftsministerium Eckpunkte für eine solche Novellierung vorgelegt. Leitgedanke ist eine weitgehende Angleichung des nationalen Rechts an das europäische Wettbewerbsrecht. Gleichzeitig soll das durch fünf Novellen unübersichtlich gewordene GWB gestrafft werden. Eine derartige Reform würde nach Auffassung der Bundesregierung das Wettbewerbsprinzip insgesamt stärken und hätte in mehrfacher Hinsicht positive Effekte: — Den Unternehmen würde der Umgang mit europäischem und deutschem Kartellrecht erleichtert. — Von den Entscheidungen deutscher Rechtsanwendungsorgane würden stärker als bisher Einflüsse auf die europäische Rechtspraxis ausgehen. — Die dezentrale Anwendung des EG-Rechts würde erleichtert und damit dem Subsidiaritätsprinzip neue Schubkraft verliehen. Der Beirat hält für nicht gesichert, daß mit der beabsichtigten Novellierung die Zielvorstellungen der Bundesregierung erreicht werden können. Im Gegenteil, es besteht die Gefahr eines Bruchs mit einer erfolgreichen ordnungspolitischen Tradition. 1859
Gutachten vom 12./13. Juli 1996
I. Straffung und Bereinigung des Gesetzes 2. Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen gilt als „das ordnungspolitische Grundgesetz der deutschen Wirtschaft". In ihm dokumentiert sich die Grundentscheidung aus den frühen Jahren der Bundesrepublik: eine entschlossene Wendung hin zu Markt, Wettbewerb und internationalem Freihandel. Der Beirat hat sich während der Entstehung des Gesetzes und im Zuge späterer Fortentwicklungen häufig dazu geäußert. 3. Für eine erneute Novellierung des G W B läßt sich durchaus eine Reihe von Gründen anführen. Das Gesetz sollte gestrafft und um obsolet gewordene Vorschriften bereinigt werden. Einzelne Tatbestände mögen moderner Anwendungspraxis angepaßt werden, namentlich das grundlegende Kartellverbot in § 1 GWB. Alte Defizite könnten beseitigt werden. Dies gilt besonders für den wettbewerblichen Ausnahmebereich der leitungsgebundenen Energieversorgung nach den §§ 103 ff. GWB. Er bildet das bedeutsamste Defizit des gegenwärtigen GWB, ist allerdings im Vorhaben für eine 6. Novelle nicht enthalten. Er soll im Zusammenhang einer Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes behandelt werden. Der Beirat unterstützt mit Nachdruck dieses Reformanliegen, das auf mehr Wettbewerb im Energiebereich zielt. Zwischen Straffung und Bereinigung des G W B einerseits und der Bewahrung von Rechtsbeständigkeit und Anwendungserfahrung andererseits ist freilich abzuwägen. Methoden und Ergebnisse der Konkretisierung von Recht, die zum Teil über Jahrzehnte hinweg erarbeitet wurden, sollten jedenfalls nicht ohne N o t aufs Spiel gesetzt werden.
II. Die dominanten Reformziele 4.
1860
Die Reformziele der Bundesregierung gehen über die Vorstellung einer Bereinigungsnovelle weit hinaus. Der Beirat rät auch insoweit zur Vorsicht. So teilt er die Einschätzung nicht, eine Anpassung des G W B im Wortlaut an das EG-Recht werde zu einer Stärkung deutscher Einflußnahme auf die europäische Rechtspraxis führen. Trotz identischen Wortlautes blieben dies zwei getrennte Rechtsmassen, eingebettet in ihre jeweiligen Traditionen, Verfahren und komplexen Auslegungszusammen-
Anpassung des deutschen Kartellgesetzes an das europäische Recht?
hänge. Auf EG-Ebene werden diese weitgehend von den Aufgaben und spezifischen Tätigkeiten der Gemeinschaft nach den Art. 2ff. EG-Vertrag bestimmt. Dagegen ist im deutschen Recht das Grundgesetz prägend. Nicht der Wortlaut als erster Anknüpfungspunkt juristischer Auslegung ist entscheidend — schon gar nicht bei der Fülle unbestimmter Rechtsbegriffe, wie sie für ein Wettbewerbsrecht kennzeichnend sind. Sondern entscheidend ist, wie eine Rechtsordnung insgesamt mit wettbewerblich erheblichen Sachverhalten umgeht, sie analysiert und wettbewerbspolitisch bewertet. So hat etwa das US-amerikanische Antitrust-Recht weltweit den größten Einfluß auf andere Rechtsordnungen ausgeübt. Mit dem „wording" der dortigen N o r m e n hat das wenig bis nichts zu tun. Von einer Wortlautanpassung ist eher eine gegenteilige Wirkung zu erwarten. Soweit das europäische Recht anwendbar ist, hat es ohnehin Vorrang gegenüber dem nationalen Recht. Eine eigenständige Anwendung wortgleicher deutscher Regelungen erweist sich dann nicht mehr als alternatives Modell. Sie gilt als „Abweichung" einer Anwendungspraxis auf nationaler Ebene und damit schlicht als falsch. 5. Es ist nicht zu erwarten, daß eine Anpassung an das europäische Kartellrecht dem Subsidiaritätsprinzip neue Schubkraft verleihen würde. Das bisher gegebene Anwendungsmonopol der Kommission bei der Einzelfreistellung vom grundsätzlichen Kartellverbot des Art. 85 Abs. 1 EG-Vertrag soll für Entscheidungen der nationalen Kartellbehörden geöffnet werden. Die Kommission besteht aber auf ihrer ausschließlichen Kompetenz. Der eine Grund dafür ist, daß eine Aufweichung des einheitlichen europäischen Wettbewerbsrechts innerhalb der nationalen Anwendungen vermieden werden soll. Dieses Motiv spielte in bezug auf Deutschland noch nie eine Rolle. Im Gegenteil, die Anwendungsschärfe des deutschen Kartellrechts ist unbestritten. Der zweite Grund ist, daß die Kommission glaubt, innerhalb des Freistellungstatbestandes des Art. 85 Abs. 3 komplexe Zielsetzungen des EG-Vertrages zu einem Ausgleich bringen zu müssen. Diese gehen über eine rein wettbewerbliche Orientierung hinaus. Regionalpolitik, Forschungspolitik, Industrie1861
Gutachten v o m 12./13. Juli 1996
politik seien als Beispiele genannt. „Diese Aufgabe kann nur von der Kommission übernommen werden" (XXIII. Bericht über die Wettbewerbspolitik, 1994, Tz 190). Der Beirat sieht darin schon auf europäischer Ebene eine Fehlentwicklung. Das Bundeskartellamt sollte jedenfalls auch nach einer Novellierung des GWB wie bisher als Rechtsanwendungsorgan fungieren. Es ist nicht berufen, divergierende Zielsetzungen der Politik zum Ausgleich zu bringen, weder nationale noch europäische. Sollte mit einer Benennung des Subsidiaritätsprinzips in diesem Zusammenhang auf eine dezentrale Anwendung der Art. 85 Abs. 1 und 86 EG-Vertrag durch die Behörden der Mitgliedstaaten hingewiesen sein, so geht dies, was Deutschland betrifft, ins Leere, weil das Bundeskartellamt nach § 47 GWB bereits ermächtigt ist, diese Befugnisse auszuüben. Praktische Bedeutung hat das im übrigen nur bei den vertikalen Bindungen, wo das europäische Recht einschneidender ist als das deutsche, sowie bei der leitungsgebundenen Energieversorgung, wo das europäische Kartellverbot grundsätzlich gilt, nicht dagegen § 1 GWB. Bei den vertikalen Bindungen ist eine Anpassung an das europäische Recht nicht beabsichtigt. Der Energiebereich ist aus dem Vorhaben einer 6. Novelle herausgenommen. 6. Im Vordergrund der Novellierung steht die Idee einer Harmonisierung mit der Begründung, in einem Binnenmarkt machten unterschiedliche wettbewerbsrechtliche Wertungen des nationalen und des europäischen Gesetzgebers keinen Sinn. Tatsächlich ist diese Harmonisierungsthese jedoch zu relativieren: — Eine Harmonisierung auf niedrigerem Schutzniveau scheidet von vornherein aus, wenn die Zielsetzung ist, das Wettbewerbssystem zu stärken, — Eine auf nationaler Ebene einheitliche Anwendung und Fortentwicklung harmonisierter Rechtsnormen ist in einem so politiknahem und politikanfälligem Felde wie dem des Rechts der Wettbewerbsbeschränkungen kaum zu erwarten. — Soweit das europäische Wettbewerbsrecht reicht, ist eine Vereinheitlichung bereits gewährleistet. Dies gilt für alle größeren Fusionsfälle und alle Wettbewerbsbeschränkun1862
Anpassung des deutschen Kartellgesetzes an das europäische R e c h t ?
gen, die geeignet sind, den zwischenstaatlichen Handel zu beeinträchtigen. — Ein wichtiger Vorteil aus der Uberwindung des Nebeneinanders unterschiedlicher Rechtsordnungen ist in der Senkung der Transaktionskosten von Unternehmen zu sehen, hier also in der Einsparung von Kosten bei der Klärung wettbewerbsrechtlicher Streitfragen. Ins Gewicht fallende Vorteile dieser Art gibt es aber nicht schon, wenn im Zweierverhältnis eines Mitgliedstaates und der Europäischen Gemeinschaft eine Angleichung der Rechtsregeln herbeigeführt wird, ja nicht einmal, wenn alle Mitgliedstaaten sich an das europäische Wettbewerbsrecht angleichen. Denn weniger auf das M a ß der Unterschiedlichkeit des materiellen Rechts kommt es an als vielmehr auf die Selbständigkeit der Rechtsordnungen. Allein aus ihr ergibt sich, daß wettbewerbsrechtliche Sachverhalte zum Gegenstand einer Vielzahl von parallelen Verfahren werden können — mit entsprechenden Kosten. — Verfehlt ist eine gelegentlich vorgebrachte These, ein strenges nationales Wettbewerbsrecht sei für Deutschland ein Standortnachteil. Das deutsche G W B erfaßt inländische und ausländische Anbieter ebenso gleichmäßig, wie dies für das europäische Wettbewerbsrecht in dessen Anwendungsbereich zutrifft. Aus eben diesem Grunde gibt es keinen Anhalt für die Vermutung, Unternehmen im europäischen Ausland könnten aufgrund einer lascheren Wettbewerbsordnung im Heimatlande zu Lasten deutscher Unternehmen Verdrängungswettbewerb üben. — Eine Anpassung des deutschen an das europäische Wettbewerbsrecht sollte nicht in einer Zeit stattfinden, in der sich das europäische Recht selbst in einem tiefgreifenden Reformprozeß befindet. In wichtigen Bereichen, namentlich in der Fusionskontrolle, die es erst seit 1990 gibt, ist das europäische Recht kaum gefestigt. Zu letzterer fehlt bis heute jede Rechtsprechung, die über vereinzelte Verfahrensfragen hinausginge. Es ist nicht ratsam, zum Beispiel innerhalb der deutschen Fusionskontrolle in den materiellen Untersagungstatbestand das Kriterium einer Berücksichtigung „des 1863
Gutachten vom 12./13. Juli 1996
technischen und wirtschaftlichen Fortschritts" zu übernehmen. In der europäischen Fusionskontrollverordnung ist dies die sog. französische Klausel, deren Inhalt niemand kennt. Es handelt sich um einen dilatorischen Formelkompromiß aus dem Jahre 1989 zwischen der stärker wettbewerbsorientierten deutschen und einer eher industriepolitisch orientierten französischen Verhandlungsposition. Klärende Anwendungspraxis der Kommission zu diesem Tatbestandselement fehlt. Das deutsche Recht soll somit an ein „doppeltes Nichts" angepaßt werden. Die Begründung lautet: So steht es auch in der europäischen Fusionskontrollverordnung. Sie wird mit dem Vorbehalt verbunden, ein industriepolitisches Einfallstor solle nicht geschaffen werden. Eine solche Position erschöpft sich in der Übernahme eines wettbewerbspolitischen Risikos, von dem man sich gleichzeitig distanzieren will. 7. Eine weitere Eigenart des europäischen Wettbewerbsrechts sei gesondert hervorgehoben: Es ist aus materiellen wie aus verfahrensmäßigen Gründen entwicklungsoffen für die Berücksichtigung außerwettbewerblicher Ziele. Zu den materiellen Gründen gehört die bereits erwähnte Einbettung der europäischen Wettbewerbspolitik in eine Vielzahl weiterer Zielsetzungen. Die Verträge von Maastricht haben diese Entwicklung weiter befördert. Der Beirat hat sich dazu in seiner Stellungnahme vom 24. Januar 1992 zur Vorschrift des Art. 130 EG-Vertrag über eine Industriepolitik kritisch geäußert. Zu den verfahrensmäßigen Gründen gehört die Einsicht, daß die Kommission sich weniger als ein administrativ-rechtsanwendendes denn als ein politisch-gestaltendes Organ versteht. Hinzu tritt die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, der in der Tradition der französischen Verwaltungsgerichtsbarkeit der Kommission bei ihren Entscheidungen in aller Regel einen weiten Beurteilungsspielraum läßt. Es besteht kein Anlaß, sich an solch ungewisse Entwicklung „anzudocken". Dabei sind Unterschiede im wettbewerbspolitischen Grundverständnis noch nicht berücksichtigt. Das deutsche Recht schützt Wettbewerb als Ausprägung individueller Handlungsfreiheit, als Wert für sich. Auf starkes Drängen Deutschlands und anderer Mitgliedstaaten ist das Wettbewerbsprinzip in die1864
Anpassung des deutschen Kartellgesetzes an das europäische Recht?
sem Sinne — das zu den Grundprinzipien der Römischen Verträge gehört — auch im Rahmen der Maastrichter Anderungsverträge an zentralen Stellen verdeutlicht worden. Aber im Einzelfall steht in Brüssel — freilich nicht nur dort — dagegen immer wieder die konkurrierende Grundvorstellung, daß das Wettbewerbsprinzip von vornherein bloß als Instrument anzusehen sei, als ein Instrument unter anderen, die vielfältigen Ziele der Gemeinschaft, die in Art. 2 EG-Vertrag aufgeführt sind, in angemessener Gewichtung zu verfolgen. Dadurch wird das Wettbewerbsprinzip schon für die Kartellrechtsinstanzen relativierbar. 8. Nicht zu verkennen ist: Neben dem deutschen Wettbewerbsrecht hat auch das europäische Recht insgesamt eine Erfolgsbilanz aufzuweisen. Dies wird deutlich, wenn man den heute erreichten Zustand mit der Entstehungszeit der Rechtsgrundlagen, also den 50er Jahren, vergleicht. Eine Rückkehr zu Zeiten offener Preis-, Gebiets- und Quotenkartelle steht nicht zu befürchten. Mindestens gibt es keine Anzeichen für eine solche Entwicklung. D o c h bleiben zwei Warntafeln zu beachten: — Das Problem war früher schon und ist es heute noch mehr, welche Rolle der Staat spielt. Wettbewerbsbeschränkungen zu instrumentalisieren für Zwecke der Forschungs-, der Außenhandels-, der Industrie-, der Arbeitsmarkt- und der Regionalpolitik, ist unverändert eine Gefahr. — Das Risiko von Fehlentwicklungen im Sinne von Protektion und Intervention zu Lasten des Wettbewerbsprinzips könnte in Zukunft wieder größer werden. Angesichts einer zunehmenden Globalisierung zahlreicher Märkte und einer damit einhergehenden Neuorientierung in der internationalen Arbeitsteilung mögen in einzelnen Branchen die Anpassungszwänge übermäßig beschwerlich werden. Allzuleicht könnte sich die traditionelle Markt- und Wettbewerbsorientierung dann auch in diesem Lande als wenig verankert erweisen. Der Beschluß eines Entsendegesetzes in Deutschland für die Märkte für Bauleistungen und der Erlaß einer entsprechenden Entsenderichtlinie auf EU-Ebene mahnen zur Vorsicht. 1865
Gutachten vom 12./13. Juli 1996
III. Zu einigen Einzelheiten Generalklausel als Kartellerlaubnistatbestand 9. Die differenzierten Durchbrechungen des Kartellverbots in den §§ 2 bis 8 GWB sollen in der vorgesehenen Novelle um obsolet gewordene Tatbestände bereinigt werden. Den verbleibenden Vorschriften, im wesentlichen den §§ 5 bis 5 c GWB, soll eine Generalklausel als Kartellerlaubnistatbestand in Anlehnung an Art. 85 Abs. 3 EG-Vertrag vorangestellt werden. Die gestrichenen Kartellverbotsdurchbrechungen, ebenso die Ausnahmebereiche, kommen in der Technik einer Generalklausel sozusagen durch die Hintertür wieder herein. Die in Anspruch genommene Bereinigung (bei den §§ 2 ff. GWB) und die behauptete Verschärfung des Gesetzes (bei den Ausnahmebereichen) sind dann nur scheinbare. Strukturkrisenkartelle z.B., die gegenwärtig nach der speziellen Vorschrift des § 4 GWB erlaubt werden können, fallen in Zukunft unter die Generalklausel, genau so, wie die Brüsseler Kommission im Einzelfall Art. 85 Abs. 3 EG-Vertrag auf Strukturkrisenkartelle angewandt hat. Einen Bedarf für eine Generalklausel im deutschen Recht der Wettbewerbsbeschränkungen hat im übrigen bis heute niemand überzeugend dartun können. Der historische Gesetzgeber hatte für die Kartellbehörde ganz bewußt den Weg der spezifischen Einzeltatbestände und nicht den einer Generalklausel beschritten, um kein potentielles Einfallstor für mehr oder minder beliebige Wettbewerbsbeschränkungen zu öffnen. 10. Ungeklärt ist die Frage, ob im Rahmen einer deutschen Generalklausel eine bloße Anmeldung der Wettbewerbsbeschränkung und ein Nichtwiderspruch der Kartellbehörde für eine Zulässigkeit ausreichen sollen. Das Eckpunktepapier äußert sich dazu nicht. In früheren Entwürfen war dies so vorgesehen. Würden solche Vorstellungen im Gesetzgebungsverfahren aufgegriffen, was nicht auszuschließen ist, so liefe dies in der Sache auf einen späten, überdies kampflosen Sieg derer hinaus, die in den 50er Jahren für die Verwirklichung eines Mißbrauchsprinzips anstelle des Verbotsprinzips eingetreten waren. 1866
Anpassung des deutschen Kartellgesetzes an das europäische Recht?
11. Gleichzeitig würde man sich mit einer Generalklausel von einer weiteren säkularen Errungenschaft des überkommenen GWB — eines möglichst strikten rule of law-Prinzips in der Bewertung wettbewerblich erheblicher Sachverhalte — entfernen. Die Maßstäbe des Art. 85 Abs. 3 EG-Vertrag, die übernommen werden sollen, lassen weiten Interpretationsspielraum. Sollte die Anwendungspraxis der Kommission dabei als Vorbild gelten, öffnet sich der Tatbestand einer Berücksichtigung außerwettbewerblicher Gesichtspunkte. So wurde beispielsweise eine wettbewerbsbeschränkende Kooperation von VW und Ford im Hinblick auf die Fertigung einer Großraumlimousine in Portugal nach Art. 85 Abs. 3 EG-Vertrag freigestellt, weil die Gemeinschaft dieses Vorhaben gleichzeitig unter dem Aspekt der Regionalpolitik mit EG-Mitteln fördern wollte. Eine solche Konzeption wäre auf längere Sicht verhängnisvoll. Das Bundeskartellamt ist eine Behörde, die nach bisheriger Praxis und im Einklang mit der überwiegenden Rechtslehre in ihren Einzelfallentscheidungen unabhängig ist. Das bedeutet konkret, das Bundeskartellamt ist nicht den Weisungen des Bundeswirtschaftsministeriums als oberster Bundesbehörde unterworfen. Solche Unabhängigkeit ist in einem parlamentarischen System atypisch. Institutionen solcher Art lassen sich legitimieren, solange sie auf die Wahrnehmung einer Zielsetzung, im Falle des Bundeskartellamtes des Wettbewerbsschutzes, beschränkt sind. Wird ihnen die Berücksichtigung anderer Zielsetzungen mitübertragen, muß es zu einem Abwägungskonflikt kommen. Dieser ist nur noch politisch-diskretionär entscheidbar. Notwendigerweise gerät die Legitimität solcher Unabhängigkeit dann ins Zwielicht. Überdies nehmen in solchen Fällen die Transparenz des Verfahrens und die Zurechenbarkeit der Verantwortung ab. Der GWB-Gesetzgeber von 1957 hat diese Gefahr deutlich gesehen und versucht, ihr mit dem Erfordernis einer Ministererlaubnis zu begegnen: Wer Zielkonflikte aus überwiegenden Gemeinwohlgründen zu Lasten des Wettbewerbsprinzips entscheiden will, muß dafür vor der Öffentlichkeit und gegenüber dem politischen Gegner die Verantwortung übernehmen. Aus eben diesem Grunde ist § 8 GWB (Ministererlaubnis bei Kartellen) bis heute nur in Randfällen angewandt worden. 1867
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12. Eine wiederum veränderte Qualität wächst der Gesetzesänderung zu, wenn man der Rechtsauffassung folgt, das Ministerium könne bereits nach geltendem Recht den Beschlußabteilungen des Bundeskartellamtes bei deren Einzelfallentscheidungen Weisungen erteilen. Begründet wird dies mit Ausführungen im wirtschaftspolitischen Ausschuß während der Entstehung des GWB und mit einem verfassungsrechtlich vorgegebenen Parlamentsvorbehalt. Der Beirat hält solche Auslegung des GWB schon aus rechtssystematischen Gründen für unrichtig. Zwischen Kartellbehörde und Minister besteht eine strikte Arbeitsteilung. Die Institution der spezifischen Ministererlaubnis — für Kartelle nach § 8 GWB und für Unternehmenszusammenschlüsse nach § 24 Abs. 3 GWB — macht dies deutlich. Die von der Rechtsprechung bestätigte Bindung des Ministers an die tatsächlichen Feststellungen und an die wettbewerbsrechtliche Wertung des Bundeskartellamtes bei einer solchen Entscheidung verlöre sonst ihren Sinn. Verbindet man die hier zurückgewiesene Rechtsauffassung mit den vorher genannten Kritikpunkten, so ergäbe sich folgende Trias: — Generalklauselartiger Kartellerlaubnistatbestand, der vieles möglich macht, — Befugnis des Ministeriums zu verwaltungsinterner, nicht zu veröffentlichender Einzelfallweisung an die Kartellbehörde, — Anmeldeverfahren bei der Inanspruchnahme der Generalklausel; d. h. es kommt zu keiner veröffentlichten Entscheidung des Bundeskartellamtes, falls dieses keinen Widerspruch gegen die angemeldete Wettbewerbsbeschränkung erhebt. Ein Rechtsschutz für Dritte scheidet aus. Dies wäre eine Abkehr von einer wettbewerbspolitischen Tradition, über die in diesem Lande bis heute Konsens besteht. Mißbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen 13. Exemplarisch ist weiter die beabsichtigte Anpassung des § 22 GWB — die Mißbrauchsaufsicht der Kartellbehörde über marktbeherrschende Unternehmen — an den Tatbestand des Art. 86 EG-Vertrag. Im Jahre 1957 war § 22 GWB generalklau1868
Anpassung des deutschen Kartellgesetzes an das europäische Recht?
