Der unmögliche Körper: Etienne Decroux und die Suche nach dem theatralen Leib [Reprint 2015 ed.] 9783110909463, 9783484660342

With his research on actors' potential for expression via corporeality, Etienne Decroux (1898-1991) provided an imp

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German Pages 148 [156] Year 2001

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Table of contents :
Einleitung
TEIL I Mime corporel zwischen Geschichte und Biographie, Bühne und Theorie
1. Wider die Pantomime: Begriffsklärung
2. Grundzüge des mime corporel
2.1. Mime corporel als Technik
2.1.1. Im Inneren des Körpers
2.1.2. Der Körper im Raum
2.2. Mime corporel als Darstellung
2.2.1. Szenik
2.2.2. Gestaltung
2.3. Zusammenfassung
3. Mime corporel und Decroux: eine Geschichte des Scheiterns
3.1. Jean-Louis Barrault
3.2. Gaston Baty
3.2.1. Das reine Theater
3.3. Edward Gordon Craig
3.4. Marcel Marceau
3.5. Ins Ausland
3.6. Im Keller
4. Zusammenfassung
TEIL II Über Mime sprechen – Paroles sur le mime
5. Zur Quellenlage
5.1. Editorischer Kontext
5.2. Textcorpus
5.2.1. Struktur
5.2.2. Andere Quellen
6. Vom Leib zum Werk: Decroux-Lektüren
6.1. Das Paradox des Körpers nach Decroux
6.2. Bewegung, Größe und Wahrheit: Die Überwindung des Leibes im Geiste der Technik
6.3. Das verschwundene Referential
6.4. Abbildung: Mime als Mimesis
6.4.1. Ethos der Arbeit, Pathos der Kunst
6.4.2. Bewegung zum Stillstand: Der Akteur als Skulptur
6.4.3. Gewalt und Schmerz
6.5. Der spurlose Schauspieler
TEIL III Im Schatten der Bühne: Decroux’ Scheitern als theaterwissenschaftliches Lehrstück
7. Rezeption
7.1. Überblick
7.2. Die Stimme der Wissenschaft
7.3. Decroux und die Avantgarde(n)
8. Hintergrund: Die Bannung von Körper und Sprache
8.1. Sprachkörper
8.2. Verkörperlichung der Sprache
8.3. Weder Sprache noch Körper
9. Körperbild und Eigensinn
9.1. Theatralität des Körpers
9.1.1. Gesten
9.1.2. Der zerlegte Körper
9.2. Ikonographie
9.3. Das geleugnete Andere
9.4. Die Krise der Dichotomien
9.5. Offenheit
9.6. Decroux’ paradigmatisches Scheitern
Schlußbemerkung
Quellen und Literatur
1. AV-Dokumente und Archivmaterialien
2. Interviews mit Decroux
3. Verzeichnis der publizierten Schriften Decroux’
4. Literaturverzeichnis
Abbildungen
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Der unmögliche Körper: Etienne Decroux und die Suche nach dem theatralen Leib [Reprint 2015 ed.]
 9783110909463, 9783484660342

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-Jfieatroti

Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste

Herausgegeben von Hans-Peter Bayerdörfer, Dieter Borchmeyer und Andreas Höfele

Band 34

Franz Anton Cramer

Der unmögliche Körper Etienne Decroux und die Suche nach dem theatralen Leib

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2001

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Cramer, Franz Anton: Der unmögliche Körper: Etienne Decroux und die Suche nach dem theatralen Leib / Franz Anton Cramer. - Tübingen: Niemeyer, 2001 (Theatron; Bd. 34) ISBN 3-484-66034-1

ISSN 0934-6252

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2001 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: ΑΖ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Buchbinderei Siegfried Geiger, Ammerbuch

Vorbemerkung

Que Μ. Görard Lebreton me veuille permettre de lui dedier cet ouvrage auquel il a contribue sans le savoir il y a bien de temps.

Keine akademische Arbeit kann entstehen ohne die moralische oder materielle, jedenfalls aber tatkräftige Unterstützung anderer. All den Personen und Institutionen, die zum Gelingen dieser Arbeit (auch in ihrer publizierten Form) beigetragen haben, gilt an dieser Stelle mein aufrichtiger Dank: Herrn Prof. Dr. Arno Paul vom Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin fur die Offenheit gegenüber einem Thema, das erst im Laufe der Zeit Gestalt annahm; dem Land Berlin, vertreten durch die Freie Universität Berlin, fur die großzügige Gewährung eines Promotionsstipendiums; Frau Inneke Austen und dem Theaterinstituut Nederland, Amsterdam, fur die hervorragende und effiziente Unterstützung bei meinen Archivrecherchen; der Bibliotheque de Γ Arsenal sowie der Bibliotheque Gaston Baty, beide Paris, für die Hilfe beim Beschaffen seltener Quellen; Herrn Thomas Leabhart vom Pomona College, Ca., der mir Manuskripte und Literatur zur Verfugung stellte; dem Mime Centrum Berlin für die Öffnung seines Videoarchivs; den Herausgebern der Reihe Theatron sowie dem Max Niemeyer Verlag, Tübingen, für die Annahme zur leider nicht ganz unkomplizierten Publikation; meinen Freunden, die Teile des Manuskriptes gelesen und immer wieder kritisch kommentiert haben sowie Frau Maria Stadler-Fiawoo, München, ohne deren Einsatz eine Drucklegung überhaupt nicht mehr zustande gekommen wäre. Schließlich gebührt ein besonderer Dank Frau Magdalena Pietruska vom Institutet for Scenkonst, Stockholm, für wertvolle Hinweise sowie die großzügige Erlaubnis, Photomaterialien aus dem Nachlaß des Institutsgründers Ingemar Lindh zu veröffentlichen. Die Arbeit wurde in ihren wesentlichen Teilen 1997 abgeschlossen. Da sich die Veröffentlichung hingezogen hat, sind insbesondere im dritten Teil einige seither erschienene wichtige Literaturtitel und konzeptionell einschlägige Bühnenproduktionen unberücksichtigt. Die Ausführungen zu Biographie und Werk von Etienne Decroux dagegen unterliegen einer solchen Einschränkung nicht. Hier ist die Materiallage weitgehend unverändert geblieben.

Berlin, im Herbst 2000

Franz Anton Cramer

V

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

l

TEIL I Mime corporel zwischen Geschichte und Biographie, Bühne und Theorie

5

1.

Wider die Pantomime: Begriffsklärung

6

2. 2.1. 2.1.1. 2.1.2. 2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.3.

Grundzüge des mime corporel Mime corporel als Technik Im Inneren des Körpers Der Körper im Raum Mime corporel als Darstellung Szenik Gestaltung Zusammenfassung

11 12 13 19 21 22 24 26

3. 3.1. 3.2. 3.2.1. 3.3. 3.4. 3.5. 3.6. 4.

Mime corporel und Decroux: eine Geschichte des Scheiterns Jean-Louis Barrault Gaston Baty Das reine Theater Edward Gordon Craig Marcel Marceau Ins Ausland Im Keller Zusammenfassung

29 33 36 37 39 43 46 48 50

TEIL Π Über Mime sprechen - Paroles sur le mime

51

5. 5.1. 5.2. 5.2.1. 5.2.2.

Zur Quellenlage Editorischer Kontext Textcorpus Struktur Andere Quellen

53 54 56 56 57

6. 6.1.

Vom Leib zum Werk: Decroux-Lektüren Das Paradox des Körpers nach Decroux

59 60

VII

6.2. 6.3. 6.4. 6.4.1. 6.4.2. 6.4.3. 6.5.

Bewegung, Größe und Wahrheit: Die Überwindung des Leibes im Geiste der Technik Das verschwundene Referential Abbildung: Mime als Mimesis Ethos der Arbeit, Pathos der Kunst Bewegung zum Stillstand: Der Akteur als Skulptur Gewalt und Schmerz Der spurlose Schauspieler

65 69 72 72 78 81 86

TEIL DI Im Schatten der Bühne: Decroux' Scheitern als theaterwissenschaftliches Lehrstück

91

7. 7.1. 7.2. 7.3.

Rezeption Überblick Die Stimme der Wissenschaft Decroux und die Αvantgarde(n)

92 92 92 98

8. 8.1. 8.2. 8.3.

Hintergrund: Die Bannung von Körper und Sprache Sprachkörper Verkörperlichung der Sprache Weder Sprache noch Körper

100 100 103 104

9. 9.1. 9.1.1. 9.1.2. 9.2. 9.3. 9.4. 9.5. 9.6.

Körperbild und Eigensinn Theatralität des Körpers Gesten Der zerlegte Körper Ikonographie Das geleugnete Andere Die Krise der Dichotomien Offenheit Decroux'paradigmatisches Scheitern

109 111 113 114 117 119 122 125 128

Schlußbemerkung

131

Quellen und Literatur

133

1. 2. 3. 4.

133 134 134 134

ΑV-Dokumente und Archivmaterialien Interviews mit Decroux Verzeichnis der publizierten Schriften Decroux' Literaturverzeichnis

Abbildungen

VIII

141

Einleitung

»... und es ist stadtkundig, daß sie, weil sie aufgehört hatte, zur schönen Natur zu gehören, sich unter die Werke der schönen Künste warf und sich aus einem Modell durch Schminke in ein Gemälde veredelte, durch Pantomime in eine Aktrice, durch Ohnmächten in eine Statue.« Jean Paul, Die unsichtbare Loge

»In unserer Gesellschaft bezeichnet Theater etwas so Weites und Unbestimmtes, daß unter diesem Namen die unterschiedlichsten Dinge verstanden werden. Zuweilen reicht es schon, wenn jemand etwas sagt und sich dazu bewegt.« (Barba 1985: 93). Was der Theateranthropologe und Regisseur Eugenio Barba hier nüchtern für die Theaterszene konstatiert hat - die Ungebundenheit szenischer Formen - , ließe sich heute noch erweitern: Zuweilen reicht es auch, daß jemand nichts sagt und sich statt dessen nur bewegt. Und sogar, daß jemand weder etwas sagt noch sich bewegt. Das Theater scheint immer weniger Verbindlichkeiten zu kennen. Eines aber bleibt, auch bei Barba, unbenommen: Jemand, der Schauspieler, der Akteur, der Performer. Was auch immer er tut oder unterläßt, in ihm, in seinem Körper treffen sich zwei grundlegende Bereiche des Theaters: die materielle Erscheinung und die künstlerische Überformung, Schauwert und Symbolik. Das szenische Verhältnis von körperlicher Dynamik und diskursivem Sinn, von Leiblichkeit und Fiktionalität ist analytisch wie methodisch schwer zu fassen. Darstellende Kunst ist eine unstete Bewegung zwischen beiden Polen, eine historisch je spezifisch ausgeprägte Vermittlung zwischen Leib und Werk des Schauspielers. Die daraus entstehende formale Offenheit des Theaters ist eine der zentralen Herausforderungen an die Theaterwissenschaft: Die ästhetischen Produkte der Bühne müssen in ihrer unmittelbaren Eigenart erfaßt und in ihrer übergreifenden Bedeutsamkeit verstanden werden. Dem Versuch der Hervorbringung von Sinn, der gesteuerten Vermittlung zwischen den Bereichen des Leiblichen und des Semantischen, steht in der Reflexion die Suche nach Sinngesetzen gegenüber. Dieses schwierige Verhältnis zwischen Sichtbarkeit und Lesbarkeit des Körperlichen durchzieht seit je die Entwicklung des Theaters. Es bildet auch den Mittelpunkt im Lebenswerk des französischen Schauspieltheoretikers, Pädagogen und Theatermenschen Etienne Decroux (1898-1991). In seinem fast 65 Jahre währenden Schaffen bemühte er sich darum, die körperlichen Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten des Schauspielers zu systematisieren und in ein verbindliches Regelwerk zu gießen. Er entwickelte den mime corporel, eine körperliche Bewegungslehre, die sich von den ästhetischen Prämissen des Sprechschauspiels ebenso wie vom Tanz oder der Pantomime abgrenzte und als eigenständige Bühnenkunst behaupten wollte. Mit dem von ihm begründeten Darstellungsstil des mime corporel wandte er sich den komplizierten Abbildungsverhältnissen der Darstellenden Künste zu, deren ästhetischen, werkhaften Hervorbringungen stets das Leibliche eingeschrieben bleibt.

1

Doch ist Decroux zugleich in jedem Sinn ein Solitär in der Theaterlandschaft. Aus dem Umfeld des Theätre du Vieux-Colombier und des Cartel des Quatre hervorgegangen sowie geprägt von den Manifesten Edward Gordon Craigs, suchte Decroux nach einer künstlerischen Reform des Theaters. Doch mit seiner fast wahnhaften Bündelung des Blickes und der Kräfte auf die körperlichen Ausdrucksmöglichkeiten des Schauspielers geriet er schon früh in Differenz zum allgemeinen Theaterbetrieb. Er fand kaum breite Anerkennung und ist - im Gegensatz zu anderen radikalen Theaterschaffenden dieses Jahrhunderts wie etwa Meyerhold, Artaud, Grotowski oder Lecoq - vor allem in Deutschland bis heute nur einem Fachpublikum bekannt. Für diesen Umstand ist allerdings Decroux zu großem Teil selbst verantwortlich, denn er ließ keine Maßnahme aus, um sich und den mime corporel >unmöglich< zu machen. Zwar lebte er von seinem Schauspielberuf und später von seiner Lehrtätigkeit, überwarf sich aber regelmäßig mit seinen Lehrern, Mitarbeitern und Schülern, zu denen Jean-Louis Barrault und Marcel Marceau zählen. Aus dem Theaterleben zog er sich nahezu vollständig zurück, um sich ausschließlich mimischer >Grundlagenforschung< zu widmen. Zwischen 1945 und 1962 reiste er als Lehrer und Missionar des mime corporel durch die Welt, um dann den Rest seines Lebens sein Geburts- und Wohnhaus bei Paris praktisch nicht mehr zu verlassen. Er beklagte allenthalben mangelnde Loyalität und bevormundete doch jedermann, der ihm über den Weg lief. Ob in seinem darstellerischen Werk, seinen Schriften oder seiner Biographie: Immer herrscht eine eigentümliche Spannung zwischen Mitteilungsdrang und Verschlüsselung, zwischen Pamphlet und Meditation, zwischen Mißtrauen und Emphase. Decroux war besessener Schöpfer und grämlicher Nörgler, er verfügte über berückende Eloquenz und verwickelte sich zugleich in höchst aporetische Theoriegebäude, er verkörpert einen geradezu kartesianischen Anspruch des Rationalen ebenso wie gewaltige, doch immer wieder ins Leere laufende revolutionäre Energie. Kurz, Etienne Decroux ist, wo nicht ein Rätsel, so zumindest eine Gestalt, die schon in ihrer Widerständigkeit und Selbstinszenierung Neugierde weckt. Das gilt auch und in noch weit stärkerem Maße für Decroux' theoretisches Werk. In seinen Schriften sind ästhetische Positionen formuliert, die sich heute, im Lichte einer Konstellation aus Krise des Theaters und Versuchen einer Neubestimmung und ästhetischen Selbstvergewisserung der Darstellenden Künste, statt als zwanghafte Fixierung auf eine letztlich defizitäre Stilfigur als visionäre Vorwegnahme aktueller Diskussionen lesen lassen. Was Decroux in idiosynkratischer Besessenheit für die Darstellenden Künste versuchte - das Ungebundene theatraler Praxis in einem hieratischen System körperlicher Bewegungsgestalt zu bannen gewinnt am Ende des 20. Jahrhunderts an Prägnanz, und zwar in dem Maße, wie das Körperliche der Kultur auf den Bühnen ein letztes Refugium zu finden scheint. Zwar muß festgestellt werden - und dies ist möglicherweise das erstaunlichste Ergebnis einer Beschäftigung mit Decroux - , daß er niemals selbst diese thematischen Positionen konstruktiv umzusetzen vermochte. In ihrer Problemorientierung jedoch, d. h. in ihrem spezifischen Blick auf den Schauspieler in seiner Ambivalenz zwischen Leib und Werk, sind sie hochaktuell. Ob im Umkreis der Medien-Theorie(n), der Tanz- oder der Theaterwissenschaft: Die Bedeutung von Rolle und Funktion des Körpers und seiner spezifischen Wirkungsmacht als gemeinsames Paradigma der Darstellenden Künste tritt in allen Ar2

ten neuer und neuester Diskussion transversaler Theaterkonzeptionen immer drängender zutage. Sich mit dieser Wirkungsmacht durch einen erweiterten, neuen Blick auf die leibliche Präsenz auf der Bühne und ihre spezifische Funktion fur theatrale Kommunikation näher zu beschäftigen, stellt daher ein Desiderat der theaterwissenschaftlichen Forschung dar. Decroux' mime corporel und das exemplarische Scheitern seines Projektes bieten für diese Auseinandersetzung exzellentes Material.

Anlage der Untersuchung Vor diesem Hintergrund soll Decroux' Oeuvre kritisch aufgearbeitet und vom gängigen Verdikt »des genialen Unsinns« befreit werden. Sein Werk ist zu beschreiben und auszuwerten, seine Schriften, die bis heute nicht in deutscher Übersetzung vorliegen und bislang kaum eingehend untersucht wurden, sind einer kritischen Lektüre zu unterziehen und in eine erweiterte theaterwissenschaftliche Perspektive einzuordnen. Die Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile. Der erste widmet sich anhand der in Archiven zugänglichen Text- und AV-Materialien zu Decroux' Biographie und künstlerischen Prämissen zunächst den technischen Grundlagen des mime corporel und dem biographischen/theaterhistorischen Kontext seiner Entstehung. Im zweiten Teil wird versucht, das Widersprüchliche in Decroux' Einlassungen aus seinen Schriften herauszuarbeiten und daraus dessen radikale und auch radikal verhindernde Theoriebildung nachzuzeichnen und Decroux' theaterpraktisches Scheitern als verzwickte Einlösung seiner Theoriebemühungen zu benennen. Im dritten Teil wird Decroux' zielstrebiges Scheitern als modellhaft für eine bestimmte Richtung der Körperarbeit in diesem Jahrhundert untersucht. In einen theaterwissenschaftlichen Bezugsrahmen gestellt, der sich aus dem Kontext aktueller Diskussionen um das Körperliche des Theaters im Bereich der Theateranthropologie, Aufführungsanalyse und Tanzwissenschaft ergibt, soll anhand des mime corporel die klassische Aufteilung theaterwissenschaftlicher Analyse kritisch hinterfragt werden, die vom authentischen Leib einerseits, dem szenisch stilisierten (Rollen-) Körper andererseits ausgeht. Dabei bleibt die Frage nach dem künstlerischen Bildwert des Körpers und dem darin eingeprägten, natürlichen Eigensinn des Leibes offen. Es zeigt sich, gerade im Vergleich zwischen Decroux' hieratischem System und neueren Ansätzen der Darstellenden Künste, daß weder die von Decroux gesuchte vollkommen neutrale, rein instrumenteile Auffassung vom Körper, der sich im theatralen Werk transzendiert, noch die etwa vom Tanz postulierte, vermeintlich rein somatische Sinnhaftigkeit des Leibes im energetischen Bewegungsprozeß dem »Problem Körper« gerecht werden kann. Daß Etienne Decroux dieses Problem in besonders radikaler Weise aufgeworfen, daß er sich ihm so unnachgiebig gestellt hat, darin liegt jeneits der bloßen historischen Anekdote Decroux' Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der Darstellenden Künste dieses Jahrhunderts.

3

Die Beschäftigung mit dem Werk von Etienne Decroux begegnet zwei methodischen Schwierigkeiten. Zum einen stellt sich das Problem der Beschreibung. Denn wenn Decroux mit dem mime corporel eine letztlich unmögliche Bühnenkunstform gesucht hat, die sich nicht oder nur im Scheitern verwirklichen ließ und deren Ergebnisse er selbst in der Regel als unfertig und vorläufig betrachtete: Darf man dieses nicht-existente Bühnenkunstwerk dann durch »objektivierende« Beschreibung ins Leben rufen? Kann man es überhaupt? Wo aber solche Versuche - auch in vorliegender Arbeit - dennoch vorgenommen werden, bleibt das Ergebnis spröde und von dürftigem Erkenntnisgewinn. Mime corporel ist eben im wesentlichen als abstrakte Bewegungslehre entworfen worden, die sich zwar sozusagen gymnastisch darstellen, aber kaum als Sinnganzes plastisch erfassen läßt. Die beschreibende Analyse szenischer Auffuhrungen im Stile des mime corporel ist daher nur in sehr begrenztem Umfang Gegenstand vorliegender Arbeit. Die zweite Schwierigkeit, die eine Beschäftigung mit Decroux leicht ins Spekulative abgleiten zu lassen droht, liegt in den kulturhistorischen Bezügen und diskursiven Anspielungen innerhalb von Decroux' Schriften. Je genauer man liest, desto mehr meint man Spuren und Reminiszenzen anderer Autoren und Theoriegebäude erahnen zu können. Die Assoziations-Palette reicht von Diderot über Kant und Nietzsche (ich danke Herrn Prof. Peter Brockmeier fur wertvolle Hinweise) bis zu Appia, dem Bauhaus, Valery, Duchamp (dessen Vortrag »Der kreative Akt« bei Decroux fast wortgleich auftaucht, wie Thomas Plischke in seiner facettenreichen Produktion Eventsfor Television [1999] gezeigt hat), und Camus. Unmittelbar und eindeutig belegen läßt sich solches aber nicht. Sollte Decroux tatsächlich diese und andere Autoren gelesen und verarbeitet haben, so gibt er jedenfalls nirgends auch nur den kleinsten Hinweis darauf. Man könnte daher ebensogut vermuten, daß er sich derartige Theoreme gleichsam neu erfunden hat, daß sie sich an der Prägnanz seines Themas entzündet haben. An einigen Stellen weise ich auf solche möglichen Anknüpfungspunkte hin; solange, bis sich entsprechende Vermutungen stützen lassen, habe ich es jedoch vorgezogen, mich strikt auf eine textimmanente Lektüre von Decroux' Schriften zu beschränken. Sie bietet genug Stoff zur Auseinandersetzung.

