Der Wille der Welt an unserem Tun [Reprint 2019 ed.] 9783111473192, 9783111106342

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German Pages 237 [240] Year 1942

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INHALT
VORHALLE
DER WILLE DER WELT ALS ERKENNTNIS
DER WILLE DER WELT ALS ERLEBNIS
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Der Wille der Welt an unserem Tun [Reprint 2019 ed.]
 9783111473192, 9783111106342

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KURT BREYSIG DER

WILLE

DER

WELT

AN U N S E R E M T U N

KURT B R E Y S I G

DER W I L L E DER WELT AN U N S E R E M TUN

1942

V E R L A G W A L T E R DE G R U Y T E R ACQ

BERLIN

Archiv-Nr. 34 64 42 • Gedruckt bei Walter de G r u y t e r & C o Berlin VV 55. v o r m a l s G. J. Göschen'sche

Verlagshandluxus

J. G u t ten t a g . V e r l a g s b u c h h a n d l u n g : • Georg R e i m e r • Kairl J. T r ü b n e r • Veit & C o m p • P r i n t e d i n G e r m a n y

INHALT

VORHALLE Ein Mensch spricht zu Menschen

3

Vorspruch

4

Der Wille der Welt als Walten

9

Die zwei Wege des Willens der Welt zu unserem Tun Der Wille der Welt als Gesetz Die alten Bilder Die alten Tafeln

13 19 19 22

Das Dasein Gottes und die Sittengesetze der Glaubenslehren

26

Zwei Engigkeiten

35

Das Zuviel und das Zuwenig im Wissen vom Willen der Welt

37

Das höchste Gebot der Welt an unseren Willen 40 Götter und Sittengesetz

40

Glauben und Gesetz

42

Das Geschehen der Welt und die Richtung unseres Tuns

46

Die Stimme der Welt

49 V

DER W I L L E DER WELT ALS ERKENNTNIS Zweiheit und Einung Einheit und Zweiheit all Klänge der Welt Der Ursprung der Zweiheit Einheit, Zweiheit und Einung Die Kette der Zweiheiten Von Amt und Sendung der Einungen . . . . Vom Zeugen und Empfangen des Ichs . . . .

57 57 59 65 67 70 72

Das Recht des Ichtriebes Das Ich als Gut Das Ich-Du und die Welt Das Gebot des Ichs

75 75 78 80

Ichliebe und Weltliebe Widerspruch und Einung Das Ich als Glied in der Kette des Weltgeschehens Die Stimme des Ichs und die Stimmen der Welt: Einklang und Widerklang Folgerungen und Widerlegungen

86 86 88 90 91

Das Ich als Teil der Welt 95 Die Fragen 95 Die Antworten 98 Selbstbesinnung des Ichs auf seine Entzweiung von der Welt 101 Die Eingebundenheit des Ichs in die Welt . . 105 Das Ich als Hüter des Du Das Verbot, den Wirkenden zu schädigen . . Der Wille der Welt als Schöpfer der Trennung von Starken und Schwachen Machtgier und Machtverwaltung Der Kampf der Triebe mit dem Weltgesetz Nächstenschutz, nicht Nächstenliebe . . . . VI

113 113 116 118 125 130

OER WILLE

DER W E L T A L S

ERLEBNIS

Wahrheit Die Wahrheit und der Glauben Menschen und Wahrheit Welt und Wahrheit Werk und Wahrheit Wahrheit und Wissenschaft Die Forderung der Welt Die Wahrheit lind das Leben Wahrheit, Weltgeschehen und Leben . . .

137 157 140 144 146 148 152 156 160

Die Klagen über den Widersinn des Lebens und das Heilmittel gegen sie Das Leben als Gefüge Die Einheit der Umwelt Recht und Unrecht unseres sittlichen Richtertums

165 165 172 180

Der Kampf mit den Dämonen Streit und Widerstreit der Geschlechtlichkeit Die Hülle des Schweigens und die Pflicht des Ichs zur Wahrheit gegen sich selbst . . . Die lauten und die leisen Gebote unseres Leibes Falsche Strafen Das Ich und das Geschlecht

185 185

Der Hunger nach Freude

204

Der Wille der Welt als Arznei für das Leiden am Leben Das Vertrauen zu dem Sinn der Welt . . . . Der Bruder Leib und die Schwester Seele . .

211 211 215

Vom Tod nach dem Tode Der Tod als Steigerung des Lebens . . . . Die Abwehr der Todesleugner

220 220 225

189 195 195 197

VI

VORHALLE

EIN M E N S C H S P R I C H T ZU M E N S C H E N

Ein Mensch spricht zu Menschen. Er hörte nur auf ein Gebot: auf den Willen der Welt. Er kennt n u r eine Stimme: den Befehl des Lebens. I h n will er sagen, u n vermengt mit den Zwecken irdischer Mächte, und seien sie noch so hehr, unverstört von den Worten der Väter, und seien sie noch so groß. Er weiß nichts von sich, noch von eigener Absicht, er will n u r Schallrohr sein des Lauts vom ewigen Werden, Werkzeug der hohen, der u n n e n n b a r e n Gewalten. l*

3

VORSPRUCH

Die Welt war immer, der Mensch wurde. Zeiten und Zeiten waren, in denen nur Nebel sich ballten, Sonnen glühten, Sterne rollten, Monde kreisten. Die Welt hatte dennoch Vernunft, denn die Zahl ihrer Ordnungen war Legion und ihr Geschehen so verschlungen, wie Menschengeist es nie ersonnen hätte. Die Welt hatte dennoch Willen, denn sie geschah; die Welt hatte dennoch Ziele, denn sie nahm immer neue Gestalten an. Aber

4

als der Mensch wurde, wurde das Wissen der Welt. D u r c h den Menschen ist die Welt nicht weiser geworden, sie war i m m e r tausend Mal weiser als er. D u r c h den Menschen weiß die Welt, daß sie ist. So k a n n sie zuerst durch den Menschen ihren Willen wissen. So ist des Menschen Sendung, diesen Willen zu wissen. So ist der Welt Gebot an den Menschen, ihren Willen wissend zu t u n . D e n n die Welt will nichts so stark, so unverhohlen, als ihre Einheit. I h r Geschehen ist Gesetz, und Gesetz ist Einheit. Sie spricht zu mir Menschen : werde eins mit mir. So willst du allein, was ich Welt dir zu wollen befehle, so bist du erst, wirst du erst, was ich der Welt Wesen, was ich dein Wesen dich zu sein, dich zu werden heiße.

Das Ich meidet Schmerz, sucht Lust, ohne Gebo f , ohne Regel, fast ohne Willkür. Schmerz ist Unbill des Leibes, der Seele, aber Schmerz ist auch Zwang und schon u m deswillen uns verhaßt. Auch Lust kann Zwang sein, wenn sie nicht aus eigener Kraft in unserem Leibe, unserer Seele wächst. Und sie ist noch dann Zwang, wenn du sie dir selbst auferlegst. Du sollst keinen Zwang erdulden, er sei denn dir auferlegt von den Gewalten, den unwiderstehlichen, den unentrinnbaren, die außer dir, in dir über dich herrschen. Du sollst tun, nicht leiden; du sollst wirken, nicht bewirkt werden. Du sollst Schmerz meiden, der sich dir aufzwingt, denn er ist ein Erdulden. D u sollst Lust meiden, die sich dir aufzwingt, denn sie ist ein Erdulden.

5

Du sollst erzwungenen Schmerz meiden, auch wenn er dich als Rausch lockt. Du sollst erzwungene Lust meiden, auch wenn sie dich als Rausch lockt. Du sollst nicht erzwungenen Leibesschmerz in Leibesund Liebesrausch verkehren. Du sollst nicht aus dem Rauch schwelender Kräuter, aus dem Sud tropischer Pflanzen, aus dem Trank gegorener Früchte dir leisen oder lauten Rausch gewinnen. Denn er ist erduldet, wie Leid; er ist nicht Frucht, gewachsen und gepflückt am Baum deines Seins; er ist geliehen Gut, mit Wucherzinsen bezahlt durch die Minderungen deiner Kraft, die Schädigungen deines Leibes, die Lähmungen deiner Seele, die alle er dir zufügt.

Du sollst dein Leben zur Einheit formen, das ist, du sollst deinem Handeln Regeln setzen, die für jedes Maß der Jahre dauern können, das dir verliehen sein mag. Du sollst dein Leben nicht als ein Bruchstück der Stunden, Tage, Monde, Jahre leben, denn so wird es dir zersplittert, dich zerspalten. Habe Mißtrauen gegen jede Regung, jedes Wollen, das sein Recht nur aus dem Antrieb der Stunde zieht, die es gebar. Kein Wollen hat Recht an dich, das dich nur für die Stunde, für den Monat will, das erlischt, wenn diese Stunde, dieser Monat schwand. Jede Leidenschaft, die befriedigt, jede Begierde, die gestillt sein will, nimmt die Maske des Scheines vor, als sei es ein höchster Zweck deines Lebens, ihr den Willen zu tun. Du sollst nicht starre Tafeln unwandelbarer Satzung über dein Leben stellen oder gar dir stellen lassen; wes

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Geschlechtes du bist, welches Alters, welches Schritt-, welches Zeitmaß dein Heindein befeuert, dies alles und manch andere Macht deines Werdens und deines Schicksals wird die Regeln .deines Tuns verändern. Nur dies sei in dir unverrückbar, daß du deiner Handlungsweise selbst Gesetze gibst, als sollten sie für immer dauern.

Du sollst aus der Not deiner Ichsucht die Tugend der Heiligung deines Ichs machen. Dein Ich ist der Teil der Welt, der deinem Wollen zur unbedingten Herrschaft übergeben ist. Du sollst dem Willen der Welt, der in dir Wissen wird, zuerst und zuletzt an deinem Ich Achtung verschaffen. Erkenne dies zuvörderst: du bist Welt und so handelt in dir in einem größeren Teil deines Tuns nicht dein wissendes Ich, sondern dein unbewußtes Es. Dann tust du nicht, sondern du geschiehst. Unschuldig Betrogener, betrügst du mehr dich noch als Andere mit dem Wahn, es sei dein wissend-wollendes Ich, das handelt; tausend Mal findest, erfindest du die Beweggründe deiner Tat, lange nachdem du sie tatest, und weißt noch heute nicht, daß diese Taten von dir nicht getan wurden, daß sie nur in dir, durch dich geschahen. Kein Gesetz ist zu denken, keine Tafeln sind zu beschreiben, die diesem deinem Ichgeschehen Maße und Grenzen und Ziele setzen. Dein Tun in diesen Grundvesten deines Handelns wird den gleichen Gesetzen folgen, nach denen die Urkörper, die Elektrone, die Atome, die Moleküle in den Steinen und in den Sternen, in den Lüften und in den Leibern rollen, nach

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denen die Sonnen, die Monde kreisen, nach denen die Pflanzen sich dem Licht zuwenden, nach denen die Tiere ihr Leben leben, nach denen dein Leib das seinige lebt, denn du, das handelnde Ich, bist in diesen deinen Grundvesten nichts anderes als sie.

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DER WILLE DER WELT ALS WALTEN

Einen zu tiefst erregenden, zu tiefst bewegenden, am mächtigsten bewirkenden G r u n d gibt die Welt selbst uns, den nach L e n k u n g uns Sehnenden, GeleitetseinWollenden f ü r unseren Entschluß, ihren Willen zum Leiter unseres Lebens zu machen. Das Wissen u m die Welt schließt das Wissen u m den Willen der Welt in sich u n d daß er zuletzt auch dieses will, unser Wollen zu werden. W e n n das Wissen u m die Welt die Einheit

9

der Welt als die oberste Regel ihres Seins, a b das höchste Gesetz ihres Geschehens erkennt, so wird uns dadurch offenbar, daß die Welt auch unser Wesen in ihr Wesen, auch unser Geschehen in ihr Geschehen geschlossen hat. W i e sollte unser kleiner Willen gegen den großen Willen der Welt sich kehren, wie sollten wir unsere Ordnungen, unsere Gesetze nicht auch wissend und wollend in ihre Ordnungen, ihre Gesetze fügen, da wir längst schon als Wissenlose, Willenlose ihrem Wesen Untertan und einverleibt waren. Hat die Welt denn Willen, so fragst du. Ich aber sage: wohl hat die Welt Willen, nur nicht nach Menschen Art, sondern nach Welten Art, nach Sonnen Art, nach Monden Art, nach Weltkörper und nach Urkörper Art. Die Welt will, denn ihr Geschehen ist stark und folgerichtig, tausend Mal stärker, zehntausend Mal folgerichtiger als unser stärkstes, unser eisernstes Tun. Die Welt will, denn sie geschieht; sie geschieht unabänderlich nach den gleichen Gesetzen und sie geschieht immerdar in den gleichen Ordnungen. Die Welt will, ob sie gleich nicht ihren Willen weiß; die Welt will, ob sie gleich nicht einmal ihr Wollen fühlt. Die Welt spiegelt sich nicht, nicht in einem Wissen, noch in einem Fühlen. Aber ist ihr Geschehen darum geringer? Die Welt will, denn ihr Geschehen ist stark, ist heftig, ist schnell. Der Lichtstrahl durcheilt den R a u m mit undenkbarer Geschwindigkeit und die Elektronen, wenn sie der nächsten Bindung entronnen sind, eilen ihnen fast ebenso schnell nach. Und wie die Urkörper, so laufen die Weltkörper mit geringerer und dennoch hoher Geschwindigkeit ihre Bahnen. Die Welt will, denn ihr Geschehen ist beständig, unaufhaltsam, ewig. Allen ihren Körpern, den kleinsten IO

wie den größten, wohnt, wo i m m e r sie nicht festgehalten werden, Bewegtheit inne. Die Welt ist nicht, kein größerer W a h n ist i m Gehirn des Menschen je geboren als das Sein, sie geschieht beständig, sie bewegt sich ewig. Die Eigenschaft aller ihrer Urbestandteile, aller ihrer Körper ist die Eigenbewegtheit. Das Leben der Wesen, das Wirken der Menschen ist n u r die gleiche Urbeschaffenheit, die gleiche Eigenbewegtheit auf die höhere Ebene des Lebens, auf die höchste Ebene des Menschentums übertragen. Der Körper, der Wesen, der Menschen höchstes Gesetz ist das Gleiche: daß sie immerdar und ohne allen Anstoß von außen bewegt sind. Ihrer aller Wesen ist nicht Sein, nicht R u h e , ist Bewegtheit, ist Geschehen. Die Welt also will beständig, denn alle ihre Teile wollen beständig. Die Welt will, denn alle ihre Körper laufen den geraden, das ist den kürzesten, raschesten Weg, den Weg der Stärke, den Weg der Folgerichtigkeit. Der Weise, in dem zuerst sich der menschliche Forschungsdrang höchsten Wollens auf die Welt der Sterne warf, hat erkannt, daß alle Sterne wie alle Körper den geraden W e g laufen, wie er zuerst erkannt hat, daß alle Körper, einmal bewegt, nie rasten, noch langsamer noch schneller ihre Bahn laufen. So will die Welt heftig, so will die Welt ewig, so will die Welt in i m m e r gleicher«Richtung, so will die Welt in i m m e r gleicher Stärke. Wie könnte unser Wille i h r e m Willen je gleichkommen. I m m e r aber will die Welt n u r "durch ihre Gewalt, nie als Gestalt. Menschenweise war in der Jugend der Menschheit, sich den Willen der Welt zur Gestalt zu machen. Die Kindervölker des Menschheitsmorgens sahen in allen Dingen der Welt, in Fels und Stein, in II

Wolke und Welle, in Tier und Pflanze die Besitztümer von Gestalten, auf die der Wille der Welt verteilt war. Dann beteten sie zu Tieren und die Tiere wurden ihnen zu Geistern, die Geister zu Göttern, Gewalten die einen, Gestalten die andern, in denen sich ihnen der Wille der Welt verdichtete. Die Gewalten verschwanden, die Gestalten blieben. Ihrer wurden immer weniger. Götter wurden, Götter starben. Der Gott blieb. Er war die Gestalt gewordene Gewalt, der Mensch gewordene Wille der Welt. Wer die Welt weiß, wer die Welt ehrt, wer gehorsam der Welt sich gibt, kann den Willen der Welt nicht als Gestalt denken. Noch der höchste Gott, den Geisteskraft erbilden kann, ist kleiner als die Welt. Die Welt in Zwang und Drang einer Gestalt, in Bild und Gleichnis eines Gottes, das ist eines Menschen pressen, heißt die Majestät der Welt verletzen, heißt den Willen der Welt nicht erhöhen, nein, verkleinern, heißt, ihn auf Menschenmaß herabdrücken. Die Welt ist ewig, der Mensch gehört der Zeit und seine Götter mit ihm. Die Welt ist ohne Ende, ohne Grenzen, die Welt ist All. Der Mensch kennt nur den Raum von Erde und von Erdenmaßen und seine Götter sind nur wenig größer, auch die höchsten noch. Die Welt ist nicht Gestalt. Die Welt darf kaum Gewalt genannt werden, denn noch Gewalt ist allzu verdichtetes, allzu gestalthaftes, allzu menschennahes Geschehen. Die Welt hat nur einen Willen ihrer Art; ihr einen Willen nach der Menschen, nach der Götter Art beizumessen wäre Lästerung. Die Welt ist Walten. 12

DIE ZWEI WEGE DES W I L L E N S D E R W E L T ZU U N S E R E M T U N

Zwei Wege hat das Wesen, hat das Walten der Welt zu unserem Sein und zu unserem Werden, uns seinen Willen kund zu tun, das heißt, uns seinem Sein und seinem Werden anzugleichen. Denn dies sei ferne, daß ein Wort wie das vom Willen der Welt die Einheit des Wirklichkeitsbildes, das hier kund getan werden soll, störe oder gar zerstöre dadurch, daß der Welt eine menschengleiche Kraft wie unser Wille untergescho-

ben werde. Der Wille der Welt, so wie er hier verstanden werden soll, heißt nichts anderes, als die Richtung, die das Geschehen der Welt nimmt. Wollte man dies Wort dermaßen mißverstehen, daß man ihm die Bewußtheit oder nur die Gefaßtheit, die Wesensverdichtetheit beimessen wollte, die unserem, dem menschlichen Willen beikommt, so hieße das schlechthin das Gegenteil von der Gesinnung vertreten, die diese Blätter verbreiten wollen. Denn es würde bedeuten, daß die Welt in die Maße unseres sehr kleinen und sehr engen Wesens gedrängt und einbezogen würde, da doch die alles überwiegende, die jedes Bedenken übermögende Urmeinung die ist, daß es gilt, das Wesen und das Wirken der Gewalten, deren Insgesamt uns die Welt bedeutet, als ein dem unseren weit überlegenes, an Kraft und Folgerichtigkeit uns inyriadenfach übertreffendes, zuerst zu ahnen, dann zu erkennen. Wenn aus solcher Einsicht die Weisung an uns erfließt, das Wollen der Welt als ein von dem unseren wesentlich unterschiedenes anzuerkennen, so darf unser Sinn am allerwenigsten darauf sich richten, die Welt menschenhaft, menschennahe und menschenformig zu sehen, sondern nur darauf, unser Menschentum dem Weltsein und also dem Weltsinn zu unterwerfen. Wir sollen die Welt nicht menschlich sehen, sondern uns weltisch machen. Zwei Wege hat der Wille der Welt, gesehen als Gerichtetheit ihres Geschehens, zu unserm Tun. Den einen, uns ganz unbewußten und doch ganz unmittelbaren, der über Wesen und Gestalt unseres Ichs, unseres Leib-Ichs in unser Seelen-Ich und zuletzt unser GeistIch fließt. Auf ihm erteilt uns der Wille der Welt die Gebote, die aus dem Ich für das Ich abzuleiten sind.

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Von i h n e n sei, ob sie gleich die zu stärkst auf uns treffenden sind, später die Rede. D e n anderen W e g schlägt der Wille der Welt, gesehen als Gerichtetheit ihres Geschehens, über unser Bewußtsein zu uns ein. W e n n wir, die Vernunftbegabten, wir, die einzigen Glieder des Weltganzen — so weit unser kurzes und armes Wissen es k e n n t — die sich e r k e n n e n d der Welt zuwenden können, des hohen Vorzugs gewürdigt sind, die Welt zu sehen, wenn die Welt oder doch ihr Teil, der Stern Erde in uns zuerst das Auge aufschlägt, u m sich zu sich zurückzuwenden, um sich ihrer bewußt zu werden, ist uns ein Mittel gegeben, den Willen der Welt zu erkennen, der keinem Teil der Welt bisher zur Hand war — wieder n u r aus unserer schmalen und engen Erkenntnis gesprochen. Erst wir sind berufen, die Träger eines ganz einzigen Geschehens zu sein, in d e m die Welt sich selbst erkennt. Unser Geschlecht ist seit Jahrtausenden sehr geneigt, diese Einzigartigkeit sich auszulegen als ein Vorrecht, mit d e m den mannigfachsten Mißbrauch zu treiben i h m frei stehe. Die seltsamste Form, die dieser W a h n a n n a h m , war die, zu behaupten, nicht der Mensch sei ein Bestandteil und eine Erzeugnis des Weltgeschehens, sondern die Welt sei eine Hervorbringung seines Sehens, das er seinen Geist nannte, nichts sei wirklich als dieser Geist, die Welt aber teils ein Chaos, teils ein Gebilde seines Daseinstraums. D e m w e l t f r o m m e n Sinn, den die Gewalten der W e l t selber uns lehren, steht es wohl ein, solchen D ü n k e l weit von sich zu weisen. Er wird von uns fordern, daß wir aus diesem Vorrecht, das aus unserem Bewußtwerden das Auge der Welt inachte, ein ganz anderes Vorrecht f ü r uns ableiten: nämlich dieses, daß wir dies x

5

Schauen der Welt auf sich selbst, dessen Verwalter wir wurden, nützen, um nur um so sicherer und um so genauer uns des Willens der Welt und seiner Richtung zu vergewissern. Und fragt man, woher uns solche Demut komme, aus was Grunde wir sie uns zur Pflicht machen, so sei unsere Antwort, daß dies der erste Ertrag des Erkennens der Welt und unseres Selbst ab ihres Teiles sei. Denn diese Demut soll uns wahrlich nicht als Demütiger und also um der Demut willen kommen, sondern aus rechter Einsicht in Amt und Sendung unseres Geschlechts, ihre sehr engen Grenzen und den in mehr ab einem Betracht sehr bescheidenen Anteil am Weltgeschehen, der ihm ward. Lasset uns doch inne werden: selbst gesetzt, auf unserem Stern Erde habe durch Sinne und Seele der Menschheit die Welt zum ersten Mal ihr Auge aufgeschlagen, um ihrer selbst gewahr zu werden — was hat sich an ihrem Geschehen, seinem Verlauf, seiner Richtung geändert, ändern können? Nichts. Denn viel zu schwach sind unsere Hände, um den Gewalten, die um das Myriadenfache mächtiger sind als wir, in das Räderwerk ihres Geschehens zu greifen. Können wir an dem Lauf der größten, an dem Kreisen der kleinsten Weltkörper auch nur das geringste ändern? Nein, denn Sterne und Sonnensterne sind um nichts weiter von unserm Machtbereich entfernt, als die Moleküle, Atome, Elektrone, aus denen sich das Insgesamt unserer nächsten wie jener fernsten Welt zusammensetzt und die die Urbestandteile unseres Leibes selbst sind. In ein kleinstes Mindestmaß ihres Kreisens und Treibens ist uns seit kürzester Frist auf Augenblicke einzugreifen gegeben; die Gesetze ihres Wir-

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kens und gar ihres Werdens stehen so hoch über uns zu unseren Häupten, wie die Regeln, nach denen die Gestirne ihre Bahnen laufen. Und mehr als das: in den Teil des Weltgeschehens, der sich als Entstehung, als Entwicklung und, wie wir mit stolzem Vorrecht zu sagen pflegen, als Geschichte der Menschheit vollzogen hat, haben wir in ihn denn mit Wissen und Wollen ändernd eingreifen können? Wir haben seit langem um den Lauf dieser Entwicklung zu wissen geglaubt, wir glauben seit kurzem ihn wollend bestimmen zu können; aber unser Wollen so wenig als unser Wissen reichen um eines Haares Breite weiter als uns das aus dem Weltgeschehen ^fließende Gesetz, unser Wesen und unsere Geschichte, die auch nur ein Geschehen, ein Teil jenes Weltgeschehens ist, von je vorgeschrieben hat. Unser Wirken, unser Werden ist in keinem Sinne anders, als das Wachsen unseres Sterns, als seine Bedeckung mit einer Pflanzen-, einer Tierwelt den Gewalten der Welt unterworfen. Mag unser Geist-Ich noch so genau das Weltbild widerspiegeln, mag unser wissendes Wollen mit noch so gespannter Kraft unseren Wegen die Ziele setzen, nie ist uns mehr vergönnt, als den Willen der Gewalten zu vollstrecken, deren zukünftige Gebote uns ebenso verborgen sind wie ihr Ursprung. Allein, so wird man uns vorhalten, wenn dergestalt auch das Dichten und Trachten der Menschheit nur ein Geschehen, ein gemußtes, gebotenes, zwangsmäßig seine Läufe vollbringendes ist, so wird daraus noch nicht eine Pflicht für unsere Hingebung an den Willen und die Gewalten der Welt als Folgerung abzuleiten sein. Es würde hierzu einer weiteren Begründung bedürfen. 2

Breysig

17

Doch an dieser mangelt es nicht. Nur muß sie aus dem anderen Fließen geschöpft werden, durch das der Wille der Welt zuerst in unser Sein und demnächst in unser Tun einströmt. Die Stimme, die aus unserm Ich und seinen innersten Wollungen, seinen unbewußtesten Strebungen hinauf in unser helles Denken tönt, berät uns hierin unmißdeutbar. Nichts will unser Wollen stärker als letztes Vollbringen unseres Planens, als vollkommene Durchsetzung unseres Wirkens, unseres Schaffens. Welche sichrere Gewähr aber kann jedwedem Wollen und Beginnen von Menschen geleistet werden, als wenn es sich in Richtungseinheit mit dem Willen der Welt, das ist mit der Richtung des Weltgeschens befindet.

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DER WILLE DER WELT ALS GESETZ

DIE ALTEN B I L D E R Sich in den Willen der Welt zu fügen, heißt nichts anderes, als daß ich Mensch wissend und wollend den Willen der Welt tue, den sonst ich tue unwissend und unwollend, doch müssend. Von der Zeit an, in der ich Mensch erkenne, daß mir nichts anderes zukommt, als wissend und wollend der Teil der Welt zu sein und 2*

x9

als der Teil zu geschehen, der ohnehin und von meiner Geburt an ich immer war, kann sich an meinem Geschehen, das ich hochmütig und wahnvoll mein Tun nannte, nichts ändern. Ich Welt, ich Tausendstel vom Tausendstel der Welt, geschehe weiter wie zuvor. Wenn wissend und wollend ich nun als Welt geschehe, so bin ich, so geschehe ich nicht mehr noch weniger nach dem Willen der Welt als zuvor. Aber mir, dem Wissenden um die Welt, steht wohl an, ihren Willen nun bewußt und wollend zu tun; wenn ich richtiger jetzt geschehe, so war es sichtlich der Wille der Welt, daß ich ihren Willen noch folgerichtiger tue. Auch als Wissender, ihren Willen wissend Wollender vollende ich ihren Willen. Ihr Wille geschieht, nicht meiner. Warum aber, so fragst du, warum diesen Willen der Welt in Worte und Gebote fassen, da er doch ohnehin geschieht ? Ich will es dir sagen: wir müssen den Willen der Welt zu wissen und demnächst als Wissende zu wollen trachten, weil wir Menschen sind. Denn als Menschen wissen wir zwar die Welt, als Menschen sind wir das Wissen der Welt, aber als Menschen wissen wir zuviel von der Welt und als Menschen wissen wir zu wenig von der Welt. Und beiderlei Wissen läßt uns irren, daß wir den rechten Willen der Welt nicht tun, fehlend durch Wahn des Wissens und fehlend durch Mangel des Wissens. Durch beiderlei Irren, am öftersten durch das Wähnen vom Wissen, durchkreuzen wir den Willen der Welt. Gewiß ist er stärker als wir, er geschieht durch unser Wähnen und unser Nichtwissen hindurch; aber wie sollten wir nicht beides, unser Wähnen und unser Nichtwissen, abtun, wenn wir so den Willen der Welt reiner und voller tun können. Der Mensch hat den Willen der Welt zu schnell in

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Worte und Gebote fassen wollen und hat sich so von den Kinderzeiten, den Jugendzeiten seines Geschlechts an Wahngebilde von dem Willen der Welt geschaffen. Der Glaube des Menschen hat nie ein anderes gewollt, als das Walten der Welt in Gestalten zu fassen. Weltfromm war der Glaube immer und aus rechter Gesinnung des Menschen gegen die Welt erflossen. Erst dem Dünkel der Denker war es vorbehalten, von der Welt abzufallen und das Denken über die Welt zu stellen ; aller Ketzer ärgster gegen die Welt war Kant, der alle Form und Farbe der Welt zu rauben und sie für das Denken des Ichs zu beanspruchen und zu der Welt zu sprechen wagte: du Staub, ich Gott. Rechtgläubig war der Glauben gegen die Welt: er ahnte das Walten der Welt, und er wollte es begreifen, wenn er es in Gestalten goß. Zu frühest, da es noch in seiner Kindheit stand, hat das Menschengeschlecht das Wesen der Welt am wenigsten verkannt; da ist es dem Walten der Welt am nächsten mit seinem Tasten und Suchen gekommen. Da glaubte der Glauben an die Allbeseeltheit der Welt und alle Dinge der Welt waren ihm gleich lieb, gleich wert, gleich hoch, weil sie alle gleich beseelt waren, weil sie alle seine Brüder und seine Schwestern waren. Aber dann wurde die Schöpferkraft des Ahnens, die Schöpferkraft des Bildens zu stark in ihm und die Gestalten des Glaubens wuchsen und wuchsen und wurden Geister, wurden Weltschöpfer, wurden Götter, wurden mächtig und wurden allmächtig. Ein herrliches Dichten, ein mächtiges Schaffen war, was bei dem Menschen war, da er die Geister, die Götter, den Gott schuf. Nie hat der Geist ein größeres Werk gedichtet, als da er den höchsten Gott schuf, den AllEinen, Allmächtigen. Aber das Dichten des Glaubens, 21

so schön es war, das Bilden des Glaubens, so stark es war, es irrte doch: der Mensch schuf den Gott sich zum Bilde, zum Bild des Menschen schuf er ihn. Das Walten der Welt wurde ihm zur Gestalt, zum Waltenden: nur menschlich, allzu menschlich konnte er es fassen. Der Mensch vergottete das Walten der Welt, das ist, er vermenschlichte es, und so vergrößerte er es nicht, nein er verengerte es. Und ein neues Glauben kam auf, das Glauben der Mysten: es kehrte sich wieder zu den Ausgängen dieses Geistes zurück. Es löste die Gestalten wieder auf in Gewalten, es ließ die Götter wieder eingehen in das Geschehen der Welt: aber das alte Irren wurde nur durch ein neues verdrängt. Der Glaube der Mysten wußte nichts vom Tun der Welt, er wußte nur vom Sein der Welt. Und Sein war ihm Nicht-Tat, Sein war ihm Ruhe, Sein war ihm Nicht-Sein. Und da er Gott und Welt und Seele in Eines schmolz, so ward ihm die Seele mit hineingerissen in das Nicht-Sein. Die alten Götter waren stärker als der Glaube der Mysten. Ihre Gestalten blieben stehen auf dem Sockel der alten Erhöhung, ihre Bilder wurden mit neuer Inbrunst auf die Altäre von ehedem gestellt. Scharen fielen ab, ganze Völkerheere wurden untreu, aber immer noch erfüllen sie in großer Kraft das gläubige Ahnen vieler Menschen, guter Menschen, demütiger Menschen, starker Menschen. Und wie in Jahrtausenden fügen sich zu den Gestalten, in die der Glaube die Gewalten der Welt verdichtete, die Gebote, in die er den Willen der Welt drängte. DIE A L T E N T A F E L N Weltfromm war auch der Glauben der Menschen, als er daran ging, den Willen der Welt zu deuten. Er legte 22

den Gestalten, denen er das Walten der Welt einbildete, Worte des Befehls in den Mund, er stellte auf die Altäre, die er den Göttern richtete, Tafeln, auf die er Gebote schrieb. So sollt ihr leben, sprachen die Götter, wie es die Priester bezeugten. Rechtgläubig war der Glauben gegen die Welt, ab er den Willen der Welt verkündete. Wohl war es nicht die Welt, noch das Walten der Welt, denen er Worte lieh; die Geister, die Götter, der Gott war es, dessen Befehl er verkündete. Aber es war doch ein rechtes Ahnen im Glauben, daß das Walten der Welt zutiefst einen Willen der Welt an unserm Tun zur Folge haben müsse. Aber nun wurden der Mittler immer mehr, denn die Glaubensschöpfer und Gottesbildner, die die Standbilder der Götter geformt hatten, richteten, als sie die Sittenschöpfer, die Zuchtmeister des Lebens wurden, die Gebote, die sie verkündeten, zuerst und zuletzt nach dem Dienste, den sie für Geister und Götter und für den Gott forderten. Ein Gottesknecht sollte der Gläubige zuerst und zuletzt sein und dann erst ein Bildner seines Lebens. Von den Regeln der Sitte, die die zehn Gebote genannt wurden, die vor Jahrtausenden geformt wurden und die uns doch noch heute gültig sind, sind die drei ersten dem Gott und seinem rechten Dienst geweiht. Von den sieben andern aber ist nur eines ein Gebot, alle übrigen sind Verbote. Alle ehren gewiß den Willen der Welt, aber außer ihrem richtenden harten Nein, das sie gegen die gröbsten Verletzungen, gegen die schwersten Schädigungen der Andern richten, wissen sie von keinem Ja, leiten nirgends zu einem Leben, Leisten, Tun an. Das Christentum hat neben alle jene Verbote von Schädigung der andern ein einziges großes Gebot

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von Liebe z u m Andern gesetzt. Ein Ja, weit umfassend, tief eindringend genug, aber n u r aus dem Fühlen f ü r das F ü h l e n wirkend, nichts wissend von Geist oder Tat, nichts heischend f ü r Geist oder Tat, alles Wirken, alles Schaffen gar übergehend, als sei es ein Nichts. So sind die Gesetzestafeln des Glaubens karg und a r m , gemessen a m w a h r e n Willen der W e l t : wo jene sieben Mal verneinen, ein Mal bejahen, weiß der Wille der Welt h u n d e r t Gebote, die uns das beste lehren, die Weisen des Wirkens u n d Schaffens, die Mittel, unser Ich erstarken zu machen u n d zu h ü t e n , den Anderen erstarken zu machen, zu fordern in seinem Wirken, seinem Schaffen. Und tausend Mal öfter spricht der Wille der Welt ein rufendes, weisendes, forderndes Ja zu uns, da jene Regeln der Priester n u r von Sünden wissen und harter Strafe. Wie sollten sie auch vom Leben wissen, da sie Erde u n d L e b e n n u r als Vorstufe, a b Schule der P r ü f u n g u n d Siebung betrachten f ü r ein Leben jenseits des Lebens, das auch n u r weiß von Seligkeiten, das ist von Ruheseligkeiten oder von harten bösen Strafen, die n u r auszudenken k a u m erträglich ist. Wie sollten, wie d ü r f t e n wir schelten, wie d ü r f t e n wir n u r mäkeln u n d tadeln an den Gottesbildern, an den Sittentafeln der alten Glaubens verkündungen. Stark sind sie alle u n d herrlich und waren wahr, als sie ausgerufen wurden, denn wahr war zu jenen Zeiten, was Menschengeist aus echtem Glauben, lauterem Wollen seiner Seele schöpfte. A m stärksten, a m herrlichsten sind die größten, die stolzesten, die herrischsten Gottesbilder, die strengsten, die forderndsten Gebote. Aber die Geschlechter, die hohen Former selbst, die jene Bilder, diese Gebote schufen, w u ß t e n n u r ein H u n d e r t s t e l 24

von unserem Wissen der Welt, sie wußten eine andere Welt und verleugneten dieses ihr Wissen von der Welt nicht, noch bogen sie es um. Unser Wissen der Welt aber ist reich und groß, und die Gottesbilder, die Sittengebote, die ehemals echt und wahr waren, würden in unserm Munde Maske und Lüge werden, wollten wir sie als eigen gefundene zum andern Male verkünden. Von großer Schönheit waren die alten Gottesbilder, aber sie waren nur schön, weil sie echt waren und aus echtem Glauben gebildet. Ein Frevel aber und ein leeres, schwächliches Gemachte sind die Götter, die mein uns heute verkünden will. Bestenfalls ein Gedicht und ein schlechtes Gedicht sind sie. Und ich frage die Dichter, die sich als Heiden berühmen, weil sie an Götter glauben: wo sind denn die Tempel, die ihr euren Göttern errichtet, welches sind die Gebete, die ihr zu ihnen sprecht und welches die Dienste, die ihr ihnen feiert? Ein leeres Getue tatet ihr, da ihr euch des Glaubens rühmtet an Götter, die euch selbst nur Papier sind. Und ebenso gemachter, ebenso im tiefsten unwahrer Glauben ist der Glauben der Denker, die einen Gott als Schlußstein brauchen für die luftigen Gebäude ihrer Gedanken; denn ihr Herz weiß nichts von dem Glauben, den ihr Hirn gesponnen hat. Und noch weniger sind mir, die sich Denker nennen und die lieber NichtDenker heißen sollten, die den Gott, den sie ehemals leugneten, heute fordern, weil es sie ein gewichtigeres und ein schöneres Denken zu sein dünkt, einen Macher der Welt zu behaupten. Sie fordern als Denkbild, was Wahrheit nur als Glauben hat, und die Schlimmsten von ihnen auch nur, weil es ihnen ein Ansehen macht vor den Menschen, als Wort auszusprechen, was den Vätern, die zuerst so dachten, Leben und innerster

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Gehalt ihrer Seele war. Die Narren, die nicht wissen, daß was so eiteln, nichtigen Ursprungs ist, noch nie Bestand gehabt hat unter Menschen. Den Gläubigen bleibe ihr Glauben, bleibe das Bild ihres Gottes, bleibe die Tafel seiner Gebote. Aber weil sie an einem Erbe, einem Gestern halten, so darf unser Heute, wenn es stark sein will, nur von ihren Lehren reden. Denn was den Ahnen Wahrheit war, kann nicht unsere Wahrheit sein. Denn wir wissen um ein Walten der Welt, das ihnen verborgen war, und zu uns spricht im Willen der Welt, von dem ihr Ohr nur einige karge Töne auffing und den ihr Drang zu Gestalten allzu schnell in feste Form zu bringen trachtete. Vergessen müssen wir, was die Ahnen, was die Väter bildeten, ganz still und bereit machen müssen wir nur unser lauschendes Ohr, um zu vernehmen was die Stimme sagt, und in unserem empfangenden Herzen dem vernommenen Wort einen willigen Gehorsam zu leisten.

DAS DASEIN GOTTES UND DIE S I T T E N G E S E T Z E DER

GLAUBENSLEHREN

So sprechen die Priester aller hohen Glaubenslehren zu uns: du schlägst deinen Menschenbruder tot, du nimmst ihm sein Eigentum, du entwendest ihm sein Weib — mit dem allen begehst du Sünde. Und was ist Sünde: zu handeln wider den Willen Gottes. So haben die Priester alles Sittengebot dem Glauben einverleibt. Nicht daß der Mensch dem Menschen Scha-

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den zufügt, ist sein Vergehen, sein Verbrechen, sond e r n daß er das Gebot Gottes bricht. So h a b e n die Priester das Dasein Gottes zum Grundgesetz aller Sittlichkeit gemacht. So werden die Priester sich darin fügen müssen, daß jede Sittenlehre, die den Willen der Welt u n d nicht den ihres Gottes verkünden will, das Dasein Gottes z u m Gegenstand ihrer P r ü f u n g macht. — D a ß Gewalten, Geister, Götter, viele, wenige, Einer seien, ist ein Glauben; daß es hoch über den Menschen gestellte, seinem Urteil, seinem Ändern entrückte Tafeln von Gesetzen des Lebens gebe, ist ein andrer Glaube. Sie haben ihrem innersten Wesen nach nichts miteinander zu schaffen. Der Glaube an Gewalten will eine L e h r e vom Sein der Welt einsetzen, der Glaube an Gesetze des Lebens der Menschen will dieses Leben regeln. I h r Ursprung, ihr Zweck, ihr Ziel und noch die Mittel ihrer Verbreitung sind denkbar weit von einander geschieden. Und doch ist seit Jahrtausenden bei unsern Völkern die Überzeugung befestigt, daß Sittengebot und Gottesgebot Eines sei, eine untrennbare Einheit, an der zu rütteln W a h n und Verderben zugleich sei, W a h n von Irrglauben, Verderben an Heil und Gesundheit der Menschheit. N u r wer sehr tief in die Abgründe des menschlichen Seelenbaus zu leuchten vermag, wird zur Vollkommenheit ausmachen können, aus was Ursach die Gotteslehren der Glaubensformer eine so enge Verbindung mit dem Sittengebot eingegangen sind, daß n u n seit Jahrtausenden schon hohen Völkern dieser Bund untrennbar und alle sittliche Regel durch nichts stärker

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begründet erscheint als durch den Willen einer Gottheit, zu deren Verkünder sich von jeher der Priester gemacht hat. — Dies ist eine Erkenntnis, die sehr viel Menschliches erst aus dem Grunde erklärt: daß wir Sterblichen unsere Meinungen formen und unser Leben richten nicht nach den Einsichten unseres Verstandes, sondern nach den Neigungen, den Stimmungen unseres Gemütes. Tausendfach ist für unser Sehen, unser Urteilen, unser Wollen und noch unser Tun nicht das Was unserer Erkenntnis entscheidend, sondern das Wie des Handelns, das dieser Erkenntnis folgen muß. Und so sind wir auch in allen Entscheidungen über Gut und Böse die bestechlichsten Richter von der Welt, nur daß nicht irgendwelcher irdische Lohn uns lockt, sondern die Süßigkeit des Seelenzustandes, in den uns das Urteil versetzt, das wir sprechen. Hat man je erkannt, wie furchtbar hart alle die Sittengebote sind, die uns heute noch gelten? Sie sind hart in ihren Verwerfungen, aber sie sind es auch um ihrer Starrheit, um ihrer Unbeugsamkeit willen, die immer auch eine Unbiegsamkeit ist. Als Unbeugsamkeit rechnet sie sich diese ihre Grundeigenschaft als Tugend an; als Unbiegsamkeit ist sie ein innerster Wesensfehler. Und warum dies so ist, erklärt wie so oft uns Geschichte : die Geschichte des sittlichen Urteilens läßt uns unmißdeutbar erkennen, daß es frühe Zeiten, harte Zeiten waren, in denen die Sittengesetze geschaffen wurden. Wohl hat der Mensch der ersten Urzeit einige Vorschriften für das Tun und Lassen des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft, seiner Gemeinschaft erdacht und auferlegt; aber sein Wesen war noch weich und wirr und ungeregelt wie das Wachstum von wil-

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den Pflanzen. Später m e h r t e sich der Vorrat von Regel u n g e n des Lebens, doch dienten sie weit eher d e m Kampf oder der T a t oder den Bindungen der Familie, als d e m Verhalten der Gemeinschaftsgenossen in den Dingen, die wir heut Recht und Unrecht n e n n e n . Es war die Zeit der Kindheit unseres Geschlechts, u n d sie legte d e m T u n und Lassen der Menschen noch nicht so vielerlei Fesseln an. Erst die Jugend der Menschheit, die Zeit, die die Führergestalten der Könige u n d der Götter schuf, die einen, damit sie auf Erden, die andern, damit sie i m H i m m e l herrschten, hat auch die erzenen Tafeln gegossen, in die sie ihre Gesetzesschriften eintrug. Zuweilen waren es die Könige, viel öfter die Priester, die diese Gesetze schrieben. Die Zeit aber, in der es geschah, war das eiserne Zeitalter der Menschheit, das Zeitalter, das Krieg und Kampf u n d Gewalttat liebte wie kein anderes, u n d so k a m es, daß auch die ersten Sittengesetze der Menschheit eisern hart, starr, unbeugsam und unbiegsam wurden. Das Gesetzbuch der zehn Vorschriften, das Moses sein e m Volk auferlegte, von vorbildlicher Kraft und Kürze, kennt n u r die starrsten Begriffe, die unbeweglichsten Befehle. Wahrlich, an Gesetzbüchern der Sitte hat es seit Jahrtausenden der Menschheit nicht gemangelt: i m m e r von n e u e m sind sie m i t ihrem oft linde lockenden, öfter hart befehlenden D u sollst, D u m u ß t auf die Kinder der Erde eingedrungen. Aber zwei Eigenschaften, die ihnen, sei es allen, sei es den meisten, a n h a f t e n , t r e n nen sie von unserm T u n . Einmal sind sie Söhne, Sendboten des Glaubens und haben den Zweck, die i h n e n Gehör Schenkenden der Gottesverkündung, die sie ausrufen, pflichtig zu machen. Sodann wollen sie das L e -

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ben gar nicht, das sie doch zu regeln vorgeben. Sie lieben das Leben ja nicht, sie verachten es im Grunde, sie erklären es für aus dem Kern mangelhaft: des Menschen Art ist böse von Anbeginn, so behaupten sie. Er muß von sich, vom Leben erlöst werden. Der Glauben, der sich selbst eine Verkündung der Liebe nennt, mag alles lieben, Götter und Heilige, Büßer und Beter, Sünder und Zerknirschte, nur die Menschen nicht. Er bemitleidet sie, aber Mitleid ist nicht Liebe, er will sie schelten und züchtigen, aber Zorn ist nicht Liebe. Liebte er die Menschen, so müßte er nicht allein ihre Tugenden lieben, nein, auch ihre Fehler lieben. So aber verwirft er alle ihre Fehler und die Hälfte ihrer Tugenden noch obendrein. Noch weniger liebt dieser Glauben das Leben; er will es uns ändern machen, fast es abstreifen; aber er leitet uns nicht an, es zu leben. Er liebt das Leben nicht, er sucht es nicht einmal zu begreifen. Er verwirft es, ohne es zu wissen. Er verstößt gegen sein oberstes Gebot, das Gebot der Liebe: er will ein Werk wirken, ohne es zu lieben, er will Wesen bewirken, ohne sie zu lieben. Viel schöne Liebe lehren sie im Hegen und Pflegen des Andern, des Nächsten. Aber das Menschentum lieben sie nicht und sind gegen das Leben nicht Liebende, sondern Eiferer und Kinder des Zorns, um in ihrer Sprache zu sprechen. Wie konnten sie erwarten, es zu meistern. Die Gebote gestehen selbst, nicht um des Menschen willen, sondern um des Gottes willen, den sie zu verehren befehlen, erlassen zu sein. Priesterworte sind sie, von Priestern zu einer geleiteten Herde von Gläubigen gesprochen. Und es ist gleichviel, ob sie von geistlichen und weltlichen Verkündern geformt sind, denn auch unter den weltlichen Sittenlehren! 30

sind dies nur die seltensten, die nicht die alten von den Glaubensformen geschaffenen Gebote n u r u m gebildet haben. So sind diese Regeln alle, die doch d e m Leben Richtung und W e g weisen wollen, i m G r u n d e nicht f ü r uns, die Lebendigen gegeben, sondern f ü r uns, die wir f ü r eine Überwelt, ein Himmelsleben nach unsermErdenleben, erzogen werden sollen. D e r Verkünder des Glaubens, unter dessen Gewalt wir alle aufwuchsen, wollte nicht der Erde dienen noch d e m Leben, nicht d e m Menschentum, sondern d e m Gotte. Und er gedachte das Gebot, das auch er f ü r das Leben lehrte, neben dem alten Gesetzbuch, das er zu erneuern befahl, nur f ü r die kürzeste Zeit zu erlassen: f ü r ein Menschenalter, das nach seinem schweren Prop h e t e n i r r t u m allein verstreichen sollte, bis er wiederkehren sollte, u m das Gottesreich des Himmels mit dem Reich der Menschenerde zu vereinen. Eine Vorhalle von wenig Jahrzehnten war, so wähnte er, dem T e m pel des ewigen Gottesreiches vorgelagert, und f ü r diese kurzen Jahrzehnte allein sollte dieses Gebot Gültigkeit haben. Wie sollte W u n d e r n e h m e n , daß es in Wahrheit gar nicht auf das Leben gerichtet war, f ü r das es doch seine Tafeln aufstellte. Und dennoch soll dieses Gesetz, so fordert die Glaubens Verkündigung, in deren Namen es erging seit Jahrtausenden, f ü r uns gelten, die wir auf dieser festen Erde wandeln und sehr andere sind, als die an jenem Reich des Himmels Teil haben können. Der Verkünder dieser Glaubens-, dieser Sittenlehre wußte nichts von allem dem, was uns den Dienern am Geist hoch und hehr ist, und wenig von dem, was den Menschen der Tat Freude und Inhalt des Lebens ist. Er wußte nichts von den Wonnen und den Werken

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derer, die die Welt erkennen wollen; er w u ß t e nichts von den W o n n e n u n d den Werken derer, die ü b e r dem Urgeschehen der Welt die Spiegelwelt ihres Wissens u m die Wirklichkeit errichten wollen, sei es in der gebundenen W a h r h e i t des Forschers, sei es i m freien Bauen und Bilden der Kunst. Er w u ß t e nichts von der Herrlichkeit des Herrschers und des Herrschertums; er w u ß t e nichts von der Kühnheit des Kriegers und von der Kraft des Kampfes; er wußte nichts von der Wonne jedes Erdenwerkes, Erdenwirkens. Aber seit zwei Jahrtausenden fordern, die i h m anhängen, daß wir Lebendige diese Botschaft gegen das Leben, wir Irdische diese Predigt gegen die Erde a n n e h m e n sollen, und daß wir einem Gebot gehorchen, das gar nichts weiß von unsern höchsten Gütern. Ein Fremdling war der Verkünder dieser Lehre a l l d e m Erdental, zu dem er, wie er sagte, niederstieg. Er fühlte n u r f ü r das F ü h l e n ; er wußte n u r u m die Wonne des Herzens, des sich erbarmenden und a m Erbarmen sich erwärmenden Herzens. Menschlich war wahrlich auch dieses Erbarmen, aber nicht, wie das Wort dieser L e h r e wollte, einziges Menschentum, nein n u r ein Teil vom Menschentum u n d ein Teil vom Teile alles Menschentums. F ü r die Gläubigen dieses Gottesglaubens, f ü r die Gehorsamen dieses Gottesdienstes wird durch alle diese Grenzen an W e r t u n d Würden seines Sittengebotes nichts geändert noch verringert. Seine Erdenferne ist ihnen Himmelsnähe, seine Lebensfeindschaft ist ihnen Gottesgehorsam. Aber wie lange schon hat der Stern dieser Glaubensverkündung den steigenden Bogen seiner Bahn durchmessen, wie lange schon ist er in den sinkenden Bogen seiner Bahn eingetreten. Von den

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drei Dritteln unseres Volkes mag eines offen, eines heimlich von ihm abgefallen sein und nur ein drittes ihm noch anhangen. Ist denn die Stunde nicht gekommen, da unser Sehnen nach anderen Sternen, anderen Richtpunkten unserer Fahrt Umschau hält? Ein Antrieb vor allen drängt sich aus der Unzulänglichkeit aller dieser Glaubens- und Sittensatzungen in das Fühlen und Wissen: ein Sittengebot uns zu setzen, das seine Lehre vom Leben zu Lehen trägt, nicht aber von der Gewalt von Glaubensformern, die das Leben nicht lobten noch liebten und die es nicht verehren, sondern verachten. Gewiß, das ist ein Sieg des Forschens über das Fühlen, des Denkens über das Ahnen. Denn so ist aller tiefen, aller kühn bauenden Wissenschaft erstes Gebot, auf dem Grunde der Erfahrung festen Fuß zu fassen; die Grundvesten des Baus, jedes geistigen Baus, müssen tief eingesenkt werden in die Wirklichkeit. Zuerst wissen was ist, dann folgern, dann fordern. Das sind die Gesetze aller drei Grundformen des Forschens: des erkennenden, des bauenden, des befehlenden Forschens. Und da die Regelung des Lebens, wenn sie nicht sich als Erzeugnis des Glaubens, als Kind der Einbildungskraft fühlt, keiner andern Macht befohlen werden darf als der des Geistes, so kann sie nicht wohl anderen als den Gesetzen des Geistes, des forschenden Geistes folgen. Will sie das Leben bewirken, so muß sie zuerst das Leben wissen. Und aus dem gewußten Leben, nach dem Urbild des gelebten Lebens, den Bau der Lebenslehre aufzurichten, kann nur die zweite, aus dem Bau die Forderung des Lebensgesetzes zu erschließen, kann nur die dritte Folgerung sein. 3

Breysig

QQ

Auch Forschen ist Lieben: die Welt zuerkennen treibt uns nicht allein der Drang die Welt zu beherrschen, nein auch Liebe zur Welt.Undso ist dasobersteJa, das hier als Leitstern für die Bahn zum Ziel eines rechten Sittengesetzes ausgesprochen wurde, eine Bestätigung dafür, daß Forschung hier uns den rechten Weg weist, da doch der Glaube eben diesem Ja nicht genügt. Denn auch da, wo er von Gefühl sich ganz erfüllen läßt oder wo er beständig Liebe zwischen den Menschen predigt, liebt er weder das Sein noch das Handeln der Menschen. Und wenn sich der Glaube darauf beruft, daß er die Zielbilder von Menschentum, die er nach seinem Wählen und Ermessen setzt, liebt, und daß, wenn er sie hoch und weit in den wirklichen Menschen baut, er nichts anderes ins Werk setzt als die Wissenschaft selbst, wenn sie, wie sie zuerst und am ewigsten durch Piatons Mund unternommen hat, oberste Denkbilder als einzig gültige, einzig seiende Maßstäbe setzte, so behauptet er dies mit Wahrheit. Aber sein Recht in den Augen aller einzig sicheren, aller erfahrenden Forschung wird dadurch nicht besser. Denn eben nur durch den Vorgang des Glaubens mißleitet, haben jene Denker, auch Piaton, auch Kant, diesen Irrweg eingeschlagen, haben einen Denkglauben statt erforschter Wahrheit verkündet. Liebe zum Leben kann nur zu einer obersten Regel für ihre Regelsetzung, für die Lenkung des Lebens gelangen : zu der Forderung: das höchste Gesetz des Lebens ist das Leben selbst, und also sind alle Gebote, die wir berechtigt sind für menschliches Handeln aufzustellen, aus dem Geschehen Leben selbst abzuleiten.