seiartig und ähnlich knapp gefaßt wie sein Pendant des Art. 86 EG-Vertrag im zeitgleich entstandenen europäischen Recht. Der deutsche Gesetzgeber hat später die Generalklausel in Einzeltatbestände differenziert und zugleich konkretisiert. Dieser Prozeß würde bei einer Übernahme des Art. 86 EG-Vertrag wieder rückgängig gemacht. Er müßte von vorne beginnen. Zum Beispiel könnten wettbewerbspolitisch inferiore Konzepte der Gewinnbegrenzung, wie sie im europäischen Recht beim sog. Ausbeutungsmißbrauch ihre Rolle spielen, ins deutsche Recht eindringen. Bislang hat dieses mit weniger bedenklichen Vergleichsmarktkonzepten gearbeitet. Gegenüber diesen Risiken sind positive wettbewerbspolitische Wirkungen einer solchen Gesetzesänderung nicht auszumachen. Die Anwendungsschärfe des Art. 86 EG-Vertrag gegenüber hoheitlichem Handeln auf mitgliedstaatlicher Ebene — als Rechtsverordnungen erlassene sog. Benutzungsordnungen der früheren Deutschen Bundespost waren des öfteren auf den Prüfstand des Art. 86 EG-Vertrag geraten — läßt sich über einen so angepaßten § 22 G W B nicht verwirklichen. Denn die Reichweite des Art. 86 EG-Vertrag ergibt sich aus der Vorrangwirkung des europäischen Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Recht. Ein „deutscher" Artikel 86 bliebe einfaches nationales Recht ohne den Anspruch des Vorrangs gegenüber anderen einfachen Gesetzen und darauf gestütztem hoheitlichen Handeln. Auch die Umformung des § 22 G W B von einer Ermächtigungsnorm in einen unmittelbar wirkenden Verbotstatbestand bringt nichts Entscheidendes. § 22 G W B ist weitgehend deckungsgleich mit § 26 Abs. 2 GWB, der schon nach jetzigem Recht als Verbotsnorm ausgestaltet ist. Zusammenschlußkontrolle 14. Innerhalb der Zusammenschlußkontrolle sollte der in mehrere Einzeltatbestände aufgefächerte Zusammenschlußbegriff des deutschen Rechts ursprünglich in Anlehnung an die europäische Fusionskontrollverordnung in den unbestimmten Rechtsbegriff des „Kontrollerwerbs" überführt werden. Mittlerweile wird eine Kombinationslösung vorgeschlagen. Es sollen die Generalklausel des europäischen Rechts übernommen und gleich1869
Gutachten vom 12./13. Juli 1996
zeitig ein Teil der speziellen deutschen Tatbestände beibehalten werden. Die Feststellung eines Kontrollerwerbs nach europäischem Recht impliziert einen engeren Unternehmensverbund als dies für einen Zusammenschluß im Sinne des deutschen Rechts zutrifft. Daher kann eine Übernahme des Merkmals „Kontrollerwerb" in das GWB nur dazu führen, daß der beibehaltene Begriff des Zusammenschlusses restriktiver ausgelegt werden wird als bisher. Dies gilt nicht für die starren Marktanteilsschwellen von 25 und 50 Prozent, aber für die offenen Zusammenschlußtatbestände wie ζ. B. § 23 Abs. 2 Nr. 6 GWB (Erlangen eines wettbewerblich erheblichen Einflusses auf ein anderes Unternehmen). In solchem Falle würde das Schutzniveau des deutschen Rechts abgesenkt werden. In diese Richtung drängen einflußreiche Interessenverbände. Weiter ist vorgesehen, kooperative Gemeinschaftsunternehmen (solche, die ggf. unter das Kartellverbot fallen) von konzentrativen Gemeinschaftsunternehmen (solchen, die Gegenstand der Fusionskontrolle sein können) abzugrenzen in Übernahme einer Formulierung aus Art. 3 Abs. 2 Europäische Fusionskontrollverordnung. Dieses europäische Muster könnte aber wieder abhanden kommen, weil man in Brüssel neuerdings erwägt, umgekehrt in Anlehnung an die deutsche Praxis einer möglichen Doppelkontrolle (sowohl nach § 1 GWB als auch nach § 24 GWB) Gemeinschaftsunternehmen in einem einheitlichen Verfahren abschließend unter kartell- oder fusionsrechtlichen Gesichtspunkten zu bescheiden. Dies belegt einmal mehr, wie unglücklich der Zeitpunkt für eine Anpassung an ein Recht gewählt ist, das selbst mitten in einem Änderungsprozeß steckt. IV. Abschließende
Bemerkungen
15. Zum Schluß sei betont: Eine Reform des deutschen Wettbewerbsrechts eilt nicht. Bevor eine so grundlegende Umgestaltung des Kartellgesetzes beschlossen wird, sollten die ordnungspolitischen Konsequenzen eingehender bedacht werden. Vor allem ist zu beachten, daß mit der vorgesehenen Übernahme einer Generalklausel als Kartellerlaubnistatbestand der Weg geöffnet würde, bei der Beurteilung von Wettbewerbsbeschrän1870
Anpassung des deutschen Kartellgesetzes an das europäische Recht?
kungen generell auch andersgeartete politische Erwägungen berücksichtigen zu können. Das wäre eine grundlegende ordnungspolitische Richtungsänderung. Der Beirat rät dringend, auf die Übernahme einer Generalklausel zu verzichten. Eine Novellierung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen sollte auf eine umfassendere Uberprüfung des IstZustandes im Hinblick auf mögliche Defizite des derzeitigen Rechts und Lösungsalternativen gestützt werden. Bei dieser Prüfung kommt auch dem Gesichtspunkt der Rechtsvereinheitlichung Bedeutung zu. Die derzeitige Debatte über die Reform des europäischen Wettbewerbsrechts ist in den Blick zu nehmen. Weil für die Novellierung kein akuter Handlungsdruck gegeben ist, können die Ergebnisse dieser Debatte abgewartet werden. Die Risiken aus einer verfrühten, nicht überzeugenden Novellierung des GWB mögen zwar gegenwärtig beherrschbar erscheinen. Ein Gesetz vom Rang des GWB ist indes nicht auf Sicht gemacht. Seine wirkliche Bewährung kommt in Zeiten des Konflikts, wenn die mit einer Wettbewerbsordnung verbundenen Anpassungszwänge sich für einzelne Gruppen der Bevölkerung als allzu drückend darstellen oder ein Anreiz für die Exekutive übermächtig wird, Beschränkungen des Wettbewerbs zuzulassen, um andere politische Ziele zu erreichen. Ein Kartellgesetz auf klarer ordnungspolitischer Grundlage bietet dann verläßlichen Rückhalt. Bonn, den 30. August 1996 Der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft Professor Dr. Manfred J. M. Neumann
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Gutachten vom 8./9. November 1996 Thema: Anstehende große Steuerreform Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft hat sich mit dem Thema Anstehende große
Steuerreform
befaßt und ist zu folgender Stellungnahme gelangt: Anlaßdes
Gutachtens
(1) Jeder weiß, an einer grundlegenden, großen Reform unseres Steuersystems führt kein Weg mehr vorbei. Deutschland steht in einem internationalen Standortwettbewerb, der sich mit der zunehmenden Integration im europäischen Binnenmarkt und einer steigenden Wettbewerbsfähigkeit der osteuropäischen Länder in den kommenden Jahren weiter verschärfen wird. Dem gilt es vorausschauend Rechnung zu tragen, auch und gerade in der Besteuerung. Schon heute fehlen in Deutschland, wie auch die Bundesregierung im Jahreswirtschaftsbericht festgestellt hat, über fünf Millionen Arbeitsplätze. Zugleich versprechen die mittelfristigen Wachstumsaussichten unter Status-quo-Rahmenbedingungen keine durchgreifende Besserung für den Arbeitsmarkt. Das Hauptziel der anstehenden großen Steuerreform muß daher sein, einen wesentlichen Beitrag zur Förderung von Beschäftigung und Wachstum zu leisten. Dafür kommt es darauf an, eine deutliche Absenkung der Gesamtabgabenlast einzuleiten, die steuerlichen Bedingungen für die Schaffung neuer Arbeitsplätze, also für das Investieren in Deutschland, durchgreifend zu verbessern und das Steuersystem insgesamt wesentlich leistungsfreundlicher und transparenter zu gestalten. (2) Die Abgabenlast in Deutschland ist zu hoch. Deshalb ist die Absicht der Bundesregierung zu begrüßen, die gesamte Staatsquote mittelfristig um rd. 5 Prozentpunkte auf das Ende der achtziger Jahre erreichte Niveau von 46 Prozent zurückzuführen. Mit dem Rückgang der Staatsquote käme es zu einer Nettoentlastung der Steuerzahler. Die Abgabenlast würde abnehmen, wenngleich in geringerem Ausmaß, weil auch die Quote der Neuverschuldung zurückgeführt werden soll. Für die Dynamik des Wachstums der deutschen Wirtschaft kommt es nicht nur auf die Gesamtlast der Abgaben an, sondern ganz wesentlich auch auf die 1873
Gutachten vom 8./9. November 1996
Grenzbelastung der Einkommenserzielung. Mit Einkommensteuersätzen von 25,9 bis 53 Prozent (den Solidaritätszuschlag nicht gerechnet), einer Körperschaftsteuer auf einbehaltene Gewinne von 45 Prozent und einer zusätzlichen Gewerbeertragsbelastung von (durchschnittlich) 16 Prozent ist auch die Grenzbelastung der Einkommensschaffung in Deutschland viel zu hoch. Sie liegt erheblich über den entsprechenden Steuersätzen wichtiger Konkurrenten und veranlaßt ausländische, aber zunehmend auch deutsche Investoren, den Standort Deutschland zu meiden. (3) Der Beirat konzentriert sich in der folgenden Stellungnahme auf das Herzstück der großen Steuerreform, die Reform der Einkommen- und Körperschaftsteuer. Für die Zukunft des Standorts Deutschland ist auch eine Aufhebung von Bestandssteuern, wie der Vermögensteuer und der Gewerbekapitalsteuer, von Bedeutung und daher geraten. Darauf wird in diesem Gutachten aber nicht eingegangen. (4) Alle Vorschläge zur Reform der Einkommen- und Körperschaftsteuer sehen eine Senkung der Steuersätze und eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage durch Streichen vielfältiger Abzugsmöglichkeiten vor. Aber kaum hat die steuerpolitische Debatte richtig begonnen, droht der tragende Leitgedanke der Reform schon wieder im Widerstreit der Einzelinteressen um Besitzstände erstickt zu werden. Es gilt, in einem großen Schritt die internationale Wettbewerbsfähigkeit von Investitionen in Deutschland nachhaltig zu verbessern, damit hier und nicht anderswo neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Im Ausland ist eher erkannt und bedacht worden, daß die steuerliche Belastung des Investierens — des Schaffens von Arbeitsplätzen — verringert werden muß. Nicht zuletzt der Widerstand gegen die Gemeindesteuerreform zur Senkung der Gewerbesteuerlast hat dazu geführt, daß Deutschland im Wettbewerb der Investitionsstandorte zurückgefallen ist. Eine wirksame Verbesserung der steuerlichen Rahmenbedingungen für das Investieren wird am besten durch eine drastische Senkung der Sätze der Einkommen- und Körperschaftsteuer erreicht und nicht durch ein Gewähren spezieller Steuerbegünstigungen. Wird die Reformbereitschaft der Öffentlichkeit jetzt nicht beherzt und konsequent für eine durchgreifende Senkung der Steuersätze und zu einer breit angelegten Streichung des kaum noch zu überschauenden Katalogs lenkungsmotivierter Steuerbegünstigungen genutzt, so dürfte auf lange Zeit die Chance vertan sein, die Besteuerung des Einkommens in 1874
Anstehende große Steuerreform
einem großen Schritt grundlegend zu vereinfachen, sie leistungsfreundlicher, transparenter und dabei auch gerechter zu gestalten. (5) Leistungsfreundlicher zu besteuern erfordert, die Grenzsteuerlast auf Einkommen aus Arbeitsleistung und Erwerbstätigkeit drastisch zu senken. Es gilt, die Anreize zu verbessern für das Ausweiten vorhandener Erwerbsmöglichkeiten, für das innovative Suchen nach neuen Erwerbschancen und für die im Hinblick auf internationale Wettbewerbsfähigkeit erforderliche lohnpolitische Zurückhaltung. Nicht zuletzt geht es auch darum, Anreize zu setzen für eine Rückkehr aus der Schattenwirtschaft in die Legalität und den Anreiz zu steuerhinterziehender wie steuervermeidender Kapitalflucht zu beseitigen. Transparenter zu besteuern erfordert, den Steuertarif durchgreifend zu vereinfachen. Beschränkung auf wenige Steuersätze und rigoroses Streichen vielfältiger Steuerbegünstigungen und Steuerschlupflöcher dient der horizontalen Steuergerechtigkeit — „Gleiches Einkommen wird gleich besteuert" — und dient zugleich der Sicherstellung vertikaler Steuergerechtigkeit — „Höheres Einkommen wird höher besteuert". Beides fördert die Akzeptanz der Besteuerung bei den Bürgern, somit die Steuermoral. Eine durchgehende Senkung der Einkommensteuersätze wird zwangsläufig verteilungspolitische Wirkungen haben. Daß die Entlastung bei hohen Einkommen höher ausfällt als bei niedrigen, liegt freilich überwiegend daran, daß die hohen Einkommen bislang deutlich stärker besteuert werden. Entsprechend stark sind bisher die Anreize zur Steuervermeidung. Die vorgesehene Erweiterung der Steuerbemessungsgrundlage beseitigt Steuerbegünstigungen und Steuerschlupflöcher. Sie verringert insbesondere die für Bezieher hoher Einkommen gegebenen Gestaltungsmöglichkeiten ihrer Besteuerung. I.
Der Reformvorschlag im Überblick
(6) Der Beirat legt im folgenden einen Reformvorschlag vor, dessen Grundlinien an dem von dem Abgeordneten Uldall vorgelegten Konzept orientiert sind. Der Vorschlag sieht vor, die Sätze der Einkommenund Körperschaftsteuer stärker zu senken, als nach den derzeitigen Vorstellungen der Parteien und der Bundesregierung beabsichtigt ist, einen Drei-Stufentarif der Einkommenbesteuerung mit niedrigen Sätzen einzuführen und die Körperschaftsteuer mit dem Spitzensatz der Einkom1875
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mensteuer zu harmonisieren. Da die Einkommensteuer mit der Besteuerung der Ersparnis und ihrer Zinserträge das Sparen diskriminiert, wird zudem vorgeschlagen, diese Diskriminierung zu entschärfen, und zwar durch Herausnahme der Zinseinkünfte aus der Einkommensteuer und die Einführung einer Abgeltungssteuer mit niedrigem Satz. (7) Im einzelnen wird vorgeschlagen: — die Einführung eines Stufentarifs mit einem Eingangssteuersatz von 10 Prozent und einem Spitzensteuersatz von 30 Prozent; — ein einheitlicher Körperschaftsteuersatz von 30 Prozent auf einbehaltene und ausgeschüttete Gewinne; — eine Abgeltungssteuer in Höhe von 15 Prozent auf Zinseinnahmen aus Einlagen, Anleihen und Lebensversicherungsverträgen. Die Reform sollte nicht überhastet eingeführt werden. Der Zeitbedarf für eine sorgfältige Vorbereitung und Umsetzung der Reform beträgt kaum weniger als zwei Jahre. Ein realistischer Termin wäre der 1. Januar 1999. Soll bereits 1998 eine Netto-Entlastung der Steuerzahler erreicht werden, so bietet der Abbau des Solidaritätszuschlags Spielraum. (8) Der vorgeschlagene Reformtarif würde (auf der Grundlage der Zahlen von 1996) zu Steuerausfällen in Höhe von 102 Mrd. DM führen. Zur Gegenfinanzierung bedarf es daher eines umfassenderen Abbaus von Steuerbegünstigungen, als derzeit diskutiert wird. Es bedarf jedoch keiner Erhöhung einer anderen Steuer. Der Beirat schlägt eine Reihe von Maßnahmen vor, die zusammengenommen ein Finanzierungsvolumen von 77,5 Mrd. DM ergeben. Der verbleibende Steuerausfall in Höhe von 24,5 Mrd. DM sollte nicht durch anderweitige Steuererhöhungen gegenfinanziert werden, sondern als Netto-Entlastung erhalten bleiben. Das wäre zu erreichen durch eine Senkung der Staatsquote um weniger als einen Prozentpunkt. Dabei wäre vor allem auch an einen Abbau der sehr umfangreichen Subventionen zu denken. II.
Darstellung und Begründung im einzelnen
1. Einkommensteuertarif und harmonisierte Körperschaftsteuer (9) Der Beirat schlägt vor, einen Stufentarif einzuführen und legt dabei die folgenden Steuersätze zugrunde: — 10 Prozent auf das zu versteuernde Einkommen von 12001 bis 20000 DM, 1876
Anstehende große Steuerreform
— 20 Prozent auf das zu versteuernde Einkommen von 20001 bis 30000 DM, — 30 Prozent auf das zu versteuernde Einkommen über 30000 D M . Beim Einkommensbegriff des deutschen Steuerrechts sollte man im Prinzip bleiben. Bei Gewinneinkunftsarten werden die Einkünfte in der Regel durch Vermögensvergleich ermittelt, bei den übrigen Einkünften als Differenz zwischen Einnahmen und Werbungskosten. Diese Dualität, die praktischen Gesichtspunkten folgt, hat sich im allgemeinen bewährt und sollte nicht aufgegeben werden. Die steuersystematische Neuerung bestünde darin, daß Zinseinkünfte und Dividenden abschließend schon an der Quelle besteuert werden sollen, also aus der Progressivität der Einkommensteuer herausgenommen werden. Bei der persönlichen Ermittlung des steuerpflichtigen Einkommens werden nur noch folgende Freibeträge gewährt: der Kinderfreibetrag in Höhe von 6854 DM, wie ab 1997 vorgesehen, und ein von bisher 2000 auf 500 D M reduzierter Arbeitnehmerpauschbetrag. Uber den Pauschbetrag hinausgehende Werbungskosten können weiterhin geltend gemacht werden. Die künftige steuerliche Behandlung von Vorsorgeaufwendungen im Rahmen der Sozialversicherung sollte sich aus der Uberprüfung der (unzureichenden) steuerlichen Regelungen für die Empfänger von Leistungen der Sozialversicherung ergeben. (10) Nichts zu halten ist von Vorschlägen, Veräußerungsgewinne auch im privaten Bereich verstärkt zur Besteuerung heranzuziehen, sich insoweit also dem Konzept der Einkommensermittlung durch Vermögensvergleich anzunähern, das aus guten Gründen bisher im Prinzip nur für die Ermittlung von Gewinneinkünften gilt. Bisher werden sogenannte Spekulationsgewinne besteuert, also Veräußerungsgewinne aus dem Kauf und Verkauf von Wertpapieren und Immobilien innerhalb bestimmter Fristen, nämlich sechs Monaten respektive zwei Jahren. Für beide Vermögensarten wird derzeit erwogen, die Bindung der Steuerpflicht an den Spekulationscharakter aufzuheben. Gegen einen solchen Schritt sprechen schwerwiegende Einwände: — Eine selektive Regelung, die Gewinne aus der Veräußerung von Aktien und Wertpapieren sowie Immobilien anders behandelte als solche aus der Veräußerung anderer Vermögensgegenstände, wäre steuersystematisch gesehen reine Willkür. 1877
Gutachten vom 8./9. November 1996
— Die Wertsteigerung von Aktien hat vor allem drei Gründe: •
die Einbehaltung von Gewinnen,
•
das allmähliche Konkretwerden von Gewinnchancen, die bisher nicht erkannt oder für unsicher gehalten wurden,
•
die Aufblähung der Nominalwerte des Sachvermögens bei Inflation.