4

TEIL I

Mime corporel zwischen Geschichte und Biographie, Bühne und Theorie

Über 60 Jahre lang hat Etienne Decroux an der Grundlegung und Verfeinerung des mime corporel gearbeitet. Als rettende Alternative zu einem vermeintlich dem Text verfallenen Theater konzipierte Decroux das System des mime corporel als Bewegungslehre und eigenständige Darstellende Kunstform, die jenseits von Fabel, Erzählung oder Rollenpsychologie den Körper als Material bestimmt und dessen plastische Möglichkeiten im Sinne der »bewegten Statue« (statuaire mobile) zu definieren versucht. Handlungs- und Erzähldramaturgie galten demgegenüber als vernachlässigenswert, ja abträglich. Insofern handelt es sich beim mime corporel nicht um eine Schauspielmethode im Sinne der bruchlosen Verkörperungslehren etwa in der Tradition Stanislawskis oder Strasbergs. Wo diese die kennzeichnende Paradoxic der Schauspielkunst - Vermittlung zwischen der realen Individualität des Darstellers mit der fiktionalen Individualität des Dargestellten - über psychologische Entäußerung, Rollenmimikry und in letzter Konsequenz Realismus zu meistern versuchen, will mime corporel einen anderen Weg gehen. Nicht der Schauspieler als Medium einer mehr oder weniger konsistenten Fiktion, ja nicht einmal eine Fiktion soll gezeigt werden. Decroux' Lehre thematisiert statt dessen gerade jenen Zusammenhang zwischen materieller Erscheinung und künstlerischer Überformung, der - noch vor jeder Erzählhaltung - den Status des Körpers auf der Bühne ausmacht. Diese Fragestellung und dieses Anliegen bildeten von Anfang an den Kern von Decroux' Schaffen. Die daraus hervorgegangenen technischen Ergebnisse des mime corporel müssen in ihrer Analytik des menschlichen Bewegungspotentials und den daraus abgeleiteten Möglichkeiten künstlerischer Gestaltung als Pionierleistung gelten. Vergleichbare Kodifizierungsarbeit hat im Bereich der westlichen Bühnenkünste allenfalls das klassische Ballett hervorgebracht, allerdings in einer sehr viel längeren Geschichte und entlang ganz anderer Zielsetzungen. Mit mime corporel als Technik theatralen Körpereinsatzes soll es im Prinzip möglich werden, die Darstellungs- und Gestaltungsvorgänge auf der Bühne von der individuellen Erscheinung des Darstellers wie auch von dramatischen Vorgaben abzulösen und den Leib zum vollgültigen und alleinigen Instrument szenischer Gestaltung zu machen. Ehe die Grundzüge dieser Bewegungslehre näher vorgestellt und kritisch untersucht werden, erscheint es jedoch geboten, jene Traditionslinie vorzustellen, gegen die sich Decroux - neben seiner Gegnerschaft zu einem künstlerisch vermeintlich verkommenen Theaterbetrieb - vor allem richtete: die Pantomime. Die Unterscheidung zwischen mime corporel und Pantomime ist in vielen Punkten der einschlägigen Diskussion ebenso unklar wie entscheidend zum Verständnis von Decroux' (Euvre. Auch ist es nützlich, die unpräzise Terminologie zu durchforsten und einen für diese Arbeit einheitlichen Gebrauch festzulegen. 5

1.

Wider die Pantomime: Begriffsklärung

Decroux selbst setzte seine Forschungen zum mime corporel dezidiert von einer Tradition ab, die in Frankreich noch bis in die 1920er Jahre lebendig war: die Jahrmarktspantomime. In Frankreich wird mit diesem Begriff ein Genre bezeichnet, das seit dem ausgehenden 18., insbesondere jedoch dem frühen 19. Jahrhundert Teil der Populärkultur war. Die spezifisch französische Form der Pantomime verdankt ihre Entstehung einer skurrilen historischen Situation. Durch staatliche Privilegienpolitik während und auch noch nach dem Absolutismus sollte den offiziellen, staatlichen Bühnen, insbesondere der »Acadömie Royale de Musique« (aus der die heutige Oper hervorging) und dem »Theätre-Fran9ais« (bzw. der »Comedie Fran^aise«) das wirtschaftliche Überleben gegen die Konkurrenz der Jahrmarkts- und privat betriebenen, nicht subventionierten Unterhaltungstheater gesichert werden. So durften Musik, Gesang und gesprochene Dialoge grundsätzlich nur von den privilegierten Häusern verwendet werden, die jedoch gegen teils hohe Zahlungen dieses Recht an andere Theaterbetriebe verpachten konnten. Zur Umgehung insbesondere des Sprechverbots und damit letztlich nur als Notbehelf entstanden so zahlreiche neue Bühnengenres. Sie bedienten sich neben aus dem Off gesprochenen oder in Monologform dargebotenen Dialogen zahlreicher Tricks, um dennoch Sprache verwenden zu können. Wo dies durch immer neue Repressalien durch die Behörden, Androhung von Zwangsgeldern und Klagen der großen Häuser verhindert wurde, griff man auf reine Schauwerte, d.h. Zirzensik, Akrobatik und eben gemimte Schauerstückchen und Melodramen zurück. Gelegentlich behalf man sich auch mit gemalten Schildern, auf denen Stichworte oder knappe Dialoge zusammengefaßt waren - ähnlich, wie es 100 Jahre später der Stummfilm praktizierte.1 Aus dieser Notlage hat sich die bis um 1850 reiche, danach erstarrende, aber immer populäre Kultur der Jahrmarktspantomime mit ihren pittoresken Subformen wie pantomime feerique, pantomime pyrotechnique, pantomime melodramatique etc. entwickelt.2 Durch Jean-Gaspard Debureau (1796—1846)3 am »Theatre des Zur französischen Privilegienpolitik des 18. Jahrhunderts als Katalysator für die Entstehung neuer Bühnengenres vgl. Isherwood (1986), Lever (1987: 43ff.) sowie Hillmer (1997). Zur Geschichte der Pantomime vgl. das Standardwerk von Hera (1981). In seiner etwas läßlichen, dafür aber farbenfroheren Darstellung bietet Gascar (1980) faksimilierte Programmzettel dieser Zeit. Darin wird etwa »L'Oiseau bleu. Pantomime-Arlequinade-Feerie en 14 tableaux et ä grand spectacle, avec changements ä vue, trues, transformations, surprises etc.« (Gascar 1980: 113) angekündigt. Und das »Grand Theatre des Funambules« verheißt eine »[...] brillante representation du/SIEGE du CHATEAU/Pantomime militaire et pyrotechnique οιηέε d'un decor neuf qui represente une montagne; [...] avec marches, fanfares, evolutions militaires et explosion au tableau final.« (ebd. 150)

6

Funambules« zu mythischen Höhen popularisiert, blieb die Gattung Pantomime bis in die Belle Epoque lebendig. Insbesondere im südlichen Frankreich, namentlich in Marseille wurde Debureaus Erbe gepflegt. Hier arbeiteten Debureau fils, Louis Rouffe, Paul Legrand sowie Severin Caffera und entwickelten die Pantomime weiter bis zu jenen Formen, die Decroux als Kind noch kennenlernen sollte. Allerdings war die Pantomime zu dieser Zeit bereits aus den festen Häusern ausgegliedert und zur international gefragten Variete-Attraktion geworden. Inszenierungen zeichneten sich, wie zu Anfang des Jahrhunderts, durch aufwendige Dekoration und Aufbauten sowie üppige Kostüme aus.4 Inbegriff dieser Form der Pantomime ist die Figur des Pierrot mit weitgeschnittenem weißem Kostüm und weißer Maske geworden. Aufgrund des melancholisch-weißen Pierrot hat sich die Bezeichnung pantomime blanche eingebürgert. In Marcel Carnes und Jacques Preverts Film »Les enfants du paradis« (1943/44) wird eine historisch sehr genau recherchierte, poetisierende Rekonstruktion der Blütezeit der weißen Pantomime und ihres Protagonisten Debureau geboten. Sie prägt die heute geläufigen Vorstellungen von diesem Genre. Eigentlich nur als Notlösung zur Umgehung des Sprechverbots und als Reaktion auf staatliche Lenkungspolitik entstanden, hatte sich in der Folge die Sprachersetzung verselbständigt. Es entstand ein differenziertes Vokabular von Gesten und Bewegungen, in dem eine Vielzahl von Worten und Begriffen, vergleichbar der Taubstummensprache, semantisch festgelegt war. Gebärden und Haltungen waren in ihren Bedeutungen streng kodifiziert und mußten vom Publikum erlernt werden. Auf diese sprachähnliche Strukturierung gestischen Ausdrucks war man durchaus stolz, die Gebärdensprache galt keineswegs als Manko oder billiger Ersatz für die dramatische Sprache. In Wertlosigkeit, Schweigen und Stille wurde vielmehr ein eigenständiger poetischer Wert gesehen. Die Pantomime und deren Hauptfigur Pierrot wurden zu einer Art Chiffre des Subjekts auf der Suche nach universeller künstlerischer Kommunikation.5 In seinen äußerst aufschlußreichen Lebenserinnerungen feiert und fordert der letzte große Vertreter dieser Tradition, Severin Caffera (gen. »Le mime Severin«, 1863-1930), als höchstes Ideal pantomimischen Ausdrucks eine »grammaire universelle des gestes-mots«, eine »expression universelle qui est le plus haut ideal de la pantomime«, denn wer sich ihrer bedient, »ser[a] lisible ä tous.« (Severin 1929: 218ff., Herv. i. O.). Die pantomime blanche war für etwa einhundert Jahre eine äußerst populäre Theaterform ganz eigener Prägung, und Decroux hat in seiner Jugend noch Darbietungen in diesem Stil gesehen. Er zählt sie denn auch zu seinen prägenden künstlerischen Erlebnissen - freilich nur als Negativfolie. Decroux lehnte diese Stilrich3

4

5

Eine ausführliche Biographie dieses legendären Künstlers bietet Svehla (1977). Doch auch zeitgenössische Autoren stilisierten bereits Debureau und die Pantomime zum Inbegriff authentischer, volksnaher Bühnenkunst (vgl. Janin ed. 1981). Severin (1929: 229ff.) berichtet von einem Auftritt in den Folies-Bergferes (1900) mit einem Stück namens »La Flamenca«, bei dem u.a. ein Stierkampf als Pantomime, doch lebensecht mit jungen Kampfstieren (allerdings ohne mise ά mori), auf die Bühne gebracht wurde... Diese Entwicklung hat die 1995 in München gezeigte Ausstellung »Pierrot - Melancholie und Maske« nachgezeichnet (vgl. Kellein 1995); zur kulturgeschichtlichen Anwendung des Pierrot-Motivs vgl.auch Storey (1985), Leeker (1995: 150-170) sowie Derrida (1972).

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tung gerade aufgrund ihrer sprachähnlichen Struktur vehement ab: Zu schwatzhaft, zu »leicht«, zu sehr fixiert auf Mimik, Gestikulation und Sprachersetzung, weigerte er sich, darin überhaupt eine Kunstform zu sehen: [...] je vis un Pierrot nous conter sans paroles son amour, son malheur, son crime, son chätiment. L'acteur parlant est moins bavard. Cela me deplut. (Decroux 1963: 32)

Gegen die Pantomime setzte Decroux die Forderung nach Entwicklung des mime corporel als nicht-figurativer, sprachferner und abstrakter körperlicher Darstellungsweise ohne anekdotischen Unterbau. Seine strikte, fast wütende Abgrenzung gegen dieses Genre taucht immer wieder in seinen Schriften als Verdammung von Gesicht und Armen als Ausdrucksmittel auf. Hierin liegt ein Hauptunterschied zwischen mime ä la Decroux und pantomime ä la Marceau, wie später gezeigt wird. Marcel Marceau nämlich hat um 1950 genau jene Tradition der Jahrmarktspantomime aufgegriffen, mit den Decrouxschen Forschungen verbunden und die weltweite Popularität einer erneuerten und >bereinigten< Form der Pantomime begründet. Den traditionellen Pierrot gestaltete er, auch orientiert an den Arbeiten Charlie Chaplins, zur Figur des Bip um. Je nachdem, ob es sich um solistische oder Ensembleszenen, um Bip-Nummern oder rein lyrische Themen handelt, ist von pantomime de style, pantomime de Bip bzw. mimodrame die Rede. Den Begriff mimodrame verwendet anfangs auch Decroux für die von ihm entwickelten Ensembleszenen; später spricht er nur noch lapidar von numero, möglicherweise um sich gegen Marceaus Stil abzugrenzen. Aus dieser Konfiguration ergibt sich fur den französischen Sprachgebrauch eine terminologische Besonderheit: Pantomime kann hier das historische Genre, einen besonderen Stil (meist aber den Marceauschen) und schließlich auch die einzelne szenische Darbietung bezeichnen, nicht jedoch den oder die Darsteller. Sie heißen stets mime, ganz gleich, welcher Stilrichtung sie sich verbunden fühlen. So ist Marceau immer le mime Marceau, eine Bezeichnung le pantomime Marceau gibt es, anders als im Deutschen, wo etwa von dem »großen Pantomimen Marceau« gesprochen wird,6 nicht. Ebenso aber nannte sich Decroux le mime Decroux. In keinem Fall jedoch kann mime im Französischen den Sprechschauspieler bezeichnen, weswegen im deutschen Sprachgebrauch, wo Mime als Gattungsbegriff noch unüblich ist, immer eine Verwechslung mit der altväterlichen Bezeichnung des Sprechschauspielers droht. Zusätzlich verwirrt sich die Sachlage hinsichtlich des grammatischen Geschlechts: Französisch ist pantomime ein Femininum, mime dagegen Maskulinum (wogegen der deutsche Sprachgebrauch sich sträubt). Darüber hinaus hat Jean Dorcy versucht (Dorcy o. J.: 41, Anm. 1), »LE mime« als Gattungsnamen, »LE mime« als Bezeichnung des Mime-Künstlers einzuführen, was sich jedoch nicht allgemein durchsetzen konnte. (Du/le) mime ist daher in französischen Texten mittlerweile ein Oberbegriff für nicht-sprachliche Ausdrucksformen des Schauspielers bzw. Akteurs und damit auch für bestimmte Elemente des (zeitgenössischen) Tan-

So zuletzt Renate Schostack in ihrem Premierenbericht von Marceaus jüngster Ensemblearbeit »Chapeau Melon«, uraufgeführt von der Nouvelle Compagnie de Mimodrame Marcel Marceau im Oktober 1997 in München (vgl. Schostack 1997).

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zes. 7 An dieser Erweiterung hat Jacques Lecoq einen nicht geringen Anteil, der mime bzw. l'art du mime (im Gegensatz zu l'art de la pantomime) oder auch, in Anlehnung an Marcel Jousse (1974), »mimisme« als eine Art Bewußtseinstechnik der Aneignung und Wahrnehmung von Umwelt an den Anfang aller künstlerischen (und also auch theatralen) Betätigung setzt (vgl. Lecoq 1987; 1998). Martina Leeker hat für den deutschen Sprachgebrauch eine weitere Variante vorgeschlagen. Sie unterscheidet einerseits Pantomime als Form des ^ . J a h r h u n derts von Mime (allerdings femininum) des 20. Jahrhunderts: »Die gesamte künstlerische Arbeit seit Decroux [wird] als zeitgenössische Mime bezeichnet« (Leeker 1995: 221). Dabei behandelt sie die Marceausche »Illusionsmime« (ebd. 11) einerseits als Sonderfall. Andererseits aber faßt sie beide Formen gleichwertig zusammen und spricht von »Pantomime/Mime« als einer sozusagen theateranthropologischen Grundkonstante der Mediatisierung des Körpers. 8 Hierin trifft sie sich mit William Weiss, der ebenfalls von einer überhistorischen »art mimique« und der jeweiligen stilistischen Ausprägung im »MIME de chaque epoque« spricht (Weiss 1972: 14). Die Setzung, »MIME« in Großschreibung für die Stilform, »mime« in Kleinschreibung für den einzelnen Künstler gelten zu lassen (ebd. 12), taucht allerdings nur bei ihm auf. In den USA und England, wo diese Genres (ebenso wie in den Niederlanden) besonders lebhaft und produktiv rezipiert worden sind, hat sich im Prinzip der (adaptierte) französische Sprachgebrauch eingebügert; man spricht von corporeal mime und mime theatre. Der spezifisch britische Begriff pantomime 9 hat jedoch nichts mit der französischen pantomime (blanche oder nicht) zu tun, weswegen ein Pantomime-Künstler im französischen Sinne zur Unterscheidung im Englischen »pantomimist« bzw. »mime player« heißt (vgl. Rolfe [Hg.] o.J.; Lust 1986). Daneben gibt es aber auch die Bezeichnung the mime (Marceau, Decroux), nicht jedoch the pantomimist (Marceau, Decroux). Den mime player hat man in der niederländischen Mimeszene aufgegriffen und die Bezeichnung mimespeelster bzw. mimespeel geprägt - was bereits als »Mimespielerln« zumindest in der deutschen Forschung aufgetaucht ist (vgl. van Herwijnen 1993: 55,. Anm. 1). Im allgemeinen setzt sich aber allmählich auch in DeutschDies im Unterschied zur Gestensprache des klassisch-romantischen Handlungsballetts, das in seiner Tradition wiederum im 19. Jahrhundert und damit in den Formen der Jahrmarktspantomime wurzelt (vgl. hierzu Lawson 1957). Leeker fragt »nach dem unverwechselbaren Augenblick von Gegenwärtigkeit und >Zuhausesein< im Leib« und will eine »Rekonstruktion der Geschichte von Körper und Kommunikation im Impakt ihrer Technologisierung durch Medien« vornehmen (Leeker 1995: 7). »Pantomime/Mime« gilt in ihrer Untersuchung generell als ein solches Medium, »das zwischen Körper und nunmehr mediatisierter Kommunikation vermittelt. Sie wird von der Antike bis heute dem Körper die Kommunikation der Medien einverleiben [...]« (ebd.). Daher seien stilistische Unterscheidungen etwa zwischen Decroux und Marceau sekundär. Diese sozusagen gleichsetzende Unterscheidung ist im Rahmen von Leekers Forschungsperspektive möglicherweise sinnvoll; sie dient aber nicht einer analytischen Betrachtung des Decrouxschen Oeuvres, da dieser explizit die pantomime blanche wie deren Fortsetzung als »Illusionsmime« ablehnte und seine Konzeption eben dezidiert auch und gerade aus beider Differenz zu begründen versuchte. Die englische pantomime ist ein farbenprächtiges und skurriles, auch Sprache verwendendes Travestie- und Klamauk-Spektakel, das traditionell hauptsächlich zur Weihnachtszeit veranstaltet wird (vgl. Mander/Mitchenson 1973). 9

land die Bezeichnung »Mime« für den einzelnen Künstler w i e für das Genre durch, wobei unklar bleibt, ob dadurch in jedem Fall eine terminologisch durchgehaltene Abgrenzung etwa zur Marceauschen Pantomime vorgenommen werden soll. 10 Nicht durchgesetzt hat sich der Vorschlag von Janina Hera (1981), mit dem Begriff »Körpermimik« eine deutsche Übersetzung für mime corporel einzuführen. Auch »körperliche Mime« oder »Körpermime« - die direkte Übersetzung - sind nicht üblich und übrigens inhaltlich nicht überzeugend, ebensowenig w i e Heras Vorschlag. In dieser Arbeit gilt daher die französische Vorgabe. Es werden soweit w i e möglich die Decrouxschen (maskulinen) Bezeichnungen mime corporel (mime statuaire, mime pur), in Abgrenzung dazu Pantomime für die narrativen Formen (bei Marceau und dessen Nachfolgern) bzw. die historischen Richtungen sowie die entsprechenden Adjektive mimisch/pantomimisch verwendet. Das entspricht auch dem Gebrauch in der Praxis (vgl. Anger/Palm 1998). »Mime« wird daher in den folgenden Ausführungen, ebenso wie französisch üblich, sowohl den Darsteller w i e auch die Gattung bezeichnen und durchgängig mit dem maskulinen Artikel verwendet werden."

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11

10

In der Rezension eines Pantomime-Programms vom 18. Februar 1997 im Berliner »Hakkesches Hof Theater« werden beide Bezeichnungen (allerdings als Feminina) ohne erkennbare Systematik verwendet (vgl. Baier 1997) . Dieses Insistieren auf Genus-Fragen mag allzu pedantisch erscheinen und ist es vielleicht auch. Ich möchte aber damit nur meine Sprachregelung der nachfolgenden Kapitel rechtfertigen und keineswegs eine Gender-Debatte eröffnen, wie man ihr - erstaunlich genug noch im Jahre des Herrn 1987 (!) - durchaus begegnen muß. Bettina Falckenberg nämlich schreibt zu diesem Zeitpunkt in Beantwortung der selbstgestellten Frage »Ist die Pantomime eine männliche Kunst?« u.a.: »Auffallend ist - was sich kulturgeschichtlich zurückverfolgen läßt - daß die Frau als Dramatikerin kaum je in Erscheinung trat. [...] Diese mangelnde Begabung zur Dramatikerin ist auch bei den Pantomiminnen auffällig und beeinträchtigt ihre Eignung für diesen Bühnenberuf erheblich. Sie haben oft große Schwierigkeiten, ihre Ideen mit der nötigen Logik und Konsequenz szenisch umzusetzen.« (Falckenberg/Titt 1987: 156). Und weiter: »Wenn wir >le mime< sagen, denken wir an den männlichen Körper. Er steht symbolhaft für den Menschen. [...] Kommt er [der männliche Körper] in seiner Größe [...] der Abstraktion nicht näher als die Frau? [...] Der weibliche Körper ist durch seine auffallenden Geschlechtsmerkmale bereits als ein auf die Sinnlichkeit des Mannes wirkendes, ihn reizendes Wesen entworfen. [...] Welche geistigen und rationalen Kräfte in ihr [der Frau] schlummern, [...] können wohl erst Generationen nach uns beurteilen.« (ebd. 157f.). Ich erspare Frau Falckenberg, dem Leser (müssen Leserinnen sich hier angesprochen fühlen?) und mir selbst an dieser Stelle eine entlarvende Kommentierung dieser Einlassungen, möchte aber doch darauf hinweisen, daß Frau Falckenberg diese Zeilen als Assistentin von Prof. Günter Titt von der Folkwangschule Essen schrieb...

2.

