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German Pages 184 [192] Year 2000
Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie Gutachten vom Februar 1998 bis Juli 2000
Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie
16. Band
Gutachten vom Februar 1998 bis Juli 2000
Herausgegeben vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie
LUCIUS
"LUCIUS
Stuttgart 2000
Bisher erschienen folgende Einzelbände: 1.
Band: Gutachten 1948 bis Mai 1950
2.
Band: Gutachten vom Juni 1950 bis November 1952
3.
Band: Gutachten vom Dezember 1952 bis November 1954
4.
Band: Gutachten vom Januar 1955 bis Dezember 1956
5.
Band: Gutachten vom Januar 1957 bis März 1961
6.
Band: Gutachten vom April 1961 bis März 1966
7.
Band: Gutachten vom Juni 1966 bis Dezember 1972
8.
Band: Gutachten vom März 1973 bis November 1975
9.
Band: Gutachten vom November 1976 bis November 1977
10.
Band: Gutachten vom Dezember 1978 bis Februar 1980
11.
Band: Gutachten vom Januar 1981 bis Juni 1983
12.
Band: Gutachten vom Dezember 1984 bis Dezember 1986
13.
Band: Gutachten vom Juni 1987 bis März 1990
14.
Band: Gutachten vom Juni 1990 bis Juli 1992
15.
Band: Gutachten vom August 1994 bis Juni 1997
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich. ISBN 3-8282-0133-4
Herausgeber: Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie Verlag: Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH · Stuttgart · 2000 Gerokstraße 51 · D-70184 Stuttgart Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Herausgebers unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Sibylle Egger, Stuttgart Gesamtherstellung: Franz Spiegel Buch GmbH, Ulm Printed in Germany
Inhaltsverzeichnis
I.
Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats
VI
II.
Vorwort des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie
IX
in. Gutachten vom Februar 1 9 9 8 bis Juli 2 0 0 0 Gutachten vom 20. und 21. Februar 1998 Thema: „Grundlegende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung"
1941
Gemeinsame Stellungnahme der Wissenschaftlichen Beiräte beim BMF und BMWi vom 02. Oktober 1998 Thema „Reform der Einkommen- und Körperschaftsteuer"
2001
Gutachten vom 18. und 19. Dezember 1998 Thema „Neuordnung des Finanzierungssystems der Europäischen Gemeinschaft'
2005
Brief an den Bundesminister für Wirtschaft und Technologie Dr. Werner Müller vom 19. und 20. Februar 1999 Thema „Wechselkurszielzonen"
2043
Gutachten vom 15. und 16. Oktober 1999 Thema „Offene Medienordnung"
2047
Gutachten vom 26. und 27. Mai 2 0 0 0 Thema „Aktuelle Formen des Korporatismus
2077
Gutachten vom 01. Juli 2 0 0 0 Thema „Reform der europäischen Kartellpolitik
2105
V
I. Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie Dr. Wernhard Möschel
Professor für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht an der Universität Tübingen (Vorsitzender)
Dr. Charles B. Blankart
Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin (Stellvertretender Vorsitzender)
Dr. Manfred J . M . Neumann
Professor für Wirtschaftliche Staatswissenschaften, insbesondere Wirtschaftspolitik, an der Universität Bonn (Vorsitzender 1 . 5 . 1 9 9 6 - 3 0 . 4 . 2 0 0 0 )
Dr. Dr. h.c. mult. Horst Albach
Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Humboldt-Universität zu Berlin
Dr. Hermann Albeck
Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Saarbrücken
Dr. Peter Bernholz
Professor für Nationalökonomie, insbesondere Geld- und Außenwirtschaft, an der Universität Basel
Dr. Norbert Berthold
Professor für Volkswirtschaftslehre an der Bayerischen Julius-MaximiliansUniversität in Würzburg
Dr. Dres. h.c. Knut Borchardt
Professor für Wirtschaftsgeschichte und Volkswirtschaftslehre an der Universität München
Dr. Axel Börsch-Supan
Professor für MakroÖkonomik und Wirtschaftspolitik an der Universität Mannheim
Dr. Friedrich Breyer
Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Konstanz
Dr. Ernst Dürr
Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Erlangen-Nürnberg
Dr. Christoph Engel
Geschäftsführender Direktor der Max-Planck-Projektgruppe Bonn und Professor für Rechtswissenschaften an der Universität Osnabrück
VI
Dr. Wolfgang Franz
Wissenschaftlicher Direktor des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung Mannheim Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Mannheim
Dr. Dr. h.c. Gérard Gäfgen
Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Konstanz
Dr. Dr. h.c. mult.
Professor für Nationalökonomie,
Herbert Giersch
insbesondere für Wirtschaftspolitik, an der Universität Kiel
Dr. Dres. h.c. Heinz Haller
Professor für Finanzwissenschaft und Wirtschaftstheorie an der Universität Zürich
Dr. Dr. h.c. Herbert Hax
Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Universität zu Köln
Dr. Martin Hellwig
Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Mannheim
Dr. Dr. h.c. Helmut Hesse
Präsident der Landeszentralbank in der Freien Hansestadt Bremen, in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt i.R. Honorarprofessor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Göttingen
Dr. Dres. h.c. Norbert Kloten
Präsident der Landeszentralbank in Baden-Württemberg i.R. Honorarprofessor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Tübingen
Dr. Günter Knieps
Direktor des Instituts für Verkehrswissenschaft und Regionalpolitik; Professor für Volkswirtschaftslehre an der AlbertLudwigs-Universität Freiburg
Dr. Dr. h.c. mult.
Professor für wirtschaftliche Staats-
Wilhelm Krelle Dr. Dr. h.c.
wissenschaften an der Universität Bonn Professor, ehem. Direktor am Max-
Ernst-Joachim Mestmäcker Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg Dr. Manfred Neumann
Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Erlangen-Nürnberg
Dr. Dr. h.c. mult. Helmut Schlesinger
Präsident der Deutschen Bundesbank i.R. Honorarprofessor an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer VII
Dr. Dr. h.c. Hans K. Schneider Professor für wirtschaftliche Staatswissenschaften an der Universität zu Köln Dr. Olaf Sievert
Präsident der Landeszentralbank in den Freistaaten Sachsen und Thüringen, Leipzig i.R. Honorarprofessor an der Universität des Saarlandes
Dr. Hans-Werner Sinn
Präsident des Ifo-Instituts München Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Universität München
Dr. Manfred E. Streit
Professor, Geschäftsführender Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Wirtschaftssystemen in Jena
Dr. Roland Vaubel
Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Mannheim
Dr. Christian Watrin
Professor für wirtschaftliche Staatswissenschaften an der Universität Köln
Dr. Cari Christian von Weizsäcker
Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität zu Köln
Dr. Eberhard Wille
Professor für Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft an der Universität Mannheim
Dr. Dr. h.c.mult. Hans F. Zacher
Professor für öffentliches Recht an der Universität München, em. Wissenschaftliches Mitglied des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Sozialrecht in München
Ruhende Mitgliedschaften Professor Dr. Otmar Issing
Mitglied des Direktoriums der Europäischen Zentralbank Frankfurt/Main
Professor Dr. Horst Siebert
Präsident des Instituts für Weltwirtschaft Professor für Theoretische Volkswirtschaftslehre an der Universität Kiel
VIII
II. Vorwort des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie
Als ich am 27. Oktober 1998 zum Bundesminister für Wirtschaft und Technologie ernannt wurde, wusste ich zwar, dass ich mich bei meiner Arbeit voll auf die bekanntermaßen exzellenten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieses traditionsreichen Ministeriums würde stützen können. Erst später aber wurde mir bewusst, dass ich darüber hinaus auch mit Ratschlägen eines ehrwürdigen Gremiums rechnen konnte, das nach Paragraph 1 seiner Satzung „den Bundesminister für Wirtschaft und Technologie in voller Unabhängigkeit in allen Fragen der Wirtschaftspolitik beraten" soll - mit Ratschlägen des Wissenschaftlichen Beirats. In erster Linie geschieht diese Beratung durch die Gutachten, die der Beirat thematisch und inhaltlich in eigener Verantwortung formuliert. Und die als gemeinsame Richtschnur eine außerordentliche ordnungspolitische Stringenz verbindet. Die letzten fünf der in diesem Band zusammengefassten sieben Stellungnahmen fallen in meine Ministerzeit, dienten also satzungsgemäß meiner Beratung. Ich fühlte mich immer gut beraten - aus wissenschaftlicher Sicht. Leider ist aber nicht immer alles, was aus wissenschaftlicher Sicht empfohlen wird, auch aus politischer Sicht erstrebenswert oder - im Augenblick - durchsetzbar. Ich fühle mich mit dieser Einschätzung übrigens durchaus in Übereinstimmung mit dem Wissenschaftlichen Beirat. So hat Professor Manfred J. M. Neumann, bis Ende April 2000 Vorsitzender des Gremiums, Anfang 1998 in einem lesenswerten FAZ-Artikel selbstkritisch eingeräumt, es käme einer Gelehrtendiktatur gleich, würde die Politik unbesehen übernehmen, was akademische Ökonomen aufschrieben. Einerseits sei nicht jedes Beratungsergebnis unbedingt zwingend, andererseits würden von ihnen grundsätzlich Fragen der politischen Opportunität ausgeblendet. Aber immer enthalten die Gutachten Aussagen und Anregungen, die über die tagespolitische Aktualität hinausreichen und vielfach erst mit zeitlicher Verzögerung die konkrete Diskussion im politischen Raum beeinflussen. So war es mit den Gutachten zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Reform der Einkommen- und Körperschaftsteuer, die hier wieder abgedruckt sind. Und ich könnte mir vorIX
stellen, dass es z.B. mit dem Gutachten zur Offenen Medienordnung auch so sein wird. Schlimmer als eine frontale Ablehnung der Gutachten, schreibt Professor N e u m a n n , sei wohlwollende Indifferenz, die Beratungsergebnisse letztlich der Ablage zuweise und damit der Gutachtertätigkeit den Stempel der Sinnlosigkeit aufzudrücken scheine. M i r scheint nach meinen bisherigen Erfahrungen, dass Indifferenz so ziemlich das letzte ist, was den Gutachten des Beirats entgegenschlägt. Es gibt viel Zustimmung, aber auch Kritik, es gibt den Vorwurf der „Politikferne" und es gibt auch schon mal - das soll nicht verschwiegen werden - frontale Ablehnung, so in meiner Presseerklärung zu Teilen des Korporatismus-Gutachtens. Eine solche Diskussion, und so verstehe ich auch die zitierte Aussage von Professor N e u m a n n , beeinträchtigt aber nicht das Verhältnis zwischen Beratenden und Beratenem, sondern es unterstreicht, dass die Beratung nicht nur ernst gemeint ist, sondern auch ernst genommen wird. Ebenso wichtig wie die gutachterlichen Äußerungen des Beirats sind für mich die mündlichen Diskussionen mit ihm. Ich nutze mehr oder minder regelmäßig die mir gegebene Möglichkeit, an Sitzungen des Beirates teilzunehmen. Dies aus drei Gründen: Z u m einen habe ich hier das Vergnügen, Professoren, denen ich als Student schon gelauscht habe, wiederzutreffen. Z u m zweiten ist der Beirat eine Art ordnungspolitischer Olymp mit herausragenden Wissenschaftlern aus Deutschlands wirtschaftswissenschaftlichen und juristischen Fakultäten, mit denen zu sprechen schon von daher eine besondere Freude bereitet. Und zum dritten sind bei diesen persönlichen Begegnungen Diskussionen in einer Offenheit möglich wie sonst k a u m . Seit dem 1. M a i 2 0 0 0 übt Professor Wernhard Möschel das Amt des Vorsitzenden aus. Unter den letzten beiden Gutachten dieses Bandes steht bereits sein N a m e . Ich bin ihm dankbar, dass er sich für diese nicht immer einfache und zudem zeitaufwendige Aufgabe zur Verfügung gestellt hat. Und ich bin sicher, dass auch unter seiner Ägide wegweisende Stellungnahmen zu grundlegenden wirtschaftspolitischen Fragen verabschiedet werden. Ich möchte die Gelegenheit auch nutzen, um Professor M a n f r e d J.M. N e u m a n n noch einmal dafür zu danken, dass er vier Jahre lang, von 1996 bis 2000, den Vorsitz geführt hat und in dieser Zeit den Beirat nicht nur zu bedeutsamen Stellungnahmen zusammengeführt, sondern diese auch mit Engagement und Geschick in die öffentliche und politische Diskussion eingebracht hat.
X
Möge dieser Band dazu beitragen, die Überlegungen und Vorschläge des Beirates noch weiter in Politik, Verwaltung, Universitäten und politisch interessierte Kreise hineinzutragen. Informationen und aktuelle Hinweise zum Wissenschaftlichen Beirat finden sich im Internet auf der Homepage des BMWi unter der Adresse www.bmwi.de. Berlin, im August 2000 Werner Müller Bundesminister für Wirtschaft und Technologie
III. Wortlaut der Gutachten Gutachten vom 20. und 21. Februar 1998 Thema: Grundlegende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft hat sich in mehreren Sitzungen, zuletzt am 2 0 . und 2 1 . Februar 1 9 9 8 , mit dem Thema
Grundlegende Reform der gesetzlichen
Rentenversicherung
befaßt und ist dabei zu der nachfolgenden Stellungnahme gelangt.
I. Anlaß des Gutachtens (1) Die gesetzliche Rentenversicherung, ein Kernstück des deutschen Sozialstaates, treibt in die Krise, wenn nicht eine grundlegende Reform vorgenommen wird. Demographische und wirtschaftliche Veränderungen setzen das überkommene System der Umlagefinanzierung hohen Gefahren aus, die es nicht unbeschadet überstehen kann. Dieses Gutachten diskutiert diese Gefahren und entwickelt Strategien zu ihrer Abwendung.
1. Aktuelle Probleme (2) Schon in den letzten Jahren sind mehrere Probleme zusammengetroffen, die für sich die gesetzliche Rentenversicherung in Schwierigkeiten bringen. Die hohe Arbeitslosigkeit in den alten und insbesondere in den neuen Bundesländern führt zu einer Verminderung der Beitragszahlungen und zu ihrer Verlagerung auf die Bundesanstalt für Arbeit. Die Bundesanstalt übernimmt bis zu 80 Prozent der Beiträge, die bei Fortsetzung eines Arbeitsverhältnisses angefallen wären. Wenn die Sozialhilfe an die Stelle der Arbeitslosenunterstützung tritt, entfallen Beiträge zur Gänze. Der Versuch, einen Teil der Arbeitslosigkeit durch Frühverrentung aufzufangen, hat das Problem noch verschärft. Er hat eine doppelte Belastung der Rentenversicherung mit sich gebracht, weil einerseits Beiträge entfielen und andererseits zusätzliche Rentenansprüche entstanden. (3) Ein zweites Problem, das der Rentenversicherung zu schaffen macht, ist die Tendenz zur Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses, die mehr und mehr zu beobachten ist und die Beitragsbasis erodiert. Statt unbefristeter und dauerhafter Beschäftigung werden befristete Beschäftigungsverhältnisse gesucht, statt Vollzeitarbeit Teilzeitarbeit und statt Teilzeit1941
Gutachten vom 2 0 . und 2 1 . Februar 1 9 9 8
arbeit geringfügige Beschäftigungsverhältnisse mit einem Monatseinkommen von nicht mehr als 620 DM, die nicht versicherungspflichtig sind. Viele bislang abhängig Beschäftigte wechseln in die Selbständigkeit, um dem Zugriff des Sozialstaates zu entkommen. Nicht selten handelt es sich dabei um eine Scheinselbständigkeit. Die Ausweichreaktionen, die von den Sozialabgaben hervorgerufen werden und zu Finanzierungsproblemen bei der Rentenversicherung führen, gehen bis hin zu einem Verzicht auf reguläre Beschäftigung. Weitere Belastungen für die Rentenversicherung entstanden durch die deutsche Vereinigung und die Zahlung von Renten an Personen, die keine Beiträge entrichtet haben. Auch die großzügige Behandlung neuer Mitglieder, die Rentenanwartschaften für vergleichsweise geringe Beiträge erwerben konnten, hat zur Verschärfung der Problemlage beigetragen. Hier sind insbesondere Selbständige zu nennen, die rückwirkend freiwillig Beiträge in die Rentenversicherung eingezahlt haben. Wer von dieser Anfang der siebziger Jahre eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht hatte, dem erwuchsen bis zu dreimal so hohe Ansprüche als anderen aus der Zahlung von Pflichtbeiträgen.
2. Gefahren in Sicht: Das langfristige
Problem
(4) Die heutigen Schwierigkeiten der Rentenversicherung markieren den Beginn einer Entwicklung, die aus demographischen Gründen in den kommenden Dekaden noch erheblich an Brisanz gewinnen wird. Eine an kurzfristigen Wahlerfolgen orientierte Politik breiter politischer Gruppierungen neigt nicht dazu, das demographische Problem in seinen wahren Dimensionen aufzuzeigen. Dabei ist es mit hoher Sicherheit prognostizierbar. Wegen der Zunahme der Lebenserwartung, vor allem aber wegen der auch im internationalen Vergleich äußerst niedrigen Geburtenrate wird sich die Altersstruktur der deutschen Bevölkerung bis in die dreißiger und vierziger Jahre des nächsten Jahrhunderts in extremem Maße zu Lasten der Rentenversicherung verschieben. Die Zahl der Alten relativ zu den Jungen wird sich, grob gesagt, verdoppeln. Im Rahmen des Umlageverfahrens erfordert dies eine Systemanpassung, die im Vergleich zu dem Zuwachs der Renten und Beiträge, der sich bei einer stabilen Bevölkerungsstruktur ergeben hätte, einen Kompromiß finden muß zwischen den Extremen einer Halbierung der Renten bei gleichen Beiträgen und einer Verdoppelung der Beiträge bei gleichen Renten. Ein solcher Kompromiß ist mit den Rentenreformgesetzen von 1992 und 1999 gesucht worden. Das ist positiv anzumerken. Der Beirat warnt aber vor der Auffassung, es sei durch solche und ähnliche Reformen 1942
Grundlegende R e f o r m der gesetzlichen Rentenversicherung
möglich, die Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung zu bewahren. Er plädiert in diesem Gutachten dafür, das Umlagesystem durch grundlegende Reformen in Richtung auf ein kapitalgedecktes System zu verändern. Nur solche Reformen sind in der Lage, den Zielkonflikt zwischen auskömmlichen Renten und niedrigen Beiträgen zu entschärfen. Auf diese Weise würden die dem Wirtschaftsstandort Deutschland und seiner marktwirtschaftlichen Ordnung drohende Gefahren abgewendet, soweit sie aus den Problemen der Rentenversicherung resultieren. (5) Deutschland hat ohnehin ein vielschichtiges Standortproblem. Die Abgabenlast ist insgesamt zu hoch, das Steuersystem ist übermäßig progressiv, die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes ist nicht weit genug vorangeschritten, die Risikokapitalmärkte sind unterentwickelt, und ein Übermaß staatlicher Regulierung behindert die Entfaltung privater Initiative. Der Beirat hat diese Probleme in mehreren Gutachten identifiziert und energische Reformen gefordert. 1 Die demographisch bedingten Schwierigkeiten der Rentenversicherung treten zu den genannten Problemen hinzu. All das zusammengenommen ist verantwortlich für den Attentismus der Investoren, die fehlende Dynamik der Wirtschaft und die hohe Arbeitslosigkeit, die in Deutschland herrscht. Wer für die Zukunft eine hohe Belastung des Arbeitsmarktes durch überbordende und kaum noch beherrschbare Sozialabgaben befürchtet, der wird sich hüten, heute Entscheidungen zu treffen, die sein Kapital für lange Zeit von der Funktionsfähigkeit dieses Marktes abhängig machen. Nur eine illusionsfreie Analyse der Probleme und mutige Schritte zu ihrer Lösung sind geeignet, das Vertrauen der Investoren zurückzugewinnen und die Weichen füi mehr wirtschaftliches Wachstum und mehr Beschäftigung zu stellen. 3. Die gesetzliche Rentenversicherung
im Blickpunkt
(6) Das Gutachten konzentriert sich auf das demographische Problem der Alterssicherung, und es beschränkt sich dabei auf die gesetzliche Rentenversicherung. Von der gesetzlichen Rentenversicherung werden etwa 80 Prozent der Erwerbspersonen erfaßt. Versicherungspflichtig sind Arbeiter und Angestellte, soweit ihr Monatseinkommen über der Mindestgrenze von 620 D M in den alten Bundesländern und 520 D M in den neuen Bundesländern liegt. Die gesetzliche Rentenversicherung zahlt Z u nennen sind u.a. folgende Gutachten der letzten Jahre: Wagniskapital, April 1997; Anstehende große Steuerreform, N o v e m b e r 1996; Langzeitarbeitslosigkeit, Januar 1996; Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische Union, August 1994; Gesamtwirtschaftliche Orientierung bei drohender finanzieller Überforderung, Juli 1992; Lohn- und Arbeitsmarktprobleme in den neuen Bundesländern, Juli 1991. 1943
Gutachten vom 20. und 21. Februar 1998
eine Altersrente, eine Witwen- und Waisenrente sowie eine Rente wegen verminderter Erwerbsunfähigkeit. Sie finanziert sich überwiegend durch Beiträge, die an die Bruttoarbeitsentgelte der versicherungspflichtigen Arbeitnehmer geknüpft und je zur Hälfte von den Arbeitnehmern und den Arbeitgebern aufzubringen sind. Derzeit liegt der Beitragsatz bei gut 20 Prozent des Bruttoentgelts. Ein Bundeszuschuß, der gut ein Fünftel der Gesamtausgaben von derzeit etwa 370 Mrd. DM deckt, dient der Finanzierung von Leistungen, die als versicherungsfremd angesehen werden, so zum Beispiel Kriegsfolgelasten, Kosten des Vorruhestandes, Anrechnungszeiten oder Krankenversicherungsbeiträge der Rentner. (7) Der Beirat stellt, wie die öffentliche, vor allem die politische Diskussion, die Situation der gesetzlichen Rentenversicherung in den Vordergrund. Das entspricht der zentralen Bedeutung, die der Rentenversicherung für die Alterssicherung in Deutschland zukommt. Die Alterssicherung ist jedoch ein sehr vielgestaltiges Phänomen und erschöpft sich nicht in der gesetzlichen Rentenversicherung. Die knappschaftliche Rentenversicherung, die Beamtenversorgung und die für gewisse Gruppen von Selbständigen eingerichteten Versorgungssysteme werden hier nicht betrachtet, wenngleich sie großenteils von den gleichen Problemen betroffen sind wie die gesetzliche Rentenversicherung. Die knappschaftliche Rentenversicherung für die abhängig Beschäftigten im Bergbau wird partiell durch eine Umlage, größtenteils aber durch einen steuergetragenen Bundeszuschuß finanziert. Die Pensionen der Beamten, Richter, Soldaten, Abgeordneten und Mitglieder der Regierungen des Bundes und der Länder werden direkt aus dem Staatshaushalt, also mit Steuermitteln finanziert. Angestellte und Arbeiter im öffentlichen Dienst sind hingegen in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen. Gleiches gilt für Handwerker, insoweit sie der Versicherungspflicht unterliegen. Für gewisse Gruppen von Selbständigen sind verschiedene Systeme von Sockelfinanzierungen eingerichtet, die eine Grundsicherung bieten, die Vollsicherung jedoch der Eigenverantwortung der Betroffenen überlassen. Die Alterssicherung der Landwirte ist ein eigenständiges Sicherungssystem, das eine Teilsicherung bietet. Für freie Berufe haben die Länder zum Teil berufsständische Versorgungswerke eingerichtet, die unterschiedlich ausgestaltet sind. Die Probleme, die in diesem Gutachten angesprochen werden, bedürfen einer Lösung grundsätzlich für alle Bereiche rechtlich vorgeschriebener Alterssicherung. Jedoch ist offenkundig, daß die Lösungen bereichsspezifisch gesucht und unter Rücksicht auf die bereits vorhandenen Regelungen gestaltet werden müssen. Wenn sich die verantwortlichen Politiker entschließen, die Empfehlungen dieses Gutachtens in die Tat umzuset1944
Grundlegende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung
zen, wird die Zeit gekommen sein, den Blickwinkel der Analyse über den Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung hinaus auszudehnen.
II. Die Krise und Wege, sie zu bewältigen (8) Die wichtigste Ursache der künftigen Finanzierungsprobleme der Rentenversicherung ist der ausgeprägte Geburtenrückgang, der in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren begann. Die deutsche Geburtenrate, die im letzten Jahrhundert im internationalen Vergleich sehr hoch war, gehört heute neben jener von Italien, Japan und Spanien zu den niedrigsten der Welt. Zehn Deutsche haben im Durchschnitt nicht einmal mehr sieben Nachkommen. Hinzu kommt ein erheblicher Anstieg der Lebenserwartung, wie er einem allgemeinen internationalen Trend entspricht. Noch vor 2 5 Jahren lag die durchschnittliche Lebenserwartung der westdeutschen Bevölkerung bei 7 0 , 5 Jahren. Heute beträgt die gesamtdeutsche Lebenserwartung 7 6 , 2 Jahre, was dem Durchschnitt in der Europäischen Union von 7 7 Jahren nahe kommt. Auch wenn man eine erhebliche Zuwanderung unterstellt, wird sich der langanhaltende Geburtenrückgang im Verein mit der Erhöhung der Lebenserwartung im Hinblick auf die Finanzierung der Renten in einer erheblichen Verschlechterung der Altersstruktur der deutschen Bevölkerung niederschlagen. Deutschland „ergraut".
1. Die Entwicklung der Bevölkerungsstruktur (9) Legt man die mittlere Prognosevariante des Statistischen Bundesamtes zugrunde, so wird die Anzahl der Personen im Erwerbsalter noch einige Zeit annähernd konstant bleiben, doch spätestens ab dem Jahre 2 0 2 0 wird sie deutlich abnehmen, und im Jahr 2 0 4 0 wird sie um 3 0 Prozent niedriger sein als heute. Gleichzeitig wird sich die Anzahl der Personen im Rentenalter stark vergrößern. Tabelle 1 gibt einen Überblick über die zu erwartende Entwicklung der deutschen Bevölkerungsstruktur. Im Jahr 1 9 9 6 lag das durchschnittliche Rentenzugangsalter für die Alters- und Erwerbsunfähigkeitsrente bei knapp 6 0 Jahren. Der auf dieses Alter bezogene Altenquotient - das Verhältnis der Personen mit 6 0 und mehr Jahren zu den Personen von 2 0 bis 5 9 Jahren - betrug in diesem Jahr 3 7 Prozent. Er wird nach den Berechnungen des Statistischen Bundesamtes in mehreren Schüben bis auf gut 6 8 Prozent im Jahre 2 0 3 5 ansteigen. Eine ähnliche Entwicklung, wenngleich auf niedrigerem Niveau, zeigt die Tabelle für den Fall eines auf das Alter von 65 Jahren bezogenen Altenquotienten. Die Zahl der Alten wird sich in Relation zur Zahl der Jungen in dem genannten Zeitraum fast verdoppeln. Erst nach dem Jahre 2 0 4 0 könnte 1945
Gutachten vom 2 0 . und 2 1 . Februar 1 9 9 8
sich die Altersstruktur nach derzeitigen Erkenntnissen wieder etwas verbessern. Das Statistische Bundesamt ist bei seiner Projektion davon ausgegangen, daß es von 1 9 9 5 bis zum Jahr 2 0 4 0 eine Nettozuwanderung von insgesamt 11,1 Millionen Personen aus dem Ausland geben wird, was einer Zuwanderung von durchschnittlich knapp 2 5 0 Tausend Personen pro Jahr entspricht. Außerdem unterstellt das Amt, daß die Lebenserwartung in Westdeutschland ab dem Jahre 2 0 0 0 konstant bleibt und sich die Lebenserwartung in Ostdeutschland bis zum J a h r 2 0 3 0 an das westdeutsche Niveau angleicht. Beide Annahmen mag man im Hinblick auf die Finanzierungsprobleme der Rentenversicherung für optimistisch halten.
Tabelle 1: Die voraussichtliche Entwicklung der Bevölkerung in Deutschland Interministerielle Arbeitsgruppe
Statistisches Bundesamt Jahr
quotient
Gesamtbevölkerung
Altenquotient
Altenquotient
(> 60) Prozent
(> 65) Prozent
Mio.
(> 60) Prozent
(> 65) Prozent
37,0
24,6
82,8
37,0
41,5
26,0
82,2
40,8
24,6 25,7
43,5
30,3
81,8
44,5
44,1
31,0 31,7
81,0 79,9 78,4
44,8 47,9 53,1
76,6 74,3 71,7 68,8
62,6 73,2
32,5 35,1 39,3 46,8
76,6 76,4
54,6 56,2
77,6 80,2
55,0 55,1
Gesamtbevölkerung
Altenquotient
Mio. 2000
82,8 83,7
2005
83,8
2010 2015 2020 2025 2030
83,4 82,5 81,2 79,5 77,4
46,8 51,6 60,1 67,9
2035 2040
75,1 72,4
68,5 67,8
1996
2045 2050
67,9 69,7
Alten-
33,6 37,4 43,8 49,2 48,8 47,6 47,1
29,6 32,2
Quellen: Statistisches Bundesamt, Achte koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Variante 2, Wiesbaden 1 9 9 4 ; Interministerielle Arbeitsgruppe, Bevölkerungsprognose, Variante A, Bonn, 1 9 9 6 ; Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 1997, Wiesbaden; eigene Berechnungen. Legende: Der Altenquotient ist als Relation der Anzahl der Personen mit einem Lebensalter von 6 0 und mehr Jahren (alternativ: 6 5 und mehr Jahren) zur Anzahl der Personen mit einem Lebensalter von 2 0 bis 5 9 (bzw. 64) Jahren definiert. Für das J a h r 1 9 9 6 sind die tatsächlichen Bevölkerungszahlen verwendet worden (Statistisches Jahrbuch 1 9 9 7 ) . Die Projektionen des Statistischen Bundesamtes und der interministeriellen Arbeitsgruppe enden mit dem Jahr 2 0 4 0 . Die in der Tabelle ausgewiesenen Werte für die Jahre 2 0 4 5 und 2 0 5 0 sind daraus abgeleitete Projektionen des Beirats. 1946
Grundlegende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung
(10) Eine interministerielle Arbeitsgruppe2 hat kürzlich eine alternative Bevölkerungsprognose erstellt, die auf deutlich pessimistischeren Erwartungen basiert. So wird angenommen, daß die Nettozuwanderung bis zum Jahr 2 0 4 0 nur bei ca. 7 Millionen Personen liegen wird, daß die Lebenserwartung der westdeutschen Bevölkerung bis zum Jahr 2 0 3 0 um 3 Jahre steigen wird und daß sich die Lebenserwartung der ostdeutschen Bevölkerung bis zum Jahr 2 0 4 0 allmählich an jene der westdeutschen Bevölkerung annähern wird. Auch die Implikationen dieser Annahmen sind in der Tabelle dargestellt. Man sieht, daß sich der Altenquotient (in beiden Abgrenzungen) nach dieser Rechnung bis zum Jahr 2 0 3 5 mehr als verdoppeln wird. Der auf ein Alter von 60 Jahren definierte Quotient könnte sich also bis zum Jahr 2 0 3 5 von derzeit 37 Prozent auf 77 Prozent erhöhen statt nur auf gut 68 Prozent, wie es sich aus der Projektion des Statistischen Bundesamtes ergibt.
2. Die Politik der
Mangelverwaltung
(11) Der Beirat hat bereits 1980 in seinem Gutachten „Wirtschaftspolitische Implikationen eines Bevölkerungsrückgangs" auf diese bedrohliche Entwicklung aufmerksam gemacht. Der damals schon sichtbare Trend hat sich inzwischen weiter verfestigt und auch zu Maßnahmen geführt. Mit dem Rentenreformgesetz von 1992 und dem jüngst beschlossenen Rentenreformgesetz 1999 wurden die Rentenansprüche gekürzt, um die Beitragsbelastung vorerst in Grenzen zu halten. Ohne diese Reformen würde der Beitragsatz von derzeit 20 auf etwa 40 Prozent im Jahre 2036 ansteigen. Die Rentenreformgesetze ermöglichen es nach den Berechnungen des Beirats, den Beitragsatz im selben Jahr auf etwa 30 Prozent zu begrenzen. Die Entlastungen, die das Rentenreformgesetz von 1992 brachte, basieren im wesentlichen auf der Einführung der sogenannten „nettolohnbezogenen Rente". Die Kernidee war, zur Indexierung des Rentenniveaus statt des durchschnittlichen Bruttolohnes den durchschnittlichen Nettolohn nach Abzug aller Abgaben zu wählen. Da zu den Abzügen vom Bruttolohn auch die Beiträge zur Rentenversicherung gehören, hat man auf diese Weise ein System geschaffen, bei dem sich zukünftige Erhöhungen des Beitragsatzes automatisch in einer Rentenkürzung niederschlagen. (12) Weitere Entlastungen soll neben der Erhöhung des steuerfinanzierten Bundeszuschusses auch die allmähliche Erhöhung des Rentenzugangsalters bringen. Wie die Tabelle 1 zeigt, würde eine Erhöhung des 2
Ressortarbeitskreis des Bundesministeriums des Inneren, Modellrechnungen zur Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland bis zum ]ahre 2040, Variante A, unveröffentlichtes Manuskript, Bonn 1996. 1947
Gutachten vom 20. und 21. Februar 1998
durchschnittlichen Rentenzugangsalters von 6 0 auf 6 5 Jahre den Anstieg des Altenquotienten bis zum Jahr 2 0 3 5 zwar um 19 Prozentpunkte verringern. Die Reform von 1 9 9 2 , ergänzt durch das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz von 1 9 9 6 , sah jedoch eine wesentlich moderatere Änderung vor. Und zwar wird nur das gesetzliche Alter für den Erstbezug der Altersrente, das im Falle langjähriger Beitragszahlungen derzeit 63 Jahre bei Männern und 6 0 Jahre bei Frauen beträgt, auf 6 5 Jahre erhöht. Wenngleich auch das durchschnittliche Zugangsalter bei der Erwerbsunfähigkeitsrente, das derzeit bei 5 2 Jahren liegt, aufgrund einer Einengung der Berechtigungskriterien etwas zunehmen dürfte, 3 wird das im Hinblick auf Erwerbsunfähigkeits- und Altersrente zu berechnende durchschnittliche Rentenzugangsalter aufgrund dieser M a ß nahmen wohl nur geringfügig zunehmen. Schätzungen lassen einen Anstieg von derzeit 5 9 , 7 Jahren auf nicht mehr als etwa 6 2 Jahre erwarten. (13) Das Rentenreformgesetz 1 9 9 9 wurde aus der Erkenntnis geboren, daß die 1 9 9 2 beschlossenen Korrekturen nicht ausreichen würden, die Finanzierungsprobleme der Rentenversicherung zu lösen. Das neue Gesetz schreitet deshalb auf dem schon 1 9 9 2 begonnen Weg einer Minderung des Rentenanstiegs weiter voran. Durch Einbau eines Demographiefaktors in die Rentenformel, der die laufende Erhöhung der Lebenserwartung berücksichtigt, soll die Standardrente, also die Rente, die ein durchschnittlicher Beitragzahler nach 4 5 Beitragsjahren erhält, bis zum J a h r 2 0 3 0 allmählich von bisher 7 0 Prozent auf 6 4 Prozent des durchschnittlichen Nettoverdienstes abgesenkt werden. Außerdem sieht das neue Gesetz eine Erhöhung des Bundeszuschusses vor. Die dazu nötige Steuererhöhung soll eine Beitragsentlastung von rd. einem Prozentpunkt ermöglichen. Insgesamt soll mit diesen Maßnahmen erreicht werden, daß der Beitragsatz, der derzeit 2 0 , 3 Prozent beträgt, bis zum Jahr 2 0 3 0 bei Werten unter 2 3 Prozent stabilisiert wird. 4 Nach den Berechnungen des Beirats wird man im Jahr 2 0 3 0 eher mit Werten von etwa 2 5 bis 2 7 Prozent rechnen müssen, und in den folgenden Jahren wird der Beitragsatz sogar noch weiter ansteigen. Der Spitzenwert wird im J a h r 2 0 3 6 mit etwa 2 8 bis 31 Prozent erreicht werden. Abbildung 1 gibt einen Überblick über die zu erwartende Entwicklung. 3
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Bei der Bewilligung der Erwerbsunfähigkeitsrente wird es in Zukunft nicht mehr auf die Arbeitsmarktsituation ankommen, und ein frühzeitiger Rentenzugang wird zu Rentenabschlägen bis zu 1 0 , 8 % führen. Den zu erwartenden Auswirkungen dieser Neuregelungen steht freilich entgegen, daß die Abschaffung der Frühverrentung den Anreiz erhöhen wird, in den Genuß einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu kommen. Die Erwartungen der Bundesregierung stützen sich auf Berechnungen der von ihr eingesetzten Kommission „Fortentwicklung der Rentenversicherung". Die Berechnungsgrundlagen standen dem Beirat nicht zur Verfügung. Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Eckpunkte für die Rentenreform '99, Bonn 1997.
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Grundlegende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung
Abb. 1: Die Entwicklung des Beitragsatzes der gesetzlichen Rentenversicherung Quellen: Eigene Berechnungen; Statistisches Bundesamt, Achte koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Variante 2, Wiesbaden 1994; Interministerielle Arbeitsgruppe, Bevölkerungsprognose, Variante A, Bonn, 1996. Legende: Die Entwicklung der Beitragsätze wurde auf der Basis der Bevölkerungsprojektionen des Statistischen Bundesamtes (Variante 2) und der interministeriellen Arbeitsgruppe (Variante A) für ein reines Umlageverfahren berechnet. Die Finanzierungslast für das hier modellierte Umlagesystem setzt sich aus den Komponenten der reinen Altersrente, der Hinterbliebenenrente und der Erwerbsunfähigkeitsrente zusammen. Der Umfang dieser versicherungskonformen Renten liegt ungefähr in der gleichen Höhe wie die Beitragseinnahmen. Die Modellrechnung unterstellt, daß die darüber hinausgehenden und großenteils als versicherungsfremd zu bezeichnenden Leistungen über den Bundeszuschuß und sonstige Einnahmen gedeckt werden. Das in den Rechnungen angenommene Zugangsalter für die Altersrente steigt von derzeit 63 Jahren bis zum Jahr 2004 auf 65 Jahre; das Rentenniveau sinkt von 70 % des Nettolohns im Jahre 2000 auf 64 % im Jahre 2030. Die Zahl der Rentenbezieher wegen Erwerbsunfähigkeit wird als Anteil der Bevölkerung im Alter von 53 bis unter 65 Jahren bestimmt. Wegen der Neuregelung der Erwerbsunfähigkeitsrente im Rentenreformgesetz 1999 wird unterstellt, daß der Anteil der Erwerbsunfähigen bis zum Jahr 2010 um ein Drittel (von 12,9 % auf 8,6 %) abgesenkt werden kann. Die Zahl der Witwen- und Waisenrenten ist in Relation zu den jeweiligen Altersrenten berechnet (63,9 %); die Witwen- und Waisenrente erreicht ein Niveau von 73,4 % der durchschnittlichen Altersrente. Für den gesamten Zeitraum wurden konstante Erwerbsquoten für Männer (88 %) und Frauen (68,5 %) unterstellt. Der Wert für Männer ergab sich im Mittel der Jahre 1987 bis 1996 für das frühere Bundesgebiet. Die Frauenerwerbsquote entspricht dem höchsten in diesem Zeitraum für Gesamtdeutschland verzeichneten Wert. Sofern die derzeit noch sehr hohe ostdeutsche Frauenerwerbsquote auch weiterhin fällt, impliziert die Annahme einer konstanten gesamtdeutschen Quote, die dem im ganzen horizontalen Trend der letzten Jahre entspricht, einen Anstieg der westdeutschen Frauenerwerbsquote. Die durchschnittlichen Steuersätze und Beitragsätze zum restlichen Sozialversicherungssystem wurden auf dem Stand von 1997 eingefroren.
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(14) Berechnungen über so lange Zeiträume sind zwangsläufig mit einem erheblichen Unsicherheitsfaktor belastet. Die Berechnungen des Beirats sind Status-quo-Prognosen, die neben den Details der gesetzlichen Rentenreformen 1992 und 1999 vor allem die vergleichsweise sicher prognostizierbaren demographischen Daten aus bereits vorliegenden offiziellen Schätzungen berücksichtigen. Der Beirat wagt keine Prognose der Entwicklung der aggregierten Erwerbsneigung und der Arbeitslosenquote. Möglicherweise wird eine Zunahme der Erwerbsneigung bei abnehmender Arbeitslosigkeit den Anstieg des Beitragsatzes vorübergehend bremsen. Möglicherweise, und dafür spricht leider vieles, muß man sich aber auch darauf einstellen, daß angesichts der wachsenden Soziallasten immer mehr Menschen der Rentenversicherung den Rücken zukehren, indem sie sich der Freizeit, Hausarbeit, Schwarzarbeit, Teilzeitbeschäftigung und selbständigen Beschäftigung zuwenden. In diesem Fall würde der Anstieg des Beitragsatzes noch stärker ausfallen, als es in der Abbildung dargestellt ist, zumal auch krisenhafte Selbstverstärkungseffekte nicht ausgeschlossen werden können. Um eine Dramatisierung der Gefahren für die Rentenversicherung zu vermeiden, geht der Beirat bei der Berechnung der Reformszenarien in Kapitel V von der für die Rentenversicherung optimistischeren Bevölkerungsprojektion des Statistischen Bundesamtes aus. Die Reformempfehlungen des Beirats gewinnen noch an Nachdruck, wenn man statt dessen die Projektionen der interministeriellen Arbeitsgruppe zugrundelegt. (15) Die Rentenreformpolitik der letzten Jahre sucht kurzfristige Linderung für eine sich stetig verschärfende Finanzierungskrise, ohne damit das Fundament eines dauerhaft stabilen Rentensystems legen zu können. Schon heute ist absehbar, daß im Laufe der Zeit immer wieder neue, gravierendere Einschnitte in das Rentensystem nötig sein werden, wenn man sich nicht auf eine grundlegende Reform des Systems verständigt. Die Belastung mit versicherungsfremden Leistungen, die Überalterung der Bevölkerung und die Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses schaffen zusammen eine gefährliche und nur noch schwer beherrschbare Gemengelage. Es droht die Gefahr, daß entweder die Beitragsätze das für die Wirtschaft erträgliche Maß übersteigen oder daß die Renten in die Nähe der Sozialhilfesätze gedrückt werden. Das hat nicht nur problematische Anreizwirkungen zur Folge, sondern unterminiert die Glaubwürdigkeit des gesamten Systems. Informierte Beitragzahler suchen schon heute private Wege für eine Verbesserung ihrer Absicherung im Alter. Lebensversicherungen und Aktien gehören zu den Anlageformen, die von dem fortschreitenden Verlust an Glaubwürdigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung profitieren. Weniger gut informierte Beitragzahler, 1950
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die sich auf die Stabilität des Systems verlassen, bleiben der Entwicklung schutzlos ausgeliefert. Nicht nur das Vertrauen in die Rentenversicherung, sondern auch das Vertrauen in den Staat wird gefährdet. Die bisherigen Reformgesetze laufen auf eine Politik der Mangelverwaltung hinaus. Es zeugt von einem Mangel, wenn die zum Aufkommen der Rentenversicherung beitragenden Beschäftigten und auch der zur Finanzierung beisteuernde Staat sich überfordert sehen, die Rentenlast zu tragen. Und der Mangel wird auch nur verwaltet, wenn im Rahmen eines Umlageverfahrens die Rentenformel immer wieder von neuem geändert wird. Bestenfalls ist damit zu erreichen, daß die Last der fehlenden Mittel in einer von den gesellschaftlichen Kräften politisch ausgehandelten Weise zwischen Rentnern und Beitragszahlern aufgeteilt wird. Ansätze zur Überwindung des Mangels liefern die Reformgesetze nicht. 3. Ein Ausweg aus der Krise (16) Der hauptsächliche Fehler der Politik der Mangelverwaltung liegt in der Vernachlässigung der ökonomischen Möglichkeiten einer Vergrößerung des Sozialprodukts und eines Belastungsausgleichs im Zeitverlauf, wie sie durch eine Systemänderung realisierbar werden. Heute sind die Renten hoch, und die Beiträge sind vergleichsweise niedrig, so erdrückend sie auch manchem erscheinen mögen. Morgen wird es umgekehrt sein. Die Renten werden im Verhältnis zu den Lohneinkommen absinken, und der Beitragsatz wird auf ein Niveau ansteigen, das die Wirtschaft kaum noch wird verkraften können. Eine rationale Politik sollte versuchen, eine Verstetigung der Beiträge zu erreichen. Ein Teil der Last, die unweigerlich auf die Rentner, die Beitragzahler und die Steuerzahler zukommen wird, muß schon heute geschultert werden, um zu verhindern, daß sie die deutsche Volkswirtschaft morgen erdrückt. Daß es volkswirtschaftlich möglich sei, zukünftige Lasten in die Gegenwart zu verlagern, wird häufig mit dem Hinweis auf die problematische, wenngleich eingängige These bestritten, nach der aller Sozialaufwand stets nur aus dem Sozialprodukt der laufenden Periode finanziert werden könne. Diese These ist falsch und irreführend. Sie ist falsch, weil sie die Möglichkeit vernachlässigt, im Ausland akkumulierte Ersparnisse zu verbrauchen. Und sie ist irreführend, weil sie darüber hinwegtäuscht, daß sich die Last des Sozialaufwandes auf dem Wege über eine Vergrößerung des zukünftigen Sozialproduktes, die durch Ersparnis und Kapitalbildung induziert wird, leichter tragen läßt. Die Sozialpolitiker sollten endlich Abstand von dieser fehlerhaften Einschätzung der volkswirtschaftlichen Möglichkeiten nehmen. 1951
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(17) Ein Teil der hohen Rentenlast, die im dritten und vierten Jahrzehnt des nächsten Jahrhunderts anfällt, kann schon heute getragen werden, wenn mehr gespart und weniger konsumiert wird. Eine Rentenreform, die es schafft, die gesamtwirtschaftliche Ersparnis zu erhöhen und den privaten Konsum zurückzudrängen, wird die Kapitalbildung verstärken. Der schneller anwachsende Kapitalstock wird auf Dauer zu einem größeren Sozialprodukt führen, aus dem dann der Sozialaufwand leichter finanziert werden kann. Wenn die Ersparnis im Inland investiert wird, erhöht sie die Produktivität der inländischen Arbeit und die verdienten Kapital- und Lohneinkommen. Wenn sie im Ausland investiert wird, erhöht sie die Kapitaleinkommen der Inländer, die ebenfalls Teil des Sozialprodukts sind. Über das Sozialprodukt hinaus kann im Ausland investiertes Kapital auch selbst zur Finanzierung des Sozialaufwandes verbraucht werden. In Kapitel VI wird der Einfluß auf die gesamtwirtschaftliche Kapitalbildung näher untersucht. Es ist richtig, daß sich bei schrumpfender Bevölkerung auch die Verwertungsbedingungen eines gegebenen Kapitalstocks verschlechtem werden. Die Ertragsrate des Kapitals ist um so niedriger, je geringer die Zahl der Arbeitskräfte ist, die als Komplemente des volkswirtschaftlichen Kapitalstocks für den Produktionsprozeß zur Verfügung stehen. Insofern könnte die demographische Verwerfung ein Problem für das deutsche Sozialsystem bleiben. Dennoch kann nur von der Verstärkung der Kapitalbildung eine nachhaltige Entlastung erwartet werden. Die Verbesserung der Kapitalausstattung der deutschen Arbeitsplätze wird es möglich machen, ein höheres Sozialprodukt zu erwirtschaften, als es angesichts der verminderten Erwerbsbevölkerung sonst möglich gewesen wäre. Sie wird die Produktion pro Arbeitsplatz vergrößern und die Möglichkeit bieten, die Erwerbsquote trotz hoher Löhne zu steigern. (18) Sofern das zusätzliche Kapital im Ausland investiert werden soll, bietet sich darüber hinaus die Möglichkeit, den demographischen Problemen durch die Wahl bevölkerungsreicher Länder auszuweichen, die jetzt erst am Beginn ihrer wirtschaftlichen Entwicklung stehen. Zwar leiden fast alle OECD-Länder unter ähnlichen, wenn auch im allgemeinen weniger gravierenden demographischen Problemen wie Deutschland. Doch ist das Wachstum der Weltbevölkerung im ganzen ungebrochen. Ein weltweiter Mangel an attraktiven Investitionsstandorten, die einen Schutz vor einer Entwertung des Kapitals durch schrumpfende Bevölkerung bieten, ist auf absehbare Zeit wahrlich nicht zu befürchten. Schon in der unmittelbaren Nachbarschaft Deutschlands bieten sich solche Standorte. Die Kapitalarmut und das niedrige Lohnniveau in den ehemaligen Ostblockländern versprechen noch für Jahrzehnte exzellente Verwertungsbedingungen für deutsches Investitionskapital, die die These 1952
Grundlegende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung
von der Übersättigung der Welt mit Kapital ad absurdum führen. Wenn die Gefahr einer Übersättigung jemals gedroht haben sollte, so ist sie spätestens durch den Fall des Eisernen Vorhangs gebannt worden. Es ist im übrigen auch nicht zu befürchten, daß Auslandsinvestitionen unbeherrschbare Risiken mit sich bringen würden. Die Vielfalt der weltweiten Investitionsstandorte erlaubt eine weit bessere Streuung der Risiken, als sie bei einer Beschränkung auf nationale Kapitalanlagen möglich wäre. In Abschnitt 4 von Kapitel IV wird der Risikoaspekt im Detail erörtert. (19) Der Beirat empfiehlt, das System der deutschen Rentenversicherung unverzüglich in Richtung eines kapitalbildenden Systems zu entwickeln, um so die zukünftige Finanzkraft des Versicherungssystems und mit ihm die Kraft der Volkswirtschaft zu stärken. Aus grundsätzlichen ordnungspolitischen Erwägungen sollte das Kapitaldeckungssystem nicht staatlich, sondern privatwirtschaftlich organisiert werden. Nur auf diese Weise läßt sich das Kapital vor den Eigengesetzlichkeiten politischer Entscheidungsprozesse schützen, die das Augenblicksinteresse der aktiven Interessengruppen über das langfristige Gemeinwohl stellen. Und nur so läßt sich der Wettbewerb der Versicherungsträger für den Zweck der Maximierung der Anlagerendite verwerten. Allerdings ist trotz der privatwirtschaftlichen Lösung ein gesetzlicher Versicherungszwang und eine Regulierung der Versicherungsträger zum Schutze der Versicherten erforderlich. Nähere Ausführungen zu diesem Problemkreis finden sich in Abschnitt 6 von Kapitel IV. (20) Angesichts der Größe der drohenden Gefahren und der Sicherheit, mit der sie jetzt schon vorhergesehen werden können, ist es erforderlich, die nötigen Reformen in Richtung auf eine Kapitaldeckung möglichst frühzeitig einzuleiten. Das Rentenreformgesetz 1999 eröffnet keinen Weg in diese Richtung, denn es beschränkt sich bei der gesetzlichen Rentenversicherung auf Änderungen im Rahmen des überkommenen Systems der reinen Umlagefinanzierung. Die vorgesehenen Änderungen werden zwar Entlastung bringen. Doch weil sie keinerlei Ansätze für eine Vorverlagerung der in der Zukunft anfallenden Lasten beinhalten, liefern sie keinen Beitrag zur Lösung der Probleme, die ab dem Jahr 2 0 2 0 drohen. Diese Probleme gilt es bereits jetzt in den Blick zu nehmen, denn je länger man damit wartet, desto schwieriger wird es sein, eine dauerhaft tragfähige Lösung zu finden. Das gegenwärtige System der dynamisierten Rente mit ausschließlicher Umlagefinanzierung läßt sich bei einer schrumpfenden Bevölkerung auf die Dauer nicht durchhalten. Es wird durch ein kapitalgedecktes System ergänzt oder ersetzt werden müssen, weil es auf längere Sicht zu niedrige Renten liefert oder zu hohe Beitragsätze erfordert, die die Realkapitalbildung, die Beschäftigung und den Lebensstandard negativ beeinflussen. 1953
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Dies alles heißt nicht, daß nicht auch andere, flankierende Maßnahmen zur Lösung des Rentenproblems erwägenswert sind. Zu diesen Maßnahmen gehören eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, um die Arbeitslosigkeit zu senken, eine Reform des Bildungswesens, die einen früheren Berufseinstieg erlaubt, eine gezielte Einwanderungspolitik, die das Erwerbspersonenpotential stärkt, und auch familienpolitische Maßnahmen, die auf eine Erhöhung der Geburtenraten abzielen. Diesen Politikbereichen wendet sich der Beirat hier aber nicht zu, weil sie primär von anderen Zielen als dem Ziel der Rentensicherung bestimmt werden. Das gilt insbesondere für die Einwanderungspolitik. Die ökonomischen, soziologischen und politischen Probleme der Einwanderung sind so vielschichtig, daß die durch sie erzielbare Entlastung bei der Rentenversicherung daneben verblaßt.
4. Warum eine Grundrente keine Lösung ist (21) Verschiedentlich wurde in den letzten Jahren vorgeschlagen, die gesetzliche Rentenversicherung in ein System der steuerfinanzierten Grundrente umzuwandeln, bei dem alle Staatsbürger ungeachtet ihrer Einkommen den gleichen Rentenanspruch haben. Der bekannteste solcher Vorschläge stammt vom Institut für Wirtschaft und Gesellschaft (IWG) in Bonn. Der Vorschlag sieht eine für alle Bürger gleiche Grundrente in Höhe von 55 Prozent des Volkseinkommens pro Kopf vor. Auf der Basis der Einkommen von 1996 handelt es sich dabei um einen Betrag von rd. 1.500 DM pro Monat. Das entspricht dem Durchschnitt der derzeitigen gesetzlichen Altersrente zuzüglich des von der Rentenversicherung getragenen halben Beitrags zur Kranken- und Pflegeversicherung. (22) Der Beirat kann die Einführung einer steuerfinanzierten Grundrente nicht unterstützen, weil sie keinen Beitrag zur Lösung der demographisch bedingten Krise der Rentenversicherung und zum Abbau der Fehlanreize leisten würde, die von dieser Versicherung ausgehen. Die Reform würde nicht für einen Belastungsausgleich in der Zeit sorgen, was eine wichtige Zielsetzung des in diesem Gutachten unterbreiteten Vorschlags ist. An die Stelle der bisherigen Beiträge treten Steuern, die wiederum aus dem Sozialprodukt der laufenden Periode gezahlt werden. Die dringend notwendige Vorsorge für zukünftige Lasten durch den Aufbau eines zusätzlichen Kapitalstocks findet nicht statt. Im Gegenteil: Da die Menge der Anspruchsberechtigten auf die Gesamtheit aller Staatsbürger ausgedehnt wird, kommt es sogar zu einer zusätzlichen Belastung der zukünftigen Generationen von Erwerbstätigen.
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(23) Das Hauptproblem der Grundrente liegt in den massiven wirtschaftlichen Fehlanreizen auf dem Arbeitsmarkt, die sie induzieren würde. Zwar hat auch das jetzige Rentensystem solche Fehlanreize zur Folge, doch wegen der annähernden Beitragsäquivalenz halten sie sich in Grenzen. Wie in Abschnitt 3 von Kapitel III noch gezeigt wird, kann im jetzigen System immerhin etwa die Hälfte der Beiträge als kapitalmarktäquivalente Sparleistung angesehen werden. Nur die andere Hälfte hat den Charakter einer Lohnsteuer, die unerwünschte Ausweichreaktionen in Form einer Verminderung des Arbeitsangebots und einer Abwanderung in die Schwarzarbeit zur Folge hat. Die totale Entkoppelung von Abgaben und Rentenansprüchen, die den Kern des Grundrenten-Vorschlages ausmacht, würde selbst ohne eine Ausweitung des Kreises der Anspruchsberechtigten zu einer starken Zunahme der effektiven Steuerbelastung führen und deshalb die steuerlichen Fehlanreize verstärken. Eine solche Reform ist das Gegenteil dessen, was Deutschland braucht, um wieder zu einem wettbewerbsfähigen Standort zu werden. Das in diesem Zusammenhang vorgebrachte Argument, bei den Steuern könne man andere Bemessungsgrundlagen finden, die weniger Ausweichreaktionen als eine Steuer auf Lohneinkommen zur Folge haben, überzeugt nicht. Zur Wahl stehen im wesentlichen die Mehrwertsteuer und Steuern auf Unternehmertätigkeit und Vermögen. Letztere würden eher noch problematischere Ausweichreaktionen bewirken als eine Lohnsteuer, weil Kapital und Unternehmen international mobiler sind als Arbeit. Und eine Mehrwertsteuer ist großenteils ohnehin nichts anderes als eine versteckte Lohnsteuer. M a n käme also vom Regen in die Traufe. Im übrigen würde der von der Europäischen Gemeinschaft gesetzte Spielraum für Mehrwertsteuererhöhungen bei weitem nicht ausreichen, um die benötigten Finanzierungsmittel beizubringen. M a n brauchte eine Mehrwertsteuererhöhung von 15 bis 2 0 Prozentpunkten, um die Grundrente zu finanzieren. (24) Es ließe sich zwar eine Variante des Grundrenten-Vorschlags konstruieren, bei der die Grundrente auf das Sozialhilfeniveau gesenkt wird. Reformalternativen mit einer solchen Implikation hält der Beirat aber nicht für erwägenswert. Alle von ihm untersuchten Reformszenarien respektieren den Zeitpfad der Rentenansprüche, wie sie durch das Rentenreformgesetz 1 9 9 9 definiert wurden. Es sollte zu denken geben, daß man in Schweden, wo bislang ein Rentensystem mit einer starken Grundrentenkomponente realisiert war, gerade beschlossen hat, sich von der Grundrente abzuwenden. Dort ist geplant, die Beitragsäquivalenz des Rentensystems zu stärken und außerdem eine partielle Kapitaldeckung in Höhe von 2 , 5 Beitragspunkten einzuführen. 1955
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III. Umlagefinanzierung versus Kapitaldeckung: grundsätzliche Erwägungen (25) Auch in Deutschland sind Reformen in Richtung auf eine Kapitaldeckung das Gebot der Stunde, denn nur so läßt sich trotz der anstehenden demographischen Verwerfungen eine zeitliche Glättung der Beitragsbelastung erreichen und die Finanzierungsbasis verbreitern. Um die Notwendigkeit dieser Reformen zu verstehen, ist es nützlich, das Kapitaldeckungssystem und das Umlagesystem zunächst einem grundlegenden Vergleich zu unterziehen. Das ist die Aufgabe dieses Kapitels. Das danach folgende Kapitel IV wird sich dem speziellen Problem des Übergangs vom Umlage- zum Kapitaldeckungssystem zuwenden.
1. Sparillusion und
Eigentumsrecht
(26) Aus der Sicht des einzelnen Beitragzahlers ist der Unterschied zwischen einem kapitalgedeckten Versicherungssystem und einem Umlagesystem nicht offenkundig. In beiden Fällen wird ein Beitrag gezahlt, der einen späteren Rentenanspruch sichert. Im deutschen Umlagesystem gibt es eine annähernde Korrespondenz zwischen individuellen Beitragszahlungen und Rentenhöhe. Wer stets doppelt soviel einzahlt wie ein anderer seiner Generation und im Hinblick auf die versicherten Lebensrisiken das gleiche Schicksal erfährt, erhält fast doppelt so viel Rente. Diese Korrespondenz begründet einen eigentumsähnlichen Rechtsanspruch auf ein Renteneinkommen, der dem Anspruch gegen einen kapitalgedeckten Wertpapierfonds auf den ersten Blick nicht unähnlich ist. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Standpunkt in mehreren Urteilen bekräftigt. 5 Beitragsfundierte Rentenanwartschaften können in der Bundesrepublik als Eigentum im Sinne des Art. 14 des Grundgesetzes angesehen werden. Gerade der Umstand, daß die Höhe des Rentenanspruchs von der eigenen Leistung abhängt, muß nach der Auffassung des Gerichts als „tragender Grund des Eigentumsschutzes" angesehen werden. Dabei ist es nicht erforderlich, daß Anspruch und Eigenleistung einander entsprechen, doch, so das Gericht: „Je höher ... der einem Anspruch zugrunde liegende Anteil eigener Leistung ist, desto stärker tritt der verfassungsrechtlich wesentliche personale Bezug und mit ihm ein tragender Grund des Eigentumsschutzes hervor."
5
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Urteil v o m 28. 2. 1 9 8 0 , Bd. 53, S. 2 5 7 . Siehe dazu auch das Urteil vom 16. 7. 1985, ebenda Bd. 69, S. 2 7 2 ff u n d S. 3 0 1 .
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(27) Die Ähnlichkeit zwischen einer Sparleistung und einer Beitragszahlung beschränkt sich freilich auf die rechtliche Interpretation des Anspruchs gegen die Rentenversicherung, der durch die Beitragszahlung entsteht. In ökonomischer Hinsicht liegen zwischen dem Umlage- und dem Kapitaldeckungssystem Welten. Im Kapitaldeckungssystem führt die individuelle Sparleistung zu einem Mehrangebot auf den Kapitalmärkten, das sich auf dem Wege über Zinssenkungen in eine zusätzliche Kapitalbildung und wirtschaftliches Wachstum überträgt. Im Umlagesystem wird demgegenüber nur eine Zahlung von den Erwerbstätigen zu den Rentnern bewirkt. Der mit dieser Zahlung erworbene Anspruch ist nicht durch einen realen Kapitalstock fundiert, sondern richtet sich gegen zukünftige Generationen von Erwerbstätigen. Die Ersparnis im Umlageverfahren ist eine bloße mikroökonomische Illusion. Die Sparillusion des Umlageverfahrens wiegt die Generation der Beitragzahler in der trügerischen Sicherheit, Vorsorge für das Alter getroffen zu haben, obwohl sie in Wahrheit doch bloß die Generation der Rentner unterstützt hat. Damit ein Umlageverfahren dauerhaft funktioniert, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein. Die arbeitende Generation muß die Rentner finanzieren, und sie muß Kinder großziehen. Die Zahlungen an frühere Rentner begründen zwar grundsätzlich den Anspruch auf eine eigene Rente, aber erst die Investition in die Erziehung und Ausbildung der Kinder schafft die Möglichkeit, diese Rente auch wirklich zu beziehen. Nur von der Anzahl und Schaffenskraft der Kinder hängt es ab, ob einmal genug Beiträge zur Finanzierung der Renten zusammenkommen werden. Die demographischen Probleme, die die deutsche Rentenversicherung in die Krise treiben, zeigen diese Zusammenhänge in aller Klarheit. Sie entlarven die Sparillusion.
