Der Tod des politischen Kollektivs: Politische Religion und das Sterben und Töten für Volk, Nation und Rasse [Reprint 2014 ed.] 9783050072692, 9783050029801

Der Autor analysiert die modernen Begriffe von "Nation", "Volk" und "Rasse". Indem er unte

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German Pages 219 [220] Year 1997

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Table of contents :
Vorwort
1 Einleitung
2 Die historische Genese der modernen politischen Kollektivitätskonstruktionen
3 Die substantialisierten Bänder des Kollektivs
3.1 Das Band des Blutes und der Gene
3.2 Das Band der Sprache
3.3 Das Band der Kultur
3.4 Das Band der Geschichte
3.5 Das Band des Territoriums
4 Zur Kritik der »kollektiven Identität« und zur Rekonstruktion kollektiver Identifizierungsprozesse
5 Das imaginierte Band des Kollektivs
6 Imagination, Symbol und Ordnung. Zum Verhältnis zwischen Phantasie und der Produktion und Reproduktion von Ordnung
7 Die religiösen Dimensionen politischer Kollektivität
7.1 Religion, Säkularisierung und Resakralisierung. Zu einem Spannungsverhältnis politischer Kollektivität
7.2 Die religiösen Bezugsebenen in der Imagination des politischen Kollektivs
8 Politische Kollektivität und das Problem des Todes
9 Mentalitätsgeschichtliche Rekonstruktionen des Über-Lebens in der profanen Transzendenz des politischen Kollektivs
10 Sterbebereitschaft, Heroismus und die verbindende Schuld der Geretteten
11 Tod, kollektives Über-Leben und Gewalt oder die destruktive Bekämpfung des Todes
11.1 Entgrenzte Selbsterhaltung und die Veräußerung des Todes
11.2 Der äußere und der innere »Feind« des Über-Lebens
12 Zusammenfassung und Bemerkungen zu einem fragwürdigen Ende
13 Bibliographie
14 Personenverzeichnis
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Der Tod des politischen Kollektivs: Politische Religion und das Sterben und Töten für Volk, Nation und Rasse [Reprint 2014 ed.]
 9783050072692, 9783050029801

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Peter Berghoff Der Tod des politischen Kollektivs

Politische Ideen Herausgegeben von Herfried Münkler

Band 7

Die politische Ideengeschichte hat seit dem Ende der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West, der Transformation der Gesellschaften Mittel- und Osteuropas, aber auch mit den seit dem Wegfall des klassischen Gegenbildes dringender gewordenen Fragen nach Werten und Zielen der westlichen Demokratien, nach der Möglichkeit von Gemeinwohlorientierungen usw. neue Bedeutung gewonnen. Gibt es in dem zunehmend differenzierten und segmentierten Fach Politikwissenschaft einen Bereich, in dem die verschiedenen Fragestellungen und Ansätze zusammengeführt werden, so ist dies die Geschichte der politischen Ideen sowie die politische Theorie. Insbesondere die politische Ideengeschichte erweist sich dabei als das Laboratorium, in dem gegenwärtige politische Konstellationen gleichsam experimentell an den Theoriegebäuden vergangener Zeiten überprüft, durchdacht und intellektuell bearbeitet werden können. Eine so verstandene politische Ideengeschichte ist gegenwartsbezogen, auch wenn sie sich den aktuellen politischen Problemen nur mittelbar zuzuwenden scheint. Diese Reihe ist ein Ort für die Publikation solcher Studien. Sie veröffentlicht herausragende Texte zur politischen Ideengeschichte und zur politischen Theorie.

Peter Berghoff

Der Tod des politischen Kollektivs Politische Religion und das Sterben und Töten für Volk, Nation und Rasse

Akademie Verlag

Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 1 der Gerhard-Mercator-Universität - Gesamthochschule Duisburg unter dem Titel „Moderne politische Kollektivität, Religion und das Sterben und Töten für Volk, Nation und Rasse", mit dem Referenten Prof. Dr. Claus-E. Barsch und der Korreferentin Prof. Dr. Hedda Herwig, als Dissertation angenommen. Das Promotionsverfahren wurde am 25.1.1996 durch die mündliche Prüfung abgeschlossen.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Berghoff, Peter: Der Tod des politischen Kollektivs : politische Religion und das Sterben und Töten für Volk, Nation und Rasse / Peter Berghoff. - Berlin : Akad.Verl., 1997 (Politische Ideen ; Bd. 7) Zugl.: Duisburg, Univ., Diss., 1996 u.d.T.: Berghoff, Peter: Moderne politische Kollektivität, Religion und das Steiben und Töten für Volk, Nation und Rasse ISBN 3-05-002980-3 NE: GT