Grundzüge des mime corporel

In über 60jähriger theaterpraktischer und -pädagogischer Tätigkeit hat Decroux an keiner Stelle eine griffige, systematisch-technische Darstellung seiner Bewegungsund Darstellungslehre vorgelegt, den mime corporel zumindest als Technik niemals in schriftlicher Form zugänglich gemacht. Es gibt von Decroux selbst kein »Handbuch des mime corporel«,

auf das man sich berufen könnte.1 Diese Tatsache erklärt

sich dadurch, daß Decroux zu Lebzeiten den mime corporel in geradezu obsessiver Weise an seine Person kettete. Nur durch unmittelbare Unterweisung vom Meister an seine Schüler wurde die Lehre weitergegeben. Selbst audiovisuelle Aufzeichnungen sind aus diesem Grunde trotz der langen Dauer von Decroux' Wirken überraschend rar und schwer zugänglich.2 Zwar besorgten enge Mitarbeiter und Schüler schriftliche Darstellungen und Kompendien dieser Technik und ihrer Grundlagen (Frank 1959; Soubeyran 1984; Leeker 1985; Gerber/de Wroblewsky 1985; Anger/Palm 1998). Andere bemühten sich um Rekonstruktionen früher szenischer Arbeiten Decroux' (Wasson et al. 1992, A V ) . Solche Versuche müssen jedoch drei immanenten Schwierigkeiten begegnen. Erstens nämlich handelt es sich beim mime corporel um eine Bewegungslehre auf Basis ganz anderer Ansätze, als sie etwa das System des klassischen Ballett bietet, für das es sehr wohl standardisierte Darstellungen gibt. Decroux aber wollte immer wieder bei Null beginnen und entwickelte in vielfacher, tektonischer Schichtung die technischen, stilistischen und inhaltlichen Grundlagen. Da er diese, wie oben angedeutet, nicht oder nur unvollständig dokumentierte und sich praktischen Fragen der szenischen Anwendung immer weniger widmete, haben auch enge Mitarbeiter stets nur Ausschnitte aus seinem Werk kennenlernen können.3 Zweitens kommt der mime corporel

keineswegs nur als schiere Technik der

Körperbewegung daher. Decroux gab seinem System vielmehr auch einen weltanschaulichen >ÜberbauSachgebiete< vorgenommen wird, so ist dies pragmatisch durch die bessere Übersichtlichkeit begründet.

2.1.1. Im Inneren des Körpers Als technische Grundlegung der gesuchten Entsubjektivierung des Akteurs wird der Körper nach Maßgabe der anatomischen Disposition in seine Beweglichkeitszonen aufgegliedert. Decroux erkennt im Körper die jeweils isoliert voneinander bewegbaren Einheiten Kopf, Hals, Brustkorb, Taille, Becken. Beine und Füße gelten nur als Stützpfeiler für die Gleichgewichtsarbeit. Diese Segmentierung des Körpers bildet die Grundlage für alle Bewegungsbilder. »My sense of the absolute has taken me to the extreme limit - the bone. I'd like to see an X-ray film of the body moving!«5 Es geht also zunächst überhaupt nicht um die äußere Gestalt der Bewegung, sondern die innere Artikulation des Leibes wird zum Maßstab. Aus der Bestimmung kleinster bewegbarer Einheiten ergibt sich als gymnastische Erfordernis die Beherrschung einer Bewegungstechnik, bei der jedes einzelne dieser Elemente isoliert von allen anderen bewegt werden kann, also etwa eine Drehung des Kopfes nach Maßgabe des anatomischen Radius ohne gleichzeitige Neigung des Halses oder kompensierende Drehung des Brustkorbs, der Taille, des Beckens zu vollführen. Die solchermaßen isolierten Minimaleinheiten können sich dann zu komplexeren Bewegungsabläufen verbinden, jedoch immer auf der Grundlage isolierter Beweglichkeit. Mögliche Bewegungsarten sind Drehung (rotation), Neigung (inclinaisori), horizontale Verschiebung (translation) sowie jeweils Kombinationen aus diesen (dessin simple, double und triple). Als Beispiel dafür, wie solche abstrakten Grundfiguren als Minimalbewegungen in rein technischer Fügung Bedeutung erhalten können, sei eine Etüde beschrieben, die Steven Wasson, Assistent Decroux' während dessen letzten Lebensjahren, 1992

5

The mask. Interv. »Mime Journal« 7+8, S.40. 13

im Rahmen eines filmischen Nachrufs6 auf Decroux gezeigt und kommentiert hat. Alle drei Grundbewegungsarten - Drehung, Neigung, Verschiebung - werden am Kopf ausgeführt, und zwar jeweils einzeln, als dessin simple, jedoch in je zwei Richtungen. Dies seien »les six mouvements de la pensee«. In der Ausgangsposition sind Rumpf und Kopf exakt vertikal angeordnet, der Blick geht geradeaus. Es folgt eine Neigung des Kopfes nach hinten (1), d.h. der Blick wandert nach oben, >in das Reich der Gedankenc »C'est l'idee qui arrive.« In einer Neigung des Kopfes über die Ausgangsposition nach vorne (2) wird der Weg beschrieben, mit dem dieser Einfall vor dem Akteur abgelegt wird, möglicherweise auf ein Schreibpult, was durch eine deskriptive Bewegung der Arme und Hände angedeutet werden kann. Der Kopf richtet sich wieder auf, die Vorwärtsneigung wird zur Neutralstellung zurückgeführt. Es folgt der Zweifel in Form einer seitlichen Neigung (3) als Chiffre der Nachdenklichkeit. Auch dieser dessin simple wird wieder zurückgenommen und durch eine einfache Drehung (4) ersetzt, mit der das Auflauchen eines anderen Einfalls gezeigt wird. Die Augen blicken jetzt in die Diagonale. Der Widerspruch zwischen beiden Ideen wird durch eine seitliche Verschiebung des Halses (5) veranschaulicht, wodurch der Kopf nicht mehr auf der senkrechten Achse steht. Der Blick geht zwar wieder geradeaus, die Situation ist jedoch unentschieden, mittig zwischen Blickachse und der Körpersenkrechten. Diese Unentschiedenheit löst sich auf in einer jetzt allerdings dreifachen Bewegungsgestalt, einem triple dessin, der eine Kreisbewegung des Kopfes um die Gesichtsmitte beschreibt und den Blick »das Firmament entlangführt«. Hierfür ist eine seitliche Drehung mit seitlicher Neigung und einer Neigung nach hinten (6) die Ausgangsposition. Diese Bewegung zeigt den Versuch, abschließend »alles zusammen zu sehen«. Die Übung schließt mit der Neutralstellung, »man ist wieder bei sich daheim«, »mais ?a a change« - so Wasson. Auch Marie-Luise Anger verweist in ihrem jüngst erschienen Handbuch auf solche grundlegenden Sinnfiguren bzw. dynamischen Werte in den einzelnen Bewegungsarten: So sei etwa die horizontale Verschiebung (translation) Chiffre des Gewahrwerdens und Lauschens, die Drehung (rotation) stehe für »geistige Wahrnehmung«, die Neigung (inclinaison) trage lyrischen Chrakter etc. (vgl. Anger/Palm 1998). Variationen dieser Bewegungsfolge können darin bestehen, dem Ablauf unterschiedliche emotive Dynamiken zugrundezulegen, etwa Trauer, Verliebtheit, Ungeduld etc. Auch kann sich der Rumpf diesen vom Kopf vorgegebenen Richtungen anpassen und dadurch die Bewegungswirkung emphatisch verstärken, aber natürlich auch konterkarieren. Wenn sich etwa beim ersten dessin simple die Brust in entgegengesetzter Richtung nach vorne neigt, würde das eher Erschöpfung oder Verzweiflung ausdrücken. Diese Bewegungen können im Stand oder im Gehen angewendet werden, in stabilen oder unstabilen Gleichgewichtssituationen. Basis bilden aber die drei Grundfiguren in unterschiedlicher Zusammensetzung und Schichtung. Im rein gymnastischen Sinne ergibt sich aber schon an dieser Stelle das Problem, die jeweiligen dessins simples wirklich rein ausführen zu können, weil nur so die beabsichtigte Bewegungsgestalt überhaupt erkennbar wird:

Es handelt sich um Jacques Bonfantis Dokumentation »Pour saluer Etienne Decroux« (Bonfanti 1992, AV).

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II faut done pouvoir ne mobiliser que ce qu'on veut mobiliser: un seul organe ou plusieurs. [...] Le mouvement est contagieux: qui veut ne mouvoir que la tete, meut le cou sans le savoir. (Paroles: 105)

Mit dem Augenmerk auf dem Bewegungsverhältnis einzelner Elemente geht das Primat der sogenannten »intrakorporellen Bewegung« über die Fortbewegung im Raum einher. Intrakorporelle Bewegung als Artikuliertheit der kleinsten bewegbaren Einheiten des Rumpfes zueinander bildet ein Kernelement der gesamten Bewegungsauffassung des mime corporel. Dieses Geschehen im Inneren des Körpers ist verbunden mit der Frage des Gleichgewichts. Anders als beispielsweise beim klassischen Tanz geht es im mime corporel nicht darum, das Körpergewicht nach Maßgabe von Symmetrie und Grazie im Sinne einer Simulation überwundener Schwerkraft bei minimalem Bodenkontakt elegant zu verteilen und den Eindruck ätherischen Schwebens zu vermitteln. Im Gegenteil soll die Schwere des Körpers als dessen Materialität sichtbar gemacht und betont werden. Zwar dient auch beim mime corporel die Körpersenkrechte als orientierender Maßstab. Der Körper steht im Regelfall aufrecht, Punkt der Fixierung ist die Fußsohle (vgl. Decroux et al. 1978). Doch wird als konstitutive Bedingung gesetzt, daß der Körper als Masse, als realer Leib, immer nur in Zuständen mehr oder weniger prekären Gleichgewichts bzw. der Fortbewegung als beständig kompensiertem Gleichgewicht sichtbar ist. Diese Einrichtung des Leibes, die »harmonie entre les organes du mime« als natürliche Gleichgewichtsfähigkeit nennt Decroux »solidarite interorganique« (vgl. Paroles: 110). Sie wird durch die technischen Anforderungen des mime corporel aufgehoben oder zumindest ausgesetzt und muß neu gefunden werden.7 Vereinfacht gilt: »Representons la masse du corps par un cube« (Paroles: 96). Neigt man diesen Körperkubus seitlich und positioniert ihn gleichsam auf einer Kante, verliert er die natürliche Gleichgewichtsfähigkeit; Muskeln und Körperpartien, die sonst dem Gleichgewicht dienen, werden außer Funktion gestellt: »Des muscles et des membres qui pour l'ordinaire nous reequilibraient sont occupes ä autre chose« (Paroles: 96). Im Inneren des Körpers entfaltet sich die Dramaturgie des Gleichgewichts als intrakorporelle Bewegung, als »Drama der Muskulatur«.8 Jede zusätzliche Bewegungsgestalt erhöht diese Dramatik, und zwar im wörtlichen wie auch übertragenen Sinne: Dem mimisch agierenden Körper droht durch die komplizierten Gleichgewichtsverhältnisse stets der physische Sturz. Es droht aber auch und vor allem ein Scheitern der intendierten Bewegung, ein Schwanken und Straucheln, eine unwillkürliche Ausgleichsbewegung u.ä., wodurch das künstlerische Projekt der reinen Linie und klaren Form stets gefährdet bleibt. Intrakorporelle Gleichgewichtsarbeit in streng formulierten Bewegungssequenzen (statuaire mobile en triples dessins) als Inszenierung des Konflikts zwischen Schwere und Gestaltung 7

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Gleichgewichtsarbeit als konstitutiver Bestandteil schauspielerischen Körpereinsatzes bildet auch eine wichtige Richtgröße in der theateranthropologischen Forschung (vgl. Barba 1982; 1993). Decroux hat mit seiner Formulierung »equilibre de luxe« offenbar ein Grundprinzip schauspielerischer Technik erkannt. Diese und andere Überschneidungen zwischen Decroux' Arbeiten und Erkenntnissen der Theateranthropologie werden in Teil III untersucht. Diese Bezeichnung entnehme ich dem Programm zu einem Kurs über den mime corporel am Mime Centrum Berlin, »Der Körper als Schauspieler«, den Maya Brosch und Martina Leeker im März 1996 angeboten haben. 15

bildet daher eine der stilistischen Grundlagen des mime corporel. Auf ihr basiert das generelle Bewegungsbild von Darbietungen in diesem Stil. 1984 hat Decroux für Steven Wasson und Corinne Soum sein »Duo Amoureux« neu mimographiert.9 Es führt die genannten Prinzipien exemplarisch vor. Dynamische Grundfigur des Stückes ist das beständig neuformulierte Verhältnis der Beweglichkeitszonen unter- und zueinander. »Duo amoureux« ist an keiner Stelle anekdotisch oder »erzählend«, sondern basiert auf dem Dialog einzelner Bewegungsregionen des Körpers, auf der »volupte musculaire«, wie die beiden Darsteller erläutern: »C'est une partie du corps qui veut rejoindre l'autre partie, qui aime l'autre partie.« (Bonfanti 1992, AV). Diesem >muskulären Blick< nach Innen entspricht denn auch die Aufstellung der Akteure: Leicht in der Diagonalen versetzt und jeweils um eine Achteldrehung einander abgewandt, stehen sie dicht hintereinander; schon ein schlichter Blick auf den Partner würde eine mehrfache Drehung (Kopf, Hals, Brustkorb) erfordern. Dennoch sind beide aufeinander bezogen, aber eben nicht >psychologisierendAntwort< der indirekten Organe [Rumpf, Beine, Kopf etc.] auf die Tätigkeit des unmittelbar Kontakt aufnehmenden Organs [der Hand]), 5. der Krafteinsatz (der nur als Wirkung sichtbar ist).

Diese fünf Parameter lassen sich zwar analytisch unterscheiden, innerhalb der Bewegungshandlung sind sie jedoch stets gleichzeitig, »coincidentes«: Dans Taction supposee, le dessin suivi ne peut etre suivi qu'ä une certaine vitesse, avec une certaine force et par une certaine chose. Aucune de ces >choses< n'est reelle ä eile seule, pas meme l'oeuf. (Paroles: 145)

Aus dieser Feststellung entwickelt Decroux einen seiner wichtigsten Gedankengänge. Der zu bewegende Gegenstand (das Ei) ist Motivation der Handlung und der nach ihr komponierten Bewegung. In diesem Objektbezug liegt - so unscheinbar er auch anmuten mag - die nachahmende Anbindung mimischer Bewegung an eine vorgängige Realität. Andererseits wird dieses Objekt nicht beschrieben, wird nicht durch kontextbildende Gesten anschaulich und benennbar gemacht. Deswegen kann die gleiche Studie für ein Ei oder ein Wasserglas Anwendung finden. Dieser AhaEffekt obläge der Pantomime und ihrem explikativen, nach Decroux' Wort »schwatzhaften« Stil. Mehr noch: Der Gegenstand an sich interessiert überhaupt 18

nur, insofern er Anlaß und Motivation der Bewegung ist, insofern sich an ihm sozusagen das Wesen der Bewegung als deren Bewegtheit ausmachen läßt. In Decroux' Formulierung: Un oeuf ne bouge pas ou il bouge. S'il ne bouge pas, il n'est pas l'oeuf qui nous occupe. Et s'il est l'oeuf qui nous occupe, etant un oeuf bougeant, le bougement le caracterise et des qu'il ne bouge plus il n'est plus. (Paroles: 146)

Der Gegenstand interessiert also nicht als Realie. Nur indem er die Bewegung gleichsam an sich zieht und an sich zuläßt, wird er überhaupt Gegenstand. Sein Wesen ist durch die potentielle Bewegtheit gekennzeichnet. Der Körper realisiert diese Potentialität, unterwirft sich ihr in gewisser Weise, ohne dabei in bloße Abbildungstätigkeit zu verfallen. Gleichzeitig kann das Gegenständliche, kann die objektive Welt auf diese Weise in ihrer Konkretheit völlig ausgeklammert, ja ausgeblendet werden. Sie haben ihre Eigenbedeutung an die mimische Gestaltung abgetreten, die derart ihr eigenes Bedeutungsfeld wird. In der Filmsequenz, die Decroux bei dieser Bewegungsfolge zeigt, wird denn auch nicht nur die Hand ohne erklärende Form gehalten, sie verscheucht gleichsam in einer Schüttelbewegung jedes narrative Anliegen, nachdem der Gegenstand niedergesetzt und also das darstellerisch-gestalterische Interesse erloschen ist. Dieses kann nur in der Bewegung selbst, nicht im Kontext liegen. Der bliebe, bei aller Gestaltgebung, doch nur eine schlichte Handlung. »Si c'est le resultat qui compte, on peut dire: >11 a pris un oeuf ä sa gauche et il l'a pose ä sa droiteeigentlichen< Kunst des

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8 9 10

In einem von Decroux selbst verfaßten Lebenslauf (»Note autobiographique, remise par M.Etienne Decroux ä M.Andri Veinstein« [handschriftl. ZufÜgung: 1931-1952]. Paris, Ro 11.579, Dokument Nr.3.) ist auch noch davon die Rede, er habe nach 1931, also in der Zeit des front populaire, sieben Jahre der Arbeit »au choeur parlant et au theätre moitiö parlö, moitiö agi« gewidmet. In seinem sehr knappen Lebenslauf von 1956 (Etienne Decroux: »Curriculum Vitae«. Paris, Ro 11.579, Dokument Nr. 4) erwähnt er diese Betätigung nicht mehr. »Curriculum vitae«. Paris, Ro 11.579, Dokument Nr. 4. Alle anderen Autoren geben dagegen 1945 als das Jahr an, in dem Decroux seine Schauspieltätigkeit einstellte. »Curriculum vitae, notice itabli par Andr6 Blanc«, 1954. Paris, Ro 11.579, Dok. Nr. 6. The origin of corporeal mime. Interv. »Mime Journal« 7+8, S. 10. 31

Schauspielers hat Decroux bereits 1931 in seinem ersten veröffentlichten Aufsatz thematisiert. Er begründet in »Ma definition du theatre« die Notwendigkeit des Neuen Schauspielers und des Studiums des Körperausdrucks eben mit der Verfallenheit des Theaters. Das nämlich sei eine diffuse synästhetische Kunstform, eine »art synthetique«, ja eine »maison de tolerance« (Paroles: 38): Pourtant, en un lieu nomme theatre, nous voyons peintre, sculpteur, architecte, musicien, cantatrice, danseuse et acteur r6unis pour tächer moyen de faire quelque chose de grandiose. [...] Cependant, il n'y a pas d'erreur: chaque art ayant droit au plateau a par ailleurs un code rigide lui permettant d'exprimer ä sa maniere tout ce qui existe. (Paroles: 37)

Wie anfechtbar Decroux1 Auffassung von Kunst sein mag, an der die Moderne mit all ihren abstrakten und formalistischen Strömungen spurlos vorübergegangen zu sein scheint, soll hier nicht erörtert werden." Wichtig ist vielmehr Decroux1 Fokus, die prinzipiell gegebene Eigenständigkeit der Einzelkünste auch für das Theater reklamieren zu wollen, um es in den Rang einer Schönen Kunst zu erheben. Was aber könnte das Theater solchermaßen auszeichnen, wo läge dessen »code rigide«, mit dem es »tout ce qui existe« »ä sa maniere« ausdrücken könnte, das darüber hinaus auch noch »quelque chose de grandiose« sein möge? In Text oder Dekor, Musik oder Kulissen könne es nicht zu finden sein, schließlich habe es in der Geschichte lauter Theaterformen gegeben, die auf zumindest eine dieser Künste verzichtet haben: Shakespeare oder das Nohspiel seien ohne wechselnde Bauten ausgekommen. Die Commedia dell'Arte habe sich ihre Textvorlagen selbst geschaffen. Und noch im aktuellen Literaturtheater »il y a des silences pendant lesquelles l'acteur medite et evolue [...] ou le comedien cree l'emotion par sa fa?on d'agir.« (Paroles: 39). Woraus folgt: »De tous les concessionnaires du plateau, un seul n'en fut jamais absent: l'acteur« (ebd.). Nur im Schauspieler und seiner Kunst könne also die Eigenständigkeit des Theaters, dessen künstlerische Spezifik zu finden sein. Doch stellt sich die Frage: »Oü voit-on l'art d'acteur comme on voit la peinture: ä Γ etat pur?« (ebd. 38). Im aktuellen Theater jedenfalls nicht, soviel steht für Decroux fest. Denn es sei nichts als eine schändliche Maschinerie, die dem Schauspieler wohl hilft, »ä creer l'illiision du reel et aussi a sucrer la laideur du travail« (Paroles: 40), ihn in dieser Hilfestellung aber degradiert und entmündigt; er wird zur »delicieuse poupee de soie« (ebd.), auf die man notfalls auch verzichten könne. Ein Theater jedoch, das den Schauspieler hinter Bauten, Licht und Text verschwinden läßt, ist selbst bedroht. »Le notre expire sous les gravats.« (Paroles: 42). Aus dieser Notlage könne das Theater einzig durch den Schauspieler errettet werden, nur er könne das Theater in den Rang einer eigenständigen Schönen Kunst erheben: Quelle sera notre definition [du theatre]? [...] Nous avons vu [...] que l'acteur est le seul eternel present du theatre. U n e teile constatation ilimine tous les autres arts. [:..] Or, tous les arts hormis celui d'acteur ayant cesse leur service au moins un instant, aucun n'est done l'essentiel du theatre. [...] Le theatre, c'est l'art d'acteur. (Paroles: 41)

In der Decroux-Literatur wird gern daraufhingewiesen, daß Decroux den Kubismus, den Expressionismus, den Futurismus etc. auf den agierenden Körper habe anwenden wollen. Eine solche Vermutung ist aber im wesentlichen spekulativ und nach der Lektüre seiner Schriften auch haltlos. Der Moderne fühlte sich Decroux ganz offensichtlich nicht verpflichtet, auch wenn seine Problemstellungen modern sind.

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Zwar scheint Decroux mit diesen Ausführungen über weite Strecken ein Resümee der euopäischen Theaterreformbewegung zu geben und auf Tatbestände hinzuweisen, die in Rußland, Deutschland, Italien und England bereits beklagt worden sind. Doch mit der von ihm vorgeschlagenen Radikalkur, 30 Jahre lang Theater ohne jede fremde Kunstzufügung, ohne Lautproduktion, ohne Stückvorlage zu bestreiten (vgl. Paroles: 42f.), um so den Schauspieler dazu zu zwingen, sich seine Kunst zu entwickeln und also das Theater zu retten, geht er einen Schritt weiter. Freilich gibt es diese Kunst noch nicht. Das Programm eines »reinen Theaters« als Kunst des Schauspielers, der mit einem »code rigide« »alles Bestehende« ausdrücken kann: Es transportiert zwar Decroux' Kritik, hat sich aber über die Rhetorik hinaus noch nicht bewiesen. Die »art d'acteur« muß erst entworfen werden. »II est sanspreuve que le theatre pur compensera par ses progres la perte des arts de secours [...]. L'entreprise ne donne pas de preuve.« (Paroles: 43, Herv. v. m.).