Einbehaltene Gewinne waren als solche schon bei der Unternehmung steuerpflichtig. Ihr Korrelat bei der Marktbewertung von Anteilsscheinen im Falle der Veräußerung noch einmal der Besteuerung zu unterwerfen, wäre ein klarer Fall von Doppelbesteuerung (die man bei ausgeschütteten Gewinnen derzeit durch Anrechnung der Körperschaftsteuer vermeidet). Wertsteigerungen der zweiten Art reflektieren erwartete zukünftige Gewinne. Sobald diese Gewinne eintreten, unterliegen sie der Besteuerung — zu Lasten des dann Gewinnberechtigten. Sie schon aus Anlaß einer (realisierten) Wertsteigerung zu besteuern, läuft auf eine vorgezogene Doppelbesteuerung hinaus. Im übrigen: Für den Inhaber einer Aktie ist die Wertsteigerung aufgrund gestiegener Gewinnerwartungen nichts anderes als Risikoentgelt. Die Übernahme von Risiken einer zusätzlichen Besteuerung zu unterwerfen erscheint absurd angesichts des erklärten Willens der Wirtschaftspolitik, die Bereitschaft zur Risikoübernahme, die in Deutschland im argen liegt, zu fördern. Die Besteuerung inflationsbedingter Scheinerträge ist schon bisher unerwünschtes Beiprodukt der allgemeinen Besteuerung von Kapitalerträgen. — Die Wertsteigerung von Immobilien hat im Prinzip die gleichen Gründe, von den einbehaltenen Gewinnen abgesehen. Eine Besteuerung von Veräußerungsgewinnen bei Immobilien wird zudem die arbeitsmarktpolitisch bereits zu geringe Mobilität der Menschen weiter einschränken. Die deshalb erwogene Ausnahme zugunsten selbstgenutzten Wohneigentums aber hätte mit der Besteuerungsidee nichts zu tun, bedeutete also neue steuerliche Willkür. Auch erscheint kaum vorstellbar, wie die zu begünstigenden Fälle in halbwegs befriedigender Weise von den steuerpflichtigen Fällen abzugrenzen wären. Viele Umzüge sind mit zeitlich mehr oder weniger stark versetztem Kauf einer neuen und Verkauf der — zwischenzeitlich vermieteten — alten Wohnung verbunden. Im übrigen: Wie 1878
Anstehende große Steuerreform
lange muß eine Wohnung von wem genutzt werden, damit sie eine „selbstgenutzte" Wohnung wird? — Eine Besteuerung von Veräußerungsgewinnen müßte jedenfalls den Steuerabzug von Veräußerungsverlusten einschließen derart, daß ein Verlustüberschuß mit anderen Einkünften zu verrechnen wäre. Alles andere wäre konfiskatorische Besteuerung. Der Abzug von Veräußerungsverlusten stellte aber zugleich sicher, daß der Staat mit allen Verlustfällen belastet würde, er hingegen nur von jenen Gewinnfällen profitierte, die eine unter solchem Besteuerungsregime vermutlich weiter erodierende Steuermoral ihm nicht verbirgt. Daß der Staat dabei mehr Steuereinnahmen gewinnt als er verliert, erscheint mehr als fragwürdig. Gewinnen würden jedenfalls die Vermögensverwalter im Ausland. — Jede Wertzuwachsbesteuerung, die sich auf Veräußerungsfälle beschränkt, hat einen Einsperreffekt zur Folge. Es käme alsbald zu einem Rattenschwanz von Regelungen, die — wie im gewerblichen Bereich — diesen volkswirtschaftlich unerwünschten Effekt in mehr und mehr Fällen wieder eindämmen sollen. — Schlechte Erfahrungen mit der Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen im privaten Bereich hat man im wesentlichen nur dort gemacht, wo diese Steuerfreiheit im Zusammenspiel mit hohen Abschreibungsvergünstigungen wirksam wurde. Die daraus entstehenden Fälle anstößiger Vorteile aus Steuersatzarbitrage hat der Steuergesetzgeber jedoch selbst zu vertreten. Er sollte sie am Ursprung heilen. Einer Aufhebung der Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen im privaten Bereich bedarf es dazu nicht. Im übrigen wird auch dieses Problem praktisch entfallen, wenn die Unterschiede in den persönlichen Grenzsteuersätzen so gering werden, wie es bei einer Reform der Einkommensteuer nach dem hier erörterten Muster der Fall sein wird. (11) Der Vorschlag, den bisher geltenden Formeltarif durch einen einfachen Stufentarif zu ersetzen, folgt dem Vorbild der Vereinigten Staaten und aller anderen OECD-Länder. Nach allgemeiner Vorstellung soll ein Einkommensteuertarif progressiv sein, um dem Gebot der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit zu genügen. Zugleich sollte der Progressionsgrad keine Sprünge aufweisen. Beides ist bei dem 1990 in Deutschland eingeführten „linear-progressiven" Formeltarif gegeben, bei dem die Grenzsteuersätze mit der Höhe des zu versteuernden Einkommens 1879
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ansteigen. Beides ist aber ebenso bei dem in allen anderen Industrieländern üblichen Stufentarif gewährleistet. Trotzdem hat sich der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium der Finanzen in seinem jüngsten Gutachten dafür ausgesprochen, den derzeitigen Formeltarif beizubehalten, weil nach mehrheitlicher Auffassung des Finanzbeirats die Progression direkt, d.h. über steigende Grenzsteuersätze, herbeigeführt werden sollte. Der hier vorgeschlagenen Stufentarif wirkt ebenfalls progressiv, nur wird die Progression indirekt herbeigeführt. Wie aus Grafik 1 und Tabelle 1 zu ersehen ist, steigt unter dem vorgeschlagenen Reformtarif die durchschnittliche Steuerbelastung mit dem zu versteuernden Einkommen an. Zu beachten ist, daß an den zwei Sprungstellen der GrenzSteuersätze, von 10 nach 20 Prozent bei 20000 DM und von 20 nach 30 Prozent bei 30000 DM, der durchschnittliche Steuersatz nicht springt, sondern lediglich etwas stärker zunimmt als danach. (12) Ein besonderer Vorzug des einfachen Stufentarifs liegt in seiner Durchsichtigkeit für den Bürger. Wer weiß, über welcher Schwelle sein Einkommen liegt, kennt damit unmittelbar, ohne jede schwierige Berechnung, seinen Grenzsteuersatz. Nach obigem Vorschlag beträgt er 10, 20 oder 30 Prozent. Es bedarf daher keiner langen Überlegung oder gar Steuerberatung um zu entscheiden, ob sich ein Zuverdienst lohnt oder nicht. Der derzeit geltende Formeltarif gewährleistet das nicht. Um seinen Grenzsteuersatz zu ermitteln, muß der Bürger die in § 32 a EStG festgelegten Tarifformeln anwenden und überdies sein aktuelles Gesamteinkommen auf Heller und Pfennig kennen. Damit erweist sich der Formeltarif als bürgerunfreundlich, insbesondere für die Bezieher niedriger Einkommen, die keine Steuerberatung in Anspruch nehmen. Der Beirat ist der Auffassung, daß der Aspekt der Transparenz für den Bürger Vorrang haben sollte vor Feinheiten finanztechnischer Ästhetik. Transparenz ist nicht zuletzt aus politisch-ökonomischen Gründen von Bedeutung. Empirische Studien haben gezeigt, daß komplexe Steuersysteme dem Staat den Zugriff auf die Besteuerungsbasis der Bürger erleichtern. Unter solchen Steuersystemen lassen sich steuererhöhende Maßnahmen geräuschloser einführen. Sie sind für die Bürger schwerer erkennbar und daher von der Politik leichter durchsetzbar als unter transparenten Steuersystemen. Auch diese Befunde sprechen mehr für einen einfachen Stufentarif als für einen Formeltarif. Ein Stufentarif würde eine insgesamt sparsame Haushaltsführung des Staates fördern. 1880
Anstehende große Steuerreform
Hinzu kommt ein weiteres Argument. Ein Stufentarif der hier erörterten Art brächte für den größten Teil der Steuerpflichtigen einen einheitlichen Grenzsteuersatz. Damit entfiele das große Problem, daß — wie gegenwärtig — die steuerlichen Vorteile, die sich aus den Regelungen für Investitionen ergeben, namentlich den AfA-Erleichterungen, in ihrer Stärke für den einzelnen Investor ganz unterschiedlich ausfallen, je nach dem, welchem Grenzsteuersatz er unterliegt. (13) Die Wahl eines niedrigen Steuersatzniveaus folgt der Vorstellung, daß es sich unter Effizienzgesichtspunkten lohnt, bei der Senkung der Steuersätze nicht zu kleinmütig zu sein. Es gilt, für alle Einkommensbereiche einen deutlich verstärkten Anreiz zu Mehrleistung und Zuerwerb zu setzen, also nicht nur für die Bezieher hoher Einkommen, sondern ebenso für die Bezieher niedriger, in der Nähe des Grundfreibetrages liegender Einkommen. Grafik 1 zeigt, daß der Progressionsverlauf unter dem vorgeschlagenen Reformtarif deutlich flacher ist, und zwar auch im Eingangsbereich. So würde bei einem Einkommen von 20000 D M der Durchschnittssteuersatz von derzeit 10,55 auf 4 Prozent fallen und bei 30000 D M von derzeit 16,35 auf 9,33 Prozent; vgl. Tabelle 1. Niedrige Steuersätze erleichtern die Tarifverhandlungen und schaffen Anreiz zur Ausdehnung der Erwerbstätigkeit, zugleich verringern sie den Anreiz zu Steuerhinterziehung und zum Ausweichen in illegale Schattenwirtschaft. N a c h Schätzungen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft betrug die relative Größe der Schattenwirtschaft in Deutschland bereits Mitte der achtziger Jahre etwa 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Angesichts der seitdem weiter angestiegenen Steuer- und Abgabenlast dürfte die relative Größe der Schattenwirtschaft heute noch weit höher liegen. Bei unverändertem Risiko, überführt und bestraft zu werden, würde angesichts wesentlich niedrigerer Steuersätze der Anreiz, dieses Risiko zu laufen, erheblich verringert. Zu welchen Steuermehreinnahmen das führen würde, läßt sich allerdings nicht abschätzen. Für ein niedriges Steuersatzniveau spricht auch, daß damit der Anreiz zu legaler Steuervermeidung durch Standort- oder Wohnsitzverlagerung in das nahe Ausland (beispielsweise nach Belgien oder Holland) praktisch beseitigt würde. (14) Was die Körperschaftsteuer angeht, so nimmt Deutschland im internationalen Vergleich mit einem Steuersatz von 45 Prozent auf einbehaltene Gewinne zusammen mit Italien (52 Prozent) eine Spitzenposition ein. In den meisten europäischen Ländern liegt der Satz derzeit bei etwa 1881
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35 Prozent. In Frankreich beträgt der Satz 33,33 Prozent und soll ab 1997 für kleinere und mittlere Unternehmen auf sogar 19 Prozent gesenkt werden. Unter Berücksichtigung der durchschnittlichen Belastung mit Gewerbeertragsteuer (16 Prozent) beträgt die Gesamtsteuerbelastung auf einbehaltene Gewinne derzeit rd. 54 Prozent. Mit der vorgeschlagenen Senkung des Körperschaftsteuersatzes auf einheitlich 30 Prozent für einbehaltene wie ausgeschüttete Gewinne würde die Belastung auf 41,2 Prozent zurückgehen. Das wäre eine deutliche Verbesserung, wenngleich damit die steuerliche Belastung der deutschen Unternehmen im internationalen Vergleich immer noch im oberen Mittelfeld liegen würde. Mit der Senkung des Körperschaftsteuersatzes auf einbehaltene Gewinne wird die bisherige Spaltung der Körperschaftsteuer aufgehoben. Durch die Harmonisierung der Körperschaftsteuer mit dem Spitzensatz der Einkommensteuer wird erreicht, daß die Wahl der Unternehmensrechtsform wesentlich weniger durch steuerliche Erwägungen mitbestimmt wird als bisher. (15) Die Kernidee des bislang diskutierten Reformprogramms besteht in einer Senkung der Steuersätze bei gleichzeitiger Ausweitung der steuerlichen Bemessungsgrundlage. Die Erhöhung der Leistungsbereitschaft, die Verringerung der Schwarzarbeit und die Eindämmung der internationalen Steuerflucht gehören zu den günstigen Wirkungen, die man hiervon erwarten kann. Aufpassen muß man, daß die Reform auch die Bereitschaft zum Investieren, sprich zur Schaffung oder Erneuerung von Arbeitsplätzen erhöht. Denn das ist nicht selbstverständlich. Baut man zum Beispiel die Steuervergünstigungen fürs Investieren ab, namentlich die degressive Abschreibung, was viele wie selbstverständlich zur angestrebten Verbreiterung der steuerlichen Bemessungsgrundlagen zählen, so kann die Reform beim gegenwärtig vordringlichsten Ziel der Wirtschaftspolitik sogar kontraproduktiv werden. Manche Ökonomen sind schon dann skeptisch, wenn die derzeitigen Abschreibungsbedingungen erhalten bleiben. Eine allgemeine Senkung der Steuern auf Kapitaleinkommen — Zinsen, Gewinne, Mieten, Pachten — mindert den Wert von Abschreibungsvergünstigungen. Man kann auch sagen: Sie verringert die Diskriminierung des Geldvermögens, für das die Vergünstigungen nicht gelten. Die durch Senkung der Steuersätze erhöhte Netto-Rendite des Geldvermögens gibt den Maßstab für die Mindestrendite ab, die auch bei einer Investition im Sachvermögen er1882
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wirtschaftet werden muß. Das Sachvermögen wird selbst bei einheitlicher Senkung der Steuersätze in der Regel nicht in gleichem Maße besser gestellt wie das Geldvermögen. Denn der Teil der Rendite, der beim Sachvermögen im Steuervorteil der Abschreibungserleichterungen besteht, wächst nicht mit. Die Investoren in Sachvermögen müßten, so gesehen, einen höheren Ertrag erwirtschaften als vorher, also auf weniger ertragreiche Investitionen verzichten, wenn sie gegenüber dem nun weniger diskriminierten Geldvermögen bestehen wollen. Dies ist freilich nicht die ganze Geschichte. Man kann nicht ausschließen, daß eine steuerliche Besserstellung der Kapitaleinkommen in Deutschland die Zinsen (vor Steuern) senkt, die die Kapitalgeber vom Investor verlangen. Insoweit entfiele das zuvor beschriebene Problem. Außerdem — und dies ist wohl noch wichtiger — wirkt sich eine Senkung der Gewinnbesteuerung ja nicht nur auf die vom Zins bestimmte Basisrendite aus. Ein erheblicher Teil der Gewinne aus Investitionen besteht aus dem Entgelt für unternehmerische Tüchtigkeit, für die erfolgreiche Anwendung neuer Techniken etc. Hier wirkt die Steuersenkung, ohne daß es einen Gegenposten in Gestalt der Abwertung von Abschreibungsvergünstigungen o.ä. gibt. Das gleiche gilt für den Teil der Gewinne, der Entgelt für die Risikoübernahme des Investors ist. Der Staat ist zwar durch Steuermindereinnahme auch an den Verlusten des Investors beteiligt, aber doch nicht in einer symmetrischen Weise. Die zu hohe Belastung solcher Gewinnbestandteile ist gerade das Hauptproblem der deutschen Unternehmensbesteuerung. Zudem erhöht eine Senkung der Steuern auf Gewinne unmittelbar den Selbstfinanzierungsspielraum der Unternehmen und erleichtert damit solche Investitionen, bei denen man auf diesen Spielraum angewiesen ist. Schließlich kann darauf gerechnet werden, daß in dem Maße, wie Investoren nicht inländische Sachanlagen mit in- oder ausländischen Finanzanlagen vergleichen, sondern eine Standortentscheidung zwischen Inland und Ausland für neue Investitionen treffen, das Pendel zugunsten des Inlandes ausschlägt. Damit trägt eine allgemeine Senkung der Steuersätze zu der dringend erforderlichen Verbesserung der Standortqualität Deutschlands bei. Trotzdem besteht aller Anlaß, beim Hauptziel der Wirtschaftspolitik — Sorge für mehr Investitionen, die Arbeitsplätze schaffen oder sichern — keine Risiken einzugehen. Das aber heißt: Der Höchststeuersatz der Einkommensteuer, der zugleich Körperschaftsteuersatz sein soll, muß sehr stark herabgesetzt werden. Ein niedriger Steuersatz für Gewinneinkommen ist erforderlich, damit der Abbau der Vergünsti1883
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gung des Sachkapitals gegenüber dem Finanzkapital, die das herrschende Steuerrecht kennzeichnet, zurückbleibt gegenüber dem Vorteil aus der Steuersatzsenkung. Auf keinen Fall sollte man Vorschlägen folgen, die allgemeinen Abschreibungsregeln radikal zu verschlechtern. Eine Streichung der degressiven Abschreibung, die laut Entwurf des Jahressteuergesetzes 1997 von 30 auf 25 Prozent reduziert werden soll, ist nach Auffassung des Beirats nicht zu befürworten. Nach Auffassung mehrerer Mitglieder des Beirats wäre noch zu prüfen, ob die Reform nicht sogar mit einer Verbesserung der allgemeinen Abschreibungsbedingungen einhergehen sollte, um jegliche Gefahren für die Investitionsneigung auszuschließen. 2. Abgeltungssteuer auf Zinseinkünfte (16) Der Beirat spricht sich dafür aus, Zinseinkünfte aus Bankeinlagen, Anleihen und neuen Lebensversicherungsverträgen sowie Kapitaleinkünfte aus dem Ausland aus der Einkommensteuer herauszunehmen und einer Abgeltungssteuer in Höhe von 15 Prozent zu unterwerfen. Inländische Dividenden werden an der Quelle mit 30 Prozent besteuert als ausgeschüttete Gewinne. Das bisherige Anrechnungsverfahren könnte aufgehoben werden, da für die Masse der Anleger ohnehin der Grenzsteuersatz von 30 Prozent gelten würde. Eine moderate Besteuerung von Zinseinkünften hätte den großen Vorteil, daß dem Anreiz zu steuerhinterziehender Kapitalflucht praktisch der Boden entzogen würde. Zwar kann man sich nicht unbedingt versprechen, daß das gesamte Fluchtkapital aus dem Ausland zurückkehren wird, obwohl die Anonymität des Quellenabzugsverfahrens eine unauffällige Rückkehr begünstigt und Osterreich mit der Einführung einer Abgeltungssteuer in dieser Hinsicht sehr positive Erfahrungen gemacht hat. Jedenfalls kann ausgeschlossen werden, daß illegale Anlagen im Ausland weiter aufgestockt werden, weil sich das bei dem vorgeschlagenen Steuersatz von 15 Prozent nicht mehr lohnen wird. (17) Für eine moderate Abgeltungssteuer auf Zinseinkünfte spricht der generelle Tatbestand, daß die Einkommensteuer die Konsumentscheidungen zu Lasten zukünftigen Konsums verzerrt, indem sie das Sparen und damit die Kapitalbildung belastet. Es entsteht eine doppelte Belastung des zukünftigen Konsums, weil sowohl der gesparte Einkommensbetrag wie auch darauf entstehende Zinseinkünfte besteuert werden. Intertemporal neutral wäre eine Besteuerung, die Einkommen, das sofort konsumiert wird, und Einkommen, das zunächst gespart und damit investiert wird, steuerlich gleichbehandelt. Vorschläge zu einer konsum1884
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orientierten Einkommensteuer sehen deshalb vor, daß entweder die Netto-Ersparnis (sparbereinigte Einkommensteuer) oder die marktübliche Verzinsung des angelegten Sparkapitals (zinsbereinigte Einkommensteuer) steuerfrei bleibt. Die Einführung einer Abgeltungssteuer von 15 Prozent auf Zinseinkünfte hebt zwar die Diskriminierung der Kapitalbildung nicht auf, sie wäre aber ein wichtiger Schritt in die ökonomisch richtige Richtung. In einem späteren Reformschritt wird man prüfen müssen, ob nicht der Ubergang zu einer generell konsumorientierten Einkommenbesteuerung in Form der zinsbereinigten Einkommensteuer geraten ist. 3. Gegenfinanzierung des Steuerausfalls (18) Die Einführung des Reformtarifs dürfte zu einem Steuerausfall in Höhe von 96 Mrd. DM bei der Einkommensteuer 1 ) und von 6 Mrd. DM bei der Körperschaftsteuer 2 ) führen. Von der verringerten Besteuerung der Zinseinkünfte sind keine weiteren Ausfälle zu erwarten, weil die bisherigen Freibeträge entfallen und mit einem erheblichen Kapitalrückfluß gerechnet werden kann. Insgesamt ist der Steuerausfall daher auf 102 Mrd. DM zu veranschlagen; vgl. Tabelle 2. Bei dieser Schätzung sind reforminduzierte Selbstfinanzierungseffekte, die den Steuerausfall verringern werden, nicht berücksichtigt worden. Von der drastischen Senkung der Steuersätze können produktionsanregende und beschäftigungssteigernde Wirkungen erwartet werden. Sie werden aber nicht unmittelbar nach Einführung des Reformtarifs einsetzen, sondern sich mittelfristig entfalten. (19) Für die Gegenfinanzierung des unmittelbaren Steuerausfalls kommen prinzipiell in Betracht: eine Ausdehnung der Staatsverschuldung, eine Erhöhung anderer Steuern, beispielsweise der Mehrwertsteuer, eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage der Einkommenbesteuerung und nicht zuletzt eine Rückführung der Staatsquote, also der Staatsausgaben im Verhältnis zum Sozialprodukt, besonders durch einen Abbau von Subventionen. Der Beirat spricht sich grundsätzlich gegen den Rückgriff auf Verschuldung und gegen die Erhöhung anderer Steuern aus. Der Weg der Ver') Anhand der Einkommenschichtung des Jahres 1995 errechnet sich unter dem Reformtarif ein fiktives Steueraufkommen in Höhe von 216 Mrd. DM und damit zunächst ein Steuerausfall in Höhe von 110 Mrd. DM. Dieser Betrag ist um die durch den Steuertarif 1996 bewirkte Steuermindereinnahme von 14 Mrd. DM zu kürzen. 2 ) Das Aufkommen an Körperschaftsteuer auf einbehaltene Gewinne betrug 1995 rd. 18 Mrd. DM. 1885
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schuldung verbietet sich angesichts der Tatsache, daß die gesamte Staatsschuld seit 1989 um fast 1,3 Billionen DM auf 2,2 Billionen DM gestiegen ist und infolgedessen die Zinslastquoten in den öffentlichen Haushalten bedrohlich zugenommen haben. Ebenso verbietet es sich, den bequemen Weg der Zuflucht zu anderweitigen Steuererhöhungen zu wählen. Zuerst einmal gilt es, die Einkommenbesteuerung gründlich zu entrümpeln von den vielfachen Durchbrechungen des Prinzips der Allgemeinheit der Besteuerung. Es sind im Verlauf der Jahre zu viele spezielle Abzugsmöglichkeiten und steuermindernde Sondertatbestände in das Steuerrecht eingebaut worden, teils aufgrund spezifischer wirtschaftspolitischer Zielsetzungen, teils aufgrund der Pressionen einzelner Berufsgruppen. Der Beirat hält den Grundansatz für richtig, durch Zusammenstreichen des Katalogs an Steuerbegünstigungen die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuern so zu verbreitern, daß die Steuerausfälle im notwendigen Umfang wettgemacht werden können. In Tabelle 2 werden Maßnahmen aufgeführt, die zusammengenommen ein Volumen von 77,5 Mrd. DM erbringen. Eine darüber hinausreichende Gegenfinanzierung, die Aufkommensneutralität anstrebt, hält der Beirat für nicht erforderlich. Im Gegenteil, ein wichtiges Ziel der Reform ist die Stärkung der Wachstumskräfte. Deshalb sollte die Steuerreform auch eine NettoEntlastung herbeiführen. Mit knapp 25 Mrd. DM wäre sie moderat angesetzt und könnte durch ein verlangsamtes Wachstum der Staatsausgaben u.a. durch eine Verminderung der Subventionen erreicht werden. (20) Nachfolgend werden einige der in Tabelle 2 angeführten Einzelvorschläge kurz kommentiert. Naturgemäß stößt jeder Vorschlag auf den Widerstand der betroffenen Gruppen. Zunächst ist daran zu erinnern, daß ein Verzicht auf viele Begünstigungen zumutbar und auch tragbar ist, weil die Steuersätze gegenüber dem Status-quo drastisch gesenkt werden sollen. Einzelne dieser Vorschläge könnten aber auch durch andere ersetzt werden. So könnte man an ein Abschaffen von offenen Subventionen (auf der Ausgabenseite) denken. Beispielsweise könnte man die Eigenheimzulage abschaffen statt die Abzugsmöglichkeit der Kirchensteuer zu streichen. Abschaffung der Möglichkeit zum Abzug der Kirchensteuer sowie anderer Spenden als Sonderausgaben. Die bisherige Begünstigung bedeutet, daß die Gesamtheit der Steuerzahler indirekt an der Finanzierung der Kirchen und Religionsgemeinschaften beteiligt wird und damit auch jene 1886
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Bürger zur Finanzierung der Glaubensgemeinschaften und ihrer sozialen Zwecke beitragen müssen, die ihnen nicht angehören. Mutatis mutandis gilt das gleiche für freiwillige Spenden an soziale, politische oder kulturelle Organisationen. Die Abschaffung der Abzugsmöglichkeit der Kirchensteuer wird das Aufkommen nicht stark verringern, wenn die Bemessungsgrundlage dieser Steuer mit der vorgesehenen Verbreiterung der Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer erweitert wird.3) Verringerung des Arbeitnehmerpauschbetrages. Der Arbeitnehmerpauschbetrag dient zur Abgeltung von Werbungskosten. Für die meisten Arbeitnehmer dürften die tatsächlichen Werbungskosten weit unter dem derzeitigen Pauschbetrag von 2000 DM liegen. Wer den künftigen Pauschbetrag von 500 DM übersteigende Werbungskosten hat, soll diese auch künftig geltend machen können. Ersatz des Kilometergeldes durch eine Entfernungs-Pauschale. Zunächst ist zu bedenken, daß die Wahl des Wohnsitzes und des Verkehrsmittels teils auch eine private Konsumentscheidung ist. Insoweit besteht zu steuerlicher Subventionierung kein Anlaß. Der Beirat spricht sich für eine Beschränkung der Geltendmachung von diesbezüglichen Werbungskosten auf eine moderat gehaltene Entfernungs-Pauschale aus in Höhe von 0,10 DM je Entfernungskilometer. Die Regelung ist entsprechend anzuwenden auf Fahrten zum Arbeitsplatz mit Dienstwagen (die als geldwerte Vorteile zu versteuern sind) und auf die Fahrten Selbständiger zum Betrieb.4) Besteuerung von Einkommensersatzleistungen. Horizontale Steuergerechtigkeit erfordert, gleiche Einkommen gleich zu besteuern, unabhängig davon, aus welchem Grund sie bezogen werden. Deshalb ist es ein dringendes Desiderat, die steuerliche Privilegierung des Sozialsystems zu ) Einige Mitglieder weichen von der Auffassung des Beirats ab, daß die Aufhebung der Abzugsfähigkeit von Kirchensteuer und der Aufwendungen für gemeinnützige Einrichtungen per Saldo zu einer entsprechenden Verbesserung der öffentlichen Haushalte führen würde; denn es wäre mit einer Einschränkung der sozialen Leistungen dieser Einrichtungen zugunsten aller Benutzer zu rechnen. 4 ) Zwei Mitglieder des Beirats vertreten eine abweichende Ansicht: Die Ausgaben für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte werden zum Erwerb und Erhalt von Einnahmen getätigt. Sie sind also Werbungskosten. Dieser Grundsatz ist geltendes Recht. Insofern stellt sich die Frage nach einer privaten Veranlassung grundsätzlich nicht. Es kann sich lediglich die Frage stellen, ob die Werbungskosten in ihrer tatsächlich nachgewiesenen H ö h e steuerlich anerkannt werden sollen oder ob sie nur in Höhe ζ. B. der unvermeidbaren Ausgaben angesetzt oder gar in Form eines Kilometergeldes oder einer Entfernungspauschale typisiert werden können. Eine Pauschale von 0,10 D M läge unvertretbar weit unter den tatsächlichen Kosten.