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ZWEI

ENGIGKEITEN

Zwei Engigkeiten sind es, die sich jedem Sittengesetz entgegenstellen, das sich auf das Ich und sein Heil gründen will. Die eine ist die alte, die fast allen, sei es von Jahrtausenden, sei es von Jahrhunderten oder Jahrzehnten her überlieferten Sittengeboten gemeinsam ist: die Vorschrift, daß keine sittliche Satzung denkbar sei, es sei denn, sie gründe sich auf das höchste Gebot, das dem Ich auferlegt den Anderen zu lieben und nur den Anderen und das von ihm fordert, daß das Wohl des Anderen, nicht das eigene Wohl die Richtschnur für sein Verhalten bilde. Die zweite Engigkeit, die zum Schaden aller Sittenvorschrift, die dem Leben dienen will, die Horizonte unserer Lebenssichten beschränken möchte, ist die andere, die auch aus dem Wesen aller überlieferten Sittlichkeiten stammt, aber noch viel allgemeiner und darum noch tiefer schädigend ist. Sie geht Amt und Aufgabe aller sittlichen Satzung an und ruft die Losung aus: die Sittlichkeit ist nur um ihrer selbst willen da, will sagen, sie hat dem von ihr einmal gefundenen und verkündeten Inbegriff, den sie Pflicht nennt, Geltung zu verschaffen und keine andere Sendung sonst. Der Einspruch, den der Wille der Welt gegen diese Verkündung, gegen diese Gesinnung zu erheben von uns fordert, sei der stärkste, sei der nachdrücklichste: der Mensch kann nicht sich noch den Anderen irgend ein Gebot auferlegen, es sei denn abgeleitet aus dem Insgesamt von Geschehenszusammenhängen, in das er gestellt ist. Diese Geschehenszusammenhänge finden ihr Ende nicht bei dem Kreisrand irgend einer engeren, einer weiteren Menschengemeinschaft, ja nicht

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einmal bei den Grenzen der Menschheit selbst, sondern sie umfassen das Insgesamt des Weltgeschehens. Niemals aber ist ein Sittengesetz in diese Weite gestellt worden. Wohl hat Kant dem unbedingten Befehl seiner obersten sittlichen Setzung die zweite, allgemeine Form gegeben: handle so, daß die Maxime deines Handelns zum Naturgesetz erhoben werden könnte —; aber kein Denker war weiter davon entfernt, irgend welche Zusammenhänge zwischen dem außermenschlichen Weltgeschehen und den Geboten der Sittenlehre aufzudecken, als dieser Urheber der tiefsten Zerklüftung zwischen Mensch und Welt, die je im Geist geschaffen worden ist. Kant hat nie eine Zeile geschrieben, die der Ankündigung jener Formel die Erfüllung eines Nachweises oder einer Folgerung gegeben hätte. Und von allen Denker schulen, die seitdem auf den Plan getreten sind, waren die seiner Folger und Erneuerer gewiß am wenigsten geneigt solche Verbindungen herzustellen. Der tiefste Beweggrund, den die Forderung einer entschlossenen Abkehr von jedem Sittengesetz, das nur um seiner selbst willen dazusein beansprucht, für sich geltend machen kann, ist der, daß kein Menschentum als fruchtbar gedacht werden kann, das sich nur auf sich selbst beschränken will. Und wenn uns die zahlreichen Sittenlehren alten und neuen Ursprungs in Sonderheit mit all der ihnen eigentümlichen Strenge anbefehlen, daß wir nur dem Anderen, dem Nächsten zu dienen ein Recht haben, so wird unsere sehr schlichte Gegenfrage immer lauten: aus was Grunde ist nur der Dienst am Du des Anderen ein Recht, und warum ist der Dienst des Ichs am Ich Sünde? Glaubt ihr damit

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das Leben zu fördern, wenn ihr im Ich diesen drängendsten Quell für all sein Dichten und Trachten verstopft, die heiße Lust an der eigenen Freude, an dem eigenen Heil? Oder wollt ihr nicht zugeben, daß nur das Leben, das sich selbst, sein Tun, sein Drängen, sein Wirken, sein Schaffen will, Ziel und Gehalt für das Sittengebot herleihen kann, das uns doch die Weise unseres Verhaltens und also unseres Lebens vorzuschreiben bestimmt ist?

D A S Z U V I E L UND DAS Z U W E N I G IM W I S S E N VOM W I L L E N DER W E L T Aber noch einmal sei gesagt: dem Menschen ist not, den Willen der Welt zu erkennen, weil er zu viel von ihm weiß oder zu wissen wähnt und weil er zu wenig von ihm weiß. Die Gottesbilder und die Tafeln ihrer Gebote sind Urkunden dessen, was der Mensch zu viel vom Walten, vom Willen der Welt wußte, zu wissen wähnte. Doch nicht sind sie Alles, was von diesem zuviel des Wissens zeugt. Viele Gespinnste des Gedankens spann der Geist und bunte farbige schimmernde Bilder schuf er vom Walten der Welt und zuweilen auch von ihrem Willen. Doch so mächtig sich die Denkformen dem Denken des forschenden Geistes eingepreßt haben, so erregend die Denkbilder dem Geiste und oft auch dem Leben die Wege gewiesen haben, nie haben sie sich mit Gesetzeskraft und mit Gesetzesbreite vor die Augen der folgewilligen Menschen gestellt wie die Tafeln der Glaubensformer. Wohl befahl einer von diesen herrscherlichen Denkern dem Menschen seinen kategorischen Befehl: handle

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so, daß der Grundsinn deines Handelns das Gesetz des Weltgeschehens werden könnte. Wohl hat die Fügung der Worte den Anschein, als sei dieser Befehl eine Verkündung des Willens der Welt; aber der ihn aussprach, wußte nichts vom Walten der Welt und noch weniger war er weltfromm; ein Erzketzer war der Kant, der so sprach, gegen die Welt, der er alle Herrlichkeit nehmen wollte, um sie der raubgierigen Vernunft des Menschen einzuverleiben. Und sein kategorischer Befehl teilte nur eine Tugend mit dem Willen der Welt, daß er das Ich dem Gesetz des Geschehens unterwerfen wollte, da alle Glaubenstafeln nur vom Gesetz der Götter und der Priester wußten. Aber dieser Befehl war von der gleichen Starrheit erfüllt, wie die Gebote des Glaubens, denn er lauschte nie auf die Stimme des tausendgestaltigen Lebens, und er war noch härter als die Gebote der Kirchenlehre, denn er wußte nichts von den Wonnen der Liebe und des Sichschenkens und war nur von einem Rausch beherrscht, dem Rausch der Vernunft. Der kategorische Befehl wußte wahrlich zu wenig vom Willen der Welt, denn er wußte nichts von ihm; aber da er sich als ein herrscherlich unumstößlicher gab, so wollte er zu viel von ihm wissen. Und noch ein anderer herrscherlicher Denker kam und wollte Kaiser sein im Reiche des Willens. Aber er wußte nichts vom Willen der Welt, er wußte nur vom Willen zur Macht. Wohl hatte er viele Stimmen des Lebens erlauscht, aber alle verschwieg er, um nur der einen zur Herrschaft zu verhelfen: dem Schrei des Starken nach Macht, und so verkündete er nur die Botschaft vom Recht des Stärksten auf Gewalt und Herrschaft und von der Pflicht der Schwachen, Zwang

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und Joch der Unterwerfung zu erdulden. Vom Willen der Welt wußte Nietzsche mehr und weniger als Kant: mehr, denn er befragte zuweilen, selten genug, die Welt; weniger, denn er schob sie verächtlich beiseite. Er wollte nichts wissen von der Welt, ihm war nur der Mensch Mitte. Er will noch der Welt das Wesen des Menschen aufdrängen, denn er drängt ihr den Sinn und die Absichten der Macht auf.

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DAS HÖCHSTE GEBOT DER WELT AN UNSEREN WILLEN

GÖTTER UND

SITTENGESETZ

Kein Zweifel, das Leben unseres Geschlechts verlief einfältiger u n d einfacher, zweifelloser und unbeirrter in den f r ü h e n Altern seines Werdegangs, vornehmlich in seiner Kindheit, als es n u r wuchs, blühte und gedieh, ohne sich auch n u r von d e m leisesten Bedenken, d e m stillsten Gedanken darüber beirren zu lassen, in 40

welcher Richtung es wachsen, in welcher Farbe es blühen solle, und ob sein Gedeihen auch verdient und kein Unrecht sei. Aber aus diesem Stand zuträglicher Unschuld sind die kinderjungen Völker rasch herangewachsen ; sie begannen zuerst ihr Leben für die nächsten Zwecke, die es ihnen selbst setzte, zu formen, am öftesten für die Zwecke des Geschlechtslebens, seltener für die eines staatlichen Zusammenschlusses, am seltensten für die Ernährung. Aber zugleich führte ein dichterisches Verlangen ihre Einbildungskraft dazu, sich das Bild der Welt, das ihre Sinne ihnen darboten, zu bereichern und zu steigern. Nicht zuerst über Wolken, sondern in nächster Nähe schufen sie sich Wesen, denen sie menschliche, bald sogar übermenschliche Gewalt zutrauten und die sie sich zu frühest zu Freunden und Verbündeten, später zu Gönnern und Schutzherren umdachten. So wurden Geister, so wuchsen Götter, zuerst nur als Gebilde der schöpferischen Einbildungskraft dieser Menschheitsjugend, als Erzeugnisse eines freien, ungebundenen Verlangens, eine Welt neben der eigenen Welt, hinter dieser Welt zu entdecken. Es geschah aus dem gleichen Verlangen, aus dem sich diese Kindervölker Totenreiche schufen, in denen sie sich ein Leben nach dem Leben träumten, jenseits des nächsten Flusses, drunten in einer Unterwelt, droben in einem Himmelreich. Es war ein metaphysischer Drang, ein Verlangen nach einem ahnungsvollen Wissen um Welt und Weltgeschehen ; es war ein ganz nur phantasiegenährter Trieb, sich die Welt reicher zu dichten als Augen sie sahen, als Ohren sie hörten. Aber noch wurden die Gebilde des Geistes nur um ihrer selbst willen erzeugt, noch wurden sie nicht zu Werkzeugen einer vom Geist ge41

gen da« L e b e n zurückgewandten Absiebt straffer und strenger Lebensregelung mißbraucht. Noch war Glaube Glaube u n d nicht Sittenvorschrift. Eine Schicksalswende in der Geschichte der menschlichen Seele trat ein, als diese Grenze von d e m Glauben und Götter schaffenden Geist überschritten wurde. Es war, als der Priester die Bühne der Weltgeschichte betrat, auf der es bisher n u r Seher, Geisterbeschwörer und Zauberärzte gegeben hatte. Er schuf die Götter zu Herrschern u m , zu Herrschern auf Erden u n d über Menschen, da sie doch ehedem n u r ihre Reiche regiert hatten, die zwar auch auf Erden gedacht waren, aber recht eigentlich neben, nicht über den Menschen. Die höchsten Urzeitvölker haben i h r e m Götter- und Geisterreich schon einen höchsten Gott zum Regenten gegeben, haben i h m Opfer geschlachtet und haben über dem Himmelsgewölbe ein weites Totenreich geglaubt; aber sie verliehen auch diesem Ersten u n t e r ihren Göttern nicht die Macht, seinen Gläubigen Vorschriften f ü r ihr Leben zu geben, und ihr Totenreich war jedem Volksgenossen geöffnet, ohne Totengericht oder Höllenstrafen, ein Ort freudiger u n d starker Fortdauer des irdischen Lebens, aus hellen Jagdgründen bestehend und ein Schauplatz freudig starken Menschendaseins.

GLAUBEN

UND

GESETZ

Eine andere Welt des Glaubens und seines Verhältnisses zu M e n s c h e n t u m und M e n s c h e n t u n hat sich aufgetan, als durch die Verkündung der Priester die Göttergestalten Macht über die Seelen der Menschen

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gewannen, deren Gewalt so groß war, daß sie von ihnen nicht Glauben nur, nein auch demütige Unterwerfung heischten. Es war wahrlich nicht von ungefähr, daß diese neue und zum äußersten gesteigerte Herrschaft der Götter im selben Lebensalter aufkam wie die ebenso neue und ebenso gesteigerte Herrschaft der Könige. Es war derselbe Seelendrang zum Besitz und zur Ausübung von Macht, der für die beiden Geschehensströme den Quell abgab. Denn auch die Priester dürsteten nach Macht, als sie den Glauben an die neuen Götter und ihr Gesetz verkündeten, auch sie wollten den Thron eines Herrschertums errichten. Nur geschah es, da sie als Sachwalter des Geistes, nicht als Täter von Taten auftraten, unter einer Hülle, die fast wie eine Maske wirkt, ob sie gleich gewiß ihrem Ursprung nach nie, ihrer Anwendung nach nur selten die Absicht einer Täuschung in sich schloß. Sie riefen die Größe der Herrschaft des Gottes aus, nicht die seines Priesters, sie verkündeten das Gesetz, das seinen Gläubigen den Zwang einer Lebensfron auferlegte, als den Willen des Gottes, nicht als den des Priesters, und hatten doch Beides im Geist geschaffen, die Größe der Gottesgestalt wie die Strenge ihres Gesetzes. Und es waren sehr einfache Mittel der Überredung, durch die sie die gläubigen Völker bewogen, das Joch dieses Glaubens und dieses Gesetzes auf sich zu nehmen, das oft schwer und hart genug war. Sie sprachen die Forderungen, die sie verkündeten, aus als gestellt von jenen übermenschlichen Gewalten, an deren Dasein sich die Völker schon seit Jahrhundertereihen in ihrer Kindheit zu glauben gewöhnt hatten, und sie nahmen sich von der Verpflichtung auf die Gebote, die sie zuerst selbst geformt, sodann im Namen der geglaubten Götter ver-

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kündigt hatten, nicht im mindesten aus, sondern erklärten sich ab ebenso streng, ja noch strenger unterworfen. Sich als den Knecht der Knechte seines Gottes einzuführen, das war von je Weise des Priesters. Es waren Mittel des Geistes, durch die die Priester, als die ersten Inhaber und Vollstrecker einer ganz geistigen Gewalt, die Herrschaft der Götter und ihre Gesetze begründeten. Und zu den Werkzeugen des Geistes gehört auch die List: List aber hat zum mindesten geholfen, diese Werke des Geistes und der Priester zu vollenden. Denn es war List, durch die sich der Priester, da er doch nach Macht gierig war, als einen Beauftragten darstellte, der nie für sich, sondern stets nur für die unsichtbaren Gewalten Glauben und Gehorsam forderte, Glauben für ihr Dasein und Gehorsam für ihre, seine Gesetze. Allein der würde wenig von Menschenart und Menschengröße wissen, der meinen wollte, die ungeheuren Werke des Glaubens und ihrer Sittengesetze als Erzeugnisse von Priesterlist und Priestertrug, als Hervorbringungen des versteckten Machttriebes geistiger Men sehen zu kennzeichnen. Denn die Priester waren ja nur Vollstrecker der Antriebe und der Gedanken, die in dem neuen Lebensalter der Völker Macht gewannen über das Menschengeschlecht oder doch seine besten Glieder; sie wirkten nur aus, was der tiefste Willen ihrer Völker war, und sie glaubten ihren Glauben. Wohl gaben sie sich als Beauftragte der hohen Gewalten jenseits der Wirklichkeit, aber sie waren in jedem Falle die Beauftragten ihrer Völker. Wohl waren die Sittengesetze, die sie erließen, das Erzeugnis ihres Geistes, der Ausfluß ihres Willens, aber sie waren die Weisesten, sie waren die Beherrschtesten in ihrer Volksge-

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meinschaft und waren in innerster Ehrlichkeit bestrebt, für deren Heil und Gedeihen zu wirken. Und gar nicht vergesse man, daß das Lebensalter, das dieses Geschehen des Geistes und der Seele hervorbrachte, noch immer eine Jugend der Menschheit war, und daß Jugend aus dem heißen Ansturm ihrer Triebe, aus der Glut ihres Tatwillens zu handeln pflegt, doch nicht in Verschlagenheit und Verstellung. Sicher hat Priestertum zuweilen so gehandelt, wie es jenes Gottesstandbild als Sinnbild früharchaischer Gesittung erkennen läßt, in dem man eine geheime Röhre fand, die in dem geöffneten Mund der Gottesgestalt endete und in die hinter dem Altar der Priester hineinsprach, damit seine Stimme vorn als die des Gottes zu den Ohren der Gemeinde dringe. Aber wenn auch so Kleines geschah, so war es zuletzt nur das übel gewählte Mittel einer dennoch großen Absicht eines dennoch lauteren Willens. Denn gleichviel ob die Götter, als deren Gebote die neuen Sittengesetze verkündet wurden, ein Dasein besaßen oder nicht, gleichviel ob diese Gesetze von ihnen gegeben waren oder nicht, immer waren sie doch der unverfälschte Ausdruck einer wahrsten Wirklichkeit, immer waren sie doch das unverbogene Zeugnis und Erzeugnis des tiefsten Lebenswollens der Völker, als deren Beauftragte die Priester, das ist die Geistigsten unter den Geistigen ihrer Volksgemeinschaft, diese Gestalten des Glaubens formten, diese Gesetze des Lebens aufzeichneten. An sich war die Gesetzgebung für Sitte und Sittlichkeit schon eine Großtat des Geistes und mehr noch der Seele: denn es bedeutete eine so straffe Zusammenfassung, eine so folgerichtige Vereinheitlichung, vor allem

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aber eine so eindringliche Verinnerlichung der Lebensführung, wie sie der Menschheit zuvor nie in den Sinn gekommen war. Wohl hat das Geschehen sich zumeist über Jahrhunderte verteilt, aber in seinem Insgesamt war es eine sehr sichtbare Stufe auf der Leiter seiner inneren und äußeren Entwicklung, die unser Geschlecht so erstieg. Unter den bewegenden Ursachen, die diese Umwälzung herbeiführten, muß die mächtigste der gleiche Zug nach Unterwerfung, nach demütigem Sichfügen unter Gebot und Befehl gewesen sein, die dem Emporkommen des Königtums so bereitwillig die Wege ebnete. Eine andere Hülfe erfloß ihm aus dem tiefen Gemeinschaftsgefühl, das von der Kindheit an den Völkern auch jetzt, da sie sich zu viel weiteren Einungen dehnten, bewahrt blieb. Es waren sehr verschiedene, oft schlechthin entgegengesetzte Tugenden, die diese Gesetzbücher vom Einzelnen forderten, damit sein Tun der Gemeinschaft tauge. Männliche, ja kämpferische Eigenschaften der Kraft und der Tapferkeit überwogen. Gehorsam gegen die Götter und die Könige, Ehrfurcht vor den Priestern und Alten, Gerechtigkeit im Verhalten zum Andern taten der Eigenwilligkeit und der Eigenliebe des Ichs Zwang an. Am spätesten aber, alle anderen zuletzt überwältigend, hat sich das Gebot der Liebe, der Liebe zum Anderen, zu jedem Mitmenschen schlechthin, durchgesetzt. D A S GESCHEHEN DER W E L T UND DIE R I C H T U N G U N S E R E S T U N S Das Christentum schrieb dem Einzelmenschen ein Sittengesetz vor, das ihm die äußerste Hingabe an den Anderen und damit große Opfer an seiner Ichliebe auf-

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erlegte, größere als irgend ein anderer Glaube. Eis ist nicht von ungefähr, daß es dieses Gottesbekenntnis war, das dieses Sittengebot gab. Aus d e m Doppelgebilde, das diese höchste und folgerichtigste von allen erdgeborenen Glaubensformen hervorgebracht hat, tönt ein tiefer E i n k l a n g : die Gottesgestalt, die es erzeugt hat, die Gestalt des Allmächtigen, All-Einen fordert v o m Menschen die demütigste Unterwerfung, das Sittengesetz, das im N a m e n dieses Höchsten verkündet wurde, fordert v o m Menschen die demütigste Hingabe. Diese beiden so ganz sich gleichenden höchsten Ansprüche, die dieser Glauben, dieses Sittengesetz an uns Erdensöhne stellten, haben in der Seele wahrscheinlich eine Wurzel: es ist die Wonne, die die äußerste Hingabe d e m Ich bereitet, allen den Opfern zum Trotz, die sie i h m abverlangt. Aber neben dieser Wurzel i m Ich senkt sich eine zweite in die Welt: Ich und Welt verbinden sich auch hier zu innigem Geflecht. D e r AllEine, den die Christenheit glaubt, ist nicht allein die gewaltigste Gottgestalt, ist auch die einheitlichste Verkörperung der Welt. D e n n wenn dieser Allmächtige die Welt geschaffen hat, die Welt lenkt, das Weltgeschehen in seiner Hand vereinigt, so erfährt dieses Geschehen des Alls selbst in ihm eine Vereinheitlichung, ja eine Verpersönlichung von unüberschreitbarer Stärke. Wohl bedeutet dies Handeln i m Geist eine Vermenschlichung des Geschehens der Welt, von d e m unser E m p finden eigens beglückt sein könnte, da es das Sein und Geschehen der Welt in der es umfassenden Gottesgestalt in unsere nächste Nähe rückt; wohl könnte daraus auch der Schluß gezogen werden, daß ein Sittengesetz, das diesem vermenschlichten Weltgeschehen

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entsprungen und so tief verwandt ist, eben darum dem Menschentum am besten anzupassen sei und ab Richtung zu dienen vermöge. Hier aber stellt sich unserem Entscheiden ein Hindernis entgegen, das nicht allein jedes geschichtliche Sehen, nein auch alles lebensnahe, lebenswahre Fühlen solchen Gedanken in den Weg stellt: es ist die Erkenntnis, der soeben noch Ausdruck gegeben wurde, daß, wie alle Geistes- und Göttergestalten auch die des AllEinen, so weit sie jene an Kraft und Wucht übertrifft, den Stempel ihrer Entstehungszeit an sich trägt, und das heißt, wenn auch alles Wurzelgeschehen, alles erste Wachstum, ihrem Ursprung zugerechnet wird, den Stempel ganz früher Menschheitsjugend. Und Niemand, der nicht seinem Meinen Vorurteile zu Richtern setzen will, wird leugnen können, daß unser eigenes reifes und geistbeherrschtes Alter am allerwenigsten geneigt und geeignet ist, heilige Sagen, gestalthafte Sagen zu schaffen. Uns mag möglich sein, heilige Sagen zu lieben und aus solcher Vorliebe sie zu erneuern, aber sie zu erschaffen nicht. Wollten wir es versuchen, so würden solche Gebilde nie wahre Zeugnisse, nie auch echte Erzeugnisse unseres Wesens sein. Das ganz tiefe Lebensgebot, das uns vor solchem Beginnen ein so entschiedenes Nein zurufen würde, es sagt uns auch ein großes Ja: daß wir in allen unseren Angelegenheiten, am meisten aber in den heiligsten und größten von ihnen, nur denken, fühlen, schaffen sollen, was unserem eigensten Wesen entspricht, weil nur so Wesensechtes, Wesens wahres das Stärkste, das Wuchtigste sein kann, was uns zu wirken, zu schaffen möglich ist und was eben darum uns hervorzubringen allein vom Willen der Welt erlaubt ist.

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Und nicht der mindeste Zweifel daran kann a u f k o m men, von welcher Art und Gestalt das Bild sein müßte, das wir unserer Weltsicht zu Häupten, unserem L e b e n als T a f e l setzen können. Ganz einhellig wollen wir z u m wenigsten in einem Stück mit d e m Glauben der Väter sein: in der demütigen Hingabe an das Weltgeschehen, daß es unserem Verehren ein Ziel, unserem Handeln eine Richte gebe. Aber da uns nicht der D r a n g , Welt in Gestalt, Sehen in Sage umzuwandeln beherrscht, so kann das Bild unserer Verehrung nur das Bild des Weltgeschehens selber sein. Und die Weise es zu fassen kann nur die des unbedingten Empfangens, des unveränderten Aufnehmens durch unsere Sinne, des vorurteilslosen Ordnens durch unseren Verstand sein. Z u m zweiten teilen wir auch darin den Sinn unserer Väter, daß wir wie sie das Bild der Welt, wie wir es gewannen, zu Quell und Ursprung unserer Lebensgebote, unseres Sittengesetzes machen. Aber da wir uns nicht wie sie den heilig-, ja göttlichgesprochenen Verkündungen alter Zeiten, mögen sie noch so hehr und lauter sein, unterwerfen wollen, so dürfen wir nur unserer eigenen Sicht und Einsicht vertrauen. Wir wollen in D e m u t das Weltgeschehen verehren, wir wollen gehorsam den Willen der Welt an unserem T u n erfüllen. Ihn zu erfahren, kann uns nur Eines helfen: den Willen der Welt zu erkunden, wie er sich da offenbart, wo er sich gegen ihr eigenes Geschehen wendet. Unser Gesetz kann nur das Gesetz der Welt selbst sein. DIE STIMME DER

WELT

Wer den Willen der Welt an unserem T u n zu erkunden trachtet, der soll die Bekundungen ihres Willens 4

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erlauschen, die sich gegen sie selbst und ihr eigenes Geschehen richten. Und wahrlich, so laut und so unmißdeutbar die Worte dieser Kundmachung sind, sie sind doch nicht in Menschensprache gesprochen, sondern nur in der stummen Sprache ihres Geschehens. Der Wille der Welt an unserem Tun hat im Grunde nur einen Befehl, den er uns zuruft: ich geschehe täglich, stündlich vor deinen Augen, deinen Ohren; nun schau, nun horche und ahme mir nach. Denn du bist ein Teil von mir, gleichviel wie groß, wie klein, und so kann dein Sollen kein anderes sein, als daß du dich in meine, des Ganzen Weise und Wesen fügst und mir nachtust, was du mich tun siehst. Ich geschehe, also geschieh auch du. Ich eile in meinem Geschehen, also eile auch du. Ich bin jedem Umweg gram, also wähle auch du immer den kürzesten Weg. Ich wirke ohne Unterlaß, also darfst auch du nicht rasten. Mein Wirken wird in gemessenen Zeiträumen zum Schaffen, also laß auch du, wenn du es vermagst und wenn dir solche Sendung ward, dein Wirken Schaffen werden. Eine Sprache — so deutet der Wille der Welt sein eigenes Geschehen — spreche ich zu dir, aber sie hat viele Mundarten, in jedem der hundert Bezirke, über die ich herrsche, eine andere, und es sind tausend Weisen, in denen sie laut werden. Drei Reiche breite ich vor dich hin, so spricht der Wille der Welt zu uns, in denen mein Gesetz herrscht: am dumpfsten, aber zugleich am gewaltigsten dröhnend, schallt es zu dir aus dem Reich der unbelebten Welt. Sterne und Atome, Steine und Felsen, Erze und Kristalle, Winde und Wellen, Festländer undMeere folgen nur einem Gebot, und ihre Stimmen, so tausendfältig sie sind, klingen doch zu dem ewigen Einklang 50

eines großen Chores zusammen, u n d er lautet: wir sind seit ewigen Zeiten bewegt und wir werden in alle Ewigkeiten hinein bewegt bleiben. Die Sonne, unseres Sternes Meisterin, die Erde, unseres Lebens Mitte und Schauplatz, die tausend Geleitsterne, die mit ihr die Sonne umkreisen, und noch die Milliardenheere der Sonnensterne bewegen sich zwar täglich vor unseren Augen, aber die wahre, in rasendem Lauf dahineilende Geschwindigkeit verbergen sie vor uns u n d es bedurfte erst langer Jahrhundertereihen, ehe der menschliche Geist diese Wirklichkeit gewahr wurde. Sie bedeutet, daß die u n g e h e u r e n Bälle, die durch den W e l t r a u m rollen, es mit einer Geschwindigkeit t u n , die, viele Meilen i m kleinsten Zeitteil zählend, ein Vielfaches von der Schnelligkeit beträgt, die menschliche Kunst den kleinen Metallkugeln seiner Feuergeschosse zu geben vermag. Und wieder m u ß t e n Jahrzehnte vergehen, bis die Schärfe des geistigen Sehens der Menschen, die Schärfe seiner Werkzeuge sich so weit steigerte, bis sie e r k u n deten, daß auch die Sterne n u r zur äußersten Seltenheit die festen Körper sind, als die sie unsern Augen erscheinen, daß sie vielmehr Gasbälle sind und daß die Glutmeere und Feuerstrudel, die ihre Oberfläche bilden, aus Millionen und aber Millionen kleinster Urkörper bestehen, an deren Geschwindigkeit gemessen das Dahinrasen ihrer Weltkörper dem Dahinschleichen einer Schnecke gleicht. Diese Einsicht ist unserem Geschlecht erst gekommen, nachdem es Jahrzehntausende seines bewußten Daseins hingelebt hatte, zuerst unendliche Aeonen dieser seiner nächsten Welt k a u m achtend, d a n n mühsam zu ihrer Erforschung vordringend und erst seit Jahrzehnten in *

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seinem Erkennen so weit erfolgreich, daß es diese innerste Bewegung entdeckte, die doch die Uhrfeder im Triebwerk alles Weltgeschehens darstellt. Denn aus der Unsichtbarkeit dieses Urgeschehens ist die unendliche Fülle der Formen, die die uns sichtbare, uns greifbare Welt, zusammen bilden, erst entstanden. Trillionen der Urkörper müssen zusammenkommen, damit ein Würfel des festen oder auch lebendigen Stoffes von Fingers Breite entsteht, hundert Zusammensetzungen, hundert Umformungen müssen sich vollziehen, bis der Schichtenbau der uns allein als wirklich erscheinenden Welt der Minerale, Erden und Gesteine, der Pflanzen, Tiere, Menschen sich aufgetürmt hat. Und da nun das mit Geist und Werkzeug bewaffnete Auge des Forschers auch die Bahnen entschleiert hat, auf denen sich die rastlos dahineilenden Urkörper bewegen, da das Gesetz dieser Bahnen das gleiche ist für die nach Billionstein unserer kleinsten Maße zählenden Urkörper wie für die nach Billionen Meilen messenden Weltkörper der Sternenscharen, so mag unser Wissen schon heute dem Wissen der Zukunft vorgreifen, das erweisen wird, daß alle Bewegung der Welt, der unbelebten wie der lebendigen, ihren Ursprung in der Bewegung jener Urkörper hat und eigentlich nur die hundertste Form der Urbewegung selbst darstellt. Noch ist die Wissenschaft nicht zu der Überzeugung gelangt, daß die Urkörper ihre Bewegung aus eigener Kraft vollziehen; noch ist sie der Meinung, daß sie wie alle Körper der unbelebten Welt tote Körper sind, allein mit dem Vermögen anziehender, nicht aber mit dem bewegender Kraft ausgestattet. Allein die Zeit mag kommen, in der sie den Urkörpern auch die Kraft der 52

Eigenbewegtheit beimißt, und dann ist erst das volle Rund der Einheit unseres Weltbildes erreicht. Für die Weisungen, die uns das Weltgeschehen erteilt, ist schon die heut eröffnete Sicht offenbarend g e n u g : denn wenn sie auch nicht die Eigenbewegtheit der Urkörper in sich schließt, so doch umso gewisser ihre Allbewegtheit. Und wenn von diesem innersten Kernbezirk des Weltgeschehens nun als sein unverbrüchliches Gesetz enthüllt wird, daß es von unaufhörlicher Bewegung beherrscht ist, daß die Urkörper, die ihn erfüllen, beständig in starker, zuweilen in einer nach irdischen Begriffen rasenden, nie in geringer Geschwindigkeit dahineilen, so heißt dies nichts anderes, als daß die Losung, die dem Weltgeschehen von seinem Kern aus zuerteilt ist, Bewegung und das ist W i r ken, unablässiges, rastloses Wirken heißt. Und mit doppelt lautem Schall ertönt in diesem Befehl der Wille der Welt an uns. Einmal weil aus diesem Kraftwerk des Kernbezirks alles andere Weltgeschehen genährt wird, daß es init derselben Unrast und derselben Unaufhörlichkeit, derselben äußersten Gespanntheit den ihm gewordenen Antrieb befolge. Dann aber, weil alle andere Bewegung der Welt in nie unterbrochener Kette von dieser ersten, ältesten, herrscherlichsten herzuleiten ist. Sollte der Mensch, der als Leib nur ein Übertier ist und der auch als seelisches Wesen durch tausend Gleichläufigkeiten seines Tuns in die nächste Nähe noch zu dem Geschehen der unbelebten Welt gewiesen ist, sich diesem stärksten, diesem umfassendsten und also diesem höchsten Gebot des Willens der Welt entziehen dürfen ? Ein nicht zu denkender Gedanke für jeden weltisch Gesinnten , jeden der Ordnung derWelt gehorsam sich Fügenden.

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DER W I L L E DER W E L T ALS E R K E N N T N I S

ZWEIHEIT UND EINUNG

EINHEIT UND

ZWEIHEIT

ALS KLÄNGE DER

WELT

Daß wir den Willen der Welt an unserem Tun befolgen können, sollen wir auf seine stärksten und seine feinsten Offenbarungen lauschen, auf seine lautesten und auf seine leisesten Stimmen hören. Horche, mein Ohr. denn was der Wille der Welt von Einheit und

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Zweiheit zu sagen weiß, was wir von diesem seinem Wort zu vernehmen vermögen, das wiegt schwerer als alles Gold, ja vielleicht noch schwerer als alle Schwerter der Erde. Denn Zweiheit ist Zwist und Einheit ist Friede, Zweiheit wirkt Macht und Einheit will Liebe. Hat Herakleitos Recht, wenn er den Krieg als aller Götter hohen Vater grüßt, da er doch weise zwar, allein auch jäh und zornig und eifernd war, wo immer er sein tiefes Sehen fort vom Geschehen der Welt, zum Geschehen der Menschheit wendete. Oder hat, der sich des Menschen Sohn nannte und den seine Gläubigen zum Gott erhoben, Recht, wenn er dem Feinde noch die linke Wange zum andern Streich zu bieten hieß, wenn die rechte schon einen ersten empfangen hatte. Und er, der so sprach, war doch so wenig wissend von allem dem, was unser höchstes Gut ist, von starkem und von schaffendem Menschentum. Oder sollen wir gar auf die Stimme von Osten hören, auf das Wort Gotamas des Buddha, der nicht Kampf nur, nein schon Tat, nein schon Leben als Last und als Leid empfand, und der solchergestalt mit Füßen trat, was uns als die heiligste der Pflichten gilt: das Gebot der immerdar bewegten Welt, den Befehl des nie rastenden Lebens. Keines weisen Künders Wort, keines heiligen Wollers Weisung kann den Sinn der Welt und den Geist ihres Geschehens aufwiegen. Doch ist Not für den, der diese schwersten, diese leichtesten Gewichte auf der Wage unseres ach so blinden Wissens abwägen will, daß er sie mit den zagsten, den zartesten Fingern ergreife und reihe und werte. Einheit ist die Welt, Einheit wird beständig die Welt, Einheit will die Welt. Alle tiefsten Eigenschaften des

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Seins und alle beständigsten Weisen des Geschehens der Welt sind dem Zug zur Einheit unterworfen. Denn die Ordnungen, in die sich alles Sein der Welt als seinen festen Rahmen, als seine herrschenden Teilungen gliedert und zerlegt, wollen nichts stärker, nichts folgerichtiger, nichts ausnahmsloser als Einheit. Die myriadenfachen Lagerungen, in die sich die Urkörper des innersten Seins der Welten, die festen Körper der Erde, die Weltkörper des Himmelsraums schichten, sind Ordnungen, die jeden Teil und jeden Teil vom Teile des Weltganzen bis zum unfaßbar kleinsten Urbestandteil herab, bis zu den Sonnen und Sonnenhaufen hinauf zu Einheiten zusammenschließen und noch das Ganze der Welt, soweit nur unsere schwachen Augen es durchdringen, als Einheit erscheinen lassen. Denn diese Ordnungen einen beständig, indem sie teilen und das Geteilte zusammenfassen, und sie verbürgen die Einheit der Welt ab eines gelagerten Gliederganzen, denn ihr Bau erweist sich als unverbrüchlich folgerichtig, ihr Grundplan als ohne Ausnahme durchgesetzt, der Sinn ihrer Gliederungen als der stets gleiche und also eine. Die Welt als Geschehen ist im selben Maße und Grade Einheit wie die Welt als Sein. Denn der Ordnung, der Lagerung, der Teilung dort ist das Gesetz der Vorgänge und ihrer Verkettungen hier als Grundlage und Gewähr der Einheit vom Kern her ebenbürtig. DER URSPRUNG DER

ZWEIHEIT

Die Welt ist von Zweiheit durchspalten vom Scheitel des Menschengeistes bis zur Sohle des Geschehens der Urkörper. Es war der höchste Sieg des immerdar unseren Geist beherrschenden Gegendranges nach Einheit,

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daß er im unteren Reich der Natur, bei den unbelebten, doch zu höchst bewegten Wirklichkeiten, als er nach immer kleineren Urbestandteilen suchte, zuletzt auf Ururkörper stieß, die er mit Wahrheit als die untersten Bausteine des Weltgebäude ausrufen konnte, die allen Stoffen gleich und gemeinsam seien. Er konnte sie, was die höchste begriffliche Forderung von ihnen seit altersgrauen Tagen, seit den Anfängen unsicher ahnungsvoll grübelnder Weltweisheit geheischt hatte, als ihrer Beschaffenheit nach gleiche, vertretbare, auswechselbare verkünden. Blitzkörper nannte er sie: Elektronen. Doch wehe, auch von ihnen mußte er zugestehen, daß sie zwar ihrem Sein nach die einen, immergleichen seien; aber daß sie ihrer Masse, ihrer Größe, ihrer Wirkungsart nach dennoch unterschieden seien. Die Natur erwies sich eben hier an dem innersten Herd ihres Wirkens als seltsam herrisch und fast spielerisch willkürlich: sie schuf diese Ureinheiten in unfaßbarer Kleinheit — zwanzig Billionen von ihnen nehmen mit ihrem Durchmesser erst einen Zentimeter ein — und stattete sie dennoch mit der Kraft der Kräfte aus, mit der Urkraft, die den Quell für alle Bewegung, alles Leben, allen Geist der Welt darstellt; aber die einen, die kreisenden Elektrone, die sie als die schwächeren schuf, machte sie zwar zweitausend mal größer als die andern, die die Mitte haltenden Kerne, lieh diesen, den Kernen aber eine Masse, will sagen eine Kraft, die wiederum nahe an zweitausend mal größer als die der kreisenden Brüder ist. Eine winzige Sonne läßt übergroße Wandelsterne um sich kreisen; ein Körper von der Größe eines Kinderballs regiert einen andern, der die Größe des Sankt-Peterdoms hat, und ist fast zweitausendmal mächtiger als er.

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Einheiten also schuf die Natur in der innersten Mitte des unbelebten Weltgeschehens, aber sie spaltete sie dennoch in zwei G a t t u n g e n : mächtigere, denen die Forscher den Namen des großen Ur-Jas gaben, schwächere, die sie nach d e m Nein nannten. Und sie richtete unter ihnen als ein oberstes Gesetz ihres Einungsdranges dies Urgebot auf, daß alle Urkörper des Ja die Urkörper des Nein anzogen, daß alle Urkörper des Nein die Urkörper des Ja anzogen, und daß Ja und Ja, daß Nein und Nein sich gleichgültig blieb. Einheiten schuf die Natur auf der höheren Ebene der belebten Wesen, aber sie spaltete auch sie in zwei G a t t u n g e n : gab den Pflanzen männliche, zeugende Werkzeuge u n d weibliche, empfangende Werkzeuge ihrer Fortpflanzung, schuf männliche, zeugende Tiere und weibliche, empfangende Tiere. Und sie setzte auch dieser Weltschicht als erzene Tafel das Gebot, daß n u r männliche und weibliche Tiere sich anzogen und zur Befruchtung gelangten. Ja und Nein schied sie, einte sie auch hier. Einheiten schuf die Natur auf der höchsten Ebene der Menschheit; als Menschen, uns alle die gleichen, bildete sie das irdische Geschlecht. Aber sie spaltete auch uns in zwei G a t t u n g e n ; da wir Tiere sind, wurden wir Männer u n d Weiber d e m Leibe nach; doch auch als beseelte Wesen wurden wir doppelt und erhielten die einen eine männliche, die andern eine weibliche Seele. Und noch einmal wurde das alte Gebot erneuert, noch einmal wurden die Wesen des Ja, die zeugerischen, die überstarken, die ihrer Fülle entledigt zu sein trachten, geschieden von den Wesen des Nein, den empfangenden, die sich leer fühlen u n d nach Erfülltwerden

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sich sehnen. Nicht der liebende Leib des Mannes nur begehrt den geliebt sein wollenden Leib des Weibes, nein auch seine liebende Seele will ihre nach Geliebt heit durstende Seele. Nicht• der Leib nur der Nein — das ist Noch-nicht-Ja, Noch-nicht-Genug — sagenden Wesen, der Frauen, nein auch ihre Seele will überwältigt, will überschüttet werden von dem Ja — das ist Mehr-als-Ja, Mehr-als-Genug —des stärkeren Mannes. Unterwerfung sehnt sich nach Unterworfenheit, Geführtheit nach Führung. Aber die alte Bindung ist gleich stark geblieben: keine der höheren Zweiheiten ist von geringerer Macht des Anziehens und Angezogenseins, von schwächerer Kraft des Herbeizwingens und des Gezwungenseins als jene der Urkörper. Die Zweiheit will immer Einheit, das Ur-Ja immer das Ur-Nein und das Ur-Nein das Ur-Ja. Wären wir nicht Blinde und Toren von Anbeginn, wir wüßten längst, daß auch mit diesem Glied die Kette der zur Einheit verbundenen Zweiheiten, der in Einheit sich dennoch erhaltenden Zweiheiten nicht geschlossen ist. Wir Menschen sind nicht nur Liebende und Geliebte, Begehrende und Begehrte, Männer und Weiber, wir sind auch Führer und Folger im Reich der Macht, wir sind auch Zeugende und Empfangende im Reich des Geistes. Und wieder gilt das Urgebot, wieder zieht sich das Ur-Ja hier, das Ur-Nein dort unwiderstehlich an: der Führer will herrschen, um der Fülle seiner Kraft ledig zu werden, der Folger will gehorchen, um sich in Neigung und Schwäche dem Stärkeren zu ergeben. Und der Schöpferische im Geist, der männlich Zeugende, verströmt den Samen seiner Überkraft zwar scheinbar in das Werk, in Wahrheit in die Empfan-

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genden, die weiblich sich leer Fühlenden, nach Erfüllung Durstenden, die froh Nehmenden, die gern Beschenkten. Und so sind der Zweiheiten nicht drei nur, nein zweimal drei. Aber der Einheiten, die der Wille der Welt von sich, von uns fordert, sind ebenso viele.