3.1. J e a n - L o u i s Barrault An dieser Suche nach einer noch nicht existierenden Kunstform beteiligte sich seit 1931 Jean-Louis Barrault, der ebenfalls an Dullins »Theätre de Γ Atelier« gekommen war. Decroux hatte bis dahin allein in einer Dachkammer des Theaters seine Forschungen zur expression corporelle betrieben. In Barrault fand er sogleich einen begeisterten Mitstreiter. Vom restlichen Ensemble belächelt, erarbeiteten die beiden in zweijährigem, stundenlangem täglichem Training die Grundlagen des Mime: Aufteilung des Körpers in Bewegungssegmente, contrepoids und points fixes, Gehen auf der Stelle etc. Die erste längere Arbeitsprobe, den »Combat antique«, führten beide auf Drängen Dullins diesem vor; der war von der technischen Präzision begeistert: »Deux Francis atteignaient, ä ses yeux, la perfection technique des acteurs japonais.« (Barrault 1972b: 72). Zum ersten Mal also war der mime corporel auf eine Bühne getreten. Seltsamerweise aber erwähnt nach meinen Recherchen Decroux selbst mit keinem Wort diese frühe Phase, in der der mime corporel in seinen Grundzügen ausgearbeitet wurde. Als wolle Decroux den Beitrag Jean-Louis Barraults nicht anerkennen, erwähnt er stets nur vage eine Zusammenarbeit mit ihm, oder aber er schweigt sich gänzlich darüber aus. So ist es Barrault zu verdanken, daß es überhaupt Hinweise zu Arbeitsweise und Ergebnissen dieser Zeit gibt (vgl. insbesondere Barrault 1949; 1972b). Er ist damit nicht nur Protagonist, sondern zugleich Historiograph dieses eminent wichtigen Abschnitts in Decroux' Biographie, der allerdings mit einem Zerwürfnis endete. Barrault war nämlich keineswegs gewillt, diese Forschungen nur als Trockenübung im Studio, als Selbstzweck zu betreiben, sondern wollte mit den neugewonnenen Erkenntnissen auf die Bühne gehen und szenische Umsetzungen mimischen Körperausdrucks suchen. So erarbeitete Barrault zwischen 1935 und 1939 drei Theaterproduktionen, in denen die Ergebnisse der Mime-Studien mit Decroux12 in 12

Es handelt sich um »Autour d'une mere« nach William Faulkners Roman »While I lay dying« (1935); »Numance« nach Cervantes (1937); »La faim« nach Knut Hamsun (1939). Barrault (1949) gibt ausführliche Beschreibungen dieser Arbeiten.

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dramaturgischer Anwendung eingesetzt wurden. Diese Inszenierungen gelten als frühe Klassiker aus der Werkstatt Barraults.'3 Obwohl diese praktische Wendung der gemeinsamen, sozusagen akademischen Arbeit dem mime corporel erstmals eine größere öffentliche Wahrnehmung beschert hat - namhafte Vertreter des französischen Theaters der Zwischenkriegszeit (u. a. Artaud, Jouvet, Dullin) äußerten sich wohlwollend bis begeistert über diesen neuen Körperstil - , reagierte Decroux nicht nur ablehnend, sondern mit beleidigender Härte, ja Verunglimpfung der Person Barraults auf dessen Aktivitäten. Ohne nähere Datierung14 berichtet Barrault von einem Brief Decroux1, in dem dieser schreibt: Je te considere ä peu de choses pr£s comme foutu. II importe: 1) que tu declares que tu a perdu ton temps; 2) que tu vas changer tes frequentations de fond en comble [gemeint ist hier möglicherweise Barraults Umgang mit den Surrealisten um Andre Breton]; 3) que tu renonces jusqu'ä nouvel ordre a jouer, aussi bien qu'ä te preparer au röle de grand homme [...]. (Barrault 1972b: 73)

Und in einem 1971 mit William Weiss geführten Interview berichtet Barrault von folgendem, noch drastischeren Wortwechsel: Un jour, il [Decroux] m'a dit: >Tout ce que tu fait ne sent plus le travailEh bien! Non! Tu n'es qu'une putain, tu vas perdre ton tempsTandis que j'agonise< l'avait ulc6r6 et qu'il avait fort critique >Numancedes Lobes voll< zeigten. 1942 nämlich erscheint in der Tageszeitung »Aujourd'hui«, dem französischsprachigen Organ der deutschen Besatzungsmacht, ein Artikel von Helene Garoin, in dem über Decroux' Recherchen berichtet wird: »Nous fumes, voici quelques semaines, convies par petits groupes deux, trois ou quatre personnes ä la fois - ä assister ä des seances de pantomime chez Etienne Decroux.« (Garoin 1942, o. P.). Der Hauptteil dieses Artikels ist der Dokumentation eines offenen Briefes an Etienne Decroux gewidmet. Er stammt von keinem geringeren als Gaston Baty und lautet wie folgt: Le theatre est le seul art complet, capable de tout exprimer de l'äme et du monde. Les autres se constituent lorsqu'un des moyens d'expression du theatre vit par lui-meme et se declare indipendant; ils sont comme la monnaie en argent d'une pifece d'or. // Lorsque Decroux essaie d'isoler du jeu dramatique la mimique, aimee pour elle-meme, il mutile une fois de plus l'art majeur au profit d'une manifestation malgr6 tout mineure. Amputation qui ne nous propose meme pas un corps amput6 d'un membre, mais le membre dont le corps a έΐέ ampute. II y a lä un danger d'autant plus grand qu'est plus grand le talent de Decroux. // Si, au lieu de tourner le dos au theatre integral, il se mettait ä son service, il pourrait, au contraire, l'enrichir de ressources nouvelles. II pourrait notemment apprendre ä nombre d'acteurs ce qu'il sait si bien lui-meme: qu'il ne suffit pas d'avoir de belles attitudes, mais qu'il faut passer d'une attitude ä une autre par une succession de beaux mouvements. 19

Zwei Linien sind in diesem Memorandum von Bedeutung: die eindeutige und unumwundene Ablehnung von Decroux' doktrinärer Vision eines theätre pur sowie das Angebot, ja die Aufforderung, in den Strom des »theatre integral« zurückzukeh17 18

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Vgl. hierzu »Etienne Decroux, Extraits de Presse 1938-1964«. Paris, Sw 6651. »Note autobiographique, remise par Μ. Etienne Decroux ä M. Andre Veinstein« (handschriftl. Zufiigung: 1931-1952). Paris, Ro 11.579, Dokument Nr. 3. Soweit zitiert Garoin (1942). Ich weiß nicht, ob dies der vollständige Wortlaut ist. Ein Originalmanuskript dieses Briefes konnte ich im Rahmen meiner Recherchen nicht ausfindig machen.

ren und die reine Technikforschung zum Wohle des Ganzen aufzugeben. Das thdätre de qualite würde es ihm danken. Doch wollte Decroux davon nichts wissen. In seiner Antwort, dem Aufsatz »Avant d'etre complet, l'art doit etre«, 20 zeigt sich Decroux von Batys Vorhaltungen unbeeindruckt und entwickelt statt dessen höchst pointiert und hellsichtig seine Kritik, die erstmals gleichsam in positiver Wendung Decroux' Sicht vom Theater als eigenständiger Schöner Kunst transportiert.

3.2.1.

Das reine Theater

Die Positionen könnten unversöhnlicher nicht sein. Baty vertritt einen Theaterbegriff, dessen künstlerische Möglichkeiten gerade im Zusammenwirken der Einzelkünste, in der Synthese, in der Synästhesie liegen. Dagegen setzt Decroux die Selbstbeschränkung auf einen >festgefügten Code< darstellerischer Mittel. Baty will den theatralen Stein der Weisen finden und in einer Art opus magnum die totalisierende künstlerische Gegenwelt schaffen, Decroux erörtert die zentrale Bedeutung von Vergleich und Übertragung für alle künstlerische Stilbildung. Baty will das fiktionale Kontinuum, Decroux strebt nach einer Diskursformation der Wahrheit, die in der Beschränkung immer auf sich selbst verweist, die unhintergehbar sein soll. Kurz, Baty will ästhetisches Gold, Decroux (gute 20 Jahre vor Grotowskis gleichnamiger Entdeckung) künstlerische Armut. Gemäß seiner Erkenntnis, daß Mime Fundament theatraler Darstellung sei, verschmäht Decroux Batys alchimistisches Wunderwerk und sucht andere Reichtümer: »Je crois qu'un art est d'autant plus riche, qu'il est pauvre en moyens.« (Paroles: 45). Er stellt die Abbildungsvorgänge des totalisierenden Theaters radikal in Frage: Pour un peu, le theatre ne serait pas un art puisqu'il ivoque la chose par la chose meme: l'otese par un obese, la femme par une femme, le corps par un corps, le verbe par le verbe [...]. (Paroles: 46) Es gebe eben keine Trennung von Ausdrucksmaterial und Ausdruck, keine Sichtbarmachung der Künstlichkeit. Theater in Batys Verständnis sei nichts als hohle Abbildlichkeit. Nicht die Abbildung der Wirklichkeit, sondern deren symbolische Übertragung in einen »festgefügten Code« jedoch könne Kunst, und also Theater, ergeben. Wo dagegen direkte Entsprechung, Identität zwischen Abzubildendem und Abgebildetem vorliege, sei die Selbstbeschränkung auf einen klar umrissenen Kanon darstellerischer Mittel nicht gewährleistet. Das führe nicht zu Stil, sondern allenfalls zu einer Kopie der Realität, zu blindem Realismus. Was fehle, seien Transposition, Metaphernbildung, symbolische Darstellung. Das Gleiche könne hier immer nur das Selbe sein, die Wirkung daher nicht durch Anmutung, sondern nur durch Zumutung entstehen: »Si le theatre erneut, c'est comme un crime erneut quand on le voit de sa fenetre.« (ebd. 46). Es sei ein Angriff des Lebens, keine Gestaltung durch Kunst. Es zeigt nur das Leben, es unterwirft sich ihm:

20

Mir ist nicht bekannt, wo Decroux' Antwort zuerst veröffentlicht wurde. Ich zitiere im folgenden nach dem Wiederabruck in Paroles, S. 44-48. 37

Ses coups de theatre, la vie, dejä, les comporte [...]. L'imotion que nous cause la vue de ces miseres et de ces soulagements est-elle bien assez desintiressee? [...] Aussi, quelle fievre au theatre. (Paroles: 47) Echte Stilbildung dagegen müsse vergleichend arbeiten, metaphorisch, übertragen. Anhand einer spezifischen Formensprache und eines reduzierten Ausdrucksmaterials habe Darstellung immer eine Kluft zu lassen zwischen Gestalt und Bedeutung. »On a dit que le theatre itait de tous les arts, le plus populaire parce que le plus direct. Je n'y vois point louange.« (Paroles: 47). Die Überwindung bloßer Imitation könne nur durch die Selbstbeschränkung der Mittel gelingen, dann nämlich, »si un art partiel donne idee d'un monde par un autre monde.« (Paroles: 45). Was Decroux also fordert, ist eine spezifisch theatrale Zeichenlehre. Im Unterschied aber zum Artaudschen Hieroglyphismus oder zur subjektiven Katharsis Stanislawskis reicht es nach Decroux' Auffassung zur kunsttauglichen Form der Übertragung aus, die Wirklichkeit — anstatt sie bloß zu imitieren oder zu überwinden - in den Code einer »art partiel« zu transponieren. Und je beschränkter die Mittel, desto besser. Wie im Falle des mime corporel·. »Notre mime qui tente d'evoquer par l'exclusif mouvement du corps la vie mentale sera, s'il y parvient, un art complet.« (Paroles: 46). Fülle aus der Reduktion, Körper als Medium des Geistes, Kunst statt Theater: Decroux klopft hier die Motive seiner Arbeit fest. Diese Radikalität wird er später immer weiter verfolgen und eine Bühnenkunst behaupten, die Andeutung vor Darstellung, Stil vor Bild, Code vor Bedeutung stellt. Mit solchem Credo muß er sich aber aus dem (bestehenden) Theater verabschieden. Denn wie könnte eine solche Vollständigkeit in Reduktion erlangt werden in dieser synästhetischen Anstalt mit all ihren illusionistischen Zurichtungen, in der schon der Schauspieler immer nur auf sich selbst als Darsteller verweist? Baty mag Decroux die Verstümmelung des Theaters vorwerfen; im Gegenzug erkennt der im Theater Behinderung, Entstellung, j a Monstrosität: La baraque foraine oü l'on expose la femme ä barbe, le geant et le nain, l'hydrocephale et les deux corps relies par une seule tete est prifiguration du theatre orthodoxe [...]. // Une infirmite de l'acteur y devient un spectacle qui nous cache le vrai. Et parmi ces infirmites, il faut compter le charme d'une actrice, la beaute d'un acteur qui se posant sans bruit entre jeu et public nous troublent le jugement. (Paroles: 46, Herv. v. m.) Mit solchem Personal ist in Decroux1 wahnhafter künstlerischer Weltsicht kein Staat zu machen und schon gar keine Kunst. Die Monstrosität des Schauspielers als dessen Körperlichkeit erstickt im herkömmlichen Theater jede Übertragung im Keim. Als Darsteller fallt er mit dem Dargestellten immer in eins, weswegen allenfalls Realismus, nicht jedoch Kunst entstehen kann. Um wahres Theater, um ein die Wahrheit enthüllendes Theater zu erlangen, muß zunächst die strukturelle Monstrosität des Schauspielers überwunden werden. Die Formel hierfür lautet: »Donner idee du mouvement par l'attitude, de l'attitude par le mouvement, du concret par l'abstrait et de l'abstrait par le concret [...].« (Paroles: 46). Nur durch Stilisierung, Übertragung und >Vergleichung< kann Theaterkunst als Kunst des Schauspielers wahrhaft entstehen - und erst dann dürfe man sie kritisieren. »Avant d'etre ceci ou cela, il faut etre. Avant d'etre complet, un art doit exister.« (Paroles: 46). Mit dieser Wendung freilich tritt Decroux nicht nur endgültig aus dem >orthodoxen< Theaterbetrieb aus; er verbittet sich dadurch indirekt auch jede Kritik an

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seinem Projekt. Man dürfe nicht verurteilen, was sich noch gar nicht beweisen konnte. Zugleich aber zementiert Decroux, indem er das Angebot Batys, sich doch zum Theater zurückzubegeben, solchermaßen abschmettert, seine Abseitigkeit. Indem er das Theater ablehnt, seinen (bislang eher imaginären) Gegenentwurf aber noch nicht vorlegen kann (und will), indem er negiert und behauptet, anstatt zu definieren und zu zeigen, bleibt sein Entwurf in einem eigentümlichen Zwischenstadium hängen. Der wirkmächtigsten (theatralen) Ausdrucksmittel verlustig gegangen und ohne inhaltliche Vorgaben, steht der Akteur des mime samt seiner noch nicht gefundenen Kunst hilflos zwischen Selbstbezüglichkeit und Symbolik, Materialität und Übertragung. Er ist noch kein Werk geworden, aber auch Mittel nicht mehr. Aus seinem Wohnzimmer tritt Decroux nur hinaus, um sich in künstlerischer Obdachlosigkeit einzurichten.

3.3. Edward Gordon Craig Drei Jahre nach dieser Debatte unternimmt Decroux den Versuch, die Bühnentauglichkeit des mime corporel unter Beweis zu stellen. Er hatte zwar in Entgegnung auf Baty sein >Kunstverständnis< umrissen und zu verstehen gegeben, daß dem Körper darin eine zentrale Rolle zukomme. Wie und an welcher Stelle aber diese beiden Extreme - verfremdende Übertragung einerseits, Beschränkung auf den Körper andererseits - sich tatsächlich produktiv berühren können, das weiß man bisher nicht. Decroux wußte es offenbar selbst noch nicht. Eine Heimstatt auf der Bühne wollte er sich dennoch sichern. Da aus seinen eigenen Positionen ein solches Bleiberecht aber nur bedingt herzuleiten war, suchte er für seine Bemühungen um praktische Umsetzung, um szenische Feuertaufe einen prominenten Gewährsmann: Edward Gordon Craig. Der war 1945, »dans cette annee de liberation« (Craig 1945, o.P.), nach Paris gereist und hatte Decroux' Schule einen Besuch abgestattet. Wenige Tage später übernahm er den Ehrenvorsitz der Soiree de mime corporel im Theatersaal der »Maison de la Chimie«. Diese Auffuhrung wurde zu einem legendären Ereignis, bei dem Decroux sich nach seiner Wohnzimmerphase am 27. Juni 1945 erstmals vor breitem und mittlerweile trotz allem neugierig gewordenem Publikum21 zeigte. Doch bestritt er den Abend nicht allein; vielmehr wirkten neben ihm selbst in solistischen und Duo-Arbeiten noch mit: Decroux' Sohn Maximilien, Elyane Guyon und - Jean-Louis Barrault. Schüler aus Decroux' Kompanie zeigten Ensemblearbeiten. Und wieder einmal waren die Reaktionen verhalten. Insbesondere an Decroux' darstellerischer Begabung wurden Zweifel laut. Seine fanatische Technikversessenheit, sein akademischer Anspruch standen in deutlichem Gegensatz zum gefeierten Lyrismus Jean-Louis Barraults. So äußert gerade Craig, Barraults solistischer Beitrag »Le cheval«22 sei das einzige gewesen, was ihn, Craig, wirklich begeistert habe: 21 22

Leabhart (1989: 48) beziffert die Zahl der Zuschauer auf über 1000. »Le cheval« war Barraults erste darstellerische Anwendung der Ergebnisse mimischer Technikforschung; die Nummer war Teil seiner Produktion »Tandis que j'agonise« (1935) und stellte die Dressur eines wilden Pferdes durch einen Reiter dar, der anschließend als

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Le cheval, il [Barrault] l'a fait par la grace du genie et si les möcontents ne peuvent le lui pardonner, tant pis pour eux. [...] [C'est] la chose la plus purement lyrique qu'il m'ait έΐέ donnie jusqu'ä present de voir sur scene. (Craig 1945, o.P.) Auch Jean Dorcy, Organisator des Abends und seit den frühen Tagen am »VieuxColombier« mit Decroux befreundet, spart nicht mit Kritik: Technisch und künstlerisch habe diese »neue Form« zwar allerhand zu bieten, doch wisse Barrault sich dieser Technik besser zu bedienen, und er vermag zu gefallen. Dagegen Decroux veut nous ignorer. II suit son idöe et recherche la difficulti, sacrifiant parfois notre contentement. Jean-Louis Barrault est par excellence l'homme du genre. [...] Deux erreurs [...] dans cette soiree: mauvaise silection des exercices par les έΐένεβ, et en fin de soirie, une causerie de Decroux, aprfes le plaisir recfu, touteparole ennuie.v. (Dorcy 1945, o.P., Herv. v. m.) Solche deutlichen Worte sind vielleicht ein Grund dafür, daß Decroux diese Vorstellung, die immerhin zum ersten Mal eine nennenswerte Resonanz hervorruft, in seinen Lebensläufen gar nicht erwähnt.23 Verschweigt er hier trotzig einen Anlaß, bei dem Barrault einmütig als der begnadetere Darsteller gefeiert worden war? Diese Motivation ist zumindest wahrscheinlich. Ebensowenig nämlich erwähnt Decroux seine Zusammenarbeit mit Barrault in dem 1943/44 von Marcel Carn£ gedrehten Filmklassiker »Les enfants du paradis«. Dabei verdankt die Popularität mimischer Spielweise - wenn auch nicht der Decrouxschen - diesem Film viel. Mit ihm beginnt der internationale Siegeszug der Pantomime, allerdings eben mit Barrault, später Marceau als Protagonisten. Decroux wurde kaum beachtet. Weswegen er das ganze Geschehen mit keinem Wort je erwähnt. Und als 1945 abermals Barrault, mittlerweile zum Direktor der »Comedie Franfaise« avanciert, Decroux auffordert, mit ihm zusammen eine Mime-Sequenz als Teil einer Inszenierung von Shakespeares »Antonius und Kleopatra« zu erarbeiten, stimmt Decroux wohl zu, und es entsteht »Le combat antique«. Doch in seinem schon mehrfach zitierten offiziellen Lebenslauf24 vermerkt Decroux selbst lediglich: »1945: Combat antique ä la Comedie Frantjaise«. Es ist tatsächlich ein archaischer Kampf, den Decroux da mit seinem zum Konkurrenten gewordenen ehemaligen Schüler hinter den Kulissen schweigend ausficht...25

23

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eine Art Kentaur selbst zum Pferd wird. Daneben gab Barrault während dieses Abends auch noch die ebenfalls aus »Tandis que j'agonise« entnommene, berühmte »mort verticale«. Barrault saß dabei mit getragenem Oberkörper aufrecht am Boden, ließ seinen Arm emporschnellen und dann langsam vor dem Gesicht niedersinken, wobei in dem Moment, als die waagerecht gehaltene Hand das Blickfeld von oben nach unten durchfahrt, der Blick sozusagen verlöscht. Diese elliptisch-symbolistische Darstellung des Sterbens sollte realistische Todesdarstellung durch dramatisches Niedersinken, Röcheln, Zuckungen o. ä. ersetzen. Es sei denn, es handelt sich nurmehr um einen Schreibfehler bzw. Irrtum Decroux', denn in seiner »Note autobiographique« von 1952 (Paris, Ro 11.579, Dokument Nr. 3) wird eine Serie von fünf Aufführungen in der »Maison de la Chimie« im Jahre 1946 aufgeführt. Allerdings konnte ich nicht ermitteln, daß die vielbesprochene Veranstaltung 1945 fünf Mal gegeben wurde. »Note autobiographique...«: s.Anm.48. Ein Kampf, der bereits in der Eröffnungsszene von »Les enfants du paradis«, allerdings in Form einer Art Kasperlenummer, präludiert: Als Pere Debureau erhebt Decroux auf dem Boulevard ein großes Klagegeschrei ob seines mißratenen Findelkindes Jean-Gaspard Debureau alias Baptiste, dargestellt von Barrault, und schlägt ihm mehrmals mit einer

Wichtiger aber als solche Eifersüchteleien und Revierkämpfe ist im Zusammenhang mit der Soiree de mime corporel die Tatsache, daß Decroux' Hoffnung, in Edward Gordon Craig einen Gewährsmann seiner Arbeiten zu finden, nicht in Erfüllung ging. Craig hatte nämlich im August 1945 in der Zeitschrift »Arts« einen Bericht über die Seance veröffentlicht, in dem der immer wieder zitierte Satz steht: »Nous assistions ä la creation d'un A.B.C. de mime.« (Craig 1945, o.P.). Weswegen diese Veranstaltung unter Decroux-Jüngern gemeinhin als Beginn der öffentlichen Anerkennung Decroux' und damit als Geburtsstunde der modernen Mimekunst gilt. Tatsächlich aber formuliert Craig in seinem Artikel deutliche Vorbehalte. »II y avait lä une tentative [...] de creer un art pour la scene« (Craig 1945, o.P.), schreibt er. Zwar sei der mime corporel insgesamt viel versprechend, aber doch wohl noch nicht ausgereift genug, um abschließend darüber urteilen zu können: Depuis des annies, le travail preparatoire a έίέ mene avec le plus grand soin, et quelques signes de ce travail adherent encore [...] ä l'oeuvre presentee. [...] Je n'oserai pas aller jusqu'ä dire nettement que cet art fut une criation [...] l'ensemble etant tout k fait admirable [...]. (Craig 1945, o.P.)