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Gutachten vom 8 . / 9 . November 1996
überprüfen. Ein wichtiger Punkt wäre, das Herausfallen solcher Leistungen aus der Einkommensteuer zu vermeiden oder jedenfalls einzuschränken. In jedem Fall sollte gesichert sein, daß auch bei Einkommensersatzleistungen der Grundsatz gilt, alle Einkommensteile einmal zu besteuern, also entweder die Sozialversicherungsbeiträge oder die Erträge (Renten, Arbeitslosengeld etc.) daraus. Aufhebung der Steuerfreiheit von Zuschlägen für Sonntags- und Nachtarbeit. Diese Zuschläge sind ebenso Einkommen wie der Grundlohn. Der Staat sollte diese besonderen Formen der Arbeitsleistung nicht subventionieren. Einschränkung der Abzugsfähigkeit außergewöhnlicher Belastungen. Die Grenzen der Zumutbarkeit außergewöhnlicher Belastungen sollten erheblich enger gezogen werden. Hier wäre zu überprüfen, was im einzelnen zumutbar ist (etwa der Unterhalt von Angehörigen im Ausland oder die Beschäftigung einer Haushaltshilfe). Dabei wäre ein strenger Maßstab anzuwenden. Der Beirat hält es für möglich, den durch diese Bestimmung bewirkten Steuerentgang auf die Hälfte zu begrenzen. (21) Die in Tabelle 2 aufgeführten Maßnahmen zur Gegenfinanzierung 4 bis 8 verringern die Steuerentlastung der Unternehmen. Der Beirat erläutert kurz für die drei wichtigsten Maßnahmen, warum diese ökonomisch vertretbar erscheinen. Einführung des Wertaufholungsgebots, § 6 Abs. 1 EStG. Der Beirat empfiehlt, das Niederstwertprinzip zeitnah anzuwenden. Das wird zur Wertaufholung bei Wirtschaftsgütern führen, die in der Vergangenheit auf den Zeitwert (Teilwert) abgeschrieben worden sind und deren Zeitwert wieder angestiegen ist. Die planmäßigen Abschreibungen bleiben unberührt. Gesamtbewertung bei Verlustrückstellungen und Schuldenbewertung mit dem Teilwert, §6 Abs. 1 Nr. 3 EStG. Einzelbewertung statt Gesamtbewertung führt in der Regel zu einem überhöhten Ausweis des wahren Werts bestehender Verpflichtungen. Abschaffung der Sonderabschreibungen. Das Instrument der Gewährung von Sonderabschreibungen hat mit der eigentlichen Funktion der Besteuerung nichts zu tun, sondern ist ausschließlich lenkungsmotiviert. Der Beirat ist der Auffassung, daß sämtliche Sonderabschreibungen beseitigt werden sollten. Sonderabschreibungen dienen bisher regionalund industriepolitischen Zielen. Der Beirat hält es für zweckgerichteter, 1888
Anstehende große Steuerreform
solche Ziele allenfalls durch offene und zeitlich begrenzte Subventionen (auf der Ausgabenseite) zu verfolgen. (22) Ein Reformvorschlag, der eine Senkung der Steuersätze mit einer Verbreiterung der Steuerbasis verbindet, kann mit politischer Unterstützung rechnen, sofern er möglichst alle Gruppen einschließt, die bisher an Steuerprivilegien teilhaben. Bisher haben die verschiedenen Interessengruppen jede für sich für Steuerbegünstigungen gekämpft. Daß dies auf eine kollektive Selbstschädigung hinauslief, wird von ihnen mehr und mehr eingesehen. Eine verläßliche Dauerhaftigkeit dieser Reformgesetzgebung ist daher wichtig. Am wirksamsten wäre sie durch eine verfassungsrechtliche Verankerung zu sichern, aber praktisch ist das wohl nicht zu erreichen. Der Umstand, daß es sich bei dieser Reformgesetzgebung um zustimmungspflichtige Gesetze handelt und damit ohnehin ein Konsens zwischen allen am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Ebenen erforderlich ist, könnte zu einer faktischen Dauerhaftigkeit dieser Reformen beitragen.5) III. Sozialabgaben versus Mehrwertsteuer (23) In Zusammenhang mit der Steuerreform wird in der Öffentlichkeit die Frage erörtert, ob es sich empfiehlt, die Sozialabgaben durch Herausnahme der versicherungsfremden Leistungen zu senken und zum Ausgleich die Mehrwertsteuer zu erhöhen. Der Beirat hält einen solchen Reformschritt aus zwei Gründen für nicht geboten: Erstens gehören die Sozialabgaben anreiztheoretisch gesehen zum Besten — im Sinne des am wenigsten Schädlichen —, was wir haben. Zweitens steht die in Teilen der Wirtschaft gehegte Erwartung, diese Maßnahme werde die internationale Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig verbessern, auf tönernen Füßen. (24) Die Mehrwertsteuer wird zu Recht als die vergleichsweise am wenigsten schädliche große Steuer angesehen. Im Unterschied zur Einkommensteuer diskriminiert sie nicht den Zukunftskonsum gegenüber dem Gegenwartskonsum. Das gilt in der Tendenz auch für die Sozialabgaben. Insoweit die Sozialabgaben versicherungsfremde Leistungen finanzieren, kann man sie zunächst einmal als eine allgemeine Lohnsteuer auffassen. 5
) Ein Mitglied bringt z u m A u s d r u c k , daß die Aufstellung über die G e g e n f i n a n z i e r u n g der Steuersenkung mit erheblichen Risiken, insbesondere der politischen Realisierbarkeit, verbunden ist. 1889
Gutachten vom 8./9. November 1996
Die Sozialabgaben weichen allerdings in doppelter Weise von einer allgemeinen Lohnsteuer ab: 7.um einen·. Die Sozialabgaben liegen nicht auf Einkommen, insoweit diese die Beitragsbemessungsgrenzen übersteigen. Dies ist ein Vorteil. Die zu hohe Abgabenbelastung der Grenzeinkommen ist ja anreiztheoretisch das eigentliche Problem, auf das die Steuerreform antworten soll. Für einen Teil der Abgabenpflichtigen sind aber die Sozialabgaben gar kein Teil der Grenzbelastung ihrer Einkommen. Die Sozialabgaben dienen der Finanzierung von Aufgaben, deren Umfang nicht unwesentlich mitbestimmt ist durch die Festlegung von nicht marktgerechten Tariflöhnen. Es ist eine gute Sache, daß die Verantwortung für die Festlegung von Löhnen und die Verantwortung für die Bewältigung von Aufgaben, die zumindest teilweise als deren Beiprodukt erscheinen, verkoppelt sind, und zwar sowohl institutionell (Selbstverwaltungskörperschaften) als auch finanziell (Solidargemeinschaft der Bezieher von Lohneinkommen). Zum anderen: Die Bezüge der Beamten und die Einkommen der Selbständigen werden von den Sozialabgaben nicht erfaßt. Das mag man als einen Nachteil ansehen. Zwingend ist aber nicht einmal das. Die Bezüge der Beamten, die im allgemeinen den Tariflöhnen folgen, sind schon heute an der Traglast versicherungsfremder Aufgaben der Sozialversicherung insofern beteiligt, als sie in den vergangenen Jahren weniger erhöht worden sind als die Löhne und Gehälter der Arbeiter und Angestellten im Öffentlichen Dienst. Die Selbständigen haben mit sozialen Problemen, die aus Fehlern bei der Tarifpolitik resultieren, direkt nichts zu tun. Viele von ihnen haben ebensowenig wie die Beamten Ansprüche an die Sozialversicherung. Ein ins Gewicht fallendes Problem bleibt: Diese Selbständigen haben nicht teil an den Lasten aus der Vereinigung Deutschlands, soweit diese Lasten bei der Sozialversicherung anfielen. Diese Lasten haben zwar wesentlich auch mit Fehlern bei der Tariflohnpolitik zu tun, aber zu einem erheblichen Teil doch eben nicht. Man muß dieses spezielle Manko daher bei der Würdigung der Abgabenlastverteilung insgesamt — und der Frage nach einem Anderungsbedarf — berücksichtigen. Einen für sich genommen hinreichenden Grund für eine Ersetzung von Sozialabgaben durch steuerliche Finanzierung von versicherungsfremden Aufgaben der Sozialversicherung stellt es aber nicht dar. 1890
Anstehende große Steuerreform
Zudem: In einer Zeit, in der der Staat mit Rücksicht auf die erdrückende Arbeitslosigkeit an allen möglichen Stellen versucht, die Möglichkeiten zum Selbständigsein und die Bereitschaft dazu zu fördern, wäre es seltsam, wenn er zugleich um einer ganz partiellen Neutralität willen eine Finanzierungsregelung änderte — hier die Finanzierung von Sozialaufgaben durch Sozialabgaben —, die sich im Ganzen bewährt hat und gerade in allokativer Hinsicht auch weiterhin gegenüber allen denkbaren Alternativen überlegen erscheint. (25) Die Mehrwertsteuer wird nach dem Bestimmungslandprinzip erhoben, nicht nach dem Ursprungslandprinzip. Sie liegt also nicht auf den Exporten, wohl aber auf den Importen. Eine partielle Ersetzung von Sozialabgaben durch eine erhöhte Mehrwertsteuer wirkt somit kostensenkend für die exportierende Wirtschaft und verbessert zunächst auch die Wettbewerbsposition der mit Importen konkurrierenden Unternehmen. Allerdings gilt das nur für unveränderlich feste Wechselkurse und auch nur solange, wie ein durch Mehrwertsteuererhöhung bewirkter Anstieg der Importpreise nicht erhöhte Tariflohnforderungen nach sich zieht. Insoweit Wechselkurse flexibel sind, muß man mit einer induzierten Aufwertung der D-Mark rechnen, die den Kostenvorteil wieder einebnet. Das beträfe jedenfalls etwa die Hälfte des deutschen Außenhandels. (26) Insgesamt gesehen hält der Beirat es für nicht geraten, einen Teil der Sozialabgaben durch eine erhöhte Mehrwertsteuer zu ersetzen. Die Fundierung einer Absenkung der Sozialabgaben muß von einer Einschränkung der Sozialausgaben kommen. Hinter Löhnen und Beiträgen zur Sozialversicherung stehen Leistungsansprüche, die zugleich Kosten für die Unternehmen darstellen. Beiderlei Ansprüche müssen um eines erhöhten Beschäftigungsstandes willen eingeschränkt werden. Es bringt nichts, eine ungeliebte Abgabe in eine ähnliche andere Abgabe umzuwandeln, schon gar nicht, wenn diese wie im vorliegenden Falle sogar noch etwas schädlicher ist als die erstere. Schlußbemerkung (27) Die Steuerreformdiskussion droht zu verflachen. Uber dem Streit, welche Steuerbegünstigungen entfallen sollten, damit die Bemessungsgrundlage der Einkommen- und Körperschaftsbesteuerung verbreitert werden kann, drohen die Hauptaufgaben der Steuerreform aus dem 1891
Gutachten vom 8./9. November 1996
Blickfeld zu geraten, droht die große Steuerreform zu einem kleinen Reformschritt zu degenerieren. Zu den Hauptaufgaben der Reform gehört: — Deutschland muß für den internationalen Wettbewerb der Wirtschaftsstandorte fit gemacht werden. Dabei geht es in erster Linie um eine Senkung der Steuerlast, die auf der Schaffung von Arbeitsplätzen, mithin auf den Investitionen, liegt. Es geht auch um die Eindämmung der Steuerflucht. — Die Grenzsteuerlast auf Erwerbstätigkeit, auch auf Arbeitseinkommen, muß drastisch gesenkt werden. Dabei geht es darum, die Anreize durchgreifend zu verbessern für das Ausweiten vorhandener Erwerbsmöglichkeiten und für das innovative Suchen nach neuen Erwerbschancen (Wettbewerbsfähigkeit des Nutzens aus Erwerbstätigkeit versus Freizeitnutzen). Es geht aber auch um die Wettbewerbsfähigkeit des Erwerbssystems gegenüber dem Sozialsystem (Erwerbseinkommen versus Ansprüche an das Sozialsystem) und um die Wettbewerbsfähigkeit abgabenpflichtiger Erwerbstätigkeit gegenüber abgabenvernjeidender Tätigkeit in Eigenwirtschaft, Nachbarschaftshilfe und schattenwirtschaftlicher Betätigung. — Es gilt, wieder für mehr Steuergerechtigkeit zu sorgen in horizontaler wie vertikaler Hinsicht. Es geht nicht an, daß gleiche Einkommen ungleich besteuert werden und daß vielfältige Steuerschlupflöcher es ermöglichen, hohes Erwerbseinkommen in niedriges zu versteuerndes Einkommen zu verwandeln. — Schließlich geht es auch um die Eindämmung der Steuerflucht, der illegalen wie der legalen. Diesen drängenden Aufgaben wird man nicht gerecht werden, wenn man die Steuersätze nicht wirklich drastisch senkt, wenn man den bürgerunfreundlichen Formeltarif nicht durch einen transparenten Stufentarif ersetzt und wenn man bei der Sichtung der zu streichenden Steuerbegünstigungen auf das Besitzstandsdenken der Betroffenen mehr Rücksicht nimmt als auf das, was gesamtwirtschaftlich geboten ist. Es verträgt sich auch nicht mit einer großen Steuerreform, die entlasten und effizienzfördernd wirken soll, die Erhöhung einer anderen Steuer in 1892
Anstehende große Steuerreform
Betracht zu ziehen. Nicht einmal eine Verlagerung der Finanzierung versicherungsfremder Leistungen von den Sozialabgaben weg zur Mehrwertsteuer ist geraten. Frankfurt, den 9. November 1996 Der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft Professor Dr. Manfred J. M. Neumann
1893
Anhang / Gutachten vom 8./9. November 1996
Grafik 1: Durchschnittssteuersatz: Tarif 96 und Reformtarif Prozent
Tabelle 1: Durchschnittsbelastung nach Grundtabelle Einkommen
1894
Tarif 96
Reformtarlf
Steuerschuld Durchschnittssatz
Steuerschuld Durchschnittssatz
DM
DM
20.000 30.000 40.000 50.000 60.000 70.000 80.000 90.000 100.000 110.000 120.000 130.000 140.000 150.000 160.000 170.000 180.000 190.000 200.000 210.000 220.000 230.000 240.000
2.111 4.906 7.906 11.046 14.404 18.048 21.955 26.209 30.718 35582 40.752 46.018 51.341 56.607 61.930 67.254 72.520 77.843 83.109 88.433 93.756 99.022 104.345
Prozent 10,55 16,35 19,75 22,09 24,01 25,78 27,44 29,12 30,72 32.35 33,96 35,40 36,67 37,74 38,71 39,56 40,29 40,97 41,55 42,11 42,62 43,05 43,48
DM 800 2.800 5.800 8.800 11.800 14.800 17.800 20.800 23.800 26.800 29.800 32.800 35.800 38.800 41.800 44.800 47.800 50.800 53.800 56.800 59.800 62.800 65.800
|
Prozent 4 9,33 14,50 17,60 19,67 21,14 22,25 23,11 23,80 24,36 24,83 25,23 25,57 25,87 26,13 26,35 26,56 26,74 26,90 27,05 27,18 27,30 27,42
Anstehende große Steuerreform
Tabelle 2: Steuerausfall und Maßnahmen zur Gegenfinanzierung Mrd. DM Steuerausfall 1. Einkommensteuer 2. Körperschaftsteuer
95,9 6,1
102,0
8,8 1,0 0,8 0,5 1,5
12,6
Gegenfinanzierung1) 1. Abschaffung von Freibeträgen Sparerfreibetrag Haushaltsfreibetrag Freibetrag für Land- u. Forstwirte Altersentlastungsbetrag Versorgungsfreibetrag 2. Abschaffung von Abzugsmöglichkeiten Einschränkung des Abzugs außergewöhnlicher Belastungen Kirchensteuer Sonstige Sonderausgaben (u. a. Spenden) Arbeitnehmerpauschbetrag (Begrenzung auf 500 DM) und Entfernungs-Pauschale (DM 0,10/km) 3. Besteuerung bisher steuerfreier/-ermäßigter Einnahmen Einkommensersatzleistungen § 3 EStG (Ausnahme: staatliche Transfers) Zuschläge für Sonntags-, Nachtarbeit, etc. Außerordentliche Einkünfte Beiträge an Parteien Vorteile aus Vermögensbeteiligung Besondere Gewinnermittlung bei Land- u. Forstwirtschaft
2,2 4.0 8,3 8.1
22,6
1,3 1,0 1,3 1,0 0,5 0,5
5,6
4. Einführung des Wertaufholungsgebots 5. Änderung der Ubertragungsmöglichkeiten stiller Reserven 6. Gesamtbewertung bei Verlustrückstellungen und Schuldenbewertung mit Teilwert
5,0 1,3 10,0
7. Abzinsungsgebot für Rückstellungen
3,5
8. Abschaffung der Sonderabschreibungen
9,4
9. Sonstige Maßnahmen: Freibetrag für Belegschaftsrabatte, Steuerbegünstigung bei bestimmten Wohnobjekten, Kinderbetreuungskosten, Lohnsteuerpauschalierung u. a.
7,5
Summe der Gegenfinanzierung 1. bis 9. Verbleibender Steuerausfall
24,5
Nachrichtlich: Rückführung der Staatsquote um 1 Prozentpunkt erbringt
34,6
77,5
') Berechnet unter Annahme eines durchschnittlichen Steuersatzes von 25 Prozent. — Quellen: Gutachten des Instituts der Deutschen Wirtschaft zum Uldall-Vorschlag für eine vereinfachte Einkommen- und Körperschaftsteuer, Köln 1996; Stellungnahme des BDI zu Reformvorschlägen zur Einkommenbesteuerung, Köln 1996. 1895
Gutachten vom 25./26. April 1997 Thema: Wagniskapital Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft hat sich in mehreren Sitzungen, zuletzt am 25. und 26. April 1997, mit dem Thema Wagniskapital befaßt und ist dabei zu folgender Stellungnahme gelangt:
Anlaß des (1)
(2)
Gutachtens
Bedrückend hohe Arbeitslosigkeit, mangelnde Investitionsdynamik und zunehmende Abwanderung von Investitionen ins Ausland sind Menetekel einer abnehmenden internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen und ihrer Arbeitnehmer und einer unzureichenden Anpassungsfähigkeit von Staat und öffentlicher Verwaltung an die Bedingungen einer sich beschleunigt wandelnden Weltwirtschaft. Unter dem Druck der Internationalisierung ist die Bereitschaft zu grundlegender Reform gewachsen. Ziel der großen Steuerreform und der in mehreren Etappen durchzusetzenden Reform der sozialen Sicherung m u ß sein, die Entfaltung selbstverantwortlicher Leistungsbereitschaft in allen Märkten durchgreifend zu entlasten. Von ebenso großer Bedeutung für die längerfristige Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ist die Sicherung ihrer Fähigkeit zur Innovation. Für die Innovationsfähigkeit einer Volkswirtschaft wird wenig gewonnen durch staatliche Subventionierung ausgewählter Großtechnologie in etablierten, kapitalkräftigen Unternehmen. Vielmehr kommt es darauf an, die Rahmenbedingungen für jene Unternehmen zu verbessern, die ihr Schicksal an die Durchsetzung von Produkt- und Prozeßinnovationen knüpfen. Das sind vor allem junge, noch relativ kleine Unternehmen, deren Entwicklung in Deutschland durch ungünstige Rahmenbedingungen der Finanzierung behindert wird. Ihr wesentliches „Kapital" besteht in einer neuen 1897
Gutachten vom 25.116. April 1 9 9 7
Marktidee, deren Erfolgschance besonders schwierig abzuschätzen ist. Wegen des hohen Risikos können diese Unternehmen nicht ausreichend über Bankkredite finanziert werden. Sie bedürfen in den ersten Jahren der Expansion einer Zuführung von Risikokapital in Form von Beteiligungskapital. Dieses Gutachten ist der Frage gewidmet, welcher Änderung von Rahmenbedingungen es bedarf, um das zu erreichen.