2. Anwartschaften
als implizite
Staatsschuld
(28) Die Unterschiede zwischen einem Kapitaldeckungssystem und einem Umlagesystem werden besonders deutlich, wenn man von der Neugründung eines Rentensystems ausgeht und die dabei entstehenden Zahlungsströme der beiden alternativen Systeme im Zeitablauf vergleicht. Obwohl ein solcher Vergleich nur einen hypothetischen Charakter haben kann und den historischen Gegebenheiten nicht vollends gerecht wird, ist er für ein tieferes Verständnis unerläßlich. (29) Wird ein Kapitaldeckungsverfahren eingeführt, so zahlt die erste Generation der Erwerbstätigen während ihres gesamten Arbeitslebens Sparbeiträge, die am Kapitalmarkt angelegt werden, und erst wenn diese Generation in das Rentenalter eintritt, beginnen die Auszahlungen an 1957
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eben diese Generation. Das gesparte Kapital samt Zins und Zinseszins steht für die Rentenzahlung zur Verfügung, wobei unterschiedliche Lebensdauern nach versicherungsmathematischen Grundsätzen durch einen interpersonellen Risikoausgleich abgesichert werden können. Jede nachfolgende Generation verhält sich ähnlich. In jedem Fall wird die Rente aus der eigenen Ersparnis finanziert, und es finden keinerlei Transferzahlungen zwischen den Generationen statt. (30) Wird das Umlageverfahren eingeführt, so werden die von den Erwerbstätigen eingesammelten Beiträge statt für den Aufbau eines Kapitalstocks sofort für die Zahlung von Renten verwendet. Die erste Rentnergeneration kommt deshalb in den Genuß von Leistungen, obwohl sie selbst noch keine Beiträge entrichtet hat. Wenn danach die erste Generation der Beitragzahler in das Rentenalter kommt, so muß sie sich wegen des fehlenden Kapitalstocks ebenfalls von einer nachrückenden Generation neuer Beitragzahler finanzieren lassen. Ähnlich ist es bei allen weiteren Generationen. Wie es auch im vorindustriellen Familienverbund der Fall war, zahlen die Jungen an die Alten und begründen dadurch einen Rentenanspruch gegen die nächste Generation der Jungen. Der Rentenanspruch kann wie im deutschen System durch formelle Anwartschaften gesichert werden, deren Höhe proportional zur Höhe der eigenen Beiträge ist. Die Einführungsgeneration erhält die Anwartschaften geschenkt, alle anderen Generationen müssen sie durch Beiträge zur Abgeltung der Anwartschaften der jeweils vorangehenden Generation erwerben. Die Anwartschaften, die ursprünglich auf die Gewinne der Einführungsgeneration zurückzuführen sind, werden von Generation zu Generation neu geschaffen und in einer wachsenden Wirtschaft mit zunehmendem Volumen vorangewälzt. (31) Im Lichte der Eigentumsinterpretation ist es nicht unbillig, den Wert der zu einem Zeitpunkt bestehenden Anwartschaften als eine implizite Staatsschuld zu interpretieren, denn ein Gläubiger des Staates hat ähnliche Ansprüche wie jemand, der sich durch bereits gezahlte Beiträge eine Rentenanwartschaft gesichert hat. Natürlich hat die Ähnlichkeit Grenzen, weil der Rechtsanspruch, der sich mit einer Anwartschaft verbindet, sehr viel weniger scharf definiert ist als der Anspruch auf Rückzahlung einer expliziten Staatsschuld. Aber die Unterschiede sind gradueller, und nicht prinzipieller Natur, denn die RückZahlungsverpflichtung ist auch im Falle einer expliziten Verschuldung nicht wirklich sicher definiert. Zwei dramatische Geldentwertungen in der jüngeren deutschen Geschichte und langwährende Inflationsperioden in anderen Ländern zeigen dies in aller Deutlichkeit. Die implizite Staatsschuld in Form der Anwartschaften der gesetzlichen Rentenversicherung liegt heute in der Bun1958
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desrepublik bei gut 10 Billionen Mark, beträgt also etwa das Fünffache der expliziten Staatsschuld 6 . Es steht außer Frage, daß diese implizite Staatsschuld in einem juristischen Sinne nicht mit der expliziten Staatsschuld gleichzusetzen ist. Der Zuwachs der expliziten Staatsverschuldung wird gemäß Artikel 115 des Grundgesetzes auf das Volumen der öffentlichen Investitionen begrenzt, und der Vertrag von Maastricht bezieht seine Konvergenzkriterien auch nur auf die explizite Verschuldung. Der impliziten Verschuldung in Form der Anwartschaften in der Rentenversicherung werden demgegenüber keine verfassungsrechtlichen Grenzen gesetzt. Angesichts der ökonomischen Nähe beider Verschuldungsformen ist aber gerade das ein Problem. Die implizite Staatsschuld ist eine Schuld, die nicht durch öffentliches Vermögen gedeckt ist.
3. Umverteilung zwischen den Generationen im Umlagesystem (32) Auf den ersten Blick mag es scheinen, als sei das Umlagesystem dem Kapitaldeckungssystem überlegen, weil die erste Generation Gewinne erzielt und die nachfolgenden Generationen stets durch Rentenanwartschaften für ihre Beiträge kompensiert werden. Dieser Schein trügt jedoch, weil die Nachfolgegenerationen barwertmäßig in der Regel weniger an Rente erhalten, als sie an Beiträgen leisten mußten. Die Renten sind in einer wachsenden Wirtschaft zwar absolut größer als die früheren Beiträge, mit denen man sie erwarb. Immerhin hat auch das Umlageverfahren bislang eine positive reale Rendite auf das eingezahlte Kapital geliefert. Die Renten sind aber kleiner, als sie im Falle einer Anlage der Beiträge am Kapitalmarkt gewesen wären. Insofern entsteht in Gegenwarts- oder Barwerten gerechnet ein Verlust. Das Umlageverfahren bietet keinen Weg, Ressourcen aus dem Nichts zu schaffen. Es ist ein Nullsummenspiel zwischen den Generationen. Der Gegenwartswert der Nettoverluste aller Nachfolgegenerationen gleicht gerade dem Wert der Anwartschaften, die der ersten Generation geschenkt wurden, und zu jedem Zeitpunkt gleicht der Gegenwartswert der danach noch anfallenden Verluste dem Wert der dann vorhandenen 6
Dieser Wert ergibt sich unter der A n n a h m e eines Realzinssatzes von 4 % , einer Wachst u m s r a t e des realen Lohnsatzes von 2 % u n d der Bevölkerungsprognose des Statistischen Bundesamtes (vgl. Abb. 1). Der Wert wird d u r c h die Komission „Fortentwicklung der Rentenversicherung" bestätigt: „Es w ä r e ein Kapitalstock in einer G r ö ß e n o r d n u n g von 10 Billionen D M erforderlich, u m die gegenwärtigen Renten und R e n t e n a n w a r t s c h a f t e n abzusichern ..." Bundesministerium f ü r Arbeits- und Sozialordnung, Eckpunkte für die Rentenreform '99, Bonn 1997, S. 23. 1959
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Anwartschaften. Würde das System einmal ersatzlos beendet, so könnte die letzte Generation ihre Anwartschaften nicht mehr realisieren, obwohl sie selbst Beiträge entrichtet hat. Sie müßte den gesamten Verlust tragen, den sie sich sonst mit allen ihr nachfolgenden Generationen hätte teilen können. (33) Es ist nicht einfach, das Ausmaß der Umverteilung zwischen den Generationen empirisch zu ermitteln. Das gilt insbesondere für die Einführungsgewinne. Die deutsche Rentenversicherung wurde 1889 als beitragsfinanzierte Invalidenversicherung eingeführt, die zwar sofort mit der Rentenauszahlung begann, jedoch bereits in den ersten zehn Jahren ein Vermögen in Höhe des Siebzehnfachen der jährlichen Renten akkumuliert hatte. Die dem ersten Weltkrieg folgende Inflation vernichtete das in Staatspapieren angelegte Vermögen, und so blieb anschließend nichts anderes übrig, als das System über Umlagen zu finanzieren. Die Weltwirtschaftskrise und der zweite Weltkrieg verhinderten, daß nochmals eine Kapitalbasis geschaffen werden konnte. Als im Jahre 1957 die dynamisierte Altersrente eingeführt wurde, die wir noch heute haben, blieb auch kein anderer Weg, als die so definierte Anspruchsausweitung auf dem Umlagewege zu decken. Politisch begründete Einführungsgewinne entstanden nicht nur mit der Dynamisierung im Jahr 1957, sondern auch später verschiedentlich, als es sukzessive zu einer Ausweitung der Anspruchstatbestände kam. Besonders große, aber weniger gut begründete Gewinne wurden den Selbständigen gewährt, die Anfang der siebziger Jahre rückwirkend einzahlen durften und auf diese Weise vergleichsweise hohe Ansprüche erwarben. Unvermeidliche Einführungsgewinne entstanden mit der deutschen Vereinigung, bei der die Rentner der neuen Bundesländer in das bundesdeutsche Rentensystem integriert wurden. (34) Den Einführungsgewinnen stehen barwertmäßig gleich hohe Verluste der Nachfolgegenerationen gegenüber, die großenteils noch gar nicht realisiert wurden. Das wichtigste Indiz für diese Verluste ist die Differenz zwischen der Kapitalmarktrendite und der Beitragsrendite im Umlageverfahren. Die durchschnittliche Beitragsrendite gleicht der Wachstumsrate der Beitragsumme, denn nur in dem Maße, wie die Beitragsumme in der Rentenphase über der Beitragsumme in der Einzahlphase liegt, kann der einzelne Beitragzahler mit einer Rente rechnen, die seine Beiträge übersteigt. Die Höhe der Renditedifferenz hängt von den jeweiligen historischen Bedingungen ab, jedoch haben umfangreiche empirische Untersuchungen für viele Länder und Zeitperioden gezeigt, daß ein Umlageverfahren mit einer Kapitalmarktanlage im allgemeinen nicht Schritt halten kann. Nur in begrenzten Zeiträumen hat man Gegenteiliges beob1960
Grundlegende R e f o r m der gesetzlichen Rentenversicherung
achtet. Auf längere Sicht pflegt der Zins die Wachstumsrate des Sozialprodukts und damit auch die Wachstumsrate des Beitragsvolumens zu übersteigen. Das muß aufgrund elementarer ökonomischer Gesetzmäßigkeiten auch langfristig so sein.7 (35) Die in Deutschland seit der Einführung der dynamisierten Rente geltenden Verhältnisse werden in der folgenden Abbildung 2 dargestellt, die die reale Lohnsummenwachstumsrate mit der realen interne Rendite der gesetzlichen Rentenversicherung und dem realen Zins für zehnjährige Staatsanleihen („Marktzins") vergleicht. Die interne Rendite der Rentenversicherung ist jene Verzinsung, die ein wohldefinierter Beispielsrentner in Form einer Altersrente, einer Erwerbsunfähigkeitsrente und einer Witwenrente erwirtschaftet. Es handelt sich dabei um eine mathematische Erwartungsgröße, weil die Erwerbsunfähigkeits- und die Witwenrente nur mit gewissen Wahrscheinlichkeiten gezahlt werden. Der Beispielsrentner tritt im Alter von zwanzig Jahren in die Rentenversicherung ein, bezieht ein durchschnittliches Einkommen und arbeitet dann fortwährend bis zum Rentenbeginn. Er ist mit einer drei Jahre jüngeren Frau verheiratet. Beide haben eine durchschnittliche Lebenserwartung, wobei die auf den Überlebensfall bedingte Lebenserwartung der Frau jene des Mannes erheblich übersteigt. Die Annahmen über die Wahrscheinlichkeiten, die Lebensdauern und das Alter bei Erwerbsunfähigkeit entsprechen den Anteils- und Durchschnittswerten, wie sie sich in der achten koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes finden. (36) In der Abbildung werden Alterskohorten unterschieden, die in den Jahren seit Gründung der gesetzlichen Rentenversicherung im Jahr 1957 bis zum Jahre 2015 die Erwerbstätigkeit aufnehmen. Die erste Kohorte, die die Erwerbstätigkeit 1957 begann, bezieht ihre reguläre Altersrente ab 7
Ergäbe sich nämlich ein Renditevorsprung zugunsten des Umlageverfahrens - läge also der Zinssatz unter der W a c h s t u m s r a t e des Sozialprodukts - , so w ü r d e die W i r t s c h a f t zu einer übermäßigen Kapitalbildung mit a s t r o n o m i s c h h o h e n Bodenpreisen u n d Aktienkursen neigen. Bodenpreise u n d Aktienkurse spiegeln die Gegenwartswerte von erwarteten Pachterträgen u n d Dividenden wieder, u n d der theoretische G e g e n w a r t s w e r t von Erträgen, die d a u e r h a f t schneller wachsen als der Zinsfaktor, mit dem sie diskontiert werden, ist unendlich. In einer Welt, in der die W a c h s t u m s r a t e des Sozialprodukts den Zins übersteigt, w ä r e es im übrigen auch nicht nötig, Steuern zu erheben. Die Staatsverschuldung w ä r e hier das Finanzierungsmittel der ersten Wahl. Selbst w e n n die öffentlichen Ausgaben und die Zinsen auf die a n w a c h s e n d e Staatsschuld stets n u r d u r c h neue Verschuldung gedeckt w ü r d e n , k ä m e es doch nicht zu einem Anstieg der Staatsschuldenquote. Das Sozialprodukt liefe den Schulden immer wieder d a v o n . Dies alles w ü r d e dazu f ü h r e n , d a ß sich eine Ü b e r s c h u ß n a c h f r a g e nach Krediten entwickelte, die zu einem Zinsanstieg f ü h r t e u n d damit diesen unnatürlichen Z u s t a n d beendete. Die Realität ist von einer solchen Schlaraffenlandwelt sehr weit entfernt. 1961
Gutachten vom 20. und 21. Februar 1998 4,5% 4,0% •
Marktzins (real)
3,5% -(;
1,0% 0,5% 4 0,0% + 1957
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Beginn der Erwerbstätigkeit
Abb. 2: Die interne Rendite in der gesetzlichen Rentenversicherung Quellen: Eigene Berechnungen; OECD, Main Economic Indicators, verschiedene Jahrgänge (Zinsen langjähriger Staatsanleihen); Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 1997, Tabelle 23.12 (Preisindex); Statistisches Bundesamt, Achte koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung·, Statistisches Bundesamt, Sterbetafel 1994/96 (Früheres Bundesgebiet); VDR, Rentenversicherung in Zeitreihen 1997 (Löhne, Beitragsatz); DIW, Vierteljährliche volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (Bruttolohn- und Gehaltsentwicklung 1996 und 1997). Legende: Die interne Rendite der gesetzlichen Rentenversicherung für den Beispielsrentner ist derjenige reale Zinsfuß, den dieser Rentner bei einer Kapitalmarktanlage auf seine Beitragszahlungen erhalten müßte, um eine Rente wie im Umlageverfahren zu erwerben. Zum Renditevergleich wurden die 50-jährigen vorwärtsgerichteten geometrischen Mittel der Realzinsen für langjährige Staatsanleihen und des jährlichen realen Lohnsummenwachstums verwendet. Für die Jahre ab 1998 wurde ein konstanter Realzins von 4 % und ein konstantes Wachstum des Lohnsatzes von 2 % unterstellt. Der (männliche) Beispielsrentner ist im Prinzip von seinem 20. bis 64. Lebensjahr erwerbstätig. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 16,6% wird er jedoch mit 53 Jahren erwerbsunfähig. Vom 65. bis zum 75. Geburtstag bezieht er eine Altersrente (=Lebenserwartung zu Beginn der Erwerbstätigkeit mit zwanzig Jahren). Nach seinem Tod erhält seine drei Jahre jüngere Witwe, die ihn mit einer Wahrscheinlichkeit von 81 % überlebt, noch für 13 Jahre eine Witwenrente (=bedingte Lebenserwartung für den Fall, daß die Witwe das Alter von 72 Jahren erreicht hat) in Höhe von 60 % der Altersrente ihres Mannes.
dem Jahr 2002. Sie ist in der Lage, eine reale Rendite von etwa 2,8 Prozent zu erwirtschaften. Aber spätere Kohorten erzielen wegen der fortschreitenden Verschlechterung der Altersstruktur nur geringere Renditen. Personen, die im Jahr 2000 die Erwerbstätigkeit beginnen, können nur noch mit einer Rendite von etwa 1,6 Prozent rechnen. Im ganzen folgt der 1962
Grundlegende R e f o r m der gesetzlichen Rentenversicherung
Zeitpfad der internen Rendite der realen Wachstumsrate der Lohnsumme, die die theoretisch richtige Erklärungsgröße für diese Rendite ist. Die reale Wachstumsrate der Lohnsumme wird in dem Diagramm als ein über die jeweils kommenden fünfzig Jahre geometrisch gemittelter Durchschnittswert dargestellt, wobei bis 1997 der tatsächliche Wachstumsverlauf und danach eine Prognose für die Berechnungen herangezogen wird. Die Prognose geht davon aus, d a ß der reale Lohnsatz jährlich um 2 Prozent ansteigt. Bei einer konstanten Bevölkerungsstruktur hätte dies zur Folge, daß auch die reale Lohnsumme um diesen Prozentsatz wächst und daß die in der Abbildung ausgewiesene Rendite im Zeitablauf gegen 2 Prozent konvergiert. Da sich die Bevölkerungsstruktur aber für die Rentenversicherung immer mehr verschlechtert, fallen beide Größen. Die Rendite der Beispielsrentner, die der Rentenversicherung ab dem J a h r 1990 beitreten, also ab 2 0 3 5 eine Rente beziehen, liegt nicht einmal mehr bei 2 Prozent. H ä t t e der Beispielsrentner 1957 die Erwerbstätigkeit begonnen und hätte er seine Vorsorgeaufwendungen steuerfrei revolvierend in zehnjährigen Staatsanleihen anlegen und sich die angesparten Beträge dann zu versicherungsmathematisch fairen Konditionen verrenten lassen können, so hätte er eine sehr viel höhere Rendite als im Umlageverfahren erwirtschaftet. Anhaltspunkte d a f ü r gibt die obere Kurve der Abbildung 2, die die über fünfzig Jahre geometrisch gemittelte interne Rendite zehnjähriger Staatsanleihen für alternative Jahre der Erstanlage angibt. Wiederum konnten dabei tatsächliche Zahlen nur bis einschließlich 1997 verwendet werden. Für die Zeit danach gehen die Rechnungen von einer jährlichen Rendite in H ö h e von 4 Prozent aus. Werden die jeweils besten Anlagemöglichkeiten auf den Kapitalmärkten gesucht, so ließen sich noch höhere Renditen erwirtschaften. Der Vergleich mit der Rendite der Staatsanleihen mag aber genügen, um den Renditenachteil des Umlageverfahrens zu verdeutlichen. (37) Der Renditenachteil, den die Rentenversicherung im Vergleich mit einer Kapitalmarktanlage mit sich bringt, kann wie eine Steuer, die den Beitragspflichtigen auferlegt wird, interpretiert werden, denn nur ein Teil der Beiträge erwirbt Ansprüche, wie sie aus einer Kapitalmarktanlage resultieren. Der Rest wird zur Finanzierung der Altlasten benötigt. Definiert man jenen Teil der Beiträge, der kapitalmarktäquivalente Ansprüche erwirtschaftet, als „Sparanteil" und den Rest als „Steueranteil", so lassen sich diese Anteile unmittelbar aus den Informationen errechnen, die für die Abbildung 2 verwendet worden sind. Das Ergebnis der Rechnungen wird in der Abbildung 3 dargestellt, die sich wiederum auf den definierten Beispielsrentner bezieht und unterschiedliche Eintritts1963
Gutachten vom 20. und 21. Februar 1998
Anteil des Beitrags 100,0% 90,0% 80,0% 70.0%
Sparanteil
60.0% 50,0% 40,0% 30,0%
Steueranteil
20.0% 10,0% 0,0% 1957
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Beginn der Erwerbstütigkeit
Abb. 3: Spar- und Steueranteil in der gesetzlichen Rentenversicherung Quellen: Wie Abb. 2. Legende: Der Sparanteil gibt an, welcher Anteil der Beiträge im Falle einer unversteuerten Kapitalmarktanlage ausgereicht hätte, den gleichen Rentenanspruch zu sichern, wie ihn die gesetzliche Rentenversicherung gewährt. Der Steueranteil ist die Differenz zwischen, 100 Prozent und diesem Sparanteil. Die Annahmen der Berechnung sind die gleichen wie die bei Abbildung 2 verwendeten.
alter in die Erwerbstätigkeit zwischen 1957 und 2015 betrachtet. Man sieht, daß der implizite Steueranteil anfangs bei nur 30 Prozent der Beiträge lag, inzwischen aber bis auf etwa 50 Prozent angestiegen ist. Wer heute im Alter von 20 Jahren in die Rentenversicherung eintritt, muß damit rechnen, daß seine Beiträge im Mittel über sein gesamtes Arbeitsleben nur zu etwa halb so hohen Renten führen werden, wie sie bei einer unversteuerten Kapitalmarktanlage zu erwirtschaften gewesen wären. (38) Die implizite Steuer, die in den Beiträgen steckt, ist das Pendant der Einführungsgewinne. Ihr Gegenwartswert, summiert über alle Nachfolgegenerationen, entspricht gerade dem Gegenwartswert der Einführungsgewinne. Die Umverteilung zwischen den Generationen, die sich in den Einführungsgewinnen und der späteren impliziten Steuerlast zeigt, muß als ein erheblicher allokativer Nachteil des Umlageverfahrens gewertet werden. Jede Umverteilung ruft nämlich Verhaltensänderungen bei den Begünstigten und den Besteuerten hervor. Sie führt zu einer Abweichung von den optimalen Wirtschaftsplänen und ist insofern wie ein 1964
Grundlegende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung
Schwund bei den umverteilten Ressourcen zu werten. Die Begünstigten strengen sich an, mehr Transfers zu erhalten, und die Besteuerten versuchen, ihr Verhalten so zu ändern, daß sich ihre Steuerlast verringert. Im Fall des Umlageverfahrens sind insbesondere die Ausweichreaktionen der Nachfolgegenerationen problematisch. Die implizite Steuerlast in den Beiträgen schafft einen künstlichen Anreiz, in die Schwarzarbeit auszuweichen oder ganz auf die Arbeit zu verzichten und sich statt dessen mit der Sozialhilfe zu begnügen. Angesichts der Größe dieser Ausweichreaktionen und der mit ihnen verbundenen volkswirtschaftlichen Kosten spricht wenig dafür, das Umlagesystem dem Kapitaldeckungssystem vorzuziehen. Ginge es darum, ein Rentenversicherungssystem ab ovo zu errichten, so wäre die Wahl wohl eindeutig.
IV. Der Systemwechsel (39) Deutschland steht indes heute nicht vor der Entscheidung, das Umlage- oder das Kapitaldeckungssystem einzuführen. Die Frage ist vielmehr, ob und in welchem Maße das vorhandene Umlagesystem durch ein kapitalgedecktes System ersetzt oder ergänzt werden soll. Es gibt eine Reihe von guten Gründen, den ersten Teil dieser Frage zu bejahen. Dazu gehört die Antizipation und Bewältigung zukünftiger Finanzierungslasten, die Individualisierung der Sparentscheidung sowie der bessere Risikoschutz gegenüber demographischen Verwerfungen und Änderungen des Faktorpreisverhältnisses von Arbeit zu Kapital. Es gibt jedoch auch lediglich scheinbare Vorteile des Systemwechsels, die man als solche erkennen sollte, um sich vor einem übereilten Urteil zu schützen.
1. Unentrinnbare Altlast (40) Zu den klaren Vorteilen des Systemwechsels gehört der Renditevorsprung, den eine Kapitalmarktanlage gegenüber der Beitragszahlung im Umlageverfahren aufweist und der auf den Entfall der in den Umlagebeiträgen enthaltenen impliziten Steuer zurückzuführen ist. Nur auf diesen langfristigen Vorteil zu achten, wäre aber kurzsichtig, denn man darf die bereits im Umlageverfahren erworbenen Anwartschaften nicht vergessen. Zur Finanzierung dieser Anwartschaften müßte bis zu ihrem Auslaufen auch im Fall des Systemwechsels eine Steuer erhoben werden oder eine Umlage, die einer Steuer gleichkommt. Im Falle eines sofortigen und vollständigen Übergangs auf die Kapitaldeckung, bei dem alle bereits erworbenen Rentenanwartschaften respek1965
Gutachten vom 20. und 21. Februar 1998
tiert werden und zusätzliche Ansprüche ausschließlich aus echter Ersparnis stammen, müßte die Steuer anfangs so hoch wie der bisherige Rentenbeitrag sein, und erst im Laufe der Zeit, mit dem allmählichen Auslaufen der alten Ansprüche, könnte sie auf Null zurückgeführt werden. Addiert man die Steuer zur notwendigen Sparleistung, so entstehen sehr hohe anfängliche Belastungen, die um bis zu zehn Prozentpunkten über dem derzeitigen Beitragsatz liegen. (41) Eine anfangs moderatere Gesamtbelastung ergibt sich, wenn ein Teil oder die Gesamtheit der Rentenansprüche aus dem alten System nicht durch Steuern, sondern durch offene Staatsverschuldung finanziert wird. Dies bedeutet jedoch nur eine Verschiebung der Steuerlast in die Zukunft, denn die Staatsverschuldung m u ß samt Zins und Zinseszins durch spätere Steuereinnahmen bedient werden. Im Extremfall ließe sich auf diese Weise sogar dauerhaft derselbe zeitliche Belastungsverlauf erzeugen, wie er sich bei einer Fortsetzung des Umlagesystems ergeben hätte. Die Staatsschuld würde in diesem Fall im Laufe der Zeit gegen denselben Wert konvergieren, den auch die Anwartschaften bei einer Fortsetzung des Umlagesystems gehabt hätten. Implizite Staatsschuld w ü r d e in offene Staatsschuld umgewandelt. Welche zeitliche Verteilung der Steuerlast auf dem Wege über eine zwischengeschaltete offene Staatsverschuldung auch immer angestrebt wird: Der Gegenwartswert dieser Last ist immer derselbe. Der Gegenwartswert der expliziten Steuerlast nach dem Systemwechsel gleicht stets dem Gegenwartswert, den die implizite Steuerlast bei einer Fortsetzung des Umlageverfahrens zum gleichen Zeitpunkt gehabt hätte. Die implizite Steuerlast ist jener Teil der Beiträge im Umlageverfahren, der wegen des Renditevorsprungs des Kapitaldeckungssystems nicht zu kapitalmarktäquivalenten Rentenansprüchen führt. Sie ist das Pendant der impliziten Staatsschuld, die das Umlageverfahren in Form der Anwartschaften vor sich herwälzt. Der Systemwechsel wandelt die implizite in eine explizite Steuerlast um und ermöglicht es, den Zeitpfad dieser Last zu verändern. Er bietet aber keine Möglichkeit, der Altlast in Form der bereits existierenden Anwartschaften zu entrinnen.
2. Unvermeidliche Verzerrungen am Arbeitsmarkt (42) Wegen der unentrinnbaren Altlast schwindet auch ein Großteil der H o f f n u n g , die Verzerrungen am Arbeitsmarkt durch die Einführung einer partiellen oder vollständigen Kapitaldeckung zu verringern. Der implizite Steueranteil in den Beiträgen des Umlageverfahrens veranlaßt die Arbeitnehmer zu Ausweich- und Umgehungsreaktionen in Form ver1966
Grundlegende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung
stärkter Schwarzarbeit oder auch nur in Form eines Verzichtes auf Marktbeschäftigung zugunsten vermehrter Freizeit. Es ist zwar wünschenswert, solche Reaktionen zu vermindern, jedoch ist es wegen der barwertmäßigen Konstanz der Steuerlast bei allen Systemen und Reformalternativen keineswegs offenkundig, daß der Übergang zum Kapitaldeckungsverfahren zur Erreichung dieses Ziels einen wesentlichen Beitrag leisten kann. Natürlich würde die Verzerrung am Arbeitsmarkt nach Abschluß des Ubergangs in die Kapitaldeckung verschwunden sein, aber dieses wünschenswerte Ergebnis ließe sich nur um den Preis einer anfänglich vergrößerten Verzerrung erreichen. Anfangs müßten Steuern in Höhe der jetzigen Beiträge erhoben werden, die ausschließlich zur Finanzierung der Altlast dienen und keinerlei Anwartschaften schaffen. Allmählich, mit dem Auslaufen der alten Rentenansprüche, ließe sich diese Steuerlast jedoch zurückfahren. Im Vergleich zum alten System hieße dies, daß die Steuerlast, die derzeit nur etwa die Hälfte der Beiträge ausmacht, anfangs fast verdoppelt ist. Langfristig verschwindet sie völlig. (43) Mit einer Verminderung der Verzerrungen am Arbeitsmarkt ließe sich bei einem Übergang zur Kapitaldeckung allerdings insofern rechnen, als ein solcher Übergang die in der Rentenversicherung angelegte Umverteilung zwischen Angehörigen der gleichen Generation eliminieren würde. Diese Umverteilung wird insbesondere durch die beitragsfreien Ersatzzeiten verursacht, die Ansprüche zu Lasten von Beitragzahlern ohne solche Zeiten begründen. Sie stört die individuelle Beitragsäquivalenz über das Maß hinaus, das bereits durch den Generationenzusammenhang vorgegeben ist, und vermindert den Anreiz, einer regulären Beschäftigung nachzugehen. Diese Form der Umverteilung ist wegen einer weitgehenden Beitragsäquivalenz der Renten indes im deutschen System der gesetzlichen Rentenversicherung bisher von vergleichsweise geringer Bedeutung und ließe sich, wenn man es wollte, auch innerhalb des Umlagesystems vermeiden. Außerdem ist es nicht klar, daß der Gesetzgeber die mit der Umverteilung zwischen Angehörigen derselben Generation angestrebten sozialpolitischen Ziele bei einem Übergang zum Kapitaldeckungssystem aufgeben würde. Würde der Übergang durch ein Steuer-Transfer-System flankiert, das die gleichen Umverteilungseffekte hätte wie die jetzige Rentenversicherung, so blieben auch die Verzerrungswirkungen dieselben.
3. Realkapital als Ersatz des fehlenden
Humankapitals
(44) Wenngleich der Systemwechsel in Richtung auf eine Kapitaldeckung keine schnellen finanziellen Vorteile verspricht, so ist dennoch dringend 1967
Gutachten vom 20. und 21. Februar 1998
zu einem solchen Wechsel zu raten, schon um eine zeitliche Glättung der Belastungen und Konsummöglichkeiten der Versicherten zu erreichen. Die Notwendigkeit einer solchen Glättung begründet sich in der demographischen Verwerfung, die die Rentenversicherung mindestens im dritten und vierten Jahrzehnt des nächsten Jahrhunderts massiv bedrohen wird. Diese Verwerfung ist keine Marginalie, die sich mit der bislang gewählten Politik der Mangelverwaltung in den Griff bekommen ließe, sondern sie ist ein erhebliches wirtschaftliches Problem, dem nur durch eine sofortige umfassende Reform der Rentenversicherung beizukommen ist. Das Umlageverfahren setzt die Investition in die Erziehung und Ausbildung von Kindern voraus, also die Bildung von Humankapital. Die zu erwartende Halbierung der Zahl der Jungen relativ zu den Alten bedeutet einen so massiven Verlust an Investitionsmöglichkeiten beim Humankapital, daß das Umlageverfahren nicht überleben kann. Der Versuch, die Alterssicherung allein auf der Basis von Beitragsforderungen gegen die Generation der Erwerbstätigen zu gründen, muß scheitern. Da der Mangel an gut ausgebildeten Arbeitskräften auch durch eine liberale Einwanderungspolitik kaum in nennenswertem Umfang behoben werden kann und da eine Politik der Geburtenförderung, selbst wenn sie denn politisch akzeptabel sein sollte, zu spät käme, bleibt nur der Versuch, das fehlende Humankapital durch Realkapital zu ersetzen, also zum Kapitaldeckungsverfahren überzugehen. Nur auf diese Weise kann es gelingen, die zur Finanzierung des zukünftigen Sozialaufwandes benötigten Ressourcen bereitzustellen. Die Zeit dafür ist kurz, aber sie reicht. Die Krise beginnt um das Jahr 2020 und verschärft sich bis etwa zum Jahr 2035. Die von heute an noch verbleibenden zwanzig Jahre reichen aus, zwischenzeitlich genug Kapital anzusammeln, um die zukünftigen Belastungsspitzen zu verhindern, ohne dabei heute neue Belastungsspitzen entstehen zu lassen. Ausführliche Berechnungen dazu werden im Kapitel V vorgestellt. Wenn man die Renten sichern will, ohne den Beitragsatz in bedrohliche Höhen steigen zu lassen, gibt es zur sofortigen Kapitalbildung keine Alternative, denn man kann die absehbare Knappheit nicht durch Wunschdenken überwinden. Eine Generation, die im Alter eine auskömmliche Rente haben will, muß während ihres Arbeitslebens hinreichend Humankapital oder Realkapital bilden. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Die Generation der heute Erwerbstätigen zieht es vor, nur noch wenige Kinder großzuziehen. Sie schränkt also die Humankapitalbildung ein. Im Prinzip verfügt diese Generation über eine ausreichende Leistungsfähigkeit, die eigene Versorgung im Alter sicherzustellen, indem 1968
Grundlegende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung
sie die bei der Kindererziehung eingesparten Mittel am Kapitalmarkt anlegt. (45) Man könnte diese Gedanken weiterentwickeln und etwa daran denken, ein individuelles Verursacherprinzip bei der Ausgestaltung einer umlagefinanzierten Rentenversicherung zu berücksichtigen. Denn im Grunde entstehen die Finanzierungsprobleme des Umlageverfahrens dadurch, daß Haushalte ohne Kinder sich an den Arbeitseinkommen der Kinder anderer Leute beteiligen können, daß also mit der Einführung dieses Verfahrens eine Sozialisierung der Schaffenskraft der Kinder vorgenommen wurde. Auch zeigt eine Vielzahl empirischer Untersuchungen, daß diese Sozialisierung selbst zum Rückgang der Geburtenraten beigetragen hat. Eine Reform der Rentenversicherung, die diesen Zusammenhängen Rechnung trägt, könnte die Höhe der umlagefinanzierten Rente teilweise von der individuellen Kinderzahl abhängig machen und verlangen, daß die bei der Kindererziehung eingesparten Beträge am Kapitalmarkt angelegt werden, um auf diese Weise Ersatz für die fehlenden Renten zu schaffen. Alternativ wäre daran zu denken, den Familienlastenausgleich über das staatliche Budget zu verstärken. Aber im Falle eines allgemeinen Übergangs in die Kapitaldeckung sind solche Maßnahmen entbehrlich.
4. Risikoschutz durch Kapitaldeckung (46) Die Diskussion des Kapitels II hat gezeigt, daß eine Rentenversicherung auf der Basis des Umlageverfahrens hohen demographischen Risiken ausgesetzt ist. Auch wenn die kommende Krise heute noch nicht mit hoher Sicherheit vorhersehbar wäre, könnte man doch ähnliche Krisen in der Zukunft niemals ausschließen. Ein Rückgang der Geburtenraten gehört stets zu den Gefahren, die die Versicherten befürchten müßten. Auf einer ähnlichen Ebene liegt die Gefahr wirtschaftlicher Veränderungen, die zu einer Entkoppelung der Lohnentwicklung vom allgemeinen wirtschaftlichen Wachstum führen. Deutschland sieht sich durch die Globalisierung der Wirtschaft und die Niedriglohnkonkurrenz seitens der Länder, die vor kurzem noch durch den Eisernen Vorhang abgetrennt waren, einem hohen Wettbewerbsdruck ausgesetzt. Die Knappheitsverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit haben sich in den letzten Jahren massiv zu Lasten der Arbeit verändert, weil die neu am internationalen Handel beteiligten Länder relativ arm an Kapital, aber reich an Arbeit sind. Dies hat schon heute einen erheblichen Druck auf die deutschen Löhne erzeugt, und es ist nicht auszuschließen, daß das Wachstum der Löhne längerfristig hinter dem Wachstum des Sozialproduktes 1969
Gutachten vom 20. und 21. Februar 1998
zurückbleiben wird, ähnlich wie es in extremem U m f a n g in den USA während der letzten zwanzig Jahre der Fall war. Selbst wenn es das demographische Problem nicht gäbe, würde schon dieser Effekt eine erhebliche Gefahr für die Renten im Umlagesystem bedeuten, weil sie direkt an die Lohnhöhe gekoppelt sind. (47) Ein Übergang zur Kapitaldeckung w ü r d e auch dieses Problem vermeiden helfen. Rentner, die sich auf Kapitaldeckung verlassen können, würden zu den Gewinnern der historischen Veränderung der Knappheitsverhältnisse gehören, die derzeit zu beobachten ist. Natürlich können sich die Verhältnisse wieder ändern. Aber auch für eine fernere Zuk u n f t gilt, daß eine einseitige Bindung der Renten an die Lohneinkommen ein unnötiges Finanzierungsrisiko schafft. Zumindest eine partielle Kapitaldeckung ist ratsam, um dieses Risiko zu vermindern. Schließlich bietet die Kapitaldeckung die Möglichkeit, die Renten auf dem Wege einer weltweiten Diversifikation der Anlagen gegenüber nationalstaatlichen Wirtschaftsrisiken zu sichern. Auch die wirtschaftliche Stabilität Deutschlands läßt sich von niemandem garantieren. Niemand weiß, wie sich unser Land im internationalen Wettbewerb behaupten wird, ob es von Katastrophen verschont bleibt und ob es ein attraktiver Investitionsstandort bleibt. Eine Rentenversicherung, die sich ausschließlich auf nationale Einnahmequellen verläßt, setzt sich diesen Risiken ungeschützt aus. Natürlich sind auch Auslandsanlagen riskant. Die Krise der fernöstlichen Staaten zeigt dies in aller Deutlichkeit. Keinesfalls ist es empfehlenswert, die zu investierenden Kapitalbeträge in nur einer Region oder gar nur einem Land anzulegen. Vielmehr sollten die verfügbaren Ersparnisteile in breit diversifizierten Fonds angelegt werden, die möglichst viele unabhängige Risiken aus allen Teilen der Welt umfassen. Das auf den einzelnen entfallende Anlagerisiko läßt sich auf diese Weise sehr gut beherrschen. Zu einer risikominimierenden Sicherungsstrategie gehört es auf jeden Fall, neben inländischen auch ausländische Quellen zur Finanzierung der Renten heranzuziehen. N u r das Kapitaldeckungssystem bietet dazu die Möglichkeit. (48) Dies alles heißt nicht, daß es nicht auch Risiken gäbe, denen das Kapitaldeckungssystem in stärkerem M a ß e ausgesetzt ist als das Umlagesystem. Zwei Inflationen, die Entwertung der Kriegsanleihen im ersten Weltkrieg und besonders die Erfahrungen im Anschluß an den zweiten Weltkrieg haben den Verlust der privaten Alterssicherung zu einem kollektiven Trauma werden lassen. Auch ein kapitalgedecktes Rentenversicherungssystem hätte diese Brüche in der wirtschaftlichen Entwicklung nicht unbeschadet überlebt. Z u d e m m u ß m a n sehen, daß das Kapitaldeckungssystem besonderen politischen Risiken ausgesetzt sein kann. 1970
Grundlegende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung
Die Erfahrungen, die in der Vergangenheit mit staatlichen kapitalgedeckten Versicherungssystemen gemacht wurden, sind nicht sehr überzeugend. Die angesparten Kapitalien sind von ambitiösen Politikern vergeudet worden, so daß fast alle heute existierenden staatlichen Rentenversicherungen auf das Umlageverfahren zurückgefallen sind. Das aber sind keine Gründe, die es ratsam erscheinen lassen, die Alterssicherung ausschließlich auf dem Wege der Umlage zu organisieren. Unter Risikogesichtspunkten ist es sicherlich besser, eine gemischte Strategie zu wählen und sich auch der Kapitaldeckung zu bedienen. (49) Die politischen Risiken lassen sich begrenzen, wenn der kapitalgedeckte Teil der Rentenversicherung glaubwürdig der Politik entzogen wird. Dies kann durch Privatisierung und Wettbewerb geschehen. Die Bürger sollten den kapitalgedeckten Teil ihrer Rentenversicherung nicht bei den öffentlichen Rentenversicherungsträgern abschließen, sondern bei privaten Versicherungsunternehmen und privaten Pensionsfonds ihrer Wahl. Für eine solche Lösung kann man aus den Erfahrungen der USA und Großbritanniens mit ähnlichen Konstruktionen lernen. 8 Auch in Deutschland kann man wohl darauf vertrauen, daß der Eigentumsschutz des Grundgesetzes eine politische Verwendung der privat angesammelten Kapitalien für Geschenke an Dritte weitgehend ausschließen würde.
5. Ordnungspolitische
Aspekte
(50) Die Kommission „Fortentwicklung der Rentenversicherung" hat in ihrem für die Bundesregierung erstellten Gutachten ordnungspolitische Bedenken gegenüber einer vollständigen oder partiellen Kapitaldeckung in der Rentenversicherung geltend gemacht und argumentiert, daß die Kapitaldeckung der Notwendigkeit widerspreche, „wirtschaftliche Machtkonzentration zu verhindern und den Staatseinfluß durch Privatisierung und Deregulierung zurückzudrängen". 9
8
9
Die britische Rentenreform von 1986 eröffnete allen Versicherungspflichtigen die Option, den über die Sozialhilfe hinausgehenden Teil des obligatorischen Versicherungsschutzes von privaten Versicherungsunternehmen zu erwerben. Wer, wie die meisten Betroffenen, von diesem „Opt-out" Gebrauch machte, erhielt einen Beitragsrabatt in Höhe von zwei Prozentpunkten, eine Steuerrückerstattung und eine Sparzulage. Es hat in Großbritannien Probleme mit einer unserösen Beratung durch private Versicherungsgesellschaften gegeben. Das ließe sich aber durch eine Regelung der Hauptcharakteristika der Anlageverträge und durch eine staatliche Aufsicht der Gesellschaften vermeiden. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Eckpunkte für die Rentenreform '99, Bonn 1997, S. 23f. 1971
Gutachten vom 20. und 21. Februar 1998
Dieses Verdikt richtet sich gegen eine Ausgestaltung des kapitalgedeckten Versicherungsteils, die der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft nicht empfiehlt. Vor einer Verwaltung der angesparten Kapitalien durch eine Bundesbehörde ist nicht nur wegen der Gefahr einer Zweckentfremdung der angesparten Mittel, sondern auch wegen der mit ihrer Verwaltung verbundenen wirtschaftlichen Macht zu warnen. Die schon zum Schutz gegen politische Risiken erforderliche Privatisierung der Kapitalanlageentscheidungen schließt die von der Kommission befürchteten Gefahren aus. (51) Im Gegensatz zur Meinung der Kommission sprechen ordnungspolitische Erwägungen nicht gegen das Kapitaldeckungssystem, sondern bieten eine ganz erhebliche Stärkung der schon vorgebrachten wirtschaftlichen Argumente, die für die Kapitaldeckung und gegen die Umlage sprechen. Den Prinzipien der Eigenvorsorge, der individuellen Gestaltungsfreiheit und der Beschränkung des Staatseinflusses auf das Unabdingbare wird gerade ein Kapitaldeckungsverfahren in besonderer Weise gerecht. Beim privatisierten Kapitaldeckungsverfahren verfügt der Anleger im Gegensatz zur Umlagefinanzierung über einen klar definierten Auszahlungsanspruch, kann zwischen privaten Pensionsfonds und Versicherungen wählen und ist stets über den erreichten Gegenwartswert seiner kumulierten Ersparnisse informiert. Vor allem ist er gegen die Möglichkeit einer spezifischen politischen Manipulation der ihm zustehenden Auszahlungen gefeit. Im Ganzen erfüllt das Kapitaldeckungssystem die ordnungspolitischen Anforderungen an eine marktwirtschaftlich-individualistisch orientierte Rentenversicherung in hohem Maße. (52) Auch die deutsche Rentenversicherung steht insofern im Einklang mit solchen Anforderungen, als sie im Gegensatz zu den Rentensystemen vieler Länder auf dem Prinzip der Beitragsäquivalenz der Renten aufbaut. Die Beitragsäquivalenz in Deutschland ist allerdings im Sinne einer weitgehenden Proportionalität zwischen Beiträgen und Renten nur bei Personen gesichert, die zur gleichen Zeit in die Rentenversicherung eintreten und das gleiche relative Lebensprofil der Einkommen aufweisen. Wer in jedem Jahr 10 Prozent mehr einzahlt als sein Nachbar, erhält später auch etwa 10 Prozent mehr Rente. Gestört ist die Beitragsäquivalenz dagegen in zeitlicher Hinsicht. Zum einen sind Personen, die spät im Arbeitsleben hohe Beiträge leisten, renditemäßig besser gestellt als solche, die in jungen Jahren hohe Beiträge leisten. Da der Zinssatz über der Wachstumsrate der Beitragsumme liegt, ist der implizite Steueranteil in den Beiträgen umso höher, je weiter man vom 1972
Grundlegende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung
Rentenalter entfernt ist. Zum anderen ist die Beitragsäquivalenz zwischen den Generationen gestört. Wer das Pech hat, einer geburtenschwachen Generation anzugehören, muß relativ hohe Beiträge leisten, ohne dafür höhere Rentenansprüche zu erwerben, und umgekehrt. Nach der Rentenformel werden nämlich die Beitragszahlungen einer Generation nicht an dem von dieser Generation später zu beziehenden Rentenniveau ausgerichtet, sondern an dem Rentenniveau der im Ruhestand lebenden Generation, an die die Beitragseinnahmen unmittelbar als Renten ausgezahlt werden. Der Effekt kann zwar durch diskretionäre Eingriffe in die Rentenformel abgemildert werden, bleibt aber als solcher stets erhalten. (53) Diskretionäre Eingriffe sind im übrigen selbst ein ordnungspolitisches Problem, weil sie der Politik die Möglichkeit geben, spezielle Umverteilungsziele in die Rentenversicherung einzubringen. Viele Änderungen einzelner Bestimmungen während der vergangenen vierzig Jahre zeigen, wie sehr die Beitragsäquivalenz durch solche Eingriffe gestört wird. Zu erinnern ist an die Erweiterung des Kreises der Begünstigten durch die Rentenreform im Jahr 1 9 7 2 , an die kompensationslose Erweiterung infolge der deutschen Vereinigung und an das Experimentieren mit Vorruhestandsregelungen aufgrund arbeitsmarktpolitischer Gesichtspunkte, die mit der Versicherungsaufgabe der Rentenversicherung nichts zu tun hatten. All diese Maßnahmen haben Umverteilungswirkungen gehabt, die letztlich zu Lasten jener Arbeitnehmer gehen, die über mehrere Jahrzehnte hinweg Beiträge eingezahlt und keine Sonderregelungen in Anspruch genommen haben. Trotz des Eigentumsschutzes der Anwartschaften durch das Grundgesetz bietet das Verfahren der Umlagefinanzierung dem Beitragzahler keinen durchsetzbaren Anspruch auf einen klar definierten Auszahlungsstrom. Die Beitragzahler können nicht sicher sein, welches Rentenniveau sie später erhalten werden, weil sich nicht prognostizieren läßt, auf wessen Rücken der Gesetzgeber künftige Finanzierungsprobleme des Systems austragen wird. Nur ein privatwirtschaftlich organisiertes Kapitaldeckungssystem bietet sicheren Schutz vor solchen Eingriffen, und deshalb sollte ein solches System zumindest ergänzend zu einem reduzierten Umlagesystem hinzutreten.
6. Zur Organisation einer Altersvorsorge auf Kapitalbasis (54) Die private Sicherung zumindest eines Teils der gesetzlichen Altersrente im Wege des Kapitaldeckungsverfahrens erfordert eine Reihe institutioneller Vorkehrungen, die gesetzlicher Regelung bedürfen. Ohne eine staatliche Regulierung würden verschiedene Gefahren drohen, die das Kapitaldeckungssystem sehr schnell in Mißkredit bringen könnten. 1973
Gutachten vom 20. und 21. Februar 1998
Eine erhebliche Gefahr liegt in einem möglichen Wechselspiel zwischen der Sozialhilfe und der Alterssicherung. Da die durch Steuern finanzierte Sozialhilfe jedermann ungeachtet der persönlichen Ursachen seines Bedarfs offen steht, gibt es insbesondere bei den Beziehern niedriger Eink o m m e n bedenkliche Fehlanreize. Z u m einen könnten sie wegen des Schutzes durch die Sozialhilfe geneigt sein, hochriskante Kapitalanlagen zu wählen. Z u m anderen könnten sie geneigt sein, weitgehend auf eine Kapitalanlage zu verzichten, um auf diese Weise Sozialhilfezahlungen zu induzieren, die sie andernfalls nicht bekommen hätten. Diesen Fehlanreizen müssen Schranken entgegengesetzt werden, um eine Verlagerung der Lasten in das staatliche Budget zu vermeiden. Ähnlich wie es vom privaten M a r k t für Kraftfahrzeugversicherungen bekannt ist, kann dem einzelnen zwar die Wahl zwischen konkurrierenden Anbietern überlassen werden, nicht jedoch die Entscheidung darüber, ob er überhaupt eine Versicherung nachfragt. Eine Mindestnachfrage, die im Normalfall eine Versorgung oberhalb des Sozialhilfeniveaus sichert, m u ß gesetzlich vorgeschrieben werden. Auch meritorische Argumente für eine Beschränkung der individuellen Wahlfreiheit sind nicht ganz von der H a n d zu weisen. Es ist zu befürchten, daß manche Menschen mit der Planung ihrer Altersvorsorge überfordert wären und bei einer völligen Wahlfreiheit nicht die Kraft aufbrächten, dem augenblicklichen Konsumverlangen im Hinblick auf Bedürfnisse zu widerstehen, die sie erst in einer fernen Z u k u n f t verspüren. Auch aus diesem Grunde ist eine Mindestersparnis vorzuschreiben und eine Auszahlung von Kapitalbeträgen zu verbieten. (55) Eine andere Gefahr liegt in der Einschränkung des Risikoausgleichs zwischen Personen mit unterschiedlicher Lebenserwartung. Z u m Zeitp u n k t des Eintritts in die Rentenversicherung sind die meisten Menschen gesund, so d a ß von einer ähnlichen Lebenserwartung ausgegangen werden kann. In den letzten Berufsjahren vor dem Rentenbezug differenziert sich aber der Gesundheitszustand und mit ihm die Lebenserwartung immer stärker. Eine uneingeschränkte Dispositionsfreiheit, die bis zur Auszahlung der angesparten Kapitalien und der jederzeitigen Möglichkeit des Versicherungswechsels reicht, würde zwangsläufig zu einer laufenden Anpassung der Versicherungskonditionen an den Gesundheitszustand führen. Da dieser Gesundheitszustand ursprünglich unbekannt war, später aber erkennbar wird, bedeutet eine solche Differenzierung einen Verlust an Versicherungsschutz für prinzipiell versicherbare Risiken. Ein besonderes Problem entsteht, wenn die Versicherten besser über ihren Gesundheitszustand und die dementsprechende Lebenserwartung Bescheid wissen als die Versicherungsunternehmen. In diesem Fall be1974
Grundlegende R e f o r m der gesetzlichen Rentenversicherung
steht die Gefahr einer laufenden Anpassung der Versicherungskonditionen an die individuelle Lebenserwartung zwar nicht, aber dennoch kann der private M a r k t nicht gut funktionieren. Es besteht nun nämlich die Gefahr einer adversen Selektion in dem Sinne, daß nur Personen mit einer hohen Lebenserwartung eine Verrentung wählen, obwohl eigentlich alle eine Präferenz für eine zu fairen Konditionen vorgenommene Verrentung haben. Die adverse Selektion kommt zustande, weil die Konditionen für die Verrentung angesparter Kapitalbeträge nicht in hinreichendem M a ß nach der individuellen Lebenserwartung differenziert werden können. Personen mit einer geringen Lebenserwartung werden deshalb die von den Versicherungsunternehmen angebotenen Renten für zu gering halten und eine Auszahlung der angesparten Kapitalbeträge vorziehen. Da dies das durchschnittliche Lebensalter der verbleibenden Nachfrager nach Rentenversicherungen erhöht, wird sich die Rente verringern müssen, was abermals zu einem Verzicht jenes Teils der noch verbleibenden Nachfrager führt, deren Lebenserwartung vergleichsweise niedrig ist. In der Konsequenz kann die sich so verschärfende adverse Selektion zur weitgehenden Vernichtung eines privaten Versicherungsmarktes auf Rentenbasis führen. Der Umstand, daß Märkte für die Verrentung von Kapitalbeträgen selbst in den USA, wo die Alterssicherung über private Ersparnis eine erhebliche Rolle spielt, kaum existieren, ist ein Indiz für die Größe dieser Gefahr. Zur Abwendung dieser Gefahren hält es der Beirat für erforderlich, die Anlagekonkurrenz zu beschränken. Die Auszahlung von Kapitalbeträgen ist generell auszuschließen, die Verrentung nach einem festen zeitlichen Raster ist vorzuschreiben, und eventuell sollte auch ein Höchstalter festgelegt werden, bis zu dem ein Versicherungswechsel unter Mitnahme der angesammelten Kapitalien erlaubt ist. (56) Innerhalb des verbleibenden Gestaltungsrahmens sollte sich die Altersvorsorge auf Kapitalbasis indes so weit wie möglich der Vorzüge des Leistungswettbewerbs zwischen verschiedenen Anbietern bedienen. Zusätzliche regulatorische Eingriffe des Staates sollten auf solche Maßnahmen beschränkt sein, die zur Aufrechterhaltung des Wettbewerbs unter den Anbietern und zum Schutz der angesparten Kapitalien erforderlich sind. In diesem Zusammenhang empfiehlt es sich auch, ein eigenständiges Gesetz über Pensionsfonds zu erlassen, wie der Beirat in seinem Gutachten „Wagniskapital" vom Juni 1 9 9 7 vorgeschlagen hat. Zu regeln sind die Hauptcharakteristika der Anlageverträge, die von den Versicherten mit Pensionsfonds und anderen Finanzintermediären abzuschließen sind. Es bedarf allgemeiner Verfahrens- und Anlagevorschriften, um festzulegen, in welcher Form die für die Alterssicherung vorge1975
Gutachten vom 20. und 21. Februar 1998
schriebenen Verträge zwischen den Versicherten und geeigneten Finanzintermediären wie Pensionsfonds, Investmentfonds und Lebensversicherungen abzuschließen sind. Dabei muß die Informationspflicht der Finanzintermediäre, das Recht der Versicherten, im Rahmen ihrer Anlagen unterschiedliche Risikoprofile zu wählen, die Modalität der Rentenauszahlung beim Eintritt in den Ruhestand und nicht zuletzt das Recht der Versicherten, zwischen den Finanzintermediären zu wechseln, spezifiziert werden. Vom Grundsatz her sollte sich diese Regulierung allerdings in einem geringeren Maße auf Solvenz- und Verhaltensvorschriften verlassen, als sie dies zum Beispiel derzeit im Bereich der Lebensversicherung tut. Sie sollte an dem Ziel ausgerichtet sein, durch eine Stärkung der Transparenz es den Versicherten zu erleichtern, die Institute, bei denen sie ihre Mittel angelegt haben, auch selbst zu überprüfen und gegebenenfalls zu wechseln. (57) Herkömmliche Formen der staatlichen Regulierung, etwa bei der gemischten Lebensversicherung, führen dazu, daß die Kapitalsammeistellen ihre Mittel bevorzugt in gewisse Anlagen wie Immobilien, Hypotheken und Staatsobligationen lenken. Diese Anlagen eignen sich aber nicht für das vom Beirat angestrebte Ziel, die wegen der demographischen Entwicklung zu erwartenden Belastungen durch frühzeitige Bildung und spätere Auflösung von Realkapital im Zeitverlauf besser zu verteilen. Wenn zusätzliche Sparmittel heute in großem Umfang in Immobilien gelenkt werden, so wird dies zunächst vor allem die Immobilienpreise beeinflussen; bei späterem Entsparen werden dementsprechend die Preise sinken, ohne daß ein wirklicher Ausgleich der demographischen Verschiebung erreicht würde. Traditionelle Vorstellungen von der besonderen Sicherheit der Immobilien übersehen, daß die Immobilienmärkte von allen Kapitalmärkten vermutlich am meisten von der demographischen Entwicklung betroffen sein werden. Herkömmliche Formen der staatlichen Regulierung bei der gemischten Lebensversicherung führen auch dazu, daß die Kunden wenige Möglichkeiten und wenige Anreize zur Kontrolle der Versicherer haben. Niedrig angesetzte kalkulatorische Zinssätze mögen zwar den grundsätzlichen Konflikt zwischen weitgehend festen Leistungsversprechen und einer weitgehend unsicheren Ertragslage auflösen, sie nehmen den zuständigen Instituten aber auch den Anreiz, die zur Verfügung gestellten Mittel im Interesse der Kunden möglichst ertragreich anzulegen. (58) Will man die zur Altersvorsorge angesparten Mittel in großem Umfang zur Bildung von Realkapital, d. h. zur Finanzierung von Unternehmensinvestitionen verwenden, so ist eine mit bürokratischen Regeln arbeitende Verhaltensregulierung überfordert. Insofern ist durch geeignete 1976
Grundlegende R e f o r m der gesetzlichen Rentenversicherung
Rechnungslegungs- und Informationsvorschriften dafür zu sorgen, daß die Betroffenen selbst kontrollieren können, wie ihre Mittel verwaltet werden, und daß sie gegebenenfalls eingreifen und den Geschäftspartner wechseln können. Mögliche Probleme für die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs im Bereich der privaten Altersvorsorge ergeben sich aus der langen Zeitdauer zwischen Einzahlungen und Auszahlungen. Es wird nicht genügen, daß die Anbieter von Plänen zur Altersvorsorge sich intensiv um die Zwanzigjährigen bemühen, die erstmals einen solchen Vertrag abschließen wollen. Zur Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs in diesem Markt gehört es, daß grundsätzliche auch die Vierzigjährigen, die mit den Leistungen ihres Geschäftspartners nicht zufrieden sind, zu einer anderen Institution wechseln können, ohne daß ihnen daraus nennenswerte Nachteile erwachsen. Insofern Probleme der adversen Selektion der eingangs in diesem Abschnitt beschriebenen Art einem Anbieterwechsel jedoch entgegenstehen, ist die traditionelle Rendite- und Überschußbeteiligungsregulierung gefordert.
V. Die Politikoptionen im einzelnen (59) So eindeutig es ist, daß die gesetzliche Rentenversicherung in Richtung auf ein kapitalgedecktes System umgestaltet werden sollte, so vielfältig sind die Möglichkeiten der konkreten Gestaltung. Sie unterscheiden sich unter anderem durch den Grad der Kapitaldeckung, den zeitlichen Belastungsverlauf, den Grad der Offenlegung der impliziten Staatsschuld und hinsichtlich der Individualisierung der Ansprüche. Der Beirat hat verschiedene Politikoptionen in Form wohlspezifizierter Beispielszenarien näher untersucht. 10 Sie gehen alle von einem Beginn der Reform im Jahr 2000 aus. Konkret werden folgende Szenarien vorgestellt: Die Fortführung des Umlagesystems als Ausgangsfall (Szenarium I), eine Untertunnelung des zu erwartenden Beitragsberges durch vorübergehende kollektive Kapitaldeckung (Szenarium II), der Übergang zu einer vollständigen privaten Kapitaldeckung der Altersrenten ohne bzw. mit vorübergehender Verschuldung (Szenarien III und IV) und schließlich die Einführung einer privaten Teilkapitaldeckung, die langfristig etwa 50 Prozent der Altersrenten aus Ersparnissen finanziert (Szenarien V und VI). Einen Überblick über die bei den verschiedenen Szenarien zu erwartenden Belastungsverläufe gibt Abbildung 4.
10
Der Beirat d a n k t Marcel T h u m u n d weiteren M i t a r b e i t e r n des Center for E c o n o m i c Studies an der Universität M ü n c h e n für die Mithilfe bei den Berechnungen.
1977
G u t a c h t e n v o m 20. u n d 21. Februar 1 9 9 8
Gemeinsam ist allen Szenarien der Respekt vor dem Zeitpfad der Rentenansprüche, wie er sich aus dem Rentenreformgesetz 1999 ergibt. Die Unterschiede liegen allein in der Belastung mit Beiträgen und der erforderlichen Pflichtersparnis. 11 Die Pfade geben stets den als Summe beider Komponenten entstehenden Gesamtaufwand in Prozent des Bruttolohneinkommens wieder. Alle Berechnungen gehen von der zweiten Variante der achten koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes aus. Wie in Abschnitt 1 von Kapitel II erwähnt, trifft diese Vorausberechnung bezüglich der Zuwanderung (11,1 Millionen bis zum Jahr 2040) und der Zunahme der Lebenserwartung Annahmen, die die Probleme des Umlageverfahrens eher untertreiben. Zu Vergleichszwecken hat der Beirat auch Berechnungen auf der Basis der neueren Bevölkerungsprognose der interministeriellen Arbeitsgruppe durchgeführt, die unter Leitung des Bundesinnenministeriums stand. 1 2 Diese Berechnungen führen nicht zu qualitativ anderen Ergebnissen, was die relative Lage der in der Abbildung 4 dargestellten Kurven betrifft. Indes ist das Niveau aller Kurven zumindest in den späteren Jahren um ein bis drei Prozentpunkte nach oben hin verschoben.
1. Szenarium I: Fortführung des bisherigen
Systems
(60) Das erste Szenarium, das in Form des Pfades I in der Abbildung dargestellt ist, bezieht sich auf den Status quo. Es kennzeichnet das deutsche Umlagesystem nach der Rentenreform 1999 und wiederholt den Pfad der Beitragsbelastung, wie er auch schon in der Abbildung 1 dargestellt wurde. Von derzeit rd. 20 Prozent wird der Beitragsatz danach bis zum vierten Jahrzehnt des nächsten Jahrhunderts auf ein Maximum von gut 28 Prozent ansteigen, wenn die Bevölkerungsprognose des Statistischen Bundesamtes zugrunde gelegt wird. Auf der Basis der Prognose der interministeriellen Arbeitsgruppe käme man gar auf einen Wert von gut 31 Prozent. Der rapide Anstieg des Beitragsatzes ist die direkte Folge der demographischen Verwerfungen, die in der Tabelle 1 (Kapitel II, Abschnitt 1) dargestellt wurden. Ohne die Verringerung der Rentenansprüche für diesen Zeitraum, die in den Reformgesetzen von 1992 und 1999 festgelegt wurden, hätte sich der Beitragsatz wegen der Halbierung der Anzahl der Jungen relativ zu den Alten sogar auf etwa 40 Prozent erhöhen müssen. Und ohne eine Erhöhung des Beitragsatzes 11
12
Die Berechnungen berücksichtigen eine reale W a c h s t u m s r a t e des Lohnsatzes von 2 Prozent u n d ein reales Zinsniveau von 4 Prozent. Vgl. Ressortarbeitskreis des Bundesministeriums des Inneren, Modellrechnungen zur Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland bis zum Jahre 2040, Variante A, unveröffentlichtes M a n u s k r i p t , Bonn 1996.