E I N H E I T , Z W E I H E I T UND EINUNG Keine Beschaffenheit hat der Wille der Welt öfter und schärfer in das Sein der Welt geprägt als die Zweiheit, keiner Strebung hat der Wille der Welt, das Geschehen der Welt stärkere Auswirkung eingegeben als der zur Einheit. Die Welt starrt von Zweiheit und die Welt ist voll von Formen des Geschehens, die aus der Zweiheit zur Einheit wollen. Aber es ist als ob der Wille der Welt, nachdem er einmal die Zweiheit geschaffen hatte und nachdem er dem Geschehen den Drang zur Einheit eingegossen hatte, zwar immerdar Einung wollte, aber nicht immer Einheit, die alle Zweiheit vergessen macht. Der Wille der Welt hat tausendmal öfter die Einung als Band um die alte Zweiheit geschlungen, als daß sie die ehemals ungleichen Teile zu einem nunmehr einen und gleichen Ganzen gemacht hätte. Der Wille der Welt will Einheit, denn er gibt dem Geschehen das Gesetz, und Gesetz ist Einheit; der Wille der Welt will Einheit, denn er gibt dem ständigen Sein die Ordnungen, und Ordnung ist Einheit; aber der Wille der Welt bindet tausendmal öfter die Zweiheit zur Einung der Ungleichen, als daß er die Zweiheit zur Einheit der Gleichen fügte.

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Urdinge lehren uns den Willen der Welt erkennen u n d die Urdinge, die an u n d in den U r k ö r p e m walten, offenbaren ihn uns a m sichersten. Die unterste, innerste Zweiheit, die das Sein der Welt spaltet, ist auch die a m stärksten bewehrte, d e n n die Urkörper, die die Zweiheit tragen, tragen auch in sich die Urkraft, die Allkraft, die Kraft der Kräfte, von der alle i m Geschehen der Welt wirksame Kraft, alle ohne Ausnahme, n u r Ausformung, U m f o r m u n g ist, bis in alle Bezirke des Reiches der unbelebten Körper, bis in die höheren Schichten von Wirklichkeit u n d Welt, bis z u m Leben der Menschen, bis zum Geist der Menschen, bis zur Entwicklung der Menschen. Sie aber, die Ursitze, die Urträger aller Kraft, sind gespalten von Anbeginn des Seins der Welt in zwei G a t t u n g e n , in Träger des Ur-Ja u n d Träger des Ur-Nein. Und nie hat sich seit Anbeginn der Welt an dieser innersten, tiefsten, mächtigsten Spaltung des Seins das leiseste geändert. Nicht Zweiheit n u r findet statt i m Urkern des Geschehens, nein auch Aufeinandergewiesenheit, Aufeinanderbezogenheit der entzweiten Urkörper: nicht ewiger Zwist herrscht zwischen ihnen, nicht einmal unversöhnliche E n t f r e m d u n g , unüberwindliche E n t f e r n u n g , sondern vielmehr Einung, Verkettung und ewiger Bund. Die beiden Gattungen, mit Scheu u n d Zagen d ü r f e n wir sagen die beiden Geschlechter der Urkörper, fliehen einander nicht, nein, suchen sich. Und die sich suchenden finden sich immer, die sich findenden bleiben ewig verbunden. Aber niemals wurden noch werden die ungleichen gleiche; nie hebt sich, wenn ein Körper des Ur-Ja den Körper des Ur-Nein bewirkt, gefangen, gebunden hat, die Zweiheit der Ungleichen auf und wird Einheit der Gleichen.

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Sondern der Wille der Welt will ein Anderes: er will nicht, daß die Ungleichen für sich bleiben, noch auch die Ungleichen, verbunden, zu Gleichen werden, er will ein Drittes: er will den Bund, den ewigen Bund der Ungleichen. Und er segnet diesen Bund mit unsäglicher, mit ewiger Fruchtbarkeit: er hat sich beständig gemehrt, die zuerst verbundenen zwei Urkörper haben zwei neue Urkörper zu sich gezwungen und sich einverleibt und ein neues Gliederganzes entstand, eine neue Urbindung. Und aus vier wurden sechs, aus sechs zwölf und immer neue, immer weitere, immer reicher gegliederte Bünde entstanden; Elemente hat man sie geheißen. Und wie aus einem zwei, aus zwei drei Kiemente wurden, so hat sich in immer neuer Bindung, Mehrung ein Hundert von Elementen geboren, der Stammbaum der Elemente ist emporgewachsen. Aber so oft er sich verzweigte, immer blieb für jede der neuen, der entstehenden Verbindungen das alte Gesetz: die Zweiheit der Ungleichen wurde zur Einung der Ungleichen gebunden, nicht in einer Einung von Gleichen aufgehoben. Höchstes Bild und Gleichnis nicht für alles, aber für das tiefste, für das Schicksal setzende Weltgeschehen: der Wille der Welt will öfter Einung als Einheit, will öfter den ewigen Bund der Ungleichen, als Einklang der Ungleichen zur Einheit der Gleichen. Der Wille der Welt wünscht Nähe, er wünscht Bund, er wünscht den untrennbaren, den ewigen Bund, aber er wünscht nicht Einheit als Gleichheit — er will Einung, nicht Gleichung. Der Wille der Welt hat alle Zauber, alle Rätsel seiner Kräftespiele entfesselt, um dieser tiefsten seiner Strebungen Wirklichkeit zu geben. Er hat gemacht, daß 5

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die beiden Gattungen, die beiden Geschlechter der Urkörper sich anziehen. Er hat der wirkenden Kraft die bewirkende Kraft gesellt. Und er hat diese bewirkende Kraft, die er in die Ferne strahlen und dort neues Geschehen hervorrufen läßt, ohne daß unser Wissen diesem Wirken irgendeine Ursache weiß, beschränkt auf die Urkörper der voneinander verschiedenen Gattungen. Das Gebot der Näherung, der Bewirkung, der Bindung, der Einung gilt nur für die einander Wesensungleichen; es hält ein vor den Wesensgleichen. Zweiheit schuf der Wille der Welt allüberall; aber fast ebenso oft zwang er die Entzweiten zur Einung. Aber nicht wollte er dann aus der Einung Einheit, aus dem Bund der Ungleichen unterschiedslos gemehrte Menge der Ausgeglichenen machen. Fruchtbar und ewig machte er den Bund der Ungleichen, zwischen die Gleichen aber setzte er Fremdheit, Gleichgültigkeit, Unverbundenheit, ja Unbewirktheit. Zwist wollte er nie, nicht zwischen den Gleichen: sie trennte er durch Ferne, nicht zwischen den Ungleichen: sie band er durch Einung. Gleichheit im letzten wollte er nie, denn er schuf die Urkörper als ungleiche und ließ sie nie gleich werden. Die Nähe der Gleichen schlug er mit Unfruchtbarkeit, die Nähe der Ungleichen segnete er zum Bund, segnete sie mit ewigem Bestand ihres Bundes, segnete sie mit ewig sich fortzeugender Mehrung. War dieses nicht der Wille der Welt, daß er die Ungleichheit der Ungleichen erschuf, die Ungleichheit der Ungleichen verewigte, weil Gleiche sich nicht einen können? War dieses nicht das Urgesetz der Welt, daß Gleiche mit Gleichen sich nicht binden noch einen können und also auch nicht sich mehren, sich fort-

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pflanzen, sich wandeln, sich arten können? War dieses nicht die Urweisheit der Welt, daß Ungleichheit wurde und Ungleichheit blieb, weil nur Ungleiche sich zur Einung binden, Gleiche aber einander ewig fern und ewig fremd bleiben? Wenn nur aus der Zweiheit von Ungleichen Einung wurde, nie aber aus der Zweiheit von Gleichen, so war Ungleichheit von Nöten, wenn das Wachstum der Welt, die Fülle der Formen der Dinge Wahrheit werden sollte. Denn nur Einungen vermochten zu bleiben, zu dauern, ewig zu dauern. Denn nur Einungen hatten Macht, neue Urkörper anzuziehen, sich einzuverleiben. Denn nur Einungen, die sich also vermehrten, hatten Macht, sich zu wandeln, sich in andere Einungen umzuschaffen, sich zu arten. Sie wandelten sich, arteten sich nicht durch Geburten, nur durch den bewirkenden Zwang, der neue Urkörper in die alten Kreise zog. Aber auch diese Kraft konnte nur ausgehen von den festen, den ewigen Einungen, den Einungen der Ungleichen. Ihre Fruchtbarkeit äußerte sich noch nicht im Gebären, wohl aber im Entstehenlassen neuer Geschehens-, neuer Seinsformen und war so dennoch fruchtbar.

DIE KETTE DER Z W E I H E I T E N Die Welt schichtete sich, das Leben entstand, das Gebären geschah. Die Körper wurden Leiber, wurden Wesen, lebten. Die einzelnen Leiber waren nicht dauernd, wie die Körper, wurden sterblich. Geburt und Tod überschritten in der gleichen Stunde die Schwelle der Welt. Aber die Wesen vermochten sich fortzupflanzen durch Zeugung und Empfängnis, durch Samen 5-

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und Beiwohnung. Die Körper hatten sich gewandelt, hatten sich geartet durch Einverleibung, die Wesen wandelten sich, arteten sich durch Ausverleibung, durch Gebären, wenn in sie Samen geflossen war. Der Stammbaum der Urbindungen, der Elemente, der Stammbaum der Körperarten war durch Einlagerung neu gefangener Urkörper gewachsen; tausendfache Bindungen, tausendfache Verflechtungen hatten hundert Arten der Urbindung, zehntausend Arten der höheren Verbindung her vorgetrieben. Der Stammbaum der Wesen pflanzte sich durch Besamung und Geburt fort, der Stammbaum der Wesensarten wuchs durch den Wandel der Geburten, durch die Geburt von Wesen neuer Art. Die Körper waren ewig und durch Einlagerung gewachsen, die Wesen waren sterblich, aber ihre Arten waren unsterblich und wuchsen durch das Geborenwerden von neuen Teilarten der Wesen. So wandelte sich die Weise der Mehrung, aber Mehrung blieb. Die Körper waren ewig, die Wesen waren sterblich; die Arten der Körper waren ewig, aber die Arten der Wesen waren es auch. Die Einzelkörper waren geschwollen und geschwollen und waren doch fest geblieben; jede höhere Art der Körper war die mehr gegliederte, die zu größerem Umfang gebaute Art. Die Einzelwesen schwollen nur eine kurze Zeit, dann barsten sie und gebaren das neue, das junge Wesen; jede höhere Art der Wesen war die mehr gegliederte, aber nicht die zu größerem Umfang gebaute Art. Aber die Schwellung dort, die Geburt hier änderte nichts an der Ewigkeit der Arten. Die Arten der Körper waren ewig, da die Schwellung die Körper nicht bersten ließ; die Arten der Wesen waren ewig, da die

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Schwellung die Leiber bersten ließ und die Wesen starben, aber die Arten selbst durch die immer neue Geburt der immer neuen Wesen erhalten blieben in beständiger Kraft durch die beständige Verjüngung. Unsäglich viele von den Weisen des Geschehens änderten sich, aber das Urgesetz blieb, die Zweiheit blieb. Aber wie in der Welt der Wesen sich die Formen des Geschehens, die Ordnungen des Seins unsäglich mehrten, so ward auch die Zweiheit der Wesen um Vieles nachdrücklicher ausgeprägt. Wer die Gattungen der Urkörper eigens schroff gegeneinander setzen will, nennt sie Geschlechter. Denn die weiblichen, empfangenden Geschlechtswerkzeuge der Pflanzen unterscheiden sich auf das augenfälligste von den männlichen, zeugenden und die Leiber der weiblichen Tiere und Menschentiere auf das sichtbarste von den Leibern der männlichen Here und Menschentiere. Und eigens schöpferisch erweist sich das Paar der beiden neuen hohen Gewalten im Reiche der Wesen, die Zwillingsgeschwister Tod und Geburt. Der Tod der alten einzelnen Wesen macht die Geburt der jungen einzelnen Wesen notwendig, der Tod geht das einzelne Wesen allein an, die Geburt aber ist die Folge eines Tuns zwischen beiden Formen der Geschlechtswerkzeuge an Pflanzen, Tier- und Menschenleibern. Nur aus der Einung von Mann und Weib kann das neue Geschöpf entstehen ; nur die Zweiheit der Geschlechter, die sich zur tiefsten, innersten, engsten Einung der Leiber zusammendrängt, kann das neue Leben entstehen machen. Die Handlung der Einung selbst zwischen dem Mannes- und dem Weibesleib von Tier und Mensch ist Bild und Gleichnis aller Einungen, der im Reich der unbelebten Körper wie der im Reich der

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Menschenseelen: daß für kürzeste Zeit aus zwei Leibern einer wird, daß engste Nahe entsteht zwischen zwei Wesen, daß das eine von ihnen sich zu einem Teil dem andern eingießt, einverleibt, ist nie der gleiche Vorgang wie die Einung im Reich der unbelebten Körper noch wie die Einung zwischen Seelen, und doch schließt es wie ein bindendes Glied das unstofflichste, das rein seelische Geschehen hier mit dem ganz stofflichen dort zu einer im tiefsten einheitlichen Kette von Bindungen, Einungen, Bünden zusammen. Wie eine steinerne Tafel ist dies Gesetz über allen Reichen des Weltgeschehens aufgerichtet: daß nur aus Zweiheit Einung, nur aus Ungleichen Bund, daß nur aus Bund Erhaltung, daß nur aus Bund Verzweigung der Art entstehen könne. VON A M T UND SENDUNG D E R EINUNGEN Wenn nur die Einungen ehedem Entzweiter, dann Gebundener, immer aber Ungleicher im Reich der unbelebten Körper Urbindungen entstehen lassen, die sich zu mehren, die zu neuen Arten der Körper aufzusteigen vermögen, wenn nur die Einungen ehedem Entzweiter, dann Gebundener, immer aber Ungleicher im Reich der lebenden Wesen Geburten entstehen lassen, die zu neuen Arten der Wesen aufzusteigen vermögen, so ist der unmißdeutbare Wille der Welt an unserem Tun, daß nur die immerdar von Anlage und von Fortbildung Zweifachen, Entzweiten sich zu Einun gen zusammenschließen, auf daß auch unsere Einungen bestehen bleiben, wirken, fruchtbar werden. 70

Unseren Leibern befiehlt ein unzähmbarer Trieb, daß die Ungleichen, daß Männer sich mit Frauen paaren, damit sie dem Liebesgebot der Leibesliebe sich Untertan erweisen. Unseren Seelen befiehlt mit viel leiserer Stimme, doch süß überredend ein sanfterer Trieb, doch auch er unmißdeutbar, auch er sehr mächtig, daß Männer sich mit Frauen verbinden, damit sie dem höchsten Liebesgebot der Seelenliebe sich zu tiefst Untertan erweisen. Seelenliebe sanfterer, gedämpfter Art, Freundschaft vermag Frauen mit Frauen, tiefer Männer mit Männern zu verbinden! Aber so köstlich diese Bünde sein, so reich sie unser Leben beschenken mögen, sie haben noch nicht ein Tausendstel der Macht auf Menschen erwiesen, die die Liebe der Ungleichen zueinander ausgeübt hat. Nur bei jungen Völkern ist in der Blutbrüderschaft von zwei Kampfgenossen einmal ein Seelenbund von ähnlicher Enge und Unlösbarkeit aufgekommen, wie sie die Ehe zwischen den Ungleichen über die Erde getragen hat. Der Wille der Welt hat sich in diesem Tun an uns, aus uns, durch uns durchgesetzt und das gewaltigste vermocht. Nicht immer hält der Trieb, der zur Lust der Leiber treibt, inne bei den Ungleichen: er treibt auch die Gleichen zueinander, Männer zu Männern, Frauen zu Frauen, öfter die Heranwachsenden, Reifenden, zur Seltenheit die Reifen. Der Wille der Welt ist solchem Tun nicht hold, und auch das Geschehen zwischen Menschen hat sich ihm nicht gefügig erwiesen. In früher Zeit sind Bünde zwischen zwei Männern aufgekommen, die einander mit Leibesliebe verbunden waren: so haben die griechischen Wagenkämpfer sich mit ihren Lenkern zu freiem Bund zusammengeschlossen und ihre Einung hat in Kampf und Schlacht71

getöse harte Proben bestanden. Griechische Wahrheitsucher haben die Jünglinge, denen sie Wort und Lehre überlieferten, in Liebesbünden fest an sich geschlossen und die Werke der Schüler zeugten für das Tun der Meister. Aber wie selten, wie wenig haben solche Bünde in Menschen, an Menschen gewirkt, gemessen an der umwälzenden Gewalt, mit der die Ehen der Ungleichen die Ordnungen der Menschen, der Völker, der Staaten ergriffen und geformt haben. VOM ZEUGEN UND E M P F A N G E N DES I C H S Daß du Mann bist, daß du Weib bist, zeigt die Bildung deines Leibes. Nicht ganz so unmißdeutbar die Bildung deiner Seele. Denn da das Wunder von Zeugung und Empfängnis die beiden Geschlechter für jede neue Geburt zur Einung verflicht, so ist jeder neu aufwachsende Mann, auch der männlichste, nicht zur Hälfte, doch zu einem Teile Weib, jedes neu wachsende Weib, auch das weiblichste, nicht zur Hälfte, doch zu einem Teile Mann. Im stillen Ringen der Geschlechter, in dem lauten oder leisen Kampf zwischen Mann und Weib, der die lockeren und die festen Liebes-, der die lockeren und die festen Ehebünde erfüllt, hat sich dies innerste Verhältnis kundgemacht, und es ist Narrheit und ungerecht, auf die Schwäche der Männer zu schelten, die in diesem Kampf unterlagen, oder die Männlichkeit der Frauen zu verhöhnen, die in ihm obsiegten ; beide folgten nur dem Urbestandteil von seelischgeschlechtlicher Beschaffenheit, der in ihnen das Übergewicht hatte.

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Die neuen Losungen der F r a u e n f ü r die Frauen, die eine Lockerung der E h e b ü n d e fordern u n d durchsetzen, die vielen Frauen, die zu stark oder zu fein sind, u m sich in i m m e r w ä h r e n d e Bünde zu f ü g e n , W e g e einer Selbständigkeit des Lebens, auch im Sinn ihres geschlechtlichen Verhaltens weisen, bringen n u r das gleiche Überwiegen männlicher Dränge in gewissen Frauen zur Geltung. I h n e n auf diesen W e g e n Fesseln der Ü b e r e i n k u n f t anzulegen, würde d e m Willen der Welt nicht dienen, sondern widersprechen. D e n n dem Menschengeschlecht ist zuerst und zuletzt daran gelegen, daß solche Vermännlichungen und Verselbständigungen der Frauen nicht die Fortpflanzung der Art einschränken, vermindern. Es m u ß das freie u n d uneingeschränkte Recht so starker Frauen sein, insonderheit derer, die männlich selbständigen Ber u f e n nachgehen wollen, Kinder, die sie in freien Bünden empfangen, groß zu ziehen ohne Minderung des Ansehens von Mutter oder Kind. D a ß das Dach eines festen Liebesbundes, eines Ehebundes über dem wachsenden Kinde gefügt sei u n d es hege und schütze, fordert das Gebot der E i n u n g der Ungleichen. Es ist k a u m zu fürchten, daß die F r a u e n nicht zumeist Frauen und schutzbedürftig bleiben; das Recht, das die Ehen fördert u n d hütet, dient d e m Willen der Welt. An Frauen ergeht vornehmlich das Gebot, daß sie sich p r ü f e n , und wenn ihre Seele, ihre Leiber empfängnisbedürftig, lenkungsbedürftig, schutzbedürftig sind, sich nicht d e m Amt der Frau, Gattin, Mutter zu sein, entziehen. Aber den Männern stellt sich die gleiche Frage der Seele, n u r daß sie nicht ihr Liebesleben, geschweige denn ihr Geschlechtsleben angeht. D e n n welcher M a n n

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nicht stark genug ist, um in der Einung mit einer Frau ganz das Lenkeramt an sich zu bringen, der überlasse es der Genossin seines Bundes, wenn sie stärker ist als er. Es ist nicht einzusehen, wieso solche Anpassung ihm Schaden oder Schande bringe. Und dem Willen der Welt genügt jeder feste Bund von Ungleichen besser als ein lockerer oder leicht zerstörbarer. Dem Mann aber stellen die inneren Ordnungen des Lebens die andere Frage, die sein Schicksal tiefer berührt und das rechte Wachstum seines Lebens mit allem Segen fördern, mit allem Unheil lähmen kann: die Frage danach, ob er in seinem Tun ein Führer oder Folger, ein Zeugender oder ein Empfangender sein will, sein muß, sein soll.

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DAS RECHT DES ICHTRIEBES

DAS ICH ALS GUT Die Entstehung des Menschen kann nicht anders gedacht werden, denn als ein Werdegang von tausend Stufen, der immerdar vom Einfachen zum Zusammengesetzten, vom Urkörper zur Zelle, von der Zelle zum Lebewesen, vom niederen zum höheren Lebewesen und vom Tier zum Menschen aufwärts geführt hat.

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Mit jeder Stufe neuer und reicherer Zusammengesetztheit erreichte das Stück Weltgeschehen, das der Träger dieses Werdeganges war, das Ding, das zuerst das Ding Elektron, dann das Ding Atom, dann das Ding Molekül, dann das Ding Zelle, dann das Ding Tier, dann das Ding Mensch war, einen höheren Grad, nicht der Zusammengesetztheit nur, nein auch der Besonderheit, der Unterschiedenheit. Gleichviel mit wieviel Verlusten an Eigenschaften und damit an Wesensreichtum dieser Stufengang verbunden gewesen ist, Verlusten vornehmlich der Bewegungsfreiheit, der Gefahrlosigkeit, der Unverwundbarkeit, der Lebensdauer: jene zwei Formen des Gewinnstes der Zusammengesetztheit und der Unterschiedenheit sind nie in Frage gestellt worden und haben sich bei dem Übergang zu jeder neuen Stufe gesteigert. Waren diese Steigerungen schon die sachliche Vorbereitung auf die Wertsteigerung, die der Mensch, als er sein Selbst im Spiegel des Bewußtseins anschaute, sich zuwandte? An sich haben Unterschiedenheit als ein Sachverhalt und Selbstbewertung als ein Tun nichts miteinander zu schaffen, und docli leiht die Unterschiedenheit zwischen Wesen und Wesen, zwischen Menschen und Menschen den einzigen Maßstab zu ganz gegenständlicher, gar nicht willkürlicher Wertbemessung dar: der erlesenste, der unterschiedenste Mensch gilt uns als der wertvollste Mensch, eben weil er der unvertretbarste ist. Und wenigstens die Gattung Mensch mag aus dem Bewußtsein ihrer Unterschiedenheit das hohe Maß von Ichbewertung hergeleitet haben, das wir Ichsucht nennen, das ihr eigentümlich ist und das einen der stärksten Lebensantriebe darstellt, über die sie verfügt.

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In die Stufenfolge der Unterschiedenheit zwischen den Einzelnen unseres Geschlechtes folgt die Wertbemessung, die der Einzelne sich zuwendet, nicht nach. Der Vertretbarste unter den Menschen kann aus der Dumpfheit seines Wesens einen noch höheren Stärkegrad der Ichbewertung und also der Ichliebe, der Ichsucht besitzen als der Wertvollste, der Unterschiedenste. Für die Menschengattung aber ist die Ichbewertung, die im Einzelnen lebt und seine Ichliebe nährt, ein grenzsetzendes Merkmal, das er dem Selbstbewußtsein verdankt. Nur das Tier, dem der sehr viel unsicherere Spiegel des Selbstgefühls verliehen ist, d. h. des Tatbestandes, daß das Einzelwesen sein Ich fühlt, hat eine mindere Vorstufe dieser auszeichnenden Eigenschaft erreicht. Und schon ihm verschafft sie außerordentliche Vorzüge: die Waffe Furcht und die Waffe Mordlust und die Lust am Kampf sind Förderungen seines Daseins, die selbst der Pflanze noch abgehen, von allen Dingen der unbelebten Welt zu geschweigen. Der Mensch, der auch Tier ist, teilt mit dem Tier das Gefühl seiner Selbst. Er verdankt dieser dumpferen Form der Ichspiegelung vielleicht den Hauptteil der Mittel und Werkzeuge der Ichbewahrung und der Ichdurchsetzung, der Abwehr von Gefahren, der Erlangung von Vorteil für sein Selbst; aber erst aus der Verbindung von Selbstgefühl und Selbstbewußtsein erfließt ihm die ganze Fülle der Selbstbewertung, Selbstbewaffnung, die ihn vor allen Wesen, allen Dingen auszeichnet. Wer aus unbefangenem Mustern und Vergleichen zu einer Rangordnung der Formen des Weltgeschehens kommen wollte, könnte zu keiner anderen Sicht gelangen als der, die ihm den Ichtrieb des Einzelmenschen als eines der wertvollsten Güter zeigt, die ihm und die

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unserer Gattung verliehen sind. Und doch haben alle alten Tafeln der Glaubens-Sittlichkeiten und die meisten neuen angeblich unbefangener Sittenwissenschaft dahin entschieden, daß der Ichtrieb der Quell von tausend sittlichen Irrtümern, Vergehen und Verbrechen sei, ja daß er recht eigentlich der Quell aller sittlichen Verderbnis sei, daß er deshalb auf jede Weise zu unterdrücken, daß er aus dem Uhrwerk unserer Seele gänzlich auszutilgen sei. Man prüfe die umständlichen Schriften auch von Denkern, die nicht leicht in den Verdacht allzu starker Abhängigkeit von den Gesetzbüchern glaubensmäßiger Sittlichkeit oder eigens unweltlicher Gesinnung geraten werden, und man wird Sätze finden wie diesen: dieses oder dieses Tun sei ein Handeln, das aus dem Egoismus geboren sei, und scheide deshalb an sich aus dem Bereich des Sittlichen aus. Welch ein Wahnl Und es bedarf tiefer Einsichten in die innere Geschichte des menschlichen Urteilens von Gut und Böse, um begreiflich zu machen, warum derlei Fehlgriffe in einem Zeitalter möglich sind, das sich in so vielem Betracht von der geistigen Herrschaft der alten Glaubenslehren freigemacht hat. DAS I C H - D U UND DIE W E L T Ganz unvermeidlich ist es, da dem Ich von so starken, so bewegenden Stimmen die Du-Sicht ans Herz gelegt wird, gegen diese Stimmen mit lauterem, stärkerem, stolzerem Hall das Recht und mehr als das, die Pflicht des Ichs zu verkünden, daß es sein Selbst behaupte, wo immer es sich auf die Sendung des Schaffenden und noch auf das Amt des Wirkenden berufen kann.

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Aber — so fragt wohl ein unsicheres, doch ganz gewiß nicht wehes, klagendes, nur schwankendes Fragen in unserer Seele — gibt es denn nicht ein Geschehen und ein Sehen, das die Spannung, das den scheinbar unversöhnlichen Zwist des kämpfenden Ich und des Förderung heischenden Du mit einem weiteren Umfangen, mit einem gelinderen Frieden umfaßt und so über dem kämpfenden Schall ihrer Widersprüche, über ihrem Miß- und Widerklang einen weicheren Hall von Einklang und Einung ertönen lassen kann. Es wurde gewiß, daß die Prediger der Du-Lehre zu Unrecht behaupten, daß ihre Verkündung dem Menschengeschlecht als Gattung bessere Dienste leiste als ein Lebensgebot, das dem Ich freigibt, auf sein Selbst zu bauen und zu vertrauen. Aber wenn es der Wille der Welt ist, daß als sein Beauftragter das Ich mit seinem Selbstgefühl dem einzelnen Menschen durch alle Wirrsal und alles Schwanken seiner Wege die Richtung weise, so kann doch darüber nicht in Vergessenheit geraten, daß auch die Welt selbst durch ihr Sein stumme Gebote, verschwiegene Befehle erteilt, auf die nicht zu lauschen uns Weltfrommen am wenigsten verstattet sein würde. Ist aber wirklich die Welt ein unzerreißbar zusammenhängendes Ganzes, ja ein Ding, das Ding, das einzige das es gibt, so muß auch die Stimme ihres Geschehens und der Sinn ihres Gefüges ein noch stärkeres Gewicht für uns besitzen, als die Angelegenheit Menschheit und das Verhältnis Ich-Du. Denn Welt ist mehr als Menschheit, nicht allein weil sie ein millionenfach Größeres, weil sie das All selbst ist, sondern weil sie außermenschlich, übermenschlich, übermenschheitlich ist —

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sie ab die einzige Erscheinung in unserem Seinsbild, die so hohen Rang beanspruchen darf. Wohl ist tausendmal behauptet worden, daß dieses Rangverhältnis umgekehrt sei, daß die Welt, eben weil sie außer dem Menschen sei, nur der Gegenstand, wenn nicht das Gemachte seines Geistes sei. Weltfrommes Sehen auf Welt und Menschheit aber weiß und wird nie vergessen, daß Menschheit und Menschentum zwar die feinste Blüte am Baum Welt, aber eben darum doch nur ein Teil, ein zu innerst ihr eingehöriger Teil von ihr sei. Wie sollte also der Sinn, den das Geschehen der Welt hat, nicht ein ebenso gewichtiger, ein ebenso gewaltiger Befehl an unser Tun sein, als irgend ein Gebot, das nur im Ich-Du-Bezirk der Menschheit seinen Ursprung hat. Und dürfte man seine Augen gegen den einen großen Vorzug verschließen, den als Vorbild das Sein der Welt hat vor jedem nur menschheitlichen, an Mensch und Menschentum gewonnenen Maßstab? Es ist wahrlich ein Urquell unseres eigenen Seins, an den wir uns da halten, wahrlich auch eine Form des Geschehens, die der unsern nah und nächst verwandt ist, aber sie ist ihr zum mindesten in einem Stück fern und gerade darum überlegen: sie ist kühl, stark, sachlich, sachgewaltig im Vergleich zu aller aus dem Ich-Du-Verhältnis geborenen menschlichen Vorschrift, die zum mindesten darum auch immer allzu menschlich sein wird, weil sie allzu gefühlshaft ist. DAS GEBOT DES I C H S Alle Sittengebote kranken an dem obersten Gebrechen, daß sie alle ihre Satzungen aussprechen vom Anderen,

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nie vom Ich her. Sie gebärden sich alle, als sei nichts Elenderes zu denken, als daß das Ich für das Ich besorgt sei, seinen Vorteil verfolge, seinen Schaden meide. Sie verwerfen also den Drang, der allen Menschen, ja schon den Tieren als der tiefste, der mächtigste eingeboren ist; sie setzen Tafeln, von denen sie wissen, daß ihnen nie williger, geschweige denn voller Gehorsam geleistet werden wird; sie verbergen bewußt, daß jede ihrer Vorschriften zugunsten des Andern in Wahrheit doch an die Liebe des Ichs zum Ich sich wendet: denn da einer Schicht von Menschenseelen wirklich keine größere Lust werden kann, als die, sich und den eigenen Vorteil an den Andern hinzugeben und da dieser Seelen Form allen andern aufgeprägt werden soll, so ist der Preis, um den das Ich zu seinem ichwidrigen Handeln gelockt werden soll, doch auch wieder nur eine Lust des Ichs, die dem Ich verhießen wird. Diese Lust, eine Lust der Seele gewiß, ist jenen willkommen und gewiß, aus deren Wille diese Sittenlehren geflossen sind, jenen auch, die selbst Barmherzige, Mitleidige, Gütige, Spendende, Opfernde sind. Auch sie sind nicht Selbstlose, wie sie sich nennen und wie sie wähnen, denn ihr Ich, gerade das Ich, das sie angeblich verleugnen, kennt keinen besseren Gewinn als die Lust am Glück der Andern; aber sie handeln der inneren Stimme gemäß, der Stimme ihres Ichs, aus der die tiefe Stimme des Lebens tönt, in der die geheime Weisung des Willens der Welt sich verbirgt. Allen Andern aber, deren Sinn ein ganz anderer ist und sich auf ganz andere Ziele richtet, wird durch solche Gebote Zwang angetan, oder sie werden durch sie zu Lüge und Maske verleitet. Vielleicht ist der Zwang recht und gerecht, aber nie aus den 6

Breysig

Q.

Gründen, die diese Sittengesetze selbst angeben. Eigens weit in die Irre geht die ganz weltliche Sittenlehre, die, ob sie gleich sich wissenschaftlich nennt, sich den Sittengeboten der Glaubenslehre ganz ohne jede eigene Prüfung unterworfen hat. Der berühmteste ihrer Ausleger hat, wo er ein Handeln der Menschen eigens scharf geißeln will, den Ausspruch getan: hier läuft es auf Ichliebe hinaus, also auf ein totes Gleis. Wahn über Wahn. Kaum ist zu fragen, woher dieses Irren stammt. Alle diese Sittlichkeiten sind im Schatten von Glaubenslehren erwachsen, die keine unantastbarere Grundveste für all ihr Wirken kennen, als den Menschen als der Hilfe, der Erlösung bedürftig anzusehen. Sie wünschen den Menschen als elend zu erweisen, und da es kein Elend gibt, für das er selbst verantwortlich gemacht wird, als die sittliche Mangelhaftigkeit, das Bösesein, das Sündigen, so kennen sie kein Ziel, das ihnen erstrebenswerter dünkt, als die natürliche Beschaffenheit des Menschen schon als sündig, als böse erkennen zu lehren. Der natürliche Mensch liebt sein Ich; nichts notwendiger also, als die Ichliebe für den Quell alles Bösen, ja schon als böse an sich auszugeben. WTie sollte, wie könnte der Wille der Welt in solche Verkleinerung des Ichs einstimmen. Er kann sie nur als eine Verkleinerung seiner selbst weit von sich weisen ; wir Weltfrommen müssen sie wie eine Beleidigung seiner Hoheit und Gewalt empfinden. Ich bin nicht ich nur; ich bin ein Teil der Welt. Wie dürfte ich denken, daß die Welt, die keine stärkere Sprache hat zu mir zu sprechen als durch mein Wollen, mein Wünschen, mein Begehren, sich gänzlich irren könnte und sich, mich in mir verfälschen.

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Ein Recht zu sein habe ich n u r als der Urbestandteil der W e l t ; wie sollte ich nicht hoffen, daß was in mir Welt ist, klar und unverfänglich ihren Willen ausspricht. Nicht in m e i n e m Denken, denn dies ist n u r das letzte, dünnste, undeutlichste der Sprachwerkzeuge, mit denen die Stimme der Welt in uns zu uns spricht. Und tausend I r r t ü m e r n , tausend Willküren, tausend Verfälschungen sind die Worte und Weisungen unterlegen, die das D e n k e n aus der Stimme hat heraushören wollen. Ungebrochener, stärker spricht unser Fühlen, spricht unser Wollen; doch auch dieses nicht unbeirrt, nicht unverfälscht. Oft hat auch sie der Gedanke mißleitet, öfter haben sie selber sich übersteigert, haben sich selbst die Zügel schießen lassen, sind durch ihr eigenes Glühen im Irrsal und Wirrsal geraten. Erzene Tafeln hat der Wille der Welt n u r an einer Stelle aufgerichtet: im Wesen und Werden der Urkörper. Ihr Kreisen und Rollen weist uns allen den Weg. Von i h m steht auf den Tafeln mit unverrückbarer Schrift geschrieben. Nur m u ß ehrfürchtiger Sinn und gläubiges Lesen die Züge deuten. Wir, die als Menschen im Lichte atmen, wir sind der Adel der Welt. Aber wir sind es nicht n u r als die Denkenden, wie i m m e r und immer wir wähnen, denn Denken ist n u r ein Spiegeln, ist n u r ein Buchen der Welt und auch das ist es nur, wenn es z u m besten gelingt. D e n n wir können nichts denken als wieder die Welt, und es ist viel, wenn uns glückt, sie auch n u r zum tausendsten Teil richtig zu denken. Sondern wir sind die vor allen Wesen, vor allen Dingen der Welt Begnadeten, weil wir als Denkende wollen können. Aber auch unser Wollen kann uns mißleiten, denn es ist oft schwächer als unsere Begehrungen. Unsere Be-

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gehrungen aber sollen uns wohl auch den Willen der Welt verkünden; aber sie sind oft voller Willkür und Übermut, oft ohne Maß und Ziel. Sie sind wie Wildbäche und wie Bergströme, Kräfte spendend ohne Zahl und Grenze und doch auch Verderben bringend und zerstörend. Es gibt nur ein Mittel, sie in ihren rechten Lauf zu leiten, ihre Kräfte zu wahren und ihrem Verderben zu wehren. Dies Mittel ist die Deutung des Willens der Welt, des vollen Willens der Welt, dies Mittel ist die Entzifferung der Zeichen auf den erzenen Tafeln, der Zeichen, in denen der Wille der Welt den Kern seines Wesens, das Wirken seiner Urkräfte, das Werden seiner Urkörper enthüllt hat. Sie allein sagen uns den Willen der Welt. Unser Denken ist nur das Werkzeug, durch das unser Wollen das Wesen der Welt, den Willen der Welt erkennen kann. Das Denken wird unserm Wollen zum Werkzeug; es wäre wenig nütze, wollte es nicht unserm Willen dienen. Aber nur das Denken, das das Wesen der Welt recht denkt, ist dienendes Denken; nur das Denken, das den Willen der Welt recht deutet, ist rechtes Denken. Wir, die als Menschen im Lichte atmen, sind der Adel der Welt. Aber wir sind es nicht nur als die Denkenden, wir sind auch als die denkend uns Lenkenden wollend. Und wir sind auch als Wollende nur der Adel der Welt, wenn wir den Willen der Welt wollen. Blaß aber wäre unser Willen und schwach unser Lenken, wenn wir nur aus den Zügen, die auf den erzenen Tafeln geschrieben stehen, den Willen der Welt erkennen wollten. Richtlinien sollen sie uns sein, jene Linien und Zeichen, und oberste Gesetze sind uns ihre Weisungen. Aber nur durch Denken, nur durch Spie-

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geln, nur durch Buchen des Wesens der Welt kann uns kein Wille entstehen. Der Wille der Welt muß sich uns aus heißerer Nähe offenbareu, muß die Wurzeln unseres Wesens aus blutvollem Quell speisen und tränken : unser Ich muß uns nicht durch das Denken umsichtig schauender, vorsichtig redender Berichterstatter nur werden, nein, Blutzeuge muß es uns sein. Und Blutzeuge wird es uns durch sein heißes Wünschen und Begehren zu öfters vom Leibe her, doch auch von der Seele. Nicht der Denkende kann allein der Lenkende, noch der Wünschende allein der Wollende werden. Beide Ströme müssen zusammenrinnen: das keusche weiße klare Wasser des Wissens unserer Gedanken um das Wesen der Welt und das rote heiße wild-tobende Blut unseres Lebens, unseres Begehrens, unseres Wünschens, in dem der Wille der Welt pulst, schäumt, tobt, jeder Mäßigung, jeder Klärung, jeder Läuterung noch bedürftig.

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ICHLIEBE UND W E L T L I E B E

W I D E R S P R U C H UND

EINUNG

Glaube ihnen nicht, die dir immer von neuem das alte Lied nach der ältesten Weise singen, daß du der Liebe zum Ich dich entschlagen und nur der Liebe zum Anderen leben sollst. Aber wenn du ihnen auch das Rüstzeug aus der Hand geschlagen hast, das sie am öftesten gegen dich wen-

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den, sie werden zuletzt versuchen noch deine eigene Waffe gegen dich zu kehren. Sie werden fragen, wie d u dich auf das Geschehen der Welt b e r u f e n und wie du den Willen der Welt als den obersten Richter ü b e r dein T u n a n r u f e n darfst, wenn du doch immer und i m m e r n u r der Neigung und dem Vorteil deines Ich zu dienen trachtest. Ja sie werden versuchen die L e h r e , der du zu folgen gedenkst, sich als Maske vor ihr feindliches Antlitz zu binden und werden dir sagen, wenn du es wahr und ehrlich meintest mit deiner demütigen Hingabe an das Weltgeschehen, so sei dir verwehrt, dem Willen und der Willkür deines Ichs zu folgen, denn sie stünden im selben Maße in Widerspruch und Gegensatz zur Hingabe an die Welt wie zur Hingabe an die Anderen, oder sie wichen zum wenigsten so weit ab von jeder D e m u t , daß sie auch mit d e m Gebot des Sichfügens in den Willen der Welt nicht übereinkommen könnten. Du fragst, wie du dich solchen Angriffs erwehren könntest und ob i h m nicht doch einige Kraft innewohne. Ich aber sage dir, er verfehlt sein Ziel von Anbeginn und sein einziger Nutzen ist, daß er uns in der Erkenntnis bestätigt, daß weder der Wille der Welt den Willen des Ichs L ü g e n strafen, noch der Wille des Ichs sich dem Willen der Welt widersetzen kann. Daß dem so ist, hat den einfachsten, den schlichtesten Grund, der sich erdenken läßt, und eben d a r u m den unwiderleglichsten: der Wille der Welt an unserem T u n kann recht gedeutet kein anderer sein als der Wille unseres Ichs, der sich in den rechten Schranken hält. Denn das Ich ist Welt, es ist der Teil der Welt, den zu wahren und zu verwalten uns vor allem anderen Sollen aufgetragen ist. So ist es der Teil der Welt, durch den

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wir von ihrem Wesen wie von ihrem Willen die unvermitteltste und damit die unverfälschteste Kunde haben. Und mehr als dies: so spricht die Welt ihren Willen zuerst und am unmißdeutbarsten uns aus durch den Mund unseres Ichs. Wie sollte ihre Allgewalt nicht Kraft genug haben, dies Ich, das nur ein Teil vom Teil des Teils ihres Ganzen ist, mit ihrem Willen zu erfüllen. Nur eine Richte und Weisung muß dem Deuter unserer Ich-Stimmen in sein Amt mitgegeben werden; es ist die Warnung, daß er den Willen des Ich nicht mit seiner Willkür, daß er die Lust des Ich nicht mit seiner Laune und Wollust, daß er sein Streben nicht mit seinem Irren verwechselt. Und wer uns sagte, daß, der so deuten wollte, durch kein Richtmaß in seinen Elitscheidungen bestätigt werden könne, dem würden wir entgegnen, an solchem Richtmaß fehle es nicht. Denn der zweite große Block von Urkunden und Bezeugungen des Willens der Welt, der uns unsere Stellung inmitten des Weltgeschehens erkennen läßt, eben das Bild der außermenschlichen Welt, bietet Maß wie Richte für die Deutung jener anderen Verkündung, der Stimme aus dem Ich. Wo das Wollen und Begehren des Ichs seine Bewährung und Bestätigung an der Gleichläufigkeit eines Weltgeschehens findet, hat es Anspruch auf untrügliche Geltung; wo es diesem aber widerspricht, da wird es als in die Irre gehend in Frage gestellt werden müssen. DAS ICH A L S G L I E D IN D E R DES

KETTE

WELTGESCHEHENS

Das Ich ist ein Teil der Welt, nicht in einem metaphysischen, sondern in einem physischen Sinne, nicht in

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der Blaßheit eines Denkbildes, sondern in der wirklichsten der Wirklichkeiten. Wie sehr, das soll einer anderen Gedankenkette als Glied eingefügt werden. Selbst das Wort, das soeben gesagt wurde, das Ich sei ein Teil der Welt, behauptet zu viel Getrenntheit und zu viel Selbständigkeit auf Seiten des Ich und zu viel Zergliederung und Zerspaltenheit auf Seiten der Welt. Das Wogen und Wallen der unzähligen Geschehensströme, das jeden Menschenleib ganz ebenso unaufhaltsam, ebenso unaufhörlich durchflutet wie jeden Pflanzen-, jeden Tierleib, wie jeden Fels und jeden Berg, jeden Fluß und jede Wolke, erstreckt sich bis an das Ende der Welt, und da die Welt kein Ende hat, so ist es grenzenlos im strengsten Sinne dieses dröhnenden Wortes. Ist also unser Ich ein Teil dieses unendlichen Ganzen, ein unsagbar kleiner Teil, so ist es doch dieser Teil nur in dem Sinn, daß seine Abhängigkeit von diesem Ganzen ebenso sehr sein Schicksal ist, wie die Unabhängigkeit von ihm, die uns Wille und Bewußtheit unseres Ichs mehr noch vorspiegeln als verleihen. Dieser Glaube, daß unser Ich ein Schiff sei, das wir auf dem Meer des Geschehens nach Gefallen hierhin und dorthin lenken können, ist ein Kind des Wahns und der Wahrheit, die sich zu einem kaum lösbaren Bund zusammengefunden haben, wie so viele Denkbilder, denen wir die Herrschaft über unser Leben anvertraut haben. Aber so viel Irrtum er in sich bergen mag, wir bedürfen auch sicher seiner Stärkung, da wo er wahr spricht. Und dies tut er, wo er dem Menschen das Königsamt und die Königsmacht seiner einzigen Sonderstellung, das Recht seiner Willens- und Geisteskraft zuspricht. Ja er stärkt uns noch den Mut in unserem äußeren

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Lebenskampf da, wo er uns Kräfte vortäuscht, die wir gar nicht besitzen. Wer will sagen, ob wir uns ebenso stolz und stark gegen die Gewalten aufrechterhalten könnten, wären wir uns zu jeder Stunde bewußt, wie ganz wir nur Glied in der Kette des Weltgeschehens sind.