I. Innovationsfähigkeit (3)
und
Finanzierungskultur
Die langfristige Entwicklung einer Volkswirtschaft hängt von ihrer Fähigkeit zur Innovation ab. Die Innovationsproblematik ist für Deutschland derzeit aus zwei Gründen besonders aktuell. Zum einen erfordert die deutsche Vereinigung eine Neuorganisation der Wirtschaftstätigkeit in den neuen Bundesländern. Die dort vereinbarten Löhne sind nur zu bezahlen, wenn mit neuen Produktionsverfahren die Produktivität drastisch gesteigert wird. Zum anderen führt die zunehmende Integration der Schwellenländer und seit 1 9 8 9 auch der Länder Mittelund Osteuropas in die Weltwirtschaft zu einer dramatischen Intensivierung des Wettbewerbs im internationalen Handel. Das macht es schwerer, für deutsche Exportgüter gute Preise zu erzielen und im Inland mit neuartigen Importgütern zu konkurrieren. Um so wichtiger wird es, der Konkurrenz im innovatorischen Fortschritt laufend voraus zu sein. Es muß zu denken geben, daß von deutschen Unternehmen weniger die Rede ist, wenn von großen technischen Innovationen des letzten Jahrzehnts gesprochen wird. Dies gilt für die Telekommunikation und die Elektronik ebenso wie für die Biotechnologie und die Finanzdienstleistungen. Die Rolle deutscher Unternehmen in diesen „Innovationssektoren" steht in keinem Verhältnis zur führenden Rolle deutscher Unternehmen in den Innovationssektoren früherer Zeiten, wie der Chemie, der Elektroindustrie oder der Autoindustrie.
(4)
1898
Mangel an Innovationstätigkeit ist häufig die Folge eines M a n gels an Finanzmitteln. Neue Wirtschaftsaktivitäten benötigen in der Anfangphase viel Kapital zur Mobilisierung der erforder-
Wagniskapital
lichen Ressourcen. Dies gilt paradoxerweise für erfolgreiche Innovationen eher noch mehr als für weniger erfolgreiche: Je größer der Erfolg ist, u m so schneller will das Unternehmen wachsen, um den Erfolg zu nutzen. Auch wenn der Erfolg sich unmittelbar in hohen laufenden Gewinnen niederschlägt, reichen diese in der Regel nicht aus, um das vom Unternehmen gewünschte - und volkswirtschaftlich sinnvolle - weitere Wachstum ohne Kapitalzuführung von außen zu finanzieren. Die Begrenztheit der für Innovationen verfügbaren Finanzmittel ist nicht per se zu verurteilen. Z u effizientem Umgang mit knappen Ressourcen gehört es, daß nicht jede Idee finanziert wird, und daß eine anfangs vielversprechende Innovation nach Rückschlägen neu beurteilt und gegebenenfalls aufgegeben wird. Die Leistungsfähigkeit der Finanzsysteme ist unter anderem danach zu beurteilen, wie treffsicher sie bei der Auslese erfolgversprechender Innovationen sind. (5)
Das Finanzierungsproblem ist besonders akut bei jungen Unternehmen während oder kurz nach der Gründungsphase. Hier stehen im Normalfall keine Gewinne aus anderen Aktivitäten für eine Selbstfinanzierung zur Verfügung. Hier ist auch die Beurteilung der Erfolgschancen besonders schwierig. Andererseits sind gerade diese Unternehmen für die Innovationstätigkeit der Volkswirtschaft von besonderer Bedeutung. Innovationen bei etablierten Unternehmen, denen in größerem M a ß eigene Mittel zur Verfügung stehen, sind nicht minder wichtig. Wirklich bedeutende Neuentwicklungen treten freilich vielfach hinter Verbesserungsinnovationen zurück. Die in etablierten Unternehmen gegebene Bindung an vorgegebene Interessen und Entscheidungsmechanismen verringert tendenziell die Bereitschaft, etwas wirklich Neues zu unternehmen u n d die damit verbundenen Risiken einzugehen.
(6)
Bei der Finanzierung junger Unternehmen mit neuen Ideen sind in verschiedenen Ländern unterschiedliche Wege beschritten worden. In Deutschland herrscht neben der Selbstfinanzierung die Kreditfinanzierung vor, vor allem die Kreditfinanzierung durch Banken. In den USA dagegen spielt die Beteiligungsfinanzierung, und zwar auch durch private Direktanleger, eine wichtige Rolle. Unterschiede in den Finanzierungskulturen 18 9 9
Gutachten vom 25.126. April 1997
beruhen auf Unterschieden in der Kapitalmarktverfassung und nicht zuletzt auch auf Unterschieden der tradierten Erfahrungen und Verhaltensweisen. Das deutsche Rechtssystem legt bei den Unternehmen sehr viel mehr Gewicht auf den Gläubigerschutz als das amerikanische. Das amerikanische Rechtssystem gibt demgegenüber mehr Raum für eine effektive Vertretung der Interessen außenstehender Anteilsinhaber. Im amerikanischen Finanzsystem gibt es seit den dreißiger Jahren keine Institution mehr, deren Funktion der Allpräsenz der Banken im deutschen Finanzsystem vergleichbar wäre. Die Fragmentierung des Finanzsystems wie auch der einzelnen Finanzinstitutionen in den USA spiegelt ein auf die Anfänge amerikanischer Geschichte zurückgehendes populistisches Mißtrauen gegenüber einer möglichen Konzentration von Finanzmacht, das in der deutschen Geschichte so nicht zu finden ist. (7)
Die beiden Finanzsysteme haben unterschiedliche Vor- und Nachteile, ohne daß das eine oder das andere eindeutig als besser betrachtet werden könnte. Das deutsche System der externen Finanzierung durch Banken hat den Vorzug, daß eine seriöse Kreditwürdigkeitsprüfung viele unsinnige Ideen eliminiert, so daß die Erfolgschancen der Unternehmen und Projekte, die finanziert werden, vermutlich größer sind. Dem steht der Nachteil gegenüber, daß auch mehr Ideen eliminiert werden, die anfangs als unsinnig erscheinen, deren Realisierung im amerikanischen System aber hin und wieder zu spektakulären Erfolgen führt. Dieser Nachteil fällt dann besonders ins Gewicht, wenn die Banken sich bei der Kreditvergabe sehr risikoavers verhalten - sei es, weil dies ihren tatsächlichen Interessen entspricht, sei es, weil die Entscheidungsmechanismen innerhalb der Banken so strukturiert sind, daß die zuständigen Manager Risiken scheuen, auch wenn deshalb Chancen versäumt werden. Dem Vorteil eines relativ gut ausgebauten Gläubigerschutzes steht im deutschen Finanzsystem der Nachteil gegenüber, daß der Kapitalgeber im Rahmen eines Kreditvertrags nicht am Unternehmenserfolg teilhat, sondern nur im Falle eines Konkurses am Unternehmensmißerfolg. Dieser Nachteil fällt bei der Finanzierung junger, innovativer Unternehmen besonders ins
1900
Wagniskapital
Gewicht, da bei diesen die Unsicherheit über die Erfolgsaussichten besonders groß ist. Neben einigen, im Ausnahmefall sehr spektakulären, Erfolgen stehen viele Fehlschläge. Versucht nun ein Kapitalgeber, im Rahmen einer Mischkalkulation sicherzustellen, daß er im Querschnitt über die von ihm finanzierten Unternehmen die Kosten der erforderlichen Finanzmittel deckt, so macht es einen Unterschied, ob er als Anteilsinhaber an den hohen Gewinnen der wenigen spektakulären Erfolge beteiligt ist oder ob er als Gläubiger auch bei spektakulären Erfolgen nur den vereinbarten Schuldendienst erhält. Insofern verstärkt die Finanzierung durch Kredite anstelle von Anteilspapieren die Tendenz zu sehr vorsichtigem, manchmal auch übervorsichtigem Verhalten der Kapitalgeber. (8)
Aus der Sicht des Unternehmens hat die Kreditfinanzierung gegenüber der Beteiligungsfinanzierung den Nachteil, daß sie die gesamten Risiken des Unternehmens bei ihm beläßt. Insofern es sich um diversifizierbare Risiken handelt, die sich nach dem Gesetz der großen Zahl im Querschnitt über die gesamte Volkswirtschaft ausgleichen, ist dies Belassen der Risiken beim Unternehmer ineffizient. Die Ineffizienz wird im allgemeinen auch nicht dadurch ausgeglichen, daß der kreditfinanzierte Unternehmer sehr starke Anreize hat, sich tatkräftig um sein Unternehmen zu kümmern, da dessen Erfolg ihm voll zugute kommt. Insofern auf der Seite der Unternehmer auch eine gewisse Risikoscheu vorhanden ist, bewirkt die Ineffizienz der Risikoallokation bei reiner Kreditfinanzierung ein unzureichendes Angebot an Unternehmerinitiative und an Bereitschaft zur Gründung neuer und innovativer Unternehmen.
(9)
Es besteht Anlaß zu der Vermutung, daß die angesprochenen Schwächen des deutschen Finanzsystems heute von größerer Bedeutung sind als in früheren Zeiten. Dies gilt insbesondere für das Finanzierungsverhalten der Banken. Deutsche Banken haben im ausgehenden 19. Jahrhundert noch sehr bewußt - mit Krediten und Beteiligungskapital - zur Finanzierung riskanter Großprojekte beigetragen, und damit den Mythos von der Leistungsfähigkeit des bankdominierten Finanzsystems begründet. Heute ziehen Banken als Geldgeber bei der Unternehmensfinanzierung im Vergleich dazu die Kreditvergabe bei Stellung 1901
Gutachten v o m 2 5 - / 2 6 . April 1 9 9 7
von Sicherheiten vor. Dies erklärt sich daraus, daß einerseits der Einlegerschutz eine gewisse Risikoscheu der Banken erfordert und andererseits die Stellung von Sicherheiten die Anforderungen an die Sorgfalt der Kreditwürdigkeitsprüfungen und der laufenden Überwachung reduziert. Es führt aber dazu, daß junge Unternehmen, deren Kapital fast ausschließlich aus ihren Zukunftsaussichten besteht und die den Banken keine Sicherheiten stellen können, nur ungenügend Zugang zu Bankkrediten haben. Der Beirat hält es daher für erforderlich, die Möglichkeit der externen Finanzierung junger Unternehmen durch Beteiligungskapital zu verbessern. Dabei geht es zum einen um eine Verbesserung der rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für solche Märkte, zum anderen um den Abbau steuerlicher Benachteiligungen der Unternehmensfinanzierung durch Beteiligungskapital.
II. Mobilisierung von Beteiligungskapital für junge und mittelständische Unternehmen (10)
Eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Beteiligungsfinanzierung junger Unternehmen ist sowohl im vorbörslichen Bereich als auch beim Gang an die Börse anzustreben. Im einzelnen geht es um eine Erweiterung der Möglichkeiten zur Mobilisierung von Beteiligungskapital unterhalb der Ebene des Aktienmarktes durch Finanzintermediäre, um eine Reform des Systems der betrieblichen Altersversorgung zugunsten der Mittelanlage in Pensionsfonds und nicht zuletzt um eine Erweiterung der Organisation des Handels mit Beteiligungspapieren junger Unternehmen.
1. Mobilisierung (11)
1902
von Wagniskapital
über
Finanzintermediäre
Auf der Ebene unterhalb des Aktienmarktes ist eine Verbreiterung des bisher von Kapitalbeteiligungsgesellschaften getragenen Marktes für Wagniskapital wünschenswert, um jungen Unternehmen, die die Gründungsphase erfolgreich überstanden
Wagniskapital
haben, die aber für den Aktienmarkt noch nicht reif sind, die Akquisition von Beteiligungskapital plus Beratung zu erleichtern und einen breiten Kreis von Privatanlegern zur Wagniskapitalfinanzierung heranzuziehen. Anders als in den USA sind Privatanleger an der externen Eigenkapitalfinanzierung innovativer Unternehmen bisher nur wenig beteiligt. Dies gilt sowohl für direkte Beteiligungen als auch für indirekte Beteiligungen über Kapitalbeteiligungsgesellschaften.
Hinderungsgründe für eine breitere Beteiligung privater und institutioneller Anleger (12)
Die geringe Beteiligung von Privatpersonen an der externen Beteiligungsfinanzierung junger Unternehmen erklärt sich weitgehend durch Risikoscheu, Scheu vor einer längerfristigen Bindung der Mittel, fehlende Informationen über Anlagemöglichkeiten bei jungen Unternehmen, fehlende Sachkenntnis zur Beurteilung und Kontrolle der Investitionsentscheidungen der Unternehmen und nicht zuletzt auch durch unzureichende Kontrollmöglichkeiten gegenüber den Kapitalnehmern. Bei den meisten Privatpersonen sind diese Hinderungsgründe eine natürliche Folge des Umstands, daß ihre Vermögen zu gering sind, als daß ein größeres risikobehaftetes Engagement für sie sinnvoll wäre. Die vergleichsweise aktiven Märkte für steuerlich geförderte Abschreibungsmodelle aller Art zeigen aber, daß es durchaus Privatanleger gibt, die bereit sind, größere Beträge aufzubringen und ζ. T . erhebliche Risiken einzugehen, wenn dies zu Bedingungen möglich ist, die ihnen eine fundierte Abschätzung der spezifischen Risiken der Anlage gestatten, die Amortisierung des eingesetzten Kapitals zulassen und vor allem eine als fair eingeschätzte Beteiligung am Erfolg sichern.
(13)
Von zentraler Bedeutung ist die Frage, wie die bei einer externen Beteiligungsfinanzierung auftretenden Interessenkonflikte zwischen den Parteien gehandhabt werden. Der wichtigste dieser Konflikte betrifft die Aufteilung der Erträge im Erfolgsfall. Ein Kapitalgeber, der einen Unternehmensanteil hält, hat - anders als der Kreditgeber - keinen klar definierten Ertragsanspruch. Was er erhält, hängt davon ab, was als Unterneh1903
Gutachten vom 25.126. April 1997
menserfolg festgestellt wird. Dafür ist entscheidend, wie die jeweils gegebenen Bewertungsspielräume bei den Unternehmensaktiva genutzt werden. Weil im Normalfall ein erheblicher Teil der Unternehmensgewinne gar nicht ausgeschüttet, sondern zur Finanzierung weiteren Wachstums einbehalten wird, wird das Problem einer angemessenen Bewertung um so bedeutender. Die Einbehaltung von Erträgen liegt zwar gerade bei erfolgreichen jungen Unternehmen im gemeinsamen Interesse von Unternehmer und Kapitalgebern. Sie vergrößert aber die Unsicherheit der Kapitalgeber darüber, welche Erträge ihre Anteile letztlich erbracht haben und welche Vermögenswerte jeweils hinter den Anteilen stehen. Dabei ist zu betonen, daß diese Unsicherheit nur zum Teil objektiv gegeben ist. In erheblichem Maße hängt sie davon ab, wie die Verfügungsgewalt über die Vermögenswerte des Unternehmens verteilt ist und wer bestimmt, wie gegebene Bewertungsspielräume ausgefüllt werden. (14)
Z u m Schutz des Beteiligungskapitals können grundsätzlich zwei Mechanismen dienen. Der eine besteht darin, daß die Kapitalgeber von vornherein durch Mitsprache in die Führung des Unternehmens miteinbezogen werden. Dies hat den Vorteil, daß sie beim Ausfüllen von Verfügungs- und Bewertungsspielräumen unmittelbar mitreden und ihre Interessen vertreten können. Allerdings muß man dazu einen relativ hohen spezifischen Informations- und Überwachungsaufwand treiben, der sich nur lohnt, wenn man eine wesentliche Beteiligung am Unternehmen hält. Ein Nachteil dieses Mechanismus besteht darin, daß die Kapitalgeber möglicherweise dem Unternehmer in Entscheidungen hineinreden, von denen sie wenig verstehen, vielleicht auch darin, daß sie ihrerseits die ihnen eingeräumten Verfügungs- und Bewertungsspielräume so ausschöpfen, daß der Unternehmer um die angemessene Kompensation für seine unternehmerische Initiative gebracht wird. Für beides gibt es zahlreiche Beispiele aus der Praxis.
(15)
Ein alternativer Mechanismus zum Schutz der Kapitalgeber besteht in der Beschränkung der Dauer der Bindung an das Unternehmen. Beispielsweise können die Vertragspartner vorsehen, daß die Kapitalgeber ihre Mittel nach relativ kurzer Zeit,
1904
Wagniskapital
ζ. Β. nach drei bis fünf Jahren, wieder aus dem Unternehmen abziehen können. Die kurze Bindungsdauer verringert die Unsicherheiten, die für die Kapitalgeber entstehen, wenn alle Nettoauszahlungen auf den Sankt-Nimmerleinstag verschoben werden. Das Bewertungsproblem bei Rückzug oder Verkauf der Beteiligung wird dadurch nicht aufgehoben, aber doch entschärft. Aus der Sicht des Unternehmens birgt dieser Mechanismus zum Schutz der Kapitalgeber allerdings die Gefahr, daß der Erfolg, möglicherweise sogar die Existenz des Unternehmens, infrage steht, wenn die Mittel der Kapitalgeber aus dem Unternehmen abgezogen werden. Dieser Gefahr ist zu begegnen, wenn es organisierte Märkte für Beteiligungskapital gibt, vermittels derer die zur Ablösung der Erstkapitalgeber erforderlichen Mittel nicht vom Unternehmen selbst, sondern von anderen Anlegern aufgebracht werden. Die Funktionsfähigkeit der externen Eigenkapitalfinanzierung junger Unternehmen in den USA beruht ganz wesentlich darauf, daß schon relativ bald nach Unternehmensgründung der Zugang zum organisierten Kapitalmarkt möglich wird. Die Bereitschaft amerikanischer Kapitalgeber - Privatpersonen wie Finanzintermediäre - , Beteiligungskapital zur Verfügung zu stellen, wird daher vor allem in der Hoffnung auf relativ schnelle, in Einzelfällen außerordentlich hohe Gewinne bei der Börseneinführung getragen. Hier besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Funktionsfähigkeit der Beteiligungsfinanzierung für Unternehmen bei oder kurz nach der Gründung und der Zugänglichkeit und Funktionsfähigkeit der Märkte. Die angesprochenen Interessenkonflikte bestehen natürlich auch nach einer Einführung des Unternehmens an den organisierten Märkten weiter. Sie werden jedoch dadurch gemildert, daß der Unternehmer sich bei fortdauerndem Unternehmenserfolg und fortdauernder guter Behandlung der Aktionäre zusätzliche Eigenkapitalfinanzierungen von diesen Märkten erhoffen darf. Im übrigen bewirkt in den USA die Regulierung der Sekundärmärkte einen gewissen Schutz des Beteiligungskapitals, indem sie zum einen den Unternehmer veranlaßt, den Markt gründlich über sein Unternehmen zu informieren, und 1905
Gutachten vom 25.126. April 1997
ihn zum anderen der Drohung aussetzt, daß der Sekundärmarkt als Markt für Unternehmenskontrolle fungiert und ihm die Verfügungsgewalt über die Vermögenswerte des Unternehmens entzogen wird.
Zur Rolle von (17)
Finanzintermediären
Die Informations- und Kontrollprobleme bei der Beteiligungsfinanzierung junger Unternehmen führen dazu, daß eine direkte Beteiligung von Privatanlegern nur im Ausnahmefall von Leuten mit sehr großen Vermögen infrage kommt. Auf den erforderlichen Aufwand für eine sachgerechte Wahrnehmung von Kontroll- und Mitspracherechten wurde bereits hingewiesen, desgleichen darauf, daß solche Rechte Beteiligungen in Größenordnungen voraussetzen, die für die meisten Privatanleger nicht sinnvoll sind, auch im Hinblick auf die Ausgewogenheit der Risikostruktur ihres Gesamtvermögens. Aber schon die Auswahl geeigneter Unternehmen erfordert einen großen Aufwand. Nach den bisher vorliegenden Erfahrungen von Kapitalbeteiligungsgesellschaften müssen im Durchschnitt zehn Unternehmen intensiv geprüft werden, um eine als aussichtsreich einzuschätzende Beteiligung zu finden. Ohne die Expertise eines Mitarbeiterteams ist das nicht zu leisten. Die Einrichtung des Deutschen Eigenkapitalforums in Leipzig sowie eventuell entsprechender Informationszentralen bei Industrieund Handelskammern kann hier eine gewisse Erleichterung schaffen, sie wird aber den Prüfungsaufwand selbst nicht wesentlich reduzieren.
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Im Normalfall ist daher von einer Beteiligungsfinanzierung durch Intermediäre auszugehen, die den zur Behebung von Informations- und Kontrollproblemen erforderlichen Aufwand sozusagen stellvertretend für eine ganze Gruppe von Anlegern treiben. Informations- und Anreizprobleme bestehen natürlich auch im Verhältnis zwischen Anlegern und Intermediären, jedoch sind sie gewöhnlich kleiner als die Probleme im Verhältnis zwischen Privatanleger und Unternehmer bei einer Direktfinanzierung. Während man Spezialkenntnisse braucht,
Wagniskapital
um die Ergebnisrechnung des Unternehmers bei einer Direktfinanzierung zu beurteilen, kann man die Ergebnisrechnung eines Intermediärs auch ohne Spezialkenntnisse über die finanzierten Unternehmen beurteilen, indem man ζ. B. seine durchschnittliche Erfolgsquote mit den durchschnittlichen Erfolgsquoten anderer Institutionen vergleicht. Wenn Intermediäre viele Unternehmen finanzieren, gibt das Gesetz der großen Zahl gewisse Möglichkeiten, im Durchschnitt über die finanzierten Unternehmen Risiken auszugleichen, so daß man von den Unternehmensspezifika abstrahieren und aus dem Gesamtergebnis auf die Leistungsfähigkeit des Intermediärs zurückschließen kann. Die Möglichkeit der Diversifizierung durch den Intermediär gestattet es auch, die Risikokosten der Beteiligungsfinanzierung zu senken. (19)
Der Beitrag von Finanzintermediären in Deutschland auf dem Gebiet der Beteiligungsfinanzierung für junge Unternehmen ist insgesamt als enttäuschend einzuschätzen. Was zunächst Kapitalanlagegesellschaften angeht, so beteiligen sie sich praktisch nicht an der Bereitstellung von Wagniskapital für junge Unternehmen. Diese Gesellschaften befinden sich ganz überwiegend im Eigentum von Banken oder Versicherungen und sammeln durch Ausgabe von Investmentzertifikaten in spezialisierten Investmentfonds Kapital, das in diversifizierten Portfolios von Aktien, festverzinslichen Wertpapieren oder Immobilien angelegt wird. Von der Möglichkeit, im Wege von Beteiligungs-Sondervermögen auch stille Beteiligungen zu erwerben, wurde, soweit bekannt, kein Gebrauch gemacht. Um die nach dem Gesetz über Kapitalanlagegesellschaften (KAGG) vorgeschriebene jederzeitige Rücknahme der Investmentzertifikate zum Inventarwert zu sichern, halten die Kapitalanlagegesellschaften Liquidität vor und konzentrieren ihre Anlagen in der Regel auf marktgängige Vermögenstitel. Die Anlagemöglichkeiten sind zudem in vielfältiger Weise gesetzlich beschränkt.