1978
Grundlegende R e f o r m der gesetzlichen Rentenversicherung
hätten die Renten in dieser Zeit nur etwa halb so hoch sein können, wie es bei fortgesetzter Anwendung der vor 1992 gültigen Rentenformel der Fall gewesen wäre. Diese Entwicklung wäre mit schwerwiegenden wirtschaftlichen und politischen Nachteilen verbunden. Die Last eines gegen 30 Prozent strebenden Beitragsatzes würde die Standortqualität massiv verschlechtern und die Versicherungspflichtigen zu massiven Ausweichreaktionen veranlassen. Das Rentenversicherungssystem liefe Gefahr, die Akzeptanz der Bevölkerung zu verlieren. Es wäre mit einer Vertrauenskrise zu rechnen, deren Erschütterungen sich nicht auf die Rentenversicherungsträger begrenzen ließen, sondern auch die politische Ordnung beträfen. (61) Für viele, die die Konsequenzen der jetzigen Politik korrekt antizipieren, wird sich auch ohne weitere Reformen der Schluß aufdrängen, daß zur Sicherung der eigenen Renten Kapitalbildung nötig ist. Wer befürchtet, daß die heutigen Rentenversprechen wegen der dafür nötigen Beitragserhöhungen nicht durchsetzbar sein werden, der wird schon aus eigenem Antrieb zu sparen beginnen. Zyniker schlagen der Politik deshalb vor, die Hände in den Schoß zu legen und das System sehenden Auges in den Konkurs treiben zu lassen. Damit es nicht so weit kommt, muß die gesetzliche Rentenversicherung, so schnell es geht, grundlegend reformiert werden. Eine sinnvolle Reform muß sich daran messen lassen, ob sie es schafft, die Belastung der Beitragzahler im Zeitablauf zu verstetigen. Eine Verstetigung in dem Sinne, daß die Belastung niemals höher ist als heute und die Rentenformel 1999 gleichwohl respektiert wird, ist unmöglich. Indes sollte es möglich sein, die Verstetigung in der Weise zu erreichen, daß ein Teil der zukünftigen Lasten schon in den kommenden zwanzig Jahren vorweggenommen wird. Etwa bis zum Jahr 2020, wenn die Altersstruktur der deutschen Bevölkerung sich rapide zu verschlechtern beginnt, muß genug Realkapital gebildet worden sein, um den dann immer schmerzlicher spürbaren Mangel an Humankapital im Sinne beitragzahlender Arbeitskräfte zu kompensieren. Die Devise muß sein, einen Teil der nach dem Jahr 2 0 2 0 auf die Rentenversicherung zukommenden Lasten schon vorher zu schultern, um nachher nicht von ihnen erdrückt zu werden. 2. Szenarium II: Untertunnelung des Beitragsberges durch eine kollektive Kapitalreserve (62) Die auf den ersten Blick einfachste Möglichkeit, die zu erwartende Last vorwegzunehmen und die Beitragsbelastung zu glätten, besteht in der Ansammlung einer kollektiven Kapitalreserve, die später wieder ver1979
Gutachten vom 20. und 21. Februar 1998
Abb. 4: Der Gesamtaufwand an Umlage- und Pflichtsparbeiträgen bei alternativen Politikoptionen Quellen: Eigene Berechnungen; Statistischs Bundesamt, Achte rungsvorausberechnung, Variante 2, Wiesbaden.
koordinierte
Bevölke-
Legende: Neben dem Basisszenarium des reinen Umlageverfahrens I unter Berücksichtigung der aktuellen Rentenreform 1999, wie es schon in Abbildung 1 dargestellt und in der dortigen Legende erläutert wurde, sind verschiedene Szenarien mit Kapitalstockkomponenten berechnet worden. Die Szenarien werden durch die Zeitpfade des Gesamtaufwandes für Pflichtspar- und Umlagekomponenten dargestellt. Der Gesamtaufwand wird als Prozentsatz des Bruttolohneinkommens gemessen. Die Szenarien unterscheiden sich nur durch den Verlauf dieses Gesamtaufwandes, nicht aber in den Rentenansprüchen, die für jeden Zeitpunkt auf dem Niveau des Basisszenariums konstant gehalten werden. Es wird ein Realzins von 4 % und eine reale Wachstumsrate des Lohnsatzes von 2 % unterstellt (vgl. Abbildung 2). Bezüglich der Bevölkerungsentwicklung wird auf die Projektionen des Statistischen Bundesamtes Bezug genommen. Pfad II stellt eine Untertunnelungslösung dar, bei der im Rahmen des Umlageverfahrens ein kollektiver Kapitalstock aufgebaut wird, der auf die Dauer wieder abgeschmolzen wird. Pfad III zeigt den Gesamtaufwand bei einem Übergang zu vollständiger Kapitaldeckung der Altersrente bis etwa zum Jahr 2075; die Pflichtsparquote liegt hier bei konstant 8,3 % des Bruttolohnes. Unter IV wird die Entwicklung des Gesamtaufwandes für diesen Übergang zu vollständiger Kapitaldeckung mittels einer temporären Staatsverschuldung geglättet, die langfristig wieder abgetragen wird. Mit V wird gezeigt, wie sich der Gesamtaufwand bei einer Umstellung auf eine Kapitalteildeckung mit einer konstanten Pflichtsparquote von 4 % entwickelt. In VI schließlich wird das Ergebnis einer variablen, zeitabhängigen Pflichtsparquote dargestellt, deren Höhe zu jedem Zeitpunkt so gewählt wird, daß der Zeitpfad des Gesamtaufwandes (Sparbeitrag plus Umlagebeitrag) annähernd konstant bleibt. Auf die Dauer wird bei diesem Pfad etwa die Hälfte der Altersrente auf dem Wege der Kapitaldeckung finanziert. Bei allen Alternativen wird angenommen, daß die Erwerbsunfähigkeits-, Witwen- und Wai1980
Grundlegende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung
braucht wird. Die Rentenversicherung akkumuliert bis in die zwanziger Jahre des nächsten Jahrhunderts Reserven, die sie am Kapitalmarkt anlegt und anschließend zur Finanzierung eines Teils der dann sehr rasch ansteigenden Rentenlast verwendet. Die Reserven werden durch eine Beitragserhöhung gebildet, die zunächst nicht für die Zahlung von Renten verwendet wird. Beginnend mit dem Jahr 2026 werden die Reserven eingesetzt, um den sonst unvermeidlichen Anstieg des Beitragsatzes zu verhindern. Der Beitragsberg wird auf diese Weise untertunnelt, und der Belastungspfad wird eingeebnet. Allerdings wird auf lange Sicht kein Kapital gebildet. Bei dieser Option würde sich ein stabiler Beitragsatz von gut 23 Prozent ergeben, wie er in der Abbildung 4 durch den Pfad II angegeben ist. Dieser Satz kann auf sehr lange Sicht durchgehalten werden. In den kritischen Jahren wird das für die Rentenfinanzierung fehlende Humankapital durch Realkapital ersetzt. Es wird jedoch kein zusätzliches Realkapital auf Dauer gebildet. Auf diese Weise gelingt es der Volkswirtschaft, einen Teil der späteren Lasten schon heute zu schultern. (63) Wenngleich ein Großteil der Ziele der Rentenreform durch dieses Reformszenarium abgedeckt wird, verbleiben angesichts der kollektiven Ansammlung der Reserven innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung erhebliche ordnungspolitische Bedenken. Zum ersten ist zu befürchten, daß die Kapitalreserve dem Druck ambitiöser Politiker, die sich durch Wahlgeschenke die Wiederwahl sichern wollen, nicht lange genug standhalten wird. Zum zweiten ist eine Machtkonzentration in den Händen einer staatlichen Behörde, die größere Kapitalmengen verwalten müßte, bedenklich. Zum dritten wird bei dieser Option im Unterschied zur Einführung einer Kapitaldeckung auf privater Basis die Eigenverantwortung des einzelnen für die Art der präferierten Kapitalanlage ebenso ausgeblendet wie die effizienzsteigernde Wirkung eines privaten Wettbewerbs unter den Kapitalsammeisteilen. Und zum vierten wird, wie erwähnt, auf sehr lange Sicht kein zusätzliches Kapital gebildet, was aber schon unter dem Aspekt der Risikostreuung zu wünschen ist. Aus diesen Gründen sieht der Beirat in der Bildung einer kollektiven Kapitalreserve keinen erfolgversprechenden Weg zur Lösung der Rentenkrise.
senrenten weiterhin durch Umlagen finanziert werden. Die Ansprüche und die Beiträge für diese Rentenkomponenten sind mit den entsprechenden Werten des Basisszenariums identisch. 1981
G u t a c h t e n v o m 20. u n d 21. Februar 1998
3. Szenarium III: Vollständiger Umstieg auf private
Kapitaldeckung
(64) Erfolgversprechend ist nur eine Reform, bei der das Kapital privat bei Finanzintermediären angelegt wird und bei der es zu einer nennenswerten, dauerhaften Kapitalakkumulation kommt. Der Beirat spricht sich dafür aus, eine solche Reform in Angriff zu nehmen. Dafür gibt es verschiedene Optionen, die im folgenden vorgestellt werden. Sie unterscheiden sich nach dem Grad der langfristig angestrebten Kapitaldeckung und in der zeitlichen Verteilung der Belastungen. Eine erste Option besteht in der Einleitung eines vollständigen Übergangs in die Kapitaldeckung der Altersrenten im Verein mit einer Beitragsfinanzierung der Altlasten aus dem früheren Umlagesystem. Der Übergang betrifft allerdings nur die Altersrenten im engeren Sinne. Die Witwen- und Waisenrenten sowie die Erwerbsunfähigkeitsrenten werden weiterhin im Umlagesystem finanziert. Alle im Jahr 2000 bereits vorhandenen Anwartschaften werden respektiert und führen im Rentenalter zu einer Rente gemäß der Rentenformel 1999. Wer im Jahr 2000 schon Rentner ist, wird von der Reform nicht mehr betroffen. Wer noch arbeitet, muß während der bis zum Renteneintritt verbleibenden Jahre zusätzlich zur Beitragszahlung Sparleistungen erbringen. Die Altersrente wird nach versicherungsmathematischen Regeln aus dem Verbrauch der selbst angesammelten Ersparnis und aus einer umlagefinanzierten Komponente gebildet, die sich nach der bis zum Jahr 2000 erworbenen Anwartschaft im alten System bemißt. In der Summe ist die Rente für alle Generationen zu jedem Zeitpunkt so hoch, wie sie es auch ohne die Reform gewesen wäre. Die notwendige Sparleistung beträgt 8,3 Prozent des Bruttolohnes bei einem Realzins von 4 Prozent. 13 Jemand, der 45 Jahre lang eine solche Sparleistung erbringt, erzielt seine Altersrente ausschließlich aus der eigenen Sparleistung und erhält außer für die Erwerbsunfähigkeit und seine Hinterbliebenen keine umlagefinanzierte Rente mehr. (65) Das Problem dieser Reform ist die Finanzierung der schon im Umlagesystem gebildeten Rentenansprüche. Sie werden durch allgemeine Umlagebeiträge finanziert, deren Zahlung aber für sich genommen zu keinerlei neuen Ansprüchen führt. Die Umlagebeiträge haben daher 13
Die auf den Bruttolohn bezogene Sparleistung oder Sparquote ist hier wie im folgenden stets als originäre Sparleistung o h n e die Ersparnis der zwischenzeitlich a u f l a u f e n d e n Zinsen definiert. Bei der Analyse der gesamtwirtschaftlichen W i r k u n g e n in Kapitel 6.2, w o die Ersparnis auf das N e t t o s o z i a l p r o d u k t bezogen wird, m u ß stattdessen z u m Z w e c k e des Vergleichs mit historischen Sparquoten, wie sie in der Volkswirtschaftlichen G e s a m t r e c h n u n g ausgewiesen sind, mit einem breiten Ersparnisbegriff gearbeitet w e r d e n , der die wiederangelegten Zinsen einschließt.
1982
Grundlegende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung
Quellen: Vgl. Abb. 4
Steuercharakter. Die Höhe des entsprechenden Restbeitrags (zuzüglich der Beitragsteile, die für die Erwerbs-, Witwen- und Waisenrenten nach wie vor nötig sind) wird durch den Pfad III' in Abbildung 5 dargestellt, die auch eine Teilauswahl der in Abbildung 4 dargestellten Pfade wiederholt. Man sieht, daß der Restbeitrag noch im Jahr 2005 so hoch ist wie anfangs und anschließend sehr langsam abnimmt. Bis über das Jahr 2030 hinaus bleibt er noch bei etwa 19 Prozent. Danach fällt er zunehmend. Erst gegen das Jahr 2075 ist der Übergang beendet. Der Restbeitrag für die Altersrente ist dann gleich null. Für die Erwerbs-, Witwenund Waisenrenten werden weiterhin etwa zehn Beitragspunkte gebraucht. Die Summe aus dem Restbeitragsatz und der Sparquote von etwa acht Prozent mißt den Gesamtaufwand im Ubergang; er wird durch den Pfad III dargestellt. Der Gesamtaufwand liegt anfangs bei 28,6 Prozent und sinkt allmählich auf etwa 27 Prozent, wo er dann bis Anfang der dreißiger Jahre verbleibt. Erst im Jahr 2033 unterschreitet er die Belastung, die sich im Falle der Fortsetzung des Umlageverfahrens ergäbe. Danach fällt er allerdings sehr rasch ab und erreicht im Jahr 2050 das Niveau von etwa 22 Prozent. Langfristig konvergiert der Gesamtaufwand gegen 18 Prozent. 1983
Gutachten vom 20. und 21. Februar 1998
Das Reformszenarium III ist nicht sehr attraktiv, denn die Belastung ist lange Zeit sehr hoch, und der spätere Anstieg der Aufwendungen in Richtung auf 30 Prozent, den man eigentlich vermeiden wollte, tritt schon viel früher ein. Vor allem leistet dieses Reformszenarium keinen Beitrag zur Verstetigung der Belastung während der nächsten Jahrzehnte. Die Reform verdreht den Zeitpfad des Gesamtaufwandes spiegelbildlich und verlagert einen zu großen Teil der demographischen Last in die Gegenwart.
4. Szenarium IV: Streckung der Kapitaldeckung Staatsverschuldung
durch
vorübergehende
(66) Ein alternatives Szenarium, das dieses Problem vermeidet, unterscheidet sich vom dritten Szenarium durch die Streckung der Altlast aus dem Umlageverfahren auf dem Wege einer vorübergehenden Staatsverschuldung. Ein Teil der Restbeiträge, die zur Bedienung der im alten System bereits erworbenen Renten nötig sind, wird etwa bis zum Höhepunkt der Bevölkerungskrise, die im Bereich des Jahres 2036 liegt, durch eine Nettokreditaufnahme am Kapitalmarkt ersetzt. Anschließend wird die so entstandene Staatsschuld bis zum Jahr 2075 durch eine entsprechende Erhöhung der Restbeiträge getilgt. Nach der Tilgung ist der Übergang zur vollständigen Kapitaldeckung der Altersrente abgeschlossen. Die Streckung der Restbeiträge durch Verschuldung läßt ihren Gegenwartswert unverändert. Dieser Gegenwartswert ist, wie schon oben erläutert, stets identisch mit dem Gegenwartswert aller Rentenanwartschaften, die zum Zeitpunkt des Systemwechsels im Jahr 2000 vorhanden sind. So gesehen nimmt die Last durch die Streckung nicht ab. Jedoch wird der Zeitpfad der gesamten Einzahlungen in das umgestellte Rentensystem bis in die siebziger Jahre des nächsten Jahrhunderts hinein geglättet. Der Gesamtaufwand beträgt etwa 26 Prozent des Bruttolohnes. Eine Belastungsminderung gegenüber dem Umlageverfahren wird beginnend mit dem Jahr 2031 erreicht. Szenarium IV erfüllt das Kriterium der Glättung des Belastungspfades über sehr lange Zeiträume, und es verlagert einen Teil der demographischen Last der Krisenjahre in die Gegenwart. Problematisch ist allerdings der zwischenzeitliche Anstieg der Staatsverschuldung. Durch die Streckung der Kapitaldeckung wird ein zusätzlicher Schuldenbestand aufgebaut, der im Bereich des Jahres 2049 sein absolutes Maximum mit etwa 4,2 Billionen DM und im Bereich des Jahres 2045 sein auf das Sozialprodukt bezogenes relatives Maximum mit einer Schuldenquote 1984
Grundlegende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung
Jahr
Abb. 6: Erleichterung des Umstiegs in die volle Kapitaldeckung der Altersrente durch zwischenzeitliche Staatsverschuldung: Die Entwicklung der Verschuldungsquote Quellen:
Eigene Berechnungen und wie Abb. 4..
Legende: Um die starken Schwankungen des Gesamtaufwandes beim Übergang in ein volles Kapitaldeckungsverfahren mit einer Sparquote von 8,3 Prozentpunkten zu glätten, wird eine vorübergehende Staatsschuld eingegangen. Diese zusätzliche Staatsschuld, hier dargestellt in Prozent des Bruttosozialprodukts, steigt in den Jahren bis 2 0 4 5 steil an und fällt dann bis zum Jahr 2 0 7 5 wieder auf Null.
von gut 60 Prozent erreicht. Abbildung 6 zeigt den Zeitpfad der so verursachten Schuldenquote. (67) Die Staatsverschuldung signalisiert im Gegensatz zum ersten Anschein keine Nettobelastung der Kapitalmärkte, und sie ist auch kein Zeichen einer unsoliden Finanzpolitik. Das Gegenteil ist der Fall. Heute liegen die impliziten Staatsschulden in Form der Rentenanwartschaften bei etwa 290 Prozent des Sozialprodukts. Beim Szenarium IV werden demgegenüber bis zum Jahr 2 0 4 9 implizite Staatsschulden in einem Umfang getilgt, der 2 1 0 Prozent des dann vorhandenen Sozialprodukts entspricht. Ungeachtet der Umwandlung eines Teils der impliziten in eine explizite Staatsschuld findet also per saldo eine massive Tilgung jener Staatsschulden statt, die sonst vorhanden gewesen wären. Trotz der auf den ersten Blick schlechten Optik kann die Reformpolitik einen erheblichen Stabilitätserfolg für sich verbuchen.
1985
Gutachten vom 2 0 . und 2 1 . Februar 1 9 9 8
Dessen ungeachtet schafft der offene Ausweis der bislang versteckten Staatsschuld eine Reihe von nicht zu unterschätzenden Problemen. Er könnte die Finanzmärkte verschrecken, wenn die zugrundeliegenden Zusammenhänge nicht durchschaut werden, und dann dazu führen, daß deutsche Schuldner eine höhere Risikoprämie auf den Kapitalmärkten zahlen müssen. Auch wird möglicherweise der Stabilitätspakt verletzt, zu dessen Einhaltung sich Deutschland verpflichtet hat. Zwar wird das implizite Budgetdefizit, das durch den jährlichen Zuwachs der Rentenanwartschaften im derzeitigen System gegeben ist, vom Stabilitätspakt nicht berührt. Es könnte aber sein, daß das explizite Budgetdefizit, das im Zuge der Streckung der Steuern zur Bedienung der Altlasten nötig wäre, auf das in dem Pakt definierte Referenzkriterium angerechnet werden muß. Möglicherweise müßte auch das Grundgesetz geändert werden, denn Artikel 115 läßt eine Staatsverschuldung nur für investive Zwecke zu. (68) Im Kern läuft Reformszenarium IV darauf hinaus, daß private Wohlfahrt durch öffentliche Verschuldung ermöglicht wird. Die Sparillusion, die das Kennzeichen des Umlageverfahrens ist, wird in gewisser Weise noch gestärkt, mit unsicheren Auswirkungen auf das Konsumverhalten der Bürger. Es ist nicht auszuschließen, daß die durch die Verschuldung ermöglichte Absenkung der Restbeiträge als Vermögensgewinn aufgefaßt wird und zu einer Konsumbelebung führt. Entsprechend geringer fiele die gesamtwirtschaftliche Kapitalbildung aus. Die größte Gefahr einer Offenlegung der Staatsschuld liegt im politökonomischen Bereich. Wenn erst einmal eine Verschuldung zum Zwecke der Rentenfinanzierung für zulässig erklärt wird, dann könnten die Dämme brechen, die derzeit einer Ausweitung der Staatsverschuldung entgegenstehen. Es ist zu befürchten, daß Politiker nicht mehr die Kraft aufbringen werden, den Begehrlichkeiten von Interessengruppen in den verschiedensten Bereichen zu widerstehen. Insbesondere muß damit gerechnet werden, daß die Verschuldung zum Zwecke der Rentenfinanzierung in den Anfangsjahren über das Maß dessen hinausschießt, das zur Verstetigung des Belastungspfades erforderlich ist. Aus diesen Gründen kann sich der Beirat nicht entschließen, das Verschuldungsszenarium zur Basis seiner Reformempfehlung zu machen.
5. Szenarium V; Ergänzung des Umlagesystems durch private Teilkapitaldeckung mit fester Sparquote (69) Im folgenden werden mit den Szenarien V und VI Varianten eines Mischsystems von Umlagefinanzierung und Kapitaldeckung vorgestellt, 1986
Grundlegende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung
bei denen auf lange Sicht die eine Hälfte der Altersrente aus der Kapitaldeckung und die andere Hälfte aus der Umlage finanziert wird. Unter dem Szenarium V wird jeder Beitragszahler verpflichtet, bei registrierten privaten Kapitalsammeistellen eine private Ersparnis in Höhe von 4 Prozent seines Bruttolohnes nachzuweisen, die später auf dem Wege einer Verrentung aufgelöst wird. Zusätzlich zum kapitalgedeckten Rentenanteil erhält er einen umlagefinanzierten Rentenanteil, der so bemessen ist, daß die Summe beider Rentenkomponenten im Mittel seiner Alterskohorte den Vorgaben der Rentenreform 1999 entspricht. Der Beitragsatz zum Umlagesystem wird in jedem Jahr so bestimmt, daß das notwendige Niveau der umlagefinanzierten Rente erreicht werden kann. (70) Der Gesamtaufwand an Restbeiträgen und Pflichtersparnis liegt bei diesem Szenarium anfangs etwas über 24 Prozent, steigt danach aber langsamer als beim reinen Umlageverfahren an, weil der Anteil an der Altersrente, der aus der Kapitaldeckung finanziert werden kann, mit fortschreitender Zeit gegen den Wert von etwa 50 Prozent konvergiert und weil das aus Kapitaldeckung insgesamt finanzierte Rentenvolumen fortwährend zunimmt. Der Pfad V in den Abbildungen 4 und 7 zeigt, wie sich der Gesamtaufwand an Beiträgen und Pflichtersparnis bei diesem Szenarium entwickelt. Das Maximum der Belastung wird im Jahr 2036 mit etwa 2 7 Prozent des Bruttolohnes erreicht, liegt also genau im Höhepunkt der Rentenkrise und bei einem nur geringfügig niedrigeren Wert als im Falle des reinen Umlageverfahrens. In den sich anschließenden Jahren fällt die Beitragsbelastung allerdings deutlich unter das bei Umlagefinanzierung realisierte Niveau. Im Jahr 2 0 5 0 wird eine Belastung von weniger als 24 Prozent erreicht, während das Umlagesystem zur selben Zeit eine Belastung von etwa 2 7 Prozent mit sich gebracht hätte. Abgesehen von der Höhe des Beitragsatzes kommt das Szenarium V der gerade in Schweden beschlossenen Reform nahe, bei der eine feste Sparquote von 2,5 Prozent des Bruttolohnes vorgesehen ist. Es beschreibt einen Weg in Richtung auf die Kapitaldeckung, der anfangs zu erträglichen Lasten führt und sich ohne gravierende Gesetzesänderungen realisieren läßt. Aber es bietet keine Verstetigung der Belastung. Das Belastungsmaximum in den Krisenjahren bleibt sehr hoch. Um die Belastungsspitzen zu verringern, müßte man die Pflichtersparnis in den Krisenjahren reduzieren oder von vornherein mit einer im Zeitablauf variablen Sparquote arbeiten. Das nachfolgende Szenarium VI ist die Konsequenz dieser Einsicht.
1987
Gutachten vom 20. und 21. Februar 1998
6. Szenarium VI: Private Teilkapitaldeckung
mit variabler
Sparquote
(71) Will man eine weitgehende Glättung des Zeitpfades des prozentualen Gesamtaufwandes auf der Basis einer partiellen privaten Kapitaldeckung erreichen, so bietet sich eine zeitliche Staffelung der Sparquoten an, bei der anfangs eine hohe und später im Bereich der Krisenjahre eine niedrige Quote realisiert wird. Die anfangs hohe Ersparnis sorgt dafür, daß die kapitalgedeckten Rentenanteile in den Krisenjahren vergleichsweise hoch sind und die umlagefinanzierten Rentenanteile kleiner sein können, als es sonst nötig gewesen wäre. Der Beitragsatz zur Finanzierung der Umlagekomponente kann deshalb niedrig sein, was zusammen mit einer niedrigen Sparquote in den Krisenjahren zu einer relativ niedrigen Gesamtbelastung führt. In den Abbildungen 7 und 8 wird der Effekt einer solchen Staffelung dargestellt. Mit einer Sparquote, die sich bis zum Jahr 2020 zwischen 4 und 4,7 Prozent bewegt, dann bis zum Jahr 2036 linear auf 1,0 Prozent fällt und schließlich bis zum Jahr 2049 wieder auf 4,2 Prozent ansteigt, wo sie fortan dauerhaft verharrt, gelingt es, die Gesamtbelastung mit Spar- und Umlagebeiträgen auf einem Niveau zwischen 24 und 25 Prozent zu halten. Die Gesamtbelastung ist geringer als im Falle des Verschuldungspfades (Pfad IV), weil dort auf die Dauer eine volle Kapitaldeckung erreicht wird, und sie ist höher als im Falle der wenig attraktiven Untertunnelung durch kollektive Kapitalbildung (Pfad II in Abb. 4), weil dort auf lange Sicht kein Kapital gebildet wird. Im Fall der variablen Sparquote, wie er durch Pfad VI angegeben wird, wird auf die Dauer die eine Hälfte der Altersrente per Kapitaldeckung und die andere Hälfte per Umlage finanziert. Die Belastungsspitze im Bereich der Krisenjahre wird gebrochen, und der Gesamtaufwand wird gleichmäßig über die Zeit verteilt, weil die Jahrzehnte vor dem Höhepunkt der Krise für eine umfangreiche Kapitalbildung genutzt werden, die noch über der Kapitalbildung im Falle der festen Sparquote liegt. Der volle Effekt der Zusatzversorgung wird zwar auch bei dieser Lösung erst dann erreicht, wenn alle Rentner während ihres gesamten Lebens in die kapitalgedeckte Zusatzversorgung eingezahlt haben. Das ist um das Jahr 2075 der Fall. Aber schon im Maximum der demographischen Krise, also um das Jahr 2036, kann bereits mehr als ein Viertel der Altersrente aus Kapitaldeckung finanziert werden. Das entspricht einer Entlastung beim Umlagebeitrag von etwa 5 Beitragsprozentpunkten. (72) Dem ordnungspolitischen Ziel einer privat organisierten Kapitalbildung wird auch bei dieser Lösung Genüge getan, die Versicherungsrisiken sind zwischen der Umlage und der Kapitaldeckung gestreut, und es 1988
Grundlegende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung
Abb. 7: Private Teilkapitaldeckung mit variabler und fester Sparquote Quellen:
Vgl. Abb. 4.
Abb. 8: Variable Sparquote, Restbeitrag und Gesamtaufwand Quellen:
Vgl. Abb. 4. 1989
Gutachten vom 20. und 21. Februar 1998
wird keine Staatsschuld neu ausgewiesen. Die Mischung zwischen Umlage· und Kapitaldeckung schafft einen heilsamen Wettbewerb zwischen verschiedenen Systemen der Rentenfinanzierung, der zu einer allgemeinen Effizienzsteigerung beitragen wird. Der Beirat hält nach Abwägung aller Umstände eine partielle Kapitaldeckung mit einer in ähnlicher Form gestaffelten Sparquote für die attraktivste Lösung.
7. Institutionelle
Vorkehrungen
(73) Eine Realisation des vom Beirat unterbreiteten Vorschlags verlangt eine sorgfältige Berechnung der kapital- und umlagefinanzierten Rentenanteile. Wenn eine neue Alterskohorte in das Rentenalter eintritt, muß ermittelt werden, welchen Kapitalstock diese Kohorte im Durchschnitt angehäuft hat und welche standardisierte Rentensumme sich daraus finanziert. Die umlagefinanzierten Rentenanteile sind in einem jeden Jahr so zu berechnen, daß die Summe aus den standardisierten kapitalgedeckten Rentenanteilen und den umlagefinanzierten Rentenanteilen genau dem Anspruchsniveau entspricht, wie es durch die Rentenformel 1999 für diese Kohorte definiert wird. Aus einem Vergleich des durch Umlage zu finanzierenden Rentenvolumens mit den Einkommen der Versicherungspflichtigen ergibt sich daraufhin, ähnlich wie im heutigen System, der notwendige Beitragsatz. Die Differenz zwischen dem vorgegebenen Gesamtaufwand in Prozent des Bruttolohnes (etwa 24,5 Prozent in den Rechnungen des Beirats) und dem notwendigen Beitragsatz entspricht der jährlich vorzugebenden Pflichtsparquote. (74) Die periodische Festlegung des Beitragsatzes zur gesetzlichen Rentenversicherung war bisher stets eine hochpolitische Angelegenheit. Bei Einführung des vorgeschlagenen Verfahrens einer Teilkapitaldeckung wäre es an dem Gesetzgeber, die Höhe der Gesamtaufwendungen (Beitragsatz plus Sparquote) als Prozentsatz der Bruttolöhne festzulegen. Aber dieser Prozentsatz sollte ein für allemal fixiert und dann nicht mehr geändert werden. Die endogene Berechnung der variablen Pflichtsparquote dagegen ermöglicht es, ja macht es notwendig, die Kompetenz für ihre Festlegung in fachkundige Hände zu legen. Bei der Abwicklung der Umlagefinanzierung und der periodisch zu entscheidenden Aufteilung der Belastung der Versicherten auf Beitragsatz und Sparquote handelt es sich um Entscheidungen, die nicht dem politischen Ermessen zu unterwerfen sind. Es handelt sich vielmehr um Sachfragen, die von einer unabhängigen Institution entschieden werden sollten.
1990
Grundlegende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung
VI. Kapitalmarktwirkungen des Reformvorschlags (75) In der Diskussion um die Rentenversicherung werden von den Befürwortern des Umlageverfahrens immer wieder zwei zentrale Argumente vorgebracht, mit denen die volkswirtschaftliche Sinnlosigkeit eines Übergangs zu einem Kapitaldeckungsverfahren nachgewiesen werden soll. Auch der Vorschlag des Beirats ist von diesen Argumenten betroffen, denn immerhin soll die Hälfte der Altersrente langfristig aus angesparten Kapitalbeiträgen finanziert werden. Beide Argumente wurden im Grundsatz schon angesprochen (Kapitel II, Abschnitt 3 und Kapitel IV, Abschnitt 4). Das erste Argument besagt, daß aller Sozialaufwand nur aus dem Sozialprodukt der laufenden Periode finanziert werden könne. Nach dem zweiten Argument führt ein Kapitaldeckungsverfahren zu einer wirtschaftlich nicht mehr verwertbaren Kapitalschwemme. Es wurde schon ausgeführt, daß das erste Argument irreführend und sogar falsch ist, weil ein Mehr an gesamtwirtschaftlicher Ersparnis auch bei gegebener Bevölkerung zu einem Mehr an Sozialprodukt führt und weil im Ausland angelegtes Sparkapital verbraucht werden kann, ohne dabei überhaupt auf das Inlandsprodukt zurückzugreifen. Das zweite Argument wurde unter Hinweis auf Investitions- und Diversifikationsmöglichkeiten im Ausland abgelehnt. (76) Beide Argumente stehen in einem krassen Widerspruch zueinander. Wenn es wirklich stimmen sollte, daß Sozialaufwand nicht auf dem Wege einer Kapitaldeckung leichter finanziert werden kann, so kommt als Erklärung nur infrage, daß das staatlich verordnete Pflichtsparen die gesamtwirtschaftliche Ersparnis nicht steigert, weil andere Ersparnisse verdrängt werden. Wenn aber die gesamtwirtschaftliche Ersparnis nicht steigt, dann kann es auch nicht zu einer Überschwemmung des Kapitalmarktes mit anlagesuchendem Sparkapital kommen. Und wenn andererseits die Kapitalmärkte mit dem neuen Sparkapital überschwemmt werden, dann muß die gesamtwirtschaftliche Ersparnis ja wohl gestiegen sein. M a n müßte schon zu ultra-mechanistischen Vorstellungen über die Determinanten des internationalen Kapitalverkehrs und der privaten Investitionen greifen, um beide Argumente überhaupt nur halbwegs logisch miteinander in Einklang zu bringen. Dessen ungeachtet sind beide Möglichkeiten - die Nichtreaktion der gesamtwirtschaftlichen Ersparnis und die Überschwemmung der Kapitalmärkte mit Ersparnis - für sich genommen Gefahren, die einer näheren Untersuchung bedürfen.
1991
Gutachten vom 20. und 21. Februar 1998
1. Warum die gesamtwirtschaftliche
Ersparnis steigt
(77) Die Befürchtung, das staatlich verordnete Pflichtsparen führe wegen einer kompensierenden Reaktion der freiwilligen Ersparnis nicht zu einer Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Ersparnis, ist identisch mit der Befürchtung, daß der Konsum der Beitragspflichtigen auf die Mehrbelastung durch das Pflichtsparen nicht reagiert. In gesamtwirtschaftlicher Sicht läßt sich dann eine Vorwegnahme der zukünftigen Lasten der Sozialversicherung nicht realisieren, weil insgesamt nicht mehr Kapital als bei Gültigkeit des Umlageverfahrens gebildet wird. Wegen des Fehlens einer zusätzlichen Kapitalbildung ist das Sozialprodukt dann in der Zukunft nicht höher, und es gibt auch kein zusätzliches Kapital, das man direkt verbrauchen könnte. (78) Die Befürchtung einer fehlenden Konsumreaktion bzw. einer im vollen Umfang kompensierenden Sparreaktion ist unbegründet. Zwar mag es Beitragzahler geben, die das zusätzliche Pflichtsparen ausschließlich durch eine Rücknahme anderweitiger Ersparnisse finanzieren, aber bei den meisten ist das anders. Wenn einige Beitragzahler ihren Konsum einschränken und andere nicht, muß netto eine Mehrersparnis in der Volkswirtschaft stattfinden. Die Mehrersparnis ist dann zwar nicht so groß wie die Kapitalbildung im Rahmen der Rentenversicherung, aber sie ist als solche vorhanden und hat eine Vermehrung der gesamtwirtschaftlichen Kapitalbildung zur Folge. Eine Beibehaltung des bisherigen Konsums ist zunächst einmal bei jenen Personen nicht zu erwarten, die gar keine intertemporale Konsumplanung vornehmen, sondern ihren Blick auf das Hier und Jetzt richten und die ihnen verfügbaren Mittel gleichsam mechanistisch in Konsum und freiwillige Ersparnis aufteilen. Wenn diese Personen höhere Beiträge für eine Kapitalbildung zahlen müssen, ihnen also weniger Mittel zur Verfügung bleiben, werden sie weniger konsumieren, als es sonst der Fall gewesen wäre, und insofern zur Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Ersparnis beitragen. Wäre diese Personengruppe nicht besonders zahlreich, dann entfiele ohnehin ein zentrales Argument für die staatliche Rentenversicherung. Auch ein Umlageverfahren verlöre dann einen Gutteil seiner Berechtigung. Des weiteren werden auch jene Personen kaum mit einer kompensatorischen Verminderung der eigenen Ersparnis zum Zwecke der Fortführung des bislang geplanten Konsumpfades reagieren, die zwar eine bewußte intertemporale Konsumplanung vornehmen, jedoch nicht in nennenswertem Umfang sparen und nur über wenig Vermögen verfügen. Wenn diese Personen den ursprünglich geplanten Zeitpfad ihres Konsums trotz der Beitragserhöhung aufrechterhalten möchten, müssen sie sich ver1992
Grundlegende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung
schulden, um so die zusätzlichen Beiträge, die für die Kapitaldeckung eingehoben werden, bezahlen zu können. Das aber ist in der Regel nicht möglich, weil den Banken keine Sicherheiten geboten werden können. Auch ist der für Konsumentenkredite gesteckte Rahmen zu klein, um einen Rückgang der privaten Konsumquote durch Verschulden verhindern zu können. (79) Eine vollständige Kompensation des Pflichtsparens durch eine Rücknahme der freiwilligen Ersparnis kann man überhaupt nur bei solchen Personen erwarten, die eine bewußte intertemporale Konsumplanung vornehmen, die in genügendem Umfang sparen und die bereits über ein hinreichend großes privates Vermögen verfügen. Aber selbst ob diese Personen in der behaupteten Weise reagieren würden, ist fraglich. Ersetzt man einen Teil der im Umlageverfahren erwarteten Rentenansprüche durch die Pflicht zur Selbstvorsorge im Rahmen eines Kapitaldeckungsverfahrens, so führt dies nämlich nicht nur in der Gegenwart, sondern über das ganze Leben gerechnet zu einer Verringerung der Konsummöglichkeiten, weil ja weniger umlagefinanzierte Renten von der Nachfolgegeneration bereitgestellt werden. Der unterstellte Typ von Personen wird diese Verringerung nicht auf sein Rentenalter beschränken wollen, sondern versuchen, sie gleichmäßig über das ganze Leben zu verteilen. Insofern verringert sich auch bei ihm das mittelfristig realisierte Konsumniveau, was zu einer Vermehrung der gesamtwirtschaftlichen Kapitalbildung beiträgt. Allerdings könnte es sein, daß der rational planende und vermögende Haushalt auch das Wohl seiner Kinder im Auge hat und die Entlastung, die diese Kinder durch die Beitragsenkung erfahren, bei seinen Entscheidungen berücksichtigt. Wenn dieser Haushalt aus altruistischen Motiven eine Erbschaft plant, so wird er nach dem Wechsel von der Umlagefinanzierung zur Kapitaldeckung das Volumen der Erbschaft reduzieren, um auf diese Weise die Verringerung der Rententransfers zu kompensieren, zu denen das Umlagesystem die eigenen Kinder bislang gezwungen hatte. Der ursprünglich geplante Konsumpfad ließe sich dann aufrechterhalten, und es käme nicht zu einer Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Ersparnis. Es mag Haushalte geben, auf die diese Bedingungen zutreffen, aber unter den versicherungspflichtigen Arbeitnehmern handelt es sich dabei sicherlich nur um eine sehr kleine Teilgruppe. Viele Menschen haben keine Kinder, viele planen nicht, Erbschaften zu hinterlassen, und wer Erbschaften hinterläßt, tut es auch nicht immer mit dem altruistischen Ziel, seinen eigenen Kindern zusätzliche Konsummöglichkeiten zu verschaffen. Wer Vermögen aufgrund unerwarteten Todes ungeplant vererbt, wer sich mit der Erbschaft die Zuneigung der eigenen Kinder erkaufen will, 1993
Gutachten vom 20. und 21. Februar 1998
oder wer auf den Verbrauch seines Vermögens aus anderen nicht-altruistischen Gründen verzichtet, wird auf die Vorverlagerung der Beitragslasten von der Generation der Kinder in die Gegenwart nicht mit einer kompensierenden Absenkung des Erbes antworten. Die Beitragsbelastung wird ihn stattdessen veranlassen, mittelfristig einige der andernfalls realisierbaren Konsumvorhaben zurückzustellen. (80) Im ganzen ist aus diesen Gründen davon auszugehen, daß nur ein kleiner Teil der Beitragzahler den Konsum trotz der mit dem Übergang zur Kapitaldeckung einhergehenden Zusatzbelastung weiterhin so ansteigen lassen wird, wie das sonst der Fall gewesen wäre. Der überwiegende Teil der Beitragzahler wird die Zusatzbelastung nicht in vollem Umfang durch eine Verminderung der Ersparnis oder gar durch Verschuldung abfangen wollen oder können. Per saldo wird deshalb auch gesamtwirtschaftlich mehr gespart werden, wenn die Rentenversicherung zusätzliche Pflichtsparbeiträge einfordert. Jene Personen, die ihren Konsum durch eine kompensierende Variation ihrer eigenen Erbschaften stabilisieren, dürften unter den Versicherungspflichtigen zu einer Minderheit gehören. Die Personen dieses Typs, die es gleichwohl unter den Versicherungspflichtigen gibt, stellen im übrigen kein grundsätzliches Problem dar. Sie sorgen aus eigenem Antrieb bereits für eine optimale intertemporale Konsumplanung, die sich über die Generationen hinweg erstreckt. Kompensierende Reaktionen auf das Umlageverfahren oder den Ersatz dieses Verfahrens durch ein Kapitaldeckungsverfahren bedeuten bei ihnen stets eine Verbesserung, nicht eine Verschlechterung des Belastungsausgleichs zwischen den Generationen.
2. Und warum nicht zuviel gespart wird (81) Die gegenteilige Befürchtung einer Ersparnisschwemme, die die Aufnahmefähigkeit des Kapitalmarktes übersteigt, leitet sich aus dem enormen Umfang der impliziten Staatsschuld in Form der Rentenanwartschaften im Umlagesystem ab. Wie schon erwähnt, mag unter heutigen Verhältnissen das Volumen dieser impliziten Schuld bei etwa 10 Billionen D M liegen, was größenordnungsmäßig dem Nettoanlagevermögen der deutschen Volkswirtschaft entspricht. Ein vollständiger Übergang in die Kapitaldeckung der Alters-, Witwen-, Waisen- und Erwerbsunfähigkeitsrente würde deshalb auf die Dauer zur Akkumulation eines noch einmal so großen Kapitalstocks führen, wenn es keine kompensatorischen Reaktionen der privaten Ersparnis gäbe. Dies würde bei einer alleinigen Kapitalanlage im Inland zwar zu einer Sozialproduktsteigerung, aber zugleich zu einer starken Senkung der Kapitalerträge führen. 1994
Grundlegende R e f o r m der gesetzlichen Rentenversicherung
Der Beirat empfiehlt indes weder einen vollständigen Übergang in die Kapitaldeckung noch eine alleinige Anlage der Mittel im Inland. Das Ziel der empfohlenen Reform ist die Überwindung der drohenden Krise der deutschen Rentenversicherung durch eine Verstetigung der Beitragsund Sparbelastung in der Zeit. Will m a n dieses Ziel durch eine im Zeitablauf variable Zusatzersparnis erreichen, so ergibt sich endogen ein Sparquotenverlauf, der letztlich auf eine etwa fünfzigprozentige Kapitaldeckung der Altersrente durch in- und ausländische Anlagen hinausläuft, wobei die Renten für Erwerbsunfähige, Witwen und Waisen nach wie vor vollständig umlagefinanziert werden. Die Gefahr einer Kapitalschwemme ist bei dieser Empfehlung selbst dann nicht gegeben, wenn man nicht mit kompensierenden Reaktionen der privaten Ersparnis rechnen m u ß . (82) Z u r Beurteilung der Situation leistet Abbildung 9 nützliche Dienste. Dort werden die zeitlichen Verläufe der auf das Nettosozialprodukt zu Marktpreisen bezogenen Sparquoten dargestellt, die sich für die in Kapitel V untersuchten Reformszenarien ergeben. Dabei wird ein jährliches Wachstum der Arbeitsproduktivität und des Lohnsatzes von 2 Prozent unterstellt und ein reales Zinsniveau von 4 Prozent. N a c h wie vor liegt die zweite Variante der achten koordinierten Bevölkerungsvorausschätzung des Statistischen Bundesamtes zugrunde. Das Wachstum des Sozialproduktes ergibt sich endogen aus dem Wachstum der Arbeitsproduktivität, der Erwerbsbevölkerung und der zusätzlichen Kapitalakkumulation im Rahmen des Kapitaldeckungsverfahrens. Die Abbildung zeigt, daß alle auf das Sozialprodukt bezogenen spezifischen Sparquoten, die sich bei den Modellen privater Kapitalanlage vom Typ III bis VI ergeben, w ä h r e n d der ersten zwei bis drei Jahrzehnte zunehmen und sich danach mehr oder weniger stabilisieren. Die anfängliche Z u n a h m e ist darauf zurückzuführen, d a ß der Zinssatz auf das angesparte Kapital über der Wachstumsrate des Sozialprodukts liegt und daß anfänglich k a u m Auszahlungen an Rentner geleistet werden. M i t fortschreitender Zeit gewinnen die Auszahlungen aus der Kapitaldeckung an Bedeutung mit der Folge, d a ß sich die spezifische Sparquote des Kapitaldeckungsverfahrens schließlich stabilisiert oder sogar wieder abnimmt. Die Abbildung enthält in Form zweier Horizontalen außerdem die in den Jahren 1960 und 1989 im früheren Bundesgebiet realisierten gesamtwirtschaftlichen Sparquoten der Privaten. Sie lagen bei rd. 15 bzw. 9 Prozent. Ein Vergleich mit diesen Sparquoten zeigt, daß eine vollständige Kapitaldeckung der Altersrente tatsächlich zu einer sehr starken Z u n a h m e der privaten Gesamtersparnis führen würde. Ohne kompensatorische Reaktionen, wie sie im vorigen Abschnitt diskutiert wurden, würde sich die ge1995
Gutachten vom 20. und 21. Februar 1998
Abb. 9: Die spezifischen Sparquoten bei alternativen Reformszenarien Quellen: Eigene Berechnungen; Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 1990, Statistisches Jahrbuch 1994 sowie Achte koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Variante 2, Wiesbaden 1994. Legende: Alle Sparquoten sind als Relation zum jeweiligen Nettosozialprodukt zu Marktpreisen ausgedrückt. Es wird angenommen, daß sich das Sozialprodukt ohne die Kapitalbildung der Rentenversicherung in Proportion zur beitragspflichtigen Lohn- und Gehaltssumme entwickeln würde, wie sie aus einem Anstieg des Lohnsatzes von 2 Prozent per annum und aus der Bevölkerungsentwicklung resultiert. Die Zinsen auf das im Rahmen der Rentenversicherung angesparte Kapital treten additiv zu dem so berechneten Sozialprodukt hinzu. Die Ersparnis beim Kapitaldeckungsverfahren ergibt sich aus den Pflichtsparbeiträgen zuzüglich der Zinsen auf das angesammelte Kapital abzüglich der Entnahmen für die Renten. Vgl. Fußnote 13.
samtwirtschaftliche Sparquote der Privaten bis zum Jahr 2020 fast verdoppeln und anschließend auf diesem hohen Niveau verbleiben. Sie wäre dann mit insgesamt etwa 17 Prozent allerdings wenig höher als im Jahr 1960, das als typisch für die Phase des Wiederaufbaus gelten kann. Ähnliches würde mit zeitlicher Verzögerung auch für das Szenarium IV, also die Streckung der Kapitaldeckung durch Staatsverschuldung gelten. (83) Bei der vom Beirat präferierten Lösung, dem Szenarium VI, das durch eine zeitabhängige Pflichtsparquote gekennzeichnet ist, hält sich das zusätzliche Sparangebot vergleichsweise in Grenzen. Die auf das Sozialprodukt bezogene spezifische Sparquote der Kapitaldeckung liegt anfangs nur bei 2,5 Prozent, steigt dann im Bereich der Jahre 2015 bis 1996
Grundlegende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung
2 0 2 5 auf etwa 4 Prozent und strebt auf die Dauer gegen einen Wert von 3 Prozent. Das kann schwerlich als eine Überschwemmung des Kapitalmarktes gedeutet werden, denn addiert man diese Sparquote zu der im Jahre 1989, dem letzten Jahr vor der deutschen Vereinigung, realisierten Q u o t e von rd. 9 Prozent hinzu, so ergeben sich Werte von etwa 12 bis 13 Prozent, wie sie in den frühen sechziger Jahren in der Bundesrepublik bereits realisiert waren. Wenn damals der Kapitalmarkt nicht überschwemmt wurde, so ist diese Gefahr auch nicht für den Fall einer Teilkapitaldeckung zu erwarten. Nicht eine Überschwemmung des Kapitalmarktes, sondern eine Erhöhung der privaten Sparquote in die Richtung eines Niveaus, das Deutschland ein stürmisches wirtschaftliches Wachstum, Vollbeschäftigung und sozialen Frieden gebracht hat, ist die Konsequenz der vom Beirat empfohlenen Reform.
VII. Schlußbemerkung (84) Deutschland war das erste Land, das eine umfassende Rentenversicherung eingeführt hat, und es ist zugleich das Land, in dem die schärfste Krise dieser Versicherung droht. In vielen Ländern sind für die nächsten Jahrzehnte Finanzierungsprobleme des gesetzlichen Umlageverfahrens zu befürchten, weil die Lebenserwartung zu- und die Geburtenrate abgenommen hat. Aber der hohe Umfang des staatlichen Versicherungsschutzes und die besonders niedrige Geburtenrate schaffen gerade in Deutschland eine extrem kritische Gemengelage. Die Rentenreformen von 1992 und 1999 haben die Lösung der drohenden Probleme in Kürzungen des Rentenanstiegs gesucht. Der zu erwartende Anstieg des Beitragsatzes ist durch diese Reformen begrenzt worden. Das ist ein erster Beitrag zur Bewältigung der drohenden Krise. Dennoch muß man bis zur Mitte des vierten Jahrzehnts des nächsten Jahrhunderts eine Zunahme des Beitragsatzes auf bis zu 30 Prozent befürchten. Die bisherigen Reformen sind das Ergebnis einer Politik der Mangelverwaltung, die zur Überwindung des Mangels nichts beitragen. Keine Generation kann im Alter eine Rente beziehen, wenn sie nicht entweder in Humankapital oder in Realkapital investiert hat, denn von nichts kommt nun einmal nichts. Die Investition in Humankapital durch die Geburt und Ausbildung eigener Kinder ist in Deutschland vernachlässigt worden, und was versäumt wurde läßt sich bis zum Höhepunkt der demographischen Krise in der Mitte der dreißiger Jahre des nächsten Jahrhunderts auch nicht mehr nachholen. Heute bleibt nur noch der Weg, 1997
Gutachten vom 20. und 21. Februar 1998
die langfristig fehlenden Erwerbstätigen durch Realkapital zu ersetzen. Die Mittel, die bei der Ausbildung der Kinder gespart werden, können für den Aufbau eines Kapitalstocks für Rentenzwecke verwendet werden, ohne daß dadurch ungebührliche Lasten entstehen. Der drohende Mangel an Finanzierung kann auf diese Weise überwunden werden. (85) Der Beirat empfiehlt, die umlagefinanzierte gesetzliche Rentenversicherung unverzüglich durch eine private Teilkapitaldeckung der Renten zu ergänzen. Beginnend mit dem Jahr 2 0 0 0 sollte zusätzlich zur Beitragspflicht des Umlageverfahrens eine Sparpflicht eingeführt werden, um bei privaten Fonds einen Kapitalstock zum Zwecke der ergänzenden Rentenfinanzierung aufzubauen. Die auf diese Weise zu erreichende Teilfinanzierung der Renten wird es ermöglichen, die durch das Rentenreformgesetz 1999 bestimmten Rentenansprüche einzulösen und zugleich das Niveau des Umlagebeitrags zu senken. Der Beirat schlägt vor, die Pflichtsparquote so zu bemessen, d a ß die Altersrenten langfristig zur Hälfte kapitalgedeckt werden. Solange die demographische Verschiebung anhält, sollte die Pflichtsparquote allerdings im Zeitablauf so variiert werden, daß der G e s a m t a u f w a n d der Versicherten (Umlagebeitrag plus Pflichtersparnis) prozentual konstant gehalten wird. N a c h den Berechnungen des Beirats könnte der G e s a m t a u f w a n d bei etwa 2 4 Prozent des Bruttolohns festgesetzt werden. In den Krisenjahren um das J a h r 2 0 3 5 könnte auf diese Weise bereits mehr als ein Viertel der Altersrente aus Ersparnissen gedeckt werden. (86) Es kann erwartet werden, daß sich die zusätzliche Pflichtersparnis zu einem erheblichen Teil in eine zusätzliche private Kapitalbildung umsetzen wird. Dadurch werden der Volkswirtschaft in den Krisenjahren und in den Jahren danach mehr Ressourcen für die Finanzierung sozialer Belange zur Verfügung stehen, als es sonst der Fall gewesen wäre. Eine Überschwemmung der Kapitalmärkte mit anlagesuchenden Ersparnissen braucht nicht befürchtet zu werden. Selbst bei einer vollen Umsetzung der Pflichtersparnis in zusätzliche gesamtwirtschaftliche Ersparnis stiege die volkswirtschaftliche Sparquote nur wieder auf ein Niveau, das sie früher schon innehatte. Die Ersparnisse sollten allerdings zum Teil auch wohldiversifiziert im Ausland angelegt werden, um hohe Ertragsraten mit bestmöglicher Risikoabsicherung zu verbinden. (87) Die vorgeschlagene Reform m u ß rasch in Angriff genommen werden, denn mit jedem Jahr, das m a n untätig verstreichen läßt, wird eine Chance vertan, Vorsorge für die schwierigen Zeiten zu treffen, die der gesetzlichen Rentenversicherung bevorstehen. Bereits im Jahre 1980 hatte der Beirat seine warnende Stimme erhoben. Heute duldet die Sache keinen Aufschub mehr. Es gilt, Schaden von der deutschen Volkswirt1998
Grundlegende R e f o r m der gesetzlichen Rentenversicherung
schaft abzuwenden. Nur ehrliche Analysen und mutige Reformen können das schon lädierte Vertrauen in die Stabilität und die Anpassungsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft wiederherstellen. Eine grundlegende Reform der Rentenversicherung gehört zu den dringlichsten Aufgaben, die zu erledigen sind. Bonn, 19. März 1998 Der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft Professor Dr. Manfred J. M. Neumann
Gemeinsame Stellungnahme der Wissenschaftlichen Beiräte beim BMF und BMWi vom 2. Oktober 1998 Thema: Reform der Einkommen- und Körperschaftsteuer Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium der Finanzen und der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft haben sich in mehreren Sitzungen, zuletzt am 2. Oktober 1 9 9 8 , mit dem Thema Reform der Einkommen-
und
Körperschaftsteuer
befaßt und sind dabei zu der nachfolgenden gemeinsamen Stellungnahme gelangt:
(1) Die Beiräte raten der neuen Bundesregierung, sich möglichst rasch mit dem Bundestag und dem Bundesrat auf eine durchgreifende Reform der Einkommen- und Körperschaftsteuer zu verständigen. Beide Beiräte haben bereits vor zwei Jahren zur anstehenden Steuerreform in ausführlichen Gutachten Stellung genommen. (2) Den bisherigen Reformstillstand kann sich Deutschland nicht länger leisten. Die hohe Arbeitslosigkeit und das unzureichende Wirtschaftswachstum sind kein unvermeidbares Schicksal, sondern Folge einer fehlenden Bereitschaft, die Herausforderungen des internationalen Standortwettbewerbs offensiv und flexibel anzunehmen. Mit dem Beginn der europäischen Währungsunion wird der Standortwettbewerb härter. Aber es eröffnen sich auch neue Chancen. Mehr Beschäftigung ist möglich. Dazu müssen die Rahmenbedingungen des Wirtschaftens neu eingestellt werden. So gilt es, die Marktkräfte zu stärken, insbesondere auch auf den Arbeitsmärkten. Ebenso bedarf es grundlegender Reformen der Systeme der sozialen Sicherheit. (3) Eine durchgreifende Steuerreform ist ein wichtiger Baustein einer Reformstrategie, die wieder stärker auf die Marktkräfte vertraut und die privaten Investoren weder fesselt noch gängelt. Genau dies ist nämlich die Voraussetzung für ein kräftiges Wirtschaftswachstum, von dem auch mehr Beschäftigung zu erwarten ist.
2001
Gutachten vom 2. Oktober 1998
Die R e f o r m der Einkommen- und Körperschaftsteuer sollte von folgenden Leitlinien bestimmt sein: -
Leistungsfreundlichere Gestaltung des Steuertarifs,
-
Verzicht auf Lenkungseffekte bei Senkung der durchschnittlichen Steuerbelastung,
-
Transparenz und Vereinfachung.