Und er schließt mit dem oben erwähnten berühmten Satz, der jedoch gerne und oft unvollständig zitiert wird: »Nous assistions ä la creation d'un A.B.C. de mime: ou disons >redecouverteStil< und >Symbol< in Decroux' Denken zentrale Punkte sind, ist mittlerweile bekannt, ebenso die Abscheu gegenüber dem realistischen Schauspielstil und dem hier gefrönten Subjektivismus. Neu ist indessen das Schlagwort »esprit« als Kontrollinstanz für die »emotion«. Decroux greift es geradezu begierig auf. Er leitet daraus die Formel ab, um zwischen seinen Extremen zu vermitteln. Denn noch gilt: »Les lois du theatre restent ä trouver.« (ebd. 20). Dieses Gesetz wird der Geist sein,

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Pritsche geniißlich auf den Kopf. Im zweiten Teil des Films freilich »rächt« sich Baptiste, indem er in der Pantomime »Chand d'habits« seinen (Ober-) Vater Debureau/Decroux als Darsteller des Kleiderhändlers aus Habgier ersticht... Obwohl Decroux nur vage angibt: »J'ai releve de ma memoire les [...] points que voici.« (Paroles: 20). 41

er habe eigentlicher Stilbildner zu werden. Dafür aber muß zunächst Craig zurechtgewiesen werden (solche Richtigstellungen waren eine Spezialität Decroux'). Und so gibt er sich denn erstaunt, daß sich Craig am wichtigsten Punkt - nämlich der Frage nach Stilbildung - in einen Widerspruch verwickele: Selon Craig, l'acteur est insuffisant parce que son jeu est röaliste [...]. II faudrait done que son jeu ait du style [...]. Mais voilä que Craig nous affirme longuement que le corps est incapable d'obeir ä la commande de l'esprit [...]. (Paroles: 21)

Einzig die Übermarionette sei hierzu imstande. Da aber eine solche Marionette nur ein »image de combat« und kein ernstgemeintes Projekt gewesen sei, müsse man sich eben, so referiert Decroux, damit abfinden, daß der Akteur sein Spiel niemals allein vom Verstand werde leiten lassen können. Das führe jedoch in eine Sackgasse: »Alors que faut-il faire? Pas d'acteur traditionnel, pas de marionette, pas d'acteur corporel: avec quoi allons-nous jouer?« (ebd.). Die Antwort fällt Decroux leicht: natürlich mit dem Körper, jedoch einem geistbestimmten. Lorsque Craig affirme l'impuissance du corps, il ne pense qu'aux difficultös certes grandes mais surmontables eprouvees par le corps lorsqu'il tente d'obeir aux commandes de l'esprit. [...] il faut done acquirir les vertus de la marionette idiale.« (Paroles: 21)

Es sei nur eine Frage der Zeit und der Übung, bis man sich die Eigenschaften der Übermarionette aneignen könne, und zwar durch »une gymnastique adöquate [...] et cela nous conduit au mime dit corporel [Herv. v. m.]« (Paroles: 2If.). Mit seiner neuen Körperkunst habe er, Decroux, nichts weiter verwirklicht, als was bereits Craig gefordert hatte. Mime corporel müsse als Einlösung von Craigs Forderung nach der Übermarionette gelten. Allerdings hatte Craig 1945 in seiner Rezension der Vorstellung in der »Maison de la Chimie« genau diesen Schluß höflich aber bestimmt zurückgewiesen (vgl. Craig 1945), was Decroux - im Gegensatz zu fast allen Decroux-Kommentatoren auch durchaus zur Kenntnis nahm: »Craig, enfin, voyant notre spectacle, icrit un article enthousiaste. Mais il precise que ses ecrits n'ont pas de relation avec ledit spectacle.« (Paroles: 22). Dennoch beharrt er auf der Verwandtschaft beider Ansätze, denn sie seien denselben Grundsätzen verpflichtet und böten für dieselben Probleme Lösungen an: »Et pourtant le Mime corporel semble si bien repondre aux revendications de Craig.« (ebd.). Ob Craig will oder nicht: Er wird zum begrifflichen Katalysator für Decroux' Autonomiebestrebungen. Und so ruft Decroux ihn zur Raison: Quant ä l'idee de remplacer l'acteur par la sur-marionette, j'imagine malgri moi que dans l'arriere-conscience, Craig a dü, quoi qu'il dise [Herv. v. m.], la voir d'un oeuil serieux. (Paroles: 24)

So daß mit Craig als Gewährsmann ein Plan zur Erneuerung des Theaters aufgestellt werden kann; in Wahrheit werden es die Gebote des mime corporel und damit ein Programm zum Austritt aus dem Theater. Für die Aufbereitung des Körpers als Grundlage einer geistbestimmten Kernkunst des Theaters hat Decroux endlich eine Plattform gefunden. Sie umfaßt (Paroles: 22-24): 1. Grundlagenforschung »Decouvrir les lois du theatre? - Y a-t-il une methode plus scientifique que celle qui deshabille l'acteur afm de voir ce qu'il en reste?«

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2. Selbstbeschränkung »La maitrise de l'ömotion? - Quand l'acteur entreprend de s'exprimer en lignes de scrupuleuse göometrie, au ρέπΐ de son iquilibre, souffrant ainsi dans sa chair [...] il est bien obligö de retenir son emotion [...].« 3. Entsubjektivierung »La pudeur - Le visage seul est impudique puisque lui seul revele notre personne intime [...] Le corps, lui, a la faculte de tracer dans l'espace des lignes grandes qui distraient de Celles de notre forme. Ainsi subsitue-t-il au dessein que nous sommes celui que nous voulons.« 4. Kodifizierung/Stilisierung »Le style et le Symbole? - II suffit dans un cadre nu [...] d'etre nu soi-meme pourque style et Symbole deviennent obligatoires: eux seuls habillent.« 5. Schlüsselstellung des Akteurs »Meme si Gordon Craig veut ajouter ä l'acteur un costume mieux con9u, un decor, un eclairage, une construction scenique, un texte mieux con?u, il faudra bien que l'acteur que nous placerons dans ce total mieux con?u soit, lui meme, mieux con^u.«

Endlich, wenn auch erst nach beschwerlichen fünfzehn Jahren, kann Decroux somit seine Suche nach gleichzeitiger Reduktion der Mittel und übertragener Gestaltung in ein >positives< Bild kleiden. Unter Rückgriff auf Craig entsteht der >neue Schauspielen als leibliche Marionette, als Instrument des Verstandes, der sich in ihr nachbilde. Decroux hat damit gewissermaßen zu sich selbst gefunden. Die Obsession eines dekontextualisierten Körper-Instrumentes, eines »acteur mieux consu« ist ab jetzt vollkommen. Diese fünf Parameter körperlicher Spielweise bilden die Kernpunkte der von ihm intendierten Darstellenden Kunstform. In ihnen sollten die Essenz und das Wesen des Theaters zu finden sein. Auf der Bühne blieb für solchen Fundamentalismus zwar kein Raum; von seiner Doktrin jedoch wich Decroux nicht mehr ab.

3.4. Marcel Marceau In dem Maße, wie der Gründervater Decroux mit seiner theatralischen Sendung sich hinter seinem System verschanzte, traten dessen darstellerisch und stilistisch gelenkigere Meisterschüler auf den Plan. Es war vor allem Marcel Marceau, der den mime corporel und dessen technische Errungenschaften bühnenpraktisch umsetzte. 1944 war er Decroux als junger Schauspieler am »Theatre Sarah Bernhardt« (dessen Intendant mittlerweile Charles Dullin geworden war) begegnet. Nach ähnlich intensiver Zusammenarbeit und Initiierung in die Grundlagen des mime corporel, wie sie seinerzeit auch Barrault durch Decroux erfahren hatte, begann Marceau ebenfalls, eigene Wege zu gehen. Er entwarf ein Bühnenprogramm, mit dem er im März 1947 erstmals im Pariser »Theätre de Poche« auftrat. Marceau hatte seine in den Folgejahren rasch zum internationalen Kennzeichen, zum Inbegriff eines neuen Genres gewordene Figur des Bip entwickelt und damit einen grandiosen Erfolg gelandet. Er begann, ebenso wie zehn Jahre zuvor Barrault, nach der Lehrzeit bei Decroux eine glanzvolle Laufbahn. Das hatte aber nur gelingen können, weil auch Marceau sich vom reinen mime corpore/ abgewendet und eine darstellerisch und dramaturgisch befriedigendere Umsetzung gefunden hatte.

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Zwar unterstrich Marceau immer wieder, wie wichtig für ihn die Studien mit Decroux gewesen seien. Von ihm habe er vor allem den mime objectif, das System der contrepoids, der points fixes und der Bewegungssegmentierung als Grundlage für die illusionistische Darstellung imaginärer Gegenstände erlernt. Auf der Stelle gehen, Wände abtasten, Treppen steigen, Gewichte heben, Seile ziehen, Gegenstände im Raum erstehen lassen, all das, was er in seinen pantomimes de style szenisch umsetzte und mit der Figur des Bip dramaturgisch und anekdotisch ausarbeitete, sei Decroux' Forschungen zu verdanken. Allerdings beharrte Marceau gleichermaßen auf der Notwendigkeit seiner eigenen anekdotischen und »historisierenden« Stilbildung im Gegensatz zu Decroux' rigorosem Purismus. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1960 fuhrt Marceau aus (und wendet sich eindeutig gegen Decroux' mime statuaire)·. »[L'art du mime] doit etre avant tout concret.« (Marceau 1960: 25). Decroux sei zwar »l'homme qui fonde la nouvelle grammaire du mime« (ebd. 27), zugleich gilt aber: De cette grande ecole et de cette soumission aux rigles d'un art silencieux [...] naissaient de nouvelles recherches. [...] Seule, notre troupe continue ä l'heure actuelle la tradition des Funambules. [Herv. v. m.] (Marceau 1960: 27)

Nur mit dieser Rückbesinnung auf die von Decroux so verachtete Tradition der pantomime blanche sei es Marceau und seiner Truppe gelungen, die Kunst des Mime wieder international bekannt zu machen: »C'est done par la pantomime que cet art [du mime] reprend ses forces vives.« (ebd. 28). Ähnlich sah das auch die Theaterwelt. Die Kritik an Decroux wurde immer deutlicher. So erschien 1947, nachdem Marceaus Bip und pantomimes de style allgemeine Begeisterung ausgelöst hatten, in der Zeitung »Parallfeles« eine deutliche Abrechnung mit dem Gründer der Mime-Bewegung: Sans doutes, les theories d'Etienne Decroux etaient-elles, ä plus d'un titre, exasperantes [...]. Quant aux exercices qu'il montrait, ils n'avaient je ne sais quoi de rigide, de mecanique et de rebutant. [...] On ne retrouvait ni la gräce de la danse, ni le rialisme de l'improvisation, ni la fantaisie de la pantomime. [...] II fallut Jean-Louis Barrault pour donner ä tous ces exercices preliminaires, une äme. [...] Chez Decroux, on gardait toujours l'impression amdre d'une gymnastique qui chercherait desespiriment ä atteindre la rialite [...]. (Delarue 1947, o.P.)

Der Purismus, wie ihn Decroux vertrat, wurde nicht mehr als Errungenschaft, sondern als zwanghaft erlebt. Selbst Barrault rückte trotz aller Loyalität (die angesichts der Anwürfe Decroux' ohnehin bemerkenswert ist) zunehmend von Decroux und dem reinen mime corporel ab. In seinen »Reflexions sur le theätre« bekannte er, mimischer Körpereinsatz könne auch sehr leicht Schaden anrichten, deformieren, outriert wirken: »L'etude poussee de la marche [sur place] me deforma tellement que je mis bien dix ans a retrouver une marche normale.« (Barrault 1949: 34). Die Sensibilisierung des Körpers und dessen Aufwertung zu einem Instrument seien zwar echte Errungenschaften. Doch beklagte Barrault 1959, als seine eigene Karriere ihn schon weit weg von Mime oder Pantomime geführt hatte, den Mißbrauch, der mit mimischer Spielweise getrieben wird: »Oui, par un certain cöte du mime, nous nous trouvons [...] >ecoeuresAlphabetsBibbia< del mimo contemporaneo« nennt und als »uno dei testi fondamentali per la cultura teatrale del Novecento« (Marinis 1993: 59) bezeichnet, so hat er damit zumindest in einem Sinne recht: Auch die Bibel ist gewachsen und schließt ihre Textgeschichte in sich ein, trägt Spuren vielfacher Zurichtungen, gilt aber dennoch als kanonisch, heilig und einig. Doch schon die Tatsache, Paroles sur le mime als eine Quelle zu betrachten, verdeutlicht, wie schnell man Decroux sozusagen auf den Leim gehen kann: Seine Veröffentlichung ist gerade kein einheitliches Angebot, bei den darin enthaltenen Texten handelt es sich nicht um gleichwertige Zeugen eines diskursiven Ist-Zustandes, das Jahr 1963 kann nicht als Stunde Null der Theoriebildung Decroux1 angesehen werden. Ein Gutteil all jener Urteile und Verurteilungen, die die Decroux-Rezeption hervorgebracht hat,1 ist sicherlich auf diesen verkürzenden Umgang mit Decroux1 schriftlichem Werk, auf diesen >Bibel-Charakter< zurückzufuhren. Zwar transportiert Paroles sur le mime den paradoxen Kern von Decroux' Werk, aber eben gleichsam in Umkehrung: Das Fehlen einer kohärenten Theorie, die Ankündigung einer theatralen Heilslehre ohne wirkliche Einlösung sind es gerade, die den Band entgegen seiner vordergründigen Behauptung auszeichnen. Decroux dekonstruiert mit seinem Buch eher, als daß er erhellt - eine Einschränkung, die andererseits schon im Titel anklingt: nicht »discours« oder »traite«, nicht »notes« oder wenigstens ein schlichtes »du mime« (was einen gewissen Willen zur Kohärenz verheißen würde), sondern nur »paroles«. Worte, ja Wörter sind es nur, die über den Kern des Problems ausgebreitet werden, die ihn umschreiben, jedoch Hier sind insbesondere zu nennen die von Weiss (1972) und Leeker (1985) postulierte >Tödlichkeit< bzw. der Faschismus-Verdacht (Leeker 1985); vgl. Abschnitt 7.

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letzten Endes nur in ihrer paradoxen Aufhebung, im Verstummen Klarheit geben können. Schon der Titel verkündet so den Widerstand gegen das Verständnis. Diese weitreichenden Kautelen zum inhaltlichen Umgang gründen in folgenden philologischen Befunden in bezug auf Entstehung und Textgestalt von Paroles sur le mime. 1. Es finden sich nicht nur Originalbeiträge, sondern größtenteils Texte, die Decroux zu ganz bestimmten Anlässen und für bestimmte Zwecke verfaßt hat. 2. Es handelt sich nicht um eine vollständige Ausgabe seiner Schriften. 3. Die Auswahl wurde nicht von Decroux selbst, sondern maßgeblich vom Herausgeber Andri Veinstein vorgenommen. 4. Die ausgewählten Texte sind nicht chronologisch, sondern zu Themenblöcken zusammengefaßt angeordnet worden. 5. Schließlich erfährt man - auch aus dem Vorwort - nur wenig und Vages zur Vorgeschichte oder zum Anlaß des Erscheinens. Der Bibelcharakter ist durch eine solche kommentarlose Textgestalt durchaus gewährleistet, die Veröffentlichung kommt als Selbst-Verständlichkeit, als Offenbarung daher. Biographische wie auch editorische Aspekte dagegen gehen verloren. Betrachtet man aber die hier zusammengeführten Schriften nur in chronologischer Folge, so läßt sich bereits in deren thematischer Entwicklung eine Tendenz feststellen, die noch jenseits von inhaltlichen Detailfragen Decroux' Wirken im Theaterbereich dokumentiert, nämlich seinen Weg von der Fundamentalkritik an der Schauspielbühne zum Entwurf eines Systems abstrakt-körperlicher Darstellung zunächst noch für das Theater, später als eigenständige Kunstgattung. Schon hieraus allein ließe sich die Erhärtung jener Thesen ableiten, die bisher in bezug auf Decroux' künstlerische Biographie entwickelt worden sind: sein langer und freiwilliger, ja notwendiger Auszug aus dem Theater. Solche Betrachtungen sind aber bisher zu Paroles sur le mime nicht vorgenommen worden. Nachfolgende Bemerkungen zu editorischem Kontext und Textgestalt sowie zu >apokryphen< Schriften sollen daher die formulierten Vorbehalte und Einschränkungen näher begründen.

5.1. Editorischer Kontext Eine Buchpublikation war offenbar schon lange vor dem tatsächlichen Erscheinen, genauer gesagt bereits vor Decroux' USA-Aufenthalten (1957-1962) geplant. In einem Brief vom 23. März 1957 an das niederländische Mäzenatenpaar Leo Verwer und Hans Hornstra-Verwer beklagt er beklemmende Überlastung durch Schreibtischarbeit und gibt den etwas prätentiösen und verzweifelten Hinweis auf einen Effroi rendu aigü par la perspective d'un long sejour ä New York qui me maintiendra encore inactif ä l'igard de ce vieux d6sordre et par la demande renouvellee de m'elever enfin aux hauteurs d'auteur que me fit Flammarion. // Songez ä ceci: Rien que sur le Mime compare ä ci et ä 9a et aussi sur le mime en soi, la pile de brouillons mesurait trois mfetres. [...] Tout copier en belle ecriture. Nettoyez [sic] le style. Parfaire la structure des articles. Donner une logique ä la succession des notes. Jetez [sic] l'inutile dans la corbeille ä papiers. Corriger les epreuves de daetylographie. Trouver par recoupement la date de chaque ecrit. Relier en paquets raisonnables les ecrits disperses. [...] Cela a commenci en Avril 56. 2 2

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Briefwechsel Decroux/Hornstra-Verwer, 1951-1963. Amsterdam, Theaterinstituut Nederland, Leo-Homstra-Archiv.

Es stellt sich natürlich die Frage, inwieweit dieses Projekt und das dafür vorgesehene Material in die dann 1963 tatsächlich bei Gallimard erschienene Ausgabe eingegangen ist. Immerhin sind vier der insgesamt 23 Texte (darunter die längsten und ausführlichsten) erst 1962 entstanden. Waren von Anfang an auch Originalbeiträge vorgesehen, oder sollten bloß bereits veröffentlichte Gelegenheitstexte zusammengestellt werden? Denn nicht nur in dem zitierten Brief wird von Decroux selbst belegt, daß er aus einer sehr umfangreichen Materialsammlung auszuwählen hatte. Vielmehr finden sich immer wieder Hinweise auf Decroux' Texteifer. So bemerkt Andre Veinstein in seinem Vorwort zu Paroles·. En fait, l'oeuvre ecrite de Decroux est considirable. Intimement liie ä cet enseignement et ä son travail de creation, eile traduit, chez lui, une impirieuse necessite d'ilucider ses actes. (Paroles: 10)

Und tatsächlich scheint der in der Pariser Bibliotheque de Γ Arsenal niedergelegte, jedoch durch die Erben gesperrte Nachlaß Decroux' neben den Manuskripten fur die Drucklegung noch mehrere Dutzend weitere Texte und Textfragmente aus den 40er und 50er Jahren zu umfassen.3 Wenn Decroux also tatsächlich so viel geschrieben hat, wie sich aus den zugänglichen Informationsquellen schließen läßt, dann stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien die Auswahl zur Veröffentlichung getroffen wurde. In diesem Zusammenhang dürfte wiederum der biographische Kontext relevant sein. »L'art du mime est un sujet d'une brülante actualite«, schreibt Veinstein im Vorwort (Paroles: 7) - doch die Aufteilung des mimischen Terrains war 1963 abgeschlossen (vgl. Teil I) und Decroux, vor allem in Frankreich, im Vergleich mit seinen prominenteren Schülern ins Hintertreffen geraten. So konnte es wohl in der Tat dringend geboten scheinen, daß auch er sich endlich zu Wort meldete, daß sowohl Decroux' Beitrag zur Herausbildung der modernen Mimekunst wie auch seine Originalität und die legitime Abgrenzung zu inzwischen etablierten Spielarten endlich einem breiteren Publikum vermittelt würden. Außerdem war der für Decroux äußerst erfolgreiche USA-Aufenthalt eben erst zu Ende gegangen, was eine gewisse zusätzliche Publizität verheißen konnte. Im übrigen sollte der Band offenbar nur ein erster Schritt, Auftakt einer Reihe von Veröffentlichungen sein, wie aus Veinsteins Bemerkung im Vorwort zu entnehmen ist: Notes, essais ou articles [...] fourniraient certainement la matiere de plusieurs ouvrages. Decroux m'a charg6 de cette täche delicate de choisir les textes [...] de cepremier volume (Paroles: 10, Herv. v. m.)

Allerdings kam es zu keiner weiteren Veröffentlichung. Auch hier wäre zu fragen, ob Veinsteins Ankündigung von vornherein rhetorisch gemeint war oder aus welchen Gründen keine Bände nachfolgten. Möglicherweise war die verhaltene bis verständnislose Reaktion der Kritik auf das Erscheinen hierfür ausschlaggebend. Man darf also aus den Umständen, die für das Erscheinen von Paroles sur le mime maßgeblich sind, eine strategische Form der Selbstdarstellung ableiten. Es ging bei der von Decroux autorisierten Zusammenstellung durch Andri Veinstein Ich entnehme diesen Hinweis und eine entsprechende Dokumentation der Arbeit von Guy Benhai'm (Benhai'm 1992: 500-506). Im Rahmen meiner eigenen Recherchen hatte ich keinen Zugang zu diesen Materialien. 55

offenbar nicht unbedingt um eine genaue Dokumentation der Entwicklungslinien in Decroux' Denken und System, sondern um eine erste Zusammenfassung, eben um eine »brandaktuelle« Positionsbestimmung des mime corporel und dessen wichtigster stilistischer und ästhetischer Anliegen. Daher finden sich die unterschiedlichsten Textsorten nebeneinander. Infolgedessen mtlßte bei der Lektüre der jeweiligen Aufsätze beachtet werden, für wen und warum sie verfaßt wurden: Texte fur Programmhefte sind explikativer als Manifeste, Vorträge anläßlich der Eröffnung eines neuen Studienjahres richten sich an ein anderes Publikum als öffentliche Vorlesungen, ausführliche Essays kommen mehr zum Kern des mime corporel als kämpferische Entgegnungen auf Kritiker. Ein solcher Entstehungszusammenhang ist aber fur die 23 in Paroles enthaltenen Texte nicht mehr in jedem Fall kenntlich. Zwar sind am Schluß des Bandes knappe bibliographische Nachweise über bereits erfolgte Publikationen bzw. Herkunft angefügt. Weitergehende Kommentierungen fehlen aber. Decroux selbst war sich dieser Situationsgebundenheit einiger früher Schriften, in denen er mit bitterer Polemik, in harschem Tonfall und teilweise kryptischer Diktion gegen Kritiker zu Felde zog, bewußt und hat sie für die Publikation in Paroles zum Teil mit mildernden Nachworten bzw. Anmerkungen versehen.