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Im Unterschied zu Kapitalanlagegesellschaften beteiligen sich Kapitalbeteiligungsgesellschaften an der Wagniskapitalfinanzierung. Mit Ausnahme der bisher nicht sonderlich erfolgreichen Unternehmensbeteiligungsgesellschaften ist ihre Betätigung nicht gesetzlich geregelt. Kapitalbeteiligungsgesellschaften kön1907
vom 25.126. April 1997
nen sich daher unmittelbar in jeder Weise an Unternehmen beteiligen. Nach Angaben des Bundesverbandes Deutscher Kapitalbeteiligungsgesellschaften betrug zu Ende 1 9 9 6 das von diesen Gesellschaften insgesamt investierte Kapital 6 , 6 Mrd. D M bei einer durchschnittlichen Anlage je Unternehmen von rd. 2 Mio. D M . Bruttoinvestitionen in Höhe von knapp 1,4 M r d . DM standen Abgänge in Höhe von 0 , 6 Mrd. D M gegenüber. Der Beitrag der Kapitalbeteiligungsgesellschaften zur Förderung des Wachstums junger, innovativer Unternehmen hat sich jedoch letztlich in Grenzen gehalten. Es ist anzunehmen, daß das Risikoprofil dieses Teilmarktes mäßig ist. Dafür spricht, daß das Mittelaufkommen zu zwei Dritteln von Banken und Versicherungen getragen wird. Dafür spricht auch, daß die Totalverluste mit weniger als rd. 3 Prozent pro Jahr des investierten Kapitals bemerkenswert gering sind. Als nachteilig für das Risikoprofil ist auch zu werten, daß die öffentlich geförderten Beteiligungsgesellschaften ihre Kosten nicht aus Veräußerungsgewinnen decken, sondern durch Beteiligungsentgelte der Unternehmen. Die Förderung wird davon abhängig gemacht, daß das Beteiligungsentgelt 12 % nicht überschreitet und daß der Beteiligungsnehmer die Beteiligung jederzeit kündigen kann. Sie wird am Ende der Laufzeit zum Buchwert aufgelöst. Die Beteiligungsgesellschaften erzielen daher keine Veräußerungsgewinne, zugleich werden den Unternehmen Mittel entzogen, die anderenfalls zur Finanzierung der weiteren Expansion zur Verfügung ständen. Privatpersonen tragen bisher insgesamt nicht mehr als rd. 5 Prozent zum gesamten Mittelaufkommen der Kapitalbeteiligungsgesellschaften bei, und zwar offenbar über die Beteiligung an geschlossenen Venture Capital Fonds. Solche Fonds werden von Betreibergesellschaften aufgelegt, die in der Regel in der Rechtsform der G m b H oder der G m b H & Co. K G geführt werden. Die Betreibergesellschaft nimmt die Informations- und Kontrollfunktion für die Anleger gegenüber den Unternehmen wahr und unterstützt zugleich die Unternehmen beratend in Fragen der Organisation, der Produktvermarktung und der Akquisition von Führungspersonal.
Wagniskapital
Allerdings spielen solche Gesellschaften in Deutschland bisher keine nennenswerte Rolle. Breitere Anlegerkreise werden nicht erreicht. Ein Hauptgrund dafür ist, daß es in Deutschland keinen Sekundärmarkt gibt, der den Handel solcher Anlagen ermöglichte. Für die Anleger stellt sich bei diesen Konstruktionen das Anreiz- und Kontrollproblem in verschärfter Form, wenn sie nicht zu den Gesellschaftern der Betreibergesellschaft gehören. Zwar sind die Betreibergesellschaften prinzipiell in der Lage, ihre Anlagen in den jungen Unternehmen zu kontrollieren, aber die Rechtsform der Betreibergesellschaften ermöglicht es den Anteilseignern der aufgelegten Fonds nicht, die Betreibergesellschaften zu kontrollieren und damit auf die Qualität der Anlageentscheidungen Einfluß zu nehmen. Hinzu kommt, daß es für die Anleger keinen problemlosen Ausstieg gibt, weil ein Rückzug des Kapitals während der Laufzeit von in der Regel zehn Jahren ausgeschlossen ist, es sei denn der Anleger findet im Rahmen privatrechtlicher Vereinbarung jemanden, der seine Anlage übernimmt.
Zulassung (22)
von Wagniskapital
AGs
Um eine neue Perspektive für die Beteiligungsfinanzierung an jungen Unternehmen zu schaffen, bedarf es eines Marktes, der es vor der Unternehmensumwandlung in die Rechtsform der Aktiengesellschaft ermöglicht, Beteiligungen zu vertretbaren Kosten zu mobilisieren, und zwar ohne daß es zu einer Beeinträchtigung der Geschäftspolitik des betroffenen Unternehmens kommt. Die Beteiligungsform des Aktienerwerbs ließe sich mobilisieren, wenn die Unternehmensbeteiligungsgesellschaft, die bisher nur sehr begrenzten Erfolg hatte, weitgehend von den Begrenzungen des Gesetzes über Unternehmensbeteiligungsgesellschaften befreit würde. Der Beirat bestärkt daher die Bundesregierung in ihrer Absicht, im Rahmen des Dritten Finanzmarktförderungsgesetzes die Unternehmensbeteiligungsgesellschaften grundlegend zu deregulieren. Ihnen sollte es erlaubt werden, sich an jungen und mittelständischen Unternehmen jeder Rechtsform zu beteiligen. Auch die Aktien von bereits notierten Gesellschaften sollten erworben werden kön1909
vom 25./2Ö. April 1 9 9 7
nen. Die Zeitdauer, für die solche Beteiligungsgesellschaften eine Beteiligung halten müssen, um in den Genuß der steuerlichen Vorzugsbehandlung für Veräußerungsgewinne zu gelangen, sollte radikal verkürzt werden. Die Anlagepolitik dieser neuen Gesellschaft sollte grundsätzlich nur solchen gesetzlichen Regelungen unterworfen werden, die zwingend erforderlich sind, um steuerlichen Mißbrauch zu verhindern. Weil die neuen Gesellschaften die gesamte Palette der Beteiligungsfinanzierung betreiben könnten, würden sie je nach Schwerpunkt ihres Portfolios eher zu den Aktienfonds oder zu den Venture Capital Gesellschaften in Konkurrenz treten. Der große Vorzug dieser neuen Lösung besteht im Vergleich zu den Beteiligungsgesellschaften anderer Rechtsform darin, daß Beteiligungsgesellschaften in der Rechtsform der Aktiengesellschaft in der Lage wären, breitere Anlegerkreise für eine indirekte Beteiligung an risikoreichen jungen Unternehmen zu mobilisieren. Weil die Beteiligung nicht direkt erfolgt, sondern indirekt vermittels des Erwerbs von Aktien der Beteiligungsgesellschaft, kann die Beteiligung auch auf kleinere Beträge beschränkt sein und ist trotzdem diversifiziert und liquide. Die Anleger werden nicht anders gestellt als bei herkömmlichen Aktiengesellschaften. Allerdings handelt es sich bei den auf diese Weise finanzierten Beteiligungen um besonders risikoreiche Anlagen. Daher sollten für jene Gesellschaften, die sich hauptsächlich auf die Beteiligungsfinanzierung von jungen Unternehmen konzentrieren, der Geschäftszweck und das besondere Risikoprofil äußerlich kenntlich gemacht werden. Das könnte durch die Einführung der geschützten Bezeichnung „Wagniskapital AG" erreicht werden. Sie wäre daran zu knüpfen, daß die Beteiligungsgesellschaft, ggf. nach einer gewissen Anlaufzeit, mindestens 50 Prozent ihrer Aktiva in Beteiligungen an Unternehmen investiert hat, die nicht älter als zehn Jahre sind. Vom Management der Wagniskapital AGs kann erwartet werden, daß es im Interesse des eigenen Unternehmenserfolges seine Mitwirkungsrechte in den jungen Unternehmen und erforderliche Beratungsaufgaben effektiv wahrnehmen wird. Ebenso wird es daran interessiert sein, möglichst frühzeitig Ver-
Wagniskapital
äußerungsgewinne durch den Verkauf erfolgreicher Beteiligungen zu realisieren. Aufgrund ihrer Expertise wären die Wagniskapital AGs in der Lage, die Vorbereitung der Umwandlung junger Unternehmen in Aktiengesellschaften anstelle von Banken zu übernehmen und sie bei der Einführung in den Freiverkehr oder in den Geregelten bzw. Amtlichen M a r k t zu begleiten.
2. Mobilisierung von Beteiligungskapital der Gang an die Börse (24)
am
Aktienmarkt:
Die Funktionsfähigkeit externer Beteiligungskapitalfinanzierung beruht ganz wesentlich darauf, daß schon relativ bald nach Unternehmensgründung der Zugang zum organisierten Kapitalmarkt möglich wird. In den USA beträgt die durchschnittliche Zeit zwischen Unternehmensgründung und dem Börsengang nur etwa 14 Jahre. Die Bereitschaft amerikanischer Kapitalgeber, Beteiligungskapital zur Verfügung zu stellen, wird daher wesentlich getragen von der Hoffnung auf relativ schnelle und hin und wieder außerordentlich große Gewinne bei der Börseneinführung. In Deutschland dagegen erfolgen Aktienemission und Börsengang in der Regel sehr spät, nachdem die erste Expansionsphase, in der es einen großen Bedarf an Kapitalzuführung gibt, bereits abgeschlossen ist. Die in den Jahren 1 9 9 3 - 9 5 im Amtlichen Handel oder im Geregelten Markt 38 neueingeführten Unternehmen waren im Durchschnitt 4 1 Jahre alt. Zum Teil mag dies einen Mentalitätsunterschied spiegeln; tatsächlich ziehen viele mittelständische Unternehmen in Deutschland eine Finanzierung ihrer Investitionen über Selbstfinanzierung der Beteiligungsfinanzierung vor. Der erheblich frühere Börsengang junger Unternehmen in den USA beruht aber wesentlich auf der leichten Zugänglichkeit zur Börse und der Funktionsfähigkeit der dort gut organisierten Sekundärmärkte. Dieser Befund gibt Anlaß zu prüfen, wie auch in Deutschland jungen Unternehmen der Zugang zum Aktienmarkt erleichtert werden kann.
1911
G u t a c h t e n vom 25.126.
April 1 9 9 7
Zugang zum Geregelten Markt und Amtlichen (25)
Handel
Vielen jungen Unternehmen erscheinen die Umwandlung in die Rechtsform der Aktiengesellschaft und der Börsengang als wenig attraktiv. Verwiesen wird immer wieder auf die damit verbundenen besonderen Publizitätsanforderungen und auf die als zu hoch angesehenen Kosten des Börsengangs. Von ausschlaggebender Bedeutung für das relativ geringe Interesse junger Unternehmer an einer frühzeitigen Börseneinführung dürfte die faktisch hohe Eintrittsbarriere sein, die auf die dominierende Rolle der Banken im Emissions- und Börsengeschäft zurückzuführen ist. Sämtliche Emissionen bedürfen bisher der Börsenbegleitung durch eine Bank, und zwar auch dann, wenn wie im Geregelten Markt der Zulassungsantrag nach dem Börsengesetz von einer Nichtbank gestellt werden kann. Die Banken kontrollieren die 1991 als Aktiengesellschaft neugegründete Frankfurter Wertpapierbörse über den Mehrheitsbesitz am Aktienkapital und über ihre Vertretung im Börsenrat. Entsprechendes gilt für die öffentlich-rechtlichen Regionalbörsen. Die Bankenvertreter spielen zudem in den Zulassungsausschüssen aller Börsen eine einflußreiche Rolle, wo sie die Hälfte der Sitze einnehmen. Diese institutionellen Bedingungen haben zur Folge, daß die Definition der Börsenreife eines Unternehmens nicht durch die gesetzlichen Zulassungsvoraussetzungen bestimmt ist, sondern faktisch wesentlich durch die Vorstellungen der Banken geprägt wird. An und für sich muß ein Emittent für die Zulassung zum Amtlichen Handel nur drei Jahre bestehen, ein Plazierungsvolumen von nur 2,5 Mio. DM beantragen und 25 Prozent der Aktien für die Plazierung beim Publikum anbieten. Für die Zulassung zum Geregelten Markt genügt sogar ein Plazierungsvolumen von 500 TDM. Faktisch kommen Emissionen solch geringen Umfangs nicht vor. So betrug im Zeitraum 1990-95 das durchschnittliche Volumen der Neuemissionen 19 Mio. DM. Auch die Anforderungen hinsichtlich des Mindestumsatzes börsenwilliger Unternehmen werden von vielen Emissionsbanken mit 100 Mio. DM und mehr sehr hoch gesteckt.
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Wagniskapital
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Die Tatsache, daß Banken dazu tendieren, die Kriterien der Börsenreife so hoch anzusetzen, daß sie von jungen Unternehmen in der Regel nicht erfüllt werden können, erklärt sich zum Teil aus einer generellen Risikoaversion. Sie hat aber auch sehr handfeste Gründe. Zum einen geht es um die Kosten der Emissionsbegleitung, zum anderen um Risiken aus der Prospektund Beratungshaftung gegenüber den Anlegern. Die Börseneinführung kleiner Unternehmen lohnt sich aus der Sicht der Banken offenbar nicht. Die Bankenprovision liegt bei durchschnittlich 5 Prozent. Hinzu kommen Marketing- und Beratungskosten. Wie aus Bankenkreisen zu hören ist, sind die „Mindestkosten" der Emissionsbegleitung mit mehr als 5 0 0 T D M anzusetzen. Das bedeutet für die Unternehmen, daß der Börsengang zu teuer wird, sofern das Emissionsvolumen unter 10 M i o . D M liegt. Die neuen Aktien werden dem Publikum über den Vertriebsapparat der Banken angeboten. Da junge Unternehmen in der Regel noch nicht über eine gefestigte Marktstellung und Entwicklungsperspektive verfügen, besteht ein erhöhtes Konkursrisiko. Jedenfalls sind weder größere Kursschwankungen noch ein Kursrückgang unter den Emissionskurs auszuschließen. Die Banken müssen damit rechnen, daß in Verlustfällen die Kunden ihnen das anlasten. Die Haftungsdauer für die Angaben des Emissionsprospekts und für die Anlageberatung beträgt bisher 5 bzw. 3 0 Jahre. Diese Bestimmungen verstärken die Risikoaversion der Banken und mindern ihr Interesse an der Börseneinführung junger Unternehmen.
(27)
Insgesamt ergibt sich der Befund, daß junge Unternehmen durch eine zu hohe Eintrittsbarriere vom Börsengang abgehalten werden. Der Beirat unterstützt daher nachdrücklich die Absicht der Bundesregierung, die Hemmnisse für den Börsengang und den Börsenhandel von kleineren Unternehmen abzubauen. Ordnungspolitisch gesehen wird es entscheidend darauf ankommen, den Wettbewerb im Emissionsgeschäft zu stärken. Dazu ist es erforderlich, daß eine größere Anzahl ausländischer Emissionshäuser und Finanzdienstleister hierzulande Fuß fassen kann. Dem wird die mit dem Gesetzentwurf zur Umsetzung von EG-Richtlinien zur Harmonisierung von bank- und wert1913
Gutachten vom 15.126. April 1 9 9 7
papieraufsichtsrechtlichen Vorschriften inzwischen auf den Weg gebrachte Verringerung der Zutrittsbarriere zum Emissionsgeschäft dienlich sein. Die Mindestanforderung an das Anfangskapital von Emissionshäusern soll von bisher 5 auf weniger als 1 Mio. ECU herabgesetzt werden. Der Beirat hält allerdings auch die Zusammensetzung der Zulassungsausschüsse der Börsen für revisionsbedürftig. Unter dem Einfluß der Emissionsbanken handhaben die Zulassungsausschüsse die Kriterien der Börsenreife eines Unternehmens zu restriktiv. Daran dürfte sich wenig ändern, wenn nicht die Anzahl der Vertreter von Banken in diesen Ausschüssen deutlich verringert wird. Schließlich gilt es, die Haftungsrisiken von Banken und Wertpapierdienstleistern stärker einzugrenzen. Der Beirat begrüßt daher die Absicht der Bundesregierung, im Rahmen des Dritten Finanzmarktförderungsgesetzes die Verjährungsfrist für Ansprüche aus der Prospekt- und Beratungshaftung drastisch zu verkürzen. Die vorgesehene Verkürzung auf einen Zeitraum von nur drei Jahren könnte allerdings das Interesse des breiten Publikums an der Anlageform der Aktie beeinträchtigen.
Ein neuer Markt für die kleine (28)
Aktiengesellschaft?
Vielen geeigneten jungen Unternehmen erscheint der Sprung in den organisierten Aktienmarkt angesichts der hohen Eintrittsbarrieren offensichtlich als zu schwierig. Das könnte dafür sprechen, einen neuen spezialisierten Markt mit erleichtertem Zugang zu schaffen als Vorstufe zum Eintritt in den Amtlichen Handel. Ein solcher Markt könnte auch das Exit-Problem der Venture-Capital Fonds lösen. Eine Grundbedingung der Zulassung zu diesem Markt wäre die Umwandlung des Unternehmens in die Rechtsform der „kleinen Aktiengesellschaft", deren wesentliches Kennzeichen bisher ist, daß sie nicht börsennotiert ist. Die Einführung der kleinen AG hat sich als offenbar attraktiv erwiesen. In den Jahren 1994 und 1995 ist es zur Neueintragung von rd. 5 6 0 Aktiengesellschaften gekommen. Das ist viel
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Wagniskapital
im Vergleich zu den Ende 1995 knapp 700 börsennotierten und insgesamt rd. 3.800 Aktiengesellschaften. Etwa zwei Drittel waren Neugründungen, wobei sehr häufig der Aktien-Nennbetrag von 5 D M gewählt wurde. Zu den wichtigsten Motiven bei Umwandlungen zählte die Eröffnung der Option des Börsengangs, der Wunsch, den Kreis der Anteilseigner außerbörslich zu vergrößern, und die Trennung von Management und Gesellschafterkreis bei Familiengesellschaften. Es ist vorstellbar, daß sich eine noch weit größere Anzahl kleiner Unternehmen für die kleine AG interessieren würde, wenn mit dieser Rechtsform die Aussicht verbunden wäre, in einem vereinfachten und zugleich kostengünstigeren Verfahren an einem neuen Markt zugelassen zu werden, der eine regelmäßige Notierung garantiert. Ein Vorbild für diesen neuen Markt könnte der „alternative investment market (AIM)" bilden, der 1995 von der London Stock Exchange mit Zielrichtung auf kleine Unternehmen eingerichtet worden ist. Innerhalb von nur einem Jahr ist die Anzahl der an diesem Markt notierten Unternehmen von 10 bei Beginn auf 166 gestiegen. Berücksichtigt man, daß 88 Unternehmen aus einem anderen Segment der London Stock Exchange wechselten, das 1995 geschlossen wurde, so kam es immer noch zu 78 Neueinführungen im ersten Jahr von AIM. Die besonderen Kennzeichen dieses Marktes sind: es gibt keine Anforderungen an die Mindestgröße des Unternehmens in bezug auf Grundkapital und Umsatz, es wird nicht verlangt, daß sich ein bestimmter Prozentsatz des Grundkapitals in Streubesitz befinden muß, und der Börsengang muß nicht mit einer Kapitalerhöhung verbunden werden. Bemerkenswert ist, daß der AIM sich tatsächlich auch für kleine Unternehmen als attraktiv erweist. So betrug Ende 1996 das Grundkapital von rd. 50 Unternehmen weniger als 10 Mio. D M und von 18 Unternehmen sogar weniger als 5 Mio. DM. Jedes Unternehmen muß bei der Zulassung die Betreuung durch einen an dem AIM zugelassenen Finanzberater nachweisen. Er betreut die Markteinführung, garantiert für die Einhaltung der Zulassungsvoraussetzungen und bleibt auch nach Einführung weiterhin dafür verantwortlich, daß das Unternehmen die 1915
Gutachten vom 25.126. April 1997
geforderten Publizitätsstandards erfüllt. Das Unternehmen muß außerdem einen Broker benennen, der die Verpflichtung übernimmt, die Aktie zu handeln. Der Broker muß Mitglied der London Stock Exchange sein und hat für das Informationssystem von AIM periodisch Bericht über Handelsumsätze, Streubesitz, Gewinn nach Steuern und Dividende zu erstatten. Der Broker kann auch für die Aufgaben des Finanzberaters benannt werden. (30)
Inzwischen hat die Deutsche Börse AG in Frankfurt den „Neuen Markt" eingerichtet, der ebenfalls auf junge, zukunftsweisende Unternehmen zielen soll. Auch an diesem Markt sollen „Betreuer", zu denen neben namhaften Banken auch Beratungsunternehmen und Wirtschaftsprüfer gerechnet werden, die Einführung begleiten, für die Liquidität der Aktie sorgen, über den Handel informieren und zukünftige Kapitalerhöhungen begleiten. Aber im Unterschied zum englischen AIM gibt es hier Mindestanforderungen für das Emissionsvolumen (10 Mio. DM) und den Streubesitz (mindestens 15, möglichst 25 Prozent). Darüber hinaus soll die Emission zu möglichst über 50 Prozent der Kapitalerhöhung dienen. Mit diesen Anforderungen ist auch für dieses Marktsegment eine Eintrittsbarriere geschaffen worden, die nur wenige junge Unternehmen werden überspringen können. Der Neue Markt wird daher das Problem nicht lösen, den jungen Unternehmen eine Börseneinführung in einem im Vergleich zum Amtlichen Handel attraktiven, weil leichter zugänglichen Markt, zu ermöglichen.