(4) Leistungsfreundlich ist eine Besteuerung, die Arbeitnehmer und Selbständige dazu anreizt, nach neuen Erwerbsmöglichkeiten zu suchen, vorhandene Erwerbsmöglichkeiten weiter auszubauen und lohnpolitische Zurückhaltung zu üben, damit es zu dauerhaft mehr Beschäftigung k o m m t anstatt zu weiteren Arbeitsplatzverlusten. Dafür bedarf es einer möglichst drastischen Senkung der Steuersätze, und zwar über den gesamten Tarifverlauf. (5) Die Kombination aus hohen Steuersätzen und großzügigen Bewertungsregeln für die Gewinnermittlung, die das heutige Steuersystem kennzeichnet, führt zur Fehllenkung privater Investitionen. Allzu häufig werden Projekte deshalb realisiert, weil sie eine Linderung des hohen Steuerdrucks versprechen. Eine Fehlstrukturierung des volkswirtschaftlichen Kapitalstocks und eine Vergeudung wertvollen Sparkapitals sind die Folge. Eine mutige Steuerreform, die auch vor drastischen Tarifsenkungen nicht zurückscheut, wird dafür sorgen, daß sich die Investitionsentscheidungen wieder an den Erträgen orientieren, statt von steuerlichen Effekten überlagert zu werden. Besonders die Spitzenbelastung der Unternehmen, die in der Summe aus Einkommensteuer bzw. Körperschaftsteuer, Solidaritätszuschlag und Gewerbesteuer bis zu 6 0 Prozent reichen kann, bedarf nicht nur einer kosmetischen, sondern einer kräftigen Korrektur. Eine Senkung des Spitzensatzes der Einkommensteuer von bisher 5 3 Prozent bzw. 4 7 Prozent bei gewerblichen Einkünften auf erheblich unter 4 0 Prozent läßt sich vertreten, wenn vielfältige Steuerbegünstigungen, die vor allem von Beziehern hoher Einkommen genutzt werden, entfallen. Schon bisher bestand Einigkeit, daß der Körperschaftsteuersatz auf einbehaltene Gewinne 3 5 Prozent nicht überschreiten sollte. Auch der Spitzensatz der Einkommensteuer, und zwar für alle Einkunftsarten, sollte sich an dieser M a r k e orientieren. So ist es schon zur Vermeidung eines Anreizes zum Wechsel der Rechtsform erforderlich, auch Personengesellschaften nicht höher zu besteuern, und nicht nur die Gerechtigkeit verbietet es, Selbständigen wie abhängig Beschäftigten eine darüber hinausgehende Last aufzubürden. Wenn die Erträge der menschlichen Arbeits2002
R e f o r m der E i n k o m m e n - u n d Körperschaftsteuer
k r a f t steuerlich stärker als die Erträge des Kapitals belastet w e r d e n , wird die Bereitschaft schwinden, Zeit und Geld in die eigene Ausbildung zu investieren. D a s w ü r d e die E n t w i c k l u n g einer auf Wissen und technischen Fortschritt angewiesenen Volkswirtschaft u n d d a m i t das Wirts c h a f t s w a c h s t u m beeinträchtigen. (6) Transparenter und einfacher wird die Besteuerung, w e n n sie von zahlreichen und komplizierten Begünstigungen bereinigt und d a m i t die Bemessungsgrundlage verbreitert wird. Es sind vornehmlich die A u s n a h m e tatbestände u n d Steuerbegünstigungen, die das Steuersystem komplizieren und a m Ende die Bürger stärker als n o t w e n d i g belasten. Die Steuerbegünstigungen verleiten zu individuell riskanten und gesamtwirtschaftlich o f t unsinnigen Entscheidungen. Viele Begünstigungen werden zudem von den Bürgern f ü r ungerecht gehalten. A u c h der Tarif sollte möglichst t r a n s p a r e n t sein. K ä m e es allein auf T r a n s p a r e n z an, so w ü r d e m a n einen Tarif w ä h l e n , der bei einem ausreichend h o h e n G r u n d f r e i b e t r a g mit n u r einem Steuersatz a u s k o m m t . Auch ein solcher Tarif w ä r e progressiv. Er wird aber auf verteilungspolitische Bedenken stoßen. D a h e r wird es w o h l bei einem Tarif mit steigenden Grenzsteuersätzen bleiben. O b dieser Tarif n u r wenige Stufen u m f a ß t oder wie bisher d u r c h einen linearen Anstieg der Grenzsteuersätze geprägt ist, h a t z w a r Bedeutung, ist aber weniger gewichtig, w e n n die Steuersätze über den gesamten Tarifverlauf kräftig gesenkt w e r d e n . (7) Z u wenig w ä r e g e w o n n e n mit einer R e f o r m der E i n k o m m e n s b e s t e u e r u n g , die keine N e t t o e n t l a s t u n g schafft, sondern die Steuerbelastung n u r umverteilt. A u f k o m m e n s n e u t r a l i t ä t w ä r e ein schlechtes Signal f ü r inländische wie ausländische Investoren. Es bedarf vielmehr einer deutlichen Senkung der Gesamtsteuerlast. (8) Falsch w ä r e es also, eine Senkung der E i n k o m m e n - und Körperschaftsteuer durch die E r h ö h u n g anderer Steuern zu kompensieren, die ihrerseits negative Leistungsanreize auslösen u n d den Standort belasten. So ist von einer Wiederbelebung der Vermögensteuer abzuraten. Auch der Versuch, n u r persönliche u n d besonders große Vermögen zu besteuern, m u ß d a r a n scheitern, d a ß zwischen persönlicher u n d betrieblicher Sphäre nicht sauber zu trennen ist. Z u d e m sind die unverhältnismäßig h o h e n Verwaltungskosten zu bedenken und die vom Bundesverfassungsgericht gezogenen Grenzen zu beachten. (9) Es herrscht weitgehend Einigkeit, d a ß die R e f o r m der E i n k o m m e n u n d Körperschaftsteuer eine wesentliche Verbreiterung der Bemessungsgrundlagen bringen m u ß . D a m i t entsteht bereits ein erheblicher Spielr a u m f ü r die Senkung der Steuersätze. D a r ü b e r hinaus ist eine N e t t o e n t 2003
Gutachten vom 2. Oktober 1998
lastung, die nicht zu einem neuerlichen Anstieg der Haushaltsdefizite führt, nur durch eine weitere Senkung der Staatsquote, also des Verhältnisses von gesamten Staatsausgaben zu Bruttoinlandsprodukt, zu bewirken. Diese Staatsquote liegt heute in der Nähe von 50 Prozent und ist damit eindeutig zu hoch. Daß eine Senkung auch in Deutschland möglich ist, zeigen die Erfahrungen der achtziger Jahre. Vor allem geht es darum, solche Ausgaben zu senken, die Kapitalfehllenkung begünstigen, überkommene Strukturen konservieren und die wirtschaftlichen Antriebskräfte schwächen. (10) Beide Beiräte raten dazu, nicht kleinmütig zu sein und die Sätze der Einkommen- und der Körperschaftsteuer kräftig zu senken. Deutschland gehört, jedenfalls was die direkten Steuern betrifft, zu den Hochsteuerländern. Das Ausmaß, in dem das deutsche Steuersystem zu Ausweichreaktionen der Besteuerten und damit zu einer Fehllenkung der volkswirtschaftlichen Ressourcen geführt hat, ist nicht länger hinzunehmen. Nur wenn die Bürger von der Einschnürung durch ein ausuferndes Steuersystem befreit werden, können sie die Leistung erbringen, die eine wirtschaftliche Gesundung ermöglicht und den allgemeinen Wohlstand sichert. Entgegen einer verbreiteten, am status quo orientierten Betrachtung wird es auf mittlere Sicht dann auch wieder zu höheren Steuereinnahmen kommen. (11) Viel Zeit ist vertan worden. Andere Länder sind in der Neuorientierung ihrer Steuersysteme vorangeschritten. Die Politik muß jetzt möglichst rasch mit einer durchgreifenden Einkommensteuerreform ein überzeugendes Zeichen dafür setzen, daß auch Deutschland reformfähig ist. Frankfurt, den 2. Oktober 1998 Der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen
Der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft
Prof. Dr. Gerold Krause-Junk
Prof. Dr. Manfred J.M. Neumann
2004
Gutachten vom 18. und 19. Dezember 1998 Thema: Neuordnung des Finanzierungssystems der Europäischen Gemeinschaft Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie hat sich in mehreren Sitzungen, zuletzt am 18./19. Dezember 1 9 9 8 , mit dem Thema
Neuordnung des Finanzierungssystems der Europäischen
Gemeinschaft
befaßt und ist dabei zu der nachfolgenden Stellungnahme gelangt
Anlaß des Gutachtens ( 1 ) Die Europäische Gemeinschaft steht vor einer Neuordnung ihres Finanzierungssystems. Die derzeitige Finanzierung beruht auf dem Eigenmittelbeschluß 1 9 9 4 , mit dem der Finanzrahmen der Gemeinschaft bis einschließlich 1 9 9 9 auf maximal 1,27 Prozent des Bruttosozialprodukts der Gemeinschaft begrenzt worden war. Die Europäische Kommission hat mit der Agenda 2 0 0 0 eine finanzielle Vorausschau für den Zeitraum 2 0 0 0 bis 2 0 0 6 vorgelegt. Sie beruht auf der Arbeitshypothese, daß dieser Plafond nicht angehoben wird. Allerdings sind im Rahmen der Neuordnung des Finanzierungssystems zwei Probleme zu lösen, die sich schwer mit einander vereinbaren lassen. Zum einen gilt es zu sichern, daß die geplante Erweiterung der Gemeinschaft um fünf mittelosteuropäische Länder und Zypern finanziell bewältigt werden kann. Die Kommission hat dafür Vorschläge in der Agenda 2 0 0 0 vorgelegt. Unbeschadet einer Prüfung dieser Vorschläge im einzelnen laufen sie darauf hinaus, daß die derzeitigen fünfzehn Mitgliedstaaten in Zukunft geringere Rückflüsse erhalten werden. Andererseits fordern mehrere Mitglieder, insbesondere Deutschland, die aus ihrer Sicht in eine Schieflage geratene Struktur der Gemeinschaftsfinanzierung so zu korrigieren, daß sie künftig entlastet werden. (2) In diesem Gutachten nimmt der Beirat zur derzeitigen Struktur der Finanzverfassung der Gemeinschaft Stellung und entwickelt Vorschläge, wie eine gleichgewichtigere Verteilung der Finanzierungslasten erreicht werden könnte. Die in der bisherigen Diskussion festzustellende Fokussierung auf die Höhe der Nettobeiträge erscheint als zu verengt und ist einer an ökonomischen Kriterien orientierten Lösung unterlegen. Das Ziel jeglicher Reform muß ein doppeltes sein: die aus der Balance geratene Struktur der Belastungen der Mitgliedstaaten zu korrigieren und Anreize dafür zu setzen, daß die Ausgabenexpansion der Gemeinschaft 2005
Gutachten vom 1 8 . / 1 9 . Dezember 1 9 9 8
gebrochen wird. Wenn beide Ziele verfolgt werden, kann Deutschland auf eine erhebliche und dauerhafte Entlastung rechnen. Nach Auffassung des Beirats sollte das Finanzierungssystem der Gemeinschaft auf eine neue Grundlage gestellt werden. Der Beirat schlägt vor, daß die Bruttobeiträge künftig zum Hauptteil nach den Anteilen der Mitgliedstaaten am Bruttosozialprodukt der Gemeinschaft festgesetzt werden, zum kleineren Teil nach den Stimmenanteilen der Staaten im Europäischen Rat. Im Ergebnis würden die Beiträge dann mit der Größe der Länder degressiv ansteigen. Die Berücksichtigung der Stimmenanteile nimmt darauf Rücksicht, daß die bevölkerungsreicheren Mitgliedstaaten die Hauptlast der Finanzierung tragen, ohne mit vergleichbarem Stimmengewicht wie die bevölkerungsärmeren Staaten auf die Ausgabenprogramme der Gemeinschaft Einfluß nehmen zu können. Von der Einführung eines solchen Beitragstarifs ist eine effizientere und sparsamere Gestaltung der Ausgabenpolitik der Gemeinschaft zu erwarten. Der Beirat schlägt weiter vor, die Mitgliedstaaten stärker als bisher an den Kosten von spezifischen Maßnahmen auf den Gebieten der Agrarpolitik, der Regionalpolitik und Strukturpolitik zu beteiligen, und zwar nach Maßgabe ihrer Inanspruchnahme dieser Maßnahmen. Für eine Reihe von Maßnahmen, insbesondere auf dem Feld der Agrarpolitik, läßt sich sogar eine Kofinanzierung von 1 0 0 Prozent vertreten, weil diese Maßnahmen ausschließlich eindeutig zu identifizierenden Interessengruppen in einzelnen Mitgliedstaaten zugute kommen. Auch eine partielle Renationalisierung der Zuständigkeit für bestimmte Maßnahmen der Gemeinschaft sollte nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Wenn die Gemeinschaft sich nicht auf eine grundlegende Änderung des Finanzierungssystems einläßt, dann wird nur noch eine mechanische Kappung von Nettopositionen helfen, sobald diese eine vorbestimmte Grenze (ausgedrückt als Prozentsatz des jeweiligen Sozialprodukts) überschreiten. Das wäre eine Notbremse, die zwar Deutschlands übermäßige Belastung begrenzen, aber der Expansionstendenz des Gemeinschaftshaushalts nicht grundsätzlich entgegenwirken würde. (3) In Abschnitt 1 wird anhand der Daten des Jahres 1 9 9 7 der Statusquo der Einnahmen und Ausgaben der Gemeinschaft dargestellt, und es wird die Struktur der Nettozahlerpositionen näher charakterisiert. In den folgenden Abschnitten 2 und 3 wird der Frage nachgegangen, wie die Finanzverfassung der Gemeinschaft im Hinblick auf die Regelungen der Beitragserhebung und die Gestaltung der Ausgaben verändert werden sollte, und welche Folgen das für die künftige Belastung der Mitgliedsländer, namentlich Deutschlands, hätte. Abschnitt 4 faßt die Empfehlungen des Beirats zusammen. 2006
Neuordnung des Finanzierungssystems der Europäischen Gemeinschaft
1. Zum Status-quo der Finanzierung der Gemeinschaft (4) Der Haushalt der Europäischen Gemeinschaft wird durch Zölle und Zuckerabgaben, durch Beiträge der Mitgliedsländer und zu einem geringen Teil durch Verwaltungseinnahmen gespeist. Gut 90 Prozent dieser Mittel lassen sich über die Ausgabenseite des Haushalts als Rückflüsse in die Mitgliedstaaten aufschlüsseln. Im wesentlichen handelt es sich dabei um Maßnahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik und der Strukturpolitik. Ausgangspunkt der von Deutschland und anderen Ländern geführten Nettozahler-Diskussion sind die „Nettopositionen" der Mitgliedsländer. Die Nettoposition wird vielfach definiert als die Differenz zwischen dem gesamten Mittelzufluß aus einem Land in den Gemeinschaftshaushalt und dem Rückfluß aus den Programmen der Gemeinsamen Agrarpolitik und der Strukturpolitik sowie weiterer zurechenbarer Ausgaben der Gemeinschaft in dieses Land. Unberücksichtigt bleiben dabei nicht aufgliederbare Ausgaben, die rd. 8 Prozent der Gesamtausgaben der Gemeinschaft ausmachen; im wesentlichen handelt es sich um die Verwaltungsausgaben und um nicht zurechenbare außenpolitische Maßnahmen. 1.1 Die Einnahmen und Ausgaben der Gemeinschaft Die
Einnahmen
(5) Die Finanzierung der Gemeinschaft ist relativ kompliziert angelegt. Die heutige Finanzierungsstruktur ist nur vor dem Hintergrund ihrer historischen Entwicklung zu verstehen. Bis Ende der sechziger Jahre wurde die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ausschließlich durch Beiträge der Mitgliedsländer finanziert. Zwar sahen bereits die Römischen Verträge die Möglichkeit vor, der Gemeinschaft eine Finanzierung aus eigenen Mitteln zu verschaffen. Aber erst mit dem Eigenmittelbeschluß 1 9 7 0 wurde eine Umstellung eingeleitet. Seitdem werden die Hauptquellen der Finanzierung als Eigenmittel bezeichnet. Zu unterscheiden sind: die traditionellen Eigenmittel, die Mehrwertsteuer-Eigenmittel und die BSP-Eigenmittel. Für jede dieser Quellen gibt es eine eigenständige Regelung. -
Die traditionellen oder originären Eigenmittel umfassen die Zolleinnahmen, Zucker- und Isoglukoseabgaben sowie Agrarabschöpfungen. Diese Abgaben wurden der Kompetenz der Gemeinschaft überantwortet. Die Mitgliedstaaten ziehen sie im Auftrag der Gemeinschaft ein und dürfen zum pauschalen Ausgleich der Erhebungskosten 10 Prozent des Aufkommens einbehalten. Die traditionellen Eigenmittel waren einmal eine bedeutende Einnahmequelle. Heute tragen sie noch knapp 2 0 Prozent zur Finanzierung des Gemeinschaftshaushalts bei. 2007
Gutachten vom 18./19. Dezember 1998
- Die Mehrwertsteuer-Eigenmittel bilden mit 45 Prozent die bedeutendste Quelle der Finanzierung der Gemeinschaft. Sie werden faktisch seit 1980 geleistet. Die an die Gemeinschaft abzuführenden Beträge werden nicht anhand des tatsächlichen nationalen Mehrwertsteueraufkommens, sondern anhand einer harmonisierten Bemessungsgrundlage berechnet. Allerdings gibt es Kappungsgrenzen. Für Länder, deren Bruttosozialprodukt pro Kopf im Jahre 1991 weniger als 90 Prozent des Gemeinschaftsdurchschnitts betrug, wurde die Bemessungsgrundlage von 1995 an auf 50 Prozent des Bruttosozialprodukts begrenzt (Griechenland, Irland, Portugal und Spanien). Auch für die übrigen Mitgliedsländer gibt es eine Obergrenze. Sie wurde von 54 Prozent des Bruttosozialprodukts im Jahre 1995 schrittweise herabgesetzt und soll von 1999 an ebenfalls 50 Prozent betragen. Die Kappung der Bemessungsgrundlage wurde seinerzeit auf einen Vorschlag Spaniens eingeführt. Die spanische Regierung argumentierte, Spanien trage insofern unverhältnismäßig zu den Mehrwertsteuer-Eigenmitteln bei, als ein hoher Zustrom ausländischer Touristen das Mehrwertsteueraufkommen in Spanien aufblähe. - Die BSP-Eigenmittel wurden 1988 als dritte Finanzierungsquelle eingeführt. Die Höhe des abzuführenden Betrages wird so bestimmt, daß zuerst das gewünschte Gesamtaufkommen an BSP-Eigenmitteln festgelegt wird und dann der von einem Land zu leistende Teilbeitrag nach seinem Anteil am gemeinschaftlichen Bruttosozialprodukt bestimmt wird. Diese Finanzierungsquelle soll in den kommenden Jahren ausgebaut werden, um allmählich die Mehrwertsteuer-Eigenmittel abzulösen. Dem liegt die Auffassung zugrunde, daß ein am Bruttosozialprodukt orientiertes Finanzierungssystem gerechter sei. Für die gesamten Eigenmittel der Gemeinschaft ist eine Obergrenze festgesetzt. Sie beträgt 1,27 Prozent des in der Gemeinschaft erwirtschafteten Bruttosozialprodukts. Eine Überschreitung dieser Obergrenze macht der EG-Vertrag sehr schwer. Dazu bedarf es nicht nur der Einstimmigkeit im Rat. Vielmehr muß die Änderung auch von den Parlamenten aller Mitgliedstaaten ratifiziert werden. (6) Die undifferenzierte Verwendung des Begriffs der Eigenmittel suggeriert, daß die Gemeinschaft sich autonom aus eigenen Einnahmen finanziert und nicht wie früher aus Finanzbeiträgen der Mitgliedsländer. Tatsächlich handelt es sich aber nur bei den traditionellen Eigenmitteln um eigene Mittel der Gemeinschaft in dem materiellen Sinne einer autonomen Finanzierungsquelle, die auf einer übernationalen Kompetenz der Abgabenerhebung bei Zensiten beruht. 2008
Neuordnung des Finanzierungssystems der Europäischen Gemeinschaft
Bei den Mehrwertsteuer-Eigenmitteln und den BSP-Eigenmitteln handelt es sich dagegen nicht um autonome Finanzierungsquellen der Gemeinschaft, sondern um Beiträge der Mitgliedsländer. Diese Mittel werden von den Mitgliedstaaten pauschal aufgebracht, wobei es ihnen überlassen ist, aus welchen nationalen Steuern oder Abgaben sie die vereinbarten Beitragsleistungen finanzieren. Die gemeinschaftlichen Regelungen dieser Eigenmittelkomponenten dienen lediglich der Berechnung der Höhe der geschuldeten Beiträge. Die Unterscheidung der „Eigenmittel" der Gemeinschaft in Eigenmittel einerseits, die die Gemeinschaft autonom erhebt, also die traditionellen Eigenmittel, und in Beitragsleistungen der Mitgliedstaaten andererseits, nämlich die Mehrwertsteuerund BSP-Eigenmittel, hat Konsequenzen für die Berechnung der Nettobeiträge; vgl. Ziff. (13). (7) Schließlich gibt es seit 1980 Rabatte, in erster Linie für Großbritannien. Von Großbritannien wurde ein Rabatt als ein Ausgleich dafür gefordert, daß in das Land sehr geringe Mittel aus den agrarpolitischen Maßnahmen der Gemeinschaft zurückflössen. Die jährlichen Rabatte wurden zunächst ad hoc festgesetzt. Seit 1985 werden sie im Rahmen eines komplizierten Korrekturmechanismus bestimmt. Dem Grundsatz nach werden Großbritannien 66 Prozent der Vorjahresdifferenz zwischen seinem ungekappten Anteil an den Mehrwertsteuer-Eigenmitteln und dem Anteil Großbritanniens an den Rückflüssen an Mitteln erstattet. Der Rabatt wird finanziert, indem er auf die übrigen Mitgliedsländer nach Maßgabe ihrer Anteile an der Mehrwertsteuerbasis umgelegt wird. Deutschlands Anteil an der Finanzierung des Rabatts ist dabei auf zwei Drittel des an sich zu erbringenden Betrages begrenzt. Weitere Rabatte wurden Dänemark, Finnland, Griechenland, Irland, Österreich, Schweden, Spanien und Portugal für mehrjährige Übergangszeiten nach ihrem Beitritt zur Gemeinschaft gewährt. Inzwischen ist der Grund für Großbritanniens Rabatt, relativ geringe Rückflüsse aus den agrarpolitischen Programmen der Gemeinschaft, der Sache nach entfallen. Denn der Anteil Großbritanniens an den Rückflüssen aus agrarpolitischen Maßnahmen lag 1997 nur um rd. 2 Prozentpunkte unter seinem Anteil an den Beiträgen ohne Korrektur (10,8 im Vergleich zu 12,9 Prozent). Für Deutschland dagegen betrug diese Differenz 15 Prozentpunkte (14,2 im Vergleich zu 29,1 Prozent). (8) Tabelle 1 informiert über die im Jahr 1997 der Gemeinschaft aus den Mitgliedsländern zugeflossenen Mittel. Die für 1997 vorbestimmte Obergrenze für die Summe der Eigenmittel, gemessen über die gesamte Gemeinschaft, betrug 1,24 Prozent des gemeinschaftlichen Sozialpro2009
Gutachten vom 18./19. Dezember 1998
dukts. Sie wurde mit knapp 1,07 Prozent merklich unterschritten. Mit gut 21 Mrd ECU kamen rd. 28 Prozent der gesamten Einnahmen der Gemeinschaft aus Deutschland. Allerdings ist die darin enthaltene Abführung traditioneller Eigenmittel in Höhe von 3,4 Mrd ECU nicht als deutsche Beitragsleistung zu werten. Wie in Ziff. (6) bereits erwähnt worden ist, steht die Erhebung dieser Mittel der Gemeinschaft unmittelbar zu. Zudem ist die Länderstruktur des Aufkommens dieser Mittel aufgrund vielfältiger Faktoren, wie etwa der Verteilung von See- und Flughäfen, verzerrt. So werden die Zölle an den Außengrenzen der Gemeinschaft erhoben, doch getragen werden sie von den Verbrauchern, in welchem Land der Gemeinschaft sie auch wohnen mögen. Daher lassen sich die gemeinschaftlichen Zolleinnahmen nicht sinnvoll den Ländern zuordnen. (9) Die eigentlichen Beitragsleistungen umfassen die Mehrwertsteuerund die BSP-Eigenmittel. Tabelle 1 zeigt, daß Deutschland als größtes Land mit 29 Prozent den Löwenanteil beiträgt vor Frankreich und Italien (19 bzw. 12 Prozent). Deutschlands Anteil an den Beitragsleistungen entspricht seinem Anteil an der gemeinschaftlichen Mehrwertsteuerbasis, liegt freilich wesentlich höher als sein Anteil am Bruttosozialprodukt der Gemeinschaft (26 Prozent). Je nachdem, ob die Mehrwertsteuerbasis oder das Sozialprodukt zum Maßstab erhoben werden, ändert sich für die meisten Länder die Einschätzung, ob sie relativ mehr oder weniger beigetragen haben. Eine klare Ausnahme bildet Großbritannien. Der faktische Beitragsanteil dieses Landes liegt aufgrund der Rabattregelung mit 9,6 Prozent drastisch unter seinen Anteilen an der Mehrwertsteuerbasis und des Sozialprodukts (14 bzw. 16 Prozent). Auch so gesehen erscheint die Großbritannien gewährte Rabattregelung inzwischen als unverhältnismäßig. 1997 handelte es sich um knapp 2 Mrd ECU. (10) Insgesamt erweist die Analyse der Einnahmenseite des Haushalts der Gemeinschaft, daß in der derzeitigen Beitragsregelung eine erhebliche Ungleichbehandlung der Länder angelegt ist. Gälte etwa der Anteil am gemeinschaftlichen Sozialprodukt als alleiniger Maßstab der Beitragserhebung, so wäre auf Grundlage der Daten von 1997 Deutschlands Beitrag um 1,9 Mrd ECU oder fast 11 Prozent geringer ausgefallen. Unter dem alternativen Maßstab der Mehrwertsteuerbasis wäre er dagegen gerade richtig gewesen.
2010
N e u o r d n u n g des Finanzierungssystems der Europäischen G e m e i n s c h a f t T a b . l : Eigenmittel und Beitragsleistungen der Mitgliedsländer im Jahr 1 9 9 7 Gesamte Eigenmittel Anteil
M i o ECU
Prozent
Beitragsleistungen * Anteil
Mio ECU
Luxemburg Belgien Dänemark Osterreich Deutschland Niederlande Frankreich Italien Großbritannien Finnland Schweden Irland Spanien Portugal Griechenland
171 2.971 1.506 2.110 21.217 4.838 13.186 8.667 8.928 1.062 2.326 687 5.368 1.078 1.178
0,2 3,9 2,0 2,8 28,2 6,4 17,5 11,5 11,9
7,1 1,4 1,6
149 1.923 1.217 1.856 17.785 3.109 11.635 7.547 5.884 918 1.963 462 4.736 923 1.015
Summe
75.293
100
61.121
1,4 3,1 0,9
Prozent
Z u m Vergleich: Anteil am an der BruttoMehrwertsteuerbasis sozialprodukt Prozent Prozent
0,2
0,2
3,1 2,0 3,0 29,1 5,1 19,0 12,3 9,6
3,1 1,9 2,6 26,0 4,5 17,2 14,2 16,1
0,2 2,6 1,8 3,0 29,1 4,9 18,3 10,0 14,0
1,5 3,2 0,8 7,7 1,5
1,4 2,7 0,8 6,6
1,4 3,2 0,7 7,5
1,7
1,2 1,5
1,5 1,6
100
100
100
Hinweise: Die Reihenfolge der Länder entspricht der Rangfolge des Bruttosozialprodukts p r o Kopf (Kaufkraftstandards). Differenzen in den Summen a u f g r u n d R u n d u n g . *•) Mehrwertsteuer- und BSP-Eigenmittel. Quelle: Hier u n d im folgenden: Europäische Kommission; eigene Berechnungen.
Die
Ausgaben
(11) Die Ausgaben der Gemeinschaft beliefen sich 1997 auf 80 Mrd ECU. Als Rückflüsse in die Mitgliedstaaten lassen sich 71,5 Mrd ECU aufgliedern; das entspricht fast 90 Prozent der Gesamtausgaben. Es handelt sich um die Ausgaben für Zwecke der Agrarpolitik und der Strukturpolitik sowie um Ausgaben zur Förderung der Forschung, der Bildung und des Binnenmarktes; dagegen sind die Verwaltungsausgaben hier nicht berücksichtigt. Mit reichlich 4 0 Mrd ECU oder 57 Prozent der Rückflüsse bilden die Ausgaben für die Agrarpolitik den größten Block. Die Ausgaben für Strukturmaßnahmen (26 Mrd ECU oder 36 Prozent) fielen fast ausschließlich im Rahmen der Strukturfonds, einschließlich des Kohäsionsfonds, an. Der zur Heranführung von Griechenland, Irland, Portugal und Spanien an die Währungsunion errichtete Kohäsionsfonds beanspruchte etwa 8 Prozent der Strukturmaßnahmen. 2011
Gutachten vom 18./19. Dezember 1998
Die Tabelle 2 zeigt die Länderstruktur der Rückflüsse. Den fünf großen Ländern Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien und Spanien flössen fast 70 Prozent der Mittel zu, wobei Frankreich aufgrund seines relativ großen Agrarsektors mit rd. 12 Mrd ECU oder 17 Prozent der Rückflüsse die Spitzenposition vor Spanien und Deutschland (16 bzw. 14 Prozent) einnahm. (12) Nimmt man den bei internationalen Vergleichen gängigen Indikator des Bruttosozialprodukts als einen Anhaltspunkt, so zeigt der Vergleich der Anteile der Staaten an den Rückflüssen mit ihren Anteilen am gemeinschaftlichen Bruttosozialprodukt erhebliche Diskrepanzen. Das gilt besonders für Deutschland. Bei einem Anteil von 26 Prozent am gemeinschaftlichen Sozialprodukt betrug sein Anteil an den Rückflüssen 1997 nur 14 Prozent, also wenig mehr als die Hälfte. Auch andere Länder, wie Großbritannien, Italien, die Niederlande und Österreich, erhielten relativ weniger Rückflüsse, aber die Verzerrungen waren weniger eklatant. Dagegen schnitten die vier Länder, für die der Kohäsionsfonds geschaffen wurde (Griechenland, Irland, Portugal und Spanien), bemerkenswert gut ab. Zusammen erhielten sie 33 Prozent der Rückflüsse und damit das Dreifache ihres gemeinsamen Anteils am Sozialprodukt der Gemeinschaft. Der relativ geringe Anteil Deutschlands an den Rückflüssen erklärt sich zu gleichen Teilen daraus, daß die Struktur der gemeinschaftlichen Agrarhilfen weniger gut zu der deutschen Agrarstruktur paßt als zu der anderer Länder, vor allem Frankreichs, und daß Deutschland die Strukturfonds in geringerem Maße in Anspruch nimmt. Würden deutsche Regionen die struktur- und agrarpolitischen Programme der Gemeinschaft in gleichem relativen Ausmaß nutzen (können) wie die Partner, so wäre der Rückfluß im Jahre 1997 um fast 8 Mrd ECU höher ausgefallen. Allerdings sollen ja die am Kohäsionsfonds beteiligten Länder stärker gefördert werden. Werden diese vier Länder nicht in den Vergleich einbezogen, so hätte Deutschland einen um immerhin 4,4 Mrd ECU höheren Rückfluß erhalten.
1.2 Die Nettobeiträge (13) Ihre Einschätzung, daß Deutschland zu stark zur Finanzierung der Gemeinschaft herangezogen wird, hat die Bundesregierung bisher auf den Vergleich von Nettopositionen gestützt. Die Nettoposition ist dabei definiert als die Differenz zwischen den in einem Land insgesamt aufkommenden Eigenmitteln und dem zurechenbaren Rückfluß in dieses Land über die Ausgabenseite des Gemeinschaftshaushalts. Diese Größe 2012
Neuordnung des Finanzierungssystems der Europäischen Gemeinschaft Tab. 2: Zurechenbare Rückflüsse an die Mitgliedsländer im Jahr 1 9 9 7 Gesamte Rückflüsse *
M i o ECU
darunter: AgrarStrukturpolitik politik M i o ECU M i o ECU
Luxemburg Belgien Dänemark Österreich Deutschland Niederlande Frankreich Italien Großbritannien Finnland Schweden Irland Spanien Portugal Griechenland
118 1.834 1.542 1.375 10.141 2.520 12.214 8.514 7.045 1.104 1.181 3.351 11.279 3.789 5.538
23 983 1.236 861 5.778 1.757 9.149 5.091 4.400 571 747 2.034 4.606 657 2.731
20 358 170 364 3.636 421 2.460 2.895 1.929 380 231 1.211 6.377 2.942 2.644
Summe
71.546
40.623
26.037
Anteil an den Rückflüssen Prozent 0,2 2,6 2,2 1,9 14,2 3,5 17,1 11,9 9,8 1,5 1,7 4,7 15,8 5,3 7,7 100
Anteil am gemeinschaftlichen Bruttosozialprodukt Prozent 0,2 3,1 1,9 2,6 26,0 4,5 17,2 14,2 16,1 1,4 2,7 0,8 6,6 1,2 1,5 100
Hinweise: Differenzen in den Zahlen aufgrund Rundung. - *) Ohne Verwaltungsausgaben.
ist zunächst insofern problematisch, als, wie schon dargelegt worden ist, die traditionellen Eigenmittel keine Beitragsleistungen darstellen; vgl. Ziffer (6). Deshalb wird im folgenden der Nettobeitrag als die Differenz zwischen den Beitragsleistungen eines Landes in Form der Mehrwertsteuer- und der BSP-Eigenmittel und dem zurechenbaren Rückfluß über die Ausgabenseite definiert. In dem Nettobeitrag eines Landes gleichen sich Begünstigungen und Benachteiligungen, die auf der Beitrags- und der Rückflußseite im Vergleich zu anderen Ländern bestehen, zum Teil aus, zum Teil kumulieren sie sich. So gesehen handelt es sich bei dem Nettobeitrag um eine durchaus aussagefähige Maßzahl der Zahlungsbelastung eines Landes, wobei außer Ansatz bleibt, welche Bürger des Landes diese Last tragen. Überdies darf man sich bei dem Vergleich von Nettobeiträgen nicht den Blick dafür verstellen lassen, daß im Hinblick auf die von den Bürgern zu tragenden Lasten die Höhe der Beiträge ganz entscheidend ist. Eine dauerhafte Senkung der Beiträge ist ohne eine Rückführung der Ausgaben nicht zu erreichen. Ein Korrekturmechanismus dagegen, der ungeachtet der zugrunde liegenden Einnahmen- und Ausgabenstrukturen am 2013
Gutachten vom 18./19. Dezember 1 9 9 8
Nettobeitrag oder an der Nettoposition ansetzt, kann nur eine relative Beitragsentlastung bewirken. (14) In der Tabelle 3 werden die Nettobeiträge und die Nettopositionen ausgewiesen. Im Jahr 1 9 9 7 betrug der deutsche Nettobeitrag 7 , 6 Mrd ECU bzw. 14,6 M r d D M . Das entspricht in etwa der Summe der Nettoleistungen der Gemeinschaft an Spanien und Griechenland. Der nächstgrößte Nettozahler war Schweden mit einem Nettobeitrag von 0,8 Mrd ECU, also wenig mehr als einem Zehntel des deutschen Nettobeitrags. Die meisten Länder, darunter Frankreich und Großbritannien, leisteten keinen Nettobeitrag, sondern konnten Netto-Rückflüsse verzeichnen. Das gilt sogar für Dänemark, dessen Prokopfeinkommen über dem deutschen liegt. Die Tabelle weist auch die Nettobeiträge pro Kopf der Bevölkerung aus, um den Einfluß der unterschiedlichen Größe der Länder auszuschalten. Das bestätigt die generelle Einschätzung, daß Deutschland im Vergleich zu den anderen Ländern netto hoch belastet ist. Sein Nettobeitrag pro Kopf ist mit 93 ECU der höchste in der Gemeinschaft. Schwedens Nettobeitrag pro Kopf liegt bei 87 und der Luxemburgs, dem
Tab. 3: Nettopositionen und Nettobeiträge im Jahr 1 9 9 7 Nettoposition
Luxemburg Belgien Dänemark
-
Nettobeitrag * * Gesamt Pro Kopf M i o ECU ECU
4
Gesamt M i o ECU
Pro Kopf ECU
52
123
30
1.138
111
89
37
-
7
-
325
71 9 -
61
736
91
481
59
Deutschland
11.076
135
7.644
93
Niederlande
2.317
148
589
Frankreich
972
17
-
579
-
Italien
153
3
-
967
-
17
1.883
32
- 1.161
-
20
-
-
Österreich
Großbritannien -
Finnland Schweden
42
-
8
187
38 10
36
1.145
128
782
87
Irland
-2.664
-720
-2.889
-782
Spanien
-5.911
- 150
- 6.543
- 166
Portugal
-2.711
-274
-2.866
-290
Griechenland
-4.360
-412
- 4.524
-428
Hinweise:
*) Gesamte Eigenmittel abzüglich gesamte Rückflüsse. **)
2014
Definition des Beirats: Mehrwertsteuer- und BSP-Eigenmittel abzüglich gesamte Rückflüsse.
Neuordnung des Finanzierungssystems der Europäischen Gemeinschaft
Land mit dem höchsten Prokopfeinkommen, bei 71 ECU. Unter den Nettoempfängern fallen Irland und Griechenland mit Nettorückflüssen in Höhe von 782 bzw. 428 ECU pro Kopf besonders auf. Betrachtet man dagegen statt der Nettobeiträge Nettopositionen, so zeigt sich, daß die Niederlande pro Kopf netto höher belastet sind als Deutschland. Das reflektiert den Umstand, daß das in der Nettoposition berücksichtigte Aufkommen an traditionellen Eigenmitteln, vor allem an Zöllen, in den Niederlanden relativ höher ist als in Deutschland.
2. Reformansätze für die Einnahmenseite des Gemeinschaftshaushalts (15) Nach Art. 201 EGV wird der Haushalt der Union unbeschadet der sonstigen Einnahmen vollständig aus Eigenmitteln finanziert. Diese Mittel sind grundsätzlich als Finanzzuweisungen seitens der Mitgliedstaaten und nicht als Steuern zu verstehen. Lediglich die quantitativ weniger bedeutenden traditionellen Eigenmittel, insbesondere die Zölle, haben steuerähnlichen Charakter. Der Beirat hatte sich schon in seinem 1994 erstatteten Gutachten „Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische Union" (Ziff. 52-58) dafür ausgesprochen, daß es bei dem Grundprinzip der Finanzierung durch Beiträge der Mitgliedstaaten bleiben sollte. Erst bei einem Übergang zu einem europäischen Bundesstaat wäre an eine grundlegende Änderung zu denken. In Abschnitt 2.1 wird diese Auffassung bekräftigt. Allerdings erscheint es angezeigt, für die Beitragsbemessung eine neue Regelung zu finden. Ein entsprechender Vorschlag wird in Abschnitt 2.2 entwickelt und begründet. Er läuft dem Grundsatz nach darauf hinaus, die Beiträge mit der Größe der Mitgliedstaaten degressiv ansteigen zu lassen. In diametralem Gegensatz dazu steht die kürzlich vorgebrachte Forderung Spaniens, den Beitragstarif progressiv zu gestalten. Der Beirat begründet, warum diesem Vorschlag nicht gefolgt werden sollte. 2.1 Keine Steuer- oder Schuldenfinanzierung (16) Die Gemeinschaft verfügt über keine eigene Steuerhoheit. Angesichts der gegebenen institutionellen Organisation der Europäischen Union ist es auch nicht zu empfehlen, sie ihr zu verleihen. Zunächst ist grundsätzlich festzuhalten, daß Steuern als Einnahmeninstrumente in der Regel keinen inhaltlichen Bezug zur Ausgabenseite des Staatshaushalts haben. Leistung und Gegenleistung sind anders als bei Preisen oder Gebühren nicht direkt miteinander verknüpft. Der Steuerertrag hängt von der Größe der einmal geschaffenen Bemessungsgrundlage, ihrem 2015
Gutachten vom 18./19. Dezember 1998
Wachstum und von den Steuersätzen ab. Seine Höhe ist offen und unabhängig vom Finanzbedarf. Letzterer ist bestimmt durch die Nachfrage nach öffentlichen Gütern und das M a ß der beabsichtigten Umverteilung. Steueraufkommen und Finanzbedarf müssen im Budget auf einander abgestimmt werden. Auf der nationalen Ebene sorgt dafür die Regierung, die sich auf eine Mehrheit im Parlament stützt. Eine Regierung, die Wahlen gewinnen will, ist auf Stimmen im ganzen Land angewiesen. Sie wird daher in ihrer Politik die nationalen Ziele betonen. Lokale Ziele, die vorzugsweise von lokal gewählten Abgeordneten in das nationale Parlament eingebracht werden, werden von der Regierung weniger berücksichtigt. Ihre Wahrnehmung wird an die regionalen Entscheidungsträger delegiert. Ganz konsequent wird diese Zuweisung von Zielen indessen nicht gelingen, weil auf der Bundesebene nur ein unvollkommener Stimmenwettbewerb herrscht und lokale Interessen daher über Stimmentausch und gegebenenfalls über den Einfluß der Zweiten Kammer zu nationalem Anliegen gemacht werden. (17) Auf der europäischen Ebene ist eine analoge Teilung zwischen zentralen und dezentralen Aufgaben jedoch nicht zu erwarten. Die institutionelle Organisation ist dort eine ganz andere. Es gibt in der Gemeinschaft keine europaweit gewählte Regierung, die ein Interesse hätte, darauf zu achten, daß in erster Linie gesamteuropäische Ziele verfolgt werden. Die Kommission hat keinerlei Wählerverantwortung, die Mitglieder des Europäischen Rates sind nur ihren heimischen Wählern verantwortlich. Das Parlament repräsentiert, wie es im Vertrag heißt, die „Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten" (Art. 1 3 7 EGV). Es repräsentiert damit die nationalen Ziele der Mitgliedstaaten und nicht notwendigerweise deren gemeinsame Ziele. Unter diesen Bedingungen wäre die Zuweisung einer Steuerbasis als Finanzquelle für die Gemeinschaft mit dem Risiko verbunden, daß die Repräsentanten der Mitgliedstaaten das gemeinschaftliche Steueraufkommen dazu nutzen, ihre spezifischen nationalen Interessen finanzieren zu lassen. Die Zentralisierung der nationalen Sachentscheidungen würde nachfolgen. Es entstünde eine Tendenz zur offenen Transferunion. (18) Ein weiterer Nachteil gemeinschaftseigner Steuern besteht in der Begünstigung europaweiter Steuerkartelle. Sie führen nach aller Erfahrung zu Steuererhöhungen. Eine Besteuerungskompetenz der Gemeinschaft müßte in der Regel an bestehende nationale Bemessungsgrundlagen anknüpfen, weil die ertragreichen Bemessungsgrundlagen von den Mitgliedstaaten schon weitgehend ausgeschöpft sind. Beispielsweise könnte ein gemeinschaftlicher Mehrwertsteuersatz auf die nationalen Bemes2016
Neuordnung des Finanzierungssystems der Europäischen Gemeinschaft
sungsgrundlagen (zusätzlich zu den nationalen Sätzen) erhoben werden. Hierzu müßten aber alle Mitgliedstaaten vereinbaren, die gleichen Güter und Dienstleistungen zu besteuern. Die Notwendigkeit zur Absprache bzw. Harmonisierung wird noch deutlicher, wenn die Gemeinschaft einen festen Anteil am jeweiligen nationalen Ertrag einer Steuer erhalten soll (Verbund- oder Quotensystem). In diesem Fall müssen nicht nur die Bemessungsgrundlagen, sondern auch die Sätze vereinheitlicht werden. Das Steuerkartell wäre perfekt. (19) Ebenso wie gemeinschaftseigene Steuern abzulehnen sind, ist auch eine Schuldenaufnahme der Gemeinschaft zu verwerfen. Schuldenaufnahme ist nichts anderes als aufgeschobene Besteuerung. Insofern ist es nur konsequent, daß Art. 2 0 1 E G V nicht nur Steuern, sondern auch eine Verschuldung der Gemeinschaft ausschließt. Faktisch ist allerdings das Verbot der Kreditaufnahme durchlöchert. Kredite werden außerhalb des Haushalts der Gemeinschaft über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, über EURATOM und vor allem über die Europäische Investitionsbank aufgenommen. Sie sind an spezifische Projekte gebunden. Im Haushalt der Gemeinschaft erscheinen sie allenfalls in dem Maße, als Zinssubventionen gewährt werden. Mit dieser Praxis wird das Prinzip der Budgeteinheit verletzt. Dies ist umso bedenklicher, als beispielsweise in den Gremien der Europäischen Investitionsbank, die über 80 Prozent aller Kredite vergibt, weitgehend politisch entschieden wird. Im Rat der Gouverneure der Bank haben die Minister der Mitgliedstaaten eine gewichtige Stimme. Über sie überträgt sich der Druck der Mittelknappheit vom Europäischen Rat auf die Europäische Investitionsbank. Im Zuge der Osterweiterung dürfte dieser Druck weiter zunehmen und den Weg der Kreditfinanzierung noch verlockender machen. Das Verbot der Kreditaufnahme müßte institutionell stärker abgesichert werden. 2.2 Reform der Beitragsfinanzierung (20) Die mit einer Besteuerungskompetenz verbundene Gefahr einer übermäßigen Haushaltsexpansion ist geringer, wenn es bei der Beitragsfinanzierung der Gemeinschaft bleibt. Anders als Steuern sind Beiträge keine offenen Finanzierungsquellen, sondern sie werden auf ein bestimmtes Ausgabenvolumen bemessen. Insofern besteht schon in der Konstruktion eine Verbindung zur Ausgabenseite. Von besonderer Bedeutung ist, daß weder Kommission noch Rat noch Parlament autonom über die Höhe der Beiträge entscheiden. Sondern es sind letztlich die Mitgliedstaaten, die entsprechend Art. 2 0 1 Abs. 2 EGV im Rat durch einstimmigen Beschluß die Bestimmungen über das System der Eigenmit2017
Gutachten vom 1 8 . / 1 9 . Dezember 1 9 9 8
tel festlegen und sie nach ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften ratifizieren. Wie ihre Bürger haben auch Mitgliedstaaten verteilungspolitische Interessen. Aber das Prinzip der Einstimmigkeit wirkt bremsend. Anders als bei gemeinschaftseigenen Steuern entsteht durch das Beitragssystem auch keine Begünstigung von Steuerkartellierung. Die Gemeinschaft erhebt von den Mitgliedstaaten nur vorbestimmte Beträge. Schuldner sind die Regierungen und nicht die Bürger. Jedem Mitgliedstaat steht es frei, mit welchen nationalen Steuern er die Beitragszahlung finanziert. Beitragsfinanzierung läßt die Souveränität der Mitgliedstaaten insoweit unangetastet und wahrt das Subsidiaritätsprinzip. Es bedarf keiner gemeinschaftlichen Steuervorschriften und keiner europäischen Finanzämter oder Finanzgerichte.
Überlegungen
zur
Beitragsgestaltung
(21) An welchem Grundprinzip sollte das Beitragssystem ausgerichtet sein? Auf der einen Seite steht das Prinzip der Belastung nach der Leistungsfähigkeit, auf der anderen Seite das Prinzip der Belastung entsprechend den Vorteilen, die ein Mitglied aus der Gemeinschaft zieht. Wenn die Kommission in der Agenda 2 0 0 0 vom Ziel eines „gerechten", an der „Beitragskapazität" der Mitgliedsländer ausgerichteten Finanzierungssystem spricht, so scheint sie sich vorrangig am Prinzip der Leistungsfähigkeit zu orientieren. Doch das Prinzip der Leistungsfähigkeit ist mit dem Nachteil verbunden, daß der Ausgabezweck außer Ansatz bleibt, wenn über Einnahmen beschlossen wird. Ohne eine Verknüpfung mit den Ausgabezwecken ist die Höhe der Beitragszahlungen unbestimmt. Uber kurz oder lang wird daher in der politischen Diskussion die Zweckfrage gestellt werden. Deshalb sollte schon in der Konzeption des Beitragssystems auf die Verknüpfung von Beitragserhebung und Beitragsverwendung geachtet werden. (22) Die Zwecke der Beitragserhebung werden durch die in Art. 3 E G V und Art. Β EUV niedergelegten Ziele der Europäischen Union bestimmt. Jeder Mitgliedstaat hat durch seinen Beitritt bekundet, daß er an diesen Zielen ein zentrales Interesse hat und daher auch für die Finanzierung der daraus folgenden Aufgaben aufzukommen bereit ist. Die Ziele lassen sich grob in allokationspolitische und verteilungspolitische Ziele unterscheiden. Die in Verfolg allokationspolitischer Ziele getroffenen M a ß nahmen sind ihrerseits danach zu unterscheiden, ob sie den Charakter gemeinschaftsweiter öffentlicher Güter haben, also allen Mitgliedstaaten zugute kommen, oder ob sie diesen Charakter nicht haben, sondern nur bestimmten Mitgliedsländern Vorteile bringen. 2018
N e u o r d n u n g des Finanzierungssystems der Europäischen G e m e i n s c h a f t
(23) Z u den allokationspolitischen Zielen gehört zuallererst und unabdingbar die Errichtung und Aufrechterhaltung des gemeinsamen Raumes ohne Binnengrenzen mit offenen Wettbewerbsmärkten für Güter, Dienstleistungen, Arbeit und Kapital. Die Errichtung und Aufrechterhaltung des gemeinsamen Binnenmarktes stellt ein öffentliches Gut dar, das jedem Mitglied der Gemeinschaft unabhängig von dem, was es zur Finanzierung der Gemeinschaft beiträgt, zugute k o m m t . Kein Mitgliedstaat k a n n von der N u t z u n g der Vorteile des Binnenmarktes ausgeschlossen werden. Die Errichtung und Aufrechterhaltung des Binnenmarktes ist jedoch nicht die einzige allokationspolitische Zuständigkeit der Gemeinschaft. Ihre Tätigkeit bezieht sich zunehmend auch auf die Forschungs- und Technologiepolitik, die Industriepolitik, die Beschäftigungspolitik, die Verkehrspolitik, die Umweltpolitik, die Kulturpolitik und die Gesundheitspolitik. Die hier verfolgten Ziele dienen nur zum Teil der Bereitstellung echter, auf europäischer Ebene öffentlicher Güter, zum anderen Teil entstehen spezifische Vorteile, die sich oft den Empfängerländern direkt zurechnen lassen. Ähnliches gilt für die im Rahmen der Ausgaben der Gemeinschaft quantitativ besonders ins Gewicht fallenden Bereiche der Agrarpolitik und der Strukturpolitik. Auch wenn man die Errichtung und Aufrechterhaltung des Gemeinsamen Agrarmarktes selbst für ein öffentliches Gut ansehen mag, hat die Ausgestaltung des Systems im einzelnen, etwa die Festsetzung einzelner Stützpreise oder anderer Lenkungsinstrumente klar zurechenbare - und von den Nutznießern durchaus intendierte - Wirkungen auf die Struktur der Rückflüsse in die Mitgliedstaaten und die Begünstigung spezifischer Interessengruppen. (24) Wenn allokationspolitisch begründete Ausgaben der Gemeinschaft nicht von den Nutznießern entsprechend ihrer Zahlungsbereitschaft finanziert werden, so besteht für diejenigen Mitgliedstaaten, die relativ zu wenig zahlen, der Anreiz, für eine Ausweitung der sie begünstigenden Programme einzutreten. Dieses Interesse führt zu einer zu starken Expansion der Ausgaben der Gemeinschaft und daher zu Fehlallokationen. Diese Gefahr folgt aus der Anwendung des Mehrheitsprinzips bei den Entscheidungen über die Ausgaben, weil dabei Mitglieder, die relativ zuviel zahlen, majorisiert werden können. Die Einheitliche Europäische Akte (1986) und die Verträge von Maastricht (1991) und Amsterdam (1997) haben den Anwendungsbereich des Einstimmigkeitsprinzips Schritt für Schritt eingeschränkt und der - in der Regel qualifizierten - Mehrheitsentscheidung immer mehr R a u m ge2019
Gutachten vom 18./19. Dezember 1998
geben. Zwar gilt das Einstimmigkeitsprinzip noch bei der Festlegung des Finanzierungsrahmens der Gemeinschaft, der das gesamte Ausgabenvolumen begrenzt. Es gilt aber nicht bei der Bestimmung der Struktur der Ausgaben, also der Verteilung der Ausgaben auf Einzelzwecke und damit zugleich auf betroffene Staaten. Hier kann es zu erheblichen Fehlallokationen kommen. Sie werden vermieden, wenn dem „Prinzip regionaler Äquivalenz" Rechnung getragen wird. Das Prinzip besagt, daß bei allokationspolitisch begründeten Maßnahmen, deren Vorteile zurechenbar sind, die Verteilung der Finanzierungslasten der Verteilung der mit den Ausgaben verbundenen Vorteile entsprechend vorzunehmen ist. In dem Maße, wie gegen dieses Prinzip verstoßen wird, kommt es über die Ausgabenseite des Gemeinschaftshaushalts auch bei allokationspolitischen Maßnahmen zu einer Umverteilung zwischen den Mitgliedstaaten. (25) Der Beirat spricht sich dafür aus, daß die Finanzierung von vorwiegend allokationspolitisch motivierten Ausgaben der Gemeinschaft künftig so weit wie möglich nach dem Äquivalenzprinzip vorgenommen wird. Das heißt insbesondere, daß Ausgaben, bei denen eine Nutzenzurechnung möglich ist, von jenen Mitgliedstaaten finanziert werden sollten, bei denen die Nutzen anfallen. Auch bei Programmen, bei denen sowohl Ausgaben mit dem Charakter eines europaweiten öffentlichen Guts als auch Ausgaben mit zurechenbaren Nutzen getätigt werden, sollten für die letzteren die Nutznießer unmittelbar zur Finanzierung herangezogen werden. Das ist zu erreichen über die Instrumente der Selbstbeteiligung bzw. der Kofinanzierung. (26) Die Anwendung des Äquivalenzprinzips bereitet dort Schwierigkeiten, wo Ausgaben der Gemeinschaft den Charakter eines echten öffentlichen Gutes haben oder wo sie ausdrücklich verteilungspolitischen Zwecken, etwa der „Stärkung des sozialen Zusammenhalts", dienen. Auch bei diesen Ausgaben besteht die Gefahr einer Fehlallokation, wenn Ausgabenprogramme beschlossen werden, die den Nutznießern weniger Vorteile bringen, als sie an Kosten verursachen, und diese Kosten überwiegend von der in der Abstimmung unterlegenen Minderheit zu tragen sind. Der Tendenz einer übermäßigen Ausgabenexpansion aufgrund offener wie verdeckter Umverteilungsinteressen ließe sich entgegenwirken, wenn die Finanzierungsbeiträge der Mitgliedstaaten sich nach den Stimmengewichten richteten, über die die Mitgliedstaaten im Rat verfügen; vgl. die Tabelle 4. Die Ausgabenbeschlüsse des Rates und damit die Verteilung der Vorteile werden ja maßgeblich von den Stimmengewichten abhängen. Alternativ könnte man auch daran denken, die Beitragsgestaltung an Indizes zu knüpfen, die für jedes Land die Wahrscheinlichkeit ange2020
Neuordnung des Finanzierungssystems der Europäischen Gemeinschaft Tab. 4 : Stimmengewichte im R a t und Vergleichsgrößen Stimmen Stimmengewicht
Shapley-
Banzhaff- Bevölke-
Gewicht* Gewicht*
rungs-
BSP-
Beitrags-
Anteil
anteil Prozent
anteil Anzahl
Prozent
Prozent
Prozent
Prozent
Prozent
Luxemburg
2
2,3
2,1
2,3
0,1
0,2
Belgien
5
5,7
5,5
5,9
2,7
3,1
3,1
Dänemark
3
3,4
3,5
3,6
1,9 2,6
2,0
26,0
29,1
Österreich Deutschland Niederlande
4
4,6
4,5
4,8
1,4 2,2
10
11,5
11,7
11,2
22,0
0,2
3,0
5
5,7
5,5
5,9
4,2
4,5
5,1
Frankreich
10
11,5
11,7
11,2
15,7
17,2
19,0
Italien
10
11,5
11,7
11,2
15,4
14,2
12,3
Großbritannien
10
11,5
11,7
11,2
15,8
16,1
9,6
Finnland
3
3,4
3,5
3,6
Schweden
4
4,6
4,5
4,8
1,4 2,4
1,4 2,7
3,2
Irland
3
3,4
3,5
3,6
0,8
8
9,2
9,6
9,2
1,0 10,5
0,8
Spanien
6,6
7,7
Portugal
5
5,7
5,5
5,9
2,6
1,2
1,5
Griechenland
5
5,7
5,5
5,9
2,8
1,5
1,7
87
100
100
100
100
100
100
Summe
1,5
Hinweise: Der Banzhaff-Index ist normalisiert. - * ) Quelle: M . Brückner, T. Peters, Power Indices and the Council of the European Union Applications and Extensions, European University Institute, Florenz 1 9 9 6 .
ben, daß dieses Land bei qualifizierten Mehrheitsentscheidungen den Ausschlag gibt (beispielsweise der Shapley-Index oder der Banzhaff-Index). Allerdings ist dieBerechnung solcher Indizes so kompliziert, daß sie den Bürgern kaum zu vermitteln wären. Wie Tabelle 4 zeigt, ergeben diese Indizes jedoch ganz ähnliche Werte wie die Verteilung der Stimmengewichte. Die bisherige Verteilung der Stimmen im Rat ist nicht durch das Prinzip bestimmt, die Stimmenzahl in fester Proportion zur Bevölkerungszahl zu halten, sondern die Anzahl der Stimmen nimmt degressiv (mit Sprüngen) zu. Die bevölkerungsreichen Länder haben relativ weniger Stimmengewicht, als ihren Bevölkerungszahlen entspricht, die bevölkerungsarmen Länder dagegen relativ mehr. Eine Bemessung der Finanzierungsbeiträge nach der Verteilung der Stimmen im Rat würde daher bewirken, daß die bevölkerungsreichen Länder Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien gemessen an ihren Bevölkerungszahlen künftig relativ weniger zur Finanzierung der Gemeinschaft beizutragen hätten als die bevölkerungsärmeren Länder. 2021
Gutachten vom 1 8 . / 1 9 . Dezember 1 9 9 8
(27) Der von der Kommission in der Agenda 2 0 0 0 hervorgehobene Aspekt der Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit ist in den vorstehenden Ausführungen ausgeklammert worden. Im R a h m e n der Theorie der Besteuerung wird das Prinzip der Leistungsfähigkeit auf Personen, konkret, auf die einzelnen Bewohner eines Landes, bezogen. Als M a ß der Leistungsfähigkeit wird das Einkommen verwandt, da die zugrundeliegenden exogenen Bestimmungsgründe der persönlichen Leistungsfähigkeit nicht beobachtbar sind. Bei der Finanzierung der Europäischen Gemeinschaft geht es jedoch nicht um die Besteuerung von Personen, sondern um die Beitragserhebung bei Mitgliedstaaten. Für eine Anwendung des Prinzips der Leistungsfähigkeit auf die Finanzierungsbeiträge der Mitgliedstaaten ergibt sich die Schwierigkeit, daß dieses Prinzip im K o n t e x t einer Beitragsfinanzierung nicht wohl definiert ist. Wie schon erwähnt worden ist, sind Beiträge entsprechend der bezweckten Aufgaben zu bestimmen und nicht unabhängig davon, etwa nach der Kapazität der Länder, Beiträge aufbringen zu können. (28) Kürzlich ist von der spanischen Regierung mit Unterstützung Portugals und Griechenlands die Forderung aufgestellt worden, auf die Bemessungsgrundlage des Bruttosozialprodukts eine progressiven Beitragstarif anzuwenden, der am Prokopfeinkommen der Mitgliedstaaten bzw. an fünf Wohlstandsklassen ausgerichtet werden soll. Der Vorschlag bedeutet, das in allen Mitgliedstaaten praktizierte Prinzip der Einkommensteuerprogression auch auf die Beiträge der Staaten zum Haushalt der Gemeinschaft zu übertragen. Die spanische Regierung stützt sich hierbei auf das „Protokoll über wirtschaftlichen und sozialen Z u s a m m e n h a l t " (Protokoll Nr. 1 5 des EU-Vertrag), das u.a. davon spricht, „zu prüfen, wie für die weniger wohlhabenden Mitgliedstaaten regressive Elemente im derzeitigen System der Eigenmittel korrigiert werden k ö n n e n " . Der spanische Vorschlag greift zur Bemessung der Leistungsfähigkeit der Mitgliedstaaten letztlich auf die Leistungsfähigkeit der einzelnen Bürger zurück. Der Beitrag eines Staates würde sich ergeben als Produkt aus der Bevölkerungszahl mit dem Prokopfeinkommen und einem Beitragssatz, der um so höher festgesetzt wird, je stärker das Prokopfeinkommen des Staates über dem Gemeinschaftsdurchschnitt liegt. (29) Die dem Vorschlag zugrundeliegende Vorstellung von Leistungsfähigkeit setzt voraus, daß man nicht die Staaten, sondern letztlich die einzelnen Bürger als „Mitglieder" und somit als Beitragszahler der Europäischen Gemeinschaft ansieht. Dieser Ansatz trägt nicht. Denn will man bei der Bemessung der Beiträge auf die Leistungsfähigkeit der einzelnen Bürger abstellen, so erhalten die Beiträge den Charakter einer unionswei2022
Neuordnung des Finanzierungssystems der Europäischen Gemeinschaft
ten Besteuerung der Bürger durch die Gemeinschaft, und es gelten die gegen eine Steuerfinanzierung der Gemeinschaft bereits vorgetragenen Bedenken; vgl. Ziffern 1 5 - 1 7 . Zudem würde es der Gleichheitsgrundsatz nahelegen, daß die Bürger verschiedener Länder in den Gremien der Gemeinschaft mit gleichem Gewicht repräsentiert sind. Solange die Europäische Union sich als eine Gemeinschaft von Staaten versteht und zum Zweck einer „angemessenen" Repräsentanz der kleineren Mitgliedstaaten die Stimmengewichte im Rat nicht nach den Bevölkerungszahlen richtet, ist eine Bemessung der Finanzierungslasten nach „Leistungsfähigkeit" im Sinne des spanischen Vorschlags abzulehnen. (30) Schon eine Beitragsbemessung nach dem Volkseinkommen (oder einer anderen Wertschöpfungsgröße) der einzelnen Länder, wie sie den BSP-Eigenmitteln zugrunde liegt, stellt implizit auf die Leistungsfähigkeit der einzelnen Einwohner ab. Eine Beitragsbemessung nach dem Volkseinkommen, d. h. dem Produkt aus Bevölkerungsgröße und Prokopfeinkommen, entspricht auf der Ebene des einzelnen Einwohners einer Besteuerung proportional zu seinem Einkommen. Es ist einsichtig, daß ein solcher Proportionaltarif - in Verbindung mit einer verteilungspolitisch motivierten Ausgabenpolitik - schon erhebliche Umverteilungswirkungen hat und daß die etwa darüber hinaus gehenden, vermuteten Umverteilungswirkungen eines Progressionstarifs vielfach durch negative Anreizeffekte neutralisiert werden. Für die Verteilungswirkung maßgeblich ist die Nettobelastung, die sich aus entrichteten Steuern und empfangenen Leistungen ergibt. Sie ist eine steigende Funktion des Einkommens, es sei denn die Bezieher höherer Einkommen würden bei den Ausgaben überproportional begünstigt. Das gilt auch dann, wenn der Grenzbelastungssatz vom Einkommen unabhängig ist. Anders lautende Vorstellungen über die Wirkungen eines Proportionaltarifs beruhen auf einer Verwechslung von durchschnittlichen und marginalen Belastungssätzen. (31) O b man das Bruttosozialprodukt oder vermittels der Mehrwertsteuer den Konsum als Bemessungsgrundlage für die Beitragsbelastung heranziehen sollte, ist weniger eine Frage der Verteilungspolitik als vielmehr eine Frage der steuerlichen Behandlung des Außenhandels. Hinsichtlich des Außenhandels geht die Europäische Union im Rahmen der Mehrwertsteuer grundsätzlich vom Bestimmungslandprinzip aus. Innergemeinschaftlich gehandelte Güter werden von dieser Steuer ausschließlich am Ort ihres Konsums belastet. Das Steueraufkommen fließt dem Fiskus des Importstaates zu und erhöht in diesem Sinne dessen „Leistungsfähigkeit". Vor allem beim Fremdenverkehr ergibt sich insofern eine Abweichung, als der Ort des Konsums und damit der Besteuerung im diese Dienstleistung produzierenden Exportstaat liegt. Dadurch 2023
Gutachten vom 1 8 . / 1 9 . Dezember 1 9 9 8
fließt der Steuerertrag nicht dem Heimatfiskus des Konsumenten, sondern dem Fiskus des Exportlandes zu. Sein Steueraufkommen und damit seine Leistungsfähigkeit werden erhöht. Deshalb wäre es richtig, bei der Beitragsbemessung die Ausgaben der Touristen dem Erhebungsland ausnahmslos zuzurechnen. Dem entspräche es, die gesamte Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage zu wählen, sie also nicht zu kappen. Die seinerzeitige spanische Argumentation zur Anomalität des durch den Tourismus aufgeblähten Mehrwertsteueraufkommens war ja gewiß nicht so zu verstehen, daß etwa der spanische Fiskus durch diese Aufblähung in Schwierigkeiten gebracht wird. Der Beirat hat in der Vergangenheit mehrfach betont, daß die Besteuerung aus allokativen wie aus distributiven Gründen auf den Konsum abstellen sollte und daß Ersparnis und Investitionen nicht belastet werden sollten. Im vorliegenden Kontext geht es jedoch nicht um die Gestaltung des Steuersystems, sondern nur um die Beitragserhebung bei Mitgliedstaaten, die sich ihrerseits durch Steuern finanzieren. Deshalb hält der Beirat es für vertretbar, wenn es dabei bleibt, daß das Bruttosozialprodukt als Bemessungsgrundlage für die Beiträge herangezogen wird. Ein
Vorschlag
(32) Aus der Sicht der hier skizzierten Überlegungen führt eine Beitragsfestsetzung für die Mitgliedstaaten schon bei einem Proportionaltarif auf das Bruttosozialprodukt zu einer relativ zu hohen Belastung der bevölkerungsreichen Mitgliedstaaten. Für den einzelnen Mitgliedstaat bedeutet die Verwendung einer aggregierten Einkommensgröße als Bemessungsgrundlage, daß er in Abhängigkeit von der Höhe des Prokopfeinkommens und der Bevölkerungszahl zur Finanzierung der Gemeinschaft herangezogen wird. Wie Tabelle 4 ausweist, liegt der Beitragsanteil der bevölkerungsreichen Länder dabei deutlich über ihrem Stimmenanteil im Rat, der der bevölkerungsarmen Länder deutlich unter ihrem Stimmenanteil. Die bevölkerungsreicheren Länder haben daher einen relativ zu geringen Einfluß auf die Gestaltung der Ausgabenprogramme der Gemeinschaft. Das wirkt tendenziell ausgabenfördernd. Deshalb hält der Beirat die Bestrebungen, das Finanzierungssystem durch einen Ausbau der BSP-Eigenmittel so zu verändern, daß die Beiträge praktisch als Proportionaltarif auf das Bruttosozialprodukt erhoben werden, für problematisch. Der Beitragstarif sollte auch die relative Entscheidungsmacht im Rat berücksichtigen. Dafür spricht, daß die vom Beirat befürwortete Zurechnung der Nutzen allokationspolitischer Ausgaben in vielen Fällen schwierig ist und sich die Gemeinschaft daher der 2024
Neuordnung des Finanzierungssystems der Europäischen Gemeinschaft
Tendenz nach auf zu geringe Selbstbeteiligungssätze verständigen dürfte. Dafür spricht vor allem, daß eine Verknüpfung der Beitragspflicht mit dem Stimmengewicht sich bremsend auf die Wünsche einiger Mitgliedstaaten nach verstärkter Umverteilung auswirken wird. Im übrigen käme man bei der Verwendung von Indikatoren für den Nutzen, den einzelne Staaten aus den Tätigkeiten der Gemeinschaft ziehen, zu einer sehr ähnlichen Rangfolge der Beitragshöhen wie bei der Reihung nach Stimmgewichten. Das gälte etwa, wenn man den Anteil einzelner Länder am grenzüberschreitenden Handel innerhalb der Gemeinschaft zugrundelegen würde. D o c h können solche Indikatoren immer nur einzelne Aspekte der Vorteilhaftigkeit der Europäischen Union für die Mitgliedstaaten widerspiegeln und bleiben daher hier außer Betracht. (33) D e m Grundsatz nach sollte der Beitragstarif degressiv ansteigend gestaltet sein, weil die Stimmenanteile der Staaten relativ zu ihren Bevölkerungsanteilen degressiv zunehmen. Der Beirat schlägt daher einen kombinierten Tarif vor, der neben dem Bruttosozialprodukt als ergänzende Bemessungsgrundlage die Stimmenverteilung im R a t berücksichtigt. Beispielsweise könnten die gesamten Beitragsleistungen zu 2 0 Prozent durch die Stimmenverteilung bestimmt werden und zu 8 0 Prozent durch die Anteile am Bruttosozialprodukt der Gemeinschaft. U m zu verdeutlichen, welche Folgen das für die einzelnen Mitgliedstaaten hätte, legt der Beirat in der Tabelle 5 eine Beispielrechnung vor, und zwar anhand der Daten des Jahres 1 9 9 7 . In der Spalte 1 der Tabelle wird ausgewiesen, welche Beiträge bei einer K o m b i n a t i o n der Bemessungsgrundlagen Anteile am Bruttosozialprodukt und Stimmenanteile im Verhältnis 8 0 : 2 0 zu zahlen gewesen wären. Spalte 2 zeigt die Anteile der Mitgliedstaaten an den gesamten Beiträgen unter dieser Regel und Spalte 3 informiert über die H ö h e der absoluten Entlastung (+) bzw. Belastung (-) im Vergleich zur derzeit geltenden Beitragsregelung. Die Spalten 4 bis 6 zeigen die entsprechenden Ergebnisse, wenn anstelle der Stimmengewichte die Bevölkerungsanteile als ergänzende Bemessungsgrundlage gewählt werden. Es zeigt sich, daß Deutschland und Frankreich am stärksten von einer Berücksichtigung der Stimmengewichte profitiert hätten. Deutschlands Beitraganteil wäre mit 2 3 , 1 Prozent um 6 Prozentpunkte niedriger ausgefallen als unter der derzeitigen Regelung, Frankreichs Anteil um rd. 3 Prozentpunkte. Für Deutschland hätte das eine Entlastung um rd. 3 , 7 M r d E C U , für Frankreich um 1 , 6 M r d E C U zur Folge gehabt. Auch Spanien und die Niederlande wären deutlich weniger belastet worden. Hauptverlierer wäre Großbritannien mit einem Anstieg der Belastung um fast 3 , 4 M r d E C U , und damit um mehr als seinem derzeitigen R a b a t t entspricht, ge2025
Gutachten vom 18./19. Dezember 1 9 9 8 Tab. 5: Beiträge bei Berücksichtigung der Stimmenanteile Kombinierte
Nachrichtlich:
Bemessungsgrundlage 2 0 Prozent nach
2 0 Prozent nach
Stimmenanteil,
Bevölkerungsanteil,
8 0 Prozent nach
8 0 Prozent nach
Bruttosozialproduktsanteil Beitrag M i o ECU
Anteil Prozent
Entlastung (+) Mio ECU
(1)
(2)
(3)
Bruttosozialproduktsanteil Beitrag M i o ECU
Anteil Prozent
Entlastung (+) Mio ECU (6)
(4)
(5)
Luxemburg Belgien
384 2.204
0,6 3,6
-235 - 281
116 1.834
0,2
32
Dänemark Österreich
1.370
2,2
-
3,0 1,8
88 97
Deutschland Niederlande Frankreich Italien Großbritannien Finnland Schweden Irland Spanien Portugal Griechenland Summe
1.818
3,0
38
1.120 1.520
2,5
336
14.120 2.906
23,1 4,8
3.665 203
15.396 2.713
25,2 4,4
2.389 396
9.824
16,1
1.811
10.334
16,9
1.301
8.335 9.254
13,6 15,1
788
8.809
14,4
1.262 3.891
1,8 3,1 1,3
9.775 872
16,0
1.126 1.893 804
3.369 - 208 70 - 342
1,4 2,7 0,8
45 340 - 40
4.343
7,1 2,1
393 382
7,4
232
-
2,3
-
421
1.077
0
61.121
1.305 1.435 61.121
100
-
152
1.623 502 4.504 925
1,5 1,8 100
-
3 62 0
wesen. Die Struktur der Ent- und Belastungen ändert sich natürlich mit dem Verhältnis, zu dem die Bemessungsgrundlagen kombiniert werden. W ü r d e beispielsweise eine Kombination 1 0 : 9 0 gewählt, so würden Deutschland und Frankreich weniger stark entlastet (um 2 , 8 bzw. knapp 1,5 M r d E C U ) , andererseits würde Großbritannien mit 3 , 6 M r d E C U stärker zusätzlich belastet. Würden die Bevölkerungsanteile anstelle der Stimmengewichte als ergänzende Bemessungsgrundlage gewählt, was der Beirat nicht vorschlägt, so käme es für die meisten Staaten zu erheblich geringeren Veränderungen der Beiträge. Deutschland wie Frankreich würden wesentlich weniger entlastet. Großbritannien andererseits würde dann noch stärker belastet als bei Rückgriff auf die Stimmengewichte. (34) Jede nennenswerte Entlastung Deutschlands geht unvermeidlich zulasten anderer Mitgliedstaaten, namentlich Großbritanniens und mit großem Abstand auch Italiens. Das bedeutet aber nicht, daß die Ein2026
Neuordnung des Finanzierungssystems der Europäischen Gemeinschaft
führung eines degressiv ansteigenden Beitragstarifs als von vornherein undurchführbar angesehen werden muß. Denn die Beitragslast aller Länder ist nur deswegen so hoch, weil gut 8 0 Prozent des Haushalts der Gemeinschaft in M a ß n a h m e n fließen, die eine erhebliche Umverteilung der Finanzierungsmittel zwischen den Staaten zur Folge haben. Hier gilt es, durch zweckentsprechende Regeln die Durchsetzung von Umverteilungsinteressen wirksamer zu begrenzen.