5.2. Textcorpus Neben den Einschränkungen durch Art, Auswahl und (fehlende) Kommentierung der Texte ist auch die Anordnung selbst nicht unproblematisch. Es wurde schon erwähnt, daß die hier versammelten Schriften nicht in chronologischer Ordnung, sondern thematisch gebündelt aufgenommen worden sind. Paroles sur le mime ist in sieben Kapitel untergliedert: »Sources«, »Theatre et mime«, »Danse et mime«, »Mime et mime«, »Moyens, effets specifiques du mime«, »Enseignement«, »Choses ä part«. Die einzelnen Aufsätze sind jedoch keineswegs thematisch immer so fokussiert, wie die Zuordnung zu Kapitelüberschriften behauptet - was auch daran liegt, daß Decroux eben gerade keine kohärente Theoriebildung beabsichtigte und selten einzelne Aspekte erschöpfend in seinen Texten behandelte. So entstehen einerseits immer wieder irritierende Diskrepanzen zwischen thematischer Ankündigung und tatsächlicher Einlösung; andererseits werden bei der Diskussion um Decroux' Werk augrund solcher falschen Fährten meist nur jene Texte herangezogen, die in den entsprechenden Kapiteln von Paroles (»Mime et mime«, »Theatre et mime«) versammelt wurden. Daß sie in Detailfragen oft weniger prägnant sind als an anderer Stelle aufgenommene Schriften, wird leicht übersehen. Im editorischen Ergebnis steht dadurch ein chronologisches und thematisches Durcheinander, das die wichtigsten Entwicklungslinien zusätzlich verdunkelt. Dabei läßt sich durchaus eine dreischrittige Struktur erkennen, die im folgenden dargelegt werden soll.

5.2.1. Struktur Der früheste Aufsatz Decroux' aus dem Jahre 1931 (»Ma definition du theätre/Incarnation partielle du comedien futur«) stellt sich als Generalabrechnung mit dem 56

state of the art des Theaters dar. Er enthält bereits all jene Kritikpunkte an Bühnenkunst und herkömmlicher Schauspielpraxis, auf deren Grundlage Decroux seine eigenen Thesen entwickelt und verteidigt - was er vor allem in den späten 30er und in den 40er Jahren mit Inbrunst tun wird. Auffällig ist hierbei, daß sich Decroux bei seiner radikalen Kritik fast immer auf prominente Theaterleute beruft, bald in Abgrenzung, bald als Einvernahme. Das gilt für Jacques Copeau und sein theatralisches Reformprojekt »Vieux-Colombier« (»...prend sa source au Vieux-Colombier«, 1939; »Le mime corporel au Vieux-Colombier«, 1939; »Autobiographie relative ä la genese du mime corporel«, 1948). Das gilt für Gaston Baty, mit dem er 1942 eine erregte Debatte ausficht (»Avant d'etre complet, l'art doit etre«, 1942), das gilt auch und vor allem für Edward Gordon Craig, den er - gegen dessen entschiedenen Widerspruch - als Prophet des mime corporel für sich gewinnen will (»Gordon Craig/Apparentes contradictions de Craig/ La ou Craig s'abstient«, 1947). Decroux geht es hier immer noch um eine grundlegende Reform des Theaters mit Hilfe des Schauspielers, um das kämpferische Postulat vom Theater als >autonome AnstaltDoppelung< nicht einsetzen, um einen aufklärerischen Theaterbegriff etwa im Brechtschen Sinne zu begründen oder um diesen Zwiespalt zu kaschieren (wie die naturalistische Schauspiellehre), er will das Problem nicht in der Aufführung aufgehoben sehen, es nicht synästhetisch integrieren, sondern im Gegenteil dialektisch zuspitzen und gleichsam als Negation entfalten. So daß Decroux gegen Ende seiner Textproduktion, d. h. in den frühen 60er Jahren, fast alle Prämissen und Grundforderungen ausgesetzt haben wird, die er anfangs aufgestellt hatte: Der Körper wird zum Artefakt, das Leibliche zur Form, die Bewegimg zum Stillstand, die Darstellung schierer Vollzug. Abbildung und Wahrheitsbehauptung werden durch den Ausschluß des Referentiellen nicht mehr nachprüfbar, die theatrale Kategorie des Mimetischen, obgleich im Namen explizit enthalten, somit tiefgreifend demontiert.

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Decroux' diskursives Verfahren, mit dem er das »herkömmliche« Paradox des Schauspielers zum Paradox des bewegten Körpers erweitert und als Paradox des theatralen Kunstkörpers zuspitzt bzw. (neu-) formuliert, ist nunmehr näher zu untersuchen. Mime corporel wird in seiner ästhetischen Grundlegung und schriftlichen Überhöhung eine obstinate Auffächerung dieses Leitmotivs: den lebendigen Leib zum Artefakt, zum bewegten, aber abstrakten Formträger machen, das Schauspiel mit seinen Schauwerten überwinden und sich in einem Raum jenseits des Bildlichen und der Bühne einrichten.

6.1. Das Paradox des Körpers nach Decroux Die aufschlußreichsten Texte, in denen Decroux seine Sicht dieses Paradoxes festklopft, sind bezeichnenderweise sehr spät entstanden, nämlich erst 1960 bzw. 1962, also während seines USA-Aufenthaltes. In seinem programmatischen Aufsatz »Primaute du corps sur le visage et les bras« finden sich die längsten zusammenhängenden Ausführungen Decroux' zur ästhetischen Konzeption des mime corporel. Auf Mai 1962 datiert und mit einem Umfang von vierzig Druckseiten, stellt dieser Text so etwas wie die Summa von Decroux' Werk dar. In engem zeitlichem Zusammenhang hierzu, nämlich April 1962, stehen die »Commentaires de Petits Soldats ou de l'interet specifique du mime«. Schließlich ist ein dritter Aufsatz, »Presence en corps«, in diesem Kontext relevant, der nicht in Paroles enthalten ist, sondern 1960 in einem der Kunst des Mime gewidmeten Sonderband der in Paris erscheinenden »Revue d'Esthetique« veröffentlicht wurde. Dieser Text ist knapper im Umfang und polemischer im Stil, was möglicherweise darauf zurückzuführen sein könnte, daß der Sonderband auch einen Beitrag von Marcel Marceau enthält und Decroux sich möglichst deutlich von seinem Gegenspieler abheben wollte. Diese drei Schriften dienen hier aufgrund ihrer thematischen und zeitlichen Nähe als Textgrundlage zur Darstellung von Decroux' mimischem Werkbegriff. Decroux' frühe Kritik an der Selbstreferentialität des Schauspielers im herkömmlichen Theaterbetrieb ist bereits umrissen worden (vgl. 3.2). Sein Unbehagen wurde vor allem dadurch hervorgerufen, daß das Selbe hier immer nur durch das Gleiche dargestellt werden könne: »l'obese par un obese, la femme par une femme, le corps par un corps«; daraus entstehe »un spectacle qui nous cache le vrai.« (Paroles: 46). Diese Kritik am Körperlichen des Theaters, das sich nur immer selber vorzeigen kann und dadurch stets einen unhintergehbaren Realitätsgehalt im Sinne von Realismus auf die Bühne bringe (»Le seul evenement qui s'y montre est precisement l'evenement«, [Paroles: 34]), macht Decroux in diesen späten Ausführungen an der fehlenden Differenz zwischen Material und Werk, zwischen Darstellung und Dargestelltem fest. Das Theater zeige nur und überwinde daher nicht seine eigene Körperlichkeit hin zum anderen, zum Werk. Es sei immer real. Diese strukturelle Verankerung allen Bühnengeschehens in roher Wirklichkeit ist aber dem künstlerischen Ziel, zumal dem Decrouxschen, gegenläufig: Le reel sur la scene est illogique toujours, inopportun souvent. Mais le reel de quoi? Le reel de la chose qui est representee. Illogique: car la chose qu'on präsente, ce ne peut pas etre celle qu'elle represente. Et celle qu'on represente ne peut etre presente. (Paroles: 150)

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Decroux konstatiert jenen Mangel an kategorialer und ästhetischer (man könnte auch sagen: semiologischer) Trennung zwischen leiblicher Anwesenheit des Darstellers und dem von ihm Dargestellten, die fehlende Transzendierung der leiblichen Realität durch eine Eigenwirklichkeit dessen, was dargestellt wird, die er als strukturelle Verfallenheit der Bühnenkünste benennt. Indem Deckungsgleichheit zwischen Darstellung und Dargestelltem, zwischen Objekt und Subjekt eintrete, beschränke sich das Bühnengeschehen auf reines Zeigen und verfehle jeden ästhetischen Eigenwert. Erst in der stilisierenden Darstellung könne das bloß vorzeigende Abbilden überwunden werden. Decroux formuliert in polemischer Zuspitzung einen fast medienkritischen Befund: daß die reine Abbildlichkeit ohne künstlerische Eigenleistung des Abbildenden Tatbestände zum voyeuristischen Exzess, den Wettkampf zu Athletismus, die Liebe zu Pornographie mache: »Tel qui prendrait plaisir ä voir soit un combat, soit un accouplement s'indignerait de voir ces deux choses sur la scene.« (Paroles: 150). Solcherlei bruchlose Einschreibung des Wirklichen in ein Medium reduziere jenes Wirkliche zum schieren Faktum oder zum Skandal. Sie transponiere, verfremde, gestalte aber nicht. Theater stelle sich somit immer nur selber aus, ohne auf etwas außer sich zu verweisen, ohne sich vergessen zu machen. Infolgedessen könne es auch einen »wahren« Realismus gar nicht geben: »La pratique que l'on nomme indüment realisme est l'exposition d'une realite. Non sa copie.« (Paroles: 121). Realität, vor allem die Realität des Akteurs, könne eben nur durch performative Übertragung, durch Zurichtung zum künstlerischen Substrat ihrer selbst gemacht werden: »Le faire distrait de l'etre. Et il en fait un autre.« (Paroles: 121). Nun weiß aber auch Decroux, daß ungeachtet all seiner kritischen Einlassungen der Schauspieler nicht ohne seine »charnelle presence« (Paroles: 149) gedacht werden kann - weswegen er genau diesen Tatbestand zum Katalysator seiner weiteren Überlegungen macht. Die Selbstreferentialität des Schauspieler-Körpers erkennt Decroux nämlich nicht nur als unvermeidlich an, sondern erklärt sie zum künstlerischen Ausgangspunkt des mime corporel. Die »leibhaftige Gegenwart« sei »en meme temps äme et matiere de l'oeuvre« (ebd.). Aus dieser Konfiguration muß das mimische Werk entstehen. Dabei aber ist der Akteur im Vergleich zu anderen Künsten wie Malerei, Bildhauerei oder Dichtung deutlich im Nachteil. Wo diese nämlich ihre materiellen Grundlagen aufheben, aus unbelebtem und formlosem Material ihr Werk verfertigen können, da steht dem Akteur nur sein Leib zur Verfügung. Er verfügt nicht über den reinen Materialcharakter von Marmor, Ton, Farbe etc. »Ce qui differencie l'art d'acteur des autres arts, c'est que [sic] sa matiere, c'est son corps inchangeable.« (Paroles: 118). Diese Bedingtheit durch den Leib muß überwunden werden, soll es zu körperlichem Kunstschaffen kommen. Der Körper jedoch läßt sich eben nicht ohne weiteres von seiner eigenen Konkretion abstrahieren: »Le corps est une realite remarquable et impulverisable. C'est dommage« (Decroux 1960: 13), bedauert Decroux.' Auf Im »Gespräch zwischen d'Alembert und Diderot« taucht dieses Motiv mit nahezu identischen Begriffen auf. Es geht darin u.a. um die Frage, welcher Unterschied bestehe »zwischen dem Menschen und der Statue, dem Marmor und dem Fleisch« (Diderot ed. 1953: 355). Denn zerstoße man den Marmor zu »ganz klarem Puder« (ebd.358), könne man ihn unter die Nahrung mischen und so das Mineralische zum Teil der empfindenden Materie werden lassen. Decroux' Streben geht zwar in umgekehrter Richtung; die

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welche Weise könnte der Körper seine ureigene Gestalt und seinen Wirklichkeitswert überwinden, wie würde er »übersehbar«? Zerreiben kann er sich dazu nicht, selbst wenn dies der vorteilhafteste Weg wäre. »L'avantage serait net si sans tuer le corps, on parvenait ä le reduire en poudre ou ä le tailler en cubes minuscules.« (Decroux 1960: 13). Wenn aber der Körper immer nur sich selbst haben kann; wenn ihm zur Darstellung von Inhalten bzw. zur Nachahmung von Wirklichkeiten nur die selbstähnliche Gestalt gegeben ist; wenn andererseits bloßes Abbild seiner selbst zu sein, wenn reines Zeigen in Decroux' Kunstvorstellung nicht hinreicht, weil der mimische Akteur sowohl Träger einer ästhetischen Mitteilung als auch die Materialität der Mitteilung selbst sein muß; wenn beim Konkreten des Körpers nicht halt gemacht werden darf, weil gilt: »si le corps imite exclusivement le corps, cela ne suffit pas« (Paroles: 114) - was bleibt dann übrig? Wie gelangt man vom phänomenalen Leib zum objektiven Körperwerk? Hier schlägt Decroux' Stunde. Denn er findet diesen Weg zum Zeichenträger in der Bewegung: Qui charge-t-on de distraire le regard de la forme fächeuse [des Körpers], fächeuse parce que fixe oil il faudrait varier? Qui donnera ä la pierre un air de fluidite? // Le mouvement refoit cette mission parce qu'il deplace les lignes. (Decroux 1960: 14) Mit mimischer Bewegung glaubt Decroux, dieses Wunderwerk einer Selbstgestaltung des Körpers, bei der er sich seiner selbst enthebt, vollbringen zu können: Et puisque [...] le corps est dejä oeuvre avant qu'on entreprenne de faire oeuvre avec lui, puisqu'il signifie malgre lui parce que sa forme dit sa fonction, puisque sa forme est inchangeable, puisque, corps d'homme il se condamne ä ressembler ä un corps d'homme, il faut bien qu'il se contrefasse en ses mouvements. (Paroles: 114) Nur so nämlich stehe es dem Akteur offen, seine Ideen, seine »pensees«, seine Objektivität an sich selbst abzubilden und dadurch das rein Phänomenale zu überwinden. Die Idee der Bewegung und die Bewegung als Idee treffen sich im Kunstkörper und erheben ihn zum Akteur, der Subjekt und Objekt in eins wird. Die vermittelnden künstlerischen Instanzen werden radikal reduziert, das Werk ist zugleich seine Entstehung, der Autor ist in der bewegten Formgebung Agens und in der Bedeutungsproduktion Vermittler. Die Vorstellung selbst leitet den Körper und seine Bewegungsqualität, er begegnet sich als Objekt, während er als Träger des Bewußtseins zugleich Subjekt dieser Formgebungen ist. Zuerst ist die Idee des Werks im Körper bzw. vom Körper ausgehend gegeben, dann gestaltet sich der Körper entsprechend dieses Ideals zum Kunstwerk. Das ist - auch schon in seinen frühen Aufsätzen - Decroux' Nagelprobe. »Notre mime qui tente d'evoquer par l'exclusif mouvement du corps la vie mentale sera, s'ily parvient, un art complet« (Paroles: 46; Herv. v. m.), hatte Decroux schon 19422 verkündet. Und hat der Körper auf diese

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Ausgangsfrage, wie Fleisch und Stein in Einklang zu bringen sind, bleibt aber erstaunlich ähnlich. Ich greife hier auf Decroux' Ausführungen von 1942 in Entgegnung auf den offenen Brief Gaston Batys nicht willkürlich zurück. Auf den 10. März 1962 nämlich, also während Decroux zwei der hier gelesenen Aufsätze verfaßt hat, ist eine Nachschrift aus Anlaß der Drucklegung in »Paroles« datiert, in der es heißt: »Cet article, aux airs de clarti et qui semble serrer l'objet qu'il examine, me trouble. Peut-etre essaie-t-il de prouver l'idee qui η 'est encore gu'en arriere de la tete [Herv. v. m.]. [...] Mais ce sujet merite autant de reflexion qu'on se permet d'audace. Je maintiens pourtant cet article ä cause precisement de ses points de suspension.« (Paroles: 48). Und in der Tat hat Decroux die »Kühnheit« sei-

bewegte Weise seine Selbstähnlichkeit konstruktiv überwunden, wird es ihm (und vor allem dem Kunstsubjekt) möglich, auch das Unkörperliche und das dem Körper Fremde - »Ainsi done: gaz, rayons, feu, couleurs, vegetaux, intentions, mineraux, corps de femme ou d'enfant, obeses, longiformes, ce qui croit, ce qui rampe, ou tombe sur [sie] le ciel, ampute et bossu« (Decroux 1960: 14) - zu ver-körpern. Der Status als eigenständige, autonome Kunstgattung jenseits des Kanons der Bühne wäre für den mime corporel dann erreicht, wenn der Körper seine eigene Konkretheit durch technische Übung überwunden und in der Bewegung zu sich selbst gefunden hat. Mime corporel ginge dann aus der realistischen Verfallenheit des Theaters glanzvoll hervor als ein in hohem Maße selbstbeschränktes und kodifiziertes System, das die »idee d'un monde par un autre monde« (Paroles: 45) zu geben imstande wäre.3 Decroux hat in diesen späten Aufsätzen ein performatives ästhetisches Modell entworfen, bei dem im Akt des Kunstschaffens das eigentlich unhintergehbare Material - der Leib - transzendiert, vom physischen in ein künstlerisches Sein überfuhrt werden soll. »Se contrefaire en ses mouvements«: Mimische Bewegung basiert auf einer metamorphischen Obsession, bei der realweltliche Bewegung in Kunst-Bewegung transformiert und der Körper von der Chiffre des Subjekts zum ästhetischen Objekt, zum Werk werden soll. Es gibt aber noch einen zehn Jahre älteren kurzen Text, in dem Decroux' Auffassung des ästhetisch objektivierten Körpers in weitaus fahlerem Licht aufscheint; ein Aufsatz jedoch, der sich - ebenso wie die Antwort auf Gaston Baty - vor dem Hintergrund seiner späteren Texte viel deutlicher darstellen kann. Sinnigerweise greift Decroux nämlich 1952 unter dem Titel »Le jardin des Beaux-Arts n'est pas un potager« ein kunsthandwerkliches Beispiel zur Darlegung seiner Problematisierung von Leib und Werk, von Form und Inhalt auf und spricht über die Keramikarbeiten eines gewissen Boniface von Neuchätel.4 Die aus dieser Werkstatt hervorgegangenen Vasen und Gefäße mögen prinzipiell Gebrauchsgegenstände mit bestimmten vorgegebenen Zwecken sein. Angesichts ihrer erhabenen Machart werden sie jedoch zu ästhetischen Anschauungsobjekten. Decroux fuhrt aus, daß Formenvielfalt und Erscheinungsweise dieser Gefäße allein schon genug Anlaß zur Kontemplation, zu interesselosem Wohlgefallen geben, so daß die Frage, was sie zweckmäßig enthalten könnten, worin ihr »Nutzen« bestünde, sich gar nicht erst stellt oder auch nur erheblich wäre: »Devant les potiches emouvantes du Neuchätelois Boniface, nous voulons ignorer ce qu'elles devraient contenir: Ce sont des contenants sans

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ner gedanklichen Konstruktionen in diesen 20 Jahre später entstandenen Aufsätzen erheblich gesteigert und seine »Idee« bedeutend klarer gefaßt. Er antwortet sich damit vor allem selbst. Daß ein solches Anliegen an sich keineswegs zu paradoxer Erstarrung führen muß, hat Jacques Lecoq bewiesen, der an seiner 1957 gegründeten Theaterschule genau an dieser transzendierenden Körperauffassung gearbeitet hat. Doch bemühte er sich eben nicht um eine kanonische, selbstreferentielle Technik, sondern suchte in seinen Bemühungen stets nach theatraler, d.h. szenischer Anwendung. Sie stand für ihn immer vorbehaltlos im Vordergrund (vgl. Lecoq 1998). Trotz intensiver Recherchen in der kunstwissenschaftlichen Fachliteratur habe ich keinerlei Hinweis auf die Existenz einer solchen Werkstatt bzw. auf die zeitliche Einordnung finden können. Es läßt sich also nicht mit Sicherheit sagen, worauf sich Decroux hier im einzelnen bezieht.