DIE STIMME DES

ICHS

UND DIE STIMMEN DER EINKLANG UND

WELT:

WIDERKLANG

Es ist ein seltsam verflochtenes, fast undurchsichtiges Doppel Verhältnis, in das uns, die wir über unser T u n entscheiden oder urteilen sollen, die Mittellage zwischen Ich und Welt und ihren oft dunkeln und schwer deutbaren, dann wieder nur allzu lauten und dringenden Stimmen stellt. Dort das Weltgeschehen, die objektivste aller Objektivitäten, die sachlichste aller Sachlichkeiten, und hier das Ich, die subjektivste der Subjektivitäten, die willkürlichste aller Willkürlichkeiten; das Ich zerrissen von seinen Begehrungen, die oft stürmisch bis zur Leidenschaft und unzähmbaren Wildheit sind und dann wieder unter scheinbarer R u h e die zäheste Dauer, die unüberwindlichste Kraft verbergen. Drüben aber die Welt, in Hunderte von Wesensarten, in Tausende von Formen des Geschehens zerspalten — beide alles andere als einheitlich in ihren Äußerungen, vielmehr beide starrend von Gegensätzen und Widersprüchen. A m wahrscheinlichsten aber unter allen hier möglichen Wirrsalen die eine, daß Ich und Welt entgegengesetzte Entscheidungen uns anraten. Sie muß, wie erklärt

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wurde, zu einer U n t e r o r d n u n g des Ichs unter den Willen der Welt f ü h r e n . Aber dies ist n u r dann möglich, w e n n die Gegensätze sich in reinem Widerspruch auf einer Ebene begegnen. Wie aber, wenn sie ganz verschiedenen Schichten angehören, wenn ihre Linien sich nicht entgegenlaufen, sondern sich schneiden, oder wenn sie gar auch dies nicht tun, sondern so verschiedene Richtungen halten, daß sie sich nie treffen würden? Über diese in Wahrheit schwersten Zwiste zwischen Ich und Welt abzuurteilen, kann nicht Sache eines allgemeinen Entscheides sein, sondern n u r die des besonderen Falls. Das geistige Werkzeug aber, das der Hand des Richtenden sich i m m e r von n e u e m darbietet, kann n u r dies sein: durch Gleichläufigkeiten und Entsprechungen dennoch zu dem Gesichtswinkel vorzudringen, der beide Sichten, die vom Ich und die von der Welt her, zu umspannen v e r m a g und d a n n doch den Willen der Welt als den überlegenen, d e m Range nach höheren, der W i r k u n g nach wuchtigeren zu erkunden.

FOLGERUNGEN

UND

WIDERLEGUNGEN

Aber so gewiß noch viel Zwist und Zwiesprach entstehen mag und zu begleichen sein wird, so gewiß ist auch ihr Gegen- und Miteinander i m Allgemeinsten nicht ohne Nutzen f ü r uns beständig auf den I r r p f a d e n des Lebens nach Wegweisung Suchende. Wird uns gewiß, daß unser Ich ein Teil der Welt ist, so erfließt daraus f ü r uns die Forderung, daß wir uns m ü h e n , sein Wesen, seine Weise, seinen Willen sachlich u n d u n -

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befangen von für uns Partei nehmendem Vorurteil anzuschauen. Denn nur so mag uns gelingen, Anspruch und Recht unserer Begehrungen richtig zu wägen. Nicht heißt dies behaupten — was alle Altruismen uns einzureden nicht müde werden — daß unser Ich dann ein Unrecht begehe, wenn es ichliebend handle; aber es wird ihm durch solches Gebot die Pflicht auferlegt, seine Süchte und selbst noch sein Streben als verflochten und verbunden mit der Umwelt, der außermenschlichen wie der menschlichen, zu sehen und so zu ermessen, ob es sich in das Weltgeschehen so einordne, daß dessen Grundgesetze nicht verletzt werden. Und wenn Altruisten uns, wie zu erwarten steht, vorhalten würden, daß eine solche Vorschrift nur ihre Regel verallgemeinern hieße, so werden wir sie in aller Gelassenheit darauf hinweisen, daß ihre Regel verallgemeinern sie verändern heißt. Ihre Regel hat den Menschen zur Mitte, unsere aber will die Welt als Mitte, und keinem Einsichtigen wird entgehen, daß dieser Unterschied ein grundstürzender ist. Denn alle Handlungsweisen, die ihre Richtweisung vom Weltgeschehen nehmen, wenden sich an einen viel höheren Richter, eine viel weiterhin gültige Gesetzgebung, als die sich nur nach Wohl und Wehe der Menschheit richten wollen. Kein Zweifel, das Weltgeschehen in der außermenschlich-belebten und noch mehr das in der unbelebten Welt ist dem Ich ferner und fremder als das der Menschheit. Aber ebenso gewiß ist diese weitere Entfernung von unserem eigenen Wesen Gewähr und Bürgschaft für eine kühlere und deswegen gerechtere Entscheidung aller der in uns aufkommenden Zwistigkeiten 92

zwischen Ich und Welt. Der Gefahr aber, daß auf diese Weise unser Empfinden in ein zu Unrecht außer- oder gar unmenschliches umgefälscht werden könne, wird zur Genüge vorgebeugt dadurch, daß das Menschheitsgeschehen als der innere, unserem Ich nächst gelagerte Kern alles Weltgeschehens an sich bei allen diesen Entscheidungen auch dann Rücksicht fordern und erlangen muß, wenu das Weltgesetz als ausschlaggebend angesehen wird. Nichts ist freilich gewisser, als daß die Satzungen, die bei solchem Verfahren den einzelnen Gürteln in dem Kreisrund Weltgeschehen abzugewinnen sind, nicht selten einander widersprechen. Wird aber gemäß dem Rang und den Ordnungen, die uns das Wesen der Welt selbst als ihr Gesetz erkennen lehrt, das Allgemeine dem Besonderen vorgezogen und seine Regel als die herrscherliche erklärt, so ist auch hier die Möglichkeit gegeben, allen Widerspruch und alle Wirrsal zu schlichten. Und noch ein zweites Gebot erfließt aus der doppelten und doch zu einer Einheit verbundenen Sicht auf Ich und Welt: es ist die Weisung, die Welt mit der gleichen Glut, der gleichen parteiischen Wärme anzuschauen, die wir sonst nur unserem Ich zu gönnen pflegen. Man hat auf die Frage, was denn eigentlich Liebe zwischen zwei Menschen bedeute, wohl die Antwort erteilt, daß einen Menschen lieben sein Leben mitzuleben heiße. Und da nur auf der tiefen Liebe zur Welt sich Einsicht in das Wesen und in den Willen der Welt aufbauen kann, so kann vollends Glut der Anteilnahme nur das Zusammenschlagen der beiden Flammen Liebe zur Welt und Erkenntnis der Welt sein. Es ist dasselbe Herdfeuer, das im Heiltum der Wissenschaft brennt und aus dessen lebenspendender

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Wärme sie Nahrung und Steigerung für all ihr Wirken und Schaffen zieht. Und dies ist vielleicht das gewichtigste Recht auf Dasein und Ansehen, das das Leben der Wissenschaft zusprechen kann, daß nur sie dem Leben eine unvermeidliche Forderung erfüllen kann: daß es um die Welt wisse, damit es von der Welt Lehre und Richte empfange.

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DAS ICH ALS TEIL DER WELT

DIE

FRAGEN

W e n n das Ich Umschau hält nach den Gewalten, von denen es Weisung und Befehl erhalten könne f ü r sein T u n und Lassen, so wird es unter solchen Gewalten n u r die a n e r k e n n e n wollen, die nicht selbst wieder von Menschen Hand und Hirn geformt sind und also von des Menschen Gnaden stammen ; es wird alle Gewalten

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ausschließen von seiner Wahl, die zu Gestalten, Gestalten der Geister und der Götter gebildet oder die zu Denkbildern, das ist gefrorenen Menschenbefehlen geprägt sind. Aber es wird auch nie an Teile der Welt oder des Weltgeschehens sich wenden können, denn ihre Stimme ist zu leise oder zu gebrochen oder zu leicht deutbar und mißdeutbar. Stimme hat nur Eines im Bereich unseres Suchens und Tastens: das Insgesamt der Welt und des Weltgeschehens. Denn wohl ist die Zahl der Instrumente, aus denen sich dies gewaltigste aller Orchester zusammensetzt, Legion, wohl könnte uns Furcht anwandeln, daß die Überzahl dieser Klänge uns verwirren und betäuben könnte, und doch fügen sie sich zu großen Einheiten zusammen, und wer Ohren hat zu hören, wird die Urweisen der Lieder, die sie uns singen, erlauschen können. Daß dies sein kann, muß davon rühren, daß die einzelnen Fugen, die sich von den Myriaden Formen des Einzelgeschehens vernehmen lassen, sich nie widersprechen, widerstreiten, widertönen, weil sie alle von einer Gewalt ihr Schrittmaß, ihr Zeitmaß und vielleicht auch eine Melodie erhalten, von der Gewalt, die auf diesen Blättern der Wille der Welt genannt worden ist. Aber wenn auch dieses Wort nur Bild und Gleichnis der Einheit des Weltgeschehens ist, so dringt umso unabweislicher die Frage auf uns zu, die von allen letzten Fragen die allerletzte sein mag, so gewiß sie auch die allererste ist, die unsere Daseinsneugier zu fragen hat: Was ist die Welt ? Ihr Antwort zu finden in irgendeinem zulänglicheil Sinn und Umfang übersteigt gewißlich Menschenwitz und Menscheneinsicht. Gleichviel ob sie von der letzten Zuflucht aller Denker über das Denken, von dem ein-

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zelnen, nur auf sich selbst angewiesenen Ich her so versucht wird, daß das Dasein der Welt selbst mitsamt allen seinen Formen und Teilen uns nur verbürgt sei als ein Bildwerk unserer Gedanken, oder ob wir unseren Sinnen trauen und die uns von ihnen gereichten Bilder als sichere Wirklichkeiten hinnehmen: warum Welt sei, was Welt sei, bleibt uns verborgen. Urgegebenheit, Urtatsache, Urding, so lauten die Worte, die hier allein sich einstellen und uns doch so wenig erklären, warum die Milliarden Sterne uns zu Häupten leuchten, warum Pflanzen wachsen, blühen und vergehen, warum Menschen geboren werden, leben und vergehen, wie sie uns sagen können, was Sein ist. Aber eine zweite Frage steigt auf, die, wenn wir klug oder bescheiden darauf verzichten der ersten Antwort zu suchen und wenn wir die Welt als Wirklichkeit hinnehmen, gleichviel ob nur in unserem Bewußtsein oder als Tatsache gegeben, für unser Forschen um so wichtiger wird. Wie ist unser Verhältnis zur Welt: ist es ein Teil von ihr und in welchem Sinne? Und zu dieser zweiten Frage fügt sich zwangsläufig die dritte: ist denn die Welt in Teile zerspalten oder ist sie ein Ganzes, das nur Glieder hat und unter anderen Gliedern auch unser Ich? Zwei Grenzmöglichkeiten sind hier gegeben. Entweder es findet eine vollkommene Trennung statt zwischen Ich und Welt und sie stehen sich als Wesen ganz verschiedener Art gegenüber: als ein Schauendes und ein Seiendes, als ein Auge und ein Bild oder als ein Denkendes und ein Gegenstand. Oder aber das Ich erkennt sich als so tief eingewurzelt in alle, auch noch die elementhaftesten Formen des Weltseins, daß es sich lediglich als einen der unzählbaren Teile des Welt7

Breysig

ganzen, als ein Glied dieses im Grunde allein als Wesen bestehenden Körpers der Welt, als ebenbürtig mit Stern und Kristall, mit Pflanze und Tier, als gänzlich nur Teil, als gar nicht Wesen, gar nicht Unabhängigkeit, gar nicht Fürsichsein begreift. DIE ANTWORTEN Wie immer, wenn uns menschliche Zweifel und Zwiste eigens rätselhaft entgegentreten, so kommt uns Geschichte zu Hilfe. Es ist, als ob alles Werden von Welt und Menschheit sich auf einer Linie bewege, die der einen, der mensch-herrscherlichen Sicht als ihrem Ziele zueile und von der anderen, der weit-unterworfenen Sicht sich immer weiter entferne. Aus Gasnebeln haben sich Sterne geballt, aus dem Wasserstoff der ersten Nebel hat sich ein Stammbaum von hundert Urstoffen entfaltet; aus diesen hundert Urstoffen hat sich die myriadenfache Fülle aller Körper des unbelebten, aller Wesen des belebten Reiches auf unserem Stern entwickelt. Pflanzen, Tiere, Menschen wurden. Unübersehbar ist noch die Reihe der Umformungen, denen das Millionenheer zuerst der Stoffe der Körperwelt, dann der Arten der lebendigen Welt sein Dasein verdankt; aber immer müssen Sinn und Ziel dieser Umformungen die gleichen gewesen sein: eine beständig zunehmende Vermannigfaltigung der Gliederung, der Eigenschaften, Scheidung ihrer Teile und endlich eine ebenso folgerichtige Steigerung der Fähigkeiten, zuerst der Bewegungs-, dann der Gefühls-, zuletzt der Denkfähigkeiten der Einzelkörper, der Einzelwesen. Hundert Lücken, tausend Bedenklichkeiten weist dieser Stammbaum der Stammbäume auf: an seiner Wahrscheinlichkeit ist schon heute nicht

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zu zweifeln und wachsendes Wissen wird sie in Zuk u n f t in Sicherheit wandeln. Die Geschichtlichkeit der W e l t zu bestreiten wird m a n den Gläubigen der alten Tafeln oder den neuesten Neuerern überlassen, die das Wissen u m Welt u n d Wirklichkeit wie ein lustbares Spiel m i t den Glaskugeln, nein den Seifenblasen ihrer Einbildungskraft bestreiten. Jeder einzelne Schritt der Geschehensreihe, die das W e r d e n von den Urkörpern der Elektrone und Atome bis zum Pflanzen-, z u m Tier-, zum Menschenleib f ü h r te, hat das Gefüge der Welt gelockert, seine Einheitlichkeit gemindert, seine Teile unterschieden. Jede neue, jede zusammengesetztere O r d n u n g des Weltgeschehens machte die Einzelkörper, die Einzelwesen, die seine Träger wurden, selbständiger und freier; a m freiesten aber wurde das letzte der Glieder in der Reihe d e r Wesen, der Mensch: er wurde frei und bewußt. Die Freiheit seines Handelns war f ü r den Menschen hundertfach bedingt und b e s t i m m t ; sie war i h m n u r f ü r ein kleinstes Kreisrund seines Handlungsbezirkes eröffnet; sie hat ihn n u r durch die wahnvolle Vorspiegelung eines weit größeren Handlungsbereiches zeitweise zu dem Gedanken völliger Losgelöstheit von den Zwängen des Weltgeschehens gelangen lassen. Eine viel tiefere Kluft zwischen Mensch und Welt hat die Bewußtheit und die aus ihr sich entfaltende Fähigkeit des Denkens, die i h m zufiel, aufgerissen. Auch diese T r e n n u n g , das f ü r die Weltsicht, vielleicht auch f ü r die Handlungsrichtung des Menschengeschlechts schicksalhafteste seiner Erlebnisse, ist nicht sogleich und nicht mit einem Schlage eingetreten: an die Geschichte des Weltwerdens schließt sich die zweite Geschichte, die Geschichte der Menschheit und des seeT

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lischen Werdens der Menschheit an, und diese Geschichte hat sich in Myriaden von Wendungen, in Millionen von Schritten der Entwicklung des Geschehens vollzogen. A m wenigsten wird man sagen dürfen, die Menschheit sei je vor einen Scheideweg gestellt worden, an dem sie hätte wählen können zwischen Einung mit, Trennung von der Welt. Selbst als ihr schon die volle Bewußtheit zuteil geworden war, hat es noch lange Jahrhundertereihen gedauert, bis sie sich dieser Bewußtheit und aller ihrer Folgen bewußt geworden ist. Aber wenn heute solche Bewußtheit ihrer Bewußtheit zwei Grundrichtungen in der Menschheitsgeschichte unterscheiden kann, die eine, die sie hätte bei aller Verbundenheit unseres Geschlechts mit der W e l t verharren lassen, die andere, die die Entfernung zwischen Welt und Mensch immer weiter und weiter werden ließ, so ist gewiß, daß der Werdegang der Menschheit mit wenigen Schwankungen, einigen Rückfällen die zweite festgehalten hat. Mehr und mehr grenzte sich der Mensch als Sonderwesen von der Welt ab, empfand sich als unabhängig von allem sonstigen Sein und ihm zugleich weit überlegen, und zuletzt, etwa im Denken Kants, stand der König Mensch seinem Reiche Welt nur noch herrscherlich und eben darum von ihm weit getrennt gegenüber. Und nicht genug damit: dies gleiche Streben nach Absonderung, aus dem er sich Sache, Wort, Begriff der Persönlichkeit erschuf, übertrug er in seinem Denken auch auf alle Einzelteile der von ihm erblickten, erfahrenen W e l t : neben die Besonderheit Mensch, Ich, stellte er die andere Besonderheit Ding, Wesen und verlieh sie allen nur irgend von ihm als abtrennbar empfundenen Stücken der unbelebten, der belebten IOO

Welt. Gegen die Einheit des Weltgeschehens war dies ein zweiter, kaum minder schicksalhafter Vorstoß wie jener erste. Die Dinge wurden als Selbständigkeiten von der Ganzheit der Welt geschieden, da doch vielleicht nur ein Ding, eben das Ding Welt da war. Wer es wagt, Welt- und Menschheitsgeschichte in eine Sicht zu stellen, wird nicht verkennen können, daß gerade dieser Verlauf mehr noch als jeder andere im Insgesamt des Geschehens von Menschheitsgeschichte das Gepräge von Notwendigkeit an sich trägt. Nicht in dem Sinn einer Daseinslehre, eines Wissenschaftsglaubens, der eine überweltliche Gewalt, ein Weltgesetz etwa, hinter die Welt und ihr Geschehen verlegt, von der er dann das Geschehen abhängig sein läßt. Sondern nur in dem viel begrenzteren Sinn, daß jeder Werdegang uns eigens sicher geschlossen erscheint, dessen einzelne Wegabschnitte die Grundrichtung des Ganzen völlig oder überwiegend teilen. Der Weg zu Besonderheit im Wesen, das heißt zu immer häufigerer, immer ausgeprägterer Unterschiedenheit der Eigenschaften, zu Besonderheit im Tun, das heißt zur Freiheit und Selbständigkeit des Handelns, zu Besonderheit im Sehen, das heißt, übertragen auf die Welt, zur Unterscheidung von Dingen, erscheint von Anbeginn der Geschichte der Welt, nicht nur der unseren, unserem Geschlechte vorgezeichnet. S E L B S T B E S I N N U N G DES I C H S A U F S E I N E E N T Z W E I U N G VON DER W E L T So scheint denn die Entscheidung, die das Menschengeschlecht für seine Absonderung von der Welt und gegen seine Eingebundenheit in die Welt getroffen hat, IOI

eigens folgerichtig, stark und deswegen unumstößlich zu sein. Allein hier tritt wiederum Geschichte als Helferin herzu und gibt uns zu vernehmen, daß zum mindesten in den Anfängen unseres Geschlechts die Trennung nicht anerkannt wurde. Ganz frühe Urzeitvölker haben zwischen dem eigenen Körper des Menschen und allen Einzelstücken seiner Umwelt so wenig einen Unterschied gemacht, daß sie in seinen einzelnen Gliedmaßen, dem Arm, der Hand, dem Fuß, dem Zeh ganz ebenso wie in Tier und Pflanze, Stock und Stein Schauplätze und Träger von Zauber und Gewalt, also gewiß Sonderwesen sahen. Etwas weiter gediehene Völker der gleichen Stufe haben ihren Innewohnerglauben, d. h. die Vorstellung von einer lebendigen Gewalt, die sich auf einzelne Träger verteilt, ebenso gleichmäßig den Menschen, den Tieren, den Pflanzen wie See und Wolke, Fluß und Bergen beigemessen. Und noch Urzeitvölker von hohem geistigem Rang haben ihr Orenda, d. h. ihre Urkraft, die noch neben und über dem Leben mächtig ist, allen Menschen, Wesen, Dingen ohne Unterschied zugeteilt. Man sieht leicht, daß damals, als diese Glaubensgebilde entstanden, von ihren Urhebern der Mensch noch weit weniger als ein Sonderdasein, noch weit tiefer eingebettet in das Weltganze empfunden wurde. Erst als man die Gestalten der Geister und Götter ausformte, hat der Mensch in seltsamer Gleichläufigkeit mit der Selbstbespiegelung, die er in der Ausbildung der Persönlichkeit vornahm, ähnlich scharf abgegrenzte Besonderheiten geschaffen: die Götter stahlen und raubten ja dem alten, viel einheitlicheren Weltahnen der Urzeit Stücke seiner Ganzheit und formten sie zu Unabhängigkeiten, Herrschgewalten, Herrscher gestalten. I02

Auf dem späteren Wege des Geistes zu seiner Auseinandersetzung mit der Welt — das Wort im eigentlichsten Sinn verstanden — haben die Mystiken der Mittelalter einen Versuch dargestellt, diese Absonderung nachträglich wieder aufzuheben, indem sie die Gestalten der Götter oder selbst des Einen Gottes mit Seele und Welt in ein Ursein verschmolzen. Und noch später haben die Geistmythen der Daseinslehrer von Hegels Art ein Ähnliches versucht: aber wie die Mystiker die seiende Welt in der Seele, so haben diese Mythiker die Welt im Geist aufgelöst: beiden zerfloß die Wirklichkeit unter den Händen. Uns Heutigen aber, denen die Welt gar nicht welthaft und die Wirklichkeit gar nicht wirklich genug sein kann, geht es um härtere, um greifbarere Erkenntnisse; uns widerstrebt es, die Welt in Seele oder die Welt in Geist aufzulösen, wir möchten die Welt nur als Ding erfassen, nicht als Gefühl noch als Gedanken. Menschheitsdenker sind aufgestanden, die aus heißem Drang nach der alten Vereinigung die Trennung von Ich und Welt beklagt haben. Noch heute bewegt uns der Sehnsuchtsschrei, den Rousseau als Erster ausstieß: zurück zur Natur. Wohl meinte er die Menschheitskindheit damit, und der Gedanke ist erschütternd, daß der Forscher, der zuerst der Menschheit als Führer sich anbot, der zuerst ihr einen Weg für ihren zukünftigen Gang wies, damit begann, daß er die Anfänge unseres Geschlechts wie ein verlorenes Paradies ansah und sie für uns wiederzugewinnen trachtete. In unsern Tagen haben Denker die Spannung zwischen der SubjektObjektsicht der späteren Zeiten und noch der Gegenwart und der alten Weltverbundenheit des Menschen IO3

in aller Schärfe erkannt und gar den Geist ab Verderber anklagen und die Losung: Zurück zum Element, zum triebhaften Leben ausgeben wollen. Doch ist gewiß der eine Plan so vergebens wie der andere: so ganz kann der Werdegang der Menschheit, dem schon der Werdegang der Welt die Richtung vorschrieb, diese Richtung nicht ändern, noch sie in ihr Gegenteil verkehren. Aber umso gewisser ist notwendig, im Anschauen den Gegensatz zu erkennen, der zwischen Welt und Ich aufgeklafft ist und sich im Lauf der Geschichte unseres Weltschauens immer weiter aufgetan hat, damit wir uns so zum wenigsten unsere Weltsicht von dem Sehfehler heilen, der uns zu weit, viel zu weit von der Welt als einem Seinsganzen getrennt hat. Erkennen wir aber, daß die Weltgebundenheit unseres Ichs nur im Denken, nie aber im Sein hat gebrochen oder auch nur gemindert werden können, dann ist der Weg zu dem letzten Ziele, zur Erkenntnis des Willens der Welt als des einzigen berufenen Gesetzgebers für unser Tun von einem neuen, in Wahrheit sehr alten, Hindernis befreit. Und heute hat vielleicht zum erstenmal die rechte Stunde für ein Erforschen dieses Zwiespalts geschlagen. Denn wir sind heute reif genug, um den Gegensatz: Hie Welt, hie Ich! zu begreifen, nicht eifernd, sondern wägend, nicht Partei ergreifend, sondern richtend. Wir wissen den Wert des Ichs, den Erfolg von allen seinen Absonderungen, aber wir ahnen auch schon den Wert der Welt und die Macht ihrer ungebrochenen, unzerspaltenen Ganzheit. Zwei Bilder tun sich auf vor dem prüfenden Blick. Das eine, altgewohnte, in tausend Denkformen, in hundert Begründungen ausgestaltete, sieht in dem Ich IO4

einen selbstherrlich-herrscherlichen Träger von Geist und Macht: den Inhaber von freier Gewalt des Handelns, von ordnender, ja schöpferischer Macht des Erkennens der Welt, ja selbst der einzig verbürgten Form des Seins. Ihm gegenüber ist Pflicht, daß wir uns lösen von der Gewohnheit oder gar dem Gesetz, es als unumstößlich hinzunehmen. Es gilt diese Weltsicht zu erkennen als das, was sie wie jede andere ist, als das Erzeugnis eines geschichtlichen und vielleicht allzu geschichtlichen Werdegangs von Denkgebilden, einer sehr menschlichen, vielleicht allzu menschlichen Sicht auf das Weltgeschehen, eines Sehens, das sehr entschieden und vielleicht allzu entschieden die Mitte Mensch vertritt. Wer das zweite Bild entwerfen will, muß im Denken wenigstens zurückkehren zu den Anfängen des menschlichen Geistes und ihres noch unzersplitterten Sehens. Denn freilich, uns Kindern später Tage kann die Einheit des Ichs mit der Welt und weiter die Ganzheit der Welt auch ihren Teilen gegenüber erst ein Erzeugnis der Ahnung sein. Erkannt und erwiesen ist uns das Bild kaum erst in seinen rohesten Umrissen, in seinen Grundlinien, die eher auf Forderungen des Gedankens, denn auf erfahrenen Zusammenhängen beruhen.

DIE E I N G E B U N D E N H E I T DES I C H S IN D I E W E L T Es muß dem Menschen, der sich und die Welt anschaut, gelingen, sich die Netzhaut, den Geist frei zu machen von allen den Hunderten, den Tausenden von Teilungen, durch die er sich, gleichviel ob mit Recht IO5

oder mit Unrecht, das Bild der Welt in große und kleine Stücke zerspalten hat. Dann erweist sich, daß das Insgesamt des Seins und Geschehens, das wir allenfalls nach manchem Aufbau von zuerst geforderten, dann wieder zurückgenommenen Abgezogenheiten Wirklichkeit nennen, nur Eines ist: die Welt ist nur ein Ding, alle Teile der Welt, die wir sehr mit Unrecht allein Dinge nennen, sind durch unsere Willkür abgespaltene Trennstücke. Es gibt in Wahrheit nur ein Ding in der Welt: es ist die Welt selbst. Und daß die Welt ein Ding ist, ja das einzige Ding, das da ist, dies zu sagen ist nicht deshalb nur unser Recht, weil unser suchender Blick, der seine Umwelt ohne die Formgesetze von Wissenschaft und Begriff anschaut, nur auf einen Gegenstand stößt, eben die Welt mit Inbegriff seines eigenen Ichs, sondern vielmehr auch noch um deswillen, weil, wo immer sein unbefangenes Erfahren oder sein scheidelustiger Verstand Teile, halbe oder ganze Selbständigkeiten zu erblicken glaubt, diese Teile nirgends Grenzen haben, die sie in Wahrheit von ihrer Nachbarschaft abtrennen und sie von ihr unabhängig machen. Gleichviel ob unser Suchen das größte Teilstück unseres Weltbildes, die nach Milliarden von kreisenden Sonnen zählende Heerschaar der Sterne des Milchstraßenbaus, oder das kleinste, das Elektron, in Betracht zieht, oder irgendein Wesensgefüge, das sich auf der unzählbar staffelreichen Stufenleiter zwischen jener größten und dieser kleinsten Teileinheit findet, nirgends, nirgends, nirgends trifft es auf ein Sondergeschehen, das nicht durch aufprallende Bewirkungen von außen her in Anspruch genommen

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würde, nicht auch durch Ausstrahlung von Wirkungen nach außen seine Umwelt beeinflußte. Eine der reichsten Errungenschaften, deren sich die das Leben und den Leib von Tier und Mensch erforschende Wissenschaft rühmen kann, ist die Aufdeckung der Wirkungswege, durch die Teile des Körpers, die bisher als weit getrennt angesehen wurden, miteinander als in engster Gemeinschaft ihrer Betätigung stehend nachgewiesen wurden. Aber auch in allen anderen Bezirken der belebten, in allen Bereichen der unbelebten Welt ist die Zahl solcher Wirkungswege Legion. So zerfällt die Unabhängigkeit oder gar die Selbständigkeit aller Teil- und Trennstücke der Welt in Nichts: es gibt keine Dinge, es gibt nur ein Ding, die Welt. Ein Teilstück ist in unserm heutigen Weltbild vorhanden, das viel weitergehende und zugleich viel härtere und stolzere Ansprüche an uns macht, daß wir seine Selbstherrlichkeit anerkennen sollen: unser Ich. In Wahrheit aber erweist sich auch dieses Teilding als so tief eingebettet und eingebunden in das einzige, das Gesamt-Ding Welt, daß ihm ebensowenig wie irgendeinem anderen Trennstück der Welt Selbständigkeit zuerkannt werden kann. Eine Gruppe von Urkörpern der unbelebten Welt ist unter solchen Bedingungen zu einer Geschehenseinheit verbunden, die ihr ermöglichen, daß sie die besonders enge, besonders gesteigerte, erregte Form des Geschehens annimmt, die wir Leben nennen. Sie läßt ihren Inhaber, zuerst das Tier, demnächst den Menschen, zwar zu einer Fülle neuer Fähigkeiten gelangen; aber eben diese Tatsache Leben setzt diesen Inhaber auch einer Anzahl von Angriffen und Schädigungen aus, die jener Summe von Urkörpern nur unschädliche Ver107

änderungen würden zufügen können. Der Schaden ist durch das Leben erst in die Welt gekommen und unter allen seinen Formen die entscheidendste: der Tod. So ist denn der Leib eines lebendigen Wesens nicht unabhängiger, sondern abhängiger von seiner Außenwelt geworden. Selbst das bewehrteste, weil bewußte Tier, der Mensch, vermag mit dem Aufgebot aller der neuen Fähigkeiten, die er sich durch Leben und Bewußtheit erworben hat, nur eines ganz geringen Bruchteils der Minderungen und Schädigungen sich zu erwehren, mit denen ihn seine Umwelt bedroht. Die Senkung des Wärmestandes auf dem Stern Erde um wenige Grade würde genügen, um das Menschengeschlecht zu vernichten. So erscheint das Teilstück Mensch nicht, wie das ihm innewohnende Selbstbewußtsein, oft bis zum Dünkel gesteigert, ihm eingibt, weiter abgetrennt, selbständiger, sondern noch tiefer eingebettet in das Gesamtding Welt. Wohl hat der Mensch um diese seine Unabhängigkeit, die von den Tatsachen so sichtlich in Frage gestellt ist und die er doch aus tiefen Drängen seines Ichs heraus um alles gern als sein Recht bewiesen haben möchte, im Denkbild zu erringen, das Traumgebilde der Menschheitskindheit, die Seele als ein zweites, vom Leib befreites Ich zu einem Gegenstand des Glaubens und, wie er wähnt, auch des Wissens gemacht. Aber auch diese Hilfe, als Abwehrmaßnahme seelisch durchaus begreiflich, versagt sich jedem folgerichtigen Andringen. Das Bewußtsein selbst und alle seine Denkhandlungen bilden wohl eine Gruppe von Erscheinungen in unserem Weltbild, die als Urgegebenheit hingenommen werden muß, das heißt als ein Urding, das seinem

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Wesen u n d seinen W i r k u n g e n nach ohne die Möglichkeit irgendwelcher Ableitung u n d Erklärung sich in unsere E r f a h r u n g drängt. Aber sie erscheinen auch in solcher Enge mit d e m A u f b a u u n d den Tätigkeiten einzelner herrschender Teilstücke unseres Leibes, vornehmlich des Hirns, der Nerven und der Blutgefäße verbunden, daß sie als deren unmittelbare Auswirkungen angesehen werden d ü r f e n . Selbst das wunderliche Mischgebilde der L e h r e von Gleichläufigkeit und Wechselwirkung kann als haltbar nicht zugegeben werden: d e n n indem sie das Dasein und Handeln einer Seele i m Voraus setzt, d. h. also eines weder in der Körperwelt vorhandenen, noch sinnlich nachweisbaren Wesens, verstößt sie gegen alle Gebote, die von der Wissenschaft sonst f ü r jedes Erforschen von Natur und Geist als bindend und unumstößlich angesehen werden. Man k a n n die Seele glauben, aber nicht wissen. Und kein Unbefangener wird leugnen, daß die Wissenschaft selbst nicht daran denken würde, diese Durchbrechung aller sonst f ü r sie gültigen Regeln zuzulassen, ja sogar selbst wie eine Selbstverständlichkeit vorzunehmen, stände nicht auch sie u n t e r dem Druck eines Jahrtausende alten Denkgebildes, das der Mensch auch nie aus Gründen des Denkens, sondern zuerst aus den dunklen Antrieben eines unersättlichen Lebensdurstes, später aus G r ü n d e n der Bewirkung von Seiten des Glaubens geschaffen hat. Für eine Wesensschau, die Ich u n d Welt zur Einheit einer Sicht zieht, ist allerdings die L e u g n u n g eines zweiten, unabhängigen Teil-Ichs innerhalb der leibseelischen Ganzheit des unteilbaren Gesamtichs zunächst wichtig, weil sie diese L e h r e als Ausdruck und Erzeugnis der Selbstliebe des Ichs trifft; aber sie wird 109

vor dem Irrtum bewahrt bleiben, als sei dies die für sie einzig oder auch nur überwiegend ins Gewicht fallende Eigenschaft dieses schicksalhaften Verhaltens der Menschheit. Für sie ist vielmehr die Folgerung ausschlaggebend, von der im Grunde nie die Rede ist: es ist die Erkenntnis, daß das Ich, das als untrennbares leibseelisches Gesamtich begriffen wird, nunmehr auf keine Weise seiner Eingebundenheit in die Welt zu entheben ist. Würde die Welt von uns im Bilde eines einheitlichen Wesens, etwa eines Baumes, vorgestellt, so wie die Ursagen des Menschheitsmorgens derlei Aufgaben lösten, so würde uns leichter werden, ihre Einheit zu begreifen. Wir würden in der körperlichen Verbundenheit eines solchen Weltwesens ein deutlicheres Gleichnis für die Wirklichkeitseinheit besitzen, mit der uns abzufinden unsere Not und unsere Pflicht, oder aus hellerem Gemüte unsere Freude und unser Recht ist. Uns würde in dem unablässig fließenden Strömen der Säfte, das die Einzelglieder dieses Urwesens verbände, auch wenn sie nach Myriaden von Millionen zählten, jene Verbundenheit greifbarer vor Augen gestellt, als in dem Bild unserer Sinnen-, aber auch unserer Wissenschafts-Wirklichkeit, das über der Einheit so viel Trennung, an dem Ganzen so viel Teile und so viel Scheinunabhängigkeit hervortreten läßt. Aber auch an diesem, sei es sinnlich empfangenen, sei es gedanklich erkannten Bild muß uns die wahrste Wahrheit des Weltwesens offenbar werden. Was sagt es denn von unserem Menschentum, auf das wir immerdar die Merkmale einer fast gottähnlichen Selbständigkeit häufen möchten, anderes aus, als daß sich ein Teil des Weltgeschehens — selbst auf unserem 110

Stern nur nach den Bruchteilen eines Billionstels bemessen — in der besonders gesteigerten Form, die wir Leben und Bewußtheit nennen, für eine kürzeste Zeit — eine Sekunde kaum an dem Maßstab einer Sterngeschichte gemessen — in unserem Ich vollzieht. Dieses Geschehensbruchstück unterliegt denselben Regeln wie jedes andere, gleichviel ob es an Welt- oder Urkörpern, an Sternen oder Elektronen sich abspielt. Unser Wähnen will, daß unser Wollen es leite, da doch die Beschaffenheit unseres Ichs wie die Bewirktheit durch unsere Umwelt und damit jede unserer Handlungen ganz ebenso eisern festgelegt ist durch die Verkettung der Teilstücke, durch die Einheit des Insgesamts des Weltgeschehens. Wir handeln nicht, wir denken nicht, sondern wir geschehen. Es ist bezeichnend, daß wir in solcher Folge der Beobachtungen nicht einmal nötig finden zu sagen: wir fühlen nicht; aus einem guten Erkennen, daß unser Fühlen zum wenigsten außerhalb unserer Willkür steht. Ein zweites Gleichnis: über einem weiten Moor liegt das Dunkel der Nacht. Nur Lichter zucken auf, bald hier, bald da, bald dort. Es sind sehr seltsame Reigen, zu denen ihr Hüpfen und Tanzen sich ordnet. Ob nicht ein Auge, das von einer höheren Ebene herniederschaute, unser Menschentun nicht viel anders sehen würde als diese Flammenspiele ? Und heißt es das Dichten und Trachten von uns Sterblichen erniedern, wenn man es mit ihnen vergleicht? Vielleicht selbst dann nicht, wenn der Name der Erscheinung nicht verschwiegen wird. Oder sind wir nicht auch Irrlichter? Die dritte gleiche Eigenschaft, die in Wahrheit allein durch dieses Bild gekennzeichnet wird, ist diese: wir sind ein Naturgeschehen wie das Flammen jener tanIII

zenden Lichter. Die Gunst einer auszeichnenden Vorbedingung läßt in ihnen wie in uns ein Aufleuchten geschehen, das unser wie ihr Sein auf das Sicherste abhebt von einer ganz anders gearteten Umwelt; aber wir vergehen beide. Und wenn einige Seltene unter uns eine Spanne Zeit länger ihre Spur hinter sich lassen, vor den Zeitmaßen der Welt ist sie noch kurz genug und einmal wird auch an ihrem Ort das Dunkel des Nichtseins wieder herrschen. Was aber folgt, wenn dieses Allbild des einen und ungebrochenen Weltdinges an die Stelle all der Schimmerspiele tritt, die uns den Schein unserer Selbständigkeit vorgaukeln? Nicht, wie Manche grollend einwenden möchten, die Losung eines weichen und schwachen Aufgebens unserer eigenen Wollungen — denn sie zu haben und für sie zu leben und zu tun, ist die uns vom Weltgeschehen eingegebene Seh- und Handlungsweise. Wir sind die Beauftragten unseres Schicksals, und so unausweichlich es auch über uns verhängt sein mag, einige Glieder in der eisernen Kette, mit der es uns umschließt und uns vorwärts reißt, bestehen aus unseren Entschlüssen, unseren Wahlen. Und die Tatsache, daß auch sie durch unser Sein und unsere Umwelt vorbestimmt sind, ändert nichts daran, daß unsere Sendung uns aufgiebt, nach unseren Kräften, unserer Einsicht diesen Wahlen, diesen Entschlüssen die Richtung zu geben. Und dies ist das Zweite, das uns die Welteingebundenheit unseres Ichgeschehens lehrt, daß diese Richtung unseres Tuns dann die richtigste sein wird, wenn sie dem Gesetz des Weltgeschehens am gehorsamsten angepaßt ist, wenn sie den Willen der Welt zu erlauschen und an unserem Teil zu verwirklichen trachtet. 112

DAS I C H ALS H Ü T E R DES DU

DAS

VERBOT,

D E N W I R K E N D E N ZU

SCHÄDIGEN

Nur das Ich hat das Recht, dem Du des Anderen Hüter, ein Förderer zu werden, das sich von dem wahn gelöst hat, als sei das Heil des Andern allein setz und Richtschnur für sein Sollen. Nur das Ich hat das Recht, dem Du des Anderen 8

Breysig

ein IrrGeein TTQ

Hüter und Förderer zu sein, das sich von der Lüge befreit hat, als sei irgendein Tun des Ich für den Andern nicht aus der Wurzel der Liebe des Ich zu sich selbst entsprungen oder als habe es ein anderes Ziel, als dieser Liebe genug zu tun. Nur das Ich hat das Recht, dem Du des Andern ein Hüter und Förderer zu sein, das als sein höchstes Gebot erkannt hat, seiner selbst zu warten. Der Wille der Welt hat zwei Wege eingeschlagen, dem Ich zu zeigen, wann und warum es dem Du des Andern ein Hüter und Förderer sein soll und sein darf. Der Wille der Welt nahm, als er das Heil der Andern in unsere Hut befahl, die Stimme des Ich an, da sie uns tausendmal lockt, den Andern zu lieben und aus der Lust dieser Liebe den Preis unseres Handelns macht. Diese Stimme ist dumpf, aber stark, und es ist öfter Not, ihren Ruf zu dämpfen und ihm Einhalt zu tun, als ihr zu Hilfe zu kommen. Der Wille der Welt hat, als er unser Ich zum Hüter und Förderer des Andern machte, sein eigenes Geschehen sprechen lassen, und diese Stimme ist wahrlich stark genug, aber wahrlich noch dumpfer und dunkler und bedarf hellhöriger und scharfäugiger Auslegung und dennoch willigen und demütigen Gehorsams. Unser Ich ist nur ein Teil und oft ein sehr kleiner Teil des Weltgeschehens. Der Wille der Welt aber, der sich durch sein allgesamtes Tun offenbart, ist eine größere Gewalt, die größte, die höchste, von der wir blinden Erdenkinder wissen. Sein Wort muß zuerst und zumeist vernommen werden. Also spricht er zu mir: als ich auf diesem Baum Erde die Menschheit als seine letzte und süßeste Frucht 114

wachsen ließ, habe ich H u n d e r t e u n d Hunderte Million e n von Ichen werden lassen. In allen, in jedem von i h n e n geschehe ich. N u r von einem Ich weißt du seinen Willen und also auch den meinen, wie er sich an i h m und in ihm vollzieht. So weißt du ihn an diesem deinem Teil, nicht h u n d e r t - , nicht tausendfach n u r , nein myriadenfach besser, voller, als irgendein anderes Ich. Und du weißt auch von deinem Ich allein, wie es sich in alles Geschehen der Welt einfügt. D a r u m und d a r u m allein ist dein Heil und dein Dienst an dir selbst zu Recht eine Richtschnur f ü r dein Tun. Da aber, so spricht der Wille der Welt zu mir, in allen anderen Ichen, außer deinem Ich, mein Wille und mein Walten geschieht, so ehre mich auch in ihnen. Gar nicht fordere ich von dir, daß du ihr Heil mit der gleichen Sorge bedenkst wie das deine: kein Gebot ist je erlassen worden, das u n a u s f ü h r b a r e r wäre als dieses, daß du den Andern lieben sollst wie dicli selbst. Aber du sollst, so wie das Bild vom Geschehen der Welt dir geworden ist, das D u des Andern, jedes Andern, der dir begegnet, nicht hindern in seinem Geschehen, das mein Geschehen ist, und du sollst ihn fördern, wo immer die Sendung deines Ichs dich heißt, dir mit ihm zu schaffen zu machen. Jedes Ja dient besser als irgendein Nein. Ist dein Bauen ein solches, das Menschen zu seinen Steinen braucht, so bedarfst du keines Verbotes, das dich abhält, die zu schädigen, die dein Haus dir bilden sollen. Von jedem andern Wirkenden aber erinnere dich, daß sein T u n einem andern Bau und letztlich m e i n e m Bau dient, d e m Bau der Welt. Willst du das Walten der Welt nicht hindern — und wie dürftest du es, wenn du den

Willen der Welt ehrst — so darfst du keinen Wirkenden schädigen und keinen, der noch wird wirken können. DER W I L L E DER W E L T A L S S C H Ö P F E R D E R T R E N N U N G VON S T A R K E N UND S C H W A C H E N Merke wohl auf, so spricht der Wille der Welt zu mir, zu dir, ich verbiete dir den Andern zu schädigen. Und ich spreche so, nicht wie die alten Tafeln tun, weil du den Andern heben sollst, nicht, damit ich dir ein laues Bad weicher und linder Gefühle anrichte, nicht damit deine Seele eine Wollust habe und gar noch behaupte, mit ihr ein Werk der Pflicht zu tun; sondern damit du das Gesetz erfüllst, das das Walten der Welt vor dir aufrichtet, indem es seine Regeln vor deinen Augen vollzieht. Es sind harte und schwere Gebote, die dies Gesetz dir auferlegt, denn es sind heiße Begehrungen und unersättliche Gelüste im Menschen, die ihn täglich und stündlich locken und reizen, den Andern zu schädigen. Und die Gebote wie die Begehrungen, die Gelüste wie das Gesetz umfassen den vollen Umkreis des Lebens, das Insgesamt der sittlichen Welt. Es gibt keinen noch so großen, keinen noch so kleinen Zwcck für unser Dichten und Trachten im Reich der Tat, der nicht von ihnen Richte und Weisung erhielte. Zwei Quellen in unserem Ich speisen diesen Strom von Wollungen, die beständig fremde Gefilde zu überfluten und zu zerstören drohen: die Lust an ungerechter Herrschaft und der Durst nach ungerechtem Gewinn. I 16

Die Lust an Herrschaft und Macht ist, seit Menschen wurden und schon lange ehe Menschen wurden, der stärkste Antrieb zur Vergewaltigung des Andern, zum Unrecht a m Andern. Sollen nun um dieser Gefahr willen Macht und Herrschaft verbannt werden aus dem Bild der Menschheit? Mitnichten : denn von allen Ordnungen zwischen Menschen ist diese die unumstößlichste: die Starke und Schwache, Weise und Toren voneinander trennt und in hundert Stufen ineinander übergehen läßt. Jene Scheidung und diese Stufen sind durch keine Ordnung der Menschen, die sie mißachten wollte, zu tilgen und noch die Züchtungen der Zukunft werden sie nicht beseitigen können. Sie sind offenbar von den naturhaftesten Eigenschaften unseres Geschlechts geschaffen ; keine Geschichte der Vergangenheit hat sie geändert, kein Geschehen der Zukunft wird sie ändern. Der Wille der Welt will diese Trennung, will diese Stufung unter Menschen. Er hat sie hinausgehoben über unser noch so willkürliches, über unser noch so absichtsvolles Vermögen, sie aufzuheben oder zu ändern. W i r können wohl ihre Wirkungen ändern, hier begrenzen, dort verstärken. Sie selbst sind unserer Gewalt entzogen. So kann der Wille der Welt nicht vernehmbarer zu uns sprechen: Folge mir, widersetze dich nicht meinem Gebot, lege es vielmehr aus und gib ihm so viel Folge, als du vermagst. Alle unsere Erdenweisheit, so groß oder so gering sie sein mag, lehrt uns den Nutzen dieser Vorschrift erkennen. Das Reich des Geistes ist ihr ebenso Untertan wie das der T a t : nur Hohe und Höchste treiben das Werk des Geistes vorwärts, so wie nur Hohe und

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Höchste die großen T a t e n t u n , die großen Umordnungen der Ordnung unter Menschen vollziehen. Wie sollten wir anders t u n , als den Hohen und Höchsten, die sich im Geist ihr F ü h r e r a m t n e h m e n , dieses F ü h r e r a m t auch im Reich der Tat übergeben. Führen aber heißt in diesem Reich Macht ausüben. Und bis auf den heutigen Tag hat keine Ordnung, die Menschen unter sich in Staat u n d Tat aufgerichtet haben, die Macht abgeschafft. Wo der Sinn der Gemeinschaft sich steigerte und wo m a n in d e m Wortlaut der Verfassungen, im Anschein der O r d n u n g e n die Macht des Einzelnen hat tilgen wollen, da hat sie im Unterreich des inneren Baus, im Bezirk des werktätigen Geschehens doch wieder Kraft und W a h r h e i t gewonnen, wieder ist die Gemeinschaft zur Gefolgschaft geworden, so stark sie auch Gleichheit und Brüderlichkeit aller Glieder als Losung verkündete.