3 . Reform der Ausgabenprogramme ( 3 5 ) Die Beitragsdynamik wird durch die Dynamik der Ausgabenentwicklung bestimmt. Im Zeitraum 1 9 9 2 bis 1 9 9 7 sind die Ausgaben der Gemeinschaft (ohne die jüngsten Beitrittsländer Finnland, Österreich und Schweden) um 5 , 5 Prozent pro J a h r gewachsen und damit stärker als das gemeinschaftliche Bruttosozialprodukt zu Marktpreisen (4 Prozent). Die vom Beirat befürwortete neue Beitragsregel dürfte dazu beitragen, das Interesse von Mitgliedsregierungen an einer weiteren Expansion von Ausgabenprogrammen zu bremsen. Aber auch das heutige Ausgabenvolumen ist schon zu hoch und vielfach ineffizient strukturiert. Es ist das Ergebnis einer Vielzahl von Einzelentscheidungen der Vergangenheit, die nur zu oft aus dem Blickwinkel getroffen wurden, politische Krisen zu vermeiden und den Fortgang des Integrationsprozesses nicht zu gefährden.
3 . 1 Ausgabenbegrenzung durch stärkere Kostenbeteiligung der begünstigten Staaten ( 3 6 ) Die gesamte Beitragslast ließe sich drastisch verringern, würde es zum Grundsatz der Budgetpolitik gemacht, im wesentlichen nur solche M a ß n a h m e n zu finanzieren, die den Charakter des öffentlichen Gutes haben, also allen Mitgliedstaaten zugute kommen. Dann könnten alle Mitglieder mit substantiellen Beitragsreduktionen rechnen und der Finanzierungsrahmen der Gemeinschaft könnte abgesenkt werden. Wie schon in Abschnitt 2 im einzelnen dargelegt worden ist, vertritt der Beirat die Auffassung, daß die Finanzierung von vorwiegend allokationspolitisch motivierten Ausgaben der europäischen Gemeinschaft so weit wie möglich nach dem Äquivalenzprinzip vorgenommen werden sollte. Das bedeutet konkret, daß Ausgaben, bei denen eine Nutzenzurechnung möglich ist, von jenen Mitgliedstaaten finanziert werden sollten, bei denen die Nutzen anfallen. Entsprechendes gilt für Programme, bei denen sowohl Ausgaben mit dem Charakter eines europaweiten öffentlichen 2027
Gutachten vom 18./19. Dezember 1998
Guts als auch Ausgaben mit zurechenbaren Nutzen getätigt werden. Letztere sollten den jeweiligen Nutznießern direkt angelastet werden. (37) Dem Prinzip regionaler Äquivalenz Anerkennung zu verschaffen, hat deshalb besonderen Rang, weil unter dem Deckmantel drängender allokationspolitischer Aufgaben inzwischen eine fast ungehemmte Expansion der Umverteilung zwischen den Mitgliedstaaten und letztlich deren Bürgern betrieben wird. Schon im nationalen Rahmen ist darauf zu achten, daß die interpersonelle Umverteilung nicht das mit politischer Akzeptanz verträgliche M a ß überschreitet. Im übernationalen Rahmen der Europäischen Gemeinschaft ist dies um so mehr zu beachten, weil es den Bürgern ungleich schwerer zu vermitteln ist, Ressourcen an Bürger anderer Staaten abzutreten, die ihnen weniger nahe sind als die eigenen Landsleute. Wenn die Umverteilung zwischen den Mitgliedstaaten weiterhin so vorangetrieben wird, wie das von den Regierungen einiger nutznießender Mitgliedstaaten für gerechtfertigt angesehen wird, so besteht die Gefahr, daß die politische Akzeptanz der europäischen Integration in jenen Staaten, die sehr hohe Beitragsleistungen erbringen, erodieren wird. Tatsächlich hat die im heutigen System angelegte Umverteilung ein vertretbares M a ß überschritten. Die innere Widersprüchlichkeit des Systems zeigt sich beispielsweise daran, daß Deutschland und Schweden die höchsten Nettobeiträge pro Kopf der Bevölkerung leisten, obwohl sie nicht an der Spitze der Rangfolge der Prokopfeinkommen rangieren, und andererseits beispielsweise Dänemark, das mit an der Spitze liegt, sogar ein Nettozahlungsempfänger der Gemeinschaft ist; vgl. Tabelle 3. So bewirkt die gemeinsame Agrarpolitik im Falle Dänemarks eine perverse Umverteilung von unten nach oben. Das steht in klarem Widerspruch zu dem in Art. Β EUV aufgeführten Ziel der Stärkung des sozialen Zusammenhalts der Gemeinschaft. (38) Die Umsetzung des Äquivalenzprinzips erfordert es zu klären, bei welchen Haushaltspositionen das Prinzip anzuwenden ist und in welchem Ausmaß das geschehen sollte. Dazu bedarf es einer Bestandsaufnahme. Darüber hinaus sollte die Gemeinschaft für die Zukunft den Grundsatz beschließen, daß bei jedem Vorschlag für eine neue Maßnahme der Gemeinschaft dargelegt werden muß, zu welchem Anteil die mit der Maßnahme verbundenen Ausgaben bestimmten Mitgliedstaaten Nutzen verschaffen. (39) Die Beteiligung begünstigter Mitgliedstaaten an den Kosten spezifischer Maßnahmen der Gemeinschaft erfordert die Festsetzung entsprechender Selbstbeteiligungssätze. 2028
Neuordnung des Finanzierungssystems der Europäischen Gemeinschaft
Im Rahmen der strukturpolitischen Förderung ist es bisher schon üblich, daß die begünstigten Staaten sich an den Projektkosten beteiligen müssen. Allerdings liegen die Sätze bemerkenswert niedrig. Das hat zur Folge, daß es sich für Mitgliedsländer lohnt, auch solche Projekte durch die Gemeinschaft fördern zu lassen, deren regionaler Nutzen weit unter den Gesamtkosten des Projekts liegt. Deshalb sollten die Beteiligungssätze deutlich angehoben werden. Der Beirat hält einen Regelsatz der Selbstbeteiligung von 50 Prozent für nicht zu hoch. Es gilt den Anreiz bei den Mitgliedstaaten zu stärken, nur solche Projekte vorzuschlagen und in Angriff zu nehmen, deren längerfristiger Nutzwert außer Frage steht und beträchtlich ist. Im Rahmen der agrarpolitiscben Maßnahmen kommt die Kostenbeteiligung in Form der „Kofinanzierung" in Betracht. Die Gestaltung der Maßnahmen verbleibt dabei in der Regelungskompetenz der Gemeinschaft, aber die betroffenen Mitgliedstaaten beteiligen sich an ihrer Finanzierung im Ausmaß der direkten Begünstigung ihres landwirtschaftlichen Sektors. Es ist unmittelbar einsichtig, daß sogar Kofinanzierungssätze von 100 Prozent nicht auszuschließen sind - dann nämlich, wenn die mit einer Maßnahme verbundenen Ausgaben ausschließlich einzelnen Mitgliedstaaten zugute kommen. Ein Beispiel bilden die direkten Einkommenshilfen der Gemeinschaft. Die 1997 an deutsche Landwirte geleisteten Einkommenshilfen betrugen gut 4 Mrd ECU oder rd. 70 Prozent der Rückflüsse nach Deutschland im Rahmen der gemeinschaftlichen Agrarpolitik. Diese Mittel den Umweg über Brüssel nehmen zu lassen, ist ineffizient. (40) Die Instrumente der Selbstbeteiligung und der Kofinanzierung ermöglichen es, dem Prinzip der regionalen Äquivalenz näher zu kommen und Fehlanreize zur Ausgabenexpansion in den Entscheidungsmechanismen der europäischen Gremien zu reduzieren. Der Beirat ist sich dessen bewußt, daß die Einführung einer direkten Beteiligung der Begünstigten mit hohen Sätzen, von etwa 50 Prozent auf dem Gebiet der Strukturpolitik und von 75 bis 100 Prozent in der Agrarpolitik, die Mitgliedstaaten dazu veranlassen könnte, den Ausbau gemeinschaftlicher Förderungsprogramme zu bremsen. Das wäre nur zu begrüßen, weil viele Programme schon heute ineffizient, nämlich zu groß und zu wenig zielgerichtet sind. Es ist nicht auszuschließen, daß hohe Beteiligungssätze auch den Anreiz schaffen, einzelne Maßnahmen wieder in die nationale Kompetenz zu überführen. Dafür kämen insbesondere solche Maßnahmen infrage, bei denen die beschriebenen Fehlanreize der gemeinschaftlichen Entscheidungsmechanismen bereits klar hervor getreten sind, d.h. wo ausgaben2029
Gutachten vom 18./19. Dezember 1998
wirksame Programme durch - qualifizierten - Mehrheitsbeschluss eingeführt wurden, weil die Nutznießer damit rechneten, daß sie nur einen relativ geringen Teil der Kosten zu tragen hätten. Im Hinblick auf die hohe Belastung Deutschlands wäre eine solche Rückverlagerung positiv zu werten, weil von jeder Deutschen Mark, die nach Brüssel überwiesen wird, weniger als 50 Pfennige nach Deutschland zurückfließen. (41) Allerdings ist es wenig wahrscheinlich, daß die Mitgliedstaaten sich auf einen einschneidenden Abbau von Kompetenzen der Gemeinschaft verständigen werden. Eine Renationalisierung von Förderungsmaßnahmen wird daher, wenn überhaupt, allenfalls partielle Bedeutung erlangen. Trotzdem mag man besorgt sein, daß eine partielle Erweiterung nationaler Regelungskompetenz zu einer Ausweitung der Begünstigung durch Beihilfen führen könnte und folglich zu Wettbewerbsverzerrungen im gemeinsamen Markt. Dagegen zu halten ist, daß der Ausweis von Beihilfen in den nationalen Haushalten eine höhere öffentliche Transparenz über Begünstigungen schafft, als wenn Beihilfen auf der Gemeinschaftsebene ausgehandelt werden. Solche Transparenz ist entscheidend, damit ein wirksamer politischer Widerstand entstehen kann. Von einer partiellen Renationalisierung, beispielsweise auf dem Feld der Agrarpolitik, kann daher eine effektivere politische Kontrolle erwartet werden. Im übrigen hat die Gemeinschaft es in der Hand, Fehlentwicklungen zu steuern, indem sie den Anwendungsbereich der Beihilfenkontrolle durch die Kommission (Art. 92 ff. EG-Vertrag) zweckentsprechend ausdehnt. (42) Eine partielle Renationalisierung von Ausgaben mag bei oberflächlicher Betrachtung als „integrationspolitischer Rückschritt" erscheinen. Das Ausmaß der politischen Integration der Gemeinschaft ist aber nicht nach der Breite der Kompetenzen der Brüsseler Institutionen oder an der Höhe des Haushaltsvolumens zu messen, sondern nach der Akzeptanz bei den Bürgern der Mitgliedstaaten, die letztlich die Mittel aufbringen müssen. Diese Akzeptanz wird unterminiert, wenn die Bürger den Eindruck erhalten, die Europäische Gemeinschaft sei ein Umverteilungskartell, in dem es unter dem Vorwand der Wahrnehmung allokationspolitischer Aufgaben vor allem darum geht, Mittel von den Steuerzahlern eines Landes zu Interessengruppen anderer Länder umzuleiten. Die vom Beirat befürwortete hohe direkte Beteiligung begünstigter Mitgliedstaaten an den Kosten sowie eine eventuelle Renationalisierung einzelner Maßnahmen würden diesem Verdacht entgegenwirken und insofern die politische Akzeptanz der Gemeinschaft sogar stärken.
2030
Neuordnung des Finanzierungssystems der Europäischen Gemeinschaft
3.2 Reformen der Agrar-, Struktur- und Regionalpolitik
Agrarpolitik (43) Den dem Aufwand nach wichtigsten Programmbereich bildet die Agrarpolitik der Gemeinschaft. Sie verschlingt mit Ausgaben in Höhe von gut 4 0 Mrd. ECU die Hälfte des Haushalts der Gemeinschaft. Nach dem tradierten Grundkonzept der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik werden die Agrarpreise in der Union durch sog. Marktordnungen hochgehalten, indem das Angebot künstlich verknappt wird und zu Absicherung der Preisstützung Importe beschränkt und Exporte subventioniert werden. Überdies werden an die Landwirte direkte Einkommensbeihilfen mit Auflagen gezahlt. Insgesamt sind die Produktionsstrukturen aufgrund vielfältiger Eingriffe völlig verzerrt. Dieses extrem teure System wird sich bei einer Osterweiterung der Gemeinschaft nicht halten lassen. Die Beitrittskandidaten bringen ein beachtliches Produktionspotential bei verschiedenen Marktordnungsgütern ein, namentlich bei Rindfleisch, Milch und Zuckerrüben. Deren Erzeugerpreise liegen gegenwärtig deutlich unter den Stützpreisen der Gemeinschaft. Es wäre falsch, diese Länder im Zusammenhang eines Beitritts zu einer Hochpreispolitik zu veranlassen: Aufgrund einer so stimulierten Produktion würden die Überschüsse in der erweiterten Gemeinschaft nur noch wachsen, die entsprechenden Belastungen des Gemeinschaftshaushaltes zunehmen. Die Beitrittsstaaten müßten dann zudem ihre Außenprotektion erhöhen, was gegen die Regeln der World Trade Organization (WTO) verstieße und zu internationalen Handelskonflikten führen würde. Im Ergebnis würde die gegenwärtige Gemeinschaft ihre in der Uruguay-Runde eingegangene Verpflichtung, bis zum Jahre 2 0 0 1 die interne Agrarstützung und die Exportsubventionen einzuschränken, die Zölle weiter abzubauen und den Marktzugang für Dritte zu erweitern, nicht wirklich erfüllen können. (44) Deshalb muß die mit der MacSharry-Reform des Jahres 1 9 9 2 auf den Weg gebrachte Liberalisierung der Agrarpolitik entschlossener als bisher fortgesetzt werden. Das Ziel muß sein, die Integration des gemeinschaftlichen Agrarmarktes in den Weltagrarmarkt beschleunigt voranzutreiben. Bei allen Marktordnungsgütern sollten die bisherigen staatlichen Garantiepreise zwar schrittweise, aber innerhalb weniger Jahre an das jeweilige Weltmarktpreisniveau herangeführt werden. Der damit verbundene massive Strukturwandel mag mit zusätzlichen direkten Einkommensbeihilfen abgefedert werden. Dies läßt sich unter dem Aspekt eines gewissen Vertrauensschutzes rechtfertigen. Damit es nicht erneut zu Fehlanreizen kommt, sollten solche Beihilfen aber vorzugsweise perso2031
Gutachten vom 18./19. Dezember 1998
nen- bzw. betriebsbezogen, statt flächen- oder produktionsgebunden sein. Sie sollten vollständig kofinanziert werden und in jedem Falle zeitlich befristet sein. Zahlreiche Marktordnungen ließen sich auch durch partielle Renationalisierung entschlacken. Zu denken ist an Zahlungen für den Vorruhestand und für andere sozialpolitische Anliegen, für die Aufforstung und für den Umweltschutz. Die soziale Abfederung des mit einer Liberalisierung der verbundenen Strukturwandels wird nicht billig sein. Durch zögern kann sie aber nur noch teurer werden; dies gilt vor wenn zum Zeitpunkt der Reform durch die Osterweiterung Ansprüche entstanden sein sollten.
Struktur- und
Agrarpolitik ein Hinausallem dann, bereits neue
Regionalpolitik
(45) Die Strukturpolitik bildet mit rund einem Drittel den zweitgrößten Ausgabenbereich des Gemeinschaftshaushaltes. Die gemeinschaftliche Förderung erfolgt über unterschiedliche Fonds, die teils regionalpolitische, teils arbeitsmarktpolitische Ziele zum Gegenstand haben. Diese Fonds sind in der Substanz weniger wachstumspolitisch als verteilungspolitisch orientiert. Die Zuteilung der Mittel vollzieht sich in einem wenig transparenten Verfahren, in welchem nationales Besitzstandsdenken und die Stärke politischer Verhandlungspositionen dominieren. So kommt es, daß sämtliche Mitgliedstaaten solche Transferleistungen erhalten und etwa die Hälfte der Bevölkerung der Gemeinschaft in Förderregionen lebt. M i t der vorgesehenen Osterweiterung werden spezifische Strukturhilfen notwendig werden. Das darf aber kein Anlaß werden, den Finanzrahmen der Strukturpolitik zu erhöhen. Vielmehr gilt es, die Prioritäten neu zu bestimmen. Die Vorschläge der Kommission in der Agenda 2 0 0 0 reichen dafür nicht aus. Der Leitgedanke, die Anzahl der Zielkriterien und damit der Fonds zu verringern und die Förderungsverfahren nachhaltig zu vereinfachen, ist richtig. Aber die Gefahr ist, daß das mehr auf bloß kosmetische Änderungen hinauslaufen wird. Die vorgeschlagene Neuformulierung der Förderziele für sich genommen kann nicht verhindern, daß praktisch alle überkommenen Förderzwecke erhalten bleiben. Auch soll nach den Vorstellungen der Kommission der Kohäsionsfonds, der derzeit knapp 10 Prozent der Strukturförderung absorbiert, in derselben relativen Größenordnung fortgeführt werden. Die gesamten Strukturfondsmittel sollen sogar, gemessen am Bruttosozialprodukt der Gemeinschaft, von gegenwärtig 0 , 4 1 auf 0 , 4 6 Prozent angehoben werden.
2032
Neuordnung des Finanzierungssystems der Europäischen Gemeinschaft
(46) Geboten sind durchgreifende Reformschritte, die das Volumen der Strukturfonds kräftig zurückführen. Der Beirat ist dezidiert der Auffassung, daß der Kohäsionsfonds ab sofort eingestellt werden sollte. Seine Aufgabe, wirtschaftlich schwächeren Mitgliedstaaten das Erfüllen der Konvergenzkriterien zur Europäischen Währungsunion zu erleichtern, hat der Fond erfüllt, wenn man von Griechenland absieht. Von entscheidender Bedeutung ist es, den Schwerpunkt der struktur- und regionalpolitischen Förderung künftig auf länderübergreifende Projekte zu legen, weil sie am ehesten dem Charakter öffentlicher Güter entsprechen. Alle übrige Strukturförderung begünstigt ausgewählte Regionen in einzelnen Mitgliedstaaten. Solche M a ß n a h m e n wären im Grunde diesen Mitgliedstaaten selbst zu überlassen. D e m steht Art. 1 3 0 a EG-Vertrag im Wege, wonach die Gemeinschaft sich zum Ziel setzt, die Unterschiede im Entwicklungsstand der verschiedenen Regionen und den Rückstand der am stärksten benachteiligten Gebiete zu verringern. Aber es darf dabei nicht zu falschen Anreizen k o m m e n . Deshalb ist der vom Beirat befürwortete Grundsatz, eine Selbstbeteiligung der geförderten Länder in H ö h e von mindestens 5 0 Prozent der Kosten zu verlangen, so wichtig. Anders wird nicht zu erreichen sein, daß nur noch solche Projekte beantragt werden, von denen sich die antragstellenden Regionen bzw. Staaten einen hohen ökonomischen Wirkungsgrad versprechen. ( 4 7 ) Die Gemeinschaft sollte auch prüfen, ob es nicht geraten ist, die Förderschwellen generell anzuheben. D e m Subsidiaritätsprinzip folgend könnte man die Förderungsfähigkeit von Regionen an eine doppelte Voraussetzung knüpfen. Eine erste Voraussetzung wäre, daß das Bruttosozialprodukt je Einwohner eines Landes, aus dem ein Antrag gestellt wird, um einen bestimmten Prozentsatz unterhalb des Durchschnitts der Gemeinschaft liegt. Die zweite Voraussetzung wäre dann, daß das Durchschnittseinkommen in der zu fördernden Region um einen weiteren Prozentsatz das nationale unterschreitet. Auf diese Weise könnten die sehr großen diskretionären Spielräume bei der Mittelvergabe nachhaltig begrenzt werden. Weitere Differenzierungen kommen in Betracht, beispielsweise die H ö h e der Arbeitslosenquote in der betreffenden R e gion. Zudem sollte eine in Prozent des regionalen Bruttoinlandsproduktes bestimmte Obergrenze für das Fördervolumen festgelegt und die Dauer der Förderung zeitlich befristet werden. Der Vorschlag, die Förderungsfähigkeit an eine doppelte Einkommensschranke zu knüpfen, zielt darauf ab, die Struktur- und Regionalförderung der Gemeinschaft auf die einkommensschwächeren Mitgliedstaaten zu beschränken und damit eine drastische Senkung des Volumens der Gemeinschaftsausgaben zu erreichen. Es läßt sich vertreten, von den ein2033
Gutachten vom 18./19. Dezember 1998
kommensstärkeren Ländern zu erwarten, daß sie ihre Strukturprobleme aus eigener Kraft lösen. Der Beirat ist sich bewußt, daß bei einer solchen Regelung die neuen Bundesländer nicht länger zu den Fördergebieten der Gemeinschaft gehören würden. Für Deutschland käme es insoweit zu einer zusätzlichen Belastung, die der Beitragsreduktion gegenzurechnen wäre, die durch eine Senkung des gesamten Volumens der strukturpolitischen Ausgaben der Gemeinschaft ermöglicht würde. O b der Saldo für Deutschland positiv oder negativ wäre, läßt sich nicht generell sagen. Das sollte auch nicht allein entscheidend sein. (48) Zu bedenken ist, daß es für Deutschland längerfristig gesehen weit teurer werden wird, wenn man darauf verzichtet, eine stärkere Rückverlagerung der Regionalförderung auf die nationale Ebene einzuleiten. Denn die Zentralisierung dieses Politikbereiches in Brüssel führt zu einer intransparenten Anwendung des Gießkannenprinzips mit dem Ergebnis steigender Ausgaben. Eine besondere Gefahr ist, daß das in dem bereits erwähnten Art. 130 a EG-Vertrag genannte Ziel, die Unterschiede im Entwicklungsstand der Regionen zu verringern, von interessierten Mitgliedstaaten extensiv interpretiert werden wird. Man muß aufpassen, daß die irreführende These vom Staatsziel „einheitlicher Lebensverhältnisse", die in das deutsche Grundgesetz hineininterpretiert worden ist, nicht auch noch auf der europäischen Ebene etabliert wird. Dem könnte durch die frühzeitige Einführung einer partiellen Renationalisierung der Regionalpolitik erfolgreich begegnet werden. Dabei ist klar, daß die Beihilfenkontrolle der Kommission auch in diesem Bereich konsequent angewendet werden muß.
4. Gesamteinschätzung (49) Es ist eine nicht zu bestreitende Tatsache, daß Deutschland im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten in unverhältnismäßigem Maße zur Finanzierung der Europäischen Gemeinschaft beiträgt. Das erweist nicht nur ein Vergleich der Nettopositionen der Mitgliedstaaten, sondern ebenso die Analyse der Beitragszahlungen, die der Beirat als Summe von Mehrwertsteuer- und BSP-Eigenmitteln definiert. Von den europäischen Partnern wird anerkannt, daß Deutschland eine Entlastung beanspruchen kann, aber eine Lösung des Finanzierungskonflikts ist derzeit nicht absehbar. Der Beirat empfiehlt der Bundesregierung, im Rahmen der Verhandlungen über die Agenda 2000 auf grundlegende Reformen des Finanzierungssystems der Gemeinschaft und ihrer Ausgabenprogramme zu drängen. Der Beirat legt dafür Vorschläge vor. Sie sind von grundsätzlichen 2034
N e u o r d n u n g des Finanzierungssystems der Europäischen Gemeinschaft
Erwägungen bestimmt; zugleich würden sie sich für Deutschland, aber auch für einige andere Länder, nicht zuletzt für Frankreich, finanziell entlastend auswirken. Dagegen rät der Beirat davon ab, den von deutscher Seite vorgetragenen Ansatz einer Kappung der Nettopositionen vorrangig weiter zu verfolgen. Obwohl dieser Ansatz allgemein angelegt ist, könnte er leicht als eine Sonderregelung zugunsten Deutschlands interpretiert werden. Allenfalls als ultima ratio, wenn sich die Partner auf grundlegendere Reformen nicht einlassen, könnte es angezeigt sein, auf diesen Ansatz zurückzukommen. (50) Beitragsbegrenzung setzt eine entschlossene Begrenzung der Ausgaben der Gemeinschaft voraus. Insoweit es gelingt, auf der Ausgabenseite des Gemeinschaftshaushalts Remedur zu schaffen, wird Deutschland automatisch erhebliche finanzielle Entlastung erfahren. Aber auch unabhängig von diesem Interesse sollte die Bundesregierung bestrebt sein, eine stärkere Zurückführung der Agrar- und der Strukturförderung auf der Gemeinschaftsebene zu erreichen, als das den in der Agenda 2000 niedergelegten Intentionen der Europäischen Kommission entspricht. Das ist sowohl unter effizienzpolitischen Gesichtspunkten von Bedeutung wie im Hinblick auf die finanzielle Erleichterung der angestrebten Osterweiterung der Europäischen Gemeinschaft. Die Ausgabenpolitik der Gemeinschaft sollte stärker als bisher von dem Prinzip bestimmt sein, nur solche Maßnahmen durchzuführen, die aufgrund ihres Charakters eines öffentlichen Gutes allen Mitgliedstaaten zugute kommen. Insoweit die Maßnahmen der Agrar- und der Strukturpolitik bestimmten Mitgliedstaaten Vorteile verschaffen, sollte künftig das Prinzip regionaler Äquivalenz angewandt werden. Das bedeutet konkret, von diesen Nutznießern eine entsprechend hohe Selbstbeteiligung bzw. Kofinanzierung zu verlangen. Auch die Option einer partiellen Renationalisierung ist nicht generell zu verwerfen, vorausgesetzt die Beihilfenkontrolle wird konsequent erweitert. Mit der Regel einer wesentlich höheren, direkten Beteiligung der nutznießenden Staaten an den Kosten kann längerfristig gesehen bewirkt werden, daß Mitgliedstaaten nicht länger Maßnahmen und Projekte beantragen, die ihnen einen geringeren Nutzen stiften, als sie der Gemeinschaft kosten. (51) Der Beirat schlägt vor, den Gesamtkatalog von Maßnahmen in der Agrarpolitik und in der Struktur- bzw. Regionalpolitik daraufhin zu überprüfen, wo Einsparungen vorgenommen werden können und wo es angezeigt ist, durch verstärkte direkte Kostenbeteiligung der Nutznießer das Ausgabenvolumen zu verringern. In der Agrarpolitik sind Kostensenkungen durch eine entschlossenere Liberalisierung und durch die Einführung der Kofinanzierung zu erreichen. In der Struktur- und Regional2035
Gutachten vom 18./19. Dezember 1998
politik gilt es, die Strukturfonds zu konzentrieren und das Ausgabenvolumen durch erheblich verstärkte Selbstbeteiligung zu kürzen. Der Kohäsionsfonds sollte entfallen, weil seine ursprüngliche Aufgabe im wesentlichen erfüllt ist. Insgesamt hält der Beirat es für möglich, das Gesamtvolumen der Ausgaben für die Agrar- und Strukturpolitik um 25 Prozent zu verringern. Auf der Basis 1997 gerechnet würde das eine Verringerung des Finanzierungsvolumens in Höhe von fast 16,7 Mrd Euro oder 0,24 Prozent des Bruttosozialprodukts der Gemeinschaft ermöglichen. Das bedeutet, daß die geltende Finanzierungsobergrenze von 1,27 Prozent des gemeinschaftlichen Bruttosozialprodukts auf künftig 1,03 Prozent herabgesetzt werden könnte. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, daß diese Obergrenze erneut zu verringern sein wird, wenn in der Zukunft, wie es beabsichtigt ist, die Sozialproduktszahlen im Hinblick auf die in der Schattenwirtschaft erbrachte Wertschöpfung nach oben revidiert werden. Für Deutschland ergäbe sich aus der vom Beirat angenommenen Verringerung des Ausgabenvolumens bei unverändertem Beitragstarif eine Beitragseinsparung in Höhe von mehr als 4,8 Mrd Euro. Da dann auch die Rückflüsse nach Deutschland geringer ausfallen würden, und zwar um schätzungsweise fast 2,4 Mrd Euro, wäre die Nettoeinsparung mit etwa 2,5 Mrd ECU oder 4,9 Mrd D M entsprechend geringer, aber immer noch substantiell. Finanzielle Risiken im Zusammenhang der Osterweiterung bleiben unberührt. (52) Der Beirat schlägt weiter vor, die Beitragsregelung der Gemeinschaft auf eine neue Grundlage zu stellen. Die Gemeinschaft tendiert dazu, die BSP-Eigenmittel weiter auszubauen. Der Beirat hält es für vertretbar, die Beiträge grundsätzlich nach den Anteilen der Mitgliedstaaten am Bruttosozialprodukt der Gemeinschaft zu bemessen. Der Beirat schlägt aber vor, die Stimmenanteile der Mitgliedstaaten im Europäischen Rat als eine ergänzende Bemessungsgrundlage heranzuziehen. Die großen, bevölkerungsreichen Staaten sind bei der Stimmenverteilung gegenüber den kleinen Staaten benachteiligt. Sie verfügen somit über ein relativ geringeres Gewicht in den Mehrheitsentscheidungen über ausgabenträchtige Maßnahmen der Gemeinschaft, die unbeschadet der Finanzierungsobergrenze letztlich darüber bestimmen, welche Beiträge insgesamt aufgebracht werden müssen. Eine ergänzende Berücksichtigung der Stimmengewichte in der Beitragsgestaltung hat den großen Vorzug, daß sie längerfristig der Tendenz nach eine Bremsung der Ausgabenexpansion bewirkt. Der kombinierte Beitragstarif bedeutet, daß die Beiträge mit der Größe der Länder degressiv ansteigen. Der Grad der Degression wird dadurch bestimmt, in welchem 2036
Neuordnung des Finanzierungssystems der Europäischen Gemeinschaft
M a ß e die Bemessungsgrundlage der Stimmengewichte berücksichtigt wird. Der Beirat hält es für eine vertretbare Lösung, die Bemessungsgrundlagen Bruttosozialprodukt und Stimmenanteil im Verhältnis 8 0 : 2 0 zu kombinieren. Der Vorschlag des Beirats steht in diametralem Gegensatz zu dem Vorschlag Spaniens, einen progressiven Beitragstarif einzuführen. Ein progressiver Tarif würde einer ungehemmten Transferunion endgültig den Weg bahnen, anstatt das Ausgabenwachstum abzubremsen. (53) Die Tabelle 6 zeigt auf, welche Entlastungswirkungen von den Reformvorschlägen des Beirats erwartet werden können. Der Reformtarif für sich betrachtet würde Deutschlands Beitragszahlungen um knapp 3 , 7 Mrd Euro verringern; vgl. Spalte (4). Könnte zudem erreicht werden, daß durch eine verstärkte Selbstbeteiligung der begünstigten Staaten das Volumen der Agrar- und Strukturausgaben um 2 5 Prozent gesenkt wird, so würde der deutsche Beitrag um sogar 7,5 Mrd Euro abnehmen. Die Nettoentlastung wäre freilich geringer, weil auch Deutschland zur Kofinanzierung herangezogen würde. Mit rd. 5,2 Mrd Euro bzw. 10 M r d D M wäre sie aber erheblich. Nimmt man zum Kontrast einmal an, daß das Volumen der Ausgaben nur um 10 anstatt 2 5 Prozent verringert wird und außerdem im Beitragstarif das Stimmengewicht nur mit 10 statt 2 0 Prozent berücksichtigt wird, so wäre Deutschlands Nettoentlastung mit 3,5 M r d Euro bzw. 6,8 Mrd D M zu veranschlagen. Nicht allein Deutschland würde durch die Reformen entlastet, sondern unmittelbar auch Frankreich, die Niederlande, Österreich und Schweden; vgl. Spalte 6 der Tabelle 6. Hauptverlierer wäre Großbritannien. Unter Berücksichtigung der Senkung der Gemeinschaftsausgaben würde Großbritannien im Vergleich zum Status-quo netto um 2 , 4 M r d Euro belastet. Das bedeutet, daß Großbritannien wenig mehr als den Rabatt (2 M r d Euro) aufgeben müßte, den es noch immer erhält, obwohl der ursprüngliche Grund nicht mehr gegeben ist. (54) Wenn sich die europäischen Partner nicht auf grundlegende Reformen, wie sie hier vorgestellt worden sind, einlassen, dann wäre es, was den Beitragstarif angeht, eine Auffangposition, eine Bemessung der Beiträge ausschließlich nach den Anteilen am Bruttosozialprodukt der Gemeinschaft vorzuschlagen. Die von Deutschland zu erreichende Entlastung würde dann zwar nur noch 1,9 Mrd Euro bzw. 3 , 7 Mrd D M betragen. Das wäre aber immer noch mehr, als was bei Rückgriff auf das Modell einer Kappung der Nettoposition zu erreichen wäre. Die von der vorherigen Bundesregierung ins Spiel gebrachte Kappungsgrenze in Höhe von 0 , 4 Prozent des Bruttosozialprodukts würde nicht greifen; die enger gezogene Grenze von 0,3 Prozent andererseits würde für Deutsch2037
Gutachten vom 18./19. Dezember 1998 Tab. 6: Auswirkungen des Reformtarifs und verstärkter Selbstbeteiligung Mio Euro Reformtarif: 20 Prozent nach Stimmenanteil, 80 Prozent nach Bruttosozialproduktsanteil. Senkung des Volumens der Ausgaben für strukturpolitische und agrarpolitische Maßnahmen um 25 Prozent durch entsprechend höhere Selbstbeteiligung bzw. Kofinanzierung. Beiträge * Status quo 1997 (1)
Beitragssenkung Reformtarif
ohne (2)
Nettoentlastung (+)
(+)
Verstärkte Selbstbeteiligung mit ohne mit (3) (4) (5)
mit (6)
Luxemburg 149 Belgien 1.923 Dänemark 1.217 Osterreich 1.856 Deutschland 17.785 Niederlande 3.109 Frankreich 11.635 Italien 7.547 Großbritannien 5.884 Finnland 918 Schweden 1.963 Irland 462 Spanien 4.736 Portugal 923 Griechenland 1.015
384 2.204 1.370 1.818 14.120 2.906 9.824 8.335 9.254 1.126 1.893 804 4.343 1.305 1.435
279 1.603 996 1.322 10.270 2.114 7.146 6.063 6.731 819 1.377 585 3.159 949 1.044
-235 -281 - 152 38 3.665 203 1.811 -788 -3.369 -208 70 -342 393 -382 -421
- 130 319 221 534 7.515 995 4.489 1.484 -846 99 586 - 122 1.577 - 27 - 29
141 16 - 130 228 5.161 451 1.587 - 512 -2.429 - 139 342 - 934 - 1.169 - 926 - 1.373
Summe
61.121
44.456
0
16.665
0
61.121
-
-
* Mehrwertsteuer- und BSP- Eigenmittel.
land eine Entlastung von nicht mehr als 1 Mrd Euro oder 1,9 Mrd D M erbringen. Was das Problem der Ausgabenbegrenzung angeht, so könnte als ultima ratio zwar an eine Kürzung aller Ausgaben nach dem Rasenmäher-Prinzip gedacht werden. Aber ebenso wie der Notbehelf eines Kappungsmodells wäre eine Kürzung der Ausgaben nach dem Rasenmäher-Prinzip als Ausweis zu deuten, daß es der Gemeinschaft an politischem Gestaltungswillen und der Bereitschaft zu partnerschaftlichem Ausgleich fehlt, ohne die der Fortgang des europäischen Integrationsprozeß bedroht ist. (55) Gegen die hier vorgeschlagene Reform des Finanzierungssystems der Gemeinschaft läßt sich einwenden, daß sich die Gemeinschaft heute nicht mehr im Zustand der Neugründung befindet, in dem es um die 2038
Neuordnung des Finanzierungssystems der Europäischen Gemeinschaft
erstmalige Vereinbarung eines Beitragssystem geht, das für eine annähernd gleiche Lastenverteilung sorgt. Nachdem im Verlauf des Jahrzehnte währenden Integrationsprozesses eine Schieflage eingetreten ist, die eine Reihe von Mitgliedstaaten begünstigt, so läßt sich argumentieren, ist dies im Grunde nicht mehr korrigierbar. Von dieser Einschätzung scheint auch die Kommission geleitet zu sein, wenn sie in der Agenda 2 0 0 0 die Ansicht vertritt, eine grundlegende Reform des Finanzierungssystems komme erst dann in Betracht, wenn der notwendige Finanzbedarf der Union über die derzeitige Obergrenze von 1,27 Prozent des Bruttosozialprodukts hinausgehe. Sogar eine Überprüfung des Großbritanniens gewährten Ausgleichsmechanismus soll erst nach der nächsten Erweiterung der Europäischen Union erfolgen. Aber bis dahin die Reform aufzuschieben, wäre ein Fehler, weil auch die neu beitretenden Mitglieder ein Vetorecht erhalten. (56) Angesichts dieser Lage wird es nicht einfach sein, Verhandlungen über eine systematische, an ökonomischen Prinzipien orientierte Neuverteilung der Finanzierungslasten in Gang zu setzen, nicht zuletzt auch deshalb, weil der bestehende Eigenmittelbeschluß nicht einseitig kündbar ist, sondern in Kraft bleibt, solange sich die Mitgliedstaaten nicht auf einen neuen Finanzierungsmodus geeinigt haben. Andererseits ist die Lage nicht aussichtslos, weil nicht allein Deutschland, sondern auch andere Länder von einer systematischen Neuregelung profitieren würden. Um dies zu verdeutlichen, werden in der Tabelle 7 die Nettoentlastungen ausgewiesen, die sich bei folgenden vier Reformalternativen ergeben: (1) Beitragszahlungen nach BSP-Anteilen und Stimmengewichten im Verhältnis von 80:20; (2) Beitragszahlungen allein nach BSP-Anteilen; (3) und (4) wie (1) und (2), aber ergänzt um eine Kürzung der Ausgaben für agrar-, struktur- und regionalpolitische Zwecke um 25 Prozent. Fett gedruckte Zahlen geben die aus der Sicht der Länder günstigste Reformalternative an. Ein Vergleich dieser vier Reformansätze ergibt folgende Tendenzen: Wenn sich Kürzungen der Ausgaben für die Agrar-, Struktur- und Regionalpolitik nicht durchsetzen lassen, also nur die Alternativen (1) und (2) einer Reform des Beitragstarifs zur Diskussion stehen, so werden die großen Länder Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien die vom Beirat befürwortete Reform (1) vorziehen, während die kleineren Länder für die Alternative (2) votieren werden. Im Vergleich zum Statusquo bietet die Alternative (2) allen Staaten außer Italien, Großbritannien und Irland eine Entlastung. Deshalb dürfte eine Abstimmung mit 64 zu 23 Stimmen für die Alternative (2) ausgehen.
2039
Gutachten vom 18./19. Dezember 1998 Tab. 7: Nettoentlastungen (+) bei alternativen Reformen Mio Euro Alternativen:
Luxemburg Belgien Dänemark Österreich Deutschland Niederlande Frankreich Italien Großbritannien Finnland Schweden Irland Spanien Portugal Griechenland
1 Beitrag nach BSP- und Stimmenanteilen 80:20 -235 -281 - 152 38 3.665 203 1.811 -788 -3.369 -208 70 -342 393 -382 -421
2 Beitrag nach BSP-Anteilen
21 46 32 287 1.891 355 1.111 - 1.116 -3.926 37 299 - 16 712 170 99
3 Wie Alternative 1 plus Ausgabenkürzung 25 Prozent -141 - 16 -130 228 5.161 451 1.587 -512 - 2.429 - 139 342 -934 -1.169 -926 - 1.373
4 Wie Alternative 2 plus Ausgabenkürzung 25 Prozent 45 222 4 408 3.871 561 1.078 -751 -2.834 39 508 -697 -937 -525 -995
Hinweis: Fettdruck gibt die aus der Sicht des Landes günstigste Reformalternative an.
Für Großbritannien und Italien wäre das allerdings die ungünstigste Lösung. Für diese beiden großen Staaten ist es wesentlich günstiger, wenn auch die Ausgaben stärker verringert werden. Das entspricht auch dem Interesse Deutschlands, allerdings nicht dem Interesse Frankreichs. Geht man daher mit dem Beirat davon aus, daß die Reform des Finanzierungssystems mit einer erheblichen Verringerung der Agrar- und Strukturausgaben (vermittels einer verstärkten Selbstbeteiligung der von Maßnahmen begünstigten Staaten) verbunden sein soll, so zeigt der Vergleich der Reformalternativen (3) und (4), daß die vier großen Staaten Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien die vom Beirat befürwortete Reform (3) vorziehen würden. In einer Alternativabstimmung würden aber die kleineren Staaten sich mit 47 zu 40 Stimmen zugunsten der Alternative (4) durchsetzen können. Das bedeutet nicht, daß sie sich überhaupt auf eine Verringerung der Ausgaben einlassen werden, denn für eine Reihe von Ländern ist die Reformalternative (2), die keine Ausgabenkürzung vorsieht, sondern lediglich das Bruttosozialprodukt zur alleinigen Bemessungsgrundlage des Beitragstarifs erhebt, günstiger. 2040
Neuordnung des Finanzierungssystems der Europäischen Gemeinschaft
(57) Im Ergebnis erweist sich, daß der ökonomisch gesehen richtige Ansatz der neuen Bundesregierung, in den Verhandlungen alle Ausgaben der Gemeinschaft mit dem Ziel einer substantiellen Absenkung auf den Prüfstand zu stellen, nur schwer durchzusetzen sein wird. Allerdings wird die Gemeinschaft in Zusammenhang mit der Agenda 2 0 0 0 , der Verabschiedung des Haushalts, der Neuverteilung der Stimmrechte und der Osterweiterung eine Reihe von Entscheidungen zu treffen haben, die ohne die Zustimmung Deutschlands und anderer Staaten, denen eine Neuordnung des Finanzierungssystems Entlastung verspricht, nicht zustande kommen können. Weil auch Frankreich, das zusammen mit Deutschland den europäischen Integrationsprozeß immer wieder vorangebracht hat, von solcher Reform profitieren würde, verfügt die Bundesregierung über einen wichtigen Alliierten. Das ist ein Umstand, den es zu nutzen gilt.
Bonn, den 7. Januar 1 9 9 9 Der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie Professor Dr. Manfred J . M . Neumann
2041
Brief vom 19. und 20. Februar 1999 an den Bundesminister für Wirtschaft und Technologie Dr. Werner Müller Thema: Wechselkurszielzonen Bundesminister für Wirtschaft und Technologie Herrn Dr. Werner Müller Villemombler Straße 76 53123 Bonn Betr.:
Wechselkurszielzonen
Sehr geehrter Herr Bundeswirtschaftsminister! Mit Sorge verfolgt der Wissenschaftliche Beirat die öffentliche Diskussion über die Lehren, die aus den internationalen Währungs- und Finanzkrisen Südostasiens sowie Lateinamerikas und deren negativen Rückwirkungen auf das wirtschaftliche Wachstum in der Welt gezogen werde sollten. Auf seiner Sitzung am 19. und 20. Februar 1999 hat er sich mit diesen Fragen befaßt und dabei insbesondere den neuerdings häufiger zu hörenden Vorschlag geprüft, durch Einführung von Zielzonen für die Wechselkurse zwischen den führenden Währungen Dollar, Euro und Yen einen Beitrag zu mehr Wechselkursstabilität weltweit zu leisten. Der Beirat widerrät einem solchen Experiment, und zwar unabhängig davon, an welche internationalen Absprachen im einzelnen über Leitkurse, über Höchst- und Niedrigstkurse, über Interventionen an den Devisenmärkten und über koordiniertes wirtschaftspolitisches Eingreifen die Befürworter von Zielzonen denken mögen. Zu dieser Haltung sieht sich der Beirat insbesondere durch die folgenden Überlegungen veranlaßt: (1) Der Leitgedanke des Konzepts der Wechselkurszielzonen ist, größere Schwankungen der Wechselkurse zu verhindern, weil sie negative wirtschaftliche Rückwirkungen haben können. Im Unterschied zu einem Festkurssystem das zu einem Misalignment führt, wenn sich die fundamentalen Faktoren der beteiligten Volkswirtschaften anders entwickeln, als es der vereinbarten Kursparität entspricht, sehen Zielzonenkonzepte - jedenfalls dem Grundsatz nach - vor, Anpassungen der Wechselkursziele an dauerhafte Veränderungen der Fundamentalfaktoren vorzunehmen. Das ist tatsächlich von großer Bedeutung, weil es aller Erfahrung widerspricht, daß die wirtschaftliche Entwicklung der verschiedenen Länder jeweils mit gleicher Kraft in die gleiche Richtung läuft. 2043
Brief vom 19. und 20. Februar 1 9 9 9
Auf dem Papier verbinden Zielzonenkonzepte den Vorzug flexibler Wechselkurse in der Bewertung von Währungen durch den Markt - divergente Trends wirtschaftlicher Entwicklung rechtzeitig zu berücksichtigen - mit der Verheißung fixierter Wechselkurse, störende Schwankungen der Wechselkurse zu verhindern. In der Praxis können Zielzonenkonzepte aber nicht leisten, was sie versprechen. Schon auf der technokratischen Ebene ergibt sich das Problem, daß es kein Verfahren gibt, das angemessene Niveau und die erforderliche Anpassung der Zielkurse mit hinreichender Sicherheit zu bestimmen. Auf der politischen Ebene wird dieses Problem verschärft, weil Änderungen der Zielkurse immer wieder eine multilaterale Einigung der beteiligten Regierungen voraussetzen. Das hat zur Folge, daß die Bereitschaft zur Anpassung der Zielkurse wie auch das zu wählende Ausmaß unter den Einfluß sachfremder politischer Erwägungen gerät. Wie die Erfahrungen mit dem Europäischen Währungssystem gezeigt haben, begünstigt die Notwendigkeit politischer Einigung das Verschleppen von Entscheidungen und das Geringhalten von Änderungen. Die folge ist, daß sich Wechselkursziele verfestigen, die Zielzonen zu Festkurszonen werden. (2) Konzepte der Zielzonen weisen letztlich den Zentralbanken die Aufgabe zu, vermittels Interventionen und zinspolitischer Maßnahmen die Kurse innerhalb der für tolerierbar angesehenen Margen zu halten. Damit gerät die Geldpolitik unter den Einfluß der Wechselkursziele der Regierungen. Das bedeutet für die Europäische Zentralbank, daß sie die Fähigkeit verliert, ihre vorrangige gesetzliche Aufgabe, für Preisstabilität zu sorgen, zu erfüllen. Inflationsimpulse aus den Vereinigten Staaten oder Japan, die nicht für alle Zukunft auszuschließen sind, müßte sie importieren. Sogar die bloße Einrichtung von Zielzonen kann, weil sie praktisch die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank beschneidet, Inflationserwartungen auslöse. Zielzonen würde es erschweren, daß die Europäische Zentralbank und der Euro internationale Glaubwürdigkeit erlangen. Höhere Zinsen mit negativen Wirkungen für die Beschäftigung wären die Folge. (3) Wechselkurszielzonen bedrohen nicht nur die Preisstabilität, sondern sie verringern auch den Handlungsspielraum von Regierungen und Tarifparteien über das hinaus, was schon durch die zunehmende Globalisierung der Märkte erzwungen wird. Die Wechselkurse in ihren Zielzonen zu halten, erfordern die Hintanstellung anderer wirtschafts- und sozialpolitischer Ziele. So mag die Stützung eines Wechselkurses eine Hochzinspolitik erfordern, deren Konsequenzen binnenwirtschaftlich unerwünscht sind, die im Extremfall sogar, wie die skandinavischen und südostasiatischen Beispiele zeigen, die Stabilität des gesamten Finanzsektors infrage 2044
Wechselkurszielzonen
stellen könnte. Bedenken solcher Art wären von geringerer Bedeutung für die weltweite Allokation der Ressourcen, wenn es zwischen den Vereinigten Staaten, Europa und Japan ein hohes M a ß an realwirtschaftlicher Konvergenz gäbe. Aber davon kann bekanntlich keine Rede sein. Alles in allem, sehr geehrter Herr Minister, kann der Beirat die Einrichtung von Wechselkurszielzonen nicht befürworten. Realistisch betrachtet gibt es für die währungspolitischen Beziehungen zwischen den großen Währungsgebieten des Dollar, des Euro und des Yen keine tragfähige Alternative zu flexiblen Wechselkursen. Das Beste, was die Finanzpolitik und die Wirtschaftspolitik zur Förderung von Wechselkursstabilität beitragen können, sind das frühzeitige Aufzeigen der längerfristigen Perspektiven der Politik sowie Stetigkeit und Verläßlichkeit bei der Ausführung der Programme. Wir bitten Sie, unsere Bedenken gegen die Einrichtung von Zielzonen zwischen Dollar, Yen und Euro in die politische Diskussion einzubringen. Mit freundlichen Grüßen gez. Prof. Dr. Manfred J . M . Neumann
2045
Gutachten vom 15. und 16. Oktober 1999 Thema: Offene Medienordnung Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie hat sich in mehreren Sitzungen, zuletzt am 15./16. Oktober 1999, mit dem Thema „Offene
Medienordnung"
befaßt und ist dabei zu folgender Stellungnahme gelangt:
Anlaß des Gutachtens (1) Medien sind kein Wirtschaftsgut wie jedes andere. Die Logik des Markts wird der politischen und gesellschaftlichen Bedeutung der Medien nicht gerecht. Von dieser in weiten Teilen der Öffentlichkeit und in den politischen Parteien geteilten Überzeugung ist die geltende Medienordnung für den Rundfunk geprägt. Ganz falsch ist diese Vorstellung zwar nicht. Das geltende Recht schüttet aber das Kind mit dem Bade aus. Es ist von einem tiefen Mißtrauen gegen die Leistungen des Wettbewerbs geprägt. So erklärt sich, daß der private Rundfunk (Hör- und Fernsehfunk) mit einem dichten Geflecht öffentlich-rechtlicher Regeln überzogen ist. Obwohl die technische Knappheit an Übertragungswegen überwunden und damit die traditionelle Begründung für einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk entfallen ist, hat er seine bevorzugte Stellung behalten. Diese Rundfunkordnung ist starr und verschwenderisch teuer. Sie verfehlt oft sogar ihre eigentlichen publizistischen Ziele. Der Beirat spricht sich für eine prinzipielle Neuordnung des Rundfunks aus. Sie kann unter den veränderten technischen und wirtschaftlichen Bedingungen weitgehend auf den Wettbewerb und seinen Schutz durch das Kartellrecht setzen. Das legt insbesondere die Parallele zur Presse nahe. Dort hat das Bundesverfassungsgericht seit jeher Wettbewerb und Fusionskontrolle als Gewähr für das öffentliche Interesse an einer freien, durch Meinungsvielfalt geprägten Presse anerkannt. Überträgt man diese Kriterien auf den Rundfunk, so könnte ein Großteil der überkommenen Regulierungen ersatzlos entfallen. Der Beirat verkennt nicht, daß dies Änderungen in der Gesetzgebung und in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts voraussetzt. Presse und Rundfunk sollten aber gleichermaßen in einer offenen Medienordnung ihren Platz finden. (2) Die Überregulierung des Rundfunks versteht man nur, wenn man sich die vom Verfassungsrecht geprägte Logik des Medienrechts vor Augen führt (I). Sein normativer Ausgangspunkt ist einseitig. Es geht von 2047
Gutachten vom 1 5 . / 1 6 . Oktober 1 9 9 9
unrealistischen Verhaltensannahmen aus. Die überkommene Regulierung der Medien ist kaum imstande, auf die dramatisch veränderte Wirklichkeit zu reagieren. Sie wird zunehmend anachronistisch (II). Die Medienordnung sollte stattdessen von dem inneren Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Wettbewerb der Medienunternehmen und Meinungsvielfalt ausgehen (III). Ihre zentrale Sorge sollte die Funktionsfähigkeit des wirtschaftlichen Wettbewerbs sein. Ist dieses Ziel erreicht, sind zugleich auch die zentralen medienpolitischen Anliegen verwirklicht (III). Zur Steuerung genügt das Kartellrecht (IV). Die legitime Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ergibt sich aus der staatlichen Sorge um die Integration von Staat und Gesellschaft und um den Erhalt der Hochkultur (V).
I.