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contenu«. (Paroles: 157). Allerdings seien diesen Objekten an sich beide Möglichkeiten eingeschrieben, Gebrauch und Gefallen. Es sei somit eine Sache der Rezeption, die Zuschreibung »Genuß oder Nutzen« vorzunehmen: »Cruche ou potiche: il faut choisir. La potiche saurait se faire cruche et contenir ce qu'il faut pour etancher sa soif.« (Paroles: 158). Bei potentiell identischem »Inhalt« aber wird die formale Gestaltung, das äußerliche Attribut der Sichtbarkeit als Stil allein zum entscheidenden Kunst-Merkmal. Das sei die Verbindung des mime corporel mit der Töpferei. Ein gegebenes Material wird künstlerisch gestaltet, und nur hierin kann sich der stilistische und ästhetische Eigenwert zeigen. Es geht nicht um Wasser oder Wein, sondern um Form: Toute notre histoire est lä dans ce style. Le style est une histoire. [...] Toutes les potiches [...] pourraient s'emplir d'un meme liquide. Elles auraient done le meme >contenunur< der Körper gemeint sein. Das Ziel ist immer die Form, hinter der der Körper gerade zu verschwinden hat. So soll der Weg vom Realismus einschließlich der Realität des Leibes zur Kunst hin erfolgreich beschritten werden. Le mime entasse les artifices qui l'eloignent du realisme, mais sur la scene son corps demeure: premiere realitö. Ce que les autres arts nous disent, [...], il doit le faire: seconde realite. (Paroles: 153)

In diesem »Tun« bleibt zwar der Körper gegenwärtig. Indem er aber durch die Bewegung neu erschaffen wird, ohne sich nachzuahmen, ohne auf sich selbst zu verweisen, würde er ästhetische Botschaft, Kunstwerk. »II faut bien que ce soit la matiere qui imite la pensee«, lautet Decroux' Credo: Der Körper ist dieses Material zur Darstellung des Gedankens, der darzustellende Gedanke aber ist gerade die Zurichtung des Körpers als Ergebnis des Gedankens. Für die Leiblichkeit, aus der der Körper seinen Schauwert als Grundlage und Gewähr der Darstellenden Künste erhalten könnte und der Decroux ursprünglich hatte zum Triumph verhelfen wollen,

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ist im mime corporel kein Raum mehr. Denn gerade weil der (für Decroux wie selbstverständlich männliche) Akteur mit seiner »charnelle presence« stets die unhintergehbare Realität von »Schweiß« - »On sait que s'il sue, c'est bien pour son compte« (Paroles: 150) - und »Sperma« - »son sperme est sur scene avec lui« (Decroux 1960: 14) - auf die Bühne transportiert und immer fleischlich, weil körperlich an sein Werk gekettet ist, gerade weil er nur über seinen schwitzenden Körper verfügt, deswegen muß der proletarisch-prometheische Akteur des Mime als körperliche Metonymie des Menschlichen beständig von seiner Leiblichkeit abstrahieren. Darin liegen Verpflichtung, Auftrag und künstlerisches Potential des mime corporel. Die anderen Bühnenkünste, der Tanz, die Akrobatik, das Sprechschauspiel mögen sich in dieser Humorallehre einrichten und den Säften des Akteurs nachspüren - im Mime darf es solches nicht geben. L'effort eperdu de l'athlete, l'acte sexuel, l'offense politique [...], tout cela qui peut se dire devient proscrit des que l'on passe dans l'art du mime - ou y devient probleme. (Paroles:

151) Woraus vor allem eines zu folgern ist: Im Bereich des Schauspiels ist all das weder verpönt noch auch nur problematisch. Dort aber wird eben auch nur gezeigt, nicht gestaltet; für wirkliche Kunst und also mime corporel aber gilt im Bereich der nachahmenden Darstellung: »C'est qu'il y a un art pour cela: Celui de faire croire ä la chose sans en donner l'odeur.«. (Paroles: 152; Herv. v. m.). Hierfür soll nur der Körper zur Verfügung stehen. In dieser (selbst-) auferlegten Zwangssituation sieht Decroux seinen Kunstauftrag: »Le mime est condamne ä etre un art« (ebd. 152). Solche Einkreisung des Körperparadoxes ist nur eine Richtung, in die Decroux darstellerische Bewegung theoretisch-programmatisch auflädt. Für die Zurichtung des Leibes zum Körperkunstwerk gibt es nämlich noch einen zweiten Bezugsrahmen: die Größe. Entlang technisch-geometrischer Vorgaben soll das natürliche Bewegungspotential nicht nur zur Kunst-, sondern vielmehr zur Wahrheitsbewegung gestaltet werden.

6.2. Bewegung, Größe und Wahrheit: Die Überwindung des Leibes im Geiste der Technik In einem ersten Durchgang wurde gezeigt, auf wie eigentümliche Weise Decroux das Material seiner Kunst, den Körper, durch die Bewegung fleischlos machen will. Er ist aber in seiner Größe, in seinen Abmessungen sozusagen, noch unbenommen. Die Frage nach der gegebenen Gestalt des Körpers und seiner Kinesphäre bleibt offen. Sie stellt einen wesentlichen Faktor der Decroux so leidigen Realität des Körpers dar, die er mit einer Folge narzistischer Setzungen überwinden will. Zuletzt wird er die Geometrie zu Hilfe rufen, um seine Bemühungen moralisch zu rationalisieren. Realleibliche Anwesenheit, die »charnelle prösence« des Akteurs dürfe nicht zu Realismus, zu direkter Entsprechung zwischen Material und Werk führen. Diese Forderung könne nur eingelöst werden, wenn von der »personne physique« abgelenkt, wenn sie verfremdet wird. Als Mittel hierfür dürfen jedoch, im Sinne der 65

Selbstbeschränkung und der Reduktion sowie des Autonomieanspruchs, für Decroux weder Kostümierung noch Dekor, Licht oder Artistik, mit einem Wort fremde Schauwerte herangezogen werden. Einzig die Bewegung habe zu zählen, und zwar in ihrer Größe: »Le mouvement distrait de la personne physique dans la mesure oü il est grand.« (Paroles: 120). Nur durch physische Größe der Bewegung könne der Realitätsgehalt des Schauspielers im mimischen Agieren überwunden werden. Bewegung in dem hehren Sinne, wie Decroux sie hier darzulegen versucht, dürfe sich nicht im Kleinen, allzu Detaillierten und Anekdotischen (und damit meint Decroux: im Realistischen) verlieren, damit sie nicht insgeheim doch an den Grenzen des physischen Körpers endet und die Wahrnehmung auf den Körper zentriert, von dem sie doch gerade ablenken soll. Denn realistisches Spiel sei immer klein, verharre im >intimen Ich< und transportiere nicht Wahrheit, sondern Verstellung, Lüge, Bemäntelung. Zur wahren kommunikativen Größe, d.h. zur Größe der Wahrheit und der Kunst, könne es niemals taugen: Si dans une ceuvre d'art, la grandeur physique n'est pas cause de la grandeur morale, eile en est condition. Le grand n'est pas toujours grandiose mais le grandiose est toujours grand. (Paroles: 89)

Nach solcher Größe strebt Decroux, sie muß mit dem Körper erreichbar sein, will sich der mime corporel als Kunstform behaupten. Im ersten Teil dieser Arbeit ist bereits anhand von Decroux' 1962 entstandenem Aufsatz »Primaute du corps sur le visage et les bras« diese spezifische Hierarchisierung des Körpers erläutert worden; es hieß: »Dans notre mime corporel, la hiirarchie des organes d'expression est la suivante: le corps d'abord, bras et mains ensuite, enfin, visage.« (Paroles: 89). Zur Begründung gibt Decroux die Größe an: D'oü vient ma preference pour le corps? Voici: les organes d'expression du corps sont grands et ceux du visage sont petits. Le corps est lourd et les bras sont ligers. (Paroles: 89)

Je größer aber das Ausdrucksgebiet, desto näher die Wahrheit: »Le physiquement grand est le haut-parleur de la verite.« (ebd.). Infolgedessen stellt sich dem Mime die vornehme Aufgabe, mit der großen Gesamtheit des Körpers unter Zurücksetzung der »kleinen« Ausdrucksgebiete zu arbeiten. Nur so wird er sich in der Verfertigung seines Kunstwerks zur moralischen Größe, d. h. zur Wahrheit im Gegensatz zur schieren Wirklichkeit, aufschwingen können. Gesichtszüge und Gliedmaßen, nach Decroux ohnehin nur gut für Grimasse und Gestikulation, können einem solchen moralischen Anspruch nicht genügen und werden als Stilmittel wenn nicht ausgeschlossen, so doch zumindest zurückgesetzt. Gesicht und Arme haben als Ausdrucksmittel hinter den Darstellungsorganen des Körpers zurückzustehen, denn jene sind klein und leicht, dieser dagegen schwer und »grandiose«. Mit dieser Setzung argumentiert Decroux aber bereits weit jenseits des Technischen. Indem er jede Wirklichkeit des Kommunikativen, alles Individuelle rundheraus zu Lüge und moralischer Verworfenheit erklärt, rückt er an die Stelle der wirklichen Welt (die somit der künstlerischen Formung gar nicht mehr wert ist) eine narzißtische Konstruktion, nach der nur das von ihm raunend Gemeinte, nicht jedoch das tatsächlich Sicht- und Wahrnehmbare gelten soll. Nicht freier Austausch im kommunikativen Akt wird mit dem mime corporel intendiert, sondern

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apodiktische Überwältigung. Decroux1 eigenes (Selbst-) Bild tritt an die Stelle aller Nachahmung. Diesen Prozeß der Einigelung rationalisiert Decroux jedoch, indem er scheinbar realweltliche Begründungen liefert und Gesicht und Arme als individuelle Medien gesellschaftlicher Kommunikation negiert, denn mit ihnen praktiziere der Einzelne nur alle Arten der Verstellung und Täuschung.5 Diese Pose präfiguriert abermals Decroux' kommunikative wie vor allem auch szenische Verweigerung; immerhin hat er sich zuletzt aus allem gesellschaftlichen Verkehr zurückgezogen, um sich sozusagen unangreifbar zu machen. Aber auch im rein technisch-stilistischen Sinne findet Decroux eine Rechtfertigung: »Je ne crois pas que le jeu du visage ait autant que celui du corps le pouvoir de distraire de la personne privie.« (Paroles: 121). Daß jedoch damit eine ganz andere Strategie verfolgt wird, selbst wenn Decroux sie niemals benennt, geht aus dem weiteren hervor. Ist nämlich das Spiel klein, so affirmiert Decroux nochmals seine Setzung, verschwimmen Differenzen, werden Linien zu unübersichtlichem, geistlosem und unkontrolliertem Flimmern: »Le rialisme est difficile en ceci que jouer petit öte le contröle de l'agisseur sur ce qu'il fait« (Paroles: 121). Dieser Kontrollverlust gilt aber wohl vor allem hinsichtlich der Publikumswahrnehmung. Das soll nur sehen (und verstehen) dürfen, was dem in mimischem Selbstbezug erstarrten Apostel gleich einem mittelalterlichen Spruchband geometrisch >aus dem Munde geht< bzw. via Körper aus dem Geist entquillt. In der Forderung nach »Verlängerung der Linie« trifft sich die Bevormundung des Zuschauers (als Eindirektionalität szenischen Handelns) mit der narzißtischen Spiegelung des Selbst, das nur in triumphaler Größe deutlich werden kann. In diesem Triumph soll sich die »personne physique« sozusagen verschleiernd verlieren; der bei Decroux gestaltete Antagonismus zwischen Universalismus und Selbstbezüglichkeit weist wie die zwei Geraden ins Unendliche und kann nur dort überprüft oder verstanden werden: Si deux lignes divergentes qui semblent paralleles parce que petites se revelent divergentes des qu'elles sont prolongies, c'est dire que leur rapport est perceptible en proportion de leur grandeur. // Et cela nous conduit ä conclure que le mouvement distrait de la personne physique dans la mesure oil il est grand. (Paroles: 120)

Diese Sicht kommunikativer Verhältnisse determiniert in der Folge auch die mimischen, d. h. die technischen. »Wahrheit« wird unmittelbar mit Größe, also mit Überwindung wirklicher Dimensionen verknüpft. Wenn aber der Körper zum Sprachrohr einer unendlich gespiegelten narzißtischen Wahrheit, damit aber auch zur behaupteten gedanklichen Arbeit taugen, wenn ihm die vom Geist gefaßte, aus ihm entquellende bildnerische Absicht auferlegt werden soll, so wird die anatomische Disposition zum eminenten Problem. Denn der Körper ist, was er ist. Wie soll er mit seiner schwerfälligen Kleinteiligkeit Bewegungen des Geistes bzw. Regungen der Seele darstellen, also zum universellen »Ausdrucksgebiet« des gedanklichen Selbst werden, wenn festgestellt werden muß: »Si le corps veut regier sa marche sur celle de la pensee, il se decouvre des articulations rebelles« (Paroles: 91)?

»Le visage et les mains: instruments de mensonge, seides du bavardage. C'est avec eux que 1'on s'explique, que l'on mendie, qu'on fait entrevoir ä autrui qu'il gagnerait ä nous servir, qu'on dessine promesse et menace« (Paroles: 127), schreibt Decroux.

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Decroux' erhabene Körperkunst droht mithin, von der Anatomie vereitelt zu werden. Von der rational gesetzten Vorgabe der Klarheit und Größe idealtypisch vorstellbarer Kunstbewegung weicht der Körper nämlich durch seine Anatomie strukturell ab. Wo die Gedanken frei sind, ist der Körper der Schwerkraft unterworfen. Fliegt der Geist, so hemmt das Gelenk. Gestaltet das Denken, ist das Skelett schon Gestalt. Es gibt nur eine enge Zone, in der sich gedachte ideale und anatomisch ausfuhrbare Bewegung treffen können. In ihr siedeln sich denn auch die technischen Grundlagen des mime corporel an. Aus diesem Überschneidungsbereich muß der Kanon technisch möglicher und stilistisch zulässiger Bewegung gewonnen werden. Die anatomische Wahrheit des Leibes als Substrat aller mimischen Bewegung konterkariert somit die im Kunstwerk gesuchte Wahrheit der gestalterischen Bewegung. Diese sperrige Verfaßtheit, mit der eine weitere Verzweigung von Decroux' paradoxer Sichtweise formuliert ist, macht in seinem Denken den Körper zum Kampfplatz zwischen Geschwindheit des Gedankens und Erdenschwere des Leibes. Die anatomischen Unbeweglichkeiten müssen kompensiert, die leicht beweglichen Partien kontrolliert eingesetzt werden. »C'est le principe d'egalite dont notre esprit d'abord reclame l'application, dont notre corps d'abord refuse l'application.« (ebd. 92). Die rebellische Situation im Inneren des Körpers, der anatomische Widerstand gegen das geistige Idealbild, der Protest der Schwerkraft gegen die Kunst aber garantiert oder ermöglicht zumindest den ästhetischen und stilistischen Ertrag: Aus dem Meistern solcher widrigen Bedingungen entsteht der >festgefügte CodeJe jure de faire le possible, tout le possible, rien que le possibles Rien que le possible veut dire: ne pas donner, meme si on le peut l'impression du miraculeux. (Paroles: 96)

In solch geometrisierender Vermittlung zwischen Leib als Wirklichkeit und Geist als Wahrheit entfernt sich mime corporel von j eder Anekdotik, setzt den dreidimensionalen, plastischen Kunst-Körper ein und verweigert zugleich jeden mimetischen Realismus, aber auch jede kommunikative Anbindung. Als sei er 150 Jahre zurück und einige hundert Kilometer ostwärts gewandert, reproduziert Decroux offenbar jenes Begehren nach unmittelbarem, gleichsam telepathischem Gedankenaustausch, wie es im deutschen Idealismus aphoristisch formuliert worden war: Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen? / Spricht die Seele spricht ach! die Seele nicht mehr. (Schiller ed. 1943, Herv. i. O.)

Für Decroux, der weniger an Lautgestalt als an Leiblosigkeit interessiert ist, verschiebt sich die Problemstellung nur minimal. Er sucht nach Entäußerung seelischer Regungen jenseits des individuellen Mediums, die dennoch am Leib sich zeigen sollen, wie der Idealismus nach Verströmung des Geistes jenseits des sprachlichen Mediums strebte. Auf die Überförmung des realen Körpers zum Abbild der Seele, auf eine nahtlose Übertragung der »mouvements d'äme« in abstrahierte Leiblichkeit zielt Decroux' Kunstwillen. Autonom, antirealistisch,

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körperlich und geistbestimmt in einem soll das mimische Werk sein. Eine Vorlage gibt es indessen nicht: Au domaine du reel, je n'ai pas vu la masse du corps accompagner les mouvements d'äme; mais d'une part, je sens bien que mon äme est mouvement et d'autre part, je vois la masse du corps. (Paroles: 102)

6.3. Das verschwundene Referential Mime als mimetischer Vorgang wird somit zu einer in mehrfachem Sinne problematischen Angelegenheit. Welt wie Leib sollen dem Kunstkörper des Akteurs anverwandelt werden, jedoch nicht in Form von Anekdotik oder Figuration, von Verweis oder Deixis, sondern als schierer Vollzug, als Handlung - freilich ohne (direktes) Vorbild. Mime corporel bildet ab, ohne nachzuahmen, postuliert Wahrheit ohne (konkreten) Gegenstand. Mit einer solchen Ausblendung des Konkreten, des Gegenständlichen und Identifizierbaren vollführt Decroux eine gedankliche und stilistische Bewegung, die in radikaler Weise jene Umkehrung mimetischer Abbildungsverhältnisse ins Werk setzt, die seit je (als Nachahmungslehren) Kunsttheorien des Illusionismus durchziehen. 1969 hat sich Jacques Derrida in einer Vorlesung mit der Problematik mimetischer Abbildungsverhältnisse beschäftigt (vgl. Derrida 1972). In »La double seance« verhandelt er Fragen der Intertextualität anhand der parallelen Lektüre eines kurzen Textes von Mallarme, einiger Passagen aus Dialogen Piatons zur Frage der Mimesis sowie dem Szenario einer pantomime blanche von Paul Margueritte, über die Mallarmes Text (mit dem Titel »Mimique«, enthalten in »Crayonne au theätre«) reflektiert. Insbesondere die Beschäftigung mit (panto-)mimischer Szenik, die in Derridas Einlassungen breiten Raum einnimmt, legt es nahe, Decroux1 Projekt mit den hier angestellten Überlegungen zu überprüfen. Derrida legt zunächst, Plato resümierend, die klassische, mimetische Ordnung der Dinge dar, nach der Nachahmung sich auf ein Modell, auf ein gegebenes Wirkliches beziehen muß, das die Nachahmung verbürgen kann. Dabei gelte, daß das Ergebnis mimetischer Nachahmung hinsichtlich des Wahrheitswertes, also der Ähnlichkeit bzw. Übereinstimmung mit dem Nachgeahmten, nur zu beurteilen ist, wenn die Vorlage bzw. das Modell der »operation mimetique« (Derrida 1972: 230) vorausgeht. Für die klassische Auffassung von Mimesis gilt: II y a d'abord ce qui est, la >realitöSprache des KörpersGeste< kann mit jenen Anfängen gesellschaftlicher Handlungen gleichgesetzt werden, die als Reize für Reaktionen anderer Wesen dienen«, formuliert Mead (Mead ed. 1993: 82). Er stellt ein Modell der selbstreflexiven Interaktion auf, das zwar zunächst auf reiner, quasi mechanistischer Handlung basiert. Doch führt er sehr rasch auch die intentionale Seite der Handlung als Kommunikation ein: Innerhalb dieses Prozesses [gesellschaftlicher Handlung] finden wir die Gesten, jene Phasen der Handlung, die die Anpassung in der Reaktion des anderen Wesens auslösen. Diese Handlungsphasen bringen die Haltung, so wiesie vom Beobachter erkannt wird[Herv. v. mir] und auch die sogenannte innere Haltung mit sich. Zorn drückt sich in Angriff aus, Angst in Flucht. Wir sehen also, daß die Gesten diese Haltungen >bedeutenSprache< nennen. Sie ist nun ein signifikantes Symbol und bezeichnet eine bestimmte Bedeutung. (Mead ed. 1993: 85)

Es soll hier nicht um die Frage gehen, inwieweit Meads sprachtheoretische und geschichtliche Thesen im Detail plausibel sind und was sie soziologisch implizieren.13 Sein Modell kann aber mit Gewinn als Folie zum Verständnis körpergegründeter Kommunikationsformen und Darstellungsweisen herangezogen werden, insofern sie sich auf ein Repertoire körperlicher Bedeutungen berufen wollen, das anthropologisch (leiblich) und gesellschaftlich (semiotisch, ikonographisch) verbürgt sei.' 4

8.3. Weder Sprache noch Körper Mit Blick auf den Decrouxschen Werkbegriff wird an dieser Stelle ein signifikanter Bruch deutlich benennbar. Denn jede Form kommunikativer Anbindung der Ausdrucks· bzw. Gestaltbewegung über eine semiotische oder gesellschaftliche Übereinkunft hatte Decroux ja gerade abgelehnt. Er wollte mit seinem zunächst rein mechanischen Körperbild nur reinen Geist als ultimative Bedeutung gestaltet und damit die herkömmlichen Kommunikationspfade ausgesetzt wissen. Es ging Decroux weder um eine biologische Wahrheit des Leibes wie etwa im Tanz oder der Performance (sie sollte gerade transzendiert werden) noch um eine konkrete subjektivfiktionale Mitteilung, wie sie im naturalistischen Schauspiel gesucht ist. Dieses interaktive Moment hat Decroux stets und beharrlich wegzukürzen versucht. Das Gestische, d.h. die körperliche Gestalt- und Ausdrucksbewegung, kann sich bei Decroux nicht über den leiblichen Vollzug allein, ebensowenig aber über den Kommunikationswillen im gesellschaftlichen Sinne definieren lassen. Diese selbstbezügliche Komponente, mit der Decroux das Gestische als hermetischen und abgeschlossenen Raum einfuhrt, hat wenig oder nichts mit der bei Mead formulierten »Selbstaffizierung«15 des Gesten setzenden Wesens gemein. Mead erkennt einen wesentlichen Wirkungszusammenhang der Geste nicht nur in der Wechselseitigkeit mit dem Gesten empfangenden Wesen, sondern vor allem und zuerst in deren Eigenwirkung. Eine Geste als Handlungseingang werde meist nur in der begründeten Erwartung gesetzt, daß das Gegenüber diese Geste auch versteht. Der Kommunikationsprozeß setze somit die Selbst-Verständlichkeit ebenso voraus wie die Fremdverständlichkeit, ja sie mache sie zur Bedingung:

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In »Die Theorie des kommunikativen Handelns« hat Habermas sich hierzu erschöpfend geäußert (vgl. Habermas 1981: 7-118). Zur theaterwissenschaftlichen Entfaltung des Meadschen Interaktionsmodells vgl. Paul (1981a). Zu diesem Begriff vgl. Trabant (1988).

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Gesten werden zu signifikanten Symbolen, wenn sie im Gesten setzenden Wesen implizit die gleichen Reaktionen auslösen, die sie explizit bei anderen Individuen auslösen oder auslösen sollen - bei jenen Wesen, an die sie gerichtet sind. (Mead ed. 1993: 86)

Die Appellfunktion der Geste richtet sich daher immer auch an das handelnde Individuum. Nur indem es sich in das rezeptive Verhalten des Gegenübers einfühlt, kann es die Wirkungsmacht der eigenen Äußerung/Geste korrekt einschätzen und kontrollieren: Die so nach innen genommenen Gesten sind signifikante Symbole, weil sie für alle Mitglieder einer gegebenen Gesellschaft oder gesellschaftlichen Gruppe den gleichen Sinn haben, d.h. daß sie jeweils in dem die Geste setzenden Individuum wie auch in den auf sie reagierenden Individuen die gleichen Haltungen auslösen: andernfalls könnte der Einzelne sie nicht nach innen hereinnehmen oder sich ihrer und ihrer Bedeutungen bewußt werden. (Mead ed. 1993: 86f.)