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1997 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. Das eingesetzte Papier entspricht der amerikanischen Norm ANSI Z. 39.48 - 1984 bzw. der europäischen Norm ISO TC 46. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. All rights reserved (including those of translation into other languages). No part of this book may be reproduced in any form - by photoprinting, microfilm, or any other means - nor transmitted or translated into a machine language without written permission from the publishers. Druck und Bindung: DH „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Einbandgestaltung: Günter Schorcht, Schildow Printed in the Federal Republic of Germany

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

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1

Einleitung

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2

Die historische Genese der modernen politischen Kollektivitätskonstruktionen

19

3

Die substantialisierten Bänder des Kollektivs 3.1 Das Band des Blutes und der Gene 3.2 Das Band der Sprache 3.3 Das Band der Kultur 3.4 Das Band der Geschichte 3.5 Das Band des Territoriums

29 29 33 38 42 46

4

Zur Kritik der »kollektiven Identität« und zur Rekonstruktion kollektiver Identifizierungsprozesse

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Das imaginierte Band des Kollektivs

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6

Imagination, Symbol und Ordnung. Zum Verhältnis zwischen Phantasie und der Produktion und Reproduktion von Ordnung

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7

Die religiösen Dimensionen politischer Kollektivität 7.1 Religion, Säkularisierung und Resakralisierung. Zu einem Spannungsverhältnis politischer Kollektivität 7.2 Die religiösen Bezugsebenen in der Imagination des politischen Kollektivs

77 77 96

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Politische Kollektivität und das Problem des Todes

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9

Mentalitätsgeschichtliche Rekonstruktionen des Über-Lebens in der profanen Transzendenz des politischen Kollektivs

133

Sterbebereitschaft, Heroismus und die verbindende Schuld der Geretteten

149

10

Inhaltsverzeichnis

6 11

Tod, kollektives Über-Leben und Gewalt oder die destruktive Bekämpfung des Todes 11.1 Entgrenzte Selbsterhaltung und die Veräußerung des Todes 11.2 Der äußere und der innere »Feind« des Über-Lebens

163 163 172

12 Zusammenfassung und Bemerkungen zu einem fragwürdigen Ende

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13 Bibliographie

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Personenverzeichnis

Vorwort

Die vorliegende Arbeit ist vornehmlich eine Untersuchung zur politischen Theorie der modernen politischen Kollektivität, mit der aber sowohl historische, sozialwissenschaftliche, psychologische, als auch religionswissenschaftliche Fragen und Aspekte einbezogen wurden. Wenn die immer wieder geforderte Integration interdisziplinärer Frageperspektiven unternommen wird, besteht die Gefahr für eine Untersuchung, aus den Perspektiven der je einzelnen Disziplinen unzulänglich zu bleiben. Insbesondere gilt dies für Problemfelder, zu denen die einzelnen Fachwissenschaften bereits profunde Bestände erarbeitet haben. Es sind jedoch gerade die Überschneidungen der Einzelwissenschaften mit ihren unterschiedlichen Zugängen zu gemeinsamen Problemen, in denen neue Aspekte und Anstöße gefunden und aufgenommen werden können. Inwieweit der durch die Überschreitung der Disziplingrenzen erzielte Gewinn die vorgenommenen Beschränkungen rechtfertigt, bleibt dem Leser zu beurteilen. Mir obliegt es an dieser Stelle, der vielfältigen Hilfe, die ich für die Durchführung dieser Arbeit erhalten habe, meinen Dank auszusprechen. Herr Prof. Dr. Claus-E. Barsch hat mich nicht nur durch seine Lehre und Forschung zu den in der vorliegenden Arbeit angelegten Fragen angeregt, sondern mir auch viele Kenntnisse vermittelt und Hinweise gegeben. Auch für seine immer wieder aufbauende, freundliche Betreuung meiner Arbeit bin ich ihm sehr dankbar. Für lehrreiche und ermutigende Gespräche danke ich auch Herrn Prof. Dr. Wolf D. Behschnitt. Frau Prof. Dr. Hedda Herwig sei für ihre Gutachtertätigkeit gedankt. Bei der Überarbeitung des Manuskriptes haben mir viele Anregungen von Herrn Prof. Dr. Peter Alter geholfen. Besonderen Dank schulde ich meinem Freund und Kollegen Herrn Dipl.-Soz.-Wiss. Peter Krumpholz. Nicht nur seine verständige Geduld, mit der er meine Arbeit unterstützend begleitet hat, waren für mich eine unschätzbare Hilfe, sondern seine Kommentare und Nachfragen haben mich auch immer wieder zu Präzisierungen gezwungen. Für die übernommenen Mühen des Korrekturlesens bin ich Frau Andrea Dederichs M. A. mit Dank verbunden, die mir nicht zuletzt durch ihre kurzweiligen Randbemerkungen die Korrektur mitunter vergnüglich erleichtert hat. Wissenschaftliches Arbeiten bedarf - auch in Zeiten schwindender Forschungsausgaben - nicht allein der geistigen Nahrung, sondern auch ausreichender Mittel für die alltäglichen und leiblichen Bedürfnisse. Daß diesem Umstand in meinem Fall Rechnung getragen wurde, verdanke ich der Gerhard-Mercator-Universität - Gesamthochschule Duisburg, die mir aus dem Programm »Förderung des wissenschaftlichen und künstlerischen Nachwuchs des Landes NRW« ein Stipendium gewährte. Diesbezüglich bedanke ich mich auch bei Herrn Prof. Dr. Julius H. Schoeps, der mein Vorhaben zur Förderung durch dieses Programm empfohlen hat. War durch die Gewährung des Stipendiums fürs Brot gesorgt,