MACHTGIER UND

MACHTVERWALTUNG

Wer dem Willen der Welt auf das getreueste gehorchen will, gerät nicht gerade er zu öftest in Zwiespalt? Die eine Stimme dieses Willens spricht zu uns: ehre im Andern das gleiche freie Geschehen, das dir selbst all dein Recht auf Freiheit gibt, ehre im Andern mich, denn wie ich Welt D u bin, so bin ich auch der Andere. Die andre Stimme aber bezeugt ebenso stark, ebenso nachdrücklich, daß die Ungleichheit zwischen Starken und Schwachen weltgewollt ist. Nichts aber f ü h r t öfter, f ü h r t unwiderstehlicher zu Zwang, Vergewaltigung, Schädigung des Schwächeren als dieses Königs-, dieses

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Adelsrecht des Starken auf F ü h r e r a m t und Führersendung. Nicht wir, die Betrachtenden, nein das Leben selbst, das aus tausend W u n d e n blutende, von zehntausend Zerklüftungen zerrissene, r u f t , schreit, jammert die Frage: ist hier ein Ausgleich möglich, oder m u ß hier die eine oder die andere Losung, die beide doch als Wille der Welt zu erkennen sind, vernachlässigt werden. Sollen nicht m e h r die Starken, Weisen den Weg zeigen, oder soll wie all die Jahrtausende daher Willkür und Gewalt in Wahrheit über die Menschen herrschen? Beides ist gleich undenkbar. So ist hier sicherlich Not, ein Zusammenwirken beider Befehle und die Grenze zwischen ihrer beider Wirksamkeit zu finden. Eine Rangordnung zwischen beiden Geboten ist gegeben: das eine, das uns befiehlt, das Leben und das Geschehen der Welt i m Andern zu ehren, m u ß als das höhere geachtet werden, denn es will das Bestehen des Lebens und den Fortgang des Geschehens selbst sichern. Das andere aber, wahrlich auch von hoher Ebene her uns gebietend, will doch n u r Gewähr f ü r die Kraft und Geschwindigkeit dieses Geschehens schaffen. Es mag das zweithöchste der Gesetze sein, die auf den Tafeln des Willens der Welt verzeichnet stehen, aber nicht das erste. D e n n das höchste Gebot des Lebens an uns ist das Leben selbst. Alle Ordnungen von Macht und Gewalt auf Erden reichen so weit — und seien es die am meisten auf die Gleichheit aller Glieder in den Gemeinschaften abzielenden — daß sie den Führern Vollmacht geben, das Leben der Anderen zu stören, ja zu zerstören, gleichviel ob sie Glieder der eigenen oder einer fremden 119

Gemeinschaft sind. Wird der Krieg aus dem Bilde der Menschheit verschwinden, so wird auch diese äußerste Folgerung aus d e m Machtzwang ausgelöscht werden. Aber über sie hinaus ist die Zahl der Möglichkeiten, die Inhabern von Gewalt erlauben die ihnen Unterworfenen zu schädigen, schlechthin unermessen. Hier also m u ß eine Grenze gezogen werden: wo läuft sie? I m m e r , wo Macht uin der Macht selbst willen erstrebt, ausgeübt, gesteigert wird, da ist sie unberechtigt; imm e r , wo Macht ausgeübt wird, u m einer Sache, das heißt, u m dem Heil der Anderen zu dienen, da trifft sie kein Vorwurf. Wohl kann zweifelhaft sein, ob der Weg, den sie zu diesem Ziel einschlägt, der richtige ist; aber ein Unrecht begeht, der solchem Ziel zustrebt, nicht. H u n d e r t Gehalte des Handelns in Staat und Tat, die ehemals und bis in unsere Tage hinein den Sinn ganzer Ordnungen ausmachten, das Dichten und Trachten ganzer Führerphalangen erfüllten, werden durch diese Scheidung als zu Unrecht bestehend verworfen. In Jahrtausenden haben Fürsten u m nichts heftiger, u m nichts angestrengter gestritten, als u m ein Mehr an Macht schlechthin. Unser Leben hat nicht R a u m noch Recht f ü r solches Streben. Kein Rang noch Erbe k a n n in unseren Augen dieses Ringen u m die Gewalt als solche rechtfertigen. N u r der Zweck kann Machtübung heiligen. Ganze Stände, Adelsformen aller Arten und Namen haben den Sinn ihres Daseins in nichts höherem erkannt, als in der Absicht, die Macht, die sie ererbt, die sie e r r u n g e n hatten, zu wahren, zu m e h r e n . Unser Leben hat nicht R a u m noch Recht f ü r solches Streben. N u r der Zweck k a n n Machtausübung heiligen. In den alten Zeiten waren, die Macht wollten n u r u m

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der Macht willen, ehrlich und sagten diese ihre Wahrheit ohne Maske und Hülle. Der Staat das bin ich, sagte ein in Macht glänzender König; unsern Nachkommen sind wir verpflichtet unsere Gewalt zu vererben, so sprachen die Edelleute, die Patrizier, die den Staat noch beherrschten. Heute brauchen sie Hüllen, brauchen sie Masken. W i r haben einen Herrscher sagen hören: ich gestehe meinem Volk jede Freiheit zu, nur nicht die, sich schlecht zu regieren. Unter schlecht aber verstand e r : außer durch mich. Und war doch der Untüchtigsten, der Lässigsten, der Unberufensten einer unter seinen Standesgenossen. Der Blut- und Geschlechterglaube, aus Urzeiten stammend, ist bei den meisten Völkern dahingeschwunden, nicht der an Recht und Sinn des Lenkeramts im Staat. Dies aber kann nur die innere Sendung dessen verleihen, den Stärke und Weisheit, nicht Erbe und Anspruch über die Anderen erheben; die Ordnungen des Gemeinwesens müssen verbürgen, daß der so durch die innere Stimme Berufene auch durch den Ruf der Gemeinschaft an seinen erhabenen Platz gestellt werde. Und was vom Haupt der Volksgemeinschaft gilt, gilt im selben Sinn von allen ihren Lenkern. Nur wer gebieten kann, soll gebieten dürfen. Adel ist schön, wenn er als Zusammenhang mit den Vorvordern empfunden wird; Adel fördert, wo er zu edlem Sein und Tun verpflichtet; Adel wird Unrecht, wo er Vorrecht will, denn dann will er Gewalt u m der Gewalt willen. Gerade wo der Einzelne sich als Träger alter Blutsverkettungen empfindet, erfährt er Förderung auch durch den Vorzug seiner Heranbildung; jedes Mehr von Anspruch sollte er selbst sich versagen.

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Überfluß u n d Verkehrtheit ist es, Adel heute wie eineil äußeren Zierrat zu verleihen; das Andenken seiner Vorfahren zu erhalten ist Niemand verwehrt, Jedem möglich; nach d e m Adel schönen und starken Seins aber sollen Alle streben, in denen die Kraft wohnt, adlige Gedanken zu hegen, adlige Taten zu t u n , und sie bedürfen a m wenigsten ä u ß e r e r Abzeichen. Und alle andere Standes-, alle Klassenstufung begeht das gleiche Unrecht, wo sie Anspruch und Vorrecht erringen will. Die Klasse ist etwas, das ü b e r w u n d e n werden m u ß : keine Forderung der Gegenwart ist gerechter als diese. Die Klasse will die in irgend einem Berufs- oder Geldsinn gleichgestuften zu einer Gemeinschaft zusammenschließen, die den Vorteil jedes einzelnen ihrer Glieder noch besser vertreten kann, als dieser Einzelne ohnehin vermag. Die Klasse will also Gewalt u m der Gewalt und öfter noch u m des Vorteils willen. Sie wird damit Staat i m Staate, sie handelt gegen alle Andern i m Volk, als seien sie nicht Glieder ihrer, nein, einer f r e m d e n Gemeinschaft. Sie f ü h r t Kämpfe, die nicht blutig sind, deren Opfer dennoch schwer genug, i m m e r Leben störend, oft Leben lähmend sind. Leben störend, Leben lähmend sind auch die Kämpfe der kleinen Gemeinschaften, sind auch die Kämpfe der Einzelnen, denen Macht übertragen ist. Gebiet gegen Gebiet, Stadt gegen Stadt, Dorf gegen Dorf ficht n u r u m der Gewalt willen, will d e m Gegner, der gar kein Gegner, nein Glied des gleichen Volkes ist, Macht abgewinnen. Und so noch die Gewalthaber i m Staat, von den obersten bis zu den u n t e r s t e n ; sie setzen einen großen Teil ihrer Tage, ihrer Kraft daran, d e m Nächsten, dem Nachbar, d e m Gebiet der Über-, der Unter122

geordneten Macht abzugewinnen: ohne jeden Nutzen für das Gemeinwesen, mit tausend Schädigungen derer, die mit und für einander wirken sollten; in Wahrheit für Nichts, Unheil stiftend aller Orten und Enden. Kraftübung, Kraftäußerung, notwendiger Wettbewerb der Einzelnen ? Gewiß; aber weder notwendig, noch nützlich, nur schädlich. Nur dies kann die Losung sein, die hier gilt: das Recht jeder Gewaltübung, mag sie noch so tief in den bestehenden Ordnungen begründet sein, verkehrt sich dann in Unrecht, wo sie nur auf Gewaltmehrung, Gewalteroberung ausgeht. An Masken und Hüllen fehlt es auch hier nicht: noch der gewaltsüchtigste Gewalthaber wird nicht ermangeln zu behaupten, daß nur der Sach-Zweck seines Tuns, und das sei das Heil der Anderen, ihn bewege, Macht an sich zu reißen. Das Innenleben der Menschen, und gerade der Starken und Schaffenden, ist voll von Selbsttäuschungen, die solchen Täuschungen zu Hilfe kommen. Und dennoch wird Niemand besser entscheiden können als der Handelnde selbst, wo er nur Macht um der Macht willen erstrebt und wo er für die Sache, will sagen für das Heil der Andern wirkt. Töricht wäre, zu hoffen, daß Einreden, leise oder laute Gebote, sittliche Vorschriften diesem Tun der Menschen ein Ende bereiten könnten. Ordnungen, Verfassungen, Einrichtungen können noch weniger bei diesen Dingen innerster Entscheidung ausrichten. Wohl aber wird, wenn von den Handelnden selbst das innere Recht solcher Gebote erst einmal erkannt und anerkannt ist, diese Sicht übergehen in das unwillkürliche Urteilen und Handeln der neu heraufkommenden Geschlechter, und denen wird möglich 123

sein der Machtgier zu entsagen, Machtverwaltung aber besonnen und beherrscht zu üben. Schwer und langsam wird diese Umwälzung vor sich g e h e n : es ist ja eine Umwälzung der Seele, und es sind die Stärksten und die Starken, die sie an sich vollziehen sollen. Es sind auch die stärksten Antriebe, die hier geschult, geregelt, unterdrückt werden sollen. W i r d das Streben nach Macht um der Macht willen als Machtgier und Machtsucht verworfen, so geschieht es, weil es den Andern und in ihm das Leben nicht fördert, sondern schädigt. Machtverwaltung aber heiße die Ausübung von Macht, die notwendig ist, weil sie das Leben fördert. Das Leben aber meint in diesem Falle das Leben der Anderen, wenigstens so weit sie Wirkende und Schaffende sind. Alle die Machtübung also, die den Andern in seinem Werke fördert und mit diesem W e r k das Leben, ist nütze und sei als Machtverwaltung gepriesen. Zweifler aber werden fragen, ob Macht nicht immer aus Durst nach Macht errungen werde, ob Machtübung je so weit umschränkt werden könne, daß sie nicht über sich hinausgreift und zur Machtsucht werde. Und doch ist dem nicht so: es gibt eine Gattung von Machthabern — und sie sind auch heute schon nicht allzu selten — deren Gepräge es ist, daß sie die Gewalten, die sie ausüben, ansehen wie ein köstliches Gut, das ihnen anvertraut ist, nicht um eine Leidenschaft zu ersättigen, sondern u m Leben und Heil um sich zu verbreiten, Freudige auch sie gewiß am eigenen T u n , Schaffende, Bauende nach aller Lust ihres Herzens, aber im Sinn ihres Werkes. Und da ihr Werk es ist, aus Menschen, mit Menschen, für Menschen Ordnungen zu denken, zu deuten, zu fördern, wachsen zu 124

machen, so fließt, was sie aus ihremlch und in Auswirkung ihrer besten Kräfte wirken, doch in Heil und Gedeihen der Anderen über. Man mustere doch, was Sinn und Ziel und Absehen aller Formen von Wirken und Schaffen der Mächtigen ist: sie alle, auch die Machtsüchtigen, wollen oder geben vor zu wollen, was der Anderen Sein und Wirken hütet, schlichtet, ordnet, fördert. In denen aber, die jenes köstliche Ebenmaß, jenen tieftönenden Einklang an sich bilden, aus sich strahlen und tönen lassen, stellt sich ein vollendetes Gleichgewicht her zwischen dem Ausströmen ihrer eigenen Kraft, das ihnen Lust und Leben bedeutet, und dem Einsaugen derer, denen ihre Arbeit gilt und denen sie Heil und Förderung schaffen soll. Alle Formen und Ordnungen von Gewalt unter Menschen müssen von diesem Gleichgewicht ihren Maßstab gewinnen. Denn wo in dem Führer so sich seine Lust am Führen und die Absicht auf das Heil der ihm Anvertrauten ausgleicht, da wird auch das Verhältnis der Geführten zum Führer das Gleichgewicht gewinnen, das den Geführten nicht zu Last und Pein werden läßt, was vom Führer her Macht, aber nicht Übermacht ist. DER

KAMPF

DER T R I E B E M I T DEM

WELTGESETZ

Stimmen und Gegenstimmen werden in uns laut, wenn es gilt den Machttrieb zu bändigen. Mit vulkanischer Gewalt rufen die Lust zu kämpfen und im Kampf zu siegen, die Freude an der Ausübung von Macht auch über die Widerstrebenden, der Drang nach Herr125

schaft auch über Bezwungene im Menschen nach Auswirkung, nach Ersättigung. Noch heute, obwohl die Verkündung der Anderenliebe als eines Gesetzes auch für Staat und Tat seit manchem Menschenalter sich diesem Drängen entgegengesetzt hat. Ja, mehr als eine Lehre ist ausgerufen worden, nach der dem Menschentum Unkraft, Schwäche, Niedergang drohe, wenn sein Recht auf Kampf, Gewalt, Macht nicht in voller Geltung aufrecht erhalten werde. Und wahrlich, unverächtliche Prediger sind es, die uns diese Lehre verkünden. Unverächtliche Vorbilder auch, auf die sie uns verweisen. Sie haben dennoch nicht Recht: denn die Urbilder, deren Nachahmung sie so nachdrücklich von uns fordern, gehören der Vergangenheit an. Sind wir Vergangene? Wir, die wir nichts so sehr wünschen wie Gegenwärtige, Zukünftige zu sein. Oder sie sprechen uns von den Tieren und ihrem Urdrang zu kämpfen und Gewalt anzutun; aber sind wir Tiere? Bedeutet nicht jeder Schritt auf der Bahn der Ausbildung von Menschentun und Menschentum einen Schritt weiter fort vom Tier? Stimmen vom Ich her und deshalb auch Winke vom Willen der Welt uns zugeraunt sind alle diese Begierden sicherlich. Aber zwischen den beiden Losungen, die uns hier zu Ohren, nein zum Herzen dringen, muß wiederum eine Rangordnung geschaffen werden. Die eine, die uns das Leben zuruft: heilige, hüte, fördere das Leben, wo immer du es findest, also auch im Andern, muß höher gelten als jene Gierden und Dränge, die in den Starken lodern, sie vorwärts reißen auf ihrer Bahn, zu guten Zielen und zu schlimmen. Jene große Stimme, die das Leben ertönen läßt, verkündet uns ein ebenso großes Gesetz: ein Gesetz, das 126

alles Dichten und Trachten der Sterblichen umfaßt und ihnen Ordnungen setzt. Diese Einzelrufe aber, gewaltig zwar in ihrer vorwärts treibenden Kraft, ungeheuer vollends in der S u m m e ihrer Wirkungen in Menschen und aus Menschen, erklingen vereinzelt, wild, wirr, regellos, tausendmal einander entgegen. Jene große Stimme des Lebens tönt leise, und es hat Jahrtausende gedauert, ehe sie unser Ohr überhaupt vernommen hat, aber was sie wirkt, ist Einklang, Ordnung, Ebenmaß, wie sie selber Einklang ist und aus Ordnung und Ebenmaß ertönt. Diese starken Rufe aber sind wirr und wild, gelten nur dein Einzelnen, wollen nur die Gier des Einzelnen stillen, bekämpfen die gleichen Gierden der Anderen, die sich zu Führern aufwerfen, zwingen die Dritten, die nur ruhevoll wirken wollen, mit Untat und Gewalt. Jener Weise hatte Recht, da er in dem Tun der starken Menschen den sinnvollen Kern ihrer Taten und das zerstörende Wirken ihrer Leidenschaften unterschied; aber er hatte Unrecht, wenn er behauptete, daß man das Geschehen im Leben der Völker, wie es sich durch die Jahrhunderte hin auf der Bühne dieser Erde abgespielt hat, nach diesem Merkmal klar scheiden könne. Er wollte nur in dem Kern der Taten den Gehalt der Geschichte und den einzigen Träger ihres Sinnes sehen, in den Leidenschaften aber ein wildes und wirres Arabeskenwerk, auf das es für den eigentlichen Zug der Geschichte nicht ankomme. Er begann mit solcher Meinung etwas Unmögliches, denn in Wahrheit sind dieselben starken Triebe, aus denen alles Böse und Überflüssige hervorgeht, auch die W u r zeln für das starke Tun jenes Kerns der Segen und Geschichte schaffenden Tat. W e r wollte leugnen, daß

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alle jene Großkönige und Selbstherrscher, welche ein ganzes reiches Lebensalter beinah aller hohen Völker — ihre Altertumszeit — gelenkt haben, in ihrem Herrscherwerk immer ein Gemisch von Tatkraft und Willkür, von Herrscherweisheit und Grausamkeit dem Gedächtnis der Menschen hinterlassen haben. Eine letzte große Entscheidung in dem Rangstreit dieser beiden Stimmen, durch die der Wille der Welt zu uns spricht, wird so herbeigeführt: wenn es noch ein drittes Gesetz gibt, das uns dieser Wille mit letztem Nachdruck zu erkennen gibt, so ist es dieses: ich, die Welt, bin Ordnung. Es war ein richtiges Empfinden, das einst den griechischen Geist, da er selbst noch unreif und in seiner Jugend stand, antrieb, die Welt Ordnung zu nennen und so das eine Wort Kosmos für die Welt und die Ordnung zu benutzen. Ist aber Ordnung der Wille der Welt, und es gibt keinen Lauf der größten, kein Kreisen der kleinsten Weltkörper, die diesen Willen nicht verkündeten, dann wird auch jedes Wählen zwischen den anderen Verkündungen dieses Willens von ihm seine Richte erhalten müssen, dann wird die Menschheitslosung, die unser Geschlecht zu strafferem, besser geordnetem Tun aufruft, den Vorrang erhalten müssen, dann wird nicht das Toben und Tosen der Leidenschaften und Begierden im Ich, so fruchtbar es sein mag, sondern das Vorbild des Lebens, das uns gebietet, es im Anderen zu ehren, zu schonen, zu fördern, auf unserTun lockend, befehlend, gebieterisch wirken, unsere Nachahmung erzwingen. Und gar nicht entstehe in uns die Sorge, als könne das Urbild der Ordnung der Welt in uns ein Übergewicht von Regel und Gleichheit erschaffen, ein Unterliegen des freien schöpferischen Dranges bewirken. Die Welt, 128

die selbst Ordnung ist, zeigt noch da, wo sie am strengsten in Regelzwang gebunden ist, eine Überfülle von Abweichung und immer neu sich spaltendem, sich änderndem Geschehen: im unbelebten Reich. Und diese Überfülle steigert sich im Reich des Lebendigen, steigert sich endlich notgedrungen im Reich des Menschheitlichen. Umso weniger kann uns Gefahr drohen, daß die Ordnung der Welt, als Urbild, als Vorbild bewußt erkannt, über uns ein Maß von Gleichheit und Regelzwang verhänge, das mit halber Erstarrung gleich wäre. Und noch eine zweite aus der Reihe der höchsten Regeln des Weltgeschehens tritt als Befehl in diese unsere Wahl. Es ist die Regel, nach der alles Sein der Welt Werden, alles Wirken der Welt Schaffen wird; es ist die noch tiefer gründende Wahrheit, daß die Welt keine Ruhe, kein Beharren, sondern nur Bewegung kennt. Dieser Befehl ist für uns das Gebot, ohne Rast zu schreiten, zu wirken, zu schaffen. Da könnte die neue Sorge aufsteigen, daß alle Regelung der in uns mächtigen Triebe und Antriebe unser Tun hemmen, verarmen, verlangsamen könnte. Und wäre doch Wahn und I r r t u m : denn alle die Leidenschaften und Begierden, denen man mit solchem Entgegnen den Vorrang und ein hemmungsloses Walten verschaffen möchte, sind, in den Einzelnen geboren, aus den Einzelnen wirkend, von vornherein und für immer zur Vereinzelung bestimmt, wirken tausendfach gegeneinander, heben sich untereinander auf und sind dann dazu verdammt, in ihrem Insgesamt eine Verzögerung, ja eine Erstarrung alles Schreitens, alles Schaffens zu bewirken. Wo immer, um das Leben im Einzelnen, in jedem Einzelnen zu schonen und zu fördern, Ordnung 9

Breysig

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9 n

—- das ist E b e n m a ß und Einklang — hergestellt wird, da summieren sich die Kräfte, werden zur Einheit und können so folgerichtiger, zielsicherer, stärker und letztlich schneller in i m m e r neue Formen des Geschehens übergeleitet werden. Und in diesem selbst wiederum dem Willen der Welt gehorsam sein.

NÄCHSTENSCHUTZ, NICHT

NÄCHSTENLIEBE

Darf aber, so höre ich die Stimme der Bedenklichen raunen, eine Lehre, die ihren Quell aus dem Ich herleitet, ihre M ü n d u n g im Ich sucht, das Ich zum H ü t e r des D u machen? Streckt sie, so höre ich selbst Freunde sprechen, nicht dann ihre schärfsten Waffen vor der Losung, der sie am öftesten Abbruch in den Seelen t u n will? Wird sie n u n nicht zu einer Verkünderin der Nächstenliebe, des Anderendienstes ? Mitnichten; denn so wird n u r urteilen können, der n u r die Oberfläche und nicht den Kern dieser L e h r e in Betracht zieht, der n u r einige ihrer W i r k u n g e n und nicht ihre volle Breite ansieht, der n u r die Wirkungen überhaupt u n d nicht die Beweggründe ihres Gebotes erkennt. Wie hat denn jener Einzige gesprochen, der als der Heiligste nicht n u r , nein auch als der Größte, der Stärkste, der Schönste von allen sterblichen Menschen über die Erde geschritten ist und dem wir doch nicht in seiner Gottes- noch in seiner Menschenlehre zu folgen vermögen. D u sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst, so war Jesus' Wort, das er als das zweite seiner großen Gebote verkündete. Ein Unendliches hat 130

er, von dem unter allen Erdensöhnen am ehesten zu begreifen ist, daß die ihm anhingen, nach seinem Tode ihn, den Sterblichen, zum Gott erhöhten, mit diesem Gesetze von uns gefordert: ein Unendliches und eben darum ein Unmögliches für uns endliche Menschenkinder. Es ist in Wahrheit gesprochen als ein Wort, in dem der gefühlsstärkste unter den Menschen das äußerste Ausmaß seines fühlenden Lebenswillens suchte. Er wußte, daß alle Triebe, alle Antriebe im Ich das Ich wollen und nur das Ich, und die stärksten von ihnen tausendmal das Ich auf Kosten, zum Schaden und selbst zum Verderben des Andern, des Nächsten. Aber er, in dem alles Vermögen des Menschengeschlechts nur am Fühlen sich ersättigte, im Fühlen den höchsten Gipfel erreichte — auch dieser Antrieb ist in uns, wenn auch nur in den Wenigsten — er konnte nur dort Grenzen und Ende für solche Forderung finden, wo sie ihre letzte Möglichkeit erreichte, wo sie an dem Ziel ankam, über das hinaus kein Weg mehr führt. Und so legte er denn denen, die ihm folgen wollen, auf, daß ihr Ich den Anderen ebenso stark, ebenso ausnahmslos, ebenso ausdauernd lieben solle wie sich selbst. So konnte nur ein Führer im Geist sprechen, dem nichts am Schaffen, kaum noch am Wirken der Menschen gelegen war. So konnte nur ein Prophet sprechen, der keine Menschheitsordnung für Zeiten und Zeiten setzen wollte, sondern nur für eine kurze Pause der Erwartung bis zu seiner Wiederkehr, ein Prophet, der in dieser seiner größten Weissagung irrte. So konnte nur ein Gesetzgeber sprechen, der gerade wollte, daß das Ich sich gänzlich dem Gottes- und fast auch dem Anderendienst hingab und sich dergestalt auflöste. Eine letzte Unmöglichkeit aber, diesem Gebot zu folgen

für uns, die wir im Ich die stärkste, die einzige Triebfeder für alles was uns groß gilt sehen, für Geist und Tat, für Schaffen und Wirken, für das Leben der Menschheit selbst. So ist im Ursprung der Nächstenschutz, den das Leben selbst uns anbefiehlt, ein im tiefsten anderer, als der der Nächstenliebe. Das Leben spricht zu uns: du sollst mich ehren im Andern, du sollst den Andern schützen, ihn nicht verstören oder gar zerstören, weil in ihm ich das Leben wirke und schaffe; die Nächstenliebe aber spricht zum Ich: liebe deinen Nächsten, weil zu lieben der eigentliche, ja der einzige Zweck unseres Seins auf Erden ist. Die eine Lehre, die vom Nächstenschutz, wendet sich an den Wirkenden, Schaffenden, daß er das Wirken und Schaffen auch im Anderen hüte und fördere, nicht um des Anderen willen, sondern um des Schaffens willen. Die andere Lehre, die von der Nächstenliebe, will vom Ich, daß es den Nächsten liebe um des Liebens willen. Und in Wahrheit fordert die eine, die die Gläubigen immer als die irdische herabsetzen werden, die Lehre vom Nächstenschutz, ein neues Sich-Spannen des Ichs im Dienst des Lebens, in Werk und Tat, die andere, die sie als die höhere, reinere rühmen, will vom Ich im Grunde nur ein Genießen seiner selbst, wenn auch in seinem feinsten und zärtlichsten Genuß, im Genuß der seelischen Liebe. Und so erweist sich zuletzt der Nächstenschutz als dem schaffenden Ich, die Nächstenliebe als dem genießenden Ich verbunden. Der eine wendet sich an unser schöpferisches oder doch auf Wirken gestelltes Tun, die andere an unser genießendes Gefühl. Die Jesusfolger, die immerdar im Gefühl sich ersättigen und alle Kraft des Ichs um des Gefühles willen 132

gering achten und opfern, werden ihre Lehre als die sittlich höhere preisen; die aber dem Leben dienen wollen, werden dies Lob der ihren zuteilen wollen. Die beiden Heerscharen, die sich gegenüberstehen, werden schwerlich je sich einigen oder auch nur verständigen ; aber in dem einen werden sie zusammenkommen : daß sie nach Ursprung und Gesinnung ihrer L e h r e weit voneinander geschieden sind. Und noch die W i r k u n g beider Lehren wird, auch da wo sie gleiche oder doch ähnliche Wege einschlagen, in der W a h l ihrer Mittel wie in der Setzung ihrer Ziele sich wesentlich unterscheiden. Dem vom Gefühl Überwältigten wird in seiner Liebe zum Andern alles daran gelegen sein, dem so Geliebten Liebes, das ist, ihm, dem Andern, Liebes, zu erweisen. Der aber i m Andern das Leben und seine wirkenden, schaffenden Zwecke hüten und fördern will, er wird gar nicht aus seinem Fühlen dem Fühlen des Andern dienen wollen, sondern er wird nur dessen Kraft, sein Wirken, sein Schaffen im Auge haben; er wird im Andern nicht einen Inhaber der leidenden oder nach Geliebtwerden durstigen Gefühlskraft sehen und fördern wollen, sondern einen Inhaber von wirkender, schaffender Kraft, einen Diener am Leben, soweit es selbst Kraft ist. Wer dürfte, wer wollte daran zweifeln, daß von der innersten Grundstimmung ab bis zur letzten und feinsten Ausformung des Wirkens das eine Tun sich weit vom anderen unterscheiden wird. Das eine wird ganz Fühlen für gefühlte Not, für fühlendes Geliebtseinwollen, das andere wird klares Denken, feste Tat für einen Wirkenden, einen Schaffenden sein. Die eine Handlungsweise, die der Nächstenliebe, wird den Andern

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bevorzugen, der die höchste Not leidet; der Nächstenschutz aber wird demjenigen zuerst Hilfe zuwenden, der dem Leben in Tat und Geist am besten zu dienen Aussicht gibt. Der Nächstenliebe werden die Elendsten, dem Nächstenschutz die Stärksten unter den Hilfsbedürftigen am nächsten sein. Die Nächstenliebe wird das Bedürfnis ihres eigenen Ichs nach den Wonnen des Liebens befriedigen wollen, der Nächstenschutz aber wird mit Denken und Handeln an dem Andern die Zwecke des Lebens fördern wollen, weil ihm nächst dem eigenen Schaffen und Wirken das Leben zu fördern die eine, höchste Freude ist, wahrlich auch sie schöpferisch und bauend genug.

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DER W I L L E DER W E L T ALS E R L E B N I S

WAHRHEIT

DIE

WAHRHEIT

UND D E R

GLAUBEN

Wahrheit — scheinbar die einfachste der Forderungen auf cen Tafeln aller Sittengesetzgeber und doch nicht eine der schwersten n u r , ihr gerecht zu werden, nein auch eine der vielgestaltetsten, der vielgefaltetsten. Was lehrt uns unser Aller höchste Meisterin, die Wirklichkeit der Welt? Ganz sicherlich n u r die Wahrheit

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und nie ein Anderes als die Wahrheit. Die Wirklichkeit der Welt lügt nie, denn sie geschieht. Und Ge schehen ist die einzige Sprache, die keine Lüge kennt. Selbst der Mensch, der die Lüge erfand, lügt am seltensten und am schlechtesten durch die Tat. Die Tiere lügen, denn sie kennen und üben die List. Aber ihre Lüge ist unschuldig, noch vor der Schuld. Denn niemals haben sie unter sich Gesetze gemacht, welche ihnen die Lüge verboten. So tat erst der Mensch: zuerst log er, auch er noch unschuldig, vor den Geboten. Dann verbot er sich und seinen Nächsten die Lüge und log fortan als ein Schuldiger. Aber gibt es außer der Welt irgendeine Gewalt, sei es auf Erden, sei es über der Erde, auf deren Geheiß wir der Wahrheit dienen, Wahrheit sprechen sollen? Keine. Die Heiligen sagen uns: Gott ist die Wahrheit; aber sie können mit diesem Wort nur dann die Wahrheit sagen, wenn sie Gott zum Bild und Zeichen der Welt machen. Denn die Welt ist die Wahrheit, der Wille der Welt will die Wahrheit. Aber nicht allzu oft und nicht allzu sicher sollten die Priester von der Wahrheit als einem Gebot ihrer Götter oder ihres Gottes reden. Denn nichts ist öfter unwahr gescholten, als die Verkündigungen vom Dasein der Götter, vom Willen der Götter. So viele Götter auf Erden verkündet worden sind, so viele Botschaften des Glaubens sind als Lügen gegeißelt worden. All«; Priesterschaften haben sich unter einander Lügner geheißen. Kein Glauben auf Erden ist so hoch, daß nicht in seinem Namen und über sein Werk selbst tausendmal tausend Lügen gelogen worden sind. Und eben die

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Verkündigungen der höchsten von ihnen sind am öftersten neu gedeutet und umgedeutet worden. Und keine der Deutungen ist nicht von allen andern als Umbiegung, Umlügung angeklagt worden. Eis gibt kein Werk sterblicher Menschen, das mehr als das des Glaubens die uralte Zweifelsfrage aufruft: Was ist Wahrheit? Am zweifelhaftesten, am fragwürdigsten sind die Anfänge des Glaubens. Denn kein Glaube ist verkündet worden, als von Glaubensformern, als von Priestern. Und jeder Glaube hat von sich ausgesagt: mich verkündet nicht der Priester, mich verkündet der Gott. Aller Glauben sagt von sich: ich bin die Wahrheit. Aber da Glauben hierin ganz wahrhaft ist, daß er sich Glauben und nicht Wissen nennt, so kann er nur eine Wahrheit verkünden, die nicht gewußt werden kann. Gott selbst kann nur geglaubt, kann niemals gewußt werden. So also nennt Glauben sich selbst nur ungewußte, nicht wißbare Wahrheit. So dürfen wir, die wir uns verbunden haben, nur Gewußtheit, Wißbarkeit, das ist Wissenschaft, Wahrheit zu nennen, dem Glauben nicht zugestehen, daß er die Wahrheit sagt, die unsere Wahrheit ist. Kein Wille Gottes oder von Göttern kann uns Wahrheit befehlen, aber der Wille der Welt will von uns Wahrheit. So werden nicht die Anbeter Gottes oder der Götter nur, nein auch die Anbeter des Geistes, die Anbeter der Denkbilder uns schelten und werden uns sagen: seid ihr nicht neue Priester nur, die ihr als Willen der Welt verkündet, was nur euer eigener Wille und im besten Fall der gute Wille eures schwachen Geistes ist.

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Darauf aber werden wir sagen: der Wille der Welt ist ein anderer als der Wille aller Götter, deren Wille je verkündet worden ist. Der Wille aller Götter konnte nur geglaubt werden; aber der Wille der Welt kann gewußt werden. Der Wille der Welt muß wohl gedeutet werden, aber er ist immer nur erlauscht, erhorcht, ersehen worden. Er ist nie nur als Gebild des Geistes erahnt und gebildet worden, wie jeder Glaube als Gebild des Geistes erahnt und gebildet wurde. Die Anbeter des Geistes werden sagen: was ihr für Bilder der Welt ausgebt, das sind nicht Wirklichkeiten, wie ihr wähnt, sondern das sind Denkbilder. Darauf aber werden wir sagen: hier verletzt ihr unsere Demut, unsere Frömmigkeit. Nie werden wir zugestehen, daß die Bilder, in denen wir die Welt sehen, uns von einer anderen Gewalt eingegeben wurden, als von dem Geschehen der Welt selbst. Wo unser Geist sie aufnahm, war er das Werkzeug der Welt. Und aus Bild und Werkzeug der Welt konnte nie etwas anderes entstehen als die Spiegelung der Wirklichkeit der Welt. Und die Summe und der Inbegriff dieser Wirklichkeit der Welt heißt uns der Wille der Welt.

MENSCHEN UND W A H R H E I T Doch nicht allein Götter oder Priester und Prediger von Göttern haben von der Zunge des Menschen gefordert, daß sie Wahrheit spreche, nein auch Menschen. Hohe gebietende Menschen, weise Menschen haben dies Gebot erlassen. Aber kein Ansehen der Väter, gleichviel ob sie aus eigener Sendung oder für göttliche Auftraggeber geredet haben, wird schwer ge140

n u g wiegen, uns ihren Regeln zu fügen. Unsere Fügsamkeit verlangt nach tieferen Wurzeln. Wir sind nicht Kinder, denen der aufgehobene Finger ihres Zuchtmeisters genügt, nach seiner Weisung zu handeln. Mißtrauische Hörer aller Gebote, forschen wir zunächst i m m e r d a r nach ihrem Ursprung, ihrem Zweck. Ein eingeborener D r a n g oder Zwang, die Wahrheit zu sagen, ist in der Menschen Seele nicht gelegt. Das Kind, das lügt, errötet wohl, aber es errötet, weil es sich scheut ein Gebot zu übertreten. D e r Urmensch spricht als Freund die Wahrheit, spricht als Feind die L ü g e und mischt also, gleichzeitig, beide. Weit eher hat unsere Natur uns den Zwang zur Lüge auferlegt: sie fordert sie von uns, wenn Not uns bedrängt. Jedes Sittengebot ist den f r ü h e n Menschen von der Gemeinschaft auferlegt; doch wahrlich nur zum Nutzen ihrer selbst, nicht u m den Einzelnen zu einer zweckfreien T u g e n d zu erziehen. Urzeitmenschen haben zur gleichen Zeit, als sie ihre Knaben lehrten, ihren Nächsten die W a h r h e i t zu sagen, diese selben Knaben mit der härtesten Zucht dazu erzogen, dem Feind in der Gefangenschaft die Lüge und nichts als die Lüge zu sagen. Erst die Sittengesetze, die als höchstes Gebot den Dienst a m Andern heischen, haben die W a h r h e i t u m ihrer selbst willen fordern können. Aber noch heute sprechen die Gesetzgeber der Sittlichkeit, die den Einzelnen diese Pflicht auferlegen, die Gemeinschaften, die Staaten von ihr frei und gewähren ihnen jedes Recht zur Lüge. Doch auch die Satzung, die sich von solchen Widersprüchen frei macht, weiß uns keinen andern Beweggrund zu geben als unsere Pflicht, d e m Nutzen des Andern, d e m Nutzen der Gemeinschaft zu dienen. Sie 141

sagt damit genug, daß wir uns ihrer Forderung fügen; sie sagt damit zu wenig, um einen festen Bau von sittlicher Erkenntnis, sittlicher Forderung auf so schmalem Grund zu errichten. Und doch erscheint uns Wahrheit als ein so köstliches Gut, daß wir es unter die sicherste Hut stellen möchten. Wer den leitenden Faden sucht, der aus diesem Wirrsal führt, dein möchte schon dienlich sein, wenn er den inneren Ursprung des Wahrheitsgebotes erkennt. Diese Forderung des Sittengesetzes an das Leben erscheint uns als eine der sittlichsten, denn sie ist dann, wenn sie sich zu ihrer letzten Höhe erhoben und alle Grenzen und Schranken überwunden hat, wahrlich eigens zweckbefreit und scheint wirklich von uns Tugend um der Tugend willen zu verlangen. Und doch ist von keiner Sittenregel so gewiß, daß der innere Silin ihrer Entstehung weit von irgendwelcher sittlichen Absicht, weit von allen Entscheidungen über Gut und Böse entfernt war. Die Notwendigkeit, die Wahrheit zu vernehmen, hat sich nicht dem sittlich handelnden Menschen geoffenbart, das ist dem Menschen, von dem eine Entscheidung darüber gefordert wird, ob er dem Andern oder der Gemeinschaft nützeh oder schaden soll, sondern dem wirkenden Menschen, der Dinge oder Menschen im Dienst des Lebens fügen oder lenken will. So war es schon im frühesten Morgendämmer der Zeiten: keine Hütte konnte errichtet, kein Lager abgesteckt, keine Fehde geführt, keine Bootfahrt unternommen, keine Horde gegründet, keine Sippe aufrecht erhalten werden, es sei denn, daß die sich zu solchen Werken verbanden, sich auf die Wahrheit dessen, was sie zu diesem Zweck untereinander sprachen, ver142

lassen konnten. Kein Wirken ist regelrecht und zielsicher zu denken, es sei denn der Wirklichkeit angepaßt und Untertan. Und n u r W a h r h e i t sagt Wirklichkeit aus. So w u r d e die Lüge den Menschen verhaßt als Untauglichkeit, lange Zeit ehe sie sie zur Untugend stempelten. Und n u r weil Wahrheit dem Wirken dient, m u ß t e die Wahrhaftigkeit, losgelöst von den besonderen Zwecken des Wirkens, Wahrhaftigkeit also an sich, Wahrhaftigkeit also als Tugend, gefordert werden, den Kindern, den Knaben und Mädchen, den Jünglingen und den J u n g f r a u e n anerzogen werden, den Männern und Frauen innerhalb der Gemeinschaft als Gesetz auferlegt werden. Gilt von der Entstehung des Gebotes der Wahrheit, daß es u m seines außersittlichen Wertes willen als ein außersittliches Gesetz des Lebens geschaffen ist, so gilt das gleiche im tiefsten Kern des Geschehens von der Aufrechterhaltung und der Durchsetzung des Gebotes der W a h r h e i t heute und f ü r alle Zeit. Weil Wahrheit allein dem Wirken dient, m u ß Wahrhaftigkeit gefordert werden, nicht weil sie Tugend ist oder sittlich ist oder dem Andern dient und das Ich überwindet. Kein Kind kann an Leib u n d Seele gedeihen und wachsen, es sei denn, daß seine Eltern i h m die Wahrheit sagen und das Kind den E l t e r n ; keine Freundschaft kann als echter Bund erhalten werden, keine Ehe kann zu vollem Leben entfaltet werden, es sei denn durch Wahrheit. Denn nur in dem hellen Lichte voller Kenntnis vom Wesen des Andern kann jeder Teilhaber an diesen Banden und Bünden ihren Sinn und Zweck zur vollen W i r k u n g bringen. Selbst die am meisten von H3

Lüge befleckten Lebensbezirke, die des Handels und allerWirtschaft, die der auswärtigen Staatskunst würden sonder allen Zweifel dann, wenn sie ohne jeden Rest der Wahrheit Untertan gemacht würden, für ihre Lebensabsichten, ihre innersten Zwecke erst in vollem Ausmaß fruchtbar gemacht werden.

W E L T UND W A H R H E I T Will Wirken Wahrheit und lehrt uns das Leben, unser Leben selbst schon diese Erkenntnis, so offenbart sich das Gebot der Wahrheit als eines, das dem Ich dient, dem Ich zuerst. Denn daß der Wille der Welt von unserem Tun nichts dringender fordert als Wirken, als Schaffen, gilt auch hier. Dient Wahrheit auch dem Du, auch den Andern, so ist es recht, weil unser Wirken, unser Schaffen immer und ausnahmslos den Andern dient. Aber auch dieses Gebot hat nicht Wert noch Wucht, nur weil es den Andern dient. Will Wirken Wahrheit, so offenbart sich das Gebot der Wahrheit als ein Ausfluß des Willens der Welt im Bezirk des Lebens, das an uns geschieht. Dann ist Wahrheit ein Befehl des Willens der Welt, der unmittelbar an uns ergeht, durch unser Ich und durch unser Tun, das ein Teil, das unser Teil ist am Geschehen der Welt. Denn unser Tun ist Geschehen, ist Geschehen der Welt an uns, in uns, durch uns. Will Wirken Wahrheit, so erfährt das Gebot der Wahrheit keine stärkere Bestätigung als durch den Willen der Welt, der sich uns als Bild der Welt offenbart. Denn das Geschehen der Welt ist Wahrheit. Es ist Wahrheit, weil es stets Wirklichkeit ist. Geschehen ist I44

stets wahr, kann nie trügen noch lügen, weil Geschehen stets es selbst ist und nie seine Maske, weil Geschehen stets mit sich selbst eins ist, weil Geschehen stets das wahre Kind seiner Vergangenheit ist, weil Geschehen stets der wahre Vater seiner Zukunft ist. Die Welt ist wahr; erst der Mensch hat die Lüge erfunden. Aber, so werden die Anbeter des Geistes und die Anbeter der Denkbilder sagen: wie sprichst du Narr von einer Wahrheit der Welt, da die Welt ja nie wahr oder unwahr sein kann, da Wahrheit nur ein Besitz bewußter und dazu noch sittlich urteilender Wesen sein kann, da die Welt weder Bewußtsein noch Urteil hat. Ich aber sage hierauf: ganz wohl, ihr meine Gegner und Freunde; doch wenn ich sage, die Welt ist Wahrheit, so meint dies Wort gewißlich nur dieses: die Welt ist so völlig mit sich eins, die Welt ist so eng und streng zum Ganzen geschlossen, die Welt geschieht so folgerichtig, daß uns, ihren bewußten, uns, ihren urteilenden Betrachtern von ihr ein Vorbild gegeben ist, daß wir stets mit uns eins, stets mit unserm Wesen zum Ganzen geschlossen und daß unser Handeln stets folgerichtig sein soll. Und so sein, heißt Wahrheit sein, heißt Wahrheit handeln, Wahrheit sagen. Können denn Sterne lügen? Ein Komet verläßt den Ort, da er unserer Erde sichtbar war, um erst nach einem Jahrhundert wieder zurückzukehren; Hunderte von Millionen von Meilen Wegs hat er zu durcheilen, aber er wird an unseren Horizonten wieder nicht zum Jahr, zum Monat, zum Tage nur, nein zur Stunde, zur Minute, zur Sekunde genau erscheinen. Von den zweiundzwanzig Billionen Zellen, aus denen unser Leib besteht, wird so lang sein und unser Leben dauert, keine wider das Gesetz, nach dem sie angetreten, auch 10

Breysig

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n u r i m leisesten verstoßen. Und von den Millionen und aber Millionen Elektronen, aus denen jede dieser Zellen besteht, wird keines den dahinrasenden, dahinrollenden Lauf, den es im Planetengefüge seines Atoms, dreitausend Kilometer in der Sekunde, zurücklegt, je u m das Tausendstel einer Sekunde beschleunigen oder verlangsamen, noch wird es je seine Bahn u m das Tausendstel eines Millimeters verschieben, und nicht f ü r das Zwergenmaß der Lebensdauer jener Zelle, unseres Leibes, nein f ü r alle die Jahrmillionen, die sein Atom schon bestehen mag. Nicht Sterne, nicht Elektronen vermögen d e m Gesetz ihres Laufes, der Richtung ihrer Bahn u n t r e u zu werden bis in alle Ewigkeiten ihres Daseins hin. Und so ist die Welt wahr, so ist das Geschehen der Welt sich selbst treu, wie sollte der Wille der Welt anderes von uns wollen als Wahrheit.

WERK UND

WAHRHEIT

So spricht der Wille der Welt zu mir Menschen: sieh mich an, ich baue mich vor deinen Augen auf als einen Palast aus Quadern der Wahrheit. Mein Geschehen t r ü g t nie, denn es widerspricht sich nie, m e i n Geschehen t r ü g t nie, denn es n i m m t sich nie zurück, mein Geschehen t r ü g t nie, denn es wählt stets den kürzesten W e g zu seinem Ziel. So spricht der Wille der Welt zu mir Menschen: ist mein höchstes, mein erstes, mein letztes Gebot an dich, daß du wirken, daß du schaffen sollst, wie d u mich beständig wirken und schaffen siehst, so darf dir f ü r

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dein Wirkon, für dein Schaffen keine andere Regel oder Richtschnur dienen, als die du mich befolgen siehst. So spricht der W i l l e der Welt zu mir Menschen: ich verlange nicht von dir Wahrheit, wie die Gesetzgeber des alten Glaubens und der alten Tafeln, daß du mit deiner Wahrheit besser dem Andern und seinem Vorteil dienest. Ich verlange nicht nur von dir Wahrheit, weil du als Wahrer ein recht Wirkender, ein recht Schaffender bist. Ich verlange auch von dir Wahrheit, weil du als Wahrer allein Werke schaffen und Werke wirken kannst, wie ich, die Welt, sie dir vorwirke und vorschaffe. W a r u m lügen Menschen? Weil ihnen zu der Stunde, da sie sprechen sollen, die Lüge leichter fällt als die Wahrheit; oder sie lügen, weil ihnen die Lüge zur Stunde mehr Vorteil bringt als die Wahrheit. Sie achten nicht, daß sie handeln wie ein Baumeister handeln würde, der, um für sein Bauwerk leichter Steine oder billigere Steine zu gewinnen, schlechte und bröcklige Steine erwürbe und sie in sein Haus verbaute. Schon in der frühesten Kinderzeit der Menschheit, als sie erst eben begann, Werke zu tun, hat sie diese Einsicht gewonnen. daß solches Handeln töricht sei und dem Zweck jedes Bauens zuwider. Und doch lügen die Menschen, wissend zwar, daß jeder bröcklige Stein, den sie in den Bau des Werkes der Menschheit fügen, diesem Bau schaden muß, aber wähnend, daß ihr kleiner Vorteil, den sie zur Stunde gewinnen, wichtiger sei als der zukünftige Schaden, den sie dem Werke tun. So irrig denken nur die Törichtsten von den Menschen, daß, weil ihnen fürs erste gelingt, den brüchigen Stein zu verbergen, er niemals schaden werde. Denn das

wisse doch noch der Kleinste unter uns kleinen Menschen, daß kein Ding, das er tut, und möge es noch so niedrig und gering sein, nicht ein Teil des Werkes der Menschheit und des Werkes der Welt ist, und daß jeder Schaden, der getan wird, ein Schaden ist für das Werk der Menschheit, das Werk der Welt. Und darum spricht der Wille der Welt zu mir Menschen: siehe mein Werk, in das ich, seit Menschenaugen es sahen, nie einen brüchigen Stein mauerte, nie eine Quader fügte, die nicht Wahrheit war, und eifere ihm nach. Du erfüllst mein Gebot, ein Wirkender, ein Schaffender zu sein, nur dann, wenn du ein rechtes Werk schaffst, wenn du an rechten Werken wirkst. So sei wahr, um deiner Sendung willen ein Schaffender und ein Wirkender zu sein, und sei wahr, weil du nur aus Wahrheiten Werke baust wie die, die ich dein Bildner, wie der Wille der Welt sie dir von je als Vorbild schuf.