Eine solche interaktive Wahrheit jedoch samt mimetisch-naturalistischer Anbindung an die Lebenswelt des Zuschauers/Gegenübers ist bei Decroux nicht vorgesehen. Dennoch beharrt Decroux auf dem Körper als Anfang aller Darstellung, womit er eigentlich genau die geforderten Voraussetzungen zu symbolvermittelter Interaktion einlöst: Diese fußt nämlich primär auf der gestischen Darstellung von Bedeutungen (als Handlungsintention bzw. Haltung vor der Handlung, als Anlaß zur nachfolgenden Handlung) und damit auf »realleiblicher Anwesenheit« (Bühler 1968: 95). Auch und gerade diese »Origo«-Funktion des Leibes (vgl. Bühler 1965: 79-148) mit allen deiktischen Möglichkeiten bindet aber die Sprache zumindest strukturell wieder an ihren körperlichen Träger zurück, und bis hinein in grammatische und syntaktische Strukturen (um Sprachfiguren und Redewendungen gar nicht zu erwähnen) ist dieser leibliche Ursprung der Kommunikation festzumachen (vgl. hierzu Weinrich 1988). Beides jedoch will Decroux gerade überwinden. Sein Körperverständnis scheint auf jene cartesianische und post-cartesianische Maschinalität zurückgehen zu wollen, in der der Körper bloß biologisches Gefäß des Subjekts ist, dessen Überwindung das Individuum zur rationalen Freiheit erst befähigen würde (vgl. König 1989). Hier erweist sich Decroux' Rückwärtsgewandtheit, sein Ringen um einen Körper, aus dem der Geist zu entfliehen vermöge, einen Körper, der - und sei es auf dem Weg der Qual - verschwindet, um der Wahrheit Platz zu machen (vgl. Abschnitte 6.4.3, 6.5). Decroux nistet sich, aus einer solchen Perspektive betrachtet, in einem seltsamen Paradox ein: Wohl fordert er den Körper als Ausgangspunkt der Darstellung; dessen Bedeutungspfade aber will er nicht anerkennen und im mime corporel gerade nicht den natürlichen Zeichenkörper oder zumindest allgemeinverständliche Gesten verwenden. Solche Bemühungen etwa bei Marceau hatte er vehement abgelehnt. Zugleich aber verwahrt sich Decroux auch gegen jene Auffassung, die den Körper als »phänomenalen Leib« (vgl. Merleau-Ponty 1966) zum Ort des Subjekts bestimmt, von dem aus es sich überhaupt erst erkennen kann, an dem es sich konstituiert. Vielmehr hatte Decroux eine wesentliche performative Funktion künstlerisch-mimischer Bewegung darin sehen wollen, daß sie den eigenen Leib und dessen Gestalt gerade ersetzt, daß sie ihn zum »anderen« macht: »Le faire distrait de l'etre. Et il en fait un autre.« (Paroles: 121).

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Damit aber gestaltet Decroux auf radikale Weise jene paradigmatische Unterscheidung zwischen Werk und Fleisch, Logos und Sorna, die für die Darstellenden Künste grundlegend ist: Der Körper soll bei Decroux zum Material einer Wahrheit werden, die ausgerechnet nicht die Wahrheit des Subjekts (des Darstellers), sondern die prä- bzw. transsubjektive Wahrheit der Sprache als Trägerin abstrakter Bedeutungen gerade jenseits des Körpers ist. Diese Dichotomisierung nimmt die Kommunikationstheorie, insbesondere aber die Prämissen des Theaters schonungslos beim Wort: Die Wahrheit des Leibes soll eliminiert werden, um ganz dem Werk Platz zu machen. Dieses Werk ist zwar nicht vom Leib abzulösen, es ist aber aus ihm allein auch nicht mehr zu verstehen. Wo sonst die Sprache (etwa als Dramentext) zwischen beiden Polen vermittelte, ist bei Decroux die Setzung getreten kaum anders, als bei sonstigen dissidenten szenischen Formen, die den Leib des Darstellers auch ohne über-subjektive, fiktionale Mitteilungsinhalte zum Medium transsubjektiver Darstellung machen. Es handelt sich letztlich um die Ambivalenz des Natürlichen, Echten oder Authentischen im Kontext von Darstellung: Körper und Körperlichkeit dienen auf der Bühne als Garantie und Gewähr für das Echte und Wahre, das Unhintergehbare. Sie werden anfangs auch noch von Decroux selbst, später etwa von Grotowski (vgl. Grotowski 1994) und vor allem im Tanz durchgehend angerufen, wenn Schweiß, Schmerzen und Echtzeitvollzug die szenische Wahrheit verbürgen sollen. Zugleich werden Körper aber dazu eingesetzt, eine wie auch immer synthetische, »künstliche« und oft eben auch gerade schriftlich präfigurierte Vor-Stellung zu geben. Der Körper ist dabei »echt«, insofern er kommuniziert und sich zeigt, »unecht«, insofern er etwas außer sich kommuniziert und mitteilt und sich dadurch zum körperfremden Werk gestaltet. Dieses Oszillieren zwischen den szenischen Funktionen des Körpers als Natur und als Bild, diese widerstreitenden Aspekte des Leiblichen - zugleich Träger der Kommunikation und deren verbürgende Instanz zu sein - werden mit den Theateravantgarden der frühen Moderne immer weiter in den Mittelpunkt gerückt, sie werden zum eigentlichen Thema. Angefangen bei der Stilbühnenbewegung eines Adolphe Appia über Craigs Symbolismus, Loi'e Fullers synästhetische und Mary Wigmans expressionistische Einsetzungen des Körpers bis hin zu Schlemmers Bauhaustänzen und szenischen Erkundungen und zu Artaud, der Performance Art und einigen zeitgenössischen Tanzformen mit ihren realen Grausamkeiten und ihrem Schmerz läßt sich diese Suche nach der emphatischen Unmittelbarkeit, läßt sich das Rätsel des darstellenden Körpers als Thema verfolgen. Er soll in diesem Prozeß seine versprachlichte, semiotische Strukturierung zugunsten eines radikalen Selbstvollzugs aufgeben. Mit seinen Versuchen, einen neuen, mimisch-körperlichen Werkbegriff zu definieren, der nach Bildlosigkeit, reinem Stil und auratischer Wahrheit strebt, ohne dabei auf szenische Kontexte zu rekurrieren, gehört Decroux, wie eingangs behauptet, auf verzwickte Weise ebenfalls in diesen thematischen Zusammenhang. Die bisherige Decroux-Rezeption hat diesen Zusammenhang jedoch, wenn überhaupt, zumeist gegen dessen eigene Thesen herzustellen versucht. Zwar eröffnet sein Körper- und Bewegungsbild eine über die bloße Idiosynkrasie hinausreichende Perspektive, doch läßt sich diese weder aus einem (avantgardistischen) Befreiungsdiskurs noch aus der theaterpraktischen Nachwirkung begründen. Die von Decroux vorgenommene stilistische Einsetzung des Körpers bemüht sich vordergründig 106

wohl darum, genrespezifische Überformungen des Leibes auszusetzen und die zahlreichen Schichtungen abzutragen, die ihn zum kulturell determinierten Instrument der Kommunikation zugerichtet haben. Wenn aber etwa der amerikanische Decroux-Experte Thomas Leabhart in diesem Zusammenhang von Decroux' »recovery of the pre-Cartesian body« (Leabhart 1996: 31) spricht, von dem Anliegen, zu »unimpeded movements of the human body« (ebd. 54) zurückzufinden, so geht diese These am Kern des mime corporel vorbei. Der »freien Bewegung« gilt Decroux' Interesse offensichtlich gerade nicht. Andererseits kann Decroux' Rang auch nicht in einer direkten Einflußnahme auf die Theaterentwicklung gesehen werden. Durch seine bewußt inszenierte Abseitigkeit und seine Bühnenfeindlichkeit hat er eben nicht jene publizistische Wirkung erreicht wie die oben erwähnten innovativen Theaterformen. Zwar hat Martina Leeker wiederholt (1985, 1991, 1995) die These vorgetragen, Decroux nehme mit seinem Neudenken des Körpers so etwas wie eine Schlüsselstellung ein, er habe gleichsam einen historischen Auftrag erfüllt und einen Umbruch in der Körperauffassung dieses Jahrhunderts geradezu bewirkt. Diese Auffassung vernachlässigt jedoch die historischen Tatsachen. Denn käme Decroux' Werk tatsächlich eine solche Scharnierfunktion zu, so wäre kaum erklärlich, warum er trotz allem eine Randerscheinung des Theaterbetriebes blieb und wie sich die anderen Vertreter der Theateravantgarden in diese Hierarchie einreihen. Immerhin sind sie es, die die Entwicklung des Theaters viel nachhaltiger und vor allem breitenwirksamer geprägt haben. Auch heute noch wird in dissidenten szenischen Formen der (Post-) Moderne, die als Bewegungstheater, Tanz, Performance etc. firmieren,'6 oft und gerne auf diese Bezug genommen, während Decroux' Arbeiten in der Regel unbekannt bleiben. Die >echten< Avantgarden haben mit Sicherheit ein breiteres kulturelles Rezeptions- und Wirkungsfeld besetzt, als es der mime corporelje vermocht hat. Gerade aus diesen Gründen aber ist die hier vorgetragene These, Decroux komme eben doch eine theaterhistorische, vor allem aber -theoretische Bedeutung zu, die sich aus seinen Schriften (mehr als aus seinem praktischen Werk) erschließen lasse, noch nicht ausreichend begründet. Es bedarf dazu des Blicks auf einen theaterwissenschaftlichen Diskussionsstrang, der erst in den letzten Jahren an Bedeutung gewinnt. Erst mit dieser Wendung lassen sich Decroux' Problemstellungen in den Kontext der Theateravantgarden und ihrer theoretischen Angebote einpassen, ja sie erhalten erst in diesem Licht ihre spezifische Bedeutung. Indem Decroux das den Darstellenden Künsten und ihren gängigen Analysemethoden eigene duale Bild von der Funktionsweise des Körpers bzw. des Darstellers/Schauspielers in der beschriebenen radikalen Weise beim Wort nimmt, umformuliert, zuspitzt und gleichsam ad absurdum führt, stellt er implizit die Frage nach der Tragfähigkeit eines analytischen Modells, das vom Körper ausgehend stets nur die szenische Anwendung, gleichsam den kommunikativen Wert untersuchen will, ohne dessen Eigenbedeutung gebührende Aufmerksamkeit entgegengebracht zu haben. Indem Decroux diese dem Theater eigene, jedoch oft nur implizit thematisierte Dichotomie ausgestaltet und ins Werk setzt, wird er zu einem Modellfall der 16

Die Fülle der Formen und Bezeichnungen nimmt von Jahr zu Jahr zu: Physical Theatre, gestisches Theater, theatre gestuelchoreographisches Theater, Choreodrama, leibliches Theater, Theater der tanzenden Körper usw.

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Theaterentwicklung dieses Jahrhunderts - auch und gerade in seinem Scheitern, das sich in seiner Exemplarik freilich nur vom Standpunkt aktueller theaterwissenschaftlicher Erkenntnisse her beschreiben läßt.

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9.

Körperbild und Eigensinn

In einem luziden Aufsatz bringt Roger Villeneuve diese (neue) Themenstellung in aller Knappheit auf den Punkt mit der Formulierung: »Comment le sens vient[-il] dans le corps de l'acteur«? (Villeneuve 1993: 90). Villeneuve legt den Finger auf jenen wunden Punkt der Analyse leibgegründeter Darstellungsformen, der hier interessiert: den Zusammenhang zwischen Leib und Sinn. Ist eine Theateraufführung durch Text konstituiert und dadurch linear lesbar, oder ist sie vielmehr ein Akt von metaphysischer Dimension, eine Fleischwerdung im religiösen Sinne, die niemals gelesen, sondern nur vollzogen bzw. erlebt werden kann? Es sei die historisch überbrachte Dichotomie zwischen Körpern als Zeichen und Körpern als Leib, zwischen kultureller Affirmation des Schauspiels und subversiver Sprengkraft der Performance bzw. des Spektakels. Auch die Theaterwissenschaft sei noch immer hin- und hergerissen zwischen der Lesbarkeit des theatralen Werks und dem auratischen Erleben von dessen Materialität: La semiotique thiätrale [...] est encore [...] partagee precisement entre [...] une tendance ä la Sublimation du spectacle (sa reduction ä une structure, au Statut d'objet de connaissance) et une tendance ä la disublimation (oü le corps du spectacle est pose comme irreductible au langage). (Villeneuve 1993: 87)

Zu fragen: »Comment le sens vient-il dans le corps de l'acteur?« setzt aber bereits voraus, daß überhaupt ein Sinn in die Körper hineinfahre, der nicht schon zuvor in ihnen steckte. Zwei Annahmen sind hier stillschweigend impliziert: Der Körper könne erstens überhaupt ästhetisch überhöht und zum Artefakt werden; dafür müßte ihm zweitens aber zunächst sein Eigen-Sinn ausgetrieben werden. Der historische Umweg über die Untersuchung eines jeweiligen kommunikativen Vorverständnisses, über die Zurichtungen des Körpers als Zeichen hat aber einen eher ernüchternden Befund ergeben: Körper transportieren aus ihrer psychogenetischen Disposition unwillkürlich immer schon einen Sinn; sie sind folglich stets ein Schauspiel ihrer selbst und können offenbar nur in sehr beschränktem Maße durch »künstliche« Inhalte semiotisch aufgeladen, d.h. zum autonomen Werk gemacht werden. So gehört denn auch die Einsicht in die Autarkie des Bedeutens, d.h. in die zwangsläufige Verweisfunktion szenisch eingesetzter Wirklichkeiten und damit vor allem auch des Körpers, mindestens seit der kritischen Theatersemiotik zum methodologischen Instrumentarium der Theaterwissenschaft. Die Konzeption von der Bühne als sprachlich-linear strukturiertem Medium, wie sie aus der Analyse des (Sprech-) Schauspiels hervorgegangen ist, hatte nämlich die Tatsache vernachlässigt, daß allein aus dem visuellen Angebot szenischer Vorgänge, aus deren Augen-Schein, bereits Bedeutungen entstehen, ja daß eine solche sozusagen wilde Bedeutungsproduktion geradezu eine der Wurzeln darstellerischer Phänomene ausmacht.

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1987 legte Andre Helbo seine »Theory of Performing Arts« vor, in der er jede (Theater-) Aufführung als »process of semiotization« (Helbo 1987: 48) auffaßt, der durch die Zuschauinstanz gleichsam zu sich selbst geführt wird: »Reception ceaselessly links signifieds denoted by plastic elements to the verbal-iconic system.« (ebd. 50). In diesem Prozeß der Semiotisierung wird die Bedeutung (auch) vom Publikum erschaffen: The theatrical phenomenon should be viewed as a collective system of enunciation. This hypothesis implies that the stage/auditorium split has to be abandoned in order to grasp an act of creation of meaning. (Helbo 1987: 60)

Theatrale Bedeutungsstiftung verlaufe daher nie eindirektional, auch wenn sie (natürlich) gesteuert ist. Primär sei aber die Sichtbarkeit, nicht die Lesbarkeit,1 wie Helbo mit seiner Entfaltung des Begriffes »spectacular discourse« bzw. »theatrical/ spectacular continuum« (Helbo 1987: 14ff.) ausführt. Jeder Aufführung liege wohl eine Sinnstruktur zugrunde, ein »grand signifie«,2 der sich im Prozeß des Zuschauens ergebe. Der sei jedoch keineswegs eindeutig auszumachen. Helbo löst sich damit von der reinen Theatersemiotik, indem er eben gerade nach dem Moment der Bedeutungsstiftung jenseits des reinen Werkbegriffs und der linearen Autorenintention fragt. Helbo hatte dies bereits 1983 in »Les mots et les gestes« vorbereitet und versucht, konzeptionell von der Textualisierung des Theaters und der Theaterwissenschaft loszukommen und totalisierende theatersemiotische Theorieentwürfe mit ihrer Suche nach einer »langue generalisee dont tous les spectacles possibles constitueraient l'avatar« (Helbo 1983: 28) zu demontieren. Die sprachliche Auffassung der Aufführung unterliege drei in die Irre gehenden Mechanismen: »terrorisme d'une semiotique littiraire, le texte etant la partition de la scene«; »imperialisme de la scene, la representation etant imposee au spectateur«; »inflation d'une tradition culturelle, le dialogue scene/salle etant reserve ä un certain thiätre« (ebd.). Hauptaufgabe einer erneuerten, in Helbos Sinne vor allem genreübergreifenden Sichtweise müsse es nunmehr sein, [de] denoncer [...] les lectures lineaires prisionnieres d'une dimension vraie (texte, livret, scene) et [de] poser l'exigence d'une approche globale expansive qui aborde simultanement theatre, cirque, opera, ballet et qui tienne compte de la relativite historique. (Helbo 1983: 28f.)

Diese kategoriale Unterscheidung zwischen Sichtbarkeit und Lesbarkeit geht hier zurück auf Lyotards Untersuchung von Bedeutungsvorgängen in Literatur einerseits, bildender und darstellender Kunst andererseits. Er setzt gegen die rein lineare Organisation von Sinn im »discours« die energetische Wirkung in der »figure« (vgl. Lyotard 1971). Diesen Begriff entlehne ich bei Febvre (1995: 75), die im Kontext des zeitgenössischen Tanzes mit seinen geringen oder nicht vorhandenen narrativen Vorgaben damit die Zuschausituation als Konfrontation choreographischer Absichten und spektatorischer Deutungen bezeichnet. Allein das visuelle Angebot berge dabei schon eine (offene) Sinnhaftigkeit, unabhängig von spezifischen inhaltlichen oder narrativen Anliegen. Bayerdörfer führt - in anderem Kontext - den Begriff der »abstrakten Sinnfigur« ein; gemeint ist die Abkehr früher Theaterreformbewegungen vom reinen Mimetismus hin zu einem autonomen Bedeutungsraum Bühne, dessen Gestaltproduktion im Wechselspiel aus Darsteller und Zuschauer neue ästhetische Welten eröffnen solle (vgl. Bayerdörfer 1987: 190ff.).

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Mit dieser Anwendung weitergefaßter semiotischer Theorien in der Folge Ecos und seines »opera aperta«-Begriffes (vgl. Eco 1973), mit der Untersuchung der aktiven Rolle des Zuschauers im Prozeß des Bedeutens, weisen Helbos Überlegungen in eine entscheidende Richtung. Denn als Adressat einer Auffuhrung werde der Zuschauer im Rahmen einer »retroactive insertion« (Helbo 1987: 63) in die Aufführung integriert, die somit nicht nur für ihn, sondern vor allem auch durch ihn stattfinde; er »takes part in a series of situations that compel him to be performative« (ebd. 62). Über diese Beteiligung am Gegenstand (der Wahrnehmung, des Wissens) finde zugleich auch eine Konstruktion dieses Gegenstandes statt, und zwar »with regard to what is known« (ebd.). Das Vorwissen, das zum Verständnis des Gegenstands (der Aufführung) notwendig ist, determinere bereits die Erscheinungsweise und auch das Zustandekommen des Gegenstandes, es führe zu einem mimetischen Kurzschluß: It is often tempting to conceal the pre-comprehension of the object. In the field of theater in particular, the category of mimesis often serves as an alibi for false innocence: by focussing exclusively on mimesis, theater research loses sight of the fact that the performance produces what it claims to imitate. (Helbo 1987: 62)

Eine ähnliche Inhärenz des Abzubildenden im Abbildungsvorgang konnte als gleichsam narzißtische Umkehrung mimetischer Hierarchien auch und in besonderem Maße bei Decroux beschrieben werden (s. Abschnitt 6.3). Doch liegen die Dinge bei Decroux noch anders, denn durch den Ausschluß dramaturgischer Vorgaben und semantischer visueller Angebote wird beim mime corporel eben auch die wilde Semiose, das Ungebundene theatraler Bedeutungsprozesse außer Kraft zu setzen versucht. Nicht nur wollte sich Decroux der sprachlich geordneten Sinnhaftigkeit des Körpers entledigen, sondern auch und vor allem der somatischen. Im Wechselspiel aus sogenanntem spontanem Bedeuten durch referentielle Einordnung (des Körpers) auf Seiten des Zuschauers einerseits, aus auktorialer Setzung auf Seiten des Künstlers (durch technisch-stilistische Vorgaben) andererseits ergibt sich eine Nullsumme. Theater im kommunikativen, interaktiven Sinne kann nicht mehr stattfinden. Indem Decroux eine radikale Dichotomie aus Leib und Werk formuliert, d.h. die bloße selbstbezügliche Körperlichkeit ebenso ablehnt wie die vor allem symbolisch-übertragene Bedeutung aus anderen Referenzsystemen (dramatische Literatur, konventionelle Gestik, jede Form von Objektbezug), zugleich aber einen neuen Bereich als Schnittstelle nicht definiert, liefert er sich einem theatralen Grundproblem aus, nämlich jenem diffusen Übergangsbereich szenischer Darstellung, der in neuerer Zeit durch eine Neubestimmung des Begriffes Theatralität analytisch gefaßt werden soll und mit dem genau diese beiden Aspekte in ein konstruktives Verhältnis zueinander gesetzt werden müßten.

9.1. Theatralität des Körpers Helbos Ausführungen präfigurierten bereits jene Ansätze zur Bestimmung von Theatralität gerade in der Verbindung zwischen Leib und Sprache, zwischen Körper und Symbol, wie sie in den letzten Jahren im französischsprachigen Raum 111

entwickelt werden. Michele Febvre (1995) hat diese Diskussion im Kontext des Tanzes sehr schlüssig zusammengefaßt. Einer der Schwerpunkte ist auch hierbei die These, daß das Theatrale des Theaters jenseits des Textes zu suchen sei: »[...] le theatre du XX e sifecle n'a eu de cesse de revendiquer et de trouver sa spicificite en dehors de la Parole maltresse de la scene.« (Febvre 1995: 44). Mit Michel Bernard führt Febvre die Frage nach der Theatralität als die Frage danach ein, was genau es sei, das -»dans le corps [Herv. v. m.] pennet l'exercice de la pratique theatrale et ulterieurement son institutionnalisation« (ebd. 46). Die Verbindung zwischen beidem, zwischen Körper und theatraler Praxis, finde statt über den Einsatz der Stimme, denn sie sei »ä la fois >6clatement sonore et [...] support du langage et, par consiquent, vihicule du sens et vecteur du symboliquenormalen