Der Befund
1. Das Leitbild des Bundesverfassungsgerichts (3) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der Schlüssel zum Verständnis des geltenden Medienrechts. Das Gericht hat die Entscheidungen der Landesgesetzgeber nicht nur nachträglich theoretisch überhöht, sondern ein gutes Stück auch im vorhinein geprägt. Das Bundesverfassungsgericht hat vor allem dem Rundfunk ein enges Korsett angelegt. Es versteht den Rundfunk nicht nur als Medium, sondern auch als Faktor der öffentlichen Meinungsbildung, und zwar in allen, selbst in den nicht unmittelbar meinungsbildenden Hörfunk- und Fernsehsendungen. Das Gericht sieht damit den Rundfunk als eine politische Institution. Diese Institution bedarf des staatlichen Schutzes. Es muß verhindert werden, daß der Rundfunk dem Staat oder einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe ausgeliefert wird. Die Rundfunkveranstalter müssen folglich so organisiert sein, daß alle wesentlichen gesellschaftlichen Kräfte institutionell gesicherten Einfluß haben. Außerdem muß die Rechtsordnung „Leitgrundsätze verbindlich [...] machen, die ein Mindestmaß von inhaltlicher Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitiger Achtung gewährleisten" (BVerfGE 12, 2 0 5 , 2 6 2 ) . Rechtsdogmatisch machte das Gericht seine Auffassung stimmig, indem es Art. 5 1 2 G G , die Garantie der Rundfunkfreiheit, als institutionelle Garantie begriff, als „eine der Meinungsbildung in ihren subjektiv- und objektiv-rechtlichen Elementen dienende Freiheit" (BVerfGE 5 7 , 2 9 5 , 3 2 0 ) . Deren Gebrauch unterliegt einem doppelten Vorbehalt. Privater Rundfunk ist von Verfassungs wegen verboten, solange ihn der jeweilige Landesgesetzgeber nicht ausdrücklich zugelassen hat. Außerdem ist vorausgesetzt, daß dieser Gesetzgeber zugleich Sicherungen für den Prozeß 2048
Offene Medienordnung
der freien und individuellen Meinungsbildung vorgesehen hat, die den detaillierten Anforderungen des Gerichts genügen. „Im Unterschied zu anderen Freiheitsrechten des Grundgesetzes handelt es sich bei der Rundfunkfreiheit [...] nicht um ein Grundrecht, das seinem Träger zum Zweck der Persönlichkeitsentfaltung oder Interessenverfolgung eingeräumt ist" (BVerfGE 87, 181, 197). Rundfunk ist „eine der Allgemeinheit dienende Veranstaltung (BVerfGE 31, 312, 328). Die Rundfunkveranstalter erfüllen eine „Aufgabe der öffentlichen Verwaltung" (ebd. 329). Die Struktur des Rundfunks wird also von der Rechtsordnung vorgegeben. Den Rundfunkveranstaltern ist der Unternehmenszweck von der Rechtsordnung gleichsam eingestiftet. (4) Jüngst hat das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung modifiziert. Es spricht nun vom „Grundrecht der Rundfunkfreiheit" (BVerfGE 95, 220, 234), das auch solchen Personen zusteht, die noch keine öffentlich-rechtliche Rundfunkzulassung haben (BVerfG AfP 1998, 200). Auch auf die übrigen Grundrechte können sich die Rundfunkveranstalter berufen (BVerfG AfP 1998, 192, 193). Ferner hat das Gericht die Anforderungen an die medienspezifische Konzentrationskontrolle verschärft. Bisher hat diese Rechtsprechung noch wenig Einfluß auf die Mediengesetzgebung gehabt. 2. Das
Regulierungsgeschehen
a) Die bevorzugte Stellung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (5) Das Ideal des Bundesverfassungsgerichts ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Ein sogenanntes außenplurales Modell hat das Gericht zwar nicht kategorisch verworfen. Bei diesem Modell würde sich Meinungsvielfalt durch den Wettbewerb privater Veranstalter einstellen. Das Gericht hat die Meßlatte für diese Lösung aber sehr hoch gelegt. Privaten Rundfunk hat es ursprünglich überhaupt nur zugelassen, weil es die zu gewährleistende politische Funktion des Rundfunks bei den öffentlichrechtlichen Anstalten in sicheren Händen sah. Mit dieser Begründung hat das Gericht den Bestand des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zur verfassungsrechtlichen Voraussetzung für privaten Rundfunk gemacht und daraus eine Bestands- und Entwicklungsgarantie des öffentlichrechtlichen Rundfunks abgeleitet. Die öffentlich-rechtlichen Anstalten haben hiernach Anspruch auf bevorzugte Versorgung mit terrestrischen Frequenzen und Kabelkanälen. Sie sind berechtigt, sich aus der Rundfunkgebühr zu finanzieren. Der Gesetzgeber muß sie technisch und finanziell in einer ihrer demokratischen Funktion entsprechenden Weise ausstatten. 2049
Gutachten vom 15./16. Oktober 1999
(6) Tatsächlich werden die Fernsehprogramme von ARD und ZDF und das jeweilige Dritte Programm in allen Bundesländern terrestrisch ausgestrahlt. Die gleiche Möglichkeit haben daneben nur zwei oder höchstens drei private Veranstalter. Die genannten öffentlich-rechtlichen Programme werden auch bevorzugt in die Kabelnetze eingespeist. Noch deutlicher ist die technische Dominanz des öffentlich-rechtlichen Hörfunks. Zu Zeiten des öffentlich-rechtlichen Monopols waren sämtliche für nutzbar gehaltenen Hörfunkfrequenzen an die öffentlich-rechtlichen Anstalten vergeben worden. Die Anstalten betrachten all diese Frequenzen als ihr Hausgut. Privater Hörfunk muß sich mit solchen Frequenzen bescheiden, die den öffentlich-rechtlichen Anstalten ursprünglich nicht attraktiv erschienen oder die später erst verfügbar gemacht worden sind. Die Anstalten beanspruchen auch die bevorzugte Ausstattung mit neuen Übertragungswegen. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Digitalisierung der Frequenzen. Eine derartige Privilegierung des öffentlichrechtlichen Rundfunks bei der Zuweisung der Frequenzen für digitale Kommunikation würde nicht nur den privaten Rundfunk, sondern auch die Individualkommunikation in ihren Möglichkeiten einschränken. (7) Noch stärker ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk durch die Art seiner Finanzierung privilegiert. ARD und ZDF erhalten zusammen pro Jahr gut neun Milliarden D-Mark aus der Rundfunkgebühr. Daneben können sie in zeitlich begrenztem Umfang Werbezeiten vertreiben und Sendungen von Sponsoren finanzieren lassen. ARD und ZDF erlösen dadurch zusätzlich etwa 900 Millionen D-Mark pro Jahr. Zum Vergleich: RTL-Television, der Marktführer unter den privaten Rundfunkveranstaltern, hatte 1998 Werbeeinnahmen in Höhe von gut 3,6 Milliarden D-Mark zur Verfügung, alle privaten Fernsehveranstalter zusammen etwa 12 Milliarden. Viele von ihnen machen nach wie vor Verluste. Bisher haben nur RTL, Pro 7 sowie die beiden Musiksender MTV und Viva die Anlaufverluste abgedeckt. (8) Bis zum Jahre 1994 unterlag die Finanzierung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten einer begrenzten politischen Kontrolle. Die periodische Neufestsetzung ihrer Gebühren war eine Entscheidung der Ministerpräsidenten, rechtlich vollzogen durch einen Staatsvertrag der Länder mit Zustimmung aller Länderparlamente. Dem hat das Bundesverfassungsgericht ein Ende bereitet. Nunmehr entscheidet über die Höhe der Rundfunkgebühr ein von den Landesparlamenten unabhängiges Gremium aus Sachverständigen. Die Landesparlamente bestätigen seine Entscheidung im Rundfunkfinanzierungsstaatsvertrag nur formal. Das Sachverständigengremium befaßt sich mit Fragen der Kosteneffizienz, nicht aber mit dem Umfang des Programmangebots. Insofern hat 2050
Offene Medienordnung
zwar die Kostenkontrolle zugenommen. Eine Kontrolle der Programmexpansion findet auf diese Weise aber nicht statt. Die öffentlich-rechtlichen Anstalten verhalten sich anreizkonform und erweitern ihren Handlungsspielraum durch Programmausweitung. Der Kinderkanal und der Informationskanal Phoenix sowie die Online-Angebote sind die bekanntesten Beispiele. Das jüngste Beispiel sind die Pläne für einen ZDF-Erlebnispark.
b) Dichte Regulierung des privaten Rundfunks (9) Der Gesetzgeber mißtraut dem privaten Rundfunk. Entsprechend dicht ist das Geflecht an Regeln, das er um ihn gelegt hat. Da geht es nicht nur um Persönlichkeits- oder Jugendschutz, sondern auch um Art und Ausmaß von Werbeunterbrechungen. Jeder Fernsehveranstalter hat das Recht zur Kurzberichterstattung über Ereignisse, an denen sich ein anderer exklusive Rechte gesichert hat. Eine von der Europäischen Gemeinschaft verfügte Quotenvorgabe soll erreichen, daß wenigstens die Hälfte der ausgestrahlten Inhalte in Europa produziert wird. Wenn n-tv einen abgetrennten Teil des Bildschirms mit Werbung füllt, geht ein Aufschrei durch die Medien. Die zentralen Regeln finden sich mittlerweile im Rundfunkstaatsvertrag der Länder, der gerade zum vierten Mal novelliert worden ist. Jedes Land hat ein Rundfunk- oder Mediengesetz (Berlin und Brandenburg einen gemeinsamen Staatsvertrag) und eine eigene Landesmedienanstalt. Viele dieser Gesetze enthalten Ermächtigungen zum Erlaß untergesetzlicher Regelwerke. In der Praxis dominieren Satzungen, die von den plural zusammengesetzten Gremien der Landesmedienanstalten erlassen werden. Außerdem beanspruchen die konkurrierenden Regeln der Fernsehrichtlinie der Europäischen Gemeinschaft und der Fernsehkonvention des Europarats Geltung. Diese Regeln sind oft unterschiedlich streng, manchmal widersprechen sie einander sogar. (10) Wer privaten Rundfunk veranstalten will, bedarf der Zulassung durch die Landesmedienanstalt am Sitz des Veranstalters. Diese Anstalt entscheidet auch über die Zuweisung von terrestrischen Frequenzen und Kabelkanälen. Die Landesmedienanstalten behandeln die Zulassung als industriepolitisches Handelsgut. Das größte Gewicht haben Arbeitsplätze im Lande. Mit bloßen Versprechungen geben sich die Landesmedienanstalten dabei im Normalfall nicht zufrieden. Sie achten vielmehr darauf, daß der Veranstalter schnell irreversible Investitionen vornimmt und damit wirtschaftlich gebunden ist. Wer eine terrestrische Frequenzkette erhält, muß nach den Usancen außerdem täglich ein Regionalfens2051
Gutachten vom 15./16. Oktober 1999
ter öffnen und entsprechende Sendungen ausstrahlen. Nordrhein-Westfalen hat überdies in den privaten Programmen feste Sendeplätze für „Kulturträger" durchgesetzt. Die Landesmedienanstalten haben sich in der Folge weitgehend zu Interessenvertretern der von ihnen beaufsichtigten Unternehmen entwickelt („captive regulators"). (11) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der Gesetzgeber von Verfassungs wegen verpflichtet, wirksame Vorsorge gegen die Entstehung „vorherrschender Meinungsmacht" zu treffen. Seit dem Jahre 1997 geschieht das durch das sogenannte Zuschauermarktanteilsmodell des neuen Rundfunkstaatsvertrags. Relevant sind nicht mehr die Mehrheitsverhältnisse beim einzelnen Veranstalter, sondern die einem Unternehmen zurechenbaren Programme. Es soll verhindert werden, daß in der Person eines Anteilseigners die Kontrolle über 30 Prozent der Zuschauerkontakte zusammenfällt. Diese Kontakte werden mit statistischen Methoden ermittelt. Ein kompliziertes Regelwerk entscheidet über die Zurechnung. Jede Neuzulassung, aber auch jede Veränderung von Eigentumsverhältnissen wird überprüft. Die Entscheidung liegt in der Hand eines Gremiums unabhängiger Sachverständiger, der Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK). Die Konferenz der Direktoren der Landesmedienanstalten (KDLM) kann diese Entscheidung mit Dreiviertel-Mehrheit aufheben. Zugleich sorgt der Staatsvertrag für die Transparenz der Eigentumsverhältnisse. Jeder Rundfunkveranstalter und jeder Anteilseigner ist verpflichtet, jährlich eine Bilanz nach den Vorschriften aufzustellen und bekanntzumachen, die sonst für große Kapitalgesellschaften gelten.
II. Kritik (12) Das deutsche Recht behandelt die Medien einseitig als politische Institution (1). Es geht von unrealistischen Verhaltensannahmen aus (2). Es hat bisher kaum zur Kenntnis genommen, wie sehr sich die Wirklichkeit seit den sechziger und siebziger Jahren geändert hat, als die juristischen Leitbilder entwickelt wurden (3). Besonders der Rundfunk ist übermäßig reguliert (4).
1. Oer normative
Ausgangspunkt
(13) Vertreter der politischen Theorie nehmen die Medien vor allem als Mittler zwischen Staat und Gesellschaft wahr. Sie weisen ihnen eine Rolle zu, die zu jener der politischen Parteien komplementär ist. Die Parteien wirken an der politischen Willensbildung mit. Sie bündeln die ver2052
Offene Medienordnung
schiedensten Interessen in der Gesellschaft zu wenigen Paketen, zwischen denen die Bürger wählen können. Sie tragen so dazu bei, daß das Volk nicht nur mittels einer Verfassung herrscht, sondern über regelmäßige Wahlentscheidungen regiert. Den Medien obliegt es in der Perspektive der politischen Theorie, für die Bildung der öffentlichen Meinung zu sorgen. Sie gewährleisten, daß staatliches Handeln fortlaufend diskutiert und kritisiert wird. Sie schaffen Aufmerksamkeit für Mißstände. Sie sind eine zentrale Institution bei der Formulierung der politischen Agenda. Sie informieren die staatlichen Organe und die Parteien darüber, wo die Bevölkerung politischen Handlungsbedarf sieht. Sie helfen dem Staat bei der Einschätzung von Regelungsanliegen und der Tragfähigkeit politischer Kompromisse. Sie lassen den Staat im Bewußtsein seiner Bürger lebendig werden und schaffen so faktische Zustimmung zum Staat. (14) Nur ein kleiner Teil der Medien nimmt wirklich eine solche Funktion wahr. Die überregionalen Richtungszeitungen, die Nachrichtenprogramme und die politischen Magazine des Fernsehens passen noch am ehesten hierher. Schon bei den Regionalzeitungen, den klassischen Illustrierten und etlichen Fernsehprogrammen nimmt das im engeren Sinne Politische eine mehr oder weniger nachgeordnete Stelle ein. In einer Computerzeitschrift oder einem Verkaufskanal (Teleshopping) ist es dann praktisch ganz verschwunden. Das ist auch dem Bundesverfassungsgericht nicht verborgen geblieben. Zunächst wird behauptet, es gebe eigentlich gar keine unpolitischen Inhalte. Auch der Spielfilm transportiere Werthaltungen. Unter der Hand wandelt sich die Begründung. Es geht nicht mehr um die Stellung dieser Medien als politische Institutionen. Vielmehr soll der Prozeß der öffentlichen Meinungsbildung, so wie er in den erklärter Maßen politischen Sendungen stattfindet, vor Störungen geschützt werden. Die nicht offen politischen Sendungen sollen kein Meinungsklima schaffen. Sie sollen nicht unmerklich die Tagesordnung der Politik umschreiben. Die Veranstalter sollen ihren Zugang zu den Zuschauern nicht in politischer Absicht mißbrauchen. Die unterhaltenden Sendungen sollen der politischen Auseinandersetzung nicht die Aufmerksamkeit entziehen. Der mündige Citoyen soll sich nicht unter dem Einfluß der Medien zum bequemen Bourgeois wandeln. (15) Das Verfassungsgericht überläßt die Meinungsbildung nicht der Gesellschaft. Es verlangt vielmehr vom Medienrecht, daß die Gesamtheit der in der Gesellschaft herrschenden Anschauungen in den Medien mit dem richtigen Gewicht zu Gehör kommt. Das Ergebnis ist eine „staatliche Meinungsausstellung". An die Stelle einer offenen Gesellschaft, die den Staat kontrollieren könnte, tritt die verfaßte Gesellschaft. Mit dem 2053
Gutachten vom 15./16. Oktober 1999
Aufsichtssystem der gesellschaftlich relevanten Gruppen fällt das Gericht auf das vordemokratische ständische Prinzip zurück. Jedes Mitglied der plural besetzten Organe von öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und Landesmedienanstalten vertritt notwendigerweise nur die Interessen der Gruppe, die es entsandt hat. Es wird daher unvermeidlich zur Aufgabe des Gesetzgebers, die Gruppen zu bestimmen, die in diesen Gremien repräsentiert sind. Damit entscheiden die Parteien selbst, welche Meinungsrichtungen auf die Medien Einfluß erhalten, die sie kontrollieren sollen. Die vorgebliche Funktionssicherung gerät zur Mitgestaltung der Inhalte. Das Medienrecht bewegt sich unversehens in die Nähe der Zensur. (16) Diesen Organisationsprinzipien entspricht ein tiefes Mißtrauen gegenüber der Steuerung des Marktes und der Beschränkung von Macht durch Wettbewerb. Der Rundfunk darf nicht „dem freien Spiel der Kräfte überlassen werden" (BVerfGE 75, 295, 323). Einer politischen Kontrolle der Medien redet das Gericht allerdings nicht das Wort. Denn die Medien sollen ja den Staat kontrollieren und nicht umgekehrt. Dem hat das Gericht durch das Verfassungsgebot der Staatsferne des Rundfunks Rechnung getragen. Beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk darf es nach den Vorstellungen des Bundesverfassungsgerichts weder offene politische Kontrolle noch die Steuerung durch den Markt geben. In der Wirklichkeit versuchen Politiker trotzdem, Einfluß auf das Programm zu nehmen. Im übrigen sind dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk die Einschaltquoten nicht gleichgültig. Weil beides eigentlich nicht sein darf, sind die Steuerungswirkungen jedoch erratisch. Oft genug gibt es hier wirklich publizistische Macht ohne Kontrolle.
2. Unrealistische
Verhaltensannahmen
(17) Wer Institutionen beurteilt oder entwirft, braucht Verhaltensannahmen. Er muß im Gedankenexperiment die kritisierte Institution hinwegoder die geplante Institution hinzudenken. Ohne das ausdrücklich zu sagen, geht auch das Bundesverfassungsgericht so vor. Liest man seine Entscheidungen unter diesem Blickwinkel, werden aber eigentümliche Asymmetrien deutlich. Der organisierten Politik mißtraut das Gericht und insistiert auf der Staatsferne der Medien. Den Intendanten öffentlich-rechtlicher Anstalten und ihren Journalisten traut es Uneigennützigkeit sehr weitgehend zu, den privaten Medien dagegen nicht. Es ist keine Rede davon, daß die Journalisten öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten das Medium dafür nutzen könnten, Parlament, Regierung und Parteien im Sinne selbst definierter politischer Ziele zu beeinflussen. Auch 2054
Offene Medienordnung
unterschätzt das Gericht, daß öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten vielfach zwar staatsfern, aber parteinah agieren. Einfluß nehmen die Parteien vor allem über die Personalpolitik. 3. Die veränderte
Wirklichkeit
(18) Das Verfassungsrecht des Rundfunks hat einen historisch überholten Ausgangspunkt. Daran liegt es, daß es auch im einfachen Medienrecht solche Mühe bereitet, sich auf die veränderte Medienwirklichkeit einzustellen. Die wichtigste Veränderung ist quantitativer Natur. Das Medienangebot ist im letzten Jahrzehnt explodiert. Kaum ein Kiosk kann das Angebot an deutschsprachigen Zeitungen und Publikumszeitschriften noch fassen. In Deutschland können rd. fünfzig in- und ausländische Fernsehprogramme empfangen werden. Von den privaten deutschen Programmen sind vierzehn rein werbefinanziert. Im sog. Free TV werden pro Jahr mehr als 12.000 Spielfilme ausgestrahlt. Diese Zahlen werden noch eindrucksvoller, wenn man sie mit europäischen Nachbarländern vergleicht. In Großbritannien gibt es nur sieben aus Werbung finanzierte Programme, in Frankreich nur acht. Im britischen Fernsehen werden pro Jahr nur 2.000 Spielfilme ausgestrahlt, in Frankreich sogar nur 1.200. Das Fernsehgerät ist zu einem elektronischen Kiosk geworden. In Deutschland erreicht kaum eine Sendung mehr als ein Viertel der Zuschauer, selbst eine populäre zumeist viel weniger. Die Chance zur Meinungslenkung ist deshalb viel kleiner geworden als zu einer Zeit, in der drei öffentlich-rechtliche Programme die Welt für sich hatten. Die staatlich angeordnete Pflege der Ausgewogenheit ist entbehrlich geworden. (19) Die Medienwirklichkeit hat sich aber nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ verändert. Die früher zwischen den verschiedenen Medien klar gezogenen Grenzen werden immer durchlässiger. Das Medienverfassungsrecht und weitgehend auch das einfache Medienrecht trennen dagegen zwischen den verschiedenen Medien; insbesondere haben das Presserecht und das Rundfunkrecht ganz unterschiedliche historische Wurzeln. Die Digitalisierung erlaubt dagegen, über ein und denselben Übertragungsweg beliebige Inhalte zu übermitteln. Auch die Vertriebswege verschmelzen. Ein Zeitschriftenaufsatz ist nicht mehr nur im Heft, sondern auch auf einer CD-ROM oder sogar online abrufbar. (20) Durch das Internet verschwimmt auch die klare Trennung zwischen Medienanbietern und ihren Nutzern. Interaktive Medien leben von deren Reaktion. In den Diskussionsforen (chat-groups) „sprechen" die Teilnehmer via Tastatur miteinander. Ein Diskussionsforum funktioniert 2055
Gutachten vom 15./16. Oktober 1999
wie eine elektronische Pinnwand. Eine Adressenliste (mailing list) verbreitet die von einzelnen Teilnehmern angebotenen Nachrichten automatisch an alle anderen Teilnehmer. Vor allem sind die Kosten des Marktzutritts dramatisch gesunken. Für eine eigene Seite im Internet zum Abruf durch beliebige Dritte (Homepage) braucht es nur einen Computer und einen Anschluß. Selbst der Kontrolle durch den Netzanbieter kann man sich ohne großen Aufwand entziehen. Ein Computer für etwa 80.000 D-Mark genügt, um für sich selbst und Dritte unkontrollierten technischen Zugang zum Internet zu schaffen. Die Aufmachung eigener Internetseiten braucht nicht weniger attraktiv zu sein als die großer kommerzieller Anbieter. Denn durch immer mehr Programme wird jedermann in die Lage versetzt, mediale Inhalte professionell zu präsentieren. So wie es aussieht, könnte auch der wichtigste Nachteil des Internet bald beseitigt sein. Bisher reicht die Bandbreite im allgemeinen nicht für die Übertragung bewegter Bilder. Der Engpaß ist vor allem die letzte Meile, also die Verbindung zum häuslichen Computer, die bisher typischerweise über das schmalbandige Telefonnetz läuft. Inzwischen zeichnet sich mehr als eine Möglichkeit ab, diesen Engpaß zu überwinden. Durch all diese Entwicklungen verlieren die Intermediäre ihre privilegierte Stellung. Nicht nur konzentrierte, sondern auch diffuse Minderheiten können sich über das Internet organisieren. An den Parteien und klassischen Medien vorbei können sie politischen und gesellschaftlichen Einfluß nehmen. Damit ist auch praktisch zu rechnen. Die ureigensten Angelegenheiten und Interessen sind vielen Menschen so wichtig, daß sie bereit sind, einen Teil ihrer Freizeit dafür aufzuwenden. Das gilt erst recht, wenn das eigene Anliegen durch eine Weltanschauung überhöht ist. Außerdem ist Kommunikation im Internet billig und einfach. Aus all diesen Gründen bedarf es im Zeitalter des Internet nicht mehr der staatlichen Pflege von Ausgewogenheit. Sie war immer nur ein Surrogat für die fehlende Möglichkeit, das eigene Anliegen selbst zu Gehör zu bringen. (21) Schließlich sei erwähnt, daß das Medienrecht national gedacht ist. Dieser Ausgangspunkt war traditionell gut gesichert: technisch durch die eng begrenzte Reichweite terrestrischer Frequenzen, juristisch durch das staatliche Monopol der Rechtsetzung, kulturell durch die Sprach- und Mentalitätsgrenzen. Der technische Schutz ist entfallen. Die Ausleuchtzone geostationärer Satelliten umfaßt ganz Europa. Die Satelliten werden so im Weltraum piaziert, daß sie wie Spiegel funktionieren. Verbindet man eine Vielzahl niedrig fliegender Satelliten zu einem System, erreichen sie jeden Ort der Welt. Grenzüberschreitende drahtlose Kommunikation kann ein Natio2056
Offene Medienordnung
nalstaat deshalb praktisch gar nicht verhindern. Drahtgebundene Kommunikation könnte eine Regierung nur um den Preis technischer Autarkie kontrollieren. Sie müßte den gesamten grenzüberschreitenden Verkehr über eine kleine Zahl von Leitungen führen, die sie im einzelnen kontrolliert. Nur Singapur und China versuchen das zur Zeit. Selbst solche Diktaturen tun sich mit der Kontrolle schwer. Wer sich staatlicher Kontrolle entziehen will, kann die Signale überdies verschlüsseln. Ja man kann sogar verhindern, daß eine staatliche Behörde feststellt, wer eine (verschlüsselte oder unverschlüsselte) Nachricht gesendet oder empfangen hat. Zu diesem Zweck leitet man die Nachricht über eine (oder besser noch mehrere) Zwischenstationen, sogenannte remailer. Der staatliche Kontrolleur kann dann nur noch feststellen, daß eine Zwischenstation mit einer anderen in Verbindung stand. Eingeschränkt ist auch der juristische Schutz der staatlichen Regulierungshoheit der Medien. Das Regelungsmonopol des Staates ist seit langem durch das Recht der Europäischen Union beschränkt. Völkerrechtliche Verpflichtungen treten hinzu. Wie stabil die Sprach- und Mentalitätsgrenzen im Internet sein werden, ist schwer abzuschätzen.
4. Anachronistische
Überregulierung des Rundfunks
(22) Durch all diese Entwicklungen ist das traditionelle Regulierungsgefälle zwischen dem Rundfunk und den übrigen Medien anachronistisch geworden. Nur der Rundfunk ist intensiv reguliert, die übrigen Medien sind es fast gar nicht. Das gilt besonders für die Presse. Die Sonderbehandlung des Rundfunks erklärt sich aus der Geschichte. Die Freiheit der Presse von staatlicher Bevormundung ist schon im 19. Jahrhundert erkämpft und dann verfassungsrechtlich gesichert worden. Den Rundfunk hat der Staat dagegen bereits kurz nach seiner Erfindung in Obhut genommen. Das war ursprünglich vertretbar, weil als Ubertragungsweg nur die terrestrischen Frequenzen zur Verfügung standen. Ohne Frequenzplanung stören sich solche Sender gegenseitig. Da Deutschland dicht besiedelt ist, hat man auch nicht ernstlich erwogen, nur einige wenige Ballungsräume auf Kosten des umgebenden Landes zu versorgen. Bei flächendeckender Versorgung ergibt sich nur eine kleine Zahl von Senderketten. Man hätte sie zwar nach dem Vorbild Luxemburgs in privater Hand lassen können, dann aber relativ dicht regulieren müssen. Mittlerweile stehen Übertragungswege jedoch in großer Zahl zur Verfügung. Auch die Kosten für die Veranstaltung eines Rundfunkprogramms sind erheblich gesunken. Als letzte konzeptionelle Rückzugslinie bleibt dem Anwalt eines hoch regulierten Rundfunks nur die These von der be2057
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sonderen Eindringlichkeit bewegter Bilder. Dieses Argument allein kann das starke Regelungsgefälle aber nicht rechtfertigen. Es führt unvermeidlich zu einem permanenten juristischen Kampf um den Rundfunkbegriff des Art. 5 I 2 GG und zu immer neuen Umgehungsversuchen.
III. Wirtschaftlicher Wettbewerb und Meinungsvielfalt (23) Im Zentrum der medienpolitischen und medienrechtlichen Diskussion steht die Sorge um Meinungsvielfalt. Dieses Thema wird weitgehend ohne Blick auf die Wirkungen des wirtschaftlichen Wettbewerbs zwischen den Medienunternehmen erörtert. Bei den Richtungsmedien ist jedoch die Frage nach der Meinungsvielfalt gleichbedeutend mit der Frage nach dem Wettbewerb (1). Bei den übrigen Medien ist die kartellrechtliche Gewährleistung des wirtschaftlichen Wettbewerbs zugleich auch das beste Instrument zum Schutz der Meinungsvielfalt (2). Die medienpolitische Diskussion sollte sich deshalb auf die Frage verlagern, ob die Funktionsfähigkeit des wirtschaftlichen Wettbewerbs zwischen den Medienunternehmen gesichert ist (3).
1.
Richtungsmedien
(24) Auch für das Bundesverfassungsgericht ist Meinungsvielfalt das A und O. Es verwendet dafür gelegentlich ökonomische Metaphern und spricht von „Meinungswettbewerb" (BVerfGE 74, 297, 322) und von „vorherrschender Meinungsmacht" (BVerfGE 73,118, 174). Bei den Richtungsmedien ist diese Vorstellung unmittelbar einsichtig. Deren wirtschaftlicher Erfolg hängt direkt davon ab, daß sie eine Nachrichtenauswahl und politische Kommentare mit einer klaren politischen Ausrichtung bieten. Solch ein Medium verkauft Beiträge zur Meinungsbildung. Wirtschaftlicher Wettbewerb und publizistische Botschaft sind deckungsgleich. Eine gute Richtungszeitung nimmt dabei nicht nur auf, was ihre Leser schon zuvor gedacht haben. Vielmehr macht sie ihnen auch Angebote, wie sie ihre Grundauffassungen fortentwickeln können. Den Reaktionen der Leser, im deutlichsten Fall dem Abbestellen der Zeitung, entnimmt die Redaktion dann, ob sie richtig liegt. (25) Der innere Zusammenhang zwischen publizistischer Wirkung und wirtschaftlichem Wettbewerb hat Folgen für die Kontrolle von Richtungsmedien. Sichert das Kartellrecht die Funktionsfähigkeit des wirtschaftlichen Wettbewerbs, schützt es damit zugleich auch die Meinungsvielfalt. Als Rest an publizistischer Problemen bleibt nur die Besorgnis, neue oder abweichende Meinungen könnten aus ökonomischen Grün2058
Offene Medienordnung
den nicht hinreichend zu Gehör kommen. Um dieses Ergebnis zu vermeiden, genügt die konsequente Anwendung des Kartellrechts. Im übrigen können und sollten die vielen Regeln entfallen, mit denen das deutsche Recht Meinungsvielfalt aktiv herstellen will. 2. Andere private
Medien
(26) Echten Richtungsrundfunk gibt es dagegen nicht. Die Gefahren für die Meinungsvielfalt, die von privatem Rundfunk ausgehen, sind nicht etwa größer, sondern kleiner als bei den Richtungsmedien. Auch für die Beherrschung des Restrisikos einer Manipulation der Öffentlichkeit ist funktionsfähiger Wettbewerb besser geeignet als jedes andere institutionelle Arrangement. (27) In Fernsehprogrammen, deren Sendungen im übrigen keine klare politische Richtung erkennen lassen, wird manchmal in einzelnen Sendungen offen Partei ergriffen. Praktisch betrifft das vor allem politische Magazine. Denkbar wäre es auch für Nachrichtensendungen. In diesem Umfang verhalten sich Fernsehsender dann als Richtungsmedien. Das wirft aber kein spezifisches publizistisches Problem auf. Vielmehr fragt sich, ob ein Unternehmen ausreichend vom Wettbewerb kontrolliert wird, wenn es ein Bündel aus einer Vielzahl verschiedener Produkte schnürt; vgl. hierzu Ziffern 36 - 40. (28) Die medienpolitische und die medienrechtliche Diskussion hat sich auf eine andere Frage konzentriert, nämlich die Möglichkeiten nicht offen politischer Medien zur versteckten Einwirkung auf die Meinungsbildung. Theoretisch besteht die Möglichkeit zur Manipulation der Zuschauer selbstverständlich. Es gibt Formen der Meinungslenkung, die schwer wahrzunehmen sind. Um festzustellen, ob ein Sender systematisch bestimmte Nachrichten wegläßt, muß man die Nachrichtenprogramme mehrerer Sender über einen längeren Zeitraum vergleichen. Auch die Bildregie kann als ein wirksames Instrument der Manipulation dienen. Ein Kameramann interpretiert unvermeidlicher Weise. Man kann Bilder retuschieren und virtuelle Realität sehr weitgehend als echte Realität erscheinen lassen. Unsere Sehgewohnheiten haben sich diesen Möglichkeiten noch kaum angepaßt. Was wir mit unseren eigenen Augen sehen, halten wir auch für die Wirklichkeit. Schwerwiegende Sorgen erwachsen daraus freilich nicht notwendigerweise. Wenn der Wettbewerb funktioniert, ist nämlich sehr wenig wahrscheinlich, daß ein bisher unpolitisches Medium von diesen Möglichkeiten systematischen Gebrauch macht. Ein unterhaltendes Medium wird unter Wettbewerbsbedingungen viel eher entpolitisiert als versteckt poli2059
Gutachten vom 15./16. Oktober 1 9 9 9
tisch. Denn Manipulation kann nur kurzfristig verborgen bleiben. Auf Dauer wird sie der politische Gegner aufdecken. Geschieht das, muß der Programmveranstalter befürchten, daß ihm die Zuschauer einer anderen Grundhaltung weglaufen, womöglich auch solche, die Manipulation grundsätzlich ablehnen. (29) Man muß deshalb schon recht spezifische Szenarien entwerfen, will man plausibel machen, warum ein bisher unpolitisches oder ein politisch ausgewogenes privates Medium offen oder versteckt eine einseitige politische Richtung annehmen sollte. Wie ungewöhnlich die Rahmenbedingungen sein müssen, zeigt der am ehesten hierher passende Fall, der mit dem Namen Berlusconi verbunden ist. Die publizistische Gefahr entstand aus der plötzlichen Politisierung zuvor unpolitischer Fernsehprogramme. Das ist für den Veranstalter eine sehr teure Entscheidung. Er verliert die Zuschauer einer dezidiert anderen politischen Grundhaltung nämlich nicht nur bis zur Wahl, sondern vermutlich auf Dauer. Trotzdem kann er ausreichende Anreize haben, diesen Schritt zu tun. Im italienischen Extrembeispiel wollte der Verleger selbst gewählt werden und ließ sich das etwas kosten. Es kann aber auch genügen, daß er hofft, nach gewonnener Wahl medienpolitische Grundentscheidungen zu seinen Gunsten beeinflussen zu können. So hat die Regierung Berlusconi, kaum daß sie etabliert war, den einzigen großen Konkurrenten des Veranstalters Berlusconi, den öffentlich-rechtlichen Veranstalter RAI, unter ihre Gewalt gebracht. Schließlich ist denkbar, daß einem Rundfunkveranstalter ein Wahlsieg des politischen Gegners für die eigenen ökonomischen Interessen so nachteilig erscheint, daß es ihm das Opfer eines merklichen Zuschauerschwunds wert ist. (30) Gewiß bleibt all das dem politischen Gegner nicht verborgen. Es wird ihm aber schwerfallen, darauf wirksam zu reagieren. Insbesondere kann die geschickte Wahl des Zeitpunkts für den Angriff die rechtzeitige Verteidigung fast ausschließen. Der Angreifer kann nämlich damit rechnen, daß es geraume Zeit dauert, bis die Verteidigung greift. Praktisch kommt zur Verteidigung kurz vor einer Wahl nur ein bereits gut eingeführtes Medium in Betracht. Dessen Veranstalter wird aber kaum bereit sein, diese Aufgabe zu übernehmen. Nicht nur der Angreifer, auch der Verteidiger muß willens sein, ein zuvor für jedermann attraktives Medium in ein Richtungsmedium umzuwandeln. Für ihn ist daraus aber möglicherweise viel weniger Nutzen zu erwarten als für den Angreifer. (31) Zur Vorbeugung gegen solche ungewöhnlichen Konstellationen bedarf es keines positiven öffentlich-rechtlichen Rahmens für den privaten Rundfunk. Vielmehr genügt dafür das Recht der Fusionskontrolle. Denn die Chance zur Änderung einer politischen Einzelentscheidung oder 2060
Offene Medienordnung
einer Wahl besteht ja nur dann, wenn attraktive Sendungen viele Zuschauer erreichen können. Die einzig mögliche Vorbeugung besteht also in einer Strukturkontrolle, die verhindert, daß zu viele Zuschauerkontakte von einer Hand ausgenutzt werden können. Genau das tut ein sachgerecht angewendetes Recht der Fusionskontrolle. Eine kartellrechtliche Lösung hätte überdies den Vorzug, die sachlich nicht begründbare Unterscheidung zwischen der Konzentrationskontrolle für den Rundfunk und für andere Medien zu beseitigen. Wenn nämlich wirklich zu viele Rezipientenkontakte von einer Hand genutzt werden können und dies eine Gefahr für Wahlen, Abstimmungen und politische Einzelentscheidungen begründet, dann muß das für alle Medien gelten.
3. Funktionsfähigkeit des wirtschaftlichen Wettbewerbs (32) Mediengesetzgeber, Medienbehörden und Gerichte sollten sich stärker als bisher auf den wirtschaftlichen Wettbewerb als Steuerungsmechanismus verlassen. Gegenstand der rechtspolitischen Diskussion sollte die Frage nach der Funktionsfähigkeit dieses Wettbewerbs sein. Funktionsfähiger Wettbewerb setzt nicht voraus, daß der Markt dem Konstrukt vollständigen Wettbewerbs bei atomistischer Anbieterstruktur entspricht. Vielmehr kommt es nur darauf an, daß die Unternehmen ihre Entscheidungen nicht ohne Rücksicht auf das aktuelle und potentielle Verhalten ihrer Konkurrenten treffen können. Dafür reicht im Regelfall schon eine kleinere Zahl von Anbietern aus. Im folgenden werden drei Aspekte der Zukunftsfähigkeit des MedienWettbewerbs näher diskutiert. Wettbewerbspolitische Fragen ergeben sich aus den Formen, in denen Medien finanziert werden (3.1). Auf vielen Medienmärkten gibt es erhebliche Größen- und Verbundvorteile (3.2). Monopolistische Konkurrenz ist auf Medienmärkten häufig (3.3).
3.1.
Finanzierung der Medien
(33) Medien werden auf sehr unterschiedliche Arten finanziert. Wettbewerbspolitische Fragen werfen die Bündelung einzelner Sendungen oder Programme zu Paketen auf (a) und die indirekte Finanzierung von Medien durch Werbung (b). (34) Die ökonomisch reine Lösung wäre, jede Sendung einzeln abzurechnen, also der elektronische Abruf einzelner Sendungen gegen Entgelt. Bezahlfernsehen, Pay per view, gibt es in Deutschland aber bisher nicht. Premiere und DF 1 (Digitales Fernsehen 1), neuerdings zu Premiere World zusammengeschlossen, haben zwar Premium-Angebote. Auf sie kann 2061
Gutachten vom 15./16. Oktober 1 9 9 9
aber nur zugreifen, wer das Grundpaket abonniert hat. Er muß also das ganze Bündel an Sendungen abnehmen. Auch Abonnement-Fernsehen hat nur einen vergleichsweise kleinen Marktanteil. Praktisch bedeutsam ist bisher nur Premiere. Dieses Programm hat gut zwei Millionen Abonnenten. Das ist nicht viel bei mehr als 3 0 Millionen Fernsehhaushalten. Die übrigen privaten Fernsehsender finanzieren sich ausschließlich indirekt, und ihre mit Abstand wichtigste Einnahmequelle ist Werbung. Dieser Zustand ist offensichtlich auch nicht leicht zu ändern. Der Musiksender M T V war mit weitem Abstand Marktführer. Seinen Versuch, das Programm zu verschlüsseln und Abonnements zu vertreiben, hat er jedoch als gescheitert aufgegeben. Die ausschließlich indirekte Finanzierung gibt es mit den Anzeigenblättern auch bei den Print-Medien. Üblich ist bei den Publikumszeitungen und -Zeitschriften aber die Mischfinanzierung aus Vertriebserlösen und Werbung. Als Daumenregel gelten zwei Drittel Werbeerlöse. Auch im Internet sind viele kommerzielle Inhalte über Werbung finanziert. Eine weitere Erlösquelle sind die sogenannten Cookies. M i t diesem Begriff werden Informationen bezeichnet, die beim Abruf einer Internet-Seite auf dem Computer des Nutzers gespeichert werden. Sie erlauben exakten Aufschluß über das Nutzungsverhalten und liefern damit Daten für Marktforschung und Direktmarketing, die sich verkaufen lassen. Eine dritte Form der indirekten Finanzierung zeigt sich an den Browsern, also den Programmen, die einen bequemen Zutritt zum Internet eröffnen. Die Anbieter verschenken diese Programme an die Nutzer. Sie verdienen ihr Geld mit dem Verkauf komplementärer Programme an die Anbieter von Inhalten und Waren. Diese Programme erlauben es, Inhalte so zu präsentieren, daß sie bei der Nutzung des jeweiligen Browsers optimal zur Geltung kommen. (35) Einer der wichtigsten Gründe für die indirekte Finanzierung von privatem Rundfunk ist das Medienrecht. Es hat den öffentlich-rechtlichen Rundfunk stark gemacht. Er bietet ein Programm, das auch für den Geschmack des breiten Publikums attraktiv ist. Die Bereitschaft für einzelne Fernsehsendungen oder ein Abonnement direkt zu bezahlen, ist deshalb nicht hoch. Außerdem schreibt der Rundfunkstaatsvertrag vor, daß Fernsehsendungen nur in Blöcken und höchstens alle 2 0 Minuten einmal unterbrochen werden dürfen. Dadurch sind auch werbefinanzierte Sendungen für die Zuschauer so attraktiv, daß diese kaum ein Interesse daran haben, sich im Abonnement-Fernsehen von der Werbung gleichsam freizukaufen. Abonnement-Fernsehen ist in Deutschland deshalb auf wenige hochattraktive Inhalte beschränkt. Selbst die etwa 3 Prozent der Haushalte, die Premiere überhaupt abonniert haben, verwenden 2062
Offene Medienordnung
den größten Teil ihrer täglichen Fernsehzeit auf Sendungen, die von Werbung unterbrochen werden.
a)
Bündelung
( 3 6 ) Die Bündelung einzelner Sendungen zu Programmen ist eine Antwort der M ä r k t e auf Besonderheiten der gehandelten Güter. Ursprünglich gab es bereits technisch gar keine andere Möglichkeit. Terrestrisch ausgestrahlte Signale kann jeder empfangen, auch verbraucht sich das Signal nicht dadurch, daß es von einer Person empfangen wird. Es gibt keine Verfügungsrechte daran. Mittlerweile ist das technische Problem bewältigt. Der Veranstalter könnte Fernsehsendungen verschlüsseln und für den Empfang Dekoder vertreiben. Die Umstellung auf diese Lösung wäre allerdings heute noch mit erheblichen Kosten verbunden. Sie werden möglicherweise tragbar, wenn sich die Anbieter auf einen gemeinsamen Standard einigen und wenn längere Übergangsfristen festgelegt werden, damit in Betrieb befindliche Geräte nicht unmittelbar entwertet werden. Beim Hörfunk dürfte sich die Dekoderlösung auch so in absehbarer Zeit nicht lohnen und durchsetzen. Die Produktionskosten sind im Vergleich zur Einsetzung und Durchsetzung eines Dekodersystems zu hoch. (37) Kostspielig ist nicht nur die Begründung von Verfügungsrechten, sondern auch der Handel mit ihnen. Beim Abonnement-Fernsehen fallen diese Transaktionskosten nicht ins Gewicht. Wenn der Händler ein Abonnement für vierzig D - M a r k im M o n a t vertreiben kann, schreibt er gern einen Vertrag, liefert sogar den Dekoder ins Haus und überwacht den Zahlungseingang. Für den Vertrieb einer einzelnen Sendung kann der Veranstalter diesen Aufwand einstweilen jedoch nicht treiben. Er würde regelmäßig den erzielbaren Preis der Leistung weit übersteigen. Außerdem wäre dieses Verfahren viel zu schwerfällig. Bei den meisten Inhalten möchte sich ein Zuschauer nicht Tage vorher entscheiden. Das Problem wird sich aber erledigen, sobald die Trennung zwischen Netzen für die Individual- und für die Massenkommunikation aufgehoben ist. Dies wird wahrscheinlich durch asymmetrische Netze geschehen, die zum Endverbraucher hin eine höhere Bandbreite haben als für den R ü c k kanal. Dieser R ü c k k a n a l kann dann für die Anforderung von Einzelsendungen, vielleicht auch für die Bezahlung genutzt werden. (38) Die Bündelung entspricht oft fragen viele von ihnen nicht bloß Vorhinein genau definierte Inhalte Zugriffsmöglichkeit haben, wenn
den Präferenzen der Nachfrager. So den Zugriff auf ganz bestimmte, im nach. Vielmehr wollen sie auch die ihnen eines Tages der Sinn danach 2063
Gutachten vom 15./16. Oktober 1999
steht. Besonders ausgeprägt ist dieser Wunsch in bezug auf die Nachrichtenmedien. Die Leser und Zuschauer wollen nicht erst einen Vertrag schließen, wenn im Einzelfall ein Ereignis ihr Interesse erregt. Vielmehr erwarten sie, dann in den Nachrichten der Vollprogramme und Zeitungen oder in speziellen Nachrichtenkanälen versorgt zu werden. Das kann man als einen Optionsvertrag interpretieren. (39) Praktisch noch bedeutsamer ist der Wunsch vieler Mediennutzer nach der Intermediationsleistung der Veranstalter. Sie besteht in der Auswahl und der Bündelung von Programminhalten. Die Nutzer empfinden das nicht als Nachteil, sondern im Gegenteil als Vorzug. Das klassische Beispiel ist die Tageszeitung. In einer normalen Zeitung erscheinen weniger als fünf Prozent der täglichen Agenturmeldungen. Der Mantelteil vieler Lokalzeitungen besteht praktisch ausschließlich aus solchen Meldungen. Die journalistische Leistung der Redaktion besteht insoweit allein in einer Auswahl, die den Wünschen der Abonnenten entspricht. Weil dem so ist, fragen die Leser wirklich eine Zeitung nach und nicht die einzelnen dort aufgeführten Nachrichten. Hieraus erklärt sich, warum die Fernsehveranstalter bereit sind, so hohe Aufwendungen für den Aufbau einer Marke zu treiben. So sind die Senderechte für Fußballspiele der Bundesliga oder gar Länderspiele mittlerweile so teuer, daß sie durch Werbung im unmittelbaren Umfeld dieser Sendungen nicht mehr zu finanzieren sind. Die privaten Veranstalter halten an diesem Zuschußgeschäft trotzdem fest, weil es der Markenpflege dient. Das ist durchaus rational. Denn der Veranstalter würde diese kostspielige Marke riskieren, wenn er plötzlich Sendungen ausstrahlte, die an den Wünschen seiner Zuschauer vorbeigehen. Die teure Marke ist also das glaubwürdige Signal dafür, daß er seiner Aufgabe als Informationsintermediär weiterhin gerecht werden wird. Durch all diese Eigenheiten ähnelt ein Rundfunkprogramm oder eine Tageszeitung einem Einzelhandelsunternehmen, das ein Sortiment auswählt und vorhält. (40) Bündelung ist allerdings nicht in jedem Fall wettbewerbspolitisch unproblematisch. Der Nutzer kann nur über den Erwerb des gesamten Bündels entscheiden, nicht einzeln über dessen Bestandteile. Die Bündelung kann daher im Einzelfall auch strategisch als Instrument des Verdrängungswettbewerbs eingesetzt werden, um eine marktbeherrschende Stellung zu begründen oder auszubauen. Dieser Umstand hat vor allem im Verhältnis zu den vorgelagerten Märkten Bedeutung, auf denen die Senderechte für Inhalte gehandelt werden. Ein anschauliches Beispiel stammt aus der Vereinigten Königreich. Die dortige Kartellkontrolle (Monopolies and Mergers Commission) hatte sich mit dem Erwerb von Manchester United durch den Verleger Murdoch zu befassen. Durch den 2064
Offene Medienordnung
Erwerb erhielt Murdoch exklusiven Zugriff auf besonders attraktive Sportsendungen. Aber in dieser Hinsicht unterscheiden sich Medienunternehmen nicht von anderen Unternehmen und sind daher der Kontrolle durch das Kartellrecht zugänglich.
b) Indirekte Finanzierung (41) Die indirekte Finanzierung durch Werbung ist eine Reaktion der Märkte auf die geschilderten Besonderheiten der Mediengüter. Denn über die Sendefolge kann der Veranstalter exklusiv disponieren. Die Bereitschaft, Werbebotschaften auszustrahlen, kann er sich also bezahlen lassen. Er braucht nur mit den wenigen Werbekunden Verträge über die Einfügung von Werbebotschaften in das Programm zu schließen, nicht dagegen mit jedem Zuschauer einen Vertrag über die Nutzung des Programms. (42) Ökonomisch ist auch die Finanzierung durch Werbung eine Form der Bündelung. Der Zuschauer erhält zugleich den Inhalt des Programms und Werbung. Damit verändert sich die unternehmerische Zielsetzung. Primäre Aufgabe ist es nicht mehr, Inhalte zu produzieren, sondern Werbung. Am Markt wird das Medium danach bewertet, ob es ein attraktives Umfeld für die Plazierung von Werbebotschaften darstellt. Das heißt nicht, daß das Medium an den Wünschen der Leser oder Zuschauer einfach vorbeigehen könnte. Denn die verkaufte Auflage der Zeitungen oder die Einschaltquoten der elektronischen Medien entscheiden auch über die Höhe der Werbeerlöse. Der Preis für Werbeeinblendungen richtet sich nämlich danach, wieviele Hörer oder Zuschauer eine Sendung erreicht. Diese haben aber nur einen indirekten Einfluß auf den Inhalt des Programms. Dabei kann es durchaus zu Auswüchsen kommen. Die Veranstalter widerstehen manchmal nicht der Versuchung, die Trennung von Werbung und Programm aufzuheben. Dann werden Markenartikel in einer Weise piaziert, die deren Nachfrage steigern soll. Manchmal nimmt das Werbefernsehen auch Einfluß auf den Charakter des Ereignisses, über das es berichtet. So haben viele Sportverbände in den vergangenen Jahren ihre Regeln so geändert, daß Werbeunterbrechungen weniger stören und das, was darin geboten wird, mehr Aufmerksamkeit erhält. Auch zur Verhinderung solcher Mißbräuche ist das Kartellrecht geeignet, ggf. in Verbindung mit dem Lauterkeitsrecht. Eigene publizistische Regeln werden dafür nicht gebraucht. Manche Effekte der Werbefinanzierung sind publizistisch sogar eher erwünscht. Die Abwanderungskosten sind bei indirekter Finanzierung denkbar gering. Die Meinungslenkung fällt dem Betreiber eines werbe2065
Gutachten vom 1 5 . / 1 6 . O k t o b e r 1 9 9 9
finanzierten Programms deshalb viel schwerer als bei der Finanzierung über Abonnements. Außerdem kann jedermann werbefinanzierte Programme nutzen, unabhängig von seiner Zahlungsbereitschaft. Er hat gleichsam automatisch Zugriff auf die Gesamtheit der in diesen Programmen verbreiteten Informationen.
3.2.
Größen- und
Verbundvorteile
(43) Die relativ hohe Konzentration auf den Rundfunkmärkten ist zunächst und vor allem die Folge der Dominanz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Viele Medienmärkte sind aber zugleich von erheblichen Größen- und Verbundvorteilen gekennzeichnet. Der wichtigste Grund liegt gerade in der Bündelung einzelner Nachrichten und Sendungen zu ganzen Zeitungen oder Programmen. Das Problem ist auf lokalen und regionalen Märkten besonders akut. Die meisten Landkreise sind Ein-Zeitungskreise. Oft sind auf mittlere Frist zugleich die Bedingungen für ein natürliches Monopol erfüllt. Dann kann ein einziger Anbieter billiger anbieten als es mehrere könnten. Die Zahlungsbereitschaft der gesamten Nachfrage deckt nur die Kosten für eine einzige Tageszeitung. Aber auch wo es an sich für eine zweite Zeitung reichen würde, setzt vielfach ein Konzentrationsprozeß ein. Denn die Erstzeitung genügt den meisten Unternehmen als Werbeträger. Über kurz oder lang wird die Zweitzeitung zum Aufgeben gezwungen. Regelmäßig endet der Wettbewerb mit der Fusion beider Zeitungen. (44) Größenvorteile finden sich aber auch auf vielen überregionalen Medienmärkten. Denn größere Anbieter sind besser imstande, Risiken zu streuen. Diese Risiken sind auf den Medienmärkten relativ hoch. Es fällt der Branche ausgesprochen schwer, den Erfolg von Unterhaltungsfilmen vorherzusagen. So wird im Durchschnitt nur einer von vier HollywoodFilmen ein Publikumserfolg. Dieser Umstand schlägt auf den Absatz von Rechten für die Fernsehausstrahlung durch. Die Filmstudios sind normalerweise nicht bereit, Ausstrahlungsrechte für einzelne attraktive Filme zu vergeben. Vielmehr kann ein Fernsehveranstalter bisher regelmäßig nur zwischen einem Output-Deal und dem Recht zur Ausstrahlung der gesamten Library wählen. Im ersten Fall verpflichtet er sich für einen längeren Zeitraum zur Abnahme sämtlicher Neuproduktionen. Im zweiten Fall erwirbt er das Ausstrahlungsrecht für den gesamten Filmbestand des Studios. (45) Größe kann schließlich die Entstehung und Diffusion von Innovation erleichtern. Dieser Umstand spielt vor allem bei der Umstellung auf die digitale Übertragung von Fernsehsignalen eine Rolle. Diese Technik 2066
Offene Medienordnung
ist kommerziell vor allem deshalb attraktiv, weil digitale Signale komprimiert werden können. Ein komprimiertes Fernsehprogramm braucht deshalb nur etwa ein Zehntel der Bandbreite, die bei analoger Übertragung benötigt wird. Damit stehen künftig zehnmal so viele Übertragungswege zur Verfügung. Die Fernsehgeräte sind bisher nur auf den Empfang analoger Signale eingerichtet. Für eine lange Übergangszeit ist das digitale Fernsehen deshalb auf Dekoder angewiesen, die eingehende digitale Signale in analoge Signale umwandeln, die das Empfangsgerät verarbeiten kann. Hinzu kommen die Investitionen in die digitale Aufnahme- und Übermittlungstechnik. Diese hohen Kosten sind bedeutsam, weil sich digitales Fernsehen nur dann am Markt durchsetzen wird, wenn eine ausreichend hohe Anzahl von Haushalten bereit ist, einen Dekoder mit einem bestimmten technischen Standard zu erwerben. Einen Wettbewerb verschiedener Standards könnte die Rechtsordnung zwar verhindern, indem sie einen Standard zwingend vorschreibt. Damit ist er aber noch nicht am Markt eingeführt. Hieraus erklärt sich, warum ein Anbieter vorab eine Million Dekoder erworben hat. Er hat sich damit zumindest gegenüber den Anbietern geeigneter Hard- und Software glaubwürdig darauf festgelegt, diese Technik am Markt auch einzuführen; ob die Rechnung aufgehen wird, bleibt abzuwarten. Solche Investitionen können nur wenige, sehr große Unternehmen finanzieren. 3.3.
Monopolistische
Konkurrenz
(46) Auf dem Medienmarkt ist Produktdifferenzierung allgegenwärtig. Dafür sind die unterschiedlichen Vorlieben der Zuschauer verantwortlich. So sind Nachrichtensender wie η-tv und Musiksender wie M T V entstanden. Produktdifferenzierung führt zu monopolistischer Konkurrenz mit einem Konflikt zwischen Vielfalt und Größe. Je differenzierter die Anbieter den Wünschen der Zuschauer entsprechen, desto kleiner werden die angebotenen Mengen und desto weniger können Größenund Verbundvorteile ausgenutzt werden. Der Konflikt zwischen Vielfalt und Größe ist jedoch weder branchenspezifisch noch ist die Marktform der monopolistische Konkurrenz ein prinzipieller Grund für eine Intervention der Rechtsordnung. Vielmehr ist das bestehende Kartellrecht ausreichend, um marktbeherrschende Stellungen zu verhindern. Der dezentral agierende Markt ist viel besser als jeder zentrale Regulator imstande, hier den richtigen Ausgleich der widerstreitenden Belange herzustellen. Diese Zurückhaltung ist wettbewerbspolitisch erträglich, weil die Anbieter in monopolistischen Konkurrenzsituationen gerade nicht unkontrolliert agieren können. So haben ursprüngliche Nischenanbieter 2067
Gutachten vom 15./16. Oktober 1999
wie MTV in VIVA schnell Konkurrenz bekommen, als sie erfolgreich und größer geworden waren.
IV. Anwendung des Kartellrechts (47) Es gibt keine prinzipiellen Einwände gegen die Bündelung einzelner Inhalte zu Paketen oder gegen die indirekte Finanzierung der Medien durch Werbung. Soweit diese Instrumente aber strategisch eingesetzt werden, um eine marktbeherrschende Stellung zu gewinnen oder auszunutzen, ist das Kartellrecht aufgerufen. Im übrigen wird es auch dort gebraucht, wo sich Medienunternehmen der gleichen wettbewerbsbeschränkenden Verhaltensweisen bedienen, die auf anderen Märkten anzutreffen sind. Dazu bedarf es keines branchenspezifischen Kartellrechts. Es genügen vielmehr die allgemeinen Instrumente des Kartellrechts. Die Besonderheiten der Medienmärkte können bei der Anwendung dieser Regeln berücksichtigt werden. Der näheren Erörterung bedarf die Abgrenzung des sachlich relevanten Markts (1), die Anwendung der Mißbrauchskontrolle (2) und der Fusionskontrolle auf den Medienmärkten (3).
1. Sachlich relevanter
Markt
(48) Die Abgrenzung des sachlich relevanten Markts ist auch auf den Medienmärkten nicht einfach. Weil es fast immer um Substitutionskonkurrenz geht, muß die Kartellrechtsanwendung einen geeigneten Mittelweg zwischen zwei Extremen finden. Es macht wenig Sinn, jede einzelne Nachricht oder jedes einzelne Programm als eigenen Markt zu begreifen. Andererseits können die Märkte auch nicht beliebig weit abgegrenzt werden, soll das Kartellrecht nicht wirkungslos werden. Selbst ein hoher Marktanteil auf einem vernünftig abgegrenzten Markt läßt aber nicht ohne weiteres den Schluß auf Marktbeherrschung zu. Vielmehr ist der Wettbewerbsdruck angemessen zu gewichten, der von entfernteren Substituten ausgeht. (49) Das Kartellrecht sollte auch die Beziehungen werbefinanzierter Medien zu den Nutzern als einen relevanten Markt begreifen. Der Zuschauermarkt ist ein Markt. Hier fließen zwar keine direkten Zahlungen, die Zuschauer treffen aber sehr wohl ökonomische Entscheidungen. Sie wägen ab zwischen verschiedenen Programmen und zwischen Fernsehen und anderen Tätigkeiten. Seit der Einführung privaten Fernsehens hat sich die durchschnittliche tägliche Sehdauer viel weniger erhöht als das Angebot an Sendungen. Vor allem entscheiden Auflagenhöhe und 2068
Offene Medienordnung
Einschaltquote aber über die Höhe der Werbeeinnahmen. Die Medienveranstalter konkurrieren deshalb aus wirtschaftlichen Gründen um die Gunst der Zuschauer, die gleichsam bezahlen mit ihrer Bereitschaft, Werbung auf sich wirken zu lassen. Erst die Anwendung des Kartellrechts auf den Zuschauermarkt erlaubt, die Wettbewerbsbeziehungen zwischen öffentlich-rechtlichem und privatem Fernsehen kartellrechtlich angemessen zu erfassen. Denn die öffentlich-rechtlichen Programme sind ja nur zum Teil Konkurrenten der privaten Veranstalter auf den Werbemärkten. Nach 20.00 Uhr und an Sonntagen darf im öffentlich-rechtlichen Fernsehen keine Werbung ausgestrahlt werden. Der Zuschauermarkt wird außerdem gebraucht, um den Wettbewerbsdruck angemessen zu erfassen, der von unentgeltlichen Inhalten im Internet auf die klassischen Medien ausgeht. Einen Markt, an dem keine Leistung gegen Geld getauscht wird, als einen relevanten Markt im Sinne des Kartellrechts anzuerkennen, ist keine medienspezifische Besonderheit oder gar ein Bruch mit kartellrechtlichen Traditionen. Vielmehr stellen sich etwa auf den Märkten für Arzneimittel ganz ähnliche Fragen. Dort wird diskutiert, ob die Marktmacht eines Anbieters an seinen Anteilen am Gesamtumsatz gemessen werden soll oder an seinem Anteil an der „daily dose". Die Frage nach der daily dose ist aufgekommen, weil die Hersteller von Nachahmerprodukten zu sehr viel niedrigeren Preisen anbieten und weil der Kassenpatient selbst gar keine Kaufentscheidung trifft. Man kann sie nur beantworten, wenn man unmittelbar auf das Verhalten der Patienten blickt, nicht auf die in Geldeinheiten gemessenen Marktanteile.
2.
Mißbraucbsaufsicht
(50) Die kartellrechtliche Mißbrauchsaufsicht ist das Instrument, mit dem die Rechtsordnung verhindern kann, daß Bündelung und indirekte Finanzierung in strategischer Absicht mißbraucht werden (Ziff. 40). Mit dem gleichen Instrument kann man auch einschreiten, wenn ein Medienunternehmen seine aus Größe, Integration oder Spezialisierung erwachsene Marktmacht mißbraucht; vgl. Ziffern 4 3 - 4 6 . Praktische Bedeutung hat vor allem das Verhältnis zu vor- oder nachgelagerten Märkten. Mißbraucht der marktbeherrschende Anbieter eines Bündels bestimmter Inhalte diese Position, können sich die Anbieter der Inhalte auf die Mißbrauchs- und Behinderungsverbote der §§ 19 und 2 0 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) berufen. Nach dem mit der letzten Novelle neu geschaffenen § 19 IV Nr. 4 GWB besteht grundsätzlich ein Zugangsanspruch zu Infrastruktureinrichtungen. Unter diesen 2069
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Begriff kann man einen elektronischen Programmführer und eine sogenannte elektronische Plattform fassen. Als Plattform bezeichnet die Medienbranche eine Benutzeroberfläche nach Art von DF 1. Ihre Aufgabe ist es, den technischen Zugang zu einer Vielzahl von Programmen und anderen elektronischen Inhalten zu eröffnen. 3.
Fusionskontrolle
(51) Folgt das Kartellrecht den Empfehlungen zur Marktabgrenzung (Ziff. 49), werden die Unterschiede zur Medienkonzentrationskontrolle nach dem Rundfunkstaatsvertrag gering. Nach diesen Regeln darf kein Unternehmen selbst oder durch von ihm abhängige Unternehmen einen Zuschaueranteil von mehr als 30 Prozent erreichen. Überschreitet es diese Marke, wird keine neue Rundfunkzulassung erteilt. Der Erwerb von Anteilen an einem weiteren Rundfunkveranstalter wird nicht genehmigt. Wenn das Kartellrecht den Zuschauermarkt als sachlich relevanten Markt anerkennt, unterscheidet sich die Marktabgrenzung kaum noch. Wenn überhaupt Unterschiede zum bisherigen Recht der Medienkonzentrationskontrolle bestehen, dann insofern, als das Kartellrecht die Märkte sogar enger abgrenzt. Ein Beispiel sind die Programme für Zuschauer mit speziellen Interessen. Solch ein enger abgegrenzter Markt ist kleiner. Der Erwerb zusätzlicher Anteile führt also eher zu Marktbeherrschung. Das Kartellrecht ist strenger als das Recht der Medienkonzentrationskontrolle. Auch zwischen den Zurechnungsregeln des Rundfunkstaatsvertrags und dem Zusammenschlußbegriff der Fusionskontrolle besteht ein enger Zusammenhang. Insbesondere ist in beiden Fällen kein Mehrheitserwerb erforderlich, sondern der Erwerb einer Minderheit von 25 Prozent der Anteile ausreichend. (52) Einen gewichtigen Unterschied gibt es scheinbar bei der Eingreifschwelle. Die Fusionskontrolle verlangt Marktbeherrschung, dem Recht der Medienkonzentrationskontrolle genügt ein Zuschaueranteil von 30 Prozent. Er führt jedoch nicht dazu, daß bei konsequenter Anwendung des Kartellrechts eine Lücke bliebe, die mit einer eigenen publizistischen Medienkonzentrationskontrolle gefüllt werden müßte. Auch eine branchenspezifische Änderung des Kartellrechts ist nicht angezeigt. Nach § 19 III 1 GWB wird Marktbeherrschung vermutet, wenn ein Unternehmen einen Marktanteil von 33 Prozent hat. Dem Katalog der Regelbeispiele in § 19 II Nr. 2 GWB ist zu entnehmen, wie vielfältige Einflüsse jenseits des Marktanteils zusätzlich in das kartellrechtliche Urteil über Marktbeherrschung einfließen. Dazu zählen insbesondere die 2070
Offene Medienordnung
Schranken für den Marktzutritt anderer Unternehmen, das Ausmaß des aktuellen und potentiellen Wettbewerbs und die Umstellungsflexibilität der aktuellen Anbieter. Auf diesem Wege kann das Kartellrecht auf die Besonderheiten der Vermachtung von Medienmärkten angemessen reagieren. Nur wo die wirtschaftliche Vermachtung droht, erweisen sich publizistische Besorgnisse als berechtigt. Das gilt auch für die am Beispiel von Berlusconi aufgezeigte Möglichkeit zur plötzlichen Politisierung bisher unpolitischer Medien (Ziff. 2 9 f.). Hinter diesen scheinbar rein politischen Zusammenhängen steht nämlich ein ökonomisches Problem, das Gegenstand des Kartellrecht ist. Die Chance zum plötzlichen Angriff hat ein Medium nur, wenn die Zuschauer ihrem gewohnten Sender in verhältnismäßig hohem Maße treu sind. Kaum ein Zuschauer sieht zwar ausschließlich Sendungen eines bestimmten Veranstalters. Wohl lassen sich die Zuschauer bei ihrer Wahl aber von der in der Vergangenheit erworbenen Reputation der Sender leiten. Je stärker sich die Fernsehlandschaft ausdifferenziert, desto bedeutsamer wird dieses Phänomen. Trägheitseffekte solcher Art schützen den Veranstalter ein erhebliches Stück vor aktuellem Wettbewerb. Weil neue Unternehmen wissen, wie lange es dauert und wie teuer es ist, sich eine Kundenbindung aufzubauen, zögern sie mit dem Markteintritt. Schließlich kann der potentielle Verteidiger aus diesem Grunde sein eigenes Produkt auch nicht schlagartig umstellen. All das sind aber Gesichtspunkte, deren Berücksichtigung § 19 II Nr. 2 G W B bei der Beurteilung der Marktbeherrschung ausdrücklich vorschreibt. (53) Daß sich die Anliegen des Medienrechts im wesentlichen erledigen, wenn man das Kartellrecht konsequent anwendet, ist kein zufälliger Effekt. Dadurch wird dem Kartellrecht auch nicht etwa eine Aufgabe anvertraut, die im Widerspruch zu seinen eigenen Zwecken stünde. Denn das deutsche Kartellrecht schützt unmittelbar die Freiheit des Wettbewerbs, ist mittelbar indes immer auch gegen politische Macht gerichtet, soweit diese die Folge ökonomischer Macht ist. Genauso liegt es hier.