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Vorwort

so danke ich meinen Eltern und meinen Geschwistern für die kredenzte Butter, die mich den Alltag der Bearbeitung weniger trocken erleben ließ. Schließlich möchte ich auch nicht versäumen, Herrn Dipl.-Soz.-Wiss. Harald Lordick für die datentechnische Erstellung der Druckvorlage und die großzügige Unterstützung der Druckvorbereitung meines Manuskriptes durch das Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte e. V. dankend zu erwähnen. Duisburg, im Januar 1997

Peter Berghoff

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Einleitung

In den Konzeptionen der modernen politischen Kollektivität, wie sie mit den Begriffen »Volk«, »Nation«, »Rasse«, »Staat« und nach heutiger sozialwissenschaftlicher Mode auch als »Ethnien« vorgestellt werden, stoßen wir auf die grundlegenden Widersprüchlichkeiten der Moderne: Aufklärung, Emanzipation, Solidarität und Freiheit standen in großen Lettern auf dem Banner der »Nation«; Verklärung, Verfolgung, Unterdrückung, Krieg und Vernichtung waren gewissermaßen das »Kleingedruckte«, das vereinzelt geahnt, aber zunächst kaum beachtet, dann offensichtlich geworden, billigend in Kauf genommen oder letztlich gar mit Enthusiasmus gefordert wurde. Der Nationalstaat - und die diesem Gebilde zugrundeliegenden Ideen - ist mit wechselnden Akzenten zum nahezu universal anerkannten Fundament des Politischen geworden. Nationalismus darf ohne Übertreibung als die »erfolgreichste« Ideologie der Moderne bezeichnet werden - zumindest was die Akzeptanz und die Verbreitung betrifft. »Vor allem hat überall dort, wo Ideologien einander befehden, der Appell an die vorgestellte Gemeinschaft der Nation offenbar alle Herausforderer aus dem Feld geschlagen« (Hobsbawm 1991: 193). Wenn »Volk« oder »Nation« als nahezu universal anerkannte Kategorien bezeichnet werden, heißt dies noch lange nicht, daß die damit verbundenen Inhalte für alle gleich und bestimmt sind. Eher hat es den Anschein, daß das Wissen darum, was ein Volk oder eine Nation ist, nur solange als sicher betrachtet werden kann, als nicht ernstlich danach gefragt wird. Diese Frage wird aber um so drängender in historischen Umbruch- und Konstituierungsphasen, in denen das »Ganze« als begrenzte Ordnung zweifelhaft wird. Der Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens zeigt dies erneut. Aber auch die Vereinigung der beiden deutschen Staaten hat sowohl die Aktualität dieser Frage als auch die Schwierigkeiten verdeutlicht, die mit der inhaltlichen Bestimmung der »Nation« oder des »Volkes« verbunden sind. Die Idee der EG bzw. der EU, die vielen lange Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als Zukunftsvision der Überwindung nationalstaatlichen Denkens erschien, hat offenbar an Attraktivität verloren. In den öffentlichen Reden, in denen für Europa geworben wird, fehlt selten die Versicherung, daß die »nationalen Identitäten« unangetastet bleiben sollen. In den USA, die lange Zeit als Paradebeispiel für eine Melting Pof-Gesellschaft betrachtet wurde, deuten viele Zeichen auf eine »Re-Ethnisierung« der Gesellschaft. So werden etwa wieder »schwarze Tische« in den Mensen der Hochschulen eingerichtet, »asiatische Wohnhäuser« abgetrennt, Sitzordnungen nach Hautfarbe gemacht und nach Rassen getrennte Feten gefeiert (vgl. Radtke 1991: 94). Mag der Modebegriff Ethnie auch suggerieren, daß es hier um ein neuartiges Phänomen geht, so stellt sich doch bei einer genaueren Betrachtung die Frage, ob es sich