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Zu den Marktzulassungsbedingungen, die insbesondere kleine Unternehmen als problematisch empfinden, gehören die Publizitätspflichten. Kleine Unternehmen befürchten, daß die laufende Veröffentlichung aktueller Zahlen über Umsatz, Gewinn usw. allzuviel Information über ihre Strategien am Markt offenlegt und so ihre Position gegenüber der Konkurrenz schwächt. Abstriche an allgemeinen Publizitätserfordernissen sind dort vertretbar, wo die Kapitalgeber die wirtschaftlichen und rechtlichen Möglichkeiten haben, sich unmittelbar die für ihre Anlagenentscheidungen und für die Wahrnehmung ihrer Mitspracherechte erforderlichen Informationen zu besorgen. Dies dürfte etwa für Gesellschafter einer GmbH oder KG mit
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Wagniskapital
relativ großen Anteilen, von beispielsweise 1 0 0 . 0 0 0 , - T D Μ oder mehr, zutreffen. Für solche Anleger ist ein Schutz durch allgemeine Publizitätspflichten nicht erforderlich. Allerdings wäre es nicht leicht, gegebenenfalls einen Handel in solchen Anteilen zu organisieren. Es ist zu befürchten, daß die dazu erforderlichen M ä r k t e - organisiert oder nicht - nicht sehr liquide sein können. Der Marktliquidität steht zum einen die vergleichsweise geringe Größe der hier angesprochenen Anlegerschicht entgegen, zum anderen der Umstand, daß potentielle Käufer jeweils erst einen erheblichen eigenen Aufw a n d treiben müssen, um sich über die angebotenen Titel und die dahinterstehenden Unternehmen zu informieren. Will man einen liquiden M a r k t mit verläßlich organisiertem Handel, so wird man auf Publizität nicht verzichten können. Das gilt auch, und gerade dort, wo man auf die Beteiligung institutioneller Anleger an den M ä r k t e n hofft. Die internationalen Erfahrungen zeigen, daß institutionelle Anleger, wie beispielsweise die amerikanischen Pensionsfonds, auf eine hohe standardisierte Unternehmenspublizität Wert legen, weil dadurch für sie das Anlagerisiko - wie auch das Haftungsrisiko gegenüber ihren eigenen Kapitalgebern - vertretbar eingegrenzt wird und unverhältnismäßige Kosten eigener Unternehmensbeobachtung und -diagnose vermieden werden können. Auf die international üblichen Publizitätsstandards kann daher nicht verzichtet werden. Sie sind ebenso wie die Homogenität der gehandelten Titel und der mit diesen Titeln verbundenen Verfügungsrechte Grundvoraussetzung für Markliquidität. Dagegen wäre es notwendig, und wie das Vorbild des AIM zeigt, auch vertretbar, die übrigen Zulassungsbedingungen erheblich zu senken, um jungen Unternehmen den Marktzugang zu erleichtern. Soweit dies nicht von Seiten der bestehenden organisierten M ä r k t e erfolgt, wäre die Einrichtung eines alternativen Marktes mit niedrigen Zulassungsvoraussetzungen wünschenswert. Auch in Deutschland könnte ein solcher alternativer M a r k t nicht nur für Unternehmen von Interesse sein, die vom Gang an die Börse durch die faktisch hohe Eintrittsbarriere abgehalten werden. Wenn der alternative M a r k t von Brokern organisiert würde, die für Liquidität sorgen, dann 1917
Gutachten vom 25.126. April 1 9 9 7
könnte es auch dazu kommen, daß Unternehmen aus dem relativ wenig liquiden Geregelten M a r k t an den alternativen M a r k t wechseln. O b w o h l in gesamtwirtschaftlicher Sicht die Gründung eines funktionsfähigen alternativen Marktes sehr erwünscht wäre, k o m m t eine staatliche Organisation erfolgreicher
nicht in Betracht.
Ein
M a r k t , der zu den bisherigen Börsen in Konkur-
renz tritt, könnte nur von privaten Emissionshäusern geschaffen werden. Die von der Bundesregierung vorgesehene Herabsetzung des Mindestgrundkapitals von Emissionshäusern und die EU-Richtlinie für die Betätigung von Finanzdienstleistern dürften dazu führen, daß in Zukunft mehr ausländische Häuser versuchen werden, im deutschen Emissionsgeschäft Fuß zu fassen. Sie könnten eine alternative Marktorganisation gründen und aus Eigeninteresse den Einfluß der deutschen
Banken
begrenzen. Sollte es dazu kommen, so könnte es allerdings angezeigt sein, die Zulassungen an diesem M a r k t zeitlich eng begrenzt (nur im ersten J a h r der Marktgründung) zu fördern.
3. Mobilisierung (33)
von Beteiligungskapital
durch
Pensionsfonds
Für die Beteiligungsfinanzierung insgesamt, und damit auch für die junger Unternehmen, ließe sich ein beträchtliches
Mit-
telaufkommen mobilisieren, wenn es auch in Deutschland zur Errichtung von Pensionsfonds angelsächsischen Typs
käme.
Deshalb ist daran zu denken, das System der betrieblichen Altersversorgung entsprechend zu reformieren. Die insgesamt von den Unternehmen im Rahmen freiwilliger Vereinbarungen bereitgestellten Deckungsmittel für die betriebliche Altersversorgung betragen rd. 5 0 0 M r d . D M . Der Betrag entspricht rd. 6 0 Prozent der Kapitalisierung inländischer Aktiengesellschaften. In den Vereinigten Staaten wird das Mittelaufkommen
der
betrieblichen
als
Altersversorgung
über
Pensionsfonds,
die
Finanzintermediäre dienen, in den Kapitalmarkt gelenkt. Diese Fonds spielen daher eine bedeutende Rolle in der Beteiligungsfinanzierung. In Deutschland dagegen ist das nicht der Fall, 1918
Wagniskapital
weil der größte Block (rd. 56 Prozent) in Form von Pensionsrückstellungen in den Unternehmen verbleibt. Z u m kleineren Anteil werden Deckungsmittel auch an externe Institute, wie Pensionskassen, Unterstützungskassen und Lebensversicherungen, geleitet und von diesen im Kapitalmarkt angelegt, allerdings weit überwiegend nicht in Form von Beteiligungskapital. Das praktizierte deutsche System der betrieblichen Altersversorgung ist in gesamtwirtschaftlicher Sicht wenig effizient. Das liegt zum einen daran, daß die Vorsorgeaufwendungen der Unternehmen im wesentlichen durch das Prinzip der Zusage einer definierten zukünftigen Auszahlungsleistung (defined benefit) bestimmt werden. In der Regel handelt es sich um einen festen Prozentsatz des letzten Gehalts, das mit der allgemeinen Lohnentwicklung fortgeschrieben wird. In den Vereinigten Staaten dagegen spielt das alternative Prinzip einer fest bestimmten Beitragsleistung (defined contribution) eine immer größere Rolle. Der große Vorzug dieses Prinzips ist, d a ß die Mittel dem Grundsatz nach ertragsmaximierend angelegt werden und daher für Beteiligungsfinanzierung zur Verfügung stehen. Demgegenüber fördert in Deutschland die Zusage einer festen Auszahlungsleistung eine Anlagepolitik von Pensionskassen, in der das Sicherheitsdenken dominiert und dementsprechend fast ausschließlich in festverzinslichen Wertpapieren und anderen Schuldtiteln angelegt wird. Z u m anderen verhindert die weitgehende Stützung der betrieblichen Altersversorgung auf das Instrument der Pensionsrückstellungen, daß diese Mittel effizient genutzt werden. Sie werden nicht durch spezialisierte Finanzintermediäre über den Kapitalmarkt in die erfolgversprechendsten Verwendungen gelenkt, sondern dienen dem aufwendenden Unternehmen als eine kostengünstige Finanzierung, denn würden die Mittel alternativ als Beiträge einem Finanzintermediär übertragen, so müßten die Unternehmen zum Ersatz im Kapitalmarkt Mittel zum herrschenden Kapitalmarktzins aufnehmen. Mit Pensionsrückstellungen sind spezifische Risiken f ü r die Wirtschaft verbunden. Für die Unternehmen birgt das System der Pensionsrückstellungen bei rückläufiger Beschäftigung 1919
Gutachten vom 25./26. April 1997
erhebliche Gefahren. Eine immer kleinere Anzahl an Mitarbeitern muß die Pensionszahlungen für einen hohen Bestand an Pensionsberechtigten erwirtschaften. Soweit im Falle eines daraus resultierenden Konkurses der Pensionssicherungsverein eingreifen muß, wird dies zum Problem für den gesamten Unternehmenssektor und damit auch der Arbeitnehmer. (35)
Der Beirat spricht sich dafür aus, die Bedingungen des Systems der betrieblichen Altersversorgung so zu ändern, daß für große wie für mittelständische Unternehmen gleichermaßen der Anreiz entsteht, die laufenden Aufwendungen als anlagesuchendes Kapital dem Kapitalmarkt verfügbar zu machen. Zu diesem Zweck wäre die steuerliche Abzugsfähigkeit der Zuführungen zu Pensionsrückstellungen aufzuheben und durch eine einheitliche Abzugsfähigkeit betrieblicher Pensionsprämienzahlungen an spezialisierte Finanzintermediäre, wie Pensionsfonds und Lebensversicherungen, zu ersetzen. Was die steuerliche Behandlung der Arbeitnehmer angeht, so gibt es alternative Lösungen. Entweder werden die Vorsorgeleistungen als Einkommen behandelt und daher sofort besteuert, während die späteren Auszahlungen steuerfrei bleiben, oder es werden die Einzahlungen steuerfrei gestellt und dafür die Auszahlungen der Einkommensteuer unterworfen. Welche Lösung gewählt wird, sollte im Gesamtzusammenhang der Besteuerung der Alterseinkünfte entschieden werden. Bezüglich der Erträge, die zwischenzeitlich bei den Gesellschaften anfallen, sollte eine Doppelbesteuerung ausgeschlossen sein. In jedem Fall sollte die gewählte Lösung auf alle Arten von Pensionsverträgen gleichermaßen angewendet werden.
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1920
Zugleich wären gesetzliche Grundlagen für die Errichtung von Pensionsfonds zu schaffen. Der Bundesverband deutscher Investmentgesellschaften hat vorgeschlagen, im Rahmen des Gesetzes über Kapitalanlagegesellschaften die Einrichtung von „Pensions-Sondervermögen" zu regeln. Der Verband der Deutschen Versicherungswirtschaft hat als alternatives Modell die Fortentwicklung des Modells der Pensionskasse in eine „EuroPensionskasse" vorgeschlagen. Beide Lösungen ermöglichen, daß Arbeitnehmer im Rahmen ihrer privaten Altersvorsorge zusätzliche Verträge abschließen. Ein Unterschied der Lösungen
Wagniskapital
besteht in ihren Zielsetzungen. Die Zielsetzung von PensionsSondervermögen ist, mit festgelegten laufenden Einzahlungen für einen vorbestimmten Zeitpunkt eine größtmögliche, freilich unsichere Auszahlung zu erreichen. Die Zielsetzung von Pensionskassen ist demgegenüber, zum vorbestimmten Versorgungszeitpunkt eine vereinbarte Zahlungsverpflichtung sicherzustellen. Die unterschiedlichen Zielsetzungen legen unterschiedliche Anlagestrategien nahe. Für Pensions-Sondervermögen gilt es, dominant substanzwertorientiert zu investieren, also vorwiegend in Beteiligungswerte und auch in Immobilien. Pensionskassen werden dagegen in höherem Maße Anleihen und Schuldforderungen erwerben, um die Kapitaldeckung der vorgegebenen Auszahlungsverpflichtungen zu sichern. Es wäre allerdings wünschenswert, die im Rahmen der Anlagevorschriften gegebenen Spielräume zum Erwerb von Substanzwerten stärker als bisher ausnutzen. (37)
Beide Formen der Altersvorsorge haben ihre Berechtigung und es entspräche den Grundsätzen unserer Wirtschaftsordnung, den betroffenen Arbeitnehmer selber in Absprache mit seinem Arbeitgeber entscheiden zu lassen, welcher Lösung er den Vorzug gibt oder auch eine Kombination beider Lösungen zu wählen. Zugleich ist vorstellbar, daß alle Lösungen von einer Institution angeboten werden. Der Beirat empfiehlt daher, in einem eigenständigen Gesetz über Pensionsfonds die erforderlichen Regelungen für alle Typen von Pensionsfonds zu schaffen. In diesem Gesetz sollten auch Vorschriften zur Organisation von unternehmenseigenen Pensionsfonds erlassen werden. Im Hinblick auf sonstige Formen privater Altersvorsorge ist Wettbewerbsneutralität anzustreben.
III. Wirkungen (38)
des Steuersystems
auf die
Wagniskapitalfinanzierung
Der innovatorische Fortschritt und damit das Wachstum einer Volkswirtschaft wird auch wesentlich beeinflußt von der Art des Steuersystems. Jede Form von Besteuerung belastet unvermeidlich die Einkommenschaffung und damit die Entwicklungsmöglichkeiten der Gesamtwirtschaft. Deshalb ist es von grundlegender Bedeutung, daß der Staat seine Inanspruchnah1921
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me von Ressourcen auf das Unabweisbare begrenzt. Zugleich sollte das Steuersystem im Grundsatz entscheidungsneutral wirken. Neutral wäre ein Steuersystem, das alle Arten letztendlicher Einkommensverwendung in gleicher Weise belastet. Das bedeutet konkret, das Steuerrecht sollte die Bereitschaft der Privaten nicht behindern, auf Konsum zugunsten von Ersparnis und damit Kapitalbildung zu verzichten, nach Innovationsmöglichkeiten zu suchen, Risiken einzugehen und arbeitsplatzschaffende Investitionen vorzunehmen. Es bedeutet auch, daß die Entscheidungen der Unternehmen über die Finanzierung von Investitionen aus Gewinnen und neuaufgenommenen Beteiligungskapital oder mit Bankkrediten und die Wahl der Unternehmensrechtsform nicht durch das Steuerrecht beeinflußt werden sollten. Von dieser Grundlinie abweichend kann es in Frage kommen, die steuerliche Belastung für bestimmte risikoträchtige Tatbestände gegenüber der Neutralitätsnorm zu verringern - aus meritorisch-gesellschaftspolitischen Gründen und aus Wachstums- und konjunkturpolitischen Gründen. Aber jede spezifische Abweichung wäre im einzelnen zu begründen. Es wäre verfehlt zu versuchen, der Wagniskapitalfinanzierung durch eine Vielzahl spezieller Steuerbefreiungen aufzuhelfen. Nur im besonderen Ausnahmefall erscheint eine steuerliche Entlastung das angemessene Mittel für solche Spezialförderung. Die Besteuerung von unternehmerischen Erträgen ist gerade auch für die Entwicklung junger innovativer Unternehmen von großer Bedeutung. Zum einen belastet die Besteuerung der laufenden Erträge unmittelbar die zur Wachstumsfinanzierung zur Verfügung stehenden Mittel. Zum anderen beeinträchtigt die Ertragsbesteuerung die Leistungsbereitschaft der Unternehmen. Bei kleinen Unternehmen liegen die gewinnabhängigen Steuern vor allem nicht nur auf der Normalverzinsung des Kapitals und der Risikoprämie, sondern auch auf dem Leistungsentgelt für all das, was den Unternehmer ausmacht, seine Tüchtigkeit und seine Bereitschaft, sich krummzulegen, wenn etwas schief geht oder schiefzugehen droht. J e höher dieses Leistungsentgelt besteuert wird, um so weniger unternehmerische Leistung wird der Volkswirtschaft zur Verfügung gestellt werden.
Wagniskapital
In diesem Z u s a m m e n h a n g wird häufig argumentiert, d a ß die Besteuerung unternehmerischer Erträge möglicherweise die Wagnisbereitschaft der Unternehmer erhöht. Dies wird damit begründet, daß eine solche Besteuerung auch ein Element der Risikopartnerschaft zwischen Staat und Investor in sich trägt. Insbesondere wenn die steuerliche Verrechnung von Verlusten mit Einkünften aus anderen Quellen möglich ist, kann dies einen Anreiz geben, sich für riskantere Projekte zu entscheiden. Die empirische Relevanz dieses Arguments ist umstritten. An dieser Stelle genügt es festzustellen, daß die Möglichkeit der Verlustverrechnung mit anderen Einkünften gerade bei jungen Unternehmen keine Rolle spielt, denn diese Unternehmen verfügen nicht über solche Einkünfte. Von einer Risikopartnerschaft zwischen dem Staat und dem Unternehmer kann dann nicht die Rede sein. Der Staat beteiligt sich zwar an den Gewinnen, doch leistet er keinen Beitrag zur Finanzierung der Verluste. Z u r Rolle der Steuern ist ferner zu bedenken: J e stärker die steuerliche Gesamtbelastung von den Investitionen und der privaten Ersparnis zum K o n s u m verlagert wird, um so mehr lohnt es sich, zu sparen und damit zur Finanzierung der E x p a n s i o n von Realkapitalbestand, Beschäftigung und Produktion beizutragen. Im Unterschied zur Mehrwertsteuer und zu Verbrauchsteuern begünstigt die bisher gültige F o r m der Einkommenbesteuerung den gegenwärtigen K o n s u m , weil sowohl der der Ersparnis zugeführte Teil des G e s a m t e i n k o m m e n s wie auch die zu erzielenden Erträge besteuert werden. Günstiger unter dem Gesichtspunkt arbeitsplatzschaffender Kapitalbildung wäre es, diese Doppelbesteuerung zu vermeiden und zu einer k o n s u m orientierten Einkommensbesteuerung überzugehen. Als einen Schritt in diese Richtung hatte der Beirat in seinem jüngsten Gutachten „Anstehende große S t e u e r r e f o r m " die H e r a u s n a h m e von Zins- und anderen Kapitaleinkünften aus der bisherigen Einkommenbesteuerung und die Einführung einer Abgeltungssteuer auf diese Erträge mit niedrigem Satz vorgeschlagen. D a m i t würde ein Orientierungspunkt für eine schedularsteuerliche Behandlung sämtlicher Kapitalerträge geschaffen - mit der längerfristigen Perspektive, für steuerliche Z w e c k e zu einem zinsbereinigten Einkommenbegriff überzugehen. 1923
Gutachten vom 25.126. April 1 9 9 7
(41)
In seinem Gutachten zur Steuerreform hat sich der Beirat mit einer Reihe von Argumenten zur Frage der Senkung der Grenzsteuersätze auseinandergesetzt. Insgesamt gesehen erscheint die Einschätzung unabweisbar, daß in Deutschland vorrangig für eine Senkung der Grenzsteuersätze zu sorgen ist und es dabei keine Abstriche geben darf. Es geht dabei nicht nur um Investitionsentlastung und Stärkung der Kapitalbildung, sondern es geht insbesondere auch darum, durch steuerliche Entlastung den innovatorischen Fortschritt zu fördern, damit die deutschen Unternehmen im internationalen Wettbewerb nicht zurückfallen. Senkung der Grenzsteuersätze ist die wichtigste, freilich nicht einzige Reformaufgabe. So sollte jegliche Form von Doppelbesteuerung und jede steuerliche Sonderbelastung des Entgelts für Risikoübernahme vermieden werden auf dem Weg der Ersparnisse vom Anleger über Finanzintermediäre bis hin zum investierenden Unternehmen. Von einer Besteuerung von Kursgewinnen bei Aktien und anderen Beteiligungstiteln ist abzuraten. Der Beirat bekräftigt auch seine Auffassung, daß sämtliche Sonderabschreibungen aufgehoben werden sollten, weil sie Kapitalfehllenkung begünstigen. W o im Ausnahmefall eine Kapitallenkung als unabweisbar erscheint, sollte sie in der offenen Form einer zeitlich begrenzten Subvention auf der Ausgabenseite des Staatshaushalts bewirkt werden.
Schlußbemerkung (42)
1924
Wenn man versucht, durch Änderungen von Rahmenbedingungen jungen Unternehmen den Zugang zu den Aktienmärkten zu erleichtern und zugleich die Möglichkeiten für eine indirekte Beteiligung von Privatanlegern an der Finanzierung von Wagniskapital über Finanzintermediäre zu verbessern, dann rücken unvermeidlich auch weitergehende Aspekte einer Reform des Systems der Unternehmensfinanzierung und der Unternehmenskontrolle ins Bild. Folgerichtig hat die Bundesregierung im Rahmen des Jahreswirtschaftsberichts 1 9 9 7 ein Programm skizziert, das von Änderungen des Gesellschaftsrechts und des Steuerrechts über das Börsenrecht und sonstige flan-
Wagniskapital
kierende Maßnahmen des Kapitalmarktrechts bis hin zu Reformen der Gesetze über Kapitalanlagegesellschaften und über Unternehmensbeteiligungsgesellschaften reicht. Der Beirat unterstützt die Grundlinien dieses Reformprogramms. Im Rahmen dieses Programms hat die Bundesregierung im März d. J . den Entwurf eines Gesetzes zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich vorgestellt, das Änderungen des Aktiengesetzes und damit in Zusammenhang stehende Änderungen anderer Gesetze vornimmt. Der Beirat nimmt nicht zu den Einzelheiten dieses Gesetzentwurfs Stellung. Er legt aber Wert auf die Feststellung, daß Reformen des Systems der Unternehmenskontrolle im Bereich der börsennotierten Aktiengesellschaften im Gesamtzusammenhang des Kapitalmarktes gesehen werden müssen. Verbesserungen von Kontrolle und Transparenz im Bereich der börsennotierten Aktiengesellschaften betreffen nicht nur die bestehenden Gesellschaften an den Börsen, sondern auch all diejenigen Unternehmen, bei denen die Fähigkeit, Beteiligungskapital aufzunehmen, von der Frage abhängt, wie schnell und unter welchen Bedingungen die Anteilspapiere in einem organisierten Markt handelbar gemacht werden können. Insofern hält der Beirat es gerade auch im Hinblick auf die Förderung der Beteiligungsfinanzierung für junge innovative Unternehmen für wünschenswert, daß der Gesetzgeber seine Spielräume extensiver nutzt, die Möglichkeiten zur Kontrolle der Aktiengesellschaften im Interesse der Kapitalgeber zu verbessern. In diesem Sinn ist die vorgesehene Abschaffung von Höchststimmrechten und von Mehrfachstimmrechten sehr zu begrüßen. Über den vorliegenden Gesetzentwurf hinaus sollte der Gesetzgeber die verschiedenen Mechanismen prüfen und gegebenenfalls unterbinden, vermittels derer die Unternehmungsleitungen der Aktiengesellschaften sich gegenüber einer effektiven Kontrolle durch die Aktionäre immunisieren, so daß sie sich in der Wahrnehmung ihrer Verfügungsgewalt über Vermögenswerte der Unternehmen praktisch nicht um die Interessen der Aktionäre kümmern müssen. Zu diesen Mechanismen gehört insbesondere das System der Ringverflechtungen, bei dem die 1925
v o m 25./2Ö. April 1 9 9 7
Verantwortlichen der beteiligten Unternehmen sich wechselseitig kontrollieren und arrangieren, ohne befürchten zu müssen, daß von Seiten der außenstehenden Aktionäre eingegriffen wird. Soweit das Vollmachtsstimmrecht der Banken seiner Wirkung nach ähnliche Schutzfunktionen für die Unternehmungsleitungen hat, ist es ebenfalls in die Prüfung einzubeziehen. Auf längere Sicht wird der Gesetzgeber nicht umhin kommen, Spielregeln für den „Markt für Unternehmenskontrolle" aufzustellen. Dabei geht es um die Möglichkeit, die Kontrolle über ein Unternehmen durch Aufkauf einer Mehrheit des Aktienkapitals zu erwerben. Die Erfahrungen der angelsächsischen Länder zeigen, daß ein funktionsfähiger Markt für Unternehmenskontrolle das wirksamste Mittel darstellt, um die außenstehenden Aktionäre zu schützen, sei es, weil sie im Fall einer Unternehmensübernahme hohe Kursgewinne erzielen, sei es, weil Unternehmensleitungen versuchen, feindlichen Übernahmen vorzubeugen, indem sie von vornherein den Interessen des Aktionariats besser Rechnung tragen. Bei der Festsetzung von Spielregeln hierfür ist darauf zu achten, daß Pflichten und Rechte von Unternehmensleitungen und von Ubernahmeinteressenten klar spezifiziert sind, derart daß (i) eine Übervorteilung von Minderheitsaktionären durch Übernahmeinteressenten und (ii) eine Minderung des Unternehmens wertes durch Abwehrmaßnahmen der Unternehmensleitung weitgehend ausgeschlossen werden. Die Entwicklung der internationalen Kapitalmärkte und die Notwendigkeit, Wagniskapital für die Unternehmen zu beschaffen, erfordern es, daß den Interessen der Aktionäre verstärkt Rechnung getragen wird. Die Betonung anderer Stakeholder-Interessen darf nicht zu einer Verstärkung der Autonomie der Unternehmensleitungen gegenüber den Kapitalgebern führen. Insbesondere gibt es kein schützenswertes Interesse von Unternehmensleitungen am Erhalt der eigenen Selbständigkeit. Maßnahmen, die die Kontroll- und Eingriffsmöglichkeiten der Aktionäre schwächen, beeinträchtigen die Bereitschaft von Kapitalgebern, Beteiligungskapital zur Verfügung zu stellen. Dies betrifft nicht nur die börsennotierten Aktiengesellschaften, sondern über den Gesamtzusammenhang der Kapitalmärkte
Wagniskapital
alle Unternehmen, auch die jungen und innovativen, bei denen sich das Fehlen von Beteiligungskapital bitter bemerkbar macht. Bonn, den 2 3 . M a i 1 9 9 7 Der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft Professor Dr. Manfred J . M . Neumann
1927
Brief an Bundeswirtschaftsminister Dr. Günter Rexrodt vom 11. Juni 1997 Thema: Ein Beschäftigungskapitel im Maastricht Ii-Vertrag? Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft hat sich in mehreren Sitzungen, zuletzt am 06. und 07. Juni 1 9 9 7 , mit dem Thema
Ein Beschäftigungskapitel
im Maastricht
Ii-Vertrag?