V. Meritorische Mediengüter (54) Das Bundesverfassungsgericht sorgt sich nicht nur um politische Ausgewogenheit, sondern auch um die Breite der dargestellten Inhalte. In einem gewissen Spannungsverhältnis dazu steht die Sorge des Gerichts um die Integration von Staat und Gesellschaft. In der medienpolitischen Diskussion ist aus beidem manche Übertreibung abgeleitet worden. Paternalismus ist hier ebenso wenig gerechtfertigt wie sonst auch. Wenn 2071
Gutachten vom 15./16. Oktober 1999
sich die Zuschauer vom Fernsehen vornehmlich unterhalten lassen wollen, ist das nicht ehrenrührig. Begründen läßt sich dagegen, daß der demokratisch gewählte Gesetzgeber Maßnahmen zur Förderung der einheitsstiftenden Kultur und damit des gesellschaftlichen Zusammenhalts trifft.
1. Das Ziel der Integration (55) Für den Erhalt der Gesellschaft ist von entscheidender Bedeutung, daß der einzelne die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens und die ihnen zugrunde liegenden gemeinsamen Werte lernt und annimmt. Werte geben Orientierung und erleichtern Entscheidung. Sie werden vermittelt über Erziehung, Sozialisation und Enkulturation. Öffentlicher Diskurs und die Medien wirken an dieser Integrationsaufgabe mit. Auch in einer Gesellschaft, die offen ist für kulturelle Veränderung, gibt es ein gemeinsames Interesse, die Kenntnis des kulturellen Erbes zu erhalten. Der gemeinsame Kulturrahmen fördert den gesellschaftlichen Zusammenhalt. (56) Aus dem öffentlichen Interesse an dem Erhalt eines gemeinsamen Kulturrahmens leitet sich die doppelte Aufgabe der Kulturpolitik her, einerseits das Erbe zu pflegen, andererseits kulturelle Fortentwicklung zu fördern. Aus dem Sachverhalt eines öffentlichen Interesses folgt dagegen nicht unmittelbar, daß auch die Ausführung dieser Aufgaben von öffentlich-rechtlichen Institutionen wahrgenommen werden müßte. Tatsächlich werden kulturelle Leistungen in erheblichem Maße von privaten Anbietern erbracht. Aber der Staat leistet in Deutschland wie auch in anderen Ländern traditionell ebenfalls einen großen Beitrag zur Pflege der Hochkultur, beispielsweise durch die Unterhaltung von Museen, Kunstausstellungshallen, Schauspiel- und Opernhäusern. Kultur wird als ein meritorisches Gut angesehen, das heißt als ein Gut, das in größerem Umfang angeboten werden sollte, als der Markt das leisten kann. Der Umfang des Marktangebots wird durch die Zahlungsbereitschaft für die Inanspruchnahme kultureller Leistungen begrenzt. Die private Zahlungsbereitschaft für die Nutzung kultureller Angebote wird in allen Staaten als zu gering angesehen. Das ist ein Werturteil. Dessen Akzeptanz rechtfertigt es, Kulturangebote zu subventionieren oder sie in staatlicher Regie, wie dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, zu produzieren. (57) Auch die Vielfalt des Angebots und die Berücksichtigung von Minderheiten werden vielfach als meritorische Güter betrachtet. Im am Markt finanzierten Fernsehen lassen sich manche Anliegen nicht durch eigene Programme berücksichtigen, weil die Anzahl der hinter ihnen ste2072
Offene Medienordnung
henden Nachfrager zu klein und die Kosten pro Kopf zu hoch sind. Allerdings ist zu unterscheiden zwischen den Berichten über Minderheiten und der Artikulation von Minderheiten. Das Berichten über Minderheiten wird in einem wettbewerblichen System des Medienangebots automatisch seinen Platz finden. Solche Berichte sind für das Publikum oft sehr attraktiv. Schwierigkeiten bereitet dagegen die Vorstellung, der öffentlich-rechtliche Rundfunk trage darüber hinaus zum Minderheitenschutz bei, indem er den Betroffenen selbst Gelegenheit zur Artikulation und Verbreitung ihrer Vorstellungen gibt. Allerdings gibt es im Zeitalter des Internet auch ohne Beteiligung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks für jede Gruppe die Möglichkeit, sich öffentlich zu artikulieren. Sobald breitbandige Internet-Angebote die Haushalte erreichen, ist auch der wichtigste publizistische Nachteil dieses Mediums beseitigt. Der Staat könnte in den Aufbau allgemeiner Medienkompetenz im Rahmen der Bildungseinrichtungen investieren. Mit dem Programm „Schulen ans Netz" ist der Anfang bereits gemacht. Diese Lösung hat den großen Vorzug, daß auch Minderheiten und sozial schwache Personen mit ihren Anliegen selbst zu Wort kommen und nicht nur stellvertretend in staatlich alimentierten Programmen berücksichtigt werden. Ein weitergehender Anspruch von Minderheiten läßt sich nicht begründen. Es kann nicht Aufgabe des Staates sein, einer Minderheit eine aufmerksame Zuhörerschaft zu verschaffen. Schon die Festlegung von Verfahren und Kriterien der Auswahl von solcherart zu privilegierenden Gruppen würde die staatlichen Instanzen überfordern.
2. Begrenzung des öffentlich-rechtlichen
Rundfunks
(58) Kein Anliegen ist in der medienpolitischen und medienrechtlichen Diskussion so übertrieben und so freiheitsfeindlich instrumentalisiert worden wie das Integrationsziel. Gegenwärtig bietet der öffentlich-rechtliche Rundfunk sehr viel mehr Leistungen an als durch seine kulturellen Aufgaben legitimiert ist. Die öffentlich-rechtlichen Anstalten setzen auf Programmexpansion, die dann höhere Gebühren rechtfertigen soll. Gleichzeitig schreitet im Kampf um Einschaltquoten die Selbstkommerzialisierung der öffentlich-rechtlichen Programme weiter voran. Die Rundfunkgebühren, die gegenwärtig mehr als 9 Mrd. DM betragen, wirken sich im Wettbewerb mit den privaten Veranstaltern wettbewerbsverfälschend aus. (59) Um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk auf seine Kernaufgaben zu begrenzen, kommen die folgenden Mittel in Betracht: 2073
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Die Werbefinanzierung der öffentlich-rechtlichen Anstalten sollte beendet werden. Sie verfälscht nur den Wettbewerb mit den privaten Anbietern.
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Die Gebührenpolitik, einschließlich der Kontrolle durch die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs (KEF), sollte sich an der legitimen Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks orientieren. Das Gebührenaufkommen kann dann nachhaltig reduziert werden.
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Wettbewerbsverfälschenden Wirkungen der Gebührenfinanzierung kann mit den Beihilfevorschriften nach Art. 87 f. EG-Vertrag entgegengewirkt werden. Den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ist es nicht gelungen, die Rundfunkgebühren durch einen Zusatz zum Amsterdamer Vertrag der Kontrolle der Europäischen Kommission zu entziehen. Die Protokollerklärung zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk setzt vielmehr die Geltung der Wettbewerbsregeln voraus. Die Kommission hat der Beschwerde der privaten Konkurrenten gegen die neuen öffentlich-rechtlichen Fernsehprogramme Phönix und Kinderkanal zwar nicht stattgegeben. Die Kommission hat in ihrer Entscheidung aber deutlich gemacht, daß sie die Gebührenfinanzierung anhand des öffentlichen Auftrags kontrollieren werde.
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In der Verfügung über terrestrische Frequenzen haben die öffentlichrechtlichen Anstalten aus historischen Gründen eine Vormachtstellung. Die Digitalisierung ermöglicht vielfältige zusätzliche Nutzung der Frequenzen. Es sollte dafür Sorge getragen werden, daß die Digitalisierung nicht dazu genutzt wird, die Vormachtstellung der öffentlich-rechtlichen Anstalten noch zu verstärken. Sie sollte vielmehr zurückgeführt werden.
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Das Wettbewerbsverhalten der öffentlich-rechtlichen Anstalten gegenüber den privaten Wettbewerbern ist durch das Kartellrecht und das Lauterkeitsrecht zu kontrollieren. Im Kartellrecht setzt die Mißbrauchskontrolle Marktbeherrschung voraus. Sie kann auf dem Zuschauermarkt nur eingreifen, wenn man ihn als selbständigen relevanten Markt anerkennt, wie dies der Beirat in diesem Gutachten vorschlägt.
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Als Mittel einer nachhaltigen Strukturveränderung könnte die Privatisierung einer oder mehrerer öffentlich-rechtlicher Anstalten ins Auge gefaßt werden.
Aus all dem ist zu erwarten, daß es zu einer deutlichen Einengung der öffentlich-rechtlichen Programme in Richtung auf jenen Kernbereich kommen wird, der solche Programme allein zu legitimieren vermag, nämlich 2074
Offene Medienordnung
einen Beitrag zu leisten zu einer einheitsstiftenden Kultur. Neben eigenen Programmen kommen auch Koproduktionen mit privaten Anbietern in Betracht. Schließlich kann dieses kulturell definierte Angebot in Form von Programmblöcken auch über private Sender vertrieben werden.
VI. Schlußbemerkung (60) Die Medien sind kein Wirtschaftsgut wie jedes andere - aber sie sind ein Wirtschaftsgut. Der wirtschaftliche Wettbewerb der privaten Anbieter bewirkt nicht nur, daß für die Herstellung und den Vertrieb der Medien nicht mehr Aufwand getrieben wird als nötig. Vielmehr sorgt er auch dafür, daß die Medien den Inhalt haben, den die Leser, Hörer und Zuschauer wünschen. All das gilt auch dann, wenn Medieninhalte gebündelt vertrieben oder indirekt finanziert werden. Oft entspringen diese Darbietungsformen unmittelbar den Präferenzen der Nutzer. Ihnen geht es nicht etwa um einzelne Nachrichten, sondern um eine bestimmte Auswahl. Oder sie akzeptieren lieber Werbeunterbrechungen, als für Abonnement-Fernsehen zu bezahlen. Der Einzelvertrieb gegen Einzelentgelt wäre bei Sendungen des Hör- und Fernsehfunks zudem schwer zu organisieren oder zu teuer. Die Rechtsordnung sollte sich darauf beschränken, ökonomischen und publizistischen Mißbräuchen zu wehren, die sich aus diesen Eigenarten ergeben können. (61) Das geeignete Instrument zur staatlichen Einwirkung auf die Medien ist das Kartellrecht. Wenn es für funktionsfähigen Wettbewerb sorgt, erledigt sich auch der größte Teil des publizistischen Regelungsbedarfs. Die Regeln des Rundfunkstaatsvertrags über die Medienkonzentrationskontrolle können entfallen. Ihre Aufgabe wird besser dem Recht der Fusionskontrolle übertragen. (62) Der verbleibende publizistische Regelungsbedarf ist gering. Die Integration von Staat und Gesellschaft mag das Bundesverfassungsgericht zwar als meritorisches Gut definieren. Daraus folgt aber kein Mandat des Staates oder der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zur intentionalen Formung von Werten. Angemessen und ausreichend ist vielmehr die staatliche Sorge um die Pflege der einheitsstiftenden Kultur. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist ein geeignetes institutionelles Arrangement für die Erfüllung dieser Aufgabe. Er sollte darauf zurückgeführt werden. Der Beirat spricht sich deshalb für eine Verringerung der Anzahl der öffentlich-rechtlichen Programme aus. Die kommerzialisierbaren Teile sollten privatisiert werden. Bis dieser Prozeß abgeschlossen ist, bedarf das Marktverhalten der öffentlich-rechtlichen Anbieter der Kontrolle durch Kartellrecht und Beihilfe-Aufsicht. 2075
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Als meritorisches Gut mag man auch bestimmen, daß Minderheiten die Gelegenheit zur Artikulation ihrer Vorstellungen erhalten. Durch die technische Entwicklung, insbesondere das Internet, wird aber immer fraglicher, ob dies gleichsam stellvertretend in staatlich alimentierten Rundfunkprogrammen geschehen muß. (63) Gegenstand dieses Gutachtens war nicht die gesamte Medienpolitik. Der Beirat hat sich vielmehr auf den ordnungspolitisch relevanten Kern beschränkt. Diese Reform ist dringlich. Die Medienpolitik sollte sich künftig auf die viel schwerer zu lösenden Probleme konzentrieren, die das Internet und andere globale Netze aufwerfen. (64) Medien sind Wirtschaftsgüter. Dieser Sachzusammenhang wurde aus Gründen der geschichtlichen Entwicklung der Medien zu lange vernachlässigt. Mittlerweile erfordert nicht nur die Eigenart der Sache, sondern auch der wachsende Anspruch des europäischen Wirtschaftsrechts, dem wirtschaftlichen Charakter der Medien konsequent Rechnung zu tragen und die Medien in die wirtschaftsrechtliche Ordnung des Bundes zu integrieren. Der Beirat verkennt nicht, daß die Ordnung der Medien auch öffentliche Belange berührt, denen Ausdruck zu geben nicht die eigentliche Aufgabe des Wirtschaftsrechts ist. Er weist jedoch mit Nachdruck daraufhin, daß die sachgerechte wirtschaftsrechtliche Ordnung grundsätzlich auch im Interesse dieser Belange liegt. Im übrigen müssen die jeweils zuständigen Gesetzgeber Regelungen treffen, die damit vereinbar sind. Die den Rundfunk umfassende wirtschaftsrechtliche Regelungszuständigkeit des Bundes mag aus der Sicht der Länder bedauert werden. Den Ländern ist jedoch nur mit einer sachgerechten Ordnung gedient. Wesentliche kulturelle Aufgaben bleiben ihnen erhalten. Die Reintegration deutscher Bundesstaatlichkeit durch eine erfahrungs- und zeitgerechte Verteilung der Zuständigkeiten und Mittel ist jedoch ein umfassendes Problem. Das Festhalten an einer überholten Medienordnung kann es nicht lösen. Bonn, den 18. November 1999 Der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie Prof. Dr. Manfred J. M. Neumann
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Gutachten vom 26. und 27. Mai 2000 Thema: Aktuelle Formen des Korporatismus Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie hat sich in mehreren Sitzungen, zuletzt am 26. und 2 7 . Mai 2 0 0 0 , mit dem Thema Aktuelle Formen des
Korporatismus
befasst und ist dabei zu der nachfolgenden Stellungnahme gelangt.
Anlass des Gutachtens (1) Wie schon frühere Regierungen setzt die Bundesregierung auf den Versuch, Lösungen für wirtschafts- und sozialpolitische Probleme im Konsens zwischen Regierung und organisierten Interessengruppen zu erarbeiten. Beispiele sind die 1 9 7 7 eingerichtete „Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen" und das im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stehende „Bündnis für Arbeit". Es geht bei dieser Art der Interessenabgleichung zwischen Verbänden und Regierung, die es auch in anderen europäischen Ländern gibt, namentlich in Österreich und den Niederlanden, gleichsam um tripartistische Formen des Korporatismus, bei denen wie beispielsweise im Bündnis für Arbeit die drei Parteien Regierung, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in Konsensgesprächen zusammengeführt werden. Das besondere Charakteristikum dieses tripartistischen Korporatismus ist, dass die für alle Bürger handelnde Regierung sich in einem Verhandlungsprozess mit den Vertretern mächtiger Interessengruppen an einen Tisch setzt, um mit ihnen Lösungsansätze für spezifische wirtschaftspolitische Aufgaben zu erarbeiten. Die Spannweite der Verhandlungen reicht von wechselseitiger Orientierung bis zur Aushandlung konkreter Maßnahmen und Verhaltensweisen. Charakteristisch ist insbesondere, dass die Regierung wirklich verhandelt, also mehr tut, als nur den Rahmen für die Verhandlungen der Verbandsvertreter zu setzen oder nur Schiedsrichter oder Vermittler zu spielen. Statt dessen nimmt sie aktiv auf das Ergebnis der Verhandlungen zwischen den Verbandsvertretern Einfluss und ist auch bereit, selbst Leistungen zu erbringen und zu empfangen. Im Unterschied zu der traditionellen, gesetzlich geregelten Zuständigkeit begrenzter Selbstverwaltung korporativer Organisation, wie etwa der Industrie- und Handelskammern, ist das Aufgabenfeld korporatistischer Institutionen nicht fest eingegrenzt, sondern es wird von den Beteiligten 2077
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im Laufe der Verhandlungen entwickelt. Institutionen des tripartistischen Korporatismus sind daher eher prozess- als zielorientiert. (2) Korporatistische Institutionen sollen als ergänzende Elemente der marktwirtschaftlichen Ordnung dienen, insbesondere dort, wo Märkte offenbar versagen. Allerdings sind diese besonderen Institutionen nicht problemlos mit den tragenden Grundprinzipien der Marktwirtschaft und der repräsentativen Demokratie in Einklang zu bringen, wonach ein Konsens zwischen den Einzelinteressen der wirtschaftenden Menschen durch den Koordinationsmechanismus des im Wettbewerb organisierten Marktes bzw. durch die Einbeziehung aller Wahlberechtigten im demokratischen Abstimmungsprozess herbeigeführt wird und das so gewählte Parlament und die Regierung für die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs durch ordnungspolitische Rahmensetzung und begrenzte prozesspolitische Eingriffe sorgen. (3) In diesem Gutachten untersucht der Beirat typische Formen und Merkmale des tripartistischen Korporatismus daraufhin, ob sie geeignet sind, als ergänzende Institutionen die Funktionsfähigkeit der Marktwirtschaft zu verbessern. Die Einrichtung solcher Institutionen erklärt sich zum einen aus wirtschaftspolitischen Defiziten, wie beispielsweise der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit, zum anderen aus den Interessen der Beteiligten, durch gemeinsam verantwortete Beschlüsse sich Gestaltungsmacht und soziale Akzeptanz zu erhalten (I). Die im Rahmen solcher korporatistischen Institutionen agierenden Parteien erhoffen sich, durch die Bildung von Verhandlungspaketen und die Bindungswirkung auch impliziter Absprachen Probleme zu lösen, die bei nicht-kooperativem Verhalten zu einem von allen beteiligten Parteien unerwünschten Ergebnis führen würden (II). Es gibt jedoch verschiedene Funktionsprobleme, die es fraglich machen, ob korporatistische Institutionen die ihnen zugewiesenen Zielsetzungen auch tatsächlich erreichen können. Zudem ist mit negativen Rückwirkungen auf andere Zielsetzungen zu rechnen (III). Dies zeigen beispielhaft die Anwendungsfelder des Arbeitsmarktes (Bündnis für Arbeit) und des Gesundheitssystems (IV). (4) Insgesamt kommt der Beirat zu der Einschätzung, dass die dem Korporatismus eigentümliche Teilung der wirtschaftspolitischen Verantwortung mit Interessengruppen große Gefahren in sich birgt und keinesfalls zu überlegenen wirtschaftspolitischen Lösungen im Sinne des Gemeinwohls führen muss. Zum einen ermöglichen korporatistische Institutionen es den Verbänden, über wirtschaftspolitische Maßnahmen mitzuentscheiden, für deren Verantwortung sie kein Mandat haben. So kann es 2078
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zu Vereinbarungen zu Lasten Dritter kommen. Z u m anderen besteht die Gefahr, dass es mit der Verlagerung wirtschaftspolitischer Entscheidungen in korporatistische Institutionen zu einer Schwächung der politischen Verantwortung auf Seiten der jeweiligen Regierung, aber zu einer Stärkung der Partikularinteressen der Verbände k o m m t . Das behindert die Anpassungsfähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft an die durch den technischen Fortschritt veränderten Rahmenbedingungen. Es fördert Reformstau anstatt Erneuerung und damit eine Zementierung der bestehenden Verhältnisse. Die Erfahrungen mit der korporatistischen Organisation des Gesundheitswesens in Deutschland zeigen dies deutlich. (5) Was das Bündnis für Arbeit angeht, ist es noch zu früh, ein endgültiges Urteil zu fällen. Auch hier ist die Gefahr groß, dass Tendenzen einer Zementierung der bestehenden Verhältnisse die O b e r h a n d gewinnen. Aber wenn man die positiven Erfahrungen der Niederlande berücksichtigt, so könnte das Bündnis für Arbeit zur Plattform für einen neuen gesellschaftlichen Konsens darüber gemacht werden, dass es m a r k t k o n former Antworten bedarf, um das Beschäftigungsproblem nachhaltig zu lösen.
I. Gründe für den Ruf nach tripartistischen Vereinbarungen (6) Der R u f nach korporatistischen Institutionen als Alternative zu Marktlösungen hat viele Gründe. Ein tief liegender Grund für das Misstrauen in Marktlösungen ist die Bedrohung durch vorübergehende negative Rückwirkungen des an und für sich wohlstandsfördernden technischen Fortschritts. Dabei ist es eine gewisse Ironie, dass der technische Fortschritt gerade durch die Dynamik der dezentralen Marktmechanismen seine volle Kraft entfalten konnte (1). Den Verbänden, die durch die Globalisierung zunehmend unter Druck geraten, verhelfen korporatistische Institutionen zur Wahrung ihrer Legitimität und ihres Einflusses (2). Der Regierung erlauben korporatistische Institutionen schließlich die Bildung von Paketen, in denen das „ G e m e i n w o h l " berücksichtigt und die Opfer der beteiligten Parteien „gerecht" verteilt werden können. Zudem hat die Regierung in einer schwierigen Lage oft das Interesse, dem W ä h l e r eine aktive Rolle in „Konsensgesprächen" zu vermitteln, selbst wenn aus ihnen nicht unbedingt Problemlösungen folgen (3).
1. Globalisierung und Strukturwandel durch technischen Fortschritt (7) Die westeuropäischen Wohlstandsgesellschaften stehen vor vielen Herausforderungen. In der öffentlichen Diskussion werden am häufig2079
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sten genannt: der durch die Globalisierung beschleunigte Strukturwandel, die Krise des Sozialstaats und die hohe Arbeitslosigkeit. (8) Diese Herausforderungen sind ganz wesentlich Folgen der Veränderungsdynamik. Die Globalisierung der Märkte hängt vor allem mit dem technisch-wirtschaftlichen Fortschritt auf dem Gebiet der Kommunikation und des Transports zusammen. Die Probleme der Sozialversicherung beruhen zu einem erheblichen Teil auf den Fortschritten in der ärztlichen Kunst; diese sind Ursache der steigenden Lebenserwartung und steigender Aufwendungen im Gesundheitswesen für die Verhütung, das Erkennen, die Heilung und die Linderung von Krankheiten. Strukturwandel und Beschäftigungsproblem stehen in einem Zusammenhang mit den Rationalisierungsfortschritten in praktisch allen Branchen der Wirtschaft. Gerade bei den Befürwortern korporatistischer Problemlösungen ist die Meinung weit verbreitet, dass der Rationalisierungsfortschritt die Hauptursache für das Problem der Arbeitslosigkeit sei. Dies ist freilich eine verkürzte Sicht der Dinge. (9) Der technisch-wirtschaftliche Fortschritt und Wandel schafft für die meisten Menschen eine enorme Steigerung des materiellen Lebensstandards. Ständig stellt er aber auch Marktpositionen von Unternehmern und Arbeitnehmern in Frage. Der technische Fortschritt ist Motor der Wohlstandssteigerung, die letztlich allen zugute kommt. Die Vorteile, die er bringt, sind allerdings oft längerfristiger Natur und nur in einem Prozess anhaltenden Strukturwandels zu realisieren, der zunächst die Unternehmen und Arbeitnehmer neuer Branchen zu Lasten der Produzenten tradierter Branchen begünstigt. Dies ist kein neues Phänomen: Von der Einführung des Maschinenwebstuhls profitierten die Konsumenten, aber auch die Maschinenbauer, während die Handweber arbeitslos wurden und den Beruf wechseln mussten. (10) Der Gesamtprozess des technisch-wirtschaftlichen Fortschritts ist selbst Resultat einer überwiegend dezentral organisierten Wissenschaft und Wirtschaft in der westlichen industrialisierten Welt. Nur durch diese dezentrale Struktur der modernen Welt konnte eine im historischen Vergleich ganz einmalige Fülle von Neuerungen entstehen, wie sie das 20. Jahrhundert auszeichnet. Im Kern geht es bei der Beurteilung korporatistischer Institutionen um die Abwägung zwischen der Erhaltung der Wachstumsdynamik im Marktprozess auf der einen und der Hoffnung auf der anderen Seite, dass korporatistische Lösungsversuche die Anpassungsprobleme lösen können.
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Aktuelle Formen des Korporatismus
2. Das Interesse der Verbände an korporatistischen Institutionen (11) Der Prozess der Globalisierung erleichtert die Verlagerung von Produktionsstätten ins Ausland und erodiert daher die Macht der nationalstaatlich organisierten Verbände. Der durch den technischen Fortschritt induzierte Strukturwandel schwächt viele der sektoral organisierten Verbände. Beides gilt für Arbeitnehmer- wie Arbeitgeberverbände. Korporatistische Einrichtungen geben den Verbänden den Anschein zusätzlicher Legitimation. Sie federn dadurch den Druck der Globalisierung und des Strukturwandels auf die Verbände ab. Das hilft diesen, die Anpassung des ihnen dienlichen Status quo weiter hinauszuschieben. (12) Die heute in der Politik einflussreichen Interessengruppen stemmen sich vielfach gegen marktkonforme Lösungen, die geeignete Antworten der Individuen und Unternehmen auf die Herausforderungen des technischen Wandels und der Globalisierung wahrscheinlicher, vielfach sogar erst möglich machen. Denn sie müssten dann Besitzstände ihrer Mitglieder hergeben. So fühlen sich Gewerkschaften aufgerufen, die „Errungenschaften" des Sozialstaats sogar dann zu verteidigen, wenn sie marktkonformen Antworten entgegenstehen. In der Tat ist die Reform des sozialstaatlichen Status quo bei den Mitgliedern äußerst unpopulär, da die in der längeren Sicht erst erkennbaren Vorteile einer Aufgabe von Besitzständen nicht oder nur schwer plausibel gemacht werden können. Die Motivation der betroffenen Verbände, und zwar sowohl der Gewerkschaften als auch der Arbeitgeberverbände, den Status quo zu verteidigen, indem sie den für sie nachteiligen Marktprozess in korporatistischen Verhandlungen aufzuhalten versuchen, ist daher groß. (13) Die leichtere Organisierbarkeit der Status-quo-Interessen verstärkt diesen Prozess. Die Welt der Interessenverbände wird von den Interessen etablierter Unternehmer und Arbeitsplatzbesitzer dominiert, während die Interessen der Konsumenten, insbesondere ihr Interesse an Innovation und Fortschritt, wesentlich schwerer zu organisieren sind. Noch schwerer sind die Interessen künftiger Arbeitnehmer und Unternehmer zu organisieren, die auf den Ergebnissen heutiger Innovationstätigkeit aufbauen können. Diejenigen, denen Globalisierung und Strukturwandel am meisten nützt, können sich also weniger artikulieren als die, denen Strukturwandel und Globalisierung zumindest kurzfristig schadet. (14) Verbandsspitzen profitieren von korporatistischen Institutionen schließlich auch im Binnenverhältnis zu ihren Mitgliedern. Verbände müssen im Stande sein, die Interessen ihrer Mitglieder zu einer einheitlichen Position zu aggregieren. Das ist nur möglich, wenn die Verbands2081
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spitze einen ausreichenden Entscheidungsfreiraum hat und wenn die Verbandsmitglieder das Verhandlungsergebnis dann auch umsetzen. M a n c h e n Verbandsführungen gelingt diese Organisationsleistung aus eigener Kraft. Es ist für die Verbandsspitze jedoch verführerisch, sich dabei staatlicher Hilfe zu bedienen. Die Beteiligung an korporatistischen Arrangements verschafft der Verbandsspitze im Innern des Verbandes nicht nur zusätzliche Legitimität. O f t kann sie der Regierung auch ganz konkrete finanzielle Zuwendungen oder Zugeständnisse in Gesetzesvorhaben entlocken. Zudem kann die Regierung, gestützt auf ihre Parlamentsmehrheit, auch das R e c h t als Mittel einsetzen, um die Verbandsorganisation zu erleichtern. So setzt das Tarifrecht Organisationsanreize und definiert, welche Voraussetzungen ein Verband erfüllen muss, damit er tariffähig ist. In der korporatistischen Organisation des Gesundheitswesens geht dies noch weiter. Regierung und Parlament haben sich die privaten Verhandlungspartner im Sozialrecht selbst geschaffen und die Zwangsmitgliedschaft angeordnet, was den Verhandlungspartnern die Existenzberechtigung sichert.
3. Das Interesse der Regierung an korporatistischen Institutionen (15) Das Interesse der Regierung, in schwierigen Situationen sich auf korporatistische Institutionen zu stützen, ist vielfältig und zum Teil auch widersprüchlich. Z u m einen liegt es nahe, dass die Öffentlichkeit Verhandlungen zwischen den Interessengruppen im Beisein der Regierung befürwortet, wenn die Chance besteht, dass solche Verhandlungen einen unbefriedigenden Status quo in mehrheitsfähiger F o r m , ζ. B. einem großen Sozialkontrakt, auflösen. Korporatistische Institutionen können der Regierung zu mehr Informationsgewinn, zu Verhandlungsspielräumen und zu erweiterten Einflussmöglichkeiten verhelfen. Damit erhält sie die Möglichkeit, übergeordnete Interessen in Gruppenverhandlungen durchzusetzen. Auch w o das nicht erreichbar ist und der Status quo faktisch erhalten wird, kann es im Interesse einer Regierung sein, dem W ä h l e r den Eindruck einer aktiven Rolle in korporatistischen Verhandlungen zu vermitteln. (16) Korporatistische Institutionen können der Regierung auch dazu dienen, das zu lösende gesamtwirtschaftliche Problem mit den beiden privaten Partnern zu definieren und ein verändertes Wirklichkeitsbewusstsein zu schaffen. Diese Idee lag auch der „Konzertierten A k t i o n " in den sechziger und siebziger Jahren zugrunde. Sowohl die Definition des Steuerungsziels als auch die Abschätzung der Wirkungen eines Steuerungseingriffs sind in der politischen Wirklichkeit oft schwierig. Im Rahmen kor2082
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poratistischer Institutionen verschafft sich die Regierung auch eine Vorstellung davon, von welcher Wirklichkeitssicht, d.h. von welcher Interpretation der wirtschaftlichen und sozialen Lage und ihrer Erklärungsgründe die Partner, die ja auch die Steuerungsadressaten sind, ausgehen. Einigungen werden in der Regel nur möglich, wenn sich Regierung und Adressaten auf eine gemeinsame Interpretation verständigt haben. Tripartistische Gespräche bieten der Regierung ein Forum für einen solchen Abgleich der verschiedenen Interpretationen. (17) Weil sich jede Interessengruppe gegen die Aufgabe von Besitzständen stemmt, kann es für eine Regierung im Hinblick auf die Notwendigkeit marktkonformer Antworten und zunehmender Flexibilität attraktiv sein, im Wege eines großen Sozialkontrakts ein Paket auszuhandeln, das die kurzfristig erforderlichen Besitzstandsopfer auf alle verteilt. In diesem Rahmen müsste ein so großer positiver Nettoeffekt realistisch glaubhaft gemacht werden, dass für jeden Verhandlungspartner die Besitzstandsopfer der eigenen Klientel gegenüber schmackhaft gemacht werden können. Wenn Flexibilität nicht durch unilateralen legislatorischen Rückbau von Besitzständen erreicht werden kann, dann kann die Regierung die Verbände vielleicht zu vergleichbaren Opfern aller Beteiligten bewegen. Es geht dann um das Aushandeln eines großen Pakets von „gerecht" verteilten Opfern. (18) Das Schnüren solcher Pakete kann im Rahmen korporatistischer Institutionen einfacher sein, weil die Regierung mehr Manövriermöglichkeiten hat. So kann sie ihr Steuerungsziel nicht nur als Partner in den dreiseitigen Verhandlungen verfolgen, sondern versuchen, mit nur einem der beiden privaten Verhandlungspartner eine Vorabeinigung zu erreichen. Tatsächlich geschieht das im Rahmen tripartistischer Arrangements auch gar nicht selten. Ihre Besonderheit besteht in der Option alternativer Partner für bilaterale Verhandlungen. Zeigt sich der eine Verband zu wenig interessiert, kann die Regierung ohne weiteres offen oder verdeckt zu Verhandlungen mit dessen privatem Gegner übergehen. Zudem kann die Regierung das Ergebnis konkreter privater Verhandlungen in der Sache beeinflussen, wenn sie als Gegenleistung eine Veränderung des Verhandlungsrahmens für die Zukunft anbietet. Die Aussage gilt auch umgekehrt. Besteht das eigentliche Ziel der Regierung in der Reform dieses Rahmens, kann sie die privaten Verhandlungsparteien durch Zugeständnisse bei den konkret anstehenden Verhandlungen beeinflussen. Das Interesse an der Funktionsfähigkeit und am Fortbestand des korporatistischen Verhandlungssystems seitens der beiden privaten Verhandlungspartner ist ein Pfand, das die Verhandlungsmacht der Regierung erhöht. Diese haben Geld und Arbeit in das Verhandlungssystem 2083
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investiert und beziehen Legitimationsvorteile aus der korporatistischen Institution, was den Gegner berechenbarer machen und seine Resonanzfähigkeit für staatliche Steuerungswünsche erhöhen kann. (19) Im besten Falle erlauben korporatistische Institutionen der für alle Bürger handelnden Regierung, das von ihr so verstandene Gemeinwohl in die Verhandlungen zwischen den Vertretern organisierter Verbandsinteressen einzubringen. Ohne staatliche Mitwirkung tendieren Verbände dazu, ihre Verteilungskonflikte auf Kosten außenstehender Dritter zu lösen. Dadurch, dass die Regierung mitverhandelt, kann sie diese Externalisierung möglicherweise verhindern. Sie handelt dann gleichsam stellvertretend für die außenstehenden und besonders für die schlecht organisierbaren Interessen. (20) Andererseits wird die Regierung konkret von Politikern und Beamten vertreten, die auch persönliche Interessen wie ihre Macht oder ihre Karriere im Auge haben. Korporatistische Arrangements sind auch solchen Zielen dienlich. Ein unmittelbarer Vorteil ist, dass die Politik gleich in diesen außerparlamentarischen Institutionen gemacht werden kann, anstatt in den oft schwerer steuerbaren demokratisch legitimierten Gremien. Ein zweiter Vorteil kann der persönliche Gewinn an Prestige und an Einfluss in anderen Angelegenheiten sein. Schließlich erfreuen sich „Konsensgespräche" beim Wähler stets großer Beliebtheit, weil sie eine konfliktfreie Lösung von Problemen zu versprechen scheinen. Selbst wenn es daher im Interesse der Regierung sein sollte, den Status quo zu verlängern, um sich die Unterstützung eines oder beider Verbandspartner zu erhalten oder einfach um vor Wahlen Zeit zu gewinnen, hat sie durch korporatistische Verhandlungen die Möglichkeit, den Wählern den Eindruck von Aktivität zu vermitteln, ohne echte Problemlösungen in die Wege zu leiten.
II. Funktions- und Erfolgsbedingungen korporatistischer Institutionen (21) Jedes korporatistische Arrangement ist anders. Zwei Fragen zu den Funktions- und Erfolgsbedingungen lassen sich trotzdem hinreichend allgemein beantworten. Erstens: Unter welchen Bedingungen kommt es zu einer Abrede, einem „politischen Vertrag", der stabil ist? Tripartistische Verhandlungen müssen nicht notwendigerweise zu einem konkreten Ergebnis führen, da alle Seiten schon davon profitieren können, dass überhaupt verhandelt wird (1). Zweitens: Unter welchen Bedingungen können die konkreten wirtschaftspolitischen und sozialen Ziele erreicht werden, die sich die korporatistische Institution auf das Panier geschrieben hat 2084
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und an denen der Wahlbürger letztlich interessiert ist? So hat die „Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen" das erklärte Ziel, die Ausgabensteigerung im Gesundheitswesen zu dämpfen, und das „Bündnis für Arbeit" soll die Arbeitslosigkeit senken. Hier lassen sich aus den historischen Beispielen, ζ. B. der „Konzertierten Aktion" in den sechziger Jahren Deutschlands und dem „Wassenaar-Prozess" in den achtziger Jahren der Niederlande Erfolgs- und Misserfolgsbedingungen ableiten (2).
1. Funktionsbedingungen politischer Verträge (22) Der Geltungsgrund von Abreden im Rahmen korporatistischer Arrangements liegt nicht im Recht. Die Verhandlungspartner treffen zwar Verabredungen, sie schließen aber keine juristischen Verträge. Die Bundesregierung wird im Bündnis für Arbeit nicht zur Partei von Tarifverträgen. Der Bundesgesundheitsminister schließt in der konzertierten Aktion des Gesundheitswesen mit den Vertretern der Gesundheitsberufe, der pharmazeutischen Industrie oder der Krankenkassen keine Verträge im Sinne des Sozialgesetzbuches. Kommt es zu Abreden, haben diese keine rechtliche, allenfalls eine politische Bindungskraft. Sie haben ihren Geltungsgrund also nur in den politischen Beziehungen der Verhandlungspartner. Korporatistische Arrangements „funktionieren" daher nur, wenn bestimmte Anforderungen an die Verhandlungspartner und deren Verhandlungsmacht sowie an deren Selbstbindungsfähigkeit erfüllt sind. „Funktionieren" meint in diesem Zusammenhang das Zustandekommen eines politischen Vertrages und dessen Stabilität. (23) Die Partner handeln nicht als juristische Personen. Gebunden ist also weder „die Regierung" noch „der Verband". Es verhandeln zunächst einmal nur die anwesenden natürlichen Personen. Deren Anspruch, für eine staatliche Stelle oder für einen Verband zu handeln, bindet die Korporation noch nicht. Es kommt nicht auf juristische Vertretungsmacht an, sondern auf die Fähigkeit dieser Personen, ihrem Wort im Innern des Verbandes nachträglich Gehör zu verschaffen. Wechselt die Spitze einer der beteiligten Korporationen, bringt das potentiell immer auch die Abrede in Gefahr. Funktionsfähig sind korporatistische Arrangements deshalb nur, wenn jeder Teilnehmer im Stande ist, in seiner Organisation einen einheitlichen Willen zu bilden und diesen nach außen mit einer Stimme vorzubringen. Dies ist oft jedoch gerade deswegen schwierig, weil die Vertretungsmacht der Verbände durch diejenigen Ereignisse erodiert wird, die zu der Einrichtung des korporatistischen Arrangements geführt haben. So droht der durch die Globalisierung beschleunigte 2085
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Strukturwandel, die Macht der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände zu erodieren. Korporatistische Arrangements sind daher typischerweise fragil. (24) Zur Fragilität trägt insbesondere bei, dass die Bindungswirkung von Vereinbarungen gegenüber Verbandsmitgliedern nicht garantiert werden kann. Das ist offenkundig für eine Zusage, eine bestimmte Zahl von Ausbildungsplätzen oder von neuen Arbeitsplätzen zu schaffen. Die Mitglieder von Arbeitgeberverbänden können nicht zur Mehreinstellung von Arbeitskräften veranlasst werden, sofern Auftragslage und Gewinnsituation das nicht hergeben. Eine Zusage niedrigerer Lohnabschlüsse hat im Vergleich eine größere Bindungskraft, wenngleich auch sie durch eine spätere Gremienentscheidung oder in einer Urabstimmung zunichte gemacht werden kann. (25) Die politische Natur tripartistischer Vereinbarungen hat jedoch auch stabilisierende Elemente. So kann die Regierung damit drohen, die rechtlich verfasste Staatsgewalt zu betätigen, einen für einen Verhandlungspartner abträglichen politischen Prozess in Gang zu setzen (etwa bei den Gesprächen über den Ausstieg aus der Kernenergie) oder den Verhandlungsgegenstand in ein anderes Forum zu verlagern (beispielsweise von der nationalen zur europäischen Ebene oder von der außerparlamentarischen zur parlamentarischen Bühne). Umgekehrt können die privaten Verhandlungspartner nicht nur mit der Ausübung ihrer rechtlich geschützten Vetopositionen drohen. Solch eine Position ergibt sich etwa aus der verfassungsrechtlich geschützten Tarifautonomie. Sie können vielmehr der Regierung politischen Widerstand androhen oder gar das Ausnutzen einer politisch ungünstigen Lage, in der sich die Regierung befindet. So würde es der gegenwärtigen Bundesregierung gewiss schwerfallen, das Scheitern des Bündnisses für Arbeit einzugestehen. (26) Für Verträge auf dem Boden des Rechts gilt der Satz „Pacta sunt servanda" qua Rechtsordnung. Die Gerichte nehmen den Parteien juristischer Verträge notfalls die Sorge um die Vertragserfüllung ab. Die Partner eines politischen Vertrages müssen dagegen selbst für seine Erfüllung Sorge tragen. Handeln sie rational, haben sie diese Sorge bereits bei Vertragsschluss im Auge. Sie können die politische Abrede zu diesem Zweck in ein Geflecht umhegender Institutionen einbetten. Beispiel sind die korporatistischen Institutionen, die sich im Gesundheitswesen gebildet haben, etwa die kassenärztlichen Vereinigungen. Hieraus erklärt sich zugleich der Wunsch nach der Dauerhaftigkeit korporatistischer Arrangements. Die Parteien 2086
Aktuelle Formen des Korporatismus
müssen die Abrede von vornherein so gestalten, dass sie sich selbst durchsetzt. Das bedeutet, dass die Leistungen so ausbalanciert sein müssen, dass sich jede Seite dann am meisten selbst schadet, wenn sie die Abrede nicht erfüllt. Bildlich gesprochen muss jede Seite der anderen zu diesem Zweck eine Art Geisel stellen. Eine solche Selbstbindung ist eine zentrale Funktionsbedingung politischer Verträge, so auch im Rahmen korporatistischer Arrangements. Auf der Seite der Regierung geschieht das zum Beispiel durch die Besiegelung der Abrede in aller Öffentlichkeit durch den Auftritt des Bundeskanzler oder eines Bundesministers, die mit ihrer persönlichen politischen Glaubwürdigkeit für die Stabilität des Arrangements haften. In ähnlicher Weise ist auch die interne Machtposition der Verbandsfunktionäre gefährdet, wenn sie es nicht schaffen, korporatistische Abreden durchzusetzen. (27) Der Abschluss politischer Verträge gelingt leichter, wenn die Parteien vorbeugend etwaige Ausweichmöglichkeiten ausgeschlossen haben. Das macht es wahrscheinlicher, dass aus dem Vertragsprogramm schließlich Wirklichkeit wird. Diese Überlegungen legen nahe, die Verhandlungsarena eng zu begrenzen. Neue oder außenstehende Verbände werden deshalb möglichst nicht an den Verhandlungen beteiligt. Wirtschaftlicher Wettbewerb von Außenseitern stört die Stabilität der Verhandlungsinstitution besonders. Daher leidet die Vertragserfüllung, wenn die Adressaten der im Rahmen eines korporatistischen Arrangements vereinbarten Regeln ins Ausland ausweichen können. Die Infragestellung nationaler Arrangements durch den Außenwettbewerb ist auf dem Arbeitsmarkt offensichtlich, wird aber auch im Gesundheitswesen immer virulenter, da zunehmend preisgünstigere Behandlungen im Ausland angeboten werden. Korporatistische Arrangements haben deshalb eine protektionistische Tendenz. 2. Bedingungen
für den Erfolg korporatistischer
Institutionen
(28) Mehr als das bloße Funktionieren korporatistischer Institutionen im Sinne eines nicht abreißenden Verhandlungsprozesses interessiert die Bürger natürlich die Erfüllung der konkreten Aufgaben, die sich die korporatistische Institution gesetzt hat. Konkretes Ziel des Abkommens von Wassenaar war die Senkung der Arbeitslosigkeit; die gleiche Zielsetzung hat das Bündnis für Arbeit. Die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen soll die Ausgabensteigerung im Gesundheitswesen dämpfen. (29) Lange Zeit war Schweden das Vorzeigemodell, wie man den korporatistischen Weg erfolgreich gehen könne. Seit sich das schwedische Modell als nicht mehr finanzierbar erwiesen hat, blickt man auf die Nieder2087
Gutachten vom 2Ó./27. Mai 2000
lande. Der Haupterfolg in den Niederlanden ist die Zahl der neu geschaffenen Arbeitsplätze; auch das Arbeitsvolumen ist gestiegen, allerdings weit weniger stark als zum Beispiel in den Vereinigten Staaten. Das Bruttosozialprodukt ist seit Mitte der achtziger Jahre schneller als in Deutschland gewachsen, allerdings wiederum nicht so schnell wie in den Vereinigten Staaten. Weniger konkret, aber ebenso bedeutsam war die Schaffung einer Reform- und Aufbruchsstimmung, die Änderungen in der Arbeits- und Sozialgesetzgebung ermöglichte, die vor dem Wassenaar Abkommen nicht mehrheitsfähig gewesen wären. Hinzu kam eine konsequente Lohnzurückhaltung, eine stark steigende Flexibilisierung der Arbeitszeit und die Aufgabe sozialpolitischer „Errungenschaften", die sich als unfinanzierbar erwiesen hatten. (30) Einen wichtigen Beitrag zur Schaffung neuer Arbeitsplätze leistet die niederländische Lohnpolitik. Sowohl die Lohnhöhe als auch die Lohnstrukturen sind in den Niederlanden relativ flexibel. Das war nicht immer so, vor allem nicht in der Zeit zwischen 1 9 7 3 und 1 9 7 9 , ist aber seit Anfang der achtziger Jahre der Fall. Allerdings haben die Unternehmen schon seit 1 9 2 7 grundsätzlich die Möglichkeit, Tarifverträge auf betrieblicher Ebene abzuschließen. Der Auslöser für die moderate Lohnpolitik war nicht erst das Abkommen von Wassenaar im Jahre 1 9 8 2 ; eher war es die in den 70er Jahren stark steigende Arbeitslosigkeit, die in einer weit offenen Volkswirtschaft wie den Niederlanden eine lohnpolitische Umkehr erzwang. Der Verhandlungsprozess von Wassenaar half jedoch, die lohnpolitische Zurückhaltung zu stabilisieren. (31) Die höhere Flexibilität in den Niederlanden resultiert zum anderen auch aus einer veränderten Struktur der Arbeit: Teilzeitarbeit und flexible Arbeit haben stark an Bedeutung gewonnen, die reguläre Vollzeitbeschäftigung hat erheblich abgenommen. Der positive Einfluß auf die Beschäftigung resultiert wohl vor allem daraus, dass die Arbeitsmärkte mit dem Umfang der Teilzeit- und Flex-Arbeit flexibler geworden sind. So machten 1 9 9 6 Arbeitnehmer auf Abruf und mit variablen Arbeitsstunden über 4 0 Prozent der Flex-Arbeitnehmer aus. (32) Die flexibleren Arbeitsmärkte sind schließlich auch darauf zurückzuführen, dass nach Wassenaar wichtige Reformen des Sozialstaats verabschiedet werden konnten. Das verstärkte den Druck auf die Mindestlöhne und erhöhte die Beschäftigung in einer der Problemgruppen auf den Arbeitsmärkten, den gering qualifizierten Arbeitnehmern. Zu den Reformen gehörte die Rückführung des sozio-ökonomischen Existenzminimums, das Anfang der 70er Jahre noch 2/3 des durchschnittlichen Arbeitseinkommens betrug, zwischen 1 9 7 5 und 1 9 8 3 auf über 80 Prozent anstieg, und nach dem Wassenaar-Abkommen wieder auf die alte 2088
Aktuelle Formen des K o r p o r a t i s m u s
Marke von 2/3 zurückgeführt wurde. Die Reform der Arbeitslosen- und der Invalidenversicherung reduzierte nicht nur die Arbeitslosenquote, sondern anschließend auch die Invalidität (1984 waren 13,5 Prozent der Erwerbspersonen invalide; 1996 nur noch 9,7 Prozent). Die Rate innovativer Lösungen ist in den Niederlanden auch auf dem Felde der Beratung und Vermittlung von Arbeitnehmern relativ groß. Der Grund ist einfach: Das staatliche Monopol wurde abgeschafft, auch dieser Markt wurde für private Anbieter geöffnet. Vielfältige Formen neuer Vermittlungs- und Beratungsaktivitäten, wie etwa Zeitarbeitsfirmen, Dienstleistungsagenturen etc., waren die Folge. (33) Der Erfolg der Niederlande ist zum einen darauf zurückzuführen, dass es mit Hilfe der Reform- und Aufbruchstimmung, die der Wassenaar-Prozess erzeugte, gelang, die Systeme der sozialen Sicherung an die veränderten wirtschaftlichen Gegebenheiten anzupassen. Die tripartistische Organisation dieser Systeme wurde abgeschafft, die Kontrolle in die Hände einer vom Staat und den Tarifparteien unabhängigen Kommission gelegt und die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wurde privatisiert. Das verringerte den institutionellen Mismatch und verbesserte die Flexibilität der Arbeitsmärkte. Zum anderen trug entscheidend zum Erfolg des niederländischen Modells bei, dass es gelang, die Tarifparteien dazu anzuhalten, ihre beschäftigungspolitische Verantwortung wahrzunehmen. Wassenaar war Mittel und Weg, das beschäftigungshemmende polit-ökonomische Gleichgewicht aufzubrechen. (34) Prinzipiell betrachtet ist das Erfolgsgeheimnis des Wassenaar-Prozesses darin zu sehen, dass Staat und Verbände sich der grundlegenden Frage gestellt haben, was heute das richtige Mischungsverhältnis von Markt und Staat ist. Das für deutsche Augen Erstaunliche ist, dass die Niederländer gerade nicht versucht haben, die Probleme innerhalb der korporatistischen Institution zu lösen, sondern diese Institution dazu genutzt haben, die Lösung der Probleme wieder mehr dem institutionellen Wettbewerb zu überantworten. Das Abkommen von Wassenaar wurde zum Geburtshelfer für die gesellschaftliche Akzeptanz von mehr marktkonformen Lösungen. Im Ergebnis wurde der Geltungsbereich des Marktes ausgedehnt und nicht, wie beispielsweise im deutschen Gesundheitswesen, weiter eingeschränkt. (35) Dass in den Niederlanden auf die traditionellen korporatistischen Tauschgeschäfte zu Gunsten der Problemlösung durch Marktmechanismen verzichtet wurde, dürfte sich aus den besonderen Bedingungen einer kleinen, sehr offenen Volkswirtschaft erklären. Die Niederländer wurden 2089
Gutachten vom 26./27. Mai 2000
früher und nachhaltiger mit den weltwirtschaftlichen Herausforderungen konfrontiert und dazu gezwungen, nach einem erfolgversprechenderen Weg der Anpassung zu suchen. Die korporatistische Institution wurde genutzt, das in einem suboptimalen Zustand der gegenseitigen Blockade (Gefangenendilemma) verharrende polit-ökonomische Gleichgewicht zu brechen. Den Erfolg einer neuen Wachstumsdynamik brachten die Marktkräfte. (36) Die deutschen Erfahrungen mit korporatistischen Institutionen auf dem Arbeitsmarkt stammen aus der Zeit der ersten Rezession der Nachkriegszeit. Sie sind mit den Erfahrungen von Wassenaar nicht unmittelbar vergleichbar. Bei der 1966/67 eingerichteten „Konzertierten Aktion" ging es um eine Abstimmung der Lohnpolitik auf die Fiskalpolitik und die Geldpolitik. Nach keynesianischem Konzept sollte dem sprunghaften Anstieg der Arbeitslosigkeit mit einer Expansion von Fiskal- und Geldpolitik begegnet werden. Um den Erfolg der staatlichen Maßnahmen zu sichern, wurde der Versuch unternommen, die Lohn- und Tarifpolitik der Arbeitsmarktparteien einzubinden. Es wurde allerdings kein Abkommen angestrebt. Der Zweck der Konzertierten Aktion war es vielmehr, durch wechselseitige Information über die jeweiligen Handlungspläne und durch Diskussion der gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass das Verhalten aller Beteiligten im ganzen zur gesamtwirtschaftlichen Situation passt, sei es nun, dass Einsicht (in die wohlverstandenen eigenen Interessen) die Einzelnen zum Mitmachen veranlasst, sei es auch nur, dass der Erwartungsdruck einer Öffentlichkeit, vor der die ganze Anstrengung im Zeichen der „kollektiven Vernunft" stattzufinden hat, in diese Richtung wirkt. (37) Die Konzertierte Aktion schien anfangs erfolgreich zu sein. Die Geldpolitik und die auch nach Offenbarwerden der Rezession zunächst bloß moderat expansive Fiskalpolitik wurden von einer zurückhaltenden Lohnpolitik flankiert. Die Rezession war schnell überwunden, wenn dies auch nicht alsbald erkannt wurde. Die Arbeitslosigkeit ging rasch wieder zurück. Als der neue Aufschwung schon im Gange war, es aber noch unsicher schien, ob er tragen würde, legte die Finanzpolitik weitere Konjunkturprogramme auf, die schließlich zur Übersteigerung der kommenden Hochkonjunktur statt nur zur Sicherung des Aufschwungs beitrugen. Eine rechtzeitige Aufwertung der Währung, die dämpfend gewirkt hätte, wurde tabuisiert. Das Ergebnis war ein Boom, wie er stärker in der Bundesrepublik vorher und auch nachher nicht erlebt worden ist. „Im Sog des Booms" kam es zu Protesten der gewerkschaftlichen Basis in Form wilder Streiks und damit zur Bedrohung der Macht der Gewerkschaftsführungen. Es folgte eine explosive Korrektur der Löhne nach 2090
Aktuelle F o r m e n des K o r p o r a t i s m u s
oben. Und dies w a r der Beginn einer ganzen Reihe von Jahren mit überzogenen Lohnsteigerungen, die wesentlich zur Abschwächung der Wachstumsdynamik in der Bundesrepublik beigetragen haben. Für diese aggressivste Phase in der deutschen Lohnpolitik waren sicherlich in erster Linie andere Gründe maßgeblich als das Schockerlebnis des Jahres 1969. Doch zu einem wichtigen Bezugspunkt wurde dieses in den folgenden Jahren schon. Die Konzertierte Aktion, die noch bis 1976 fortbestand, hat die schlimme Kostenentwicklung der Jahre 1970 - 75 so wenig unter Kontrolle bringen können, wie sie zuvor - 1968/69 - den verhängnisvollen Mismatch von Lohnpolitik und Währungspolitik zu verhindern in der Lage gewesen war. Zusammenfassend kann man sagen: Die Konzertierte Aktion hat wirtschaftspolitischen Konsens, soweit die Voraussetzungen für ihn gegeben waren, eher manifest gemacht, als dass sie ihn hervorgebracht hätte. (38) Vom Konzept her w a r die Idee der Konzertierten Aktion Teil der die späten 60er Jahre noch beherrschenden Vorstellungen von der M a c h b a r keit der K o n j u n k t u r durch den Staat. N u r von daher ist überhaupt zu verstehen, dass m a n eine Verhaltensabstimmung zwischen den autonomen Gruppen und dem Staat zu organisieren versuchte, deren Inhalte durch jede unvorhergesehene Konjunkturentwicklung obsolet gemacht werden konnten. Denn nur wenn man die K o n j u n k t u r normalerweise wirtschaftspolitisch im Griff hat, das Unerwartete also verhindern oder jedenfalls rasch korrigieren kann, sind ja die Voraussetzungen für eine zumutbare Verhaltensbindung gegeben. Sicherlich, die Wirtschaftspolitik der Jahre 1968/69 war - durch ihr währungspolitisches Versagen - viel schlechter, als sie hätte sein können. Aber nicht das ist das Entscheidende. Bessere Wirtschaftspolitik k a n n das Problem bloß verringern, nicht beseitigen, von glücklichen Einzelfällen abgesehen. Da die Machbarkeit der Konjunktur durch den Staat nun einmal eine Illusion ist, waren Enttäuschungen für die an der Konzertierten Aktion Beteiligten von vornherein unvermeidlich, namentlich für die Gewerkschaften, die ja gew o n n e n worden waren mit der Verheißung, dass sie für - temporäre lohnpolitische Zurückhaltung allemal mit einer Stabilisierung von Konjunktur und Beschäftigung belohnt würden. N a c h d e m diese Verheißung sich als falsch herausgestellt hatte, wurde die Konzertierte Aktion immer offener zu einer Veranstaltung, besser, zu einer öffentlichen A u f f ü h r u n g , deren wichtigster Zweck darin bestand, dass Regierung, Bundesbank und Sachverständigenrat es den Gewerkschaften erschweren sollten, ihre problematische M a r k t m a c h t , die man ihnen der Tarifautonomie wegen nicht wegnehmen konnte oder nicht wegnehmen wollte, zu missbrauchen. Es überraschte nicht, dass die Gewerkschaften sich nach zehn Jahren aus der Konzertierten Aktion zurückgezogen haben. 2091
Gutachten vom 26./27. M a i 2 0 0 0
Inzwischen weiß man, dass auch gute Makropolitik vor allem gute Ordnungspolitik voraussetzt. Die beste Lehre, die man aus den Erfahrungen mit der Konzertierten Aktion ziehen kann, ist daher die, dass von einem Neubeginn in Sachen tripartistischem Korporatismus, der aussichtsreicher sein soll als die damalige Veranstaltung, zu allererst die Entschlossenheit aller Beteiligten zu verlangen ist, dass man dort in erster Linie über Ordnungspolitik reden will, über den nötigen Wandel von Institutionen, über das unvermeidliche Aufbrechen alter Verteilungskoalitionen - geleitet von der Überzeugung, dass eine erfolgreiche Nation ihre Institutionen ständig auf dem Prüfstand halten und fähig sein muss, Bedingungen zu schaffen oder zuzulassen, unter denen überständige Verteilungskoalitionen, die die Wirtschaft skleroseanfällig machen, zerbrechen.
ΠΙ. Gefahren durch tripartistische, korporatistische Vereinbarungen (39) Wie immer man die Chancen einschätzt, mit Hilfe von korporatistischen Institutionen verhaltensbestimmende Regeln zur Lösung neu auftretender volkswirtschaftlicher Probleme zu formulieren und ihre Befolgung sicherzustellen, die nachteiligen Konsequenzen, die solche korporatistischen Vereinbarungen in der Regel mit sich bringen, dürfen nicht übersehen werden. Ihnen gemeinsam ist das Kernproblem tripartistischer Arrangements, nämlich der Konflikt zwischen den verständlicherweise partikularistischen Interessen der Verbände und dem (zumindest nach außen immer wieder betonten) Bestreben der Regierung, gerade in ein solches Arrangement Gemeinwohlinteressen einzubringen. Die Konstruktion tripartistischer Verhandlungssysteme ist daher prekär und von mehreren einschneidenden Konstruktionsfehlern geprägt: der Tendenz zur Besitzstandswahrung und zu Unbeweglichkeit (1), der Tendenz zu effizienzvermindernden Maßnahmen, die getroffen werden, um offene Flanken des korporativen Arrangements zu schließen, mit der Konsequenz noch größerer Beschäftigungs- und Wachstumsverluste (2), dem Hang zur Kurzfristorientierung (3) und der Notwendigkeit von Paketlösungen, die dann Dritte belasten (4). Schließlich tendieren korporatistische Arrangements dazu, die verfassungsgemäß vorgesehenen Entscheidungsorgane zu präjudizieren, was zu Widersprüchen mit der demokratisch-politischen Grundordnung führen kann (5).