W A H R H E I T UND W I S S E N S C H A F T Ist die Wirklichkeit der Welt die vollste Wahrheit, ist der Wille der Welt an uns, daß wir diese ihre Wahrheit teilen, dann ist Wissenschaft das heiligste Amt an der Wahrheit und am Menschen. Denn Wissenschaft will, soll und darf die Wahrheit der Welt in ihrem Bild nur so wahr als in ihren Kräften steht widerspiegeln. Es gibt unter den Werkeil der Menschen keines, das hehrer, heiliger ist als das der Wissenschaft. Doppelter Sendung kann sich die Wissenschaft rühmen im Dienst der Wahrheit. Einmal ist ihr zuteil geworX48

den das Amt auszuüben, das der Menschheit selbst im Geschehen der Welt als ihr höchster Auftrag wurde: die Welt zu erkennen. Denn was Neueres, was Größeres wurde denn durch das Geschehen Menschheit in dem weiteren Geschehen Welt geschaffen, als daß die Welt in einem ihrer Teile, in diesem begnadetsten ihrer Teile sich selbst erkannte. Der Stern Erde schlug sein Auge auf, sah um sich und erkannte ringsum die Welt. In der Menschheit wurde die Welt ihrer selbst bewußt, da sie zuvor zwar immerdar schon war, immerdar schon geschah, aber ganz unbewußt ihrer selbst. Nicht ist uns gegeben zu wissen, ob nicht von jener Sternen-Milliarde, die unsern Sternhauf ausmacht, tausende oder zehntausende von einem Wandelstern umkreist werden, auf dem sich Gleiches oder Ähnliches zuträgt, noch können wir sagen, ob nicht in den unzählbaren andern Sternhaufen, die kaum sichtbar die fernsten Räume unseres Himmels durcheilen, unzählbar oder wirklich unendlich oft das gleiche oder ein ähnliches Schauspiel sich abrollt; aber dadurch würde das Wunder der Welt, das an uns sich vollzieht, nicht um Haaresbreite geringer. Noch wäre uns dadurch verboten zu sagen, daß die Welt durch uns wissend wurde. Wahrlich, das Geschehen Menschheit ist im Geschehen der Welt ein Funkelfeuer, ein glitzerndes, schimmerndes, strahlendes Abenteuer, ganz einzig und ohnegleichen. So brennend wurde an einem Punkte die Welt, daß ein Feuer aufloderte, heißer, flammender, leuchtender als irgendein glühender Sonnenstern. Die Tat wurde hier, ein Geschehen, wahrlich nicht befreit vom Zwang des Weltgesetzes, und dennoch gelockert von mancher Fessel, freier im Wählen ihres Wegs als 149

irgendein Wirken von Dingen und Wesen in unserer Welt. Das Gebild wurde hier, das Werk des wachen und schaffenden Traums, den die Menschen Kunst geheißen haben. Aber kein Tun unseres Geschlechtes hat für das Weltgeschehen selbst Bedeutung, ist selbst ganz volles Weltgeschehen, es sei denn das Werk der Wissenschaft, weil in ihm die Welt um sich wissend wurde. War die Menschheit ein Feuer, in dem sich ein Lodern der Welt vollzog, so war die Wissenschaft die Fackel, mit der das Feuer in den Raum der Welt leuchtete. Wahrlich, alles äußere Wirken der Menschheit, ihre Tat, ihr Gebild, war nur ihr selbst zugewandt; ihr Wissen aber galt der Welt. Ihr Tun, ihr Bilden schuf Gaben, die sie sich selbst gab, ihr Wissen aber gab sie der Welt zurück, das einzige Geschenk, die einzige Gegengift für alles, was die Welt ihr an unermeßlichen Reichtümern zuerst gespendet hatte. So ist die Wissenschaft das weltischste, das weltfrömmste, aber auch das weltstolzeste Tun unseres Geschlechts geworden und der Forscher wurde der Inhaber des höchsten Amtes der Menschheit. Aber nur dann kann er diese ihre, diese seine Sendung recht erfüllen, wenn er dem Willen der Welt, der von uns Wahrheit heischt, sich ganz ergibt. Nicht ab ob es ihm je gelingen könnte, die ganze Wahrheit der Welt zu wissen; aber ihm ist geboten, jede Fiber seines Körpers anzuspannen, um zu dem Maß von Wissen und das ist von Wahrheit zu gelangen, das zu erobern ihm nach seinen Kräften verstattet ist. Kein Wissender freilich wird ohne eine Mischung von Rührung und leisem Spott die Wahrheit als Ziel und Gegenstand menschlicher Wissenschaft bezeichnen hören. Denn es gibt keine Form forscherlichen Mühens, 150

die nicht die mannigfaltigsten Zeugnisse d a f ü r ablegte, daß die alte, ach so weise Frage des milden Zweiflers: Was ist Wahrheit, von keinem menschlichen Behaupten m i t so viel Recht gilt, als von d e m der Wissenschaft. Zwei Mängel sind es, an denen sich vornehmlich der Sinn derer stößt, die von der Wissenschaft n u r zu n e h m e n begehren und die nach nichts m e h r dürsten als nach Gewißheit, nach einer Antwort auf ihre Fragen, die sich als frei von allem Zweifeln u n d als unabänderlich zu geben vermag. Alle, die solches von der Forschung heischen, müssen von ihr zur Antwort hören, daß sie keinen, schlechthin keinen Tatbestand überliefern kann, der nicht im Ganzen wie im einzelnen ungewiß wäre. Und sie müssen ferner v e r n e h m e n , daß es kein Ergebnis menschlicher Forschung gebe, das nicht nach zehn, nach fünfzig oder nach h u n d e r t Jahren der Verbesserung oder Veränderung, ja der völligen Widerlegung ausgesetzt sei. Allein die Wissenschaft, die so bedenkliche Auskunft geben m u ß , getröstet sich, daß, was den Fragenden als Mangel und Schwäche erscheint, dem Wissenden Reicht u m u n d Glück bedeutet. Wissenschaft ist die Schaffung eines Lichtkreises in die Tiefen des Raumes und der Zeiten des Weltgeschehens hinein. Aber die Grenzen dieses Lichtkreises sind n u r allzu eng gezogen, jenseits von ihnen zieht sich noch ein schmaler Gürtel von D ä m m e r u n g und Zwielicht, darüber hinaus aber herrscht die dunkle Nacht gänzlichen Nichtwissens. Das Werk der Wissenschaft besteht in d e m beständigen Ringen u m die Erweiterung des Lichtkreises im Kampf gegen D ä m m e r u n g u n d Dunkel. Und wenn wir Forscher die innerste W a h r -

heit unserer Herzen offenbaren sollten, wir müßten gestehen, daß uns kein größeres Unheil widerfahren könnte, als wenn das Insgesamt des Geschehens der Welt mit einem Schlage aufgehellt, sonnenklar und problemlos vor uns läge. Weil wir noch immer wie der tapfere Kämpfer von damals das Streben nach Erkenntnis mehr lieben als die Erkenntnis selbst, so lieben wir noch die Schranken, die Begrenztheiten, die Bedingtheiten, noch die Fragwürdigkeiten unseres Tuns. Weltf r o m m müssen wir den Willen der Welt an uns auch da lieben, wo er uns die Preise und die Ziele unseres Strebens f ü r immer entzieht. Ingleichen aber müssen wir Forscher den beständigen Wandel der Wissenschaft und ihrer Entscheidungen ihr nicht n u r nicht zum Vorwurf, nein zum R u h m e rechnen. D e n n so war es all die Jahrtausende schon, daß Menschen und Völker Wissen h ä u f t e n : jedes neue Was ihres Erkennens änderte am d e m überkommenen Erbgut, u n d jedes neue Wie ihres Forschens änderte gar das Werkzeug ihrer Arbeit. Jede Änderung an Was und Wie der Wissenschaft war wohl Widerlegung alter, i m m e r aber auch Erringung neuer Erkenntnisse. Und so ist Wissenschaft allen Mängeln, allen Gebrechen zum Trotz die berufene Hüterin der Wahrheit.

DIE FORDERUNG DER

WELT

Der Wille der Welt ist Wahrheit. Kein Geschehen i m außerlebendigen Reich der Natur weiß von Lüge. Das T u n der Dinge ist zu stark, zu voll in sich gesättigt, u m irgendeine Täuschung zu vollziehen. Das Ge152

schehen in der außermenschlichen, außertierischen Welt kennt keine Maske, nicht einmal einen Umweg. Eines ihrer eisernsten Gebote ist, daß jeder Vollzug ihres Willens mit dem geringsten Aufwand von Kraft, also auf dem kürzesten Wege, vorzunehmen ist: sie verfährt nie anders als nach dem Grundsatz der kleinsten Wirkung. Ihr Tun geht, gleichviel ob es bauend oder zerstörend, hemmend oder fördernd ist, unmittelbar auf sein Ziel los; es verschmäht die Täuschung. Die Wirklichkeit ist immer wahr. Erst das Tier hat die Lüge der List erfunden; der Mensch hat sie zu einem Werkzeug seines Lebens gemacht, dem er tausend Gestalten zu geben wußte. Er glaubt weder den Kampf der Kriege noch die Tat des Staates ohne Lüge ausüben zu können. Er verachtet die List des Händlers, aber er billigt sie ihm zu. Er erfüllt den Alltag mit kleinen Lügen und schändet das Geschehen der Liebe mit tausend geringen Listen. Vergeblich müht sich die Lehre der alten Tafeln, die nur von dem Gebot der Liebe zum Anderen wissen, dem Ich die Waffe der List zu entreißen, an die es aus jahrtausendealtem Brauch gewöhnt ist. Das Ich liebt es zu lügen, denn Lügen ist bequem, Lügen ist furchtsam, Lügen scheint klug, Lügen verschafft leicht und schnell den nächsten Vorteil. Solange das Ich bei dem Wahn verharrt, daß es einen großen Nutzen preisgebe, wenn es auf das Recht zur Lüge verzichtet, so lange wird es nicht möglich sein, dem Reich der Lüge Boden abzugewinnen. Und doch ruft uns der Wille der Welt mit eherner Stimme zu: mein Wirken ist wahr, meine Wirklichkeit ist wahr, so sei auch dein Wirken wahr, willst 153

du mit ihm die beste Wirklichkeit schaffen. Das Ich, das sich selbst und sein Werk schädigen will, das lüge. Das Ich, das sich selbst dienen will, sei wahr. Mehr ab eine Verteidigungsrede für die Lüge ist schon gehalten worden; noch mehr sind möglich. Die eine liegt den Klugen des Geistes eigens nah. Sie macht geltend, wie starke und wie feine Werkzeuge des Verstandes aufgeboten werden können, nicht selten aufgeboten werden müssen, um die Maske einer Lüge wirklich undurchdringlich zu machen. Es ist, als gelte es das mittelalterliche Fechterspiel des Geistes, angewandt auf das Leben, vor allzu derber Sittlichkeit zu retten. Eine andere Reihe von Beweisgründen zugunsten der Lüge mag den Notlagen abgewonnen sein, die dann entstehen, wenn in irgendwelchen nahen Lebensverhältnissen ein plumper starker und ein feiner schwacher Partner sich zusammenfinden, etwa in Liebes-, etwa in Ehebünden. Soll hier in den Streitfällen von Treue und Untreue der Teil, der nur durch Willen stark, dem Wesen und dem Werte nach um Vieles geringer ist, immer obsiegen über den Reichen, Schwachen, weil er beständig den Knüttel des Lügenverbotes schwingt und dazu dann alle Zudringlichkeiten und Inquisitorlisten seiner Verhöre spielen läßt? Und dies alles geschieht im Namen einer höheren Sittlichkeit, während in Wahrheit nur das eine Ich zu seinen Gunsten für den Lebenskampf die ihm besser dienliche Waffe gegen das andere Ich wählt. Dies ist so, und die geistigen oder seelischen Einbußen, die hier erlitten werden, dürfen nicht in Abrede gestellt werden, und doch ist das allgemeine Gut, für das sie zum Opfer gebracht werden müssen, um ein Vielfaches wertvoller. Und noch von jedem Verlust, !54

der im einzelnen Lebensverhältnis das einzelne Ich trifft, läßt sich nachweisen, daß der Anteil, den dies Ich in diesem Verhältnis ein dem großen Gewinn der Gesamtheit hat, größer ist als seine Einbußen. Es sind jene beiden Engigkeiten des sittlichen Sehens, die sich hier in das Blickfeld drängen und es umschränken: die Vorstellung, daß nur das Sittengebot im Recht sei, das den Anderen gegen das Ich schütze, und die zweite, daß es möglich sei, eine Sittlichkeit allein aus der Sittlichkeit aufzubauen, da sie doch nur im Zusammenhang, im engsten und weitesten Zusammenhang mit allen Dingen des Lebens, ja des Insgesamts der Welt und alles ihres Geschehens gefunden werden kann. Was soll dem Ich ein Verbot der Lüge, weil sie dem Anderen schade, wenn es den Einwand erheben kann: aber mir nützt sie. Wirksam kann es doch nur überredet werden, wenn es davon überzeugt wird, daß sein eigener Nutzen — wenngleich vielleicht nicht im gemeinen Sinn •— auf dem Spiel steht. Und wiederum vermag uns nur der Willen der Welt, wie er nur aus jener Weite des ganzen Weltgeschehens uns aufsteigen kann, diese Überzeugung einzuflößen. Es ist ein sehr einfacher Gedanke, der diese Hinleitung an uns vorzunehmen vermag. Wenn wir innewerden, daß der allgemeinste Wesenszug und zugleich die tiefste Wucht alles Weltgeschehens durch die eine Eigenschaft bezeugt sind, daß es jede seiner Handlungen auf dem geradesten Wege vollzieht und so mit der äußersten Sparsamkeit an den Mitteln die größten Erfolge in den Wirkungen erzielt, so wird dadurch die Stimme des Willens der Welt laut, die uns mit dröhnendem Hall zuruft: da du Welt bist, so handle auch

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du, wie die Welt handelt, n i m m wie die Sterne i m größten und wie die Urkörper i m kleinsten R a u m i m m e r , so weit d u vermagst, den geradesten W e g , d e n n n u r so wirst du das Gesetz des Weltgeschehens erfüllen, dass immerdar, wie Newton es in seine eisernen Worte kleidete, maximuseffectus, minimo sumptu, der höchste Geschehensertrag mit d e m geringsten A u f w a n d an Geschehensmitteln e r r u n g e n werde. Jede L ü g e von menschlichen Lippen ist Umweg, ist Abirrung vom geraden Lauf des Geschehens: jede U n w a h r h e i t bringt Weiterung, Aufenthalt, L ä h m u n g des an sich geforderten Geschehens hervor. D e n n es schafft da Hülle und Nebel, wo n u r die hellste Klarheit das Geschehen fördern kann. Es läßt unhaltbare, bald sich als brüchig erweisende Notbauten entstehen, wo das innerste Gesetz unseres Bauens wie jedes Weltgeschehens fordert, daß Stein auf Stein und Schicht auf Schicht so fest und so sicher gefügt werde, wie nur in unseren Kräften steht. Die Untrüglichkeit des Geschehens der Welt fordert vom Handeln der Menschen, daß es ohne Falsch, daß es wahr sei. Der Wille der Welt kennt n u r die Sache und das Gedeihen der Sache, also heischt er von uns, daß wir die Sache t u n , daß wir die Sache wollen, und das heißt, daß wir wahr sind. DIE WAHRHEIT

UND

DAS

LEBEN

Wie aber sind die Wirkungen dieses Gebotes auf unser Ich? Kein Zweifel, sie legen i h m Opfer a u f : i m m e r und i m m e r wieder m u ß es einzelne Vorteile, die i h m die L ü g e oder auch n u r die lässige Behandlung der Wahrheit einbringen würde, fahren lassen. Und doch sind

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die Förderungen, die ihm die unbedingte Erfüllung des Wahrheitsgebotes um der Sache willen zuteil werden läßt, sehr viel größer oder zum mindesten sehr viel wertvoller. Zunächst kann die Wahrheit iti diesem Sinn nur einen Nutznießer haben: die Sache selbst. Die Wahrheit um der Sache willen dient zuerst und zuletzt der Sache. Das heißt also den Schaffens-, den Wirkensweisen, die die Menschheit aus der ihr vom Weltgeschehen eingeprägten, in ihr emporgewachsenen Sendung auszuüben unternommen hat. Da aber reckt sich dieser Denkweise ein neuer Widerspruch entgegen; er wird geltend machen: nun wohl, möge auch das Sachgeschehen von Menschenhand auf diesem Wege am wirksamsten gefördert werden, so bleibe doch zweifelhaft, ob auf ihm auch dem Ich, so wie es sein Begehren wolle, wohlgetan werde. Der Frage aber, die im Grunde dieses Zweifels lauert, ist auf diesen Blättern bereits die Antwort gefunden damals, als aller Ichdienst als gerecht erfunden wurde, der an der Welt oder am Ich zu bauen trachtet, und als allem Ichtrieb, der nur genießen will, sehr enge Schranken gezogen wurden. Die Sache, um derentwillen jeder Wahrheit vor jeder Lüge der Vorzug gegeben werden soll, heißt nichts anderes, als was damals Bau an Welt und Menschheit genannt wurde. So erscheint denn gewiß, daß allem dem Ichdrang, der sich im Schaffen, im Wirken ausgibt, und auf den es zuerst und zuletzt ankommt, die Wahrheit dient. Eine Grenze aber zu ziehen zwischen dem Bereich des schaffenden und wirkenden Ichs und dem anderen des Ichs, das nur sein Leben will, geht nimmermehr an. Denn es gibt kein wesentliches r 57

Handeln von Menschen, das nicht Menschen stört oder fordert, verwundet oder heilt, leiden oder gedeihen macht. Auch das genießende Ich kann nicht anders, als eine bauende oder zerstörende Wirkung auf Andere ausüben. Und wenn an diesem Zwieweg, der stets und immerdar vor dem Wandel des Menschen sich auftut, ihm nur der eine Weg zur Rechten, zum Rechte gewiesen ist, der Weg, der ihn Menschen zu bauen, an Menschen zu bauen heißt, so kann ihm als Richtschnur auch auf ihm nur die Weisung wahr zu sein dienen. Und macht er gar seine Entscheidung von der Frage abhängig, ob sie ihm diene zum Bau seines eigenen Ich, so kann sein Entschluß noch weniger schwankend sein. Welchen Eigenschaften dient in unserer Seele die Lüge? Der Schwäche und der Furcht. Und welchen die Wahrheit? Der Stärke und dem Mut. Es gibt keine denkbare Lagerung in Lebensumständen, Lebensschwierigkeiten, Lebensgefahren, für die nicht auf die Dauer der Starke und Mutige besser ausgerüstet ist als der Schwache und Feige. Wohl schmunzeln die Schlauen und die sich zu ducken gewohnt sind und meinen: wir wissen es besser. Und selbst wohlmeinende Richter über Menschentun und Menschenlassen erklären uns: wie weit gehst du in die Irre, da das Leben sogar eine umgekehrte Auslese vornimmt und beständig die scheulos Trügenden obsiegen läßt über die Tapfer-Wahrhaftigen. Sie mögen tausendmal für ein Einzelgeschehen Recht behalten; aber im langen Atemzug, in der breiten Schlachtordnung des Menschheitsgeschehens setzt sich eine Macht durch, die stärker ist als alle Listen und Lügen: es ist die außermoralische Kraft der Wahrheit. 158

Sie obsiegt aus den gleichen Gründen, die das Weltgeschehen seine höchst erfolgreichen Wege beschreiten läßt: u m der Folgerichtigkeit, Geradlinigkeit, Zielstrebigkeit, Kräfteersparnis willen. Kein menschliches T u n war noch bis in die jüngste Vergangenheit so belastet und befleckt von sei es naivem, sei es wirklich hinterlistigem L u g und Trug, wie der Kleinhandel, und er ist heute schon davon zum großen Teil befreit, weil sich die kaufmännische Ehrlichkeit als kaufmännische Klugheit erwiesen hat. Und warum wollte nicht manchem wirtschaftlichen Tun der Gegenwart, das noch recht weit von solcher Reinigung entfernt ist, in absehbarer Zeit das Gleiche widerfahren, und sei es auf dem Wege staatssozialistischer Beaufsichtigung. Selbst die kleinen oder großen Listen der Liebesleute, an sich für das Werktagsgeschehen zwischen Menschen eine der häufigsten und verzweigtesten Formen des Truges, sind im Wandel der Zeiten solcher Reinigungen fähig. Wer die heute reifende Jugend aufmerksam in diesem ihrem Handeln beobachtet, wird ihr nachrühmen dürfen, daß sie beständig am Werke ist, die L ü g e , die in diesen Dingen so oft die Maske schonender Zartheit vor ihr Antlitz drückt, von sich zu drängen. Sie empfindet offenbar, daß Wahrheit stolzer als L ü g e ist, und verschmäht schon aus Stärke die Hilfsmittel mutloser Schwäche. Ist das Doppelte erwiesen, daß Wahrheit stets das Werk und — wie nebenher gesagt sei — auch den berechtigten Vorteil der Anderen fördert und daß sie zudem das Ich zu größerer Stärke, höherem Stolz aufbaut, so wird ihr Anspruch auf Geltung in keine Wege mehr vom Leben her in Frage gestellt.

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Sollten wir Weltgläubigen, Weltfrommen aber um deswillen zögern für den Wert der Wahrheit einzutreten, weil jedes Sittengebot, das die Sache des An deren gegen die Sache des Ich vertritt, zum selben Verdikt gelangen muß? Wie wahnvoll wäre das, da es ja in allen Dingen der Sittlichkeit von je nicht auf die Wirkung, sondern auf die Beweggründe jedes Handelns und also erst recht eines gesetzgeberischen Tuns ankommt. Und fördert das Wahrheitsgebot den Vorteil des Anderen, so wird nach einer Lehre, die dem Ich zu wirken und zu bauen befiehlt, eine solche Wirkung nur gutzuheißen sein; denn an welchem Gegenstand hätte das Ich öfter Amt und Auftrag zu bauen als an dem Anderen. Der Mensch ist zu öftest der Stoff, aus dem der Mensch sein Werk formt. Und immer und ausnahmslos wird der Sinn solchen Wirkens am Anderen dessen Heil und Gedeihen sein. Hier ist kein Gegensatz aufzuspüren, der ein Sittengesetz, das vom Ich ausgeht, um deswillen verhindern könnte Gebote auszusprechen, weil sie den Anderen fördern und also in der Endwirkung mit den Geboten einer Sittenlehre, die zuerst und zuletzt dem Anderen, dem Nächsten dient, zusammentreffen. Die Verschiedenheit der Wege, auf denen beide Gesetzgebungen zu dem ihnen freilich gemeinsamen Ziel gelangen, bleibt heute und in aller Zukunft dennoch bestehen. WAHRHEIT, W E L T G E S C H E H E N UND

LEBEN

Eine höhere Stimme sagt uns, daß alle Sittenlehre, die ihre Maße von der Rechnung und Gegenrechnung des Vorteils für das Ich hier und für den Anderen dort her160

leitet, einige irdische Schlacken an sich hat, die zu tragen uns leicht peinlich werden könnte. Das Ich erscheint uns als zu klein, um zum Träger oder zum Ziel von Geboten gemacht zu werden, deren Gewalt größer sein und deren Ursprung höher sein sollte als dieses Ich. Der Andere aber stellt wahrlich keinen größeren Träger, kein wertvolleres Ziel dar. Es liegt ein tiefer und rein sachlicher Sinn, weit jenseits von den Dingen des Glaubens und der Sittlichkeit, darin, daß die Tafeln der Väter ihren Ursprung auf göttliche Gewalten und göttliche Gestalten zurückführten. Erde und Menschentum erschienen ihnen zu klein, um die Gesetze, die für sie gültig sein sollten, von ihnen selbst herzuleiten. Wer aber wollte den Willen der Welt als Träger und Ursprung des Sittengesetzes anzweifeln oder ihm Kleinheit vorwerfen? Und er ist hoch erhaben über alles jenes Rechnen und Gegenrechnen, das den Sittenlehren vom Ich und denen vom Anderen doch anhaftet, — dem Sittengesetz, das vom Ich herkommt, freilich nur insoweit, als der Mensch sich nicht zum Träger des Weltwillens macht und sein Recht von diesem seinem Amt und Auftrag herleitet. Denn wird er dieser seiner Sendung inne, dann schmelzen beide Sittengebote, das aus dem Ich in ihm emporsteigende und das aus dem Weltgeschehen abzuleitende in eines zusammen und Beider vereinte Stimme ist von unwiderstehlicher Gewalt. Diese einfachste Lehre aber verkündet der dir wie mir in ihrem Geschehen geoffenbarte Wille der W e l t : du mußt wahr sein, weil nur so das Geschehen zwischen Menschen dem gleichen Gesetz unterworfen wird wie das Geschehen der Welt, von dem es doch nur ein Teil, ein sehr kleiner Teil ist. 11

Breysig

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Jede Wahrheit, die zwischen Menschen gilt, fordert das Werk der Menschen, denn sie verbürgt, so weit dies in sterblicher Menschen Kräften steht, die Durchführung der dem Werk zum Ziel gesetzten Absicht. Der Menschen Einsicht in ihr Wirken ist wahrlich gering: die Geschichte der Menschheit hat im Grunde keinen anderen Gegenstand, als diesen Satz zu erweisen. Denn jedes Neuern, jedes Schaffen, jedes Werden durch Menschen hat nie einen anderen Zweck verfolgt, als irgendein Tun oder Denken, das Mängel hatte oder die Menschen zu haben dünkte, abzustellen. So wie Menschen sich selbst sehen, ist ihre Geschichte eine unendliche Kette von Irrtümern und Fehlgriffen. Ist aber Einsicht und Kraft so bedingt und beschränkt, so muß der Wille der Welt, recht ausgelegt, um so gewisser darauf bestehen, daß was immer Menschen unternehmen, um ihrer oberstenSendung, zu tun, zu wirken, zu schaffen, gerecht zu werden, zum wenigsten in aller seiner Reinheit und Rundheit vollendet werde. Daß Wahrheit diese Vollendung allein verbürge, sollte tief in unser Bewußtsein dringen. Noch der kleinste Trug, den der kleinste Krämer an seinem Käufer ausübt, kann eine unabsehbare Kette verderblicher Folgen nach sich ziehen, und der geringste Mangel, mit dem ein Handwerker ein Stück seiner Arbeit aus der Hand gibt, hält den großen Werdegang des Weltgeschehens auf. Es gibt keinen noch so verworrenen Streit zwischen Nachbarn um eine Ackerbreite, aber auch keinen noch so verwickelten Zwist, der je Ursache zu einem Krieg zwischen großen Staaten oder ganzen Mächtegruppen gegeben hat, der nicht durch eine geringe Anspannung des Willens zur Wahrheit bei seinen

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U r h e b e r n zu verhindern gewesen wäre. Die Staatskunst, die das Verhalten von Staaten zu Staaten lenkt, ist oft genug L ü g e n k u n s t noch in den Ä u ß e r u n g e n ihres Alltagswirkens, geschweige denn in ihren großen Entscheidungen. Und von der anderen Staatskunst, die ihr Werk innerhalb der Staaten zwischen Parteien u n d Parteihäuptern verrichtet, gilt zum mindesten dies, daß der bei weitem größte Teil der Streitigkeiten, die auszufechten auch sie f ü r ihr wichtigstes Amt halten, entweder sehr schnell zu schlichten wäre oder erst nicht entstehen würde, würden sie mit den Waffen der W a h r h e i t ausgetragen. Und wer nicht den Streit u m des Streites willen zwischen Einzelnen, zwischen Staaten am Leben erhalten will, wird schwerlich leugnen wollen, daß jeder Zwist den Fortgang des Werdens h e m m t , weil er das Fließen des Lebensstromes auf Abwege, in Umwege leitet oder auf lange Strecken gar versanden und versumpfen läßt. Zuerst die Unwahrheit, dann der durch sie erzeugte Streit verfälschen die Wucht und den Wert der nebeneinander im Wettbewerb angespannten Kräfte, lassen sie nicht zu gerechtem, d. h. ihrem wirklichen Stärkegrade entsprechendem Spiele k o m m e n und verzögern oder vereiteln gar den Ausgang ihres friedevollen Wettstreits, der neues und zukunftstarkes Werden entstehen lassen würde. Das Geschehen der außerlebendigen Körper aber, der Urkörper wie der Weltkörper u n d aller ihrer Zwischenglieder, das n u r den echten u n d also den im Spiegel menschlichen Sehens angeschaut w a h r e n Werdensgang kennt, weist wohl die verschiedensten Schrittu n d Zeitmaße auf, braucht hier Jahrtausende f ü r die kaum sichtbare Veränderung eines Zuges im Antlitz 163

der Erde, läßt dort in Sekunden Erschütterungen vor sich gehen, die ganze Bevölkerungen hinraffen; aber jede von den tausend Formen des Vollzuges ihres Bauplans bewegt sich unerschütterlich, stolz, folgerichtig im Zug und im Zeitmaß ihres Erscheinungswandels. Wird das Geschehen der Welt im Menschen bewußt und zum mindesten seinem Wahn nach frei, so wird er seiner Sendung als der eines Teiles vom Weltganzen und vom Weltgeschehen nur dann gerecht, wenn er das Wahrheitsgebot, das sie stumm vollstrecken, befolgt. Er sollte aufhören, es unter die Kunst der Lüge zu beugen und so die Gabe seines Bewußtseins zur Kunst der Lüge, die Gabe seiner Freiheit zum Schaden eines Umwegs und so sie beide zur Hemmung des Weltwerdens zu mißbrauchen.

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D I E KLAGEN Ü B E R D E N W I D E R S I N N DES L E B E N S U N D DAS H E I L M I T T E L GEGEN SIE

DAS LEBEN ALS

GEFÜGE

D u leidest, so klagst du dir oft, u n t e r d e m Widersinn des Lebens, und bist du ein Schwacher, so wird aus der Klage eine Anklage gegen die Andern, die dir Unrecht getan hätten, bist du ein Starker, so schiltst du auf dich selbst und dein eigenes irrendes Handeln, das dir gestern oder vor einem Jahr oder vor zehn Jahren dieses Mißgeschick zugezogen habe.

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Du klagst — und dies ist noch der beste Fall — über die Torheit deines Tuns, und du siehst nicht, wie dein Klagen selbst ein viel größerer Fehlgriff ist, als irgend einer, den du je hast begehen können. Denn gleichviel ob du Recht oder Unrecht hast mit deinem Urteil und mit deiner sorgfältig auskalkulierten LebensBuchfiihrung, in jedem Fall begehst du Narrheit und Wahn und ein Verbrechen an dir und an den höchsten Geboten des Lebens dadurch, daß du klagst. Dir sei unverwehrt, dein altes Handeln zu bedenken und danach zu forschen, wo ein anderer Weg dich zu besserem Ziel oder schneller zum gleichen geführt hätte. Tue dies einmal und so gründlich du kannst, unfl du wirst Nutzen daraus für dein zukünftiges Wegewählen ziehen. Aber jede Klage über das, was dereinst an dir oder durch dich geschah, ist vom Übel. Die Sittenlehren der alten Glaubenstafeln haben kein Lebensverhalten mit so eindringlicher Sorgfalt und mit so zornigem Eifern gepredigt wie die Reue. Aber ebenso gewiß ist, daß sie das taten weit mehr zur größeren Ehre Gottes, als um uns Erdenkindern das schwache Herz zu stärken. Worauf es ihnen ankam, war viel mehr auf die Zerknirschung und die Bußgesinnung, als auf irgendeinen Entschluß zu anderem Handeln. Denn solcher Entschluß, der recht und gut ist nach begangenem Fehltritt, kann mit sehr viel linderen Mitteln als mit richterlichem Ergrimmen und geschwungener Geißel herbeigeführt werden. Sondern es hat von jeher durch die Reue das ganz andere Ziel der noch tieferen Unterwerfung des Menschen unter den Willen Gottes und seiner Priester herbeigeführt werden, sollen. Alle solche Unterwerfung unter den

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Willen einer Gottheit, der von stets schwankenden und sehr irdisch-befangenen Auslegern verkündet wird, bedeutet an sich Schwächung; Zerknirschung und Buße aber ist vollends nichts anderes als Selbstminderung. Uns, denen Not tut, alle uns nur irgend verliehene Kraft zusammenzuraffen, wird zugemutet, daß wir uns Kraft nehmen lassen. Die Reue im Sinn alter und neuer Sittengesetzgebung ist nur der äußerste Fall jener Klagen und Anklagen gegen das eigene Handeln. Eine Ausgeburt alter Zeiten, ist sie vielleicht für den heutigen Menschen gar nicht das häufigste Geschehen solcher Selbstbeschuldigung. Sie ist, sei es zu sanft, zu gelind, um schweren Schaden zu zeitigen, oder wir sind stark genug, um uns von den Gespenstern unserer eigenen Taten nicht schrecken zu lasseil. Aber die Reue, die das Ich zum Richter und zum Angeklagten zugleich vor einem Richterstuhl der Sittlichkeit macht, ist nur Fieber und jäher Anfall desselben Leidens, das in langem schleichenden Vollzug wie eine zehrende Krankheit uns heimsuchen und zuletzt uns noch schwerer schwächen und schädigen kann. Gegen diese Krankheit der Selbstbeklagung seien dir einige Heilmittel gereicht. Du gehörst, so wünsche ich dir, nicht zu jenen Narren, die stets mit sich selbst und dem eigenen Handeln aufs beste zufrieden sind — sei es aus Leichtsinn und Unklugheit, sei es, weil ihr Wille ihren Verstand um so viel überragt, daß sie nichts anderes kennen als ihr Rechthaben und Rechthandeln. Du gehörst auch nicht zu jenen Schwächlichen, die immerdar ihre Schwäche bekennen und sie zuletzt sich zu einer Rechtfertigung für alle ihre Fehler umdeuten. Sondern du stehst dem Bau deines Lebens mit

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einiger R u h e und in einiger E n t f e r n u n g gegenüber; du bemißt ihn und wertest ihn nicht allein in Stunden unwirschen Grübelns, nein auch in denen k ü h l e n Erwägens, und dennoch beschuldigst du dich wieder und wieder, daß du hier und hier dein Leben falsch gef ü h r t oder, seltener, dein Werk schief gerichtet hättest — beschuldigst dich, minderst dich, machst dich leiden. Die hausbackenste und doch nicht unnütze W a r n u n g , die dich hiervon abhalten sollte, ist die gänzliche Unnützlichkeit, ja Zweckwidrigkeit solches Tuns. D u handelst wie einer, der Opiate oder andere Kunstgifte zu sich n i m m t , und noch törichter, denn du minderst beständig deine Kraft und tauschest noch nicht einmal eine Rauschstunde, verbracht in einem der künstlichen Paradiese, ein. D u bereitest dir ein künstliches Fegefeuer, das dich zumeist n u r leise quält, i m m e r aber dich schwächt, immer dich verringert. Aber zu diesem Verbot aus dem Nein f ü g e n sich Gebote aus dem Ja, die dir vielleicht noch besser einleuchten. D u m u ß t trachten, das volle Insgesamt deines Wesens und deines Erlebens als eine Einheit und als ein Gefüge zu erkennen. Ist dir noch nicht widerfahren, was doch nicht allein den Lieblings-, nein auch den Alltagskindern des Glücks zuzustoßen pflegt, daß an den schärfsten Wegkehren deines Schicksalsweges der Wagen, der dich trug, u m Zollbreite n u r am Abgrund vorbeifuhr? Wärest du ein Gläubiger der alten Gottesverehrung, so würdest du von F ü h r u n g und sichtlicher Bewahrung sprechen; aber da du ein demütiger Diener a m Leben und am Willen der Welt bist, so sprich unbesorgt von der F ü g u n g deines Erlebens. W e n n d u dir bewußt

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bleibst, daß du unter diesem Wort nicht Werk oder Wirken eines Fügers, eines dem Menschen ähnlichen Lenkers deines Lebens verstehst, so greifst du damit nicht fehl. Denn ein Gefüge, das ist ein f ü r unser Leben sinnvoll verketteter Geschehensgang, kann, das ist unser tiefstes Überzeugtsein, entstehen ohne alles D a z u t u n von menschlicher oder übermenschlicher Lenkung. D e n n alles Geschehen ist sinnvoll, und unsere Begriffe von Folgerichtigkeit sind n u r aus seinem Sinn, seiner Verkettung abgeleitet. Die Welt warf von ihrer Vernunft ein Spiegelbild in unsere kleine Vernunft, und so entstand der f ü r uns schlüssige Gedanke, das Verstehen, das Begreifen, das unserem Bedürfen nach denkmäßiger Wohlgefügtheit des großen Welt- und unseres kleineren Lebensgeschehens ein Genüge tut. Das über alles Wissen und Verstehen weiteste, größte, gliederreichste Geschehen ist die Welt selbst. Wie sollten die so viel kleineren und fester verketteten Bruchteile ihres Geschehens nicht auch Gefüge sein. So also suche dein Leben als Gefüge zu begreifen, dann wirst du nicht m e h r unnützer Kläger und Ankläger deines Handelns werden. Du wirst verstehen, wie eisern fest die einzelnen Glieder deines Lebensganges zusammengeschmiedet sind und daß, wenn du eines von ihnen aus dem Insgesamt herausgelöst denkst, alle andern haltlos zusammenstürzen würden. Zuerst und zuletzt wirst du den Zufall aus dem Bilde des Lebens gebannt finden. Selbst da, wo du ihn wie greifbar zu sehen glaubst, verschwindet er. Ein teures Leben wurde gerettet, weil die Hand, die i h m ein Ende setzen wollte —ach, es war die seines eigenen Trägers — n u r u m eines Zolles Breite von der rechten, der tötlichen Richtung abirrte und die Kugel, die das Herz

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treffen sollte, ihr Ziel um ein Weniges nur verfehlte. Du sprichst von glücklichem Zufall; prüfst du aber das Leben, das hier zu Ende gehen sollte und doch erhalten blieb, in der Gänze seines vollen Verlaufes, so wirst du finden, daß dieselbe zögernde Unentschlossenheit, die hier ihr Ziel verfehlte, schon immer nicht eine versteckte, sondern die bezeichnendste Eigenschaft dieses Menschen war. Du wirst ferner finden, daß zwischen den großen und den kleinen Dingen in Leben und Wesen der Menschen kein Unterschied besteht: als Urkunden, Zeugnisse inneren Seins, sind sie von gleichem Wert und gleicher Würde. Es war immer klug, aus der Handschrift der Menschen ihr Wesen zu lesen; aber es bedeutet ein unverzeihliches Versäumnis, daß man nicht für den Bau des Leibes, die Form von Antlitz und Kopf, für Gang und Haltung, für Mienenspiel und Gebärde mit der gleichen Sorgfalt das gleiche Ziel geordneter und zielsicherer Deutung gesteckt hat. Inzwischen haben uns kluge Ausleger des leiseren Lebens gelehrt, wie kein kleinster Bruchteil unseres Handelns, kein Versprechen, kein Verschreiben, kein Verlieren, kein Vergessen ohne Wert für die Erkenntnis unseres innersten Seins ist. Schon heute wird sich sagen lassen, daß keine Handbewegung, keine Kopfneigung nicht von der tiefsten Bedeutung für solche Wesenserfassung ist. Und das erstaunlichste Ergebnis ist, daß die sogenannten großen Entscheidungen unseres Lebens, aus denen wir von jeher gewohnt sind, das Bild eines Menschen aufzubauen, im Grunde nicht so tauglichen Baustoff darbieten, wie die kleinste unserer Gewohnheiten. Denn in ihrer Bewußtheit sind sie weit eher dem Einfluß fremder Vorbilder oder der 170

Absichtlichkeit eines maskenhaften Tuns ausgesetzt, als jene. Kein unwiderleglicherer Schluß aber folgt aus dem allen, als daß alle kleinsten und alle stärksten, alle lautesten u n d alle leisesten Auswirkungen unseres Wesens eine unzerreißbare Einheit bilden, weil sie aus der ebenso unteilbaren Einheit unseres Wesens erfließen. Und ein Drittes laß dir noch eigens zum Trost dienen u n d zur M a h n u n g , daß du nicht als Kläger und Ankläger wider dich selbst einen Teil deines Wesens verdammst, da es doch I r r t u m und W a h n wäre, dein Ich als das, das es ist, zu denken ohne diesen, so g u t wie jeden anderen Bestandteil deines Seins. Des Menschen Schicksal verstattet i h m nicht, zu wählen zwischen den Urbestandteilen seines Wesens, und zu dem einen zu sagen: dich will ich nicht, u n d zu dem a n d e r n : dich will ich. Wie an h u n d e r t andere Einheiten der Welt, m u ß er auch an die Einheit seines Wesens glauben. Er k a n n hier sein Ich zügeln, dort i h m u n g e h e m m t den Lauf lassen, aber er vermag nicht die Grundmetalle zu ändern, aus denen sein Wesen legiert ist. Ja, d u darfst als ein höchst Wahrscheinliches hinnehmen, daß die Wurzeln deiner stärksten u n d deiner schwächsten Eigenschaften am engsten verflochten sind, w e n n anders sie nicht ein und dieselben sind. Rafael ging am Weibe zugrunde, und doch ist kein Zweifel, daß dieselbe lodernde Flamme von Leidenschaft, die ihn als mit d e m Leibe Liebenden bis zur Selbstzerstörung a u f b r e n n e n ließ, in den halb göttlichen Werken seiner Kunst auch emporschlug, n u r anders. Narrheit und W a h n zu behaupten, er hätte als ein Klosterbruder leben und das Gleiche schaffen können.

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Es braucht nicht u m Hals und Leben und um die letzten Entscheidungen des persönlichen Daseins zu gehen. Es können auch die stilleren und i m Grunde heiligeren Nöte des Schaffens uns Pein bereiten. Ein Forscher kann keinen heißeren Grund zur Selbstanklage haben, als daß er sich vorwirft, er sei dann und dann in einen Um- und Irrweg eingebogen, er habe zu Unrecht dies Werk allzu lang beiseite geschoben, ein anderes in falscher W a h l bevorzugt; er schweige doch still, denn in W a h r h e i t ist es ja die Not des Reichtums und überfließender Schaffenskraft, an der er leidet, und alles, was ihm früher oder später gelungen sein mag, wäre undenkbar und nie geboren, hätte ihn nicht jener fessellose Trieb ins Weite und in immer neue Bezirke seines geistigen Eroberns gerissen, über dessen Folgen er sich beklagt.

DIE E I N H E I T DER

UMWELT

Uns, ach, mit so vielen Schwächen bemakelten Sterblichen, ist vielleicht, so hart es uns ankommen mag, noch eher möglich, uns mit dem eigenen Ich und seinen Unzulänglichkeiten abzufinden, als mit den Beschwerden des Lebens, die uns wirklich von außen zugefügt werden, die wir auch dann, wenn wir Wahrheit gegen uns üben, auf die Anderen und nicht auf uns selbst zurückleiten können. Hier aber kann uns das gleiche Heilmittel Hilfe bieten, das unsere Sicht auf das eigene Wesen in die Richte bringt. Nur erweitert sich das Blickfeld außerordentlich und zuweilen ins Ungemessene. W i r müssen die Umwelt, in die uns ein von uns unbezwingbares, ja 172

f ü r uns unabänderliches Schicksal gestellt hat, ebenso als Einheit begreifen, wie wir unser Sein, gleichviel ob es uns h e m m t oder fördert, als Einheit erkennen können. Was aber heißt Einheit? Einheit heißt zuerst und zumindest Verflochtenheit, heißt Bewirktheit. Einheit heißt noch mehr, heißt Ähnlichkeit, heißt Gleichheit. Einheit heißt zuletzt und zu höchst Notwendigkeit, heißt Gesetz. Du wirst einwenden: wie kann ich u m meines kleinen oder doch beschränkten Erlebens willen meine Umwelt begreifen und erkennen, die doch nicht meine Nächsten nur, sondern sehr oft meine Fernsten umfaßt, alle, die auf mein Sein und Wirken Einfluß haben. Aber das sollst und brauchst du nicht, greife n u r i m m e r nach den nächsten Seitenstücken deines Lebens, vergleiche sie mit deinem Lose, aber begreife sie nicht als Ausgeburten von Zufall oder Bosheit, sondern als Stücke des Weltgeschehens, d. h. als Glieder eines undurchbrechlichen und unteilbaren Ganzen. Hier offenbart sich eine der empfindlichsten Schwächen, eine der engsten Schranken der überlieferten Sittenlehren. Auf Jahrtausende hat die Menschheit die Errichtung von Tafeln f ü r ihr Sittengesetz den Priestern anvertraut und die Aufsicht über seine Einhalt u n g ingleichen. Die Priester haben ihr in Ausübung dieses Amtes zehntausende von segensvollen Diensten getan und tausende von H e m m u n g e n und Verdüster u n g e n bereitet, je wie ihr Wollen u n d Wissen, ihr Können und ihr Fehlen sie leitete. Einer allgemeinen Beschränktheit ist ihr Sehen und Richten aber i m m e r unterlegen: sie haben das Feld der Dinge und der Beweggründe, das sie ihrem Amt der Erforschung und

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Wertung menschlicher Sittlichkeit als Bezirk anwiesen, immer zu eng abgesteckt. Wenn sie von Gott und seinem Wohlgefallen am Tun der Menschen ausgingen, so bedeutet das von Anbeginn Zwang und Enge für ihr Urteilen: so oft und so weit dem Tun der Menschen als erster Maßstab sein Gottesgehorsam auferlegt wurde, wurde es einem außermenschlichen Richtpunkt unterworfen. Aber ab die Priester, wie sie nicht anders konnten, irdischer, menschen- und lebensnaher verfuhren, so blieben sie einer anderen Enge verhaftet, die sie noch weiter hemmte und lähmte, und die ganz weltlichen Sittenlehren, die ihnen zögernd und selten gefolgt sind, wurden auch hierin, wie in vielen anderen Stücken, ihre nur allzu getreuen Nachahmer. Ein Sittengebot nur um des Sittengebotes willen, eine Moral nur um der Moral willen, wird immer zu eng sein. Das Sittengebot kann nur dann ein Recht auf unsern Gehorsam geltend machen, wenn und wo es dem Leben dient. Alle Sittlichkeit ist nur um des Lebens willen da; sie soll nicht zuerst, noch zuletzt das Leben rügen und richten, sondern es fördern und bereichern. Rügen und Richten, ja schon Gängeln und Leiten ist eine Tätigkeit, die dem, der sie übt, ein sehr bestimmtes Gepräge aufdrückt. Sie verleitet, lange und dauernd ausgeübt, zu der Neigung, gern zu gängeln, gern zu rügen, gern zu verbieten und, noch schlimmer, die Welt in eine Schulstube zu verwandeln und alle die Gebote vorzuziehen, die dem Herrn Rügerichter sein Amt erleichtern, Sittlichkeit mit Gesittetheit zu verwechseln, oder zum mindesten die Herstellung gesicherter und wohl eingehaltener Lebensordnungen für den einzigen Zweck solchen Amtes zu halten.