befaßt und ist dabei zu folgender Stellungnahme gelangt: Im Rahmen der Verhandlungen zur Reform des MaastrichtVertrages soll ein Beschäftigungskapitel in den Vertrag eingefügt werden mit dem Ziel, eine Gemeinschaftskompetenz in der Beschäftigungspolitik zu schaffen und konkret auszugestalten. Der inzwischen bekannt gewordene Vertragsentwurf verändert die Kompetenzverteilung hinsichtlich der Beschäftigungspolitik grundlegend. Während in der „Dubliner Erklärung zur Beschäftigung" in Ubereinstimmung mit dem Subsidiaritätsprinzip noch der Grundsatz bekräftigt wurde, daß die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in erster Linie in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt, wird im vorliegenden Vertragsentwurf dieser Grundsatz praktisch aufgegeben. So heißt es in Artikel 2 : „Die Mitgliedstaaten betrachten die Förderung der Beschäftigung als Angelegenheit von gemeinsamen Interesse und stimmen ihre diesbezüglichen Tätigkeiten . . . aufeinander ab." Konkretisiert wird die neue Gemeinschaftskompetenz in zweierlei Weise. Zum einen sollen gemeinschaftlich mit qualifizierter Mehrheit den Mitgliedstaaten verpflichtende Ziele für die Beschäftigungspolitik vorgegeben werden (Artikel 4) in Form jährlicher Leitlinien für die Beschäftigungspolitik, deren Erfüllung der Ministerrat prüft und ggfs. durch Empfehlungen fördert. Zum anderen soll der Ministerrat die Kompetenz erhalten, mit qualifizierter Mehrheit eigenständig beschäftigungsfördernde Maßnahmen auf EUEbene zu beschließen und durchzuführen. Der Beirat spricht sich nachdrücklich gegen die beabsichtigte Kompetenzverlagerung aus. Mit der Bundesregierung ist er der Auffassung, daß der vorliegende Vertragsentwurf für ein 1929
Brief an Bundeswirtschaftsminister Dr. Günter Rexrodt vom 11. Juni 1997
Beschäftigungskapitel ungeeignet ist, das Problem der persistent hohen Arbeitslosigkeit in der Europäischen Union zu lösen. Wenn es sich bei der hohen Arbeitslosigkeit in Europa um den Typ keynesianischer Unterbeschäftigung handelte, so könnte dem mit einer Koordination der nationalen Fiskalpolitiken begegnet werden. Gegenwärtig und auf absehbare Zeit ist aber hohe strukturelle Arbeitslosigkeit unser Problem. Der strukturelle Anpassungsdruck, unter den die Arbeitsmärkte als Folge der weiteren Öffnung von Güter- und Faktormärkten in der Welt geraten sind, erfordert eine Lösung, die auf die nationalen, regionalen und letztlich betrieblichen Verhältnisse stärker Rücksicht nimmt als bisher. Unternehmen und ihre Arbeitnehmer müssen gemeinsam Lösungen finden, wie sie im globalen Wettbewerb bestehen können, ohne daß es zu Entlassungen kommen muß. Das Gegenteil dessen, was im Beschäftigungskapitel des Maastricht-II-Vertrages angestrebt wird, ist also angezeigt. Die Tarifparteien in den Mitgliedsländern haben sich der Herausforderung weltoffener Märkte bisher in sehr unterschiedlicher Form gestellt. Einige haben bereits mit flexibleren Löhnen und veränderten Lohnstrukturen reagiert. Andere befinden sich mitten in einem schmerzlichen Diskussionsprozeß. Manche haben diese Aufgabe noch vor sich. Daher nimmt die Arbeitslosigkeit in Europa noch immer nicht ab. Die Übertragung von beschäftigungspolitischer Kompetenz auf die Gemeinschaft würde den Druck, sich der Herausforderung zu stellen, von den Tarifparteien nehmen, ohne daß damit die Probleme grundsätzlich gelöst und die Arbeitslosigkeit langfristig gesenkt würde. Ähnliches gilt auf der Ebene der Mitgliedstaaten selbst, denn auch die nationale Sozialpolitik trägt ein hohes Maß an Verantwortung für die Arbeitslosigkeit, weil sie eine angemessene Lohnspreizung verhindert. Der Druck, die Sozialsysteme in Richtung auf verbesserte Anreizstrukturen für die Teilnahme am Arbeitsmarkt zu verändern, würde bei einer Kompetenzverlagerung zur Gemeinschaft schwinden. Einzuräumen ist, daß die nationalen und regionalen Anpassungsprobleme an den Arbeitsmärkten zu regionaler Konzen1930
Ein Beschäftigungskapitel im Maastricht H-Vertrag ?
tration von Arbeitslosigkeit führen können, die solidarisches Handeln in der Gemeinschaft sinnvoll erscheinen lassen. Diese Regionalprobleme sind aber bereits innerhalb des bestehenden EG-Vertrages mit Mitteln der europäischen Strukturpolitik zu bekämpfen. Z u befürchten ist vielmehr, daß es zu der Forderung der EUKommission nach eigenen finanziellen Mitteln für eine Ausweitung des zentralen Haushalts kommen würde. Der Ruf nach eigenen Steuereinnahmen und Verschuldungsmöglichkeiten auf den Kapitalmärkten wäre fast zwangsläufig. Auf mittlere Sicht wäre auch zu befürchten, daß die Europäische Zentralbank in die Verantwortung für die unbefriedigende Beschäftigungslage in Europa genommen wird. Es ist daher mit Forderungen nach einer auf Abwertung des Euro setzenden Geldpolitik zu rechnen, die den internen Geldwert nicht bewahren kann. Der Beirat empfiehlt der Bundesregierung, der Aufnahme eines Beschäftigungskapitels in den Maastricht-Vertrag ihre Zustimmung zu verweigern. Mit freundlichen Grüßen gez. Professor Dr. Manfred J . M. Neumann
1931
Brief an Bundeswirtschaftsminister Dr. Günter Rexrodt vom 11. Juni 1997 Thema: Protokoll zu Art. 222 EG-Vertrag bezüglich der Einstandspflichten öffentlich-rechtlicher Körperschaften für ihre öffentlichrechtlichen Kreditinstitute Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft hat sich in mehreren Sitzungen, zuletzt am 06. und 07. Juni 1997, mit dem Thema bezüglich der Protokoll zu Art. 222 EG-Vertrag öffentlich-rechtlicher Körperschaften für ihre Kreditinstitute
Einstandspflichten öffentlich-rechtlichen
befaßt und ist dabei zu folgender Stellungnahme gelangt: Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union treffen sich am 16. und 17. Juni 1 9 9 7 in Amsterdam, um die noch offenen Fragen zur sogenannten Revisionskonferenz von Maastricht II abschließend zu entscheiden. Vor wenigen Tagen war der Presse zu entnehmen, die Bundesregierung, vom Bundesrat einhellig unterstützt, gehe in diese Verhandlungen mit der Absicht, den Artikel 2 2 2 EG-Vertrag um das folgende Protokoll zu ergänzen: „Die Hohen Vertragsparteien - eingedenk der geschichtlichen Entwicklung öffentlich-rechtlicher Kreditinstitute; - in dem Wunsch, in der Europäischen Union die Vielfalt in den jeweiligen nationalen, föderalen und regionalen Strukturen für das Europa der Bürger zu erhalten und zu stärken; - in der Erwägung, daß öffentlich-rechtliche Kreditinstitute einen wichtigen Beitrag zur flächendeckenden Versorgung mit Bankdienstleistungen erfüllen; - im Hinblick auf die verschiedenen Formen öffentlich-rechtlicher Kreditinstitute in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union; sind über folgendes Protokoll zu Artikel 2 2 2 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft übereingekommen, das dem Vertrag beigefügt wird. 1933
Brief an Bundeswirtschaftsminister Dr. Günter Rexrodt vom 1 1 . Juni 1 9 9 7
Der Schutz der Eigentumsordnung des Artikels 2 2 2 E G V umfaßt auch die sich aus den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ergebenden Einstandspflichten öffentlich-rechtlicher Körperschaften für ihre öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute. Es bleibt der Organisation der Mitgliedstaaten überlassen, auf welche Weise sie den Gebietskörperschaften die Erfüllung ihrer Aufgaben ermöglichen, in ihren Regionen eine flächendeckende und leistungsfähige Finanzinfrastruktur zur Verfügung zu stellen." Der Beirat rät von diesem Vorhaben a b ; er hält es in der Sache für verfehlt. Das praktizierte Verfahren ist kritikwürdig. I. Tiefe Einschnitte
in die europäische
Wirtschaftsverfassung
Würde die Protokollnotiz beschlossen, käme es zu tiefen Einschnitten in die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union, die weit über den konkreten Anlaß hinausgehen. Die Gründungsmitglieder der Europäischen Gemeinschaft sahen sich im Jahre 1 9 5 7 vor die Aufgabe gestellt, einen Binnenmarkt frei von Wettbewerbsverzerrungen zu konzipieren, ohne vor allem Frankreich und Italien zum Verzicht auf ihre angestammten öffentlichen Unternehmen zu zwingen. Diese Aufgabe wurde durch zwei Vorschriften bewältigt, die in einem unauflöslichen Zusammenhang stehen. Artikel 2 2 2 EGV „läßt die Eigentumsordnung in den Mitgliedstaaten unberührt", erlaubt ihnen also, bestehende öffentliche Unternehmen beizubehalten. Artikel 9 0 I EGV unterwirft diese Unternehmen aber in vollem Umfang den Regeln zum Schutz vor Wettbewerbsverzerrungen. Auf dieser Grundlage kontrolliert die EG-Kommission insbesondere Zahlungen und andere geldwerte Vorteile, welche die Mitgliedstaaten ihren öffentlichen Unternehmen gewähren. Solche Leistungen sind nicht kategorisch verboten, werden aber auf autonomer europäischer Grundlage darauf überprüft, ob sie zur Verfolgung öffentlicher Interessen unerläßlich sind. Die Protokollnotiz würde dieses System ohne Not zerstören. Es würde praktisch eine neue Bereichsausnahme innerhalb des 1934
Protokoll zu Art. 2 2 2 EG-Vertrag bezüglich der Einstandspflichten
EG-Vertrages geschaffen werden, und das nur weil die öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute befürchten, daß die EG-Kommission in ihrer überkommenen Haftungsverfassung ein wettbewerbsverzerrendes Privileg erkennt. Zugleich würde eine der Hoffnungen gegenstandslos, die sich an die Wirtschafts- und Währungsunion knüpft: daß die einheitliche Währung auch den Wettbewerb zwischen den Kreditinstituten beleben und verkrustete Marktstrukturen aufbrechen werde. Ebenso problematisch wie die Sache ist das gewählte Verfahren. Der EG-Vertrag verdankt seinen Erfolg dem Umstand, daß sich die Vertragsstaaten unter einem „Schleier der Unwissenheit" auf abstrakte Regeln verständigt haben. Bei Abschluß der Römischen Verträge war keinem Mitgliedstaat bewußt, wie tief ihre Anwendung einmal in die nationalen Wirtschaftsverfassungen eingreifen würde. Ebenso wenig war abzusehen, ob manchen Mitgliedstaaten um des Binnenmarkts willen gravierendere Abweichungen von liebgewordenen Traditionen abverlangt werden würden als anderen Mitgliedstaaten. Wenn das Beispiel der Protokollnotiz Schule macht, entsteht die Gefahr, daß rechtlich gebundene Integrationsfortschritte mit Mitteln der Politik wieder rückgängig gemacht werden. Das Recht verliert seine integrationsstiftende Kraft.
II. Gewährträgerhaftung
und Anstaltslast als Beihilfen
Im Protokollentwurf wird den Gebietskörperschaften die Aufgabe zugewiesen, eine flächendeckende Versorgung mit Finanzdienstleistungen sicherzustellen, und es wird die Rolle der öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute bei der Erfüllung dieser Aufgabe betont. Dies ist eine problematische Festlegung, denn mit gleichem Recht ließe sich auch die Versorgung mit anderen wichtigen Dienstleistungen als Staatsaufgabe darstellen. Weder aus grundsätzlicher noch aus empirischer Sicht gibt es Hinweise auf eine mangelnde Leistungsfähigkeit des privaten Kreditgewerbes. In Deutschland liegt der Geschäftsanteil der öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute bei 50 % , aber dennoch ist die Versorgung mit Finanzdienstleistungen nicht besser als in anderen Ländern, in denen der Staatsanteil am Kreditgewerbe gerin1935
Brief an Bundeswirtschaftsminister Dr. Günter Rexrodt vom 11. Juni 1 9 9 7
ger ist. Im übrigen stellen auch in Deutschland private Banken ein dichtes Filialnetz zur Verfügung. Das gilt insbesondere für die privaten Genossenschaftsbanken. Diese verfügen über die gleiche Zahl von Bankfilialen wie die öffentlichen Sparkassen, obwohl sie ein kleineres Geschäftsvolumen haben. Ein öffentlicher Auftrag der öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute läßt sich auch in anderen Bereichen schwerlich erkennen. Ungeachtet entsprechender Formulierungen in den Errichtungsgesetzen und Satzungen bewegen sich die öffentlich-rechtlichen Institute faktisch auf den gleichen Geschäftsfeldern wie die privaten. Das gilt insbesondere für die Landesbanken, die sich bei der Finanzierung industrieller Großprojekte nicht anders engagieren als die privaten Großbanken. Im internationalen Anleiheund Kreditgeschäft sind sie sogar stärker vertreten. Ob dies als Erfüllung eines öffentlichen Auftrages interpretiert werden kann, darf füglich bezweifelt werden. Wenn es darüber hinaus politische Einflußnahmen auf das Geschäftsgebaren der öffentlich-rechtlichen Banken gibt, die zu einer Abweichung von privatwirtschaftlichen Verhaltensweisen führen, so handelt es sich dabei eher um Versuche, Industriepolitik zu betreiben, als um die Erfüllung von Aufgaben, die aus ordnungspolitischer Sicht in der Hand des Staates liegen sollten. Die Privilegien der öffentlich-rechtlichen Banken, die mit dem angeblichen öffentlichen Auftrag begründet werden, sind ein ordnungspolitisches Ärgernis. Allen voran stehen die Gewährträgerhaftung und die Anstaltslast, mit denen ein unbegrenzter Anlegerschutz und eine vollkommene Konkurssicherung hergestellt werden. Die mit diesen Instrumenten erreichte Geschäftssicherung ermöglicht es den öffentlich-rechtlichen Banken, sich auf den Euromärkten zu günstigeren Bedingungen zu refinanzieren, als sie privaten Banken zur Verfügung stehen, und schafft erhebliche Wettbewerbsvorteile beim Kreditgeschäft. Der Einlagensicherungsfonds der privaten Banken schafft keinen Ausgleich, denn ein Einlegerschutz ist kein Anlegerschutz. Der Einlagensicherungsfonds schützt nur die Spar- und Girokonten, und er wird von den privaten Banken selbst finanziert. Ein Anlegerschutz, der insbesondere auch die Bankschuldver1936
Protokoll zu Art. 2 2 2 E G - V e r t r a g bezüglich der Einstandspflichten
Schreibungen absichern würde, steht für die Kreditgeber der privaten Banken nicht zur Verfügung. Nur die Kreditgeber öffentlicher Banken kommen dank Gewährträgerhaftung und Anstaltslast in den Genuß eines solchen Privilegs. Der vollständige Schutz, den die Finanziers der öffentlichen Banken genießen, ist insofern problematisch, als er die Kontrolle dieser Institute durch den Markt entkräftet. Private Banken müssen sich das Vertrauen ihrer Anleger und Anteilseigner durch eine solide Geschäftspolitik verdienen. Öffentlich-rechtliche Kreditinstitute bekommen dieses Vertrauen geschenkt. Nach dem Urteil der internationalen Rating-Agenturen belegen öffentlich-rechtliche Banken Deutschlands acht der fünfzehn ersten Plätze bei einem weltweiten Bonitätsvergleich aller Banken. Diese Auszeichnung kann nicht allein als Ergebnis einer erfolgreichen Geschäftspolitik interpretiert werden, sondern ist vor allem die Konsequenz einer unbeschränkten Haftungszusage seitens des öffentlichen Eigentümers, wie sie ein privater Anteilseigner niemals aussprechen würde. Nach Auffassung des Beirates stellen Gewährträgerhaftung und Anstaltslast eine Beihilfe im Sinne des EG-Vertrages dar. Der Beirat rät der Bundesregierung, von ihrem Vorhaben Abstand zu nehmen, für diese spezifische Beihilfe im Maastricht-Vertrag eine Ausnahmeregelung zu verankern. 1
III. Zum
Verfahren
Der EG-Vertrag hat Vorrang vor jedem Recht eines Mitgliedstaates, einschließlich der nationalen Verfassung. Protokolle, welche die Vertragschließenden dem EG-Vertrag beifügen, werden Bestandteil dieses Vertrages. Sie nehmen am Rang des EGVertrages als einer Art Uberverfassung teil. Einmal in Kraft getreten, können sie von den politischen Kräften eines einzelnen Mitgliedstaates nicht mehr geändert werden.
' ) Eine Minderheit kann diese Auffassung nicht mittragen.
1937
Brief an Bundeswirtschaftsminister Dr. Günter R e x r o d t vom 11. Juni 1 9 9 7
Für Normen von Verfassungsrang bestehen eigentlich besonders qualifizierte Zustimmungserfordernisse, die einen möglichst breiten inhaltlichen Konsens verbürgen. Zugleich gewährleisten diese Erfordernisse besondere Publizität und inhaltliche Kontrolle im Prozeß der politischen Willensbildung. Die Richtigkeitsgewähr einer Verfassungsänderung erhöht sich entsprechend. Das von der Bundesregierung mit dem hier diskutierten Protokoll eingeschlagene Verfahren mißachtet diese Grundsätze: Das Vorhaben wurde erst wenige Tage vor Beginn der entscheidenden Schlußberatung zu Maastricht II bekannt. Eine umfassende und gründliche Diskussion in einer breiteren Öffentlichkeit wird damit praktisch verhindert. Da in Maastricht II Gegenstände von noch ganz anderem Gewicht zur Debatte stehen, wie eine Reform der Institutionen innerhalb der Europäischen Union oder die Frage einer Ausdehnung der Kompetenzen auf Gemeinschaftsebene, bestehen überdies alle Aussichten, daß das Vorhaben der Bundesregierung unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der Öffentlichkeit bleibt. Eine frühzeitige öffentliche Diskussion ist bei Regelungen, die in völkerrechtlichen Verträgen getroffen werden, der gebotene Weg, um eine hinreichende demokratische Legitimation zu vermitteln. Die Hohen Vertragschließenden in Amsterdam allein können diese nicht bieten. Bei Übereinkünften dieser Art werden unvermeidlich Pakete aus zum Teil disparaten Gegenständen geschnürt. Das Interesse, überhaupt zu einem Abschluß zu kommen, legt es dann vielfach nahe, Regelungen hinzunehmen, die man bei einer isolierten Betrachtung ablehnen würde. Ebenso wenig liefern die Zustimmungsgesetze der nationalen Verfassungsorgane zu Änderungen des EG-Vertrages unter solchen Umständen eine hinreichende Legitimation: Bundestag und Bundesrat in Deutschland können zu Maastricht II nur insgesamt „ J a " oder insgesamt „Nein" sagen. Es ist ihnen nicht möglich, Einzelbestimmungen aus dem Vertragswerk herauszulösen. Die europäische Integration ist die Erfolgsgeschichte Europas in der zweiten Hälfte des zu Ende gehenden Jahrhunderts, und, wie zu hoffen steht, auch im kommenden Jahrhundert. Aus vielfältigen Gründen heraus ist diese Entwicklung zunehmen1938
Protokoll zu Art. 2 2 2 EG-Vertrag bezüglich der Einstandspflichten
den Gefährdungen ausgesetzt. Es dürfen nicht als weitere Gefährdungen Verfahrensweisen hinzukommen, die dem Geist einer demokratischen Verfassungsordnung nicht wirklich entsprechen. Mit freundlichen Grüßen gez. Professor Dr. Manfred J. M . N e u m a n n
1939