2092
Aktuelle Formen des Korporatismus
1. Tendenz zur Besitzstandswahrung
und zur
Unbeweglichkeit
(40) Die größte Gefahr korporatistischer Arrangements sieht der Beirat in dem Widerspruch zwischen dem Interesse der Verbände, den Status quo zu verteidigen (vgl. 1.2), und dem eigentlichen Grund für die Einrichtung einer korporatistischen Institution, nämlich der Notwendigkeit, durch Strukturänderungen sich einer gewandelten wirtschaftlichen Lage anzupassen (vgl. 1.1). (41) Es ist gegen die Interessen von Verbandsfunktionären, sich mit dem Staat über die Gestaltung eines neuen Systems wirtschaftlicher Ordnung (vergleichbar etwa dem GATT von 1947 zur Liberalisierung des Welthandels) zu verständigen. Vielmehr ist zu erwarten, dass sie defensiven Strategien mit dem Ziel zuneigen, Veränderungsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft abzubremsen, um auf solche Weise die Positionen im Macht- und im Verteilungsgefüge von Gesellschaft und Wirtschaft zu erhalten (Besitzstandwahrung). Von keiner Gewerkschaft ist zu erwarten, dass sie ihre Mitglieder in neu entstehende Branchen etwa im dynamischen Bereich der Datenverarbeitung und der Kommunikationstechnologie entlässt, da die Macht der Gewerkschaftsfunktionäre von der Mitgliederzahl abhängt. Noch weniger ist zu erwarten, dass sie Arbeitslosen die Möglichkeit eröffnet, ihre Arbeitskraft zu Löhnen anzubieten, die niedriger liegen als die, die im Tarifvertrag mit dem entsprechenden Arbeitgeberverband vorgesehen sind. Auf Grund der Motive ihrer Mitglieder und ihrer Funktionäre steht es dem ureigensten Interesse der Verbände entgegen, sich am Prozess der schöpferischen Zerstörung aktiv zu beteiligen. Wegen dieser Interessenlage ist es fraglich, ob in tripartistischen, korporatistischen Verhandlungen das Gemeinwohl durch flexible Anpassung der institutionellen Regelungen an das geänderte wirtschaftliche Umfeld gesteigert werden kann. (42) Dass die den Verbänden eigentümliche Tendenz zur Besitzstandswahrung zu Lasten des Gemeinwohls gehen kann, insbesondere zu Lasten des Wirtschaftswachstums und der Beschäftigung, wird oft nur im längeren Zeitverlauf offenkundig. Es kommt damit zu dem unpopulären Zustand eines Andauerns von Problemen, weil geeignete Reformen zu ihrer Beseitigung bei den am korporatistischen Verhandlungssystem beteiligten Partnern noch unpopulärer sind. Die Folge ist nicht zuletzt Politikverdrossenheit und eine prekär niedrige Meinung der Wähler von den Fähigkeiten der Politiker und Verbandsfunktionäre, die sie selbst gewählt haben. (43) Ein Element in dem bisher geschilderten Mechanismus verdient es, besonders hervorgehoben zu werden. Es wird in der Frage erkennbar, 2093
Gutachten vom 26.127. Mai 2000
wie eine Gesellschaft mit dem Phänomen „Risiko" fertig zu werden versucht. Dieses Phänomen stellt derzeit eine besonders große gesellschaftliche Herausforderung dar, da die Zukunftsgewissheit auf Grund des sich beschleunigenden wirtschaftlichen und technischen Wandels abzunehmen scheint. Dem steigenden Tempo des Wirklichkeitswandels im Geist der Zementierung der bestehenden Verhältnisse entgegenzutreten, mag kurzfristig vielleicht den Eindruck erwecken, die Risiken (z.B. den Arbeitsplatz oder die finanzielle Absicherung durch das Sozialsystem zu verlieren) ließen sich klein halten. Wichtig ist jedoch die Einsicht, dass die Verweigerung der aktiven Gestaltung des unaufhaltsamen Wirklichkeitswandels wegen des dadurch gebremsten Wirtschafts- und Beschäftigungswachstums die Risiken in mittel- und erst recht in langfristiger Sicht gerade nicht senkt, sondern erhöht. Auch in Hinsicht auf die Risikominimierung sind tripartistische Vereinbarungen daher skeptisch zu beurteilen. 2. Der Außenwettbewerb
als offene Flanke
(44) Zu dieser skeptischen Beurteilung trägt die Erkenntnis bei, dass korporatistische Absprachen eine besonders empfindliche offene Flanke besitzen: den Außenwettbewerb. Je schärfer dieser ist, desto größer sind auf Dauer die Wachstums- und Beschäftigungsverluste auf Grund von korporatistischen Vereinbarungen, die den legislativen Status quo erhalten, traditionelle Arbeitsplätze schützen und bisher zugesicherte Sozialleistungen weiterhin gewährleisten sollen. Letztlich wird nur wertvolle Anpassungszeit vertan. Der Beschäftigungserfolg der Niederlande beruht darauf, dass im Rahmen des Wassenaar-Abkommens diese Besitzstände gerade nicht erhalten, sondern dem Marktprozess ausgesetzt wurden. Im Bündnis für Arbeit sind ähnliche Schritte derzeit nicht absehbar. Hinzu kommt, dass tripartistische Vereinbarungen letztlich Kartellabsprachen entsprechen. Solche Absprachen in einer Zeit einzuhalten, die durch die Globalisierung der Märkte und die Internationalisierung von Wettbewerb und Produktion gekennzeichnet ist, erscheint nahezu unmöglich. 3.
Kurzfristorientierung
(45) Eine Gefahr korporatistischer Vereinbarungen ist die verhängnisvolle Kurzfristorientierung. Die Teilnehmer sind oft an schnellen Erfolgen interessiert: Die Regierung möchte noch vor den nächsten Wahlen verkünden können, dass es mit ihrer Hilfe gelungen sei, ein gravierendes 2094
Aktuelle F o r m e n des K o r p o r a t i s m u s
volkswirtschaftliches Problem zu lösen, zumal wenn sie versprochen hat, sich am Ausmaß der Problemlösung messen lassen zu wollen. Und Verbände, die sich zunehmend den Zwängen des Marktes ausgesetzt sehen, haben das Bedürfnis, ihre politische Macht zu demonstrieren, um Mitglieder weiterhin an sich zu binden. Die Kurzfristorientierung ist deshalb eine Gefahr, weil erfolgversprechende Reformen oft einen langen Atem verlangen. Anfängliche Rückschläge hinzunehmen mag Voraussetzung dafür sein, dass die Wirtschaft schließlich die Fähigkeit gewinnt, dem beschleunigten Wirklichkeitswandel flexibel zu begegnen.
4. Paketlösungen
zu Lasten
Dritter
(46) Ein weiterer Mangel, dessen Erörterung bereits zu den Konsequenzen der aktuellen Formen korporatistischer Arrangements für die politische Ordnung überleitet, ist in der großen Versuchung zu sehen, Vereinbarungen zu Lasten Dritter, die nicht mit am Verhandlungstische sitzen, zu treffen. Charakteristisch für tripartistische Vereinbarungen der Gegenwart ist es, dass alle Teilnehmer Zusagen machen, die zu sogenannten Paketen geschnürt werden. Auch die Vertreter der Regierung beteiligen sich daran, und zwar mit gesetzlichen Regelungen, finanziellen Leistungen oder verstärktem Engagement auf staatlichen Handlungsfeldern. Dadurch werden Dritte belastet, obwohl deren Interessen eigentlich durch die Regierung vertreten werden sollten. Die belasteten Dritten können Steuer-/Zwangsbeitragszahler (wenn zusätzliche Sozialleistungen oder Subventionen zugesagt oder vermehrt ABM-Maßnahmen versprochen werden), künftige Generationen (Vorverlegung des Eintritts in den Ruhestand) oder Arbeitslose (Kündigungsschutzgesetze, Allgemeinverbindlichkeitserklärung) sein. (47) Zudem wächst die Gefahr von „Interventionsspiralen", da die Regierung sich immer wieder neu der Notwendigkeit ausgesetzt sehen könnte, mit Zugeständnissen an einzelne Interessengruppen deren Kooperation „einzukaufen": Die Interessengruppen verlangen Entschädigungen, die sozialpolitischer (Frühverrentung, Sozialhilfe), tarifprotektionistischer (Arbeitnehmerentsendegesetz, Kündigungsschutz, Allgemeinverbindlichkeitserklärung) oder ständerechtlicher (Korporationszwang, Festhalten am Meisterbrief) N a t u r sein können und letztlich dazu tendieren, wiederum zu Lasten Dritter auszufallen. Letztendlich dringen dann korporatistische Arrangements weit in gesellschaftliche Ordnungssysteme vor, wie das Beispiel der paritätisch besetzten Arbeitsgerichte belegt, durch deren Rechtsprechung korporatistische Anliegen gestärkt, die Rechte Einzelner aber eher geschwächt worden sind. 2095
Gutachten vom 26.121. Mai 2000
5. Konflikte mit der demokratisch-politischen
Grundordnung
(48) Schon durch diese Hinweise wird deutlich, dass die im Rahmen des tripartistischen Korporatismus entstehenden Institutionen nicht nur mit der marktwirtschaftlichen, sondern auch mit der demokratisch-politischen Grundordnung Deutschlands in Widerspruch geraten. Die Regierung gerät in den tripartistischen Verhandlungen unter Druck, direkt oder indirekt Befugnisse an Interessengruppen abzugeben. Die den Verhandlungsinstitutionen eigentümliche Vermischung getrennter Verantwortlichkeiten verringert die Zurechenbarkeit von Verantwortung. Das schwächt tendenziell die Bereitschaft, Verantwortung wahrzunehmen und beeinträchtigt die demokratischen Kontrollmöglichkeiten. (49) Teilnehmer an tripartistischen Verhandlungen ist auf Seiten der Regierung häufig ein zuständiger Fachminister mit den obersten Beamten. Was diese in den Verhandlungen zusagen, kann nicht immer mit dem Bundeskanzler, der die Richtlinienkompetenz besitzt, abgesprochen werden und präjudiziert nicht selten auch das Parlament in seiner gesetzgeberischen Zuständigkeit. Wenn sich der Staat nicht nur ausnahmsweise, sondern routinemäßig korporatistischer Arrangements als Handlungsform bedient, verändert das daher allmählich die politischen Institutionen. „Checks and balances", die die Verfassung mit gutem Grund vorgesehen hat, werden überspielt, damit die Regierung in den tripartistischen Verhandlungen aktionsfähig bleiben kann. Verändert werden auch die Mechanismen zur Legitimation staatlichen Handelns. Die formale Legitimation des gewählten Parlaments wird ersetzt durch die faktische Legitimität korporatistischer Arrangements, die sie allein aus ihrem Erfolg, d.h. aus der materiellen Richtigkeit der Entscheidung, beziehen. Da sich diese materielle Richtigkeit nicht beweisen lässt, ist das ein prekärer Mechanismus.
IV. Anwendungsfelder: das Gesundheitswesen und der Arbeitsmarkt (50) Denkbaren Erfolgen korporatistischer Institutionen stehen beträchtliche Gefahren gegenüber. Dies zeigen die beiden wichtigsten korporatistischen Institutionen, mit denen derzeit in Deutschland versucht wird, die Probleme der sozialen Sicherung und des Arbeitsmarktes zu lösen: die korporatistische Organisation des deutschen Gesundheitswesens (1) und das Bündnis für Arbeit (2). 1. Korporatistische Koordination im
Gesundheitswesen
(51) Das deutsche Gesundheitswesen enthält als zentrales Element die gemeinsame Selbstverwaltung von Krankenkassen und Kassenärzten, die zu2096
Aktuelle Formen des Korporatismus
gleich die Einweisung in eine stationäre Behandlung und die Versorgung mit Arzneimitteln veranlassen. Zudem wurden die Kassen auch mit den Verhandlungen mit den Krankenhäusern beauftragt. Manche politischen Akteure streben gar Preisverhandlungen mit den Einzelunternehmen der pharmazeutischen Industrie an. Diese korporatistische Koordination wurde akzentuiert durch die Schaffung der „Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen", die sich aus Vertretern der Leistungserbringer (im wesentlichen Kassenärzte und Krankenhäuser), der gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen, der Arbeitsmarktparteien, der pharmazeutischen Industrie und der Gebietskörperschaften und Ministerien zusammensetzt. (52) Die korporatistische Koordinierung lässt dem Wettbewerbsmechanismus in weiten Teilen des Gesundheitssektors kaum noch Raum. Zwar wurde auf dem Versicherungsmarkt mit der jüngeren Gesetzgebung Wettbewerb dadurch eingeführt, dass die Versicherten einmal im Jahr zu einer Kasse nach freier Wahl wechseln können. Die Hoffnung, allein dadurch das Gesundheitswesen effektiver und damit kostengünstiger zu machen, hat sich jedoch als illusionär erwiesen, weil das korporatistische Grundprinzip des bilateralen Monopols nicht aufgegeben wurde. So musste zuletzt, als Notnagel und Indiz für das Scheitern, die Globalbudgetierung eingeführt werden, eine Maßnahme, die wiederum nur in einer korporatistischen Marktorganisation möglich ist. (53) Das Kernproblem der korporatistischen Koordination im deutschen Gesundheitswesen liegt darin, dass einzelne Krankenkassen und einzelne Leistungserbringer keine Leistungspakete schnüren können, die in Preis und Qualität variieren. Auf der Seite des Versicherungsmarktes bietet die gesetzliche Krankenversicherung ein Einheitsangebot an, dessen Preis nicht nach der Qualität der Gesundheitsdienstleistungen variieren darf. Auf der Seite der Leistungserbringer ist Wettbewerb um effiziente Organisationsform und Leistungserbringung durch Globalbudgetierung und Katalogabrechnung sinnlos geworden. Als Folge bleiben insbesondere organisatorische Innovationen aus, und es werden Verträge zu Lasten Dritter geschlossen. (54) Die Bemühungen der Krankenkassen um ihre Kunden richten sich auf Kosteneinsparungen, um die Beiträge niedrig zu halten. Die wichtigsten Parameter für die in Wettbewerb stehenden Kassen sind für diese jedoch gar nicht verfügbar, nämlich die Wahl qualitativ und preislich günstiger Anbieter von Gesundheitsleistungen, da sie auf diesem Beschaffungsmarkt den Bindungen an ihre korporatistischen Verhandlungspartner unterliegen. Sie können ζ. B. nicht kostengünstige und medizinisch wie organisatorisch besonders effektive Versorgungsformen wählen, da einzelne Ärzte und Krankenhäuser nicht frei sind, mit einzel2097
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nen Kassen Verträge zu schließen. Die einzige Ausnahme hiervon waren vereinzelte Modellversuche und Strukturverträge, die jedoch von den kassenärztlichen Vereinigungen genehmigt werden mussten und nach der letzten Gesundheitsreform wegen des Globalbudgets unattraktiv geworden sind. Organisatorische Innovationen, besonders eine effizientere Arbeitsteilung zwischen ambulanter und stationärer Behandlung, sind damit im Keim erstickt worden. Die Gefahr einer Zementierung der bestehenden Verhältnisse (III. 1 ) hat sich bewahrheitet. (55) Der prinzipiell mögliche Prämienwettbewerb der Kassen um Versicherungskunden kann daher nur die Krankenversicherungen selbst zu Effizienz zwingen, nicht aber diesen Effizienzdruck an die eigentlichen Leistungserbringer weiterleiten. Daher können die Krankenversicherungen ihre Funktion als Wächter sparsamen Ressourcenverbrauchs nicht wahrnehmen. Dies wäre erst dann möglich, wenn die einzelnen Kassen einzelne Leistungserbringer belohnen und bestrafen können. Dies wird aber durch den Zwang, Verhandlungen en bloc führen zu müssen, durch die fehlende Möglichkeit freier Verhandlungen über Leistungspakete und deren Preise und schließlich durch das Globalbudget unmöglich gemacht. Verhandlungsführer und wirtschaftliche Akteure sind getrennt, in dieser Hinsicht entsteht ein „institutioneller Mismatch" ähnlich dem des Arbeitsmarktes (vgl. IV.2). (56) Der mangelnde Effizienzdruck hat in Deutschland zu einem im internationalen Vergleich überdurchschnittlichen Ressourceneinsatz pro Krankheitsfall geführt. Sogar im Vergleich mit den Vereinigten Staaten, einem Land mit bekanntermaßen teurem Gesundheitswesen, werden in Deutschland pro Kopf 35 Prozent mehr Ärzte und 20 Prozent mehr Krankenhauspersonal beschäftigt, wird eine fast doppelt so hohe Krankenhauskapazität vorgehalten und werden etwa 20 Prozent mehr Medikamente verschrieben. Trotz des geringeren Ressourceneinsatzes sind die krankheitsspezifischen Uberlebensraten in den USA jedoch höher als in Deutschland. Die in den USA höheren Gesundheitsausgaben ergeben sich vornehmlich aus den höheren Löhnen und Gehältern des amerikanischen Gesundheitspersonals. Der hohe Ressourceneinsatz in Deutschland lässt sich zum größten Teil auf eine längere Krankenhausaufenthaltsdauer und auf eine ineffiziente Arbeitsteilung zwischen stationärer und ambulanter Behandlung zurückführen. Beides folgt direkt aus den ökonomischen Fehlanreizen des korporatistischen Abrechnungssystems, bei denen der Ressourcenverbrauch zu Lasten Dritter ausgeweitet wird (hier des Versicherungskollektivs, vgl. III.4), und den institutionellen Restriktionen, die die Substitution zwischen stationärer und ambulanter Behandlung beschränken. Die Substi2098
Aktuelle Formen des Korporatismus
tutionsbeschränkungen sind ihrerseits Folge der korporatistischen Marktstruktur des deutschen Gesundheitswesens, da niedergelassene Ärzte ebenso wie die Krankenhäuser aus Gründen kurzfristiger „Marktsicherung" ihre Kunden nicht abwandern lassen wollen; die Gefahr der Kurzfristorientierung (III.3) bewahrheitet sich. Insgesamt sieht der Beirat in der korporatistischen Organisation des Gesundheitswesens ein Beispiel dafür, dass die ohnehin prekäre Balance zwischen Erfolgschancen und Gefahren korporatistischer Institutionen sich zum Schaden des Gemeinwohls wenden kann.
2. Bündnis für Arbeit (57) Das „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit" (kurz: „Bündnis für Arbeit") ist ein Versuch, die beiden drängendsten sozialen Probleme des gegenwärtigen Deutschlands, nämlich die Arbeitslosigkeit und die Krise des Sozialstaates, zu lösen. An den tripartistischen Verhandlungen sind die Bundesregierung durch den Bundeskanzler und fünf Bundesminister, die Arbeitgeberseite durch vier Verbandspräsidenten und die Gewerkschaften durch den DGB-Vorsitzenden und vier Vorsitzende von Einzelgewerkschaften vertreten. Das Bündnis ist mehr als eine informelle Verhandlungsrunde, es ist institutionalisiert mit eigenen Arbeits- und Expertengruppen. Das Bündnis setzt sich zwölf konkrete Ziele, von denen die ersten sechs wie folgt lauten: 14 1. Eine dauerhafte Senkung der gesetzlichen Lohnnebenkosten; eine strukturelle Reform der Sozialversicherung, 2. eine beschäftigungsfördernde Arbeitsverteilung, 3. eine Unternehmenssteuerreform zur Entlastung der mittelständischen Wirtschaft, 4. eine Verbesserung der Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, 5. flexibilisierte Möglichkeiten für das vorzeitige Ausscheiden aus dem Erwerbsleben, 6. eine Tarifpolitik, die den Beschäftigungsaufbau unterstützt. Die weiteren Ziele reichen vom verbesserten Zugang kleiner und mittlerer Unternehmen zu Wagniskapital bis zu einem Ausbau des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums zur Bekämpfung von Langzeit- und 14
Zitiert aus der Gemeinsamen Erklärung des Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit vom 7 . 1 2 . 1 9 9 8 , Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Seite 9. 2099
Gutachten vom 2Ö./27. Mai 2 0 0 0
Jugendarbeitslosigkeit, insbesondere einer Verbesserung der Weiterbildungsmöglichkeiten. (58) Ausgangspunkt des Bündnisses ist die anhaltend desolate Lage auf den Arbeitsmärkten, vor allem die hohe Langzeitarbeitslosigkeit unter den gering qualifizierten Arbeitnehmern. Dieses Gutachten ist nicht der Platz, umfassend auf die Ursachen der Arbeitslosigkeit einzugehen 1 5 . Festzuhalten ist jedoch: Ein wichtiger Auslöser der Arbeitslosigkeit liegt in dem technisch-wirtschaftlichen Wandel, der zu einem volatileren wirtschaftlichen Umfeld und einer sektoral, regional und qualifikatorisch sich verändernden Struktur der Arbeitsnachfrage geführt hat. Zudem reagiert heute die Arbeitsnachfrage wesentlich elastischer als früher auf Veränderungen der Arbeitskosten. Von dieser Entwicklung sind Unternehmungen und Arbeitnehmer ganz unterschiedlich betroffen. Die Problematik wird verstärkt durch den Teufelskreis, der bei der Arbeitslosigkeit beginnt und über die finanziellen Ungleichgewichte in den Systemen der Sozialen Sicherung und dementsprechend hoher Lohnnebenkosten wieder bei der Arbeitslosigkeit endet. (59) Im niederländischen Wassenaar-Prozess ist es gelungen, marktkonforme Antworten auf die veränderten, heterogenen wirtschaftlichen Gegebenheiten zu geben, insbesondere die Flexibilität der Reallöhne zu verbessern, für anpassungsfähigere sektorale, regionale und qualifikatorische Lohnstrukturen zu sorgen und die Arbeitnehmer räumlich und beruflich mobiler zu machen. An all dem fehlt es bisher in Deutschland. Statt dessen erweitern der hohe Zentralisierungsgrad der Tarifverhandlungen und der ausgebaute Sozialstaat den Tarifvertragsparteien die Möglichkeit, Teile der Lasten aus den veränderten wirtschaftlichen Gegebenheiten auf Dritte abzuwälzen, anstatt sich den Veränderungen selbst anzupassen. (60) Das Bündnis für Arbeit wird sein Hauptziel einer dauerhaften Senkung der Arbeitslosigkeit nur erreichen können, wenn es dazu genutzt wird, grundlegende Reformen der Arbeitsmärkte und der Systeme der sozialen Sicherung auf den Weg zu bringen. Notwendig ist zum einen, die Institutionen des Tarifvertragssystems so zu verändern, dass mehr Flexibilität bei den Löhnen und den Arbeitsbedingungen möglich wird, die der Heterogenität von Unternehmen und Arbeitnehmern Rechnung trägt. Erweisen sich die Tarifvertragsparteien dazu außerstande, so müssen wirksame gesetzliche Offnungsklauseln für Abhilfe sorgen. Notwendig sind zum anderen Reformen, die für mehr Effizienz in den Systemen der sozialen Sicherung sorgen, indem sie Fehlanreize beseitigen und der Kapitaldeckung von Versicherungsleistungen mehr Raum geben. Solche 15
Vgl. das Gutachten des Beirats „Langzeitarbeitslosigkeit" vom 1 9 . / 2 0 . Januar 1 9 9 6 .
2100
Aktuelle Formen des Korporatismus
Reformen waren zentrale Elemente des Wassenaar-Prozesses; sie finden sich auch in dem Zielkatalog des Bündnisses für Arbeit wieder. (61) Das zentrale politische Problem dieser Aufgabe besteht jedoch darin, dass das gegenwärtige institutionelle Arrangement Deutschlands ein polit-ökonomisches Gleichgewicht ist. Will man ein anderes Gleichgewicht, so braucht es das koordinierte Handeln derer, die für das neue Gleichgewicht nötig sind. Eine Mehrheit in der Bevölkerung ist mit den gegenwärtigen Institutionen einverstanden; eine Reform würde sie kurzfristig gesehen schlechter stellen. Nur die Arbeitslosen und die Eigentümer von Realkapital würden unmittelbar gewinnen, während die Arbeitsplatzbesitzer erst einmal mit geringeren Lohnzuwachsraten zu rechnen hätten. Die in den Gewerkschaften tonangebenden Arbeitsplatzbesitzer sind nur bereit, einer solchen Vereinbarung zuzustimmen, wenn sie für die temporäre Lohnzurückhaltung entschädigt werden. Dies kann den Staat als dritten Partner dazu veranlassen, durch zusätzliche Sozialleistungen oder eine verminderte Steuerlast für einen Ausgleich zu sorgen. (62) Es wird für die Regierung als dem unverzichtbaren dritten Partner in einem Bündnis für Arbeit immer schwieriger, für solche Entschädigungen zu sorgen. Die Lasten zusätzlicher Sozialleistungen werden vor allem auf Dialogoutsider verlagert, im wesentlichen auf zukünftige Generationen. Das gelingt aber immer weniger. Zum einen nehmen die finanziellen Schwierigkeiten des Sozialstaates zu, da vor allem die junge Generation ihren Widerstand gegen diese Form der Lastverschiebung anmeldet. Zum anderen kann der hohe Schuldenstand nicht weiter vergrößert werden, nicht zuletzt, weil die Zinszahlungen den politischen Handlungsspielraum erheblich einschränken. Damit stellt sich die Frage, was die Regierung in korporatistischen Verhandlungen den beiden anderen Partnern überhaupt noch anbieten kann. Denn auch weitere Steuererleichterungen und Abgabensenkungen sind, wenn man nicht einfach auf eine davon zu erwartende Steigerung des Sozialprodukts setzt, nur möglich, sofern es gelingt, die staatlichen Ausgaben einschließlich der sozialen zu verringern. Dagegen melden jedoch breite Schichten der Bevölkerung und die korporatistischen Partner in den Gremien der Selbstverwaltung des Sozialstaates ihren entschiedenen Widerstand an. (63) Auch für das Bündnis für Arbeit gilt, was schon für die Konzertierte Aktion zutraf: Korporatistische Arrangements sind grundsätzlich nur dann einigermaßen stabil, wenn die tripartistischen Vereinbarungen zentral getroffen werden. Damit werden aber die Schwierigkeiten, die strukturellen Probleme auf den Arbeitsmärkten adäquat anzugehen, nicht kleiner, sondern größer. Die 2101
Gutachten vom 16.127. Mai 2000
Zusage der Arbeitgeberverbände, bei einer moderaten Lohn- und Tarifpolitik mehr Beschäftigung zu schaffen, muss relativ unverbindlich bleiben, weil sie ihre Mitgliedsunternehmungen nicht wirklich dazu verpflichten können. Damit sind die Zusagen der Arbeitgeberverbände in einem Bündnis für Arbeit für die Gewerkschaften, die ohnehin nicht davon ausgehen, dass Lohnzurückhaltung zu mehr Arbeitsnachfrage führt, nicht sehr viel wert. Zudem können die zentralen Vereinbarungen auf der Ebene des Bündnisses den spezifischen Besonderheiten von Sektoren, Regionen und Unternehmungen ebensowenig entsprechen wie den unterschiedlichen Gegebenheiten auf Seiten der Arbeitnehmer. Die strukturellen Probleme auf den Arbeitsmärkten erfordern Lösungen vor Ort; gerade das können aber zentrale, korporatistische Abmachungen nicht leisten. (64) Das endgültige Urteil über das Bündnis für Arbeit ist damit allerdings noch nicht gesprochen. Notwendig ist ein neuer gesellschaftlicher Konsens darüber, was des Staates und was des Marktes ist. Ein Bündnis für Arbeit wird von vielen als ein Vehikel gesehen, diese eminent wichtige ordnungspolitische Aufgabe einer Lösung näher zu bringen. Das Bündnis für Arbeit wird also nur Erfolg haben, wenn es gelingt, die Tyrannei des institutionellen Status quo abzustreifen. (65) Die bisher beobachtbaren Indizien geben dem Beirat jedoch Anlass zur Sorge. Sie bestätigen die oben aufgeführten Befürchtungen. Das alte Spiel der Tarifpartner, beschäftigungspolitische Lasten auf Dritte abzuwälzen, geht im neuen Gewände des Bündnis für Arbeit weiter. An Ideen für interventionistische staatliche Aktivitäten herrscht kein Mangel; aus dem Bündnis für Arbeit kommen immer neue Vorschläge: Einmal sollen Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik ausgebaut werden, dann soll flächendeckend ein staatlich subventionierter Niedriglohnsektor eingerichtet werden, ein anderes Mal soll der Übergang in die Rente über beitrags- und steuerfinanzierte Tariffonds erleichtert werden. Die Rente mit 6 0 ohne adäquate versicherungsmathematische Abschläge war die aktuellste, sicherlich nicht letzte Idee, zukünftige Generationen auch weiter als Lastesel zu missbrauchen. Nicht institutionelle Innovation dominiert, sondern die Bewahrung überkommener Verhältnisse. Bisher kommt im Bündnis für Arbeit gerade das nicht zustande, was im Prozess von Wassenaar gelang: das Durchbrechen des polit-ökonomischen Gleichgewichts.
Schlussbemerkungen (66) Korporatistische Institutionen können helfen, wirtschaftspolitische Defizite und polit-ökonomische Blockaden aufzulösen, wenn sie die Ein2102
Aktuelle Formen des Korporatismus
sieht befördern, dass es marktkonformer Antworten und Reformen bedarf, um die Wohlstandsgewinne ausschöpfen zu können, die der beschleunigte technisch-wirtschaftliche Wandel bietet. (67) Das niederländische Beispiel des Abkommens von Wassenaar hat gezeigt, dass eine korporatistische Institution die Chance hat, marktkonforme Reformen in Gang zu setzen. Insbesondere durch das Aufbrechen der polit-ökonomischen Blockade gelangen dort wichtige Schritte zu einer Verbesserung der ordnungspolitischen Rahmenbedingungen und einer Erweiterung des Geltungsbereichs dezentraler Marktlösungen. Marktkonforme Antworten auf die Globalisierung der Märkte und das Beschäftigungsproblem sind eine größere Innovationsfähigkeit, Flexibilität und Mobilität der Unternehmen und Arbeitskräfte in bezug auf Standort, Ausbildung, Lohn- und Arbeitsbedingungen. Eine marktkonforme Antwort auf die steigende Lebenserwartung ist die Bereitschaft, die eigene Lebenserwerbszeit zu verlängern. Zu den marktkonformen Antworten auf das Ausgabenproblem im Gesundheitswesen gehören dezentrale Verhandlungen zwischen einzelnen Kassen und Leistungserbringern, die zu Einsparungen zugunsten der Gemeinschaft der Versicherten führen würden. (68) Die in diesem Gutachten angestellte Analyse der Funktionsbedingungen des tripartistischen Korporatismus zeigt aber auch, dass solche Institutionen stets in der Gefahr sind, rückwärtsgewandte Tendenzen der Besitzstandswahrung zu verstärken und sie zu Lasten Dritter durchzusetzen. Die historischen Erfahrungen Deutschlands, etwa im Gesundheitswesen oder am Arbeitsmarkt, sind wenig ermutigend. (69) Insgesamt gesehen erscheinen die Chancen, mit Hilfe korporatistischer Institutionen zu besseren wirtschaftspolitischen Lösungen zu kommen, nicht hoch. Auch der Wassenaar-Prozess war langwierig und sehr schwierig. Worauf es in Deutschland jetzt ankommt, ist, die vorhandenen korporatistischen Institutionen, auch das Bündnis für Arbeit, für den Versuch zu nutzen, den Spielraum für Marktlösungen nachhaltig zu erweitern. Berlin, den 13. Juni 2 0 0 0 Der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie Prof. Dr. Wernhard Möschel
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Gutachten vom 01. Juli 2000 Thema: Reform der europäischen Kartellpolitik Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie hat sich in mehreren Sitzungen, zuletzt am Ol. Juli 2 0 0 0 , mit dem Thema
Reform der europäischen
Kartellpolitik
befasst und ist dabei zu der nachfolgenden Stellungnahme gelangt.
Die ökonomischen und die rechtlichen Gründe, warum ein grundsätzliches und praktisch wirksames Kartellverbot ein notwendiger Bestandteil einer marktwirtschaftlichen Ordnung ist, hat der Beirat in früheren Gutachten zur deutschen und europäischen Wettbewerbspolitik herausgearbeitet. Im Zusammenhang mit der Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion haben die Mitgliedstaaten im Vertrag von Maastricht zum ersten Mal normiert, dass die Gemeinschaft einem System offener Märkte bei freiem Wettbewerb verpflichtet ist (näher dazu: Beiratsgutachten vom August 1 9 9 4 „Ordnungspolitische Orientierung für die Europäische Union"). Die geltenden Wettbewerbsregeln wurden dadurch zwar nicht geändert, aber hervorgehoben wird, dass die Instrumente der Währungspolitik wie sie im EG-Vertrag geregelt sind, zu ihrer Wirksamkeit wettbewerbliche Strukturen voraussetzen. Durch das im EG-Vertrag normierte System unverfälschten Wettbewerbs, das nach Art. 81 EGVertrag ein Kartellverbot einschließt, sollen diese Voraussetzungen gewährleistet werden. 1. Die EG-Kommission hat grundlegende Veränderungen für die Beurteilung von Kartellen angekündigt. Im Weißbuch vom 1 2 . 5 . 1 9 9 9 (Amtsblatt C 3 2 1 ) wird eine auf Art. 83 EG-Vertrag zu stützende Verordnung vorgeschlagen. Durch sie sollen die gegenwärtig geltenden Regeln verändert werden, nach denen das Kartellverbot in Art. 81 Abs. 1 nur in einem gesonderten Freistellungsverfahren nach Art. 81 Abs. 3 für unanwendbar erklärt werden kann. Bisher sind Vereinbarungen, die eine Beschränkung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken, nach Art. 81 Abs. 1 verboten und nach Art. 81 Abs. 2 nichtig. Hat eine solche Vereinbarung ausnahmsweise überwiegende positive Wirkungen, weil sie zur Verbesserung der Warenerzeugung oder Verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beiträgt, so kann das Verbot für unanwendbar erklärt werden. Diese Entscheidung ergeht in einem Verwaltungsverfahren, das die vorherige Anmeldung der Vereinbarung bei der Kommission voraussetzt. An die Stelle dieses Systems 2105
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soll die Auslegung von Art. 81 als Verbot mit Legalausnahme treten. Danach soll Art. 81 im Ganzen von den Gerichten der Mitgliedstaaten angewendet werden. Diese unmittelbare Anwendbarkeit, die bisher nur für das Verbot in Art. 81 Abs. 1 gilt, soll in Zukunft mit Art. 81 Abs. 3 verbunden werden. Danach können die Gerichte das Verbot in Art. 81 Abs. 1 nur anwenden, wenn sie zugleich feststellen, dass die Voraussetzungen der Freistellung nicht vorliegen. Diese Veränderung des Freistellungsverfahrens führt im Ergebnis zugleich dazu, dass Kartelle ohne vorherige behördliche Prüfung praktiziert werden können. In dem Entwurf von Leitlinien zur Anwendung von Art. 81 EG-Vertrag auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit vom 2 7 . 04. 2 0 0 0 (Amtsblatt C 118/3) wird eine von der bisherigen Praxis der Kommission und des E u G H abweichende Auslegung des für wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen nach Art. 81 Abs. 1 geltenden Verbots angekündigt. Grundlage für die Beurteilung von wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen soll nicht mehr die vertragliche oder abgestimmte Beschränkung der wettbewerblichen Handlungsfreiheit sein, sondern eine ökonomische Gesamtbetrachtung der durch die Vereinbarung entstehenden Marktstrukturen. Der Beirat nimmt im folgenden zu einigen der damit gestellten Grundsatzfragen Stellung, ohne sich mit der gesamten Wettbewerbspolitik der Kommission auseinander zusetzen. Zu prüfen ist insbesondere, wie sich das vorgeschlagene System der Legalausnahme auswirkt, ob es im Vergleich zu dem abzuschaffenden Anmelde- und Freistellungssystem eine wirksame Durchsetzung des Kartellverbots gewährleistet und ob es mit dem EG-Vertrag vereinbar ist. 2. Nach geltendem Recht werden das Kartellverbot (Art. 81 Abs. 1 ) und das Missbrauchsverbot für beherrschende Unternehmen (Art. 82) von der Kommission und in einem Teil der Mitgliedstaaten auch von den nationalen Kartellbehörden angewendet. Die mitgliedstaatlichen Gerichte sind insbesondere berechtigt und verpflichtet, die kraft Gesetzes nach Art. 81 Abs. 2 eintretende Nichtigkeit von Kartellvereinbarungen zu beachten. Die Kommission ist jedoch ausschließlich zuständig, das Kartellverbot nach Art. 81 Abs. 3 für unanwendbar zu erklären. Eine Freistellung können nur solche Vereinbarungen erlangen, die bei der EGKommission angemeldet sind (Art. 9 Abs. 1 Verordnung Nr. 17). Die Kommission will dieses zentralisierte Freistellungssystem ändern, weil es die Verwaltung in einer erweiterten Gemeinschaft überfordere und die Verfolgung schwerer Wettbewerbsverstöße behindere. Deshalb sei die Anwendung der Wettbewerbsregeln auf nationaler Ebene durch Behörden 2106
R e f o r m der europäischen Kartellpolitik
und Gerichte zu fördern. Zu diesem Zweck sei das Anmelde- und Freistellungssystem abzuschaffen. In einer Verordnung des Rates sei Art. 81 Abs. 3 für unmittelbar anwendbar zu erklären. Auf diese Weise seien Kommission, nationale Behörden und Gerichte in der Lage, Art. 81 in seiner Gesamtheit anzuwenden. Die Trennung des Verbotstatbestandes vom Freistellungstatbestand entfalle. Ein gesondertes Verfahren für die Freistellung wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen sei in diesem System der gesetzlichen Ausnahme nicht mehr notwendig. Der Beirat stimmt mit der Kommission darin überein, dass eine dezentrale Anwendung der Wettbewerbsregeln durch staatliche Kartellbehörden und Gerichte gefördert werden sollte. Der Vorschlag, das Freistellungsverfahren abzuschaffen und die nationalen Gerichte über die Anwendung von Art. 81 im Ganzen entscheiden zu lassen, ist jedoch nicht geeignet, diesem Ziel zu dienen. 3. Die Kommission vergleicht das bisherige Freistellungsverfahren mit dem vermeintlich wirksameren System der Legalausnahme. In diesem System könnten die Unternehmen, wenn die Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 erfüllt seien, „vor den staatlichen Gerichten sofort die Durchführung ihrer Verträge ab dem Zeitpunkt des Abschlusses erwirken" (Weißbuch Rdnr. 78). Geschädigte Dritte könnten Schadensersatz- und Unterlassungsansprüche geltend machen. Die Auswirkungen des Systems der Legalausnahme werden damit zum Teil unzutreffend dargestellt. Richtig ist, dass alle wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen von den Unternehmen von Anfang an praktiziert werden können. Dafür ist es jedoch nicht nötig und nicht möglich, „sofort" vor staatlichen Gerichten eine Befugnis zur Durchführung der Vereinbarung zu erwirken. O b die beteiligten Unternehmen ihre Vereinbarung praktizieren, bleibt vielmehr deren eigener Beurteilung überlassen. Eine gerichtliche Überprüfung findet nur statt, wenn die Wirksamkeit der Vereinbarung von einem der beteiligten Unternehmen oder von Dritten in Frage gestellt wird. Alle Vereinbarungen können bis zu einem negativen Urteil ungeachtet ihrer schädlichen Auswirkungen praktiziert werden. Die Wirksamkeit des Verbots mit Legalausnahme hängt unter diesen Umständen maßgeblich davon ab, ob das Risiko der rückwirkenden gerichtlichen Feststellung eines Verstoßes abschreckend wirkt. Nur unter dieser Voraussetzung behält das Kartellverbot seine praktische Wirksamkeit. 4. In seiner Anwendung durch staatliche Gerichte hat das Verbot mit Legalausnahme keine abschreckende Wirkung. Die Anwendung des Kartellverbots und die Freistellung vom Kartellverbot sind primär die Auf2107
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gäbe von Behörden, weil vom Kartell geschädigte Dritte häufig aus wirtschaftlichen Gründen nicht bereit und nicht in der Lage sind, Schadensersatz- oder Unterlassungsansprüche geltend zu machen. Der Kläger, der gleichwohl bereit ist, sich gegen das Kartell zur Wehr zu setzen, hat mit besonderen Prozessrisiken zu rechnen. Liegen die Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 nicht vor, so bewirkt die Geltung des Verbots, dass die Vereinbarung von Anfang an nach Art. 81 Abs. 2 nichtig ist. Ein Risiko folgt daraus für die Kartellmitglieder aber nur, wenn der Verstoß nach dem Recht der Mitgliedstaaten zugleich geeignet ist, Schadensersatz- oder Unterlassungsansprüche zu begründen, und damit zu rechnen ist, dass diese Ansprüche von geschädigten Dritten auch geltend gemacht werden. In dieser Hinsicht bestehen im Privatrecht der Mitgliedstaaten erhebliche Unterschiede. Unterstellt, dass ein Verstoß gegen Art. 81 Schadensersatzansprüche aus unerlaubter Handlung oder wegen unlauteren Wettbewerbs begründen kann - wie es nach deutschem Recht in bestimmten Fällen möglich ist - , so sind die Erfolgsaussichten für potentielle Kläger gleichwohl gering. Die Kommission hebt hervor, dass es in einem System der Legalausnahme keine Vermutung für einen Verstoß gegen Art. 81 gibt (Weißbuch Rdnr. 78). Den Kläger trifft die Beweis- und Darlegungslast einmal für den Tatbestand des Kartellverbots; er muss außerdem dartun, dass die Freistellungsvoraussetzungen nicht vorliegen. Die Umstände, die eine Freistellung rechtfertigen könnten, bestehen in Beiträgen zum wirtschaftlichen oder technischen Fortschritt und in Rationalisierungserfolgen. Sie sind wesensgemäß nur den beteiligten Unternehmen bekannt. Es gibt Hinweise, dass - abweichend vom Weißbuch - die geplante Verordnung den Unternehmen, die sich auf Art. 81 Abs. 3 berufen, die Darlegungs- und Beweislast zuweisen soll. Selbst bei einer solchen Regelung wird es für geschädigte Dritte außerordentlich schwierig sein, angebotene Beweise im Rahmen eines Zivilprozesses zu erschüttern. Entsprechend hoch ist auch das Prozesskostenrisiko. Auch den unwahrscheinlichen Fall einer erfolgreichen Klage brauchen die Kartellmitglieder nicht sonderlich zu fürchten. Allenfalls sind sie zum Ersatz eines nur schwer nachweisbaren Schadens verpflichtet. Im kontinentalen Privatrecht haben Schadensersatzansprüche jedoch keinen Strafcharakter, wie es im US-Recht für Verstöße gegen die Antitrust-Gesetze zutrifft (treble damages). Das öffentliche Interesse am wirksamen Wettbewerb kann durch erfolgreiche Schadensersatzklagen ohnehin nur unzureichend gewahrt werden. Der erfolgreiche Kläger ist so zu stellen, wie sein Vermögen ohne den Gesetzesverstoß sein würde. Die durch Wettbewerbsbeschränkung verfälschten Signale, die von den durch das Kartell geprägten 2108
R e f o r m der europäischen Kartellpolitik
Marktbedingungen ausgehen und an denen sich das Verhalten Dritter orientiert, lassen sich rückwirkend nicht beseitigen. Dies ist für sich allein ein wichtiger Grund, Kartelle vor ihrem Vollzug auf ihre Vereinbarkeit mit den Freistellungsvoraussetzungen zu prüfen. 5. Im Kommissionsentwurf von Leitlinien zur Anwendung von Art. 81 auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit werden neue Grundsätze für die Auslegung des Verbotstatbestandes in Art. 81 Abs. 1 angekündigt. Die Leitlinien werden als analytischer Rahmen für die Beurteilung der üblichen Formen der horizontalen Zusammenarbeit bezeichnet. Diese Bewertung soll das wirtschaftliche Umfeld der Kooperationsvereinbarung einschließen. Wörtlich heißt es: „Wirtschaftliche Kriterien wie die Marktmacht der Vertragspartner und andere Merkmale der Marktstruktur sollen ein wesentlicher Bestandteil bei der Ermittlung der von der Zusammenarbeit zu erwartenden Auswirkungen und damit für die Bewertung nach Art. 81 sein". (Rdnr. 7). Bisher ist Ausgangspunkt der Prüfung, ob eine Vereinbarung gegen Art. 81 Abs. 1 verstößt, die vertragliche oder faktische Einschränkung der wettbewerblichen Handlungsfreiheit der beteiligten Unternehmen. Sind diese Vereinbarungen von der Art, dass sie spürbare Wirkungen auf den M a r k t und den zwischenstaatlichen Handelsverkehr erwarten lassen, so verstoßen sie grundsätzlich gegen Art. 81 Abs. 1. Das Entsprechende gilt, wenn Wettbewerber in ihrem Verhältnis zueinander die Ungewissheit über ihre wettbewerblichen Reaktionen ausschließen und wenn dadurch der Wettbewerb beschränkt wird. Die Kommission schlägt als Ausgangspunkt der Prüfung stattdessen vor, die Stellung der Vertragspartner in den von der Zusammenarbeit betroffenen Märkten zu untersuchen, um zu ermitteln, ob die Vertragspartner durch die Zusammenarbeit Marktmacht behalten, erlangen oder ausbauen können, „ob sie also die Möglichkeit haben, Preise, Produktion, Innovation oder Vielfalt sowie Qualität der Waren und Dienstleistungen negativ zu beeinflussen". Dafür müssten zunächst die relevanten Märkte abgegrenzt werden (Rdnr. 2 7 ) . Das Kartellverbot wird bezüglich seiner Voraussetzungen der an die Marktstruktur anknüpfenden Fusionskontrolle und bezüglich der zu erfassenden Verhaltensweisen dem Missbrauchsverbot für beherrschende Unternehmen in Art. 82 angenähert. Die Geltendmachung privatrechtlicher Rechtsbehelfe wegen Verstoßes gegen Art. 81 wird damit zusätzlich erschwert. Ein vom Kartell Geschädigter müsste zur Begründung seiner Ansprüche nämlich - ähnlich wie bei Art. 81 Abs. 3 - Tatsachen darlegen und beweisen, die für ihn nicht zugänglich und nach zivilprozessualen Regeln auch nicht zu ermitteln sind. Gleichzeitig würden 2109
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damit die materiellrechtlichen Kriterien verändert, die für die behördliche Verfolgung von Kartellverstößen gelten. 6. Die von der Kommission geltend gemachten verwaltungstechnischen Gründe gegen ein System der Anmeldung und Freistellung ausnahmsweise positiv wirkender Kartelle sind nicht geeignet, dessen Abschaffung zu rechtfertigen. a) Das bestehende System hat beträchtliche positive Auswirkungen. Diese sind nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen mit dem ähnlichen deutschen System unverkennbar. Die beteiligten Unternehmen sind gezwungen, bei ihren Vereinbarungen in Rechnung zu stellen, dass diese von einer unabhängigen Behörde auf ihre Vereinbarkeit mit dem Ausnahmetatbestand geprüft werden. Die notwendige Anmeldung fördert eine realistische Beurteilung geplanter Wettbewerbsbeschränkungen durch die beteiligten Unternehmen. Die Kartellbehörden erhalten im Freistellungsverfahren wichtige Informationen über die Wettbewerbsverhältnisse. Nur freigestellte Kartelle erhalten Rechtssicherheit und dürfen praktiziert werden. Nicht angemeldete Kartelle können nachträglich nicht gerechtfertigt werden und laufen das volle Risiko behördlicher und privatrechtlicher Sanktionen. In einem System der Legalausnahme sind dagegen selbst die „hard core "-Kartelle, welche die Kommission mit Vorrang verfolgen will, nicht gehindert, sich nachträglich zur Rechtfertigung auf die Freistellungsvoraussetzungen zu berufen, welche ihrer Natur nach einen weiten Beurteilungsspielraum eröffnen. Ihr Vorliegen lässt sich auch bei Preis- oder Marktaufteilungskartellen nicht von vornherein ausschließen. Das Freistellungsverfahren ermöglicht im Gegensatz zum System der Legalausnahme die Kontrolle der privilegierten Wettbewerbsbeschränkungen. Art. 83 Abs. 2 lit. b verweist dazu auf die durch Verordnung zu regelnden Einzelheiten der Anwendung des Art. 81 Abs. 3, wobei dem Erfordernis einer wirksamen Überwachung bei möglichst einfacher Verwaltungskontrolle Rechnung getragen werden soll. Eine „Verwaltungskontrolle" ist den Gerichten, die in Zukunft allein zuständig sein sollen, ihrem Wesen nach nicht möglich. Zu den auch praktisch wichtigen Maßnahmen, die dem Missbrauch der Freistellung entgegenwirken, gehört deren zeitliche Begrenzung. In einem System der Legalausnahme, in dem die Gerichte entscheiden, ob ein Verstoß gegen Art. 81 im Ganzen vorliegt oder nicht vorliegt, entfallen alle Möglichkeiten, freigestellte wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen auf ihre zeitlich begrenzte oder fortdauernde Rechtfertigung zu überprüfen. Wenn Art. 83 diese Möglichkeit im einzelnen geregelt wissen will, so verweist dies auf die Not2110
Reform der europäischen Kartellpolitik
wendigkeit, zwischen dem Verbotstatbestand in Art. 81 Abs. 1 und dem Freistellungstatbestand in Art. 81 Abs. 3 kategorial zu unterscheiden. Dieser Unterschied wird in einem System der Legalausnahme im Widerspruch zum EG-Vertrag eingeebnet. b) Die von der Kommission geltend gemachte Arbeitsüberlastung kann durch Beteiligung der mitgliedstaatlichen Kartellbehörden abgebaut werden. Eine solche Lösung befindet sich in Ubereinstimmung mit dem von der Kommission verfolgten Ziel der Dezentralisierung. Sie vermeidet die Nachteile des Systems der Legalausnahme, und sie kann so ausgestaltet werden, dass sie mit der von der Kommission zu gewährleistenden Kohärenz der Freistellungsentscheidungen im gesamten Gemeinsamen Markt vereinbar ist. Die Entscheidungen der staatlichen Kartellbehörden sind zu koordinieren und im Hinblick auf die gemeinsame Wettbewerbspolitik durch die Kommission aufeinander abzustimmen und zu kontrollieren. Zu diesem Zweck ist über die örtliche Zuständigkeit der in Betracht kommenden mitgliedstaatlichen Kartellbehörden nach dem Schwerpunkt der geplanten Wettbewerbsbeschränkung zu entscheiden. Die Kommission wäre von den mitgliedstaatlichen Kartellbehörden über alle Freistellungsentscheidungen zu informieren. Ihr wäre ein Widerspruchsrecht einzuräumen, durch dessen Ausübung sie das Verfahren innerhalb einer Frist von etwa einem M o n a t an sich ziehen könnte, um in der Sache selbst zu entscheiden. Wird die Kommission nicht tätig, so bleibt es bei der Entscheidung der mitgliedstaatlichen Kartellbehörden. Deren Entscheidungen sollten dieselbe gemeinschaftsweite Wirkung haben wie Entscheidungen der Kommission. Die Ausgestaltung des Verfahrens im einzelnen ist nicht Gegenstand dieser Stellungnahme. Hervorzuheben ist jedoch, dass ein dezentralisiertes Freistellungsverfahren mit geringeren Interventionsvorbehalten auskommen könnte, als sie die Kommission für sich in Durchführung des Systems der Legalausnahme in Anspruch nehmen will. 7. Die geplante auf Art. 83 EG-Vertrag zu stützende Verordnung des Rates, welche die unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 81 im Ganzen einführen soll, ist mit dem Vertrag unvereinbar. Die Ausgestaltung der Wettbewerbspolitik durch Verordnungen des Rates nach Art. 83 soll der Verwirklichung der in Art. 81 und 82 normierten Grundsätze dienen. Verordnungen dürfen jedoch die Normen des Vertrages nicht ändern. Zu der Substanz des EG-Vertrages, in welche auch der Gemeinschaftsgesetzgeber nicht eingreifen darf, gehört die Eigenschaft einer Vertragsnorm, nach der Rechtsprechung des E u G H unmittelbar anwendbar zu sein.
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Gutachten vom 1. Juli 2 0 0 0
Der Wortlaut des Vertrages, insbesondere der Wortlaut von Art. 81 und der bereits zitierte Art. 83 Abs. 2 lit. b, sprechen dafür, dass das Verbot in Art. 81 gilt, solange nicht in einem gesonderten Verfahren durch eine Verwaltungsbehörde durch Einzelentscheidung oder durch Gruppenausnahme entschieden ist, dass die Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 vorliegen und das Verbot deshalb für unanwendbar erklärt werden kann. Die unmittelbare Geltung von Art. 81 Abs. 1 folgt nach der Rechtsprechung des E u G H unmittelbar aus dem EG-Vertrag und nicht aus dem diesen Charakter der Vorschrift bestätigenden Wortlaut von Art. 1 Verordnung 17. Überdies zeigt bereits Art. 83 Abs. 2 lit. b, dass es zu den Pflichten des Gemeinschaftsgesetzgebers gehört, die Einzelheiten für die Freistellung wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen zu regeln und für ihre wirksame Kontrolle zu sorgen. In einem System der Legalausnahme ist dafür, wie bereits hervorgehoben, kein Raum. Aus der Rechtsprechung des E u G H folgt ferner, dass eine Verordnung nicht geeignet ist, dem Verbot des Art. 81 Abs. 1 seine unmittelbare Anwendbarkeit zu entziehen. Sieht eine Verordnung aber vor, dass Art. 81 Abs. 1 nur gekoppelt mit Art. 81 Abs. 3 angewendet werden darf, so wird dem Verbot des Abs. 1 seine unmittelbare Anwendbarkeit entzogen. Etwas anderes würde nur gelten, wenn auch Art. 81 Abs. 3 unmittelbar anwendbar wäre. Mit der Entscheidung des EuGH, ob eine Norm unmittelbar anwendbar ist, wird festgestellt, dass sie justitiabel ist, d. h. ihrer Natur nach geeignet, durch die Gerichte der Mitgliedstaaten angewendet zu werden. Über die Justitiabiliät von Freistellungsentscheidungen hat der EuGH zwar nicht für die Gerichte der Mitgliedstaaten, wohl aber für sich selbst entschieden. Gegenstand dieser Rechtsprechung sind die von Unternehmen angefochtenen Entscheidungen der Kommission, durch die eine Freistellung verweigert wurde. Hier hat der E u G H in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die Anwendung von Art. 81 Abs. 3 einen weiten Beurteilungsspielraum voraussetzt, da es sich um schwierige ökonomische Einschätzungsfragen handele, die richterlicher Prüfung nur eingeschränkt zugänglich seien. Diese richterliche Prüfung habe sich deshalb darauf zu beschränken, ob die Verfahrensregeln eingehalten seien, die Entscheidung hinreichend begründet und der Sachverhalt zutreffend dargestellt sei und kein offenbarer Ermessensmissbrauch vorliege. Der E u G H ist mithin nicht bereit, in eigener Zuständigkeit darüber zu entscheiden, ob es gerechtfertigt ist, eine wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung freizustellen, zumal bei dieser Entscheidung letztlich nicht die Belange der beteiligten Unternehmen, sondern das öffentliche Interesse am Wettbewerb und an den Grenzen zugelassener Wettbewerbsbeschränkungen maßgeblich seien. 2112
R e f o r m der europäischen Kartellpolitik
M i t dem System der Legalausnahme und der Anwendung von Art. 81 im Ganzen würde den Gerichten in den Mitgliedstaaten mithin eine Zuständigkeit übertragen, die der E u G H für sich selbst wegen fehlender Justitiabiliät zurückgewiesen hat. Die geplante Verordnung würde mit der unmittelbaren Anwendbarkeit von Art. 81 Abs. 1 unvereinbar sein und deshalb gegen den EG-Vertrag verstoßen. Wettbewerbspolitisch bestätigt die angeführte Rechtsprechung des E u G H die Gründe, aus denen die Zivilgerichte der Mitgliedstaaten nicht in der Lage sein würden, Art. 81 im Ganzen wirksam anzuwenden. Der Beirat empfiehlt dem Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, alles zu tun, um die aufgezeigten Fehlentwicklungen im Rechtsetzungsverfahren möglichst zu verhindern. Sollte dies nicht gelingen und eine Verordnung nach Art der von der Kommission vorgeschlagenen Verordnung verabschiedet werden, sollte eine Klage der Bundesregierung zum E u G H mit dem Ziel in Betracht gezogen werden, die Verordnung für nichtig zu erklären. Die Klagebefugnis der Bundesrepublik Deutschland ergibt sich aus Art. 2 3 0 EG-Vertrag. Dresden, den 1. Juli 2 0 0 0 Der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie Prof. Dr. Wernhard Möschel
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Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft
Sammelband der Gutachten von 1987 bis 1997 Herausgegeben vom Bundesministerium für Wirtschaft 1998. XVI, 555 S., Ln. DM 1 4 8 (ISBN 3-8282-0054-0)
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vorliegenden Zehnjahresband aus den Jahren
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Zum
die grundanderen sind sie
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der Gutachten
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2. Band: Gutachten vom Juni 1950 bis November 1952 (ISBN 3-8282-0062) DM 18,-
10. Band: Gutachten vom Dezember 1978 bis Februar 1980 (ISBN 3-8282-0070-2) DM 34,-
3. Band: Gutachten vom Dezember 1952 bis November 1954 (ISBN 3-8282-0063-X) DM 18,-
11. Band: Gutachten vom Januar 1981 bis Juni 1983 (ISBN 3-8282-0071-0) DM 38,-
4. Band: Gutachten vom Januar 1955 bis Dezember 1956 (ISBN 3-8282-0064-8) DM 12,-
12. Band: Gutachten vom Dezember 1984 bis Dezember 1986 (ISBN 3-8282-0072-9) DM 38,-
5. Band: Gutachten vom Januar 1957 bis März 1961 (ISBN 3-8282-0065-6) DM 1 8 -
13. Band: Gutachten vom Juni 1987 bis März 1990 (ISBN 3-8282-0073-7) DM 34,-
6. Band: Gutachten vom April 1961 bis März 1966 (ISBN 3-8282-0066-4) DM 1 2 -
14. Band: Gutachten vom Juni 1990 bis Juli 1992 (ISBN 3-8282-0074-5) DM 52,-
7. Band: Gutachten vom Juni 1966 bis Dezember 1971 (ISBN 3-8282-0067-2) DM 1 8 -
15. Band: Gutachten vom August 1994 bis Juni 1997 (ISBN 3-8282-0078-8) DM 6 4 -
8. Band: Gutachten vom März 1973 bis November 1975 (ISBN 3-8282-0068-0) DM 24,-
LUCIUS LUCIUS
Stuttgart
Wachstum, Strukturwandel und Wettbewerb Herausgegeben von Helmut Walter, Stephanie Hegner, Jürgen M. Schechler Mit Beiträgen von H. Bartling, B. Blessin, R. Clapham, F. Daumann, M. Dietz, U. Fehl, H.-D. Feser, J. Genosko, E. Görgens, G. Gröner, W. Grosskopf, H. Hagemann, St. Hegner, F. Heidhues, B. Holwegler, H. Klodt, K. Knottenbauer, B. Nolte, J. Pätzold, J. M. Schechler, O. Schneider, H. P. Seitel, St. Seiter, H. P. Spahn, U. Schempp, A. Schmidt, H.-M. Trautwein, H. Walter 2000. XXXIV/587 S. gb. DM 138,-/öS 1007,-/sFr 1 2 2 (ISBN 3-8282-0146-6)
Die Beiträge dieses Bandes behandeln aktuelle Probleme aus den nachfolgenden
Gebieten:
• Wirtschaftliches Wachstum und • Sektoraler und regionaler • Wettbewerb und
Stabilisierung
Strukturwandel
Globalisierung
Die thematische Spannweite
reicht dabei vom Verhältnis
zwischen
Innovatoren und Imitatoren, den Problemfeldern der evolutorischen Ökonomik
und der Beschäftigung
Ökonomie,
Umweltprobleme
Aufschwung
über Megafusionen,
und Arbeitsplatzexport
Ost und dem Systemwettbewerb
LUCIUS LUCIUS
' /o\ ÉÉSU
Internetbis zum
zwischen
Stuttgart
Staaten.
Fax 07 Î1/24 20
Neuerscheinungen Unternehmenskontrolle und Kapitalmarkt Die Aktienrechtsreformen von 1965 und 1998 im Vergleich Von Gerrit Fey 2000. VI/83 S. kt. DM 29,50/öS 215,-/sFr 27,50 (Studien zur Ordnungsökonomik, H. 25) ISBN 3-8282-0140-7 Das Konzept
des Shareholder Value und die Möglichkeit feindlicher
nehmensübernahmen
sind wesentliche Bestandteile
Modells, das sich an leistungsfähigen
internationalen
Governance-
Kapitalmärkten
orientiert —
als Voraussetzung für eine wirksame Managementkontrolle Das deutsche Aktiengesetz bis heute umfangreiche bereich der
und
steht traditionell im Widerspruch
Unternehmensveiflechtungen
Unter-
eines Corporate
Kapitalallokation.
dazu: Es
begünstigt
und stärkt den
Einfluss-
Banken.
Die Studie zeigt dies anhand eines Vergleichs der Reformkonzeptionen rechts von 1965 und 1998. Daraus werden Ansatzpunkte Erweiterung
der Kapitalmarktkontrolle
nalen Standortwettbewerb
gewonnen,
attraktiver machen
für eine
die Deutschland
des
Aktien-
systematische im
internatio-
könnte.
Die Aktiengesellschaft in Großbritannien im Wandel der Wirtschaftspolitik Ein Beitrag zur Pfadabhängigkeit der Unternehmensordnung Von Rebecca Strätling 2000. XIII/258 S. kt. DM 58,-/öS 429,-/sFr 53,50 (Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft Bd. 62) ISBN 3-8282-0128-8 Aktiengesellschaften
unterliegen internen und externen
Kontrollen
mensleitung
und ermöglichen wie keine andere Rechtsform
Beteiligung
der Bevölkerung
nelle Ausgestaltung
am Produktivvermögen.
dem jeweiligen
Am Beispiel Großbritanniens politik auf die Entwicklung zwischen
Zugleich
ist ihre
Einfluss der Wirtschaftspolitik
staatlicher Rechtssetzung
auswirkt. Im
und spontaner wettbewerblicher ergeben, die eine bemerkenswerte
aufweisen — trotz verschiedener wirtschaftspolitischer
Lucius
& Lucius
·
Unternehdie
institutio-
ausgesetzt.
wird gezeigt, wie sich der Wandel der von Aktiengesellschaften
haben sich Organisationsmuster Konstanz
der
der Unternehmung
WirtschaftsWechselspiel Regelfindung institutionelle
Experimente.
Stuttgart
ARBEIT
Zeitschrift für Arbeitsforschung, Arbeitsgestaltung und Arbeitspoiitik 9. J a h r g a n g ( 2 0 0 0 )
Aus
dem
Inhalt
der Hefte
1—3:
Heft 1
Lei Delsen Das niederländische
H a r t m u t Hirsch-Kreinsen Entwicklungschancen
von
Industrien. Einfache
Low-Tech-
Produkte
intelligent
und seine
Bündnis für Arbeit
Wirkungen
M i c h a e l Lacher
produzieren
Gruppenarbeit
Klaus T h u n i g , Peter K n a u t h
Automobilindustrie.
Zwischen
Erfolgsfaktoren für die Zielerreichung von
Teilautonomie
Neuorientierung.
Fertigungsteams. Eine theoretische
Eine
und
in der und
Zwischenbilanz
empirische A nalyse Bärbel B e r g m a n n , Ulrike Pietrzyk Lemanforderungen und
von
Arbeitsaufgaben
Kompetenzentwicklung
Heft 3 Themenheft Arbeitszeit Gerhard Bosch Arbeitszeit
H a n s J. P o n g r a t z System- und Subjektperspektive
in der
Organisationsberatung
und
Arbeitsorganisation
Frank Bauer Probleme der Arbeitszeitgestaltung
im
Krankenhaus
Heft 2
Ellen Hilf, H e i k e J a c o b s e n
Harald W o l f
Deregulierung
Das Netzwerk Anmerkungen
als Signatur der zu einigen
Beiträgen zur
Epoche?
neueren
soziologischen
Gegenwartsdiagnose
der Öffnungszeiten
Flexibilisierung
der Beschäftigung
und im
Einzelhandel Hermann Groß, Eva M ü n z , Hartmut Seifert
Christel K u m b r u c k
Verbreitung und Struktur von
Digitale Signaturen und Vertrauen
Arbeitszeitkonten
4 Hefte bilden einen Jahrgang · Jahresabonnement DM 108,- (Studenten DM 78,-) Einzelheft DM 34,-
Lucius & Lucius Stuttgart - Fax 07ÎÎ/24
20 88