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An so nahen, so engen Grenzen kann nicht Sittlichkeit noch Sittenlehre Halt machen. Dieses Amt, das die Mitte zu halten berufen ist zwischen Tat und Geist, darf nur ausgeübt werden mit einem Blick, der das Leben selbst, das Leben der Menschheit, ja noch das Geschehen der Welt in seiner Gänze umfaßt. Dann erst bietet es Gewähr, nicht bakelhaft noch eng und, sei es auch aus bester Meinung, beschränkt gehandhabt zu werden. Niemandem, der für sein eigenes Erleben Trost und Richte sucht und ohnehin viel Erstes und viel Letztes bei solchem Bemühen wird von sich aus entscheiden müssen, ist zuzumuten, daß er alle diese Linien von seinem engsten Bezirk in das Menschheits-, in das Weltganze aus- und zu Ende zieht. So leicht und lokkend dies für den, der Augen hat, so weit zu sehen, wäre: denn wie noch das kleinste Geschehen nicht ohne seine tausend Zusammenhänge mit dem Weltganzen vollständig zu denken ist, so ist noch weniger irgendein Mensch, und sei er der geringste, ohne seine Eingefügtheit in das Insgesamt von Menschheit und Welt in seinem Wesen zu erkennen. Doch sind alle so weitgehenden und fast grenzenlosen Erkenntnisse für den Einzelnen nicht vonnöten, um die Zieleinsicht zu gewinnen, um die es sich hier handelt. Die Einsicht nämlich, daß alle die Wirkungen, die das Leben auf ihn ausübt, seien sie nun wohltätig oder störend, notwendige und also für ihn unausweichliche sind. Das will heißen: er soll das Leben, das gewirkte wie das wirkende, als Einheit, als Notwendigkeit, als Gesetz erkennen. Dann wird es vor seinen Augen zum Gefüge, ihn und sein Einzelschicksal umklammernd, zwingend, aber auch haltend, tragend und

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in jedem Fall von allem K u m m e r des Wirkens plumper Zufälligkeiten befreit. Dies heißt nicht Fatalismus, nicht blinde Ergebung, noch blinder Glaube an ein unverständliches, unbegreiflich verletzendes, dumpf schädigendes, selten günstiges Schicksal. Dies heißt ein aus Einsicht und Wissen geborenes Würdigen des Lebens als eines aus tausend oft wirr g e n u g durcheinander schießenden Fäden gesponnenen, aber von der Kraft eines Gesetzes zur Einheit gezwungenen Gebildes. Und wenn wir Neuen einmal die Sprache der alten, n u n schon so weit von uns getrennten Gläubigen reden sollen, so d ü r f e n wir solche Ergebung in das Gefüge von Welt und Leben Weltfrömmigkeit n e n n e n . Fromm ist daran das Sich-Schicken in das Schicksal, die Einund Unterordnung des Ichs in O r d n u n g e n , die wie ein höherer Wille verehrt werden. Weltweise aber ist solche Weltfrömmigkeit d a r u m , weil sie sich auf die Einsicht in die Notwendigkeiten des irdischen Lebens, des größeren Weltgeschehens gründet. Seltsam, die Schädigungen, die im weiten Leben der Staaten, der Völker, von den großen Gemeinschaften, die dort die einzelnen Schicksalsträger sind, ertragen werden müssen, und die wahrlich oft härter und f ü r unser erstes Sehen nicht minder unbegreiflich sind, als die kleinen und großen Schicksalsschläge, die dem Einzelmenschen den Lauf seines Lebens bestimmen, wir pflegen sie zuletzt zumeist besser zu verstehen, als unser eigenes Erleben. Wir begreifen, daß ein Reich und ein Herrschergeschlecht in T r ü m m e r gehen m u ß t e , das auf einem Grundsatz des Zusammenhaltens aufgebaut war, der vor vier Jahrhunderten schon veraltet war, und wir verstehen, daß eine 176

Staatsform zum Tode bestimmt war, die ein ganzes Volk zu Sklaven eines Selbstherrschers machte, der durch Jahrzehnte mit Tausenden von Todesurteilen und Strömen willkürlich vergossenen Blutes jede Regung der Freiheit erstickte; wir lernen allmählich auch einsehen, daß die große Katastrophe, die unser eigenes Volk vor unsern Augen traf, mit vielen hundert Fäden von Verschuldung an ein ganzes Zeitalter, eben ein das unsere, geknüpft ist und daß wir Alle Anteil an dieser Verschuldung hatten. Niemand wird uns in dem Glauben erschüttern können, daß jedes Begreifen störender, lähmender, ja selbst zerstörender Eingriffe von außen auch dann das Schicksal der großen Menschengemeinschaften erträglich, ja zuletzt selbst gerecht erscheinen läßt, wenn es uns zunächst, wenn es unser eigenes Volk angeht. Erkannten Notwendigkeiten beugen wir uns, nicht allein weil wir, was an ihrem Gewirkten zu bessern, zu ändern ist, dann am ehesten zu erkennen und in Tat umzusetzen vermögen, sondern weil wir vor dem Gefüge des aus dem Zwang der Dinge entstandenen Geschehens eine Ehrfurcht haben, die uns tröstet. Warum finden wir in der Welt der großen Schicksale, der starken Kämpfe der Gewalten so viel eher diese Erkenntnis, diesen Trost? Weil wir sie, selbst da, wo sie uns tief berühren, wie ein außer uns Geschehendes, wie eine Sache, und also sachlicher anschauen. Man hat gesagt, die Geschichte sei zur Lüge geboren; man wird ebenso wohl behaupten dürfen, sie sei zur Wahrheit geboren. Immer dann, wenn sie nicht beweisen, wenn sie nur erkennen will, führt sie zur Wahrheit, wo nicht zu ihrem letzten Ziel, so doch auf den Weg zu ihm. 12 Breysig

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Wie aber sehen wir die Vergangenheit unseres Einzellebens an?Fast immer, um durch sie zu beweisen, nicht um durch sie zu erkennen. Ein heiß strebender Beamteter findet sich übergangen oder doch bei weitem nicht nach Gebühr gewürdigt, und er verdunkelt sich sein Leben, ja er verzehrt'seine beste Kraft im nagenden Kummer ob diesem Geschehen. Er hat nicht zu dem Mittel gegriffen, das auch hier Heilung verspricht: sich und seine Wettbewerber, seine Widersacher und ihr Wirken als ein Gefüge zu begreifen. Er urteilt über sich selbst und seine Kraft nicht so, wie er tun würde, stände er an der Stelle des Machthabers, dessen Entscheidung er ungerecht schilt. Er vergleicht sich und sein Tun nicht mit dem der Wettbewerber, die man ihm vorzog, mit billig wägender Wage. Und schließlich, wenn wirklich ihm, auch nach unbefangenster Würdigung, Unrecht geschah, wenn Bosheit oder Laune ihn schädigte, so vergißt er zu erwägen, daß die Summe der Ordnungen, in die er und sein Amt gefügt sind, derlei Fehlurteile nach menschlicher Gebrechlichkeit nicht vermeiden kann und daß er diesem selben Staats- und Ämterbau alle die Tätigkeit dankt, die auszuüben Sinn und Freude seines Daseins ausmacht. Er wird auch nicht die Vorzüge des Loses, das ihm wirklich zuteil geworden ist, würdigen, und er wird endlich die höchste Pflicht verabsäumen, zu der er seinem Ich und dem Leben selbst verbunden ist, alle Stärken, alle Freudigkeiten seines Seins zu wahren und zu mehren, nicht aber zu mindern, um unabänderlichen, unwiderbringlichen Schädigungen nachzutrauern. Und ebenso mag der Künstler, der Forscher, der über den Neid und die Willkür seiner Weggenossen klagt, I78

in Wahrheit sich selbst Unrecht zufügen, da er doch glaubt, nur Unrecht erlitten zu haben. Eine lange Stufenleiter von Irrtümern steht hier bereit: von dem gelinden des Verkennens, daß jede Kunst-, daß jede Forschungsweise ihrem innersten Wesen nach nur sich selbst bejahen, jede andere aber verneinen muß, und daß auch Enge des Urteils, Lust am Verkennen, Freude am Schädigen in das Grundbild des sterblichen Menschen und also auch des Künstlers, des Forschers gehören und deshalb ertragen werden müssen, bis zu der verderblichen Form des Wahns derjenigen, die ohne wirklichen Beruf als Gelehrte etwa mit einer grundstürzenden Untersuchung, die in Wahrheit nur ein rascher und unhaltbarer Notbau ist, beginnen und bald ein Gesamtbild ihrer Wissenschaft entwerfen, das kaum dauerhafter ist, und die in jedem Fall für das notwendige Scheitern ihrer Versuche die Verkehrtheit aller Ordnungen der Wissenschaft verantwortlich machen. Oder man gedenke des oft viel härteren, weil tiefer in das Leben gebundenen Schicksals der Frauen, denen eine Ehe völlig oder, was oft härter ist, halb mißglückt. Nur die Frauen von höchstem seelischen Range werden bei solchem Mißgeschick nicht ohne weiteres dies als eine Frage von Schuld und Unschuld ansehen und ohne jedes Besinnen sich alle Unschuld, dem andern Teil aber alle Schuld beimessen. Hier wird an einem Einzelfall von neuem der Grundfehler offenbar, den alles sittliche Urteilen begeht, das sich lediglich auf sittlichen Erwägungen aufbaut. Denn bei dem engsten Bunde, den Menschen überhaupt schließen können, wird eigens deutlich, daß nur eine Sicht auf das volle Rund aller Daseinsformen, aller Lebensbeziehun12*

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gen, in die beide Verbundenen eingeschlossen sind, hier wirkliche Erkenntnis des seelischen Tatbestandes verschaffen kann. Und wer solche Sicht sich verschaffen will, wird nicht möglichst schnell, sondern möglichst spät zu sittlichem Urteil gelangen. Er wird das Gegenteil von dem tun, was die von fernher Urteilenden, vornehmlich die Frauen, zu tun lieben, die zumeist umso schneller ein Verdikt fallen, je weniger sie von dem Innern des Geschehens wissen. Aber auch die beteiligten und oft vielleicht wirklich von Unrecht betroffenen Frauen selbst werden aus einem allzu einfachen Drang nach Gegengewichten des Seelenhaushalts zu öftest alles gute Handeln auf der eigenen, alles böse auf der anderen Seite suchen. Und diese Sehweise, so sehr sie allgemein und, wie wir zu sagen lieben, nur allzu menschlich ist, wird in diesem Fall eigens leicht zu unrichtigem Ergebnis führen, weil alles Geschehen hier nur auf Einen sich richtet, von Einem ausgeht.

R E C H T UND U N R E C H T UNSERES SITTLICHEN RICHTERTUMS Weite Klüfte dehnen sich zwischen allem Menschentum und allem Naturgeschehen, und doch führen über sie Brücken des Gedankens, die zeigen, daß sie beide in einer tiefsten Unterschicht mit einander verbunden sind. Und wir sind verpflichtet, die Lehren der Natur, die sie uns so erteilt, mit Ehrfurcht zu vernehmen und ihnen gehorsam Folge zu leisten. Wir sind in unserem Dünkel, der immer nur die Losung »der Mensch Mitte« ausgibt, geneigt, uns hoch

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erhaben zu dünken über alles außermenschliche Geschehen, weil es nur ein Geschehen sei, all unser Tun aber ein vorbedachtes, von Absicht gelenktes Handeln. Vielleicht ist diese Sehweise niemals rätlich oder gedeihlich; aber es gibt einen Kreisausschnitt im Insgesamt unseres Lebens, in dem sie eigens viel Schaden anrichten kann. Es ist der Bezirk, in dem wir uns ein Richtertum über das Tun und Lassen des Andern, unseres Nächsten beimessen. So wie wir selbstgerechte Erdenkinder beschaffen sind, spüren wir keinen stärkeren Drang, als immerdar zu Gericht zu sitzen über das Handeln unserer Mitmenschen, insbesondere dann, wenn sie uns Schaden zugefügt haben. Da mag uns keine Mahnung dienlicher sein als die, daß dieses ihr Handeln doch immer nur ein Geschehen ist, das heißt eine Abfolge von Entschlüssen und Taten, die zwangsläufig ein Glied, einen eisernen Ring, ein den andern zur Kette schmiedet, und den, der diese Taten tut, in ein unentrinnbares Müssen einschließt, von dem er nie weichen konnte. Er handelte nie, er geschah immer. Und diese Erkenntnis soll uns davor bewahren, allzu krämerlich unserem Nächsten das Soll und das Haben seiner Verpflichtungen, unserer Forderungen vorzuhalten. Das Leben darf nicht wie das Hauptbuch eines Kaufmanns oder wie eine Kette von Schuldverträgen angesehen werden. Auch die tiefsten, die engsten Verbundenheiten des Lebens dürfen nicht wie Rechtsverträge gewertet werden, die die Verbundenen in eine gegenseitige Schuldknechtschaft zwingen. Stärker als sonst noch macht sich geltend, wie sittliches Urteil in allen sittlichen Dingen zwar vielleicht 181

unvermeidlich a m Schluß ist; im Anfang aber sollte es zum Schweigen gebracht werden, weil es, eben da es Urteil ist, fast i m m e r in die Irre f ü h r t . Zuerst erkennen und wieder erkennen und noch einmal erkennen, das sei die Losung, a m nachdrücklichsten da, wo Richter und Partei in einer Person vereinigt sind. Und möchte es nicht in unzählig vielen Fällen bei d e m Erkennen bleiben? Die Ehe ist der engste Bund, den zwei Menschen miteinander eingehen k ö n n e n ; jedes Sittengesetz, das lediglich vom Andern u n d von den Verpflichtungen des Ichs an ihn weiß, wird daraus die Satzung folgern, daß die Ehe die meisten und die strengsten Verpflichtungen auferlegt. Wer aber n u r erkennen will, wird sagen: dieser Bund ist von allen Einungsformen die schwierigste und die gefährdetste, weil er zwei Menschentümer — und das heißt zwei Andersartigkeiten — auf eine Lebenslinie zusammenzwingt, ein Höchstmaß von Anpassungen, Abhängigkeiten, Unterwerfungen fordert. Je höher der Grad ist, den diese Menschentümer oder auch n u r eines von ihnen erstiegen haben, je persönlicher ihre Persönlichkeit ist, desto schwieriger ist die E r f ü l l u n g dieser Forderung, desto stärker m u ß , vom Ich und vom Leben her gesehen, die seelische oder sinnliehe Macht sein, die aus dieser Zweiheit eine Einheit zu schaffen drängt. Ganz unmöglich, hier den Richterspruch des Gesetzes entscheiden zu lassen, selbst dann, wenn er sehr maßvoll ist, maßvoller als der heute gültige, der Abneigung und Gegenseitigkeit dieser Abneigung fordert, da doch eben f ü r die feinsten und also empfindlichsten Seelen das lebenlähmende Ungenügen einer Ehe n u r von d e m Einen e m p f u n d e n und als schwere Bürde, tiefe V e r w u n d u n g erlitten sein mag. Und ebensowenig

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braucht f ü r den so Verkürzten dieses Erleiden sich als Abneigung gegen den Andern auszuwirken. Ja, weit jenseits von der schiffstau-groben Seelenkunde des Gesetzes mag in den Fällen der feinsten Verfältelung mit diesem Leid sich eine Fortdauer zärtlicher, ja liebevoller geschwisterlicher Gesinnung sehr wohl verbinden können. Und dennoch würde der so Verkürzte im höchsten Sinne des Lebens pflichtwidrig gegen sein Ich handeln, der hier nicht die Lösung des Bundes erstrebte. Ein Erkennen sittlicher Dinge, das nicht auf Urteilen, will sagen Verurteilen, u m des Urteilens, des Verurteilens willen ausgeht, wird hier zu keinem Tadel Ursache finden. Aber auch der schwer geschädigte Teil wird n u r bei solchem Sehen auf das Erlebte Trost und Kraft f ü r n e u e Wege, n e u e Ziele finden. Selbstbescheidung ist in diesem wie in fast allen Fällen, in denen der Einzelne u m seiner Schädigung willen über den Widersinn des Lebens klagt, das Heilmittel, das sich aus dem Erkennen des Lebens, will sagen aus dem Ursinn des Lebens, gewinnen läßt. Selbstbescheidung, nicht hergeleitet, wie alle altruistischen Sittenlehren wollen, aus irgendeiner Pflicht gegen den Anderen, sondern aus der dringendsten Rücksicht auf das Ich. Wer sein eigenes Wesen und Wirken nach Vermögen sachlich, d. h. wie ein außer sich seiendes, und vornehmlich in seinen Grenzen, in seinen Unzulänglichkeiten und Mängeln erkennt, wird zwar sehr billig, sehr gerecht gegen die Andern sein, aber in Wahrheit sich selbst den höchsten Dienst erweisen. Nicht i m m e r sind Ichliebe und Nächstenliebe i m Widerstreit. Und noch wer auf das schiere Unrecht stößt, das i h m von Andern zugefügt ist, wird, w e n n er die Lebens183

laufe dieser Andern ebenso als G e f ü g e u n d Notwendigkeit begreift wie das eigene Leben, a m ehesten zu R u h e und Frieden f ü r die Vergangenheit u n d damit zu neuer Stärke f ü r die Z u k u n f t gelangen. Das Wissen u m das Leben, das eigene und das fremde, erweist sich dergestalt f ü r das Leben als ein Helfer von höchster Macht. Nicht ist Gegensatz oder gar trennende Kluft befestigt zwischen Wissenschaft und Leben, wie die Toren w ä h n e n , sondern sie stehen beide in e n g e m Bund. Wie Wissenschaft, w e n n sie echt ist, n u r aus d e m Leben sprießt, so k a n n sie n u r dem Leben dienen. N u r wer das Gefüge des Lebens bei sich und den Andern erkennt, wird den Widersinn des Lebens erkennen als das, was er ist, als Schemen und Gespenst. D e n n n u r er weiß den Sinn des Lebens. Ist Wissen H o c h m u t ? Mitnichten. Wissen ist D e m u t , D e m u t vor d e m Herrscher, d e m wir Alle dienen sollen, D e m u t vor der Majestät des Lebens, vor den hohen Gewalten des Geschehens, vor der O r d n u n g der Welt.

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DER KAMPF M I T DEN DÄMONEN

STREIT UND DER

WIDERSTREIT

GESCHLECHTLICHKEIT

Nirgends hat der Wille der Welt auch uns, den auf seine Stimme Lauschenden und zu jedem Gehorsam Bereiten, es so schwer gemacht, den Sinn seiner Winke zu erspähen, ja auch n u r die Richtung, in die sie die Wahl unseres Weges weisen, als wo die stärkste

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Lust unseres Leibes, wo die Freude am Geschlecht uns lockt und uns leiten will. Denn hier spricht ja, so scheint es uns tausendmal und am meisten in der Stunde der Versuchung, der Wille der Welt eindeutig und ganz unmißverständlich durch das kürzeste und lauteste der Sprachrohre, durch die er uns seine Befehle zuruft, durch die Neigungen und die Ladungen unseres Leibes. Und doch ist es nicht so, kann es nicht so sein; denn diese Stimmen locken und laden uns ja so oft in Sumpf und Morast lähmenden Verderbens, ja bis an, bis in den Abgrund völliger Selbstzerrüttung, daß wir den Willen der Welt auf das schwerste beschuldigen würden, wollten wir ihn als den Ursächer aller der Handlungen, aller der Taten und der Untaten angeben, die wir mit und an unserem Leibe aus Gründen der Geschlechtslust begehen. Denn wahrlich, keiner der Triebe, die unseren Leib und durch ihn unsere Seele regieren, ist von so unmäßiger Macht über das Tun und Lassen unseres Ichs wie dieser. Und erscheint er uns tausendmal wie ein Segen spendender Gott, der uns Freude und Glück ohne Ende schenkt, zehntausendmal zeigt er uns ein Gesicht, das uns nur Entsetzen, Abscheu, Furcht und Abneigung einflößt. Einmal müssen wir diesen Trieb verehren als die Leben weckende, Leben erhaltende Gewalt, der unser Geschlecht Dasein und Dauer verdankt; dann wieder fürchten wir ihn wie den bösesten aller der Dämonen, die unser Ich bewohnen, von denen es in Wahrheit besessen ist, die uns die Krallen ihrer zwingenden Kraft in den Nacken schlagen und uns hierhin und dorthin treiben, wider all unsere bessere Einsicht, wider

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unsere, ach, so viel schwächeren Einreden, in Schwäche u n d Schaden und selbst in Krankheit u n d Tod. E i n m a l ist uns dieser T r i e b der Quell der höchsten Leibeslust, der Leiter zu tiefster Seelenfreude; dann wieder können wir den Vätern der Kirche in alten Zeiten, deren L e h r e uns sonst wie der Gegenpol aller unsrer Gegenwartsgesinnung und wie ein verschollener Klang aus ü b e r w u n d e n e n J a h r h u n d e r t e n erscheinen will, ganz nachfühlen, w e n n sie die Geschlechtslust als den vererbten Fluch der Menschheit, als Quell aller ihrer Laster u n d Mängel, als den d e m Ich von Geb u r t a n h a f t e n d e n Mangel seines sittlichen Wesens angeklagt u n d v e r d a m m t haben. Ja, es i s t — e i n einzigartiges Geschehen in d e m Werdegang des Kampf- u n d Machtspiels zwischen Mann und Frau — über diesen Zwiespalt zu e i n e m Widerspruch und Widerstreit zwischen den Geschlechtern gekommen, der tiefer als irgendein anderer sich in Wert und W ü r d e des Weibes einbohrte, u n d der der seelischen Machtstellung der Frau m e h r G e f a h r e n zu bringen drohte, als irgendein anderer je vorher oder nachher. Es war der Gedanke, das Weib sei Verführerin u n d Verderberin des Mannes von A n b e g i n n : durch sie sei die Sünde in die Welt gekommen. Dunkel und n u r andeutend sind Bild und Gleichnis. Die Frau, v e r f ü h r t von der Schlange, die der Dämon ist, v e r f ü h r t den M a n n , die Frucht vom Baum der Erkenntnis zu essen. Und durch diese T a t entstehen Scham u n d Sünde, Erbfluch u n d Geschlechtlichkeit. Der Bibel selbst n u r eine heilige Sage, wurde diese Geschichte den späten Christen z u m Anlaß, in Weibesreiz und Geschlechtsdrang die T r ä g e r der erblich überkommenen Verdorbenheit des Menschengeschlechtes 187

zu sehen, Klage und Anklage gegen sie zu richten, als die beständig sich e r n e u e r n d e Ursache f ü r Gottes gerechten Zorn. D e r Gedanke kam in Zeiten auf, in denen das F r a u e n geschlecht noch u n m ü n d i g , noch nicht fähig war, sich mit Waffen des Geistes zur W e h r zu setzen. So ist er n u r aufgestiegen in jener Gedankenwelt, die damals d e m Manne allein gehörte. Er ist auch ohne alles Zut u n der Frau innerhalb dieser Gedankenwelt wieder vom M a n n e selbst ü b e r w u n d e n worden, und er ist dahingeschwunden bis auf wenige Überreste u n t e r den Schemen längst versunkener Glaubenssatzungen, die in den dunklen Kammern von verängstigten Glaubensgewissen noch ihr Wesen treiben mögen. Dennoch bleibt, auch als E r i n n e r u n g n u r , dies Geschehen wesentlich noch h e u t e : denn es ist ein Zeugnis f ü r das Leiden des Mannes an D r a n g und Überd r a n g der Geschlechtslust. D e r G r a m über die Schäden, die er i m Kampf n ä t diesen Dämonen davontrug, schwoll auf z u m Groll gegen die Leibesliebe überhaupt und gegen deren Erregerin, das Weib. Verschollen ist dieser Widerstreit; aber bestehen blieb u n d bleibt der ewige Widerspruch in unserer Seele und wohl gar in unserem Leben selbst, der Widerspruch, der uns die Geschlechtslust wie einen Urquell einmal von Leben u n d Freude, dann wieder von Verf ü h r u n g und Verderbnis ansehen läßt. Lassen uns denn n u n in der großen Not dieses Zwiespaltes die Zeichen des Willens der Welt, sonst uns i m m e r L e u c h t t u r m und Leitstern auf unserer Fahrt zwischen den Gefahren und Klippen des Lebens, unberaten, hüllen sich diese Lichter, die sonst uns lenken, in D u n k e l ? Gewiß nicht. Nur sind die Signale diesmal

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verborgener, n u r ist ihre Sprache diesmal nicht so unmittelbar. Sie zu enträtseln ist uns sicher gegeben. DIE H Ü L L E DES SCHWEIGENS UND PFLICHT

DES ICHS ZUR

GEGEN SICH

DIE

WAHRHEIT

SELBST

Unsäglich erschwert hat sich der Mensch das an sich harte A m t des Kampfes mit den Dämonen der Geschlechtslust durch die absichtsvolle Hülle gewollten Schweigens, die er seit f r ü h e n Zeiten über die Vorgänge, die Werkzeuge des Leibes in Sachen des Geschlechtes gebreitet hat. Unsere Sittlichkeit glaubt allzu leichthin, daß dies Schweigen, dies Verhüllen das Zuviel der Geschlechtslust eingegrenzt habe; die Wahrheit kann sein, daß es weit eher die Reize vermehrt hat. Die Kindervölker der f r ü h e n Urzeit wissen von der Scham so wenig wie die Kinder in den ersten Jahren des Einzellebens. Scham ist nicht, wie das wohlgemeinte I r r e n von Glaubens- und Sittenlehrern uns wähnen machen will, den Menschen eingeboren. Scham ist wie jedes Sittengebot das Erzeugnis einer gewollten U n t e r w e r f u n g des Lebens u n t e r Regel u n d Gesetz: die Glaubenssage des Alten Testaments, die nicht ein D e n k m a l n u r von Größe, nein, auch von sehr tiefer Seelenkunde ist, läßt nicht von ungefähr die Scham erst als Satzung entstehen. Scham war die Hülle des Schweigens und Verbergens, die der Mensch über die wichtigsten, die gefahrvollsten Vorgänge seines Leibestuns gebreitet hat, und Scham ist uns vornehmlich a n der Frau zur Schönheit geworden. Tausend Zärten, die die Frau vor d e m Manne auszeichnen, sind aus Gesetz und Gewohnheit der

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Scham entstanden und haben die Liebe des Leibes mit einem feinen Schleierspiel umgeben, das halb verhüllt und halb verrät, zuletzt nur verbirgt und doch auch wieder im Verbergen Reize übt. Warum Scham über die Menschen kam, ist kaum zu durchdringen. Selbst das heilige Buch häuft in dieser Sache nur Rätsel auf Rätsel, über die fortzugleiten uns weder die stumpfe Gewohnheit der allzu gefügigen Bibelleser, noch die unbewußt oder bewußt ausweichende, hier sehr wenig eindringliche Auslegung der Gottesgelehrten erleichtert. Es läßt in der überdunkeln Geschichte vom Apfelbiß und Sündenfall alle Erkenntnis des Unterschieds von Gut und Böse, das ist die Entstehung alles Sittengebots überhaupt, zusammenfließen mit der Entstehung der Scham. Es gibt aber in dieser von Bildern und Gleichnissen erfüllten Geschichte keinerlei Aufschluß über die Gründe, die die priesterlichen Urheber der Glaubensurkunde diesem Geschehen geben: es sei denn der schwer begreifliche, daß sie die Unterscheidung von Gut und Böse durch die Menschen für Gott ebenso mißfällig wie das Aufkommen der Scham in ihrer Seele gehalten haben, daß ihnen die unschuldige Unsittlichkeit der Kinderzeit des Menschengeschlechts, ebenso wie ihre unschuldige Schamlosigkeit, als ein höheres Gut galt, als alle Tugend-, alle Schamgebote der Folgezeit. So bleibt das Rätsel der Entstehung der Scham ungelöst durch diese Geschichte, die mit dem abendlichen Lustwandeln Gottes im Garten Eden beginnt, und die da endet mit dem Neide Gottes auf den Menschen, der durch die Erkenntnis von Gut und Böse schon geworden sei wie Unsereiner, und der aus dem Paradies vertrieben wird, damit er nicht auch noch durch die 190

Früchte des anderen Baumes unsterblich und so Gott noch gefahrlicher werde. War es etwa das Herrenrecht des Mannes, der durch Ehe und Familie das Weib sich wie ein Besitztum aneignete und es vor der Raublust anderer Männer bewahren wollte? Oder war es, aus einer tieferen Schicht der Seele aufsteigend, der Drang beider Geschlechter, durch Hüllen und Schleier das Liebesspiel feiner und zarter zu machen, durch Heimlichkeit es zu adeln und zu steigern, ein Sieg also höherer, wenngleich zuerst halb unbewußter Lebens- und Liebeskunst? Doch wie immer auch dieser Schleier der Scham entstand, seine Gespinste bestehen noch heute. Und wie wert uns die Veredelungen sein mögen, die er dem Liebesernst und dem Liebesspiel des Leibes gebracht hat, er hat eine Hülle des Schweigens über eine Gewalt in unserem Leben gebreitet, deren Sein und Wirken gar nicht offen genug vor unseren Augen liegen sollte, wollten wir uns in das Wesen jener Nöte Einsicht verschaffen. Wie steht es denn in Wahrheit um die Bedingtheiten unseres Lebens in dieser Sache? Alles Geschehen auf der Bühne des öffentlichen, ja fast auch des häuslichen Daseins der Menschen wird stets und immerdar von einem Meer geheimen Handelns umspült, von dem zu reden, ja dessen Vorhandensein auch nur anzudeuten Recht und Sitte gleich stark verbieten, und das doch mit Myriaden von Verursachungen jenes Vordergrundsdasein beständig beeinflußt, hier fördert, dort stört, dies Meer, das jedes einzelnen Menschenschicksals Schiff trägt und es, sei es zu gutem Hafen gelangen, sei es in unerbittlichen Stürmen leiblichen oder seelischen Verderbens versinken läßt.

Wir sterblichen Menschenkinder alle, vom niedersten Tagelöhner bis zu den Männern von höchstem, von einzigem Rang, bis zu den Herrschern, die nicht ein beliebiges Gottesgnadentum, sondern die ihre eigene Kraft auf den Thron ihres Amtes berufen hat, bis zu den großen Schöpfern im Geist, bis zu Napoleon, bis zu Michelangelo, sind abhängig von den dunklen Drängen dieser überstarken Gewalt. Und abhängig bis zu den äußersten Verhängungen des Schicksals: oder ist Alexander, ist Rafael nicht am Weib im Leibessinne des Wortes zugrunde gegangen? Glaubt man, daß Napoleons Leben nicht im tiefsten verstrickt war in seine Erlebnisse mit Frauen, d. h. in das Liebesgeschehen eines Menschen, der in der Leidenschaft der Seele und vielleicht auch in der des Leibes so groß gewesen sein mag wie in der Tat. Oder daß Michelangelos Kunst in einem Striche seines Pinsels, einem Schlage seines Meißels voll erklärt werden könnte, ohne daß von seiner Liebe zu Frauen und weit öfter zu Männern als einem Grundgeschehen seines Lebens und ebenso seines Geistes Zeugnis abgelegt würde? Lodernde Flammen sind es, die in uns brennen, weil der Leib es so will; können wir sie mäßigen, schwichtigen, so mögen sie all unser Wirken und Schaffen speisen und steigern, erhalten und erheben; lassen wir sie übermächtig werden, so können sie uns versengen und endlich gar verbrennen. Und noch die Gradstärke unseres Leistens an jedem Tag, in jeder Stunde, die Dauer, die Wertigkeit unseres Wirkens und Schaffens über ein Leben hin ist abhängig von dem Maß, in dem jedem Einzelnen dies überschwere Werk gelingt. Die Sitte verbietet uns, über dieses Geschehen, obwohl wir mit Tod und Leben von ihm abhängen, auch nur 192

ein Wort zu sprechen, und wer wollte sie häßlich schelten? Und noch weniger darf geleugnet werden, daß sie in tausend Fällen ein höchst wünschenswertes, ja ein unentbehrliches Bollwerk gegen die herandrängende Flut des Zuviels der Leidenschaft ist. Die Heilkunst und fast auch die Heilkunde trägt wenig Sorge um diese Dinge, obwohl sie eine der wichtigsten von den ihr anvertrauten Angelegenheiten unseres Leibes angehen. Um so notwendiger ist das Gebot, daß jeder von uns zu umso unbedingterer Wahrheit und Offenheit gegen sich selbst, zuweilen auch gegen seine Nächsten verpflichtet ist.

DIE LAUTEN UND

DIE

UNSERES

LEISEN

GEBOTE

LEIBES

Nicht an Alle geht die Rede, die von dem Willen der Welt in dem Kampf mit den Dämonen der Leibesliebe handelt. Denn nicht Alle leiden an dieser Not, ja, es mag Viele geben, die nichts von ihr wissen. Es sind, die kühlen Blutes sind und die von allen Anfechtungen der inneren und der äußeren Anreize wilder und überflüssiger Leibesliebe verschont bleiben. Vornehmlich edle, stille, gehaltene Frauen sind es, aber auch Männer, die so beschaffen sind. Denn es ist eine Lüge, wenn wir so oft behaupten hören, daß Alle hierin dem gleichen Willen ihres Leibes unterworfen sind. Eine Lüge, ersonnen von denen, die, sei es mit gutem Glauben, sei es bewußt, ihre eigene Zügellosigkeit zur Gewohnheit und wohl gar zum Gesetz für Alle machen wollen. Es gibt keine Eigenschaft Leibes und der Seele, in der Menschen mehr Stufen der Ver15

Breisig

T n o

schiedenheit aufweisen, als in dieser, je nach dem Grade der Wärme und dem Maß der Schnelligkeit ihres Blutlaufs, je nach der Gehaltenheit und der Entzündbarkeit ihrer Vorstellungskraft, je nach der Kraft und der Schwäche ihres Vermögens, dem eigenen Ich Befehle zu erteilen. Und glücklich auch die Andern, die zwar von ihren Sinnen starke Lockungen erfahren, denen aber wie eine mühelose Kunst gegeben ist, ihnen nur gerade so oft und so heftig nachzugeben, wie ihrem Leibe gedeihlich ist. Doch wahrlich, die Dritten sind zahlreich und wertvoll genug, die, sei es so reizbar, sei es so schwach sind, daß sie den Versuchungen dieser heftigsten Leibeslust auch dann nicht zu widerstehen vermögen, wenn sie den sichtbarsten Schaden über Kraft und Gedeihen ihres Lebens bringt. Insofern sie die Schwachen und oft die Schwächsten sind, zählen sie gewiß nicht zu den Wertigsten. Doch auch ihnen und gerade ihnen soll geholfen werden: denn ihre ungezählten Scharen bilden den Grenzbezirk zwischen rechtem und verkehrtem Leben, um den jedes Sittengesetz, das dem Willen der Welt Achtung verschaffen will, eigens gespannt kämpfen muß. Denn hier gilt es, das Reich, das ihm unterworfen ist, durch Eroberung zu dehnen und zu weiten, oder die Gefährdeten, die Schwankenden, für das rechte und starke Sein zu gewinnen. Die gespannteste Sorge aber gilt jenen Feinen, Zarten, nach Sinnen und Seele eigens Empfänglichen, Empfindlichen und doch oft dem Leibe nach gar nicht Starken, die ihrer eigensten Wesenheit nach die Lockungen der Leibeslust am eindringlichsten verspüren und 194

doch unter ihren Schädigungen am schnellsten und am nachhaltigsten leiden. FALSCHE STRAFEN Nirgends lodern Gegensatz und Streit zwischen einer Sittenlehre, die ihren Ursprung und ihr Recht aus dem Ich herleitet, ihr Ziel und ihren Zweck im Ich sucht, und einem Sittengesetz, das von der Gesellschaft her dem Ich seine Vorschriften auferlegt und im Heil der Gesellschaft Wert und Absicht seines Gebietens sieht, so flammend auf, als in Sachen des Geschlechtes. Nicht immer entbrennt der Kampf zwischen beiden über Ziele und Weg der Lebensführung, denn Wohl und Wehe des Ichs fordern nicht selten die gleichen Regeln, wie Wohl und Wehe der Gesellschaft. Und gar nicht immer ist das Gebot, das aus dem Ich aufsteigt und für das Ich Sorge trägt, läßlicher und linder als das im Auftrag der Gesellschaft erlassene. Immer aber sind die Beweggründe andere, aus denen der Dienst am Ich seine Forderungen herleitet, als die, aus denen ein Sittengesetz seine Gebote verkündet, das von uns nur Dienst am Andern heischt. Die Sittenrichter, ach, allzu oft auch Sittensplitterrichter, welche dem Ich Recht, Beruf, ja Fähigkeit absprechen, sich selbst das Gesetz zu geben, welche immer nur den Schutz des Andern zu Maß und Stab ihres Richtens machen wollen, wissen wenig von dem höheren Ich, das sehr wohl dies Gesetz zu geben vermag, und reden immerdar von dem niederen, lustbefangenen Ich, das allein zu kennen sie vorgeben oder gar wirklich — die Armen — einzig wissen.

Das niedere Ich ist freilich zu solchem Gesetzgeberamt ganz und gar nicht berufen oder fähig, d e n n es ist n u r seinen Lüsten u n d Gierden hörig. Das hohe Ich aber, das in uns wohnt, u m so m e h r , d e n n es lauscht auf den Willen der Welt, welcher höher ist als alle V e r n u n f t der Gesellschaft. Und nirgends hat das hohe Ich als verantwortlicher Lenker und n u r deshalb auch Anwalt aller Ichtriebe ein besseres, ein volleres Recht gegen das Sittengesetz der Gesellschaft zu vertreten, das n u r vom Andern und seinem Schutze weiß, als hier, da es in W a h r h e i t weit eher das Ich gegen das Ich, als den Andern gegen das Ich zu schützen gilt. D e n n dies ist ja die augenfälligste Eigenschaft der Leidenschaften des Geschlechts, deren Auswirkungen die Diener Gottes als Sünde, die Schützer des Rechts als Verbrechen, die Hüter der Sitte als Fehltritt und Schande geißeln, daß sie im wahren Tatsachensinne keinen Anderen verletzen, während sie so oft das Ich auf das Schwerste schädigen. Kein Ehebruch f ü g t in dem so groben Sinne, den sonst alle Sprache des Rechts n u r kennt, d e m Getäuschten Schaden zu, kein außer-, kein vorehelicher Beischlaf tut einem Menschen Leid an, kein Mädchen, das Mutter wild, begeht an einem Sterblichen Unrecht, und doch wetteifern Glauben, Recht und Sitte, all dies T u n zu v e r d a m m e n und mit Strafen zu büßen, von denen diejenigen die härtesten sind, die n u r aus Urteil und übler Nachrede bestehen. In Wahrheit wollen auch hier Glaube, Recht und Sitte nicht eigentlich entstandenen Schaden rächen, sondern eine Handlungsweise vom Einzelnen erzwingen, die der Gemeinschaft aus an sich schönen G r ü n den als die einzig löbliche erscheint.

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Allein Göttern und Menschen ist bekannt, wie wenig wirksam dieses Strafverfahren ist. Kein Zweifel aus was G r u n d e : weil es sich nicht an den Täter, das Ich wendet, u m i h m sein W ü t e n gegen des eigene Heil vorzuhalten, sondern weil es ihn, ohnmächtig genug, auf den Schaden des Andern verweist, den der Übeltäter ohnehin kennt oder, noch ohnmächtiger, auf den Nutzen der Gesellschaft, an der i h m in der Stunde der Leidenschaft noch weniger als sonst gelegen ist, und weil es da, wo es den Täter trifft, ihn m i t d e m plumpsten Mittel nachträglicher Strafe bedroht, statt ihn im Sinne eines Ja des Lebens, eines entstehenden Guten zu bewirken. Und es sind nicht unedle Gründe, aus denen das so mit Zwang bedrohte Ich sich solchen Verboten nicht n u r nicht f ü g e n , nein sich gegen sie a u f b ä u m e n wird. Es sind die Dinge des innersten Kernbezirks seines Lebens, über die ihm hier Vorschriften aufge zwungen werden sollen, in die die Gesellschaft sonst am wenigsten einzudringen wagt. Umso zäher wird das Ich hier seine Freiheit verteidigen, umso empfindlicher sich gegen Zwang wahren. Es ist das letzte, das innerste Bollwerk seiner Unabhängigkeit, um das es dann kämpft. DAS I C H U N D DAS

GESCHLECHT

Für dein Verhalten im Streit und Widerstreit der Geschlechtlichkeit handelt es sich zuerst und zuletzt u m eine Angelegenheit deines Ichs. Sie an und f ü r sich recht zu ordnen, m u ß deine wichtigste Pflicht und also dein bestes Recht sein. Erst später hast du die Rechte des Anderen in Betracht zu ziehen, die in Sachen des Ip7

Geschlechtes gegen dich bestehen können; denn nur das Ich, das mit voll befriedetem, ganz auch beherrschtem Leib in das Leben und seine Einungen und seine Entzweiungen eintritt, ist für seine Verbiindnisse und seine Gefechte recht ausgerüstet. Für den Kampf mit den Dämonen deines Leibes sei dir eine Losung Führerin und Herrin. Es sind Dinge des Leibes, um die es da geht, also wird umso deutlicher, daß der Leib selbst, die Federkraft seines Wirkens erhalten, ja noch gestärkt werden muß, und daß du keiner von allen seinen Einzelbegehrungen unterworfen bleiben darfst, sobald du eine Schwächung jener Kraft der Leibesmitte verspürst. Dies ist ja die seltsame List und Verschlagenheit der Dämonen, daß sie uns die Begierden unseres Lustverlangens als Ausflüsse des vollen und ungeteilten Willens unseres Leibes vorspiegeln, während sie in Wahrheit nur die Begehrungen einzelner Glieder und einzelner Fähigkeiten dieses Insgesamts sind. Und es ist diesen Sonderbegierden die schlechthin furchtbare Eigenschaft verliehen, daß sie sich mit solcher Heftigkeit unseres Gemütes bemächtigen, daß sie von uns wie der ganz einheitliche und zugleich mit der höchsten Entschiedenheit ausgedrückte Wille unseres Gesamtleibes empfunden werden. Es besteht also die fortwährende Gefahr, daß wir, was nur die anmaßlich vordringende Forderung eines einzigen Leibeswerkzeuges ist, für den Willen unseres Leibes, also einer der berechtigtsten Gewalten innerhalb unseres Ich, halten, und insofern wir in diesem wieder nur die Teiläußerung des Willens der Welt erkennen, in ihr vollends die unfehlbarste Richtweisung zu empfangen meinen. 198

Die Geschlechtsbegierde ist nicht die einzige unter den Antrieben unseres Leibes, die uns mit solchen Trugspielen schädigt: die viel stilleren Genüsse der Speisung und die an sich noch unschuldigeren der Tränkung hat der Mensch durch Übersteigerung zu Quellen der Selbstschädigung gemacht, und er hat noch die an sich so keuschen Freuden der Leibesbewegung und der Leibesspiele im selben Sinn zu Werkzeugen der Selbstschwächung gemacht. Keine aber von diesen Formen übersteigerten Genusses kommt an Furchtbarkeit der möglichen Wirkung dem Wunschgift des Geschlechtstriebes gleich. Denn so gewaltig ist seine Macht, daß er vermag, alle anderen Triebe des Leibes, alle anderen Empfindungen der Seele und vollends alle Gedanken des Geistes zum Schweigen zu bringen: der Rausch, den er bereitet, ist so betäubend, daß er alle anderen Gewalten im Ich zum Schweigen bringt, daß er das Ich bis zur Selbstvernichtung treiben kann. Er ist imstande, den Menschen nicht aufStunden nur, nein, auf Tage sich völlig zu unterwerfen, ja, ihn dahin zu bringen, all sein Sinnen und Trachten in den Dienst dieses einen Geniessens zu stellen, um es sich immer wieder und wieder zu verschaffen. Wahrlich, es geschieht nicht um Geringes: denn die Wonnen, die es bereitet, sind nicht nur allen anderen, die der Leib erzeugen kann, an Freude spendender Kraft, nein auch an Feinheit, Zärte, Erlesenheit überlegen. Von allen den plumpen Verleumdungen des Leibes, die die Moralisten alter und noch gegenwärtiger Zeiten erdacht haben — sehr oft in der auch im weltfrommen Sinn guten Meinung, um Kraft und Gehaltenheit zu bewahren, und doch völlig verkehrt nach

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d e m inneren Recht — mag die ungegründetste und zugleich die gehässigste sein, als erniedere das Geschehen des Geschlechtslebens den Menschen, stoße ihn von seiner Höhe herab, mache ihn dem Tiere gleich. Es bedarf sehr großer Geduld, um mit diesen Irrtüm e r n , die recht eigentlich Frevel am Wahrsten und Wirklichsten der Welt sind, in R u h e und W ü r d e abzurechnen. Die eine gründende Tatsache unseres Daseins, daß der Mensch d e m Leibe nach Tier u n d nichts anderes als Tier ist, übersieht dieser seltsam übergeistigte Hochmut völlig. Aus ihr aber ist herzuleiten, daß wir durch sie nicht n u r a m zwingendsten eingef ü g t sind in das Triebwerk des Weltgeschehens, sondern daß uns auch durch diesen Ort unserer Eingefügtheit eindeutig der Weg unserer bewußten Einpassung in dieses Geschehen gewiesen ist. Und wie sollten wir dann, w e n n uns durch unser Auch-Tier-Sein nichts anderes als Lust und Freude bereitet wird, uns durch den grundlosen Dünkel, sei es a l t e r u n d recht gedankenloser Gläubigkeiten, sei es neuer, allzu denkmäßiger Vernunftmäßigkeiten, u m eine der verschwenderischsten Gaben der Natur bringen lassen. Aber m e h r als das, gerade weil unser Wesen zwar das eines Auch-Tier-Seins, aber zugleich das eines NichtNur-Tieres ist, so wird uns diese Gabe aller Vermutung nach nicht allein nach dem Maße des Tieres, sondern noch darüber hinaus in einer Doppelung zuteil, die unserem Doppelwesen entspricht und von i h m nicht n u r durch Spiegelung und Bewußtheit, nein, auch durch Nähe an seelischen W o n n e n Bestärkung und Bereicher u n g erfährt. Schon die Freude des Leibes, m i t der das T u n der Begattung gekrönt ist, und die er mit dem Tier teilt, ist

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an sich von einer seltsam zauberischen Unstofflichkeit und fast auch Unirdischkeit, daß alle anderen Genüsse des Körpers neben ihr grob und p l u m p erscheinen. D e n n indem in ihr die stärksten und innersten Verzweigungen unseres Nervengeflechtes erzittern, bringen sie ein Höchstmaß von körperlicher Lust hervor, von d e m wir wohl f ü h l e n , daß es in uns entstehe, das aber in seiner Entzogenheit von aller anderen Wahrn e h m u n g durch die Sinne von uns als ein so unvermitteltes Einströmen e m p f u n d e n wird, wie sonst n u r unsere seelischen, ja unsere geistigen Freuden. Und es gibt im engsten Bezirk rein seelischer Liebesgenüsse solche, die aller ihrer Unsinnlichkeit zum Trotz jenem lustvollsten Geschehen der Leibesliebe so nahe komm e n , daß sie fast in seinen Empfindungsbereich überzugehen scheinen. Doch sind das Wonnen, die vielleicht n u r jenen Liebespaaren zuteil werden, die nicht im Sturm bedenkenloser Jugend, noch i m Sommer heißer und allzu körperlicher Leidenschaft einander ergeben sind, sondern in den Früchten reifen und dennoch süßen Herbstes schwelgen, und denen auch solche Stunden höchster Entzücktheit, halber Entrücktheit n u r als Lebensfeste von letzter Seltenheit geschenkt sind. Alle diese Lockungen des Reizes der Leibesliebe, so voll sie der Mensch mit d e m Tier teilt, werden in ihm, f ü r ihn u m ein Mehrfaches verstärkt u n d vermehrt durch die Lebendigkeit, die Genauigkeit seiner Erinnerung, die ihn vor d e m Tier auszeichnen. Denn so wenig das Reizgedächtnis dem Tier abgeht, so sicher kommt es i h m n u r in sehr viel d u m p f e r e r und ungewisserer Form zu. Und —- so seltsarr verschlingen sich in diesen dunkeln G r ü n d e n unseres Ichs die W i r k u n 20I

gen — höchst persönliche, ganz und gar dem Einzelnen zugehörige, auch rein seelische, ja rein geistige Sondereigenschaften der geliebten Person können sich so eng mit den wahrlich allgemeinen Geschlechtsreizen verbinden, daß sie ihnen noch gewaltigen Vorschub leisten. Doch zu der Macht des Reizes, der dem Geschlechtstrieb zu Gebote steht, gesellt sich als in den Tiefen treibende Kraft die Auswirkung des großen Urgeschehens selbst, das hier am Werke ist. Die Bezeichnung, die wir allen diesen Angelegenheiten geben: Geschlechtstrieb, Geschlechtsleben und so fort, sind in diesem Punkt von offenbarender Klarheit. Sie lassen sehr deutlich erkennen, daß wir in diesem Geschehen, das unser Leben im tiefsten und im kleinsten bedingt, nie eigentlich einzeln Handelnde sind, sondern nur Glieder eines großen Insgesamt, eben eines der beiden Hälften, in die das Menschengeschlecht zu Gegen- und zu Miteinander geteilt ist. Unser geschlechtliches Tun und Lassen ist wirklich weit mehr das im Einzelnen sich nur auswirkende Handeln des einen von diesen beiden Menschenheeren, ab ein durch die besonderen Zwecke und Ziele des Ichs geleitetes. Durch die Übermacht dieser in den Millionen und aber Millionen der Streiter in diesen beiden Heeren lebendigen Urgewalt wird allerdings unser Geschlecht bei Leben und Dauer gehalten. Torheit und Narrheit aber würde sein, hier von einer Weisheit oder Güte zu reden, die sich in dieser Einrichtung offenbare oder die gar von irgendwelchen überweltlichen Gewalten durch sie ausgeübt werde; ja, es wäre verkehrt — hier wie überall im Weltgeschehen — auch nur von Zwecken und Zielen zu sprechen: nur das bleibt Wahrheit,

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daß durch den Antrieb dieser in dem Geschehen verborgenen Urgewalt des Triebes die Menschheit selber erhalten wird — nicht mehr und nicht weniger. Das Geschehen, wie es allein sich durch sich selbst erhält, ist auch unterer Erkenntnis nur bis zu den Grenzen seiner selbst ab eine Sicherheit gegeben.

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DER HUNGER NACH F R E U D E

Ein Hunger nach Freude ist Herr über die Menschen — wer dürfte es auch unter den griesgrämigsten Maskenträgern von erzwungenem Ernst, von gewolltem Leid leugnen. Er wohnt in ihren Seelen, weil er in ihren Leibern wohnt. Er ist unser Recht, weil ihn der Wille der Welt an ihrem eigenen und so auch an unserm Tun »ins als Ur- und Vorbild vor Augen stellt.

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Was nennen wir denn Freude? Zuerst und zuletzt eine Steigerung unseres Lebensgefühls, die ganz und gar vom Leibe ausströmend die Seele berauscht und doch auch wieder von der Seele ausmündet in unserem Leibe und ihn entzückt und beglückt. Wahrlich, es gibt keinen stärkeren Beweis für die unspaltbare Einheit, die Wesensdasselbigkeit von Seele und Leib, als diese Einheit der Freude. Wenn den liebenden Jüngling beim Anblick seines Mädchens das Lodern seiner Leidenschaft entzündet, wenn den im Wettkampf, in Spiel und Tanz Erregten der Mut und die Spannung seines Ringens zu höchst entflammt, so schwillt ihm bei diesen Erregungen des Leibes das Herz, wie das Volk und die Dichter von jeher gleichermaßen gesagt haben. Und schwerlich wird alle Wissenschaft der Leibes- und Lebensforscher je einen andern Urgrund dieser unmittelbarsten Leibesfreuden zu nennen wissen, als das stärkere Pulsen des Herzens, das tiefere Strömen des Blutes in seinem Kreislauf durch Hirn und Glieder. Dieses ganz aus dem Leib geborene und ganz auf den Leib hinzielende Geschehen aber setzt sich in Seelenempfindung, Seelensteigerung um, insofern es uns unlösbar verbunden mit einer Lust, mit einer Wonne bewußt wird, die uns als ein ganz seelisches Geschehen gilt. Und wiederum die zarteste Liebe einer Mutter zu ihrem Kind, die geistigste Freude eines Forschers, eines Künstlers an seinem vollendeten und gelungenen Werk, sie wirken sich an ihnen, die sie empfinden, aus in Steigerungen des im Herzen klopfenden, in den Adern pulsenden Blutlaufs. Ob ein Redner zu der Schar spricht, die sich um ihn gesammelt hat, und die er zu heilvoller Tat entflammen will; ob ein Lehrer und 205

Lenker zu Jünglingen redet, die er seine L e h r e erkenn e n und auch lieben machen will, denen er den Sam e n seines Geistes in die geöffneten Furchen ihrer Seele streuen will; ob ein Lenker k ü h n e r F a h r t durch die L u f t , über Meer und Berge seine Mannschaft zur höchsten Leistung wider Wind und Wetter spannt u n d spornt: die W o n n e n seines Wirkens werden sich endgültig und zielhaft an seinem Blut u n d Herzen und nicht anders auswirken, als noch die naturhafteste Lust, die der Leib den Mann in den Armen der Frau, die Frau in den A r m e n des Mannes finden läßt. Das Herz ist Mitte und Triebfeder, das Blut ist Bote und Vollzieher des lebendigsten Lebensgeschehens; sie beide sind die Erreger und Vollbringer des Zustandes, der uns Freude heißt. Und wie sich an ihnen die seelische Spiegelung von dem leiblichen Geschehen nicht t r e n n e n läßt, so nicht die W i r k u n g auf den Leib von den Ausstrahlungen der Seelenfreuden. Und es sind zwei Weisen und Wege, durch die sich dies höchste G u t , das uns Sterblichen zuteil wird, an uns spendet: einmal durch jene äußersten Erregungen, in d e n e n sich unser Lebensgefühl eine Stunde oder auch n u r wenige Herzschläge lang zur höchsten der uns geschenkten Wonnen steigert, die uns wie Rausch u n d T r u n k e n h e i t u m f a n g e n und doch nichts von Laster und künstlichem Rausch des Leibes an sich t r a g e n , und dann wieder durch jenes Tage und Monde, bei den Glücklicheren durch Jahre und Jahrzehnte leise hinströmende Wohlgefühl, das wir Gesundheit nennen, und das uns doch in Wahrheit ein ebenso großes Glück Leibes und der Seelen spendet, wie jene höchsten Gipfelstunden, die ihrem Wesen nach n u r Seltenheit und Ausnahme sein können. Auch diese Aus-

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nahmemäßigkeit lebt uns der Leib zu Muster und Vorbild vor, wenn er uns seine höchsten Lustspenden n u r zur Seltenheit gewährt und uns durch harte Strafen e r k e n n e n lehrt, daß wir jedes Übermaß an dieser Erregung äußerster Lust b ü ß e n müssen mit Herabm i n d e r u n g e n , ja m i t Zerstörungen jener stillen, aber dauernden Gabe des Leibes, der freudigen Gesundheit seines T u n s und Empfindens. Ober Eines aber läßt dieser i m m e r vorbildliche Lehrund Zuchtmeister unseres Tuns, der Leib, uns nie im Zweifel: daß uns beständig nach Freude dürstet, und daß jeder Mangel an Freude uns schon kränkt, jedes Leid vollends das Strömen unseres Lebens h e m m t und zum Schleichen und gar z u m Versiegen bringt. Mit tausend unwillkürlichen, mit tausend willkürlichen Handlungen flieht unser Leib jedes Leid, das droht, sucht unser Leib jede Freude, die ihm winkt. Die Seele, das ist das Insgesamt unseres außerleiblichen Ichs, spricht zwar eine etwas stummere Sprache; aber der Sinn dessen, was sie durch ihr werktätiges Verhalten uns wissen läßt, ist kein anderer, als der Rat des Leibes. Jedes einzelne Stück ihres Vollbringens, sei es im Geist, sei es in der T a t , das sie in Freudigkeit u n t e r n i m m t und zu Ende f ü h r t , wird besser gedeihen, wird stärker, schöner, folgerichtiger, zielgerechter ausfallen, als irgend eines, das nicht unter so g u t e m Zeichen begonnen ist. Kein W u n d e r ; denn eben die Freudigkeit, in der es vollbracht wird, ist ja das Erzeugnis der gleichen Kräftesteigerung, die am ehesten den Erfolg des T u n s gewährleistet. Man merke wohl a u f : diese eine, glückverheißende Wirkung der Freude steigt nicht auf aus b e w u ß t e m Handeln der Seele, sondern aus ihrem unbewußten, 207

ihrem nur schlechthin wirkenden Tun. Auch die Seele geschieht, wo sie ungelenkt von Absicht und Zielsetzung ihren Weg wandelt, so wie der L e i b immerdar geschieht, wo unser Wille ihm nicht seine Kreise stört. Wenn aber Seele und Leib gleichermaßen, wo immer sie ungestört ihrem eigenen Gesetz folgen, als die mit Freude Verbündeten uns erscheinen, dürfen wir nicht auch das Geschehen der Welt als mit Freude verbündet, in Freude sich vollziehend anschauen oder zum wenigsten ahnen? Ganz gewiß nicht im Menschensinn des Wortes Freude: wie sollten Sterne, Moleküle, Zellen Freude spüren, da ihnen weder Bewußtsein noch Fühlen zukommt. Aber in dem andern Sinn von Freude oder doch von Freudigkeit, den wir von uns, den Erfreuten, auf den Gegenstand, der uns freut, übertragen. W a r u m erscheint uns das Kreisen der Planeten um Sonnen, der Monde um Planeten wie Schönheit schlechthin, w a r u m dünken uns die unzählbaren Heerscharen der Sterne wie ein beständig sprudelnder Quell von Freude, warum sind uns die unübersehbaren Ordnungen am Leibe einer einzigen Pflanze etwas Herrliches, warum lassen noch die undenkbar kleinen, undenkbar schnellen Reigenspiele, die die Atome im Molekül, die Elektronen im Atom vollziehen und zu denen nur die bauende Einbildungskraft der Forscher unserer Zeit hat hindringen können, die Wirkungen eines zauberisch berückenden Schaustückes in uns einströmen? Wie kommt es, daß die Sternkundigen uns das Herz höher klopfen machen, wenn sie uns neue Kunde bringen von dem Sturz der Glutwedel, dem Gewirr der Malströme von feurigen Gasen, von ausbrechendem Magma, von Sonnenfeuerzacken, die über zehntausend

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Meilen weit in den Weltraum lodern? Warum nehmen wir mit leidenschaftlicher Freude teil, wenn den Meistern der Körperlehre wieder gelingt, über den Wirrsal des Geschens das Walten eines neuen, weithin gebietenden Gesetzes zu breiten? Es kann keinen andern Beweggrund haben, als daß das Geschehen, das uns diese Freuden schafft, selbst in Freudigkeit sich vollzieht, das ist in der Form von Ordnung, Folgerichtigkeit, Sicherheit, Stärke und Gemessenheit des Sich-Vollziehens, die uns, den sie Betrachtenden, nein, sie Empfangenden Wurzel unserer Freude ist. Gesundheit nennen wir am Pflanzen-, am Tier-, am Menschenleib den Zustand der vollkommenen Geordnetheit aller seiner Glieder, das ganz sichere Spiel seiner Werkzeuge, die blühende Beschaffenheit seiner Oberfläche. Wir dürfen kein Geschehen im unbelebten Reich gesund nennen; aber wenn wir inne werden, wie unverwirrbar sicher die billionenfache Mannigfaltigkeit und Verschlungenheit des Gliederganzen eines unbelebten Gebildes, gleichviel ob eines Sonnensternes oder eines Sonnenschwanns, eines Elektronenbaus in einem Atom oder der Molekülenwolke in einem Gasnebel im Weltraum, in seinen Ordnungen gefügt, in seinen Bewegungen geregelt ist, so möchten wir noch von der Gesundheit der Sterne und der Atome sprechen, da es uns doch verwehrt ist. Schönheit nennen wir an den Dingen der Natur, an den Erzeugnissen der Kunst, was unsern Sinnen wahrnehmbar, unserer Seele erfreulich ist. Aber ist nicht in unzählig vielen Fällen Schönheit der Dinge ihre Geordnetheit, sei es zu Gleichklang und Ebenmaß, sei es zu leiser Abweichung von Gleichklang und Eben-

maß, die reizvoll ist, weil sie die Regel zum größten Teil festhält, zu einem Rest aber durchbricht. Freudigkeit, Gesundheit, Schönheit, sie können als Boten des Willens der Welt uns, ihrem Teile, sich mitteilen, uns mit sich erfüllen, sie können, von der Welt in unseren Leib, in unsere Seele eingestrahlt, als die Boten ihres Willens an uns gelten, in Freudigkeit, in Gesundheit, in Schönheit zu geschehen, wie sie geschieht.

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D E R W I L L E DER W E L T A L S A R Z N E I F Ü R DAS LEIDEN AM LEBEN

D A S V E R T R A U E N ZU D E M S I N N DER

WELT

Die Lauschenden nach dem Willen der Welt, die nach ihm Horchenden und ihm Gehorchenden sind die Weltfrommen nicht nur, nein, auch die Weltfrohen. Schon wer die Welt erforscht, liebt die Welt, und gar wer den Willen der Welt bereit ist zum Herren über 211

sich und sein Leben zu erheben, dem muß ein Zutrauen zu dem Sinn der Welt innewohnen, das nur aus der Freude erwachsen kann, aus der Freude an der Welt und ihrem Geschehen. Wohl dem, dem diese Freude als ein freies Geschenk des Lebens vielleicht von der Wiege an verliehen ist und dem die Lose so gnädig fallen, daß ihm keine Fährde und kein Wahn des Lebens dies köstliche Gut verstört. Aber nicht allen wird es so gut, nicht alle sind gegen die Welt fromm oder froh, viele leiden gar, vielleicht auch von Jugend an, am Leben. Es ist ihr Ich, das sie so leiden läßt, und Andere sucht das Schicksal so hart heim, daß sie meinen, dem Geschehen der Welt darum grollen zu müssen. Es sind Weise aufgestanden, die uns lehren wollten, am Geschehen der Welt zu zweifeln und zu verzweifeln. Die Welt zu billigen galt als ein Zeichen von seichtem Sehen und sich ihrer zu freuen als ein Mangel an geistiger Vornehmheit. Noch schwerer fällt ins Gewicht, daß die großen Gebilde reifer Gläubigkeit allesamt aus dem Grund eines Leidens am Leben aufgestiegen sind. Denn wenn sie sich Erlösungsreligionen nennen, so schelten sie die Welt als mißraten und das Leben als eine Quelle von Jammer und Leid. Und wer noch durch diese äußersten Bezeugungen von Widerwillen gegen die Welt sich nicht bestimmen lassen wollte, einen Widerwillen, der jedes Forschen nach dem Willen der Welt und gar jedes Sich-Fügen in ihn unmöglich macht, der würde vielleicht auf die Geschichte des Menschengeschlechts verweisen und sie als ein unwiderlegliches Zeugnis für die Unerträglichkeit oder wenigstens für Wirrsal und Wahn unseres 212

Daseins a n r u f e n . Und dürfte auch eine von S t i m m u n g und G e m ü t ganz unvoreingenommene Geschichtsforschung leugnen, daß die Geschichte der Völker auf lange Strecken hin und bei ihren gewichtigsten Entscheidungen wie ein Hexenkessel von Unsinn und Greuel, von Unrecht und Verderben erscheint? Bed ü r f t e es wirklich allzu starker U m d e u t u n g e n oder gar Fälschungen der Wahrheit, u m die Weltgeschichte als ein P a n d ä m o n i u m von menschlichem I r r t u m und menschlichem Verbrechen erscheinen zu lassen? Und das Schicksal des Einzelmenschen, ist es, gemessen a m Maßstab der Gerechtigkeit, nicht tausendmal ähnlich dunkel und verzweifelt? Ist es nicht bezeichnend, daß ein Weiser unserer Tage, der aus e i n e m Seelenarzt ein Seelenkundiger wurde, als einen der d e m Menschen innewohnenden Triebe den Zerstörungstrieb a n n i m m t und ihn dem sonst von i h m als allmächtig gepriesenen Eros als Todestrieb gegenüberstellt? So daß dann schließlich die vorurteilsloseste und sachlichste Forschung zu einem A u f b a u metaphysischer Sittenlehre gelangt, kaum weniger mythologisch als der der religiösen Sittengesetzgebung, die da verkündet, der Menschen Trachten ist böse von Jugend auf. Kein Zweifel, allen diesen Verdüsterungen gegenüber würde die weltfromme und weltfreudige Hingabe an den Willen des Weltgeschehens, die auf diesen Blättern verkündet wird, wie das Trugbild einer Fata Morgana erscheinen, ebenso vergänglich, ebenso irreführend wie sie. In Wahrheit aber geht von d e m Glauben an den Willen der Welt, der ein Wissen von d e m Geschehen der Welt ist, ein Heil aus, das noch f ü r jede Form des Lei213

dens a m Leben Arznei bedeutet. Ja es m u ß gesagt sein, daß das Gebot, das der Träger dieses Heils ist, der oberste von den Befehlen ist, die der Wille der Welt uns zuraunt: denn es ist nichts anderes a b das Geheiß, sich diesem Willen, der uns i m Geschehen der Welt offenbar wird, demütig zu unterwerfen. Es ist mithin die allgemeinste, die grundsätzlichste von den Ordn u n g e n des Gesetzbuches, das das Geschehen der Welt vor unseren Augen aufschlägt. D e n n es ergeht mit i h m an uns nicht m e h r und nicht weniger als die Forderung, dieses Geschehen als die letztgültige Regel auch unseres Lebens anzuerkennen, eine Regel, die so gewaltig, so unwiderstehlich, so herrscherlich ist, daß sich in sie zu fügen den tiefsten Frieden und mit i h m das beständigste Glück bedeutet. Es ist die Majestät der Welt, die Allmacht und die Allherrschaft ihres Willens, die von uns verlangt, daß wir uns ihr beugen. Und ihre Verheißung und ihr Lohn ist die Erlösung von allem Leid a m Leben, weil sie zu uns spricht: ich, das Geschehen der Welt, ich bin das Gesetz, ich bin die Notwendigkeit, und d a r u m heißt jedes Sich-mir-beugen teil an mir haben. Erfülle meinen Willen, so lautet ihr Gebot an uns, so wirst du selbst ein Teil vom Willen der Welt, hast teil an seiner Herrlichkeit, an seiner Kraft, seiner Allmacht. Und da du, was d u mit jedem Teil der Welt, auch der unbelebten, noch d e m Stern oder d e m Elektron gemein hast, bewußt ausüben darfst, so wird dir das höchste Glück zuteil: d u geschiehst und bist, so wie jedes Wesen, jedes D i n g der W e l t ; aber du geschiehst, wissend u m dein, u m ihr Geschehen, und wirst so Teilhaber a m Willen der Welt in doppelter Stärke, in doppeltem Reichtum. Ja, in dir gipfelt das Geschehen, der Wille der Welt, in214

d e m es sich in dem Menschen allein den Spiegel seiner Bewußtheit vor das Antlitz hält. Selig sind, die u m den Willen der Welt wissen, denn sie werden teilhaben an seiner Herrlichkeit.

DER BRUDER LEIB UND SCHWESTER

DIE

SEELE

Der Wille der Welt will in deinem Leben über nichts mehr H e r r sein, als über deinen Leib. D e n n du bist nicht zuerst Du. Sondern du bist ein Teil der Welt. D u hast Macht über einen Teil der Welt, d e n n d u kannst ihn bewirken. Bist du ein Großer, so ist dein Teil g r o ß ; aber auch wenn du n u r dein Maß von Menschentum voll g e r ü t t e t dein Eigen nennst, so vermagst d u über Mensch und Welt genug Heil, g e n u g Unheil zu bringen. Aber es gibt einen Teil der Welt, über ihn hast d u höchste Macht, über ihn hast du fast Allmacht, er ist dir ganz zu eigen gegeben: es ist dein Leib. Ganz empfindest du ihn als dein Ich, und es ist recht so: d e n n du hast kein anderes Ich, das neben d e i n e m Leib sein könnte. I r r t u m und Unrecht ist bei allen denen, die dich glauben machen wollen, dein Ich sei doppelt. Und dein anderes Ich, deine Seele, könne sich abtrennen von deinem ersten, deinem Leibe. D u hast n u r ein Ich, das in deinem Leibe wohnt. Höre nicht auf sie, die deiner Seele Millionen Jahre versprechen in einem Leben nach d e i n e m Leben. Nur als u n t r e n n bare Geschwister können die beiden Hälften deines Ichs den Weg ihres Daseins durchwandern. T r e n n t sich der Leib von der Schwester, der Seele, so stirbt

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sie zur gleichen Stunde. Sie kann nicht sein ohne den Bruder Leib. W ü ß t e t ihr, die ihr an die Unsterblichkeit der Seele glaubt, aus welchen prüfend-einfältigen Vorstellungen die Vorstellung von der Seele als eines selbständigen u n d vom Leibe lösbaren andern Ichs erwachsen ist, ihr würdet euch weniger Bedenken machen, sie wieder von euch zu werfen. Sie ist ein Erzeugnis der Kinderzeiten der Menschheit, kindhaft wie sie selbst, geboren aus der E r f a h r u n g T r a u m : eben da ich u n t e r dieser Mandiokapalme lag u n d schlief, t r ä u m t e mir, so dachte der Urzeitmensch, ich sei bei den Stromschnellen, die einen halben Tagesmarsch von der Palme entfernt sind, und als ich nach einer halben Stunde wieder aufwachte, war ich doch hier. Also m u ß ein anderes, ein zweites Ich von mir an den Stromschnellen gewesen sein, da mein Leib, der hier die ganze Stunde über r u h t e , nicht einen T a g lang dorthin und von dort zurück gewandert sein kann. Nicht einmal die Vorstellung vom Fortleben der Menschen nach d e m Tode hat, so scheint es, die Wurzel f ü r die Vorstellung von der Seele selbst gegeben. D e r Mensch der f r ü h e n Urzeit hat als ein Gesunder, vom roten Blut tätigen Lebens Erfüllter, sich sehr wenig u m den Tod und die Toten g e k ü m m e r t ; er eilte von beiden schnell fort, u m das Leben weiterzuleben. Aber als die Vorstellung Seele einmal da war, ist sie gewachsen und gewachsen zu einem Riesenbaum, der mit seinen Zweigen alles Denken der Menschen von Welt u n d Leben überschattete. Aller Glauben der Priester, alle Gedankengebäude der D e n k e r r u h e n auf dieser Grundveste: die Macht der Zweiheit in unserem Denken hat sich nirgends un-

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überwindlicher erwiesen, als an ihr. Aber wenn E i n u n g alles Erkennens irgendwo nötig ist, daß sie überall die Einheit des Geschehens sehe, so hier. Nur wer die Überredungsmittel ins Auge faßt, mit denen die alten und reifen Gläubigkeiten ihren Anhängern das Weltweh, das Lebensleid, das sie doch selbst in ihnen erzeugen, wieder zu benehmen trachten, wird recht inne werden, wie ganz anders Weltfrömmigkcit verfährt, u m das Gleiche, jedoch mit viel sichrerem Erfolge, zu bewirken. Der Glauben ist zuerst ein Weltbild, eine Daseins-, eine Gotteslehre. Aber er ist auch ein Hilfsmittel zum leichteren Leben, das sich die Menschheit, gleichviel ob b e w u ß t oder unbewußt, geformt hat, u m die Gefahren, die vom Schicksal her drohen, besser zu bestehen. Oft ist der Glauben ein warmer Mantel, in den sich die in hundert Ängsten zitternde u n d frierende Seele hüllt, u m Schutz zu gewinnen gegen die Stürme des von allen Seiten her sie angreifenden Lebens, gegen den tödlichen Frost der ihr innewohnenden Leiden. Gotteskindschaft wird d e m Gläubigen, Vaterliebe dem Gott zugeteilt, und da der Gott Macht über das All der Welt hat, so vermag er gegen jede Gefahr und in alle Möglichkeiten des Geschehens hinein zu schützen. Er wird Schild und Schirm, Burg und Hafen f ü r jede Bedrängnis. Ja, von seiner Gnade wird in den jenseitigen Paradiesen Wonne, Glück, Seligkeit und dies für alle Ewigkeit erwartet. Dieser Glaube ist ein Weltgedicht, das herrlichste und größte, das menschliche Bildnerkraft geschaffen hat, und gibt sich a m offensten als solches zu erkennen, wenn er sein Gottesbild höht u n d steigert bis dahin, wo es die Grenzen der Vorstellbarkeit erreicht. Aber 217

auch daß es Gedicht im Sinn von Ungewißheit ist, daß es von Menschen frei gebildet ist, kann es nicht verleugnen: denn es kann nur so lange Macht über die Seele behaupten, ab sie sich zu ahnen begnügt, und es sinkt ohnmächtig zusammen, sobald sie zu wissen begehrt. Und wiederum, aus welchen Begehrungen und aus welchen Befürchtungen, aus welchen Nöten und aus welchen Sehnsüchten dies Gedicht entstanden ist, das auch ein Notschrei des Lebens, ein Ruf nach Rettung ist, das zeigt in kindlich offenherziger Unverhülltheit jenes Beiwerk des Glaubens, in dem der Mensch offenbart, was er von seinem Gott erhofft, erfleht, erwünscht. Denn in ihm enthüllt sich, welchen Lebenszweck ihm sein Glauben erfüllen soll, der durchaus nicht ein völlig freies Gebild seines Geistes, sondern ebenso sehr die Stillung einer Not seines Gemütes ist. Der Mensch, von unendlicher Lebensgier beseelt und von tiefer Todesfurcht bedrückt, wünscht Verlängerung seines Daseins über den Tod hinaus, und so macht er das ewige Leben zu der Gabe, die er von der Hand des allmächtigen Gottes am tiefsten erfleht und zugleich am sichersten erwartet. Der Mensch, vor dessen Augen sich der Untergang des Lebens am Einzelnen als eine der unumstößlichsten Tatsachen seiner Erfahrung beständig vollzieht, braucht einen Träger für diese Fortdauer des Lebens nach dem Tode, und so bildet er den Mythus von der Seele als einem zweiten Ich neben dem Ich des Leibes aus und macht sie zum Inhaber des erhofften ewigen Lebens. Der Mensch, im tiefsten besessen von einem unstillbaren Durst nach Glück, sieht sich umdrängt von allen Gefahrdungen der Natur außer ihm, von den Unzuläng218

lichkeiten des Leibes, von den Feindseligkeiten der Wesen seiner eigenen Art, und so ersehnt er sich ein Dasein, das von allen diesen Nöten und Bedrängnissen frei ist, und so erhöht er jenes ewige Leben, das ihn sein Lebensdurst ersehnen läßt, zu der ewigen Seligkeit, die ihn sein Glücksdurst erwünschen heißt.

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VOM T O D NACH DEM T O D E

DER TOD ALS STEIGERUNG DES LEBENS Kein strengeres, kein unverhohleneres, kein eindeutigeres Gebot läßt der Wille der Welt an uns ergehen als dieses, daß wir den Tod zu ehren haben als Tod, ab das von ihm unserem Leben gesetzte Ende. Von keinem der Seinsbilder über und außer der Welt, die Traum und Ahnen unseres Ge220

schlechtes über sich hinausgeworfen haben, weiß er weniger als von einem ewigen Leben. Er kennt nicht ein Leben nach dem Tode, nur einen Tod nach dem Tode. Und da die höchsten dieser Jenseitsträume, insonderheit die, die uns die gültigen sein sollten, nicht Bilder eines späteren Seins, sondern mehr noch Maße und Ziele eines jetzigen Sollens geben, so bedarf eine Sittenlehre, die ihre Satzungen von dem Willen der Welt herleitet, allerdings der gefaßtesten Abwehr gegen die von dorther kommenden Forderungen; aber viel unbefangener wird sie zuerst ihr Ja zum Tode aussprechen, ehe sie ihr Nein den Todesleugnern entgegenhält. Denn da wir den Willen der Welt an unserm Tun aus den Wirklichkeiten seine Stimme erheben hören, nicht aber aus dem Wähnen der Menschen, so sollen wir ihnen unser Ohr öffnen, ehe uns dieses mit seinen Ansprüchen unser Fühlen verwirrt. Der Wille der Welt wird uns, wenn wir ihn recht zu deuten wissen, den Tod nicht als Feind, sondern als Freund und Förderer kennen lehren. Aber, so sagt man uns mit angstverzerrten Mienen, ist uns nicht die Furcht vor dem Tode tief in die Seele gepflanzt, und, so werden wir zugeben, könnte sie nicht eine Kundgabe des Willens der Welt sein, umso wirksamer, als sie zu uns aus uns selber spricht? Allein hier tritt ein höheres Gebot des Willens der Welt an uns in Kraft: aus jedem Nein, das uns aus der Welt, sei sie in uns, sei sie außer uns, entgegentönt, sollen wir das Ja erlauschen, das sich in ihm birgt. Denn Welt und Wirklichkeit wollen sich, also ein Ja, und wo sie zerstören, wo sie verneinen, ist immer ein Neues, das sie aufbauen, bejähren. 221

Die Furcht vor dem Tode ist ein Vorrecht zum Schlimmeren, das die Menschen auszeichnet vor den andern Wesen und Seinsträgern, auch vor den Tieren. Das Glück des Tieres ist, daß es den Tod wohl kennt als einen Tatbestand an andern Tieren oder an Menschen, aber daß es ihn nicht kommen sieht für sein Einzeldasein. Dem Menschen aber ist Ziel und Ende seines Lebens bewußt; er weiß um sein Nichtsein nach Ablauf seines Leben«, und so wirft die Nacht dieses Nichtseins einen Schatten zum mindesten auf den Abend seines Erdentages. Aber schon das Bild vom Tag des Lebens und von der Nacht des Todes läßt erkennen, wie der Allgewaltige die Flamme unseres Lebens nicht nur auslöscht, sondern auch schürt und nährt. Währte unser Tag ewig, wüßten wir nichts von der Nacht, aus der, in die unser Leben taucht, so würde der Tag unseres Lebens uns nur mit einem Hundertstel seiner Helle leuchten. So wenig ein Bild, das jedes Rahmens entbehrte und nach allen vier Seiten sich ins Endlose ergösse, noch ein Bild wäre und noch Bildes Kraft, das heißt Wirkung, besäße, so wenig würde ein Leben ohne Ende das Bild eines Einzelmenschen in seiner Besonderheit darstellen können. Wir alle würden ganz wandelbare Auswirker eines allgemeinen und grenzenlosen Menschentums werden: nur der Tod ist uns Bürge unserer Persönlichkeit, nur der Tod gibt jedem Lebenden das Gut seiner Einzigkeit, seiner Unwiederholbarkeit. Und es ist das höchste, reichste, das wir besitzen, wir alle, vom Stärksten, Höchsten bis zum Niedersten, Schwächsten. Denn noch das geringste unter den Erdenkindern hat noch einen leisesten Reiz seines Antlitzes, seiner Gestalt, noch ein kaum merkliches Eigentum seines 222

seelischen, seines geistigen Vermögens, die es mit k e i n e m a n d e r n Lebenden neben, vor, nach ihm teilt. Und wie der Tod dieses höchste G u t der Einzigkeit des Einen d e m Menschen zwar nicht schafft, aber m e h r t , so m e h r t er i h m noch ein anderes G u t von äußerster Kostbarkeit ins Unermeßliche: die Freude an u n s e r m Sein und T u n . Sie ist uns an sich eingeboren, insofern der gesunde Mensch stark und der starke Mensch freudig ist. Und wenn die vielfachen Bedingtheiten und Beengtheiten seines Daseins i h m Stärke wie Freude zu mindern n u r allzuviel Macht haben, so ist es der Vorzug dieser einen, der U m schränktheit seiner Lebensdauer, daß sie ihm bei aller Verschattung doch auch Glut und Leuchten in sein Empfinden vom Leben wirft. Wohl n i m m t der Allherrscher Tod unserm Geschlecht mit der einen Hand unerbittlich und unüberwindlich das Gut, an d e m unser Herz am zähesten h ä n g t ; aber mit der anderen Hand spendet er den Segen, der ihm die W o n n e n dieses Besitztums ins Unnennbare steigert. D e n n n u r als ein Verlierbares, ja ein unbedingt Verlorengehendes wird uns das Leben zum funkelnden Kleinod unseres Seins. Und so geschieht an uns das Rätselreich-Zwiespältige, daß die Gewalt, die uns täglich, stündlich mit d e m Ende des freudevollen Lebens bedroht, die dies Ende über uns als ein unausbleibliches Schicksal verhängt, die Flammen unserer Lebensglut höher, heißer emporlodern läßt, als irgendein Geschenk der Welt a n uns, außer dem L e b e n selbst. So sollen wir den Tod nicht fürchten, wir sollen ihn ehren. Ja, wir sollen i h m danken, wie unwissende, in die Irre gehende Kinder ihrem Vater-Führer, der sie

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lenkt und beschenkt, danken müssen. Denn er facht nicht allein die Glut unserer Lebensflamme an, nein, er gießt auch in unsere Seele die Erkenntnis, die unserem Weltglauben, unserer Weltfrömmigkeit die beste Stütze leiht. Ein Verkünder starker und schöner Lebenslehre in unserm Volk hat gesagt, daß Tod und Liebe Eines wollen: die Hingabe unseres Ichs. Und der Tod will dieses Wollen noch stärker ab die Liebe, denn er ist noch mächtiger als sie, er bezwingt nicht die ihm Ergebenen nur, sondern alle Glieder unsres Geschlechts. Keine Waltung, keine Gestaltung unseres Daseins lehrt uns unmißdeutbarer die Tugend, deren wir am meisten bedürfen: die Demut vor dem Willen der Welt. Es gibt keinen teureren Zoll, keine kostbarere Steuer, die wir dem Herrenwillen der Welt abtragen, als die Hingabe unseres Einzellebens an ihn. Und der Tod ist der ernste Statthalter dieses höchsten Herrschers über uns, er, der diese Gabe von uns fordert. Und verstehen wir sein Gebot nur recht, so ist, was uns hartes Schicksal, grausame Forderung scheinen möchte, nur gütige, eindringliche Lehre. Denn sein abforderndes Verlangen an uns heißt uns freilich scheiden vom Licht unseres Sonnentages; aber es bedeutet uns auch überzeugender, unmißverständlicher als irgendein über uns sonst verhängtes Erfahren, Erleiden, daß wir nicht uns gehören, sondern der Welt, ihren Ordnungen, ihren Kreisläufen, daß wir nicht Ganzheiten sind, sondern Teile, Teile eines höheren Ganzen, und daß also kein zwingenderes, aber auch kein seligeres Gebot sich über unser Leben reckt, ab dieses eine immerdar sich wiederholende: dem Willen 224

der Welt uns nicht allein zu fügen, nein ihn zu erlauschen, ihn aus freien Stücken zu tun. Der Wille der Welt ein Herrscher? der Tod sein Statthalter? also Persönlichkeiten oder zum wenigsten menschenähnliche Wesenheiten ? so wird m a n fragen. Nicht i m Geringsten: es ist n u r die unaustilgbare Freude des Menschen, sich alle auf ihn zudringenden Wirkungen des Weltgeschehens menschennah zu denken, ihr Verhalten zu i h m in Bild und Gleichnis von Menschenart zu drängen, es sich dadurch greifbar zu machen. In Wahrheit aber sind auch diese höchsten Gestalten unserer immer allzu sehr von der Mitte Mensch her sehenden Einbildungskraft n u r Formen des Geschehens und in alle Ewigkeit nichts anderes: nicht Gestalten, sondern Gewalten. Der Tod — wenn er denn auch des weiteren als Bild und im Bild als Person auftreten soll — hat sehr viele Überredungsmittel, u m sich uns begreiflich zu machen, u m sich uns als Notwendigkeit, ja als Wunschbild einzuprägen. Als Erlebnis, als vorgeahntes, vorgefühltes Schlußgeschehen unseres irdisch-leiblichen Seins spricht er zu uns: Ich bin das Ziel, ich bin Hafen, bin Ende der Fahrt und bin Ruhe. Unser Leben ist Kurve, unser Altern Senkung, unser Tod Erreichen der Ebene, von der es einst aufstieg.

DIE ABWEHR DER

TODESLEUGNER

Mache dir doch nicht K u m m e r u m den Tod nach dem Tode. Sie, die dir die Millionen Jahre Leben nach dem 15

Breysig

ooc

Tod versprechen, wissen dir nichts zu sagen von Sinn und Nutzen dieses verlängerten Lebens. Daß Menschen auf dieses Wunschbild je verfallen sind, hat seinen tiefsten G r u n d in einem Wunsch von geringem W e r t : dem Wunsch des Ichs, sein kleines Sein verlängert zu sehen über die i h m vom Leib gesetzte Spanne Zeit. Ein W e r t würde diesem Fortleben f ü r die Welt n u r zukommen bei den Sterblichen, die ohnehin Unsterbliche sind, weil das Gedächtnis der Nachlebenden ihr Sein bewahrt, aber auch bei ihnen n u r dann, wenn nicht ihr Leben nur, nein auch ihr Schaffen sich fortsetzte. Wo aber ist die Menschheit, f ü r die sie schaffen könnten? Auf solche Frage Antwort zu geben, vergaßen die, die diese Wunschbilder ausmalten. Seligkeit also an sich? Ein Faulenzer- und Genießertraum, geringer noch als das Traumbild der Kindervölker der Menschheit von den ewigen Jagdgründen, das doch wenigstens T u n und freudiges Wirken in sich schließt. Die Himmelreiche höherer Ordnung tragen alle den Stempel der Weise derer an sich, die sie sich erdachten. Heißt das Litaneien-Singen ein Dasein, des Menschen würdig, der das Höchste fand, das es auf Erden gibt, das freie Schaffen von eigenem Gebild, die freie T a t von eigenem T u n . Er soll Jahrtausende und aber Jahrtausende lang sitzen, die Hände müßig i m Schoß, versunken in das Anschauen der höchsten Herrlichkeit? Es sind die T r ä u m e ägyptischer Säulenheiliger und gottseliger Bettelmönche. Wir wollen sie ihnen überlassen u n d denen, die ihnen gleich sind. Wie die Vorstellung Seele in der Kindheit der Menschheit entstand, hat m a n sie gar nicht zuerst auf das Leben nach d e m Tode gewandt. Zuerst entstanden

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noch in der Urzeit selbst Glaubensgebilde, viel schöner, viel menschlicher, viel weltischer als die späteren, die sich die höheren nannten. Eigner, Inwohner der Menschen nannte m a n die Seele; aber m a n glaubte, daß Fels und Fluß, Wolke und Stern, Baum und Tier, ja noch Stein u n d Speer auch einen Eigner, auch eine Seele hatten. Später aber wurde das Bild von dem Fortleben der Seele nach dem Tode des Leibes, das anfangs n u r harmlos als eine Fortführung des Lebens i m Diesseits — etwa des nächsten großen Flusses — i m Jenseits — jenseits dieses Flusses — ausgemalt wurde, zu Strafgericht und Zuchtrute verwandelt, zur Zucht in der Hand der herrischen Priester, die die ihnen anvertraute Menschenherde in Staub und D e m u t , Furcht und Zittern vor die Bildsäulen der Götter zwingen wollten, die sie erschaffen, die sie auf den Altar gestellt hatten. So daß f ü r hunderte von Geschlechtern, tausende von Jahren der Menschheit ein Quell von Elend und Jammer, knechtisch feiger Furcht wurde, was einst das Erzeugnis kindhaft spielender Einbildung war. Und es waren die Priester der höchsten Glaubensformen, die emsig b e m ü h t waren, neben den lockend-ruheseligen Himmeln die unsäglich grausamen Höllen f ü r die auszumalen, die ihrem Glaubensgebot sich nicht fügen wollten. Verruchte Gespenster — sie sind nicht mehr f ü r die Starken und Stolzen, die demütig sich der Welt hingeben, stolz das Königtum ihrer Menschenwürde wahren wollen. Unter den Großen, Weisen wird m a n nicht viele finden, die an diesem Menschheitstraum festhielten. Piatons Ideenhimmel war höher als diese kleine Lebensverlängerungssorge: er galt den großen Denkbildern, nicht den kleinen Menschen. Als Kant

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von einem etwas zudringlich-neugierigen zugereisten Gelehrten befragt wurde, was er von der Unsterblichkeit der Seele halte, da schwieg er zuerst. Und als der andere auf seiner Frage bestand, da fielen die kargen Worte von den schmalen Lippen des Meisters der Denkkunst: nun, damit ist wohl nicht viel Staat zu machen. Doch mag es noch Vielen Herzeleid bereiten, auf den alten Traum des fortgesetzten Lebens, vielleicht auch auf das Wunschbild eines reinen, schlacken- und schrankenlosen Daseins zu verzichten. Aber wie weit geht doch diese alte Sehnsucht von jedem rechten Erkennen und Werten unseres Daseins als eines Teil" vom Weltgefüge fort in die Irre. Wie dürfen wir denn Anspruch machen auf alle die unsäglichen, alle die unerhörten Freuden, die uns unser Sein und unser Schaffen, die uns Welt und Menschentum, eigenes, fremdes, schenken, wenn wir uns nicht in die Bedingungen fügen wollen, aus denen unser Sein erwuchs. Wir würden dem Menschen gleichen, der erklären wollte, wohl wünsche ich Rosen, aber sie sollen nicht im Frühling nur, sondern ewig blühen; wohl will ich dies Haus erbauen dürfen, aber es soll nie fertig werden, sein Bau soll nie enden. Kindischer W a h n ! Und Wahn auch, nicht zu bemerken, daß ein Bild, das noch über seinen Rahmen sich dehnte, kein Bild mehr wäre, daß erst der Rahmen das Bild macht. Wie viel Glut der Farbe, wie viel Feuer des Lebens würde unserem Dasein genommen, wäre es ein schrankenlos sich fortsetzendes, endlos fortrollendes. Wir sollten viel zu viel Empfinden von der Wahrheit des Lebens, von allen Wirklichkeiten der Welt haben,

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als daß wir uns diesem Kindertraum aus der Jugend der Menschheit hingäben. Er ist eine von den tausend U n w a h r h e i t e n , in die uns eine nicht geschichtliche, nein geschichtelnde Hingegebenheit an G ü t e r unserer Ahnen u n d Urahnen hineingleiten läßt. Möchten wir doch einmal lernen, daß m a n Spätsommertage nicht zwangvoll in Frühling umtauschen und umtäuschen soll, daß m a n nicht die reifste Höhe des Mittags f ü r M o r g e n d ä m m e r u n g erklären soll. Wer die Welt liebt und i h r e m Willen sich ergibt, kann den Tod nicht fürchten, m u ß ihn lieben. Sollen wir nicht, wenn der Abend sinkt und —- Glück alles Glücks — das Leben uns geschenkt hat, das Tagwerk unserer H ä n d e zu vollenden, uns leise u n d ergeben auf die Feierabendbank vor d e m Hause niederlassen und dann, gesättigt von Lust und Leid des Lebens, uns auf das letzte Lager zur endgültigen R u h e niederlegen? Haben wir gewirkt und geschaffen, so lang es Tag war, dann ist es recht, zu r u h e n . Unser Leib, der unsere Seele ist, verfällt, unsere Kraft wird m a t t ; warum sollen wir ihn nicht zerfallen lassen? Der Wille der Welt will so von unserm W e r d e n . Er will, daß unser Sein nicht a u f h ö r e , aber ein anderes werde. Niemals hören die Urkörper, aus denen sich unser Leib zusammensetzt, auf, ihre L ä u f e zu t u n : die Stunde unseres Todes setzt d e m Kreisen i h r e r Läufe kein E n d e : die Quadrillionen von Elektronen durcheilen u n g e h e m m t weiter ihre schönen Sternläufe, kreisen und eilen in den P l a n e t e n b a h n e n der Sonnengefolgschaften unserer Atome, kreisen u n d eilen, kreisen u n d eilen. Sie strahlen in der Schönheit ihrer ewigen Reigentänze ganz ebenso leuchtend, w e n n unser Leib schon zu verwesen beginnt oder wenn er

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zu einer Handvoll Asche verbrannt ist, als da wir glühend von Leben im Licht der Sonne schritten. Werden waren wir, Werden sind wir, Werden werden wir sein immer und ewig. Und einmal nach achtzig Tausenden von Jahren, oder nach achthundert Millionen, gleichviel, wird es sein, daß diese selbe Elektronenzahl sich wieder zu der Gemeinschaft von Urkörpern, von Atomen und Molekülen zusammenfindet, die heute unseren Leib bilden. Und unser Leben wird von neuem beginnen, von neuem wird unser Lieben und unser Leid anheben und wir werden unseren Kreislauf vollenden. Und nach aber achthundert Millionen von Jahren wieder und nach dritten achthundert Millionen von Jahren wieder. Und so immer wieder und wieder und wieder, ebenso ewig, wie seit Ewigkeit schon vor uns wir immer die Gleichen waren. Dies ist der Wille der Welt an uns; warum sich gegen ihn in Gedanken auflehnen? Warum sind die leisen Märchenspiele der Asphodelos-Wiesen unserer Vorvordern der Majestät des Urgeschehens der Welt vorzuziehen? Sind wir denn Kinder und wollen immer weiter Himmel und Hölle. Selige und Verdammte spielen ? Lehrt nicht auch das Leben der Menschheit uns das Schritt- und das Zeitmaß und damit die Zeitlänge unseres Lebens ehren? Nur wenn die Geschlechter der Menschen sich beständig auf dem Fuße folgen, kann sich die Fülle der Gesichte, die Glut des Geschehens erzeugen, die uns heute froh und stolz macht. Erreichten wir nur das Alter der biblischen Stammväter, so würde das Schrittmaß unseres Lebens sich ändern und die Farben des Gemäldes unseres Lebens würden matter. Wie dürfen wir denn verkennen, daß die Maße 230

unseres Lebens bis auf Zoll und Stunde eingeuietet sind in das Gefüge unseres Lebens, unserer Welt, deren Gefüge ebenso eisern fest geschmiedet, sind, wie die Gesetze ihres Geschehens? An ihrem ewigen Bau zerschellen, zerspellen die Kinder-, die Iloffnungs-, die Angstträume unserer Ahnen wie schäumende Wogen am Küstenfels.

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Die IM

Werke

VERLAG WALTER

Kurt

Breysigs

DE GRUYTER

CO., BERLIN

W 3S

DIE GESCHICHTE DER MENSCHHEIT. 1. Band: Die Anfänge der Menschheit. Urrassen —- Nordasiaten — Australier — Südamerikaner. XV, 440 Seiten. 1936. R M 16.—, geb. R M 18.— / 2. Band: Völker ewiger Urzeit. Nordländer —Nordwestamerikaner—Nordostamerikaner. XIII, 374 Seiten. 1939. R M 16.—, geb. R M 18.— DIE

GESCHICHTE

DER

SEELE

IM

WERDEGANG

DER

MENSCHHEIT. XXXVII, 526 Seiten. 1931. R M 10.—, geb. R M 12.— NATURGESCHICHTE UND MENSCHHEITSGESCHICHTE. XXXII, 475 Seiten. 1933. R M 10.—, geb. R M 12.— DER WERDEGANG DER MENSCHHEIT VOM NATURGESCHEHEN ZUM GEISTGESCHEHEN. XXVII, 444 S. 1935. R M 10—, geb. R M 12.— PSYCHOLOGIE DER GESCHICHTE. XX, 194 Seiten. 1935. Kartoniert R M 6. — DIE

MEISTER

DER

ENTWICKELNDEN

GESCHICHTSFOR-

SCHUNG. XIX, 267 Seiten. 1936. Kartoniert R M 8 — GESTALTUNGENDES ENTWICKLUNGSGEDANKENS. XVI, 223 Seiten. 1940. Kartoniert RM 8.— GEIST UND GESELLSCHAFT Kurt Breysig zu Seinem sechzigsten Geburtstage. 494 Seiten. 1927. R M 1 6 . - , geb. R M 18 Ferner".

DAS WERDEN ALS GESCHICHTE Kurt Breysig in seinem Werk. Von Ernst Hering. 208 Seiten. 1939. Kartoniert R M 6.—