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Einleitung

bei dieser Bezeichnung nicht lediglich um einen (vielleicht werbewirksamen) neuen Schlauch für alten Wein handelt. Daß das Thema der politischen Kollektivität in wechselnden Intensitätsgraden auf die Tagesordnung der politischen Diskurse gesetzt wird, läßt auf ungelöste Dilemmata schließen, die in den Kollektivitätskonzeptionen impliziert sind. An dieser Stelle möchte ich nur auf ein grundlegendes Problem hinweisen, das zumindest alle demokratischen Gesellschaften betrifft. Wer Demokratie fordert, muß zur Verwirklichung dieser Forderung irgendeine Vorstellung oder Bestimmung dessen haben, was ein demos ist. Das Kollektiv, das - in welcher Form auch immer - Grundlage der Legitimation von Herrschaft sein soll, kann dies nur, wenn es bestimmt bzw. konstituiert ist. Politische Partizipation und Bürgerrechte brauchen einen Geltungsbereich, innerhalb dessen sie verwirklicht werden können. »Verfassungen gelten für einen bestimmten Raum oder vielmehr für die in diesem Raum lebenden Menschen. [...] Dieser [Geltungsbereich, P. B.] ist einstweilen der Nationalstaat« (Dahrendorf 1990: 827). Das Dilemma besteht aber nun darin, das eben die Kategorien, mit denen das politische Kollektiv in der Moderne bestimmt wurde, nicht nur eine Geschichte der Freiheits- und Bürgerrechte repräsentieren, sondern auch eine beispiellose Fülle von Gewaltakten. »Das Interesse an Verhältnissen«, so hat Heinrich August Winkler mit gutem Grund formuliert, »in denen es keinen Bedarf an Nationalismus mehr gibt, wird mithin durch nichts stärker begründet als durch die Geschichte des Nationalismus selbst« (1978: 34). Der Konstituierungszwang demokratischer Gesellschaften ist nicht zu umgehen. Die gewaltsame Geschichte der Bestimmungen des politischen Kollektivs ist nicht zu leugnen. Das Bestreben, dieses Dilemma mit einem vorschnellen Bekenntnis zur »Nation« oder zum »Volk« auflösen zu wollen, führt zu Verkennung und Verschleierung der hiermit verbundenen Probleme. Worauf es vielmehr ankommt, ist eine rationale Analyse, in der sowohl die Dilemmata als auch die gewaltfördemden Implikationen deutlich werden. Die bei einigen Wissenschaftlern, Intellektuellen und in deutschen Feuilletons besonders beliebte Forderung nach einem »gesunden« oder »geläuterten« Bekenntnis zur Nation befördert allenfalls die Verklärung des Politischen, indem die kritisch-rationale Reflexion durch einen Akt des Bekennens umgangen wird. Welche Anhänger oder Gläubigen der nationalen, ethnischen oder gar rassischen Ideen betrachten ihre jeweilige Ideologie schon als pathologisch? Für geläutert, ehrenhaft oder gesund werden alle Ausprägungen der Kollektivitätsvorstellung von ihren Anhängern gehalten. Ob dies nun Rassenbewußtsein, gesundes Volksempfinden oder geläuterte nationale Identität genannt wird, ist eher eine Frage der Diskurs- und Glaubensmode, als eine wirklich andere Qualität politischen Denkens. Die Abspaltung der »guten« von den »bösen« Nationalisten wird der Dynamik des modernen politischen Kollektivitätsphänomens nicht gerecht. Die Grenzen sind nicht nur deshalb fließend, weil im Namen des »Guten« mitunter jede Gewalttat als gerechtfertigt erscheinen kann, sondern auch, weil in den Ideen einer »guten Ordnung« oft unreflektierte Phantasmen enthalten sind. Dadurch können wiederum unbeabsichtigte - oder vielleicht auch unbewußt beabsichtigte - Folgen unseres politischen Denkens und Handelns entstehen, für die wir aber dennoch die Verantwortung nicht ablegen können. Es ist ja auch keineswegs so, daß beispielsweise die Anhänger der nationalen Idee alle blutrünstige Monster waren oder sind, die nur eine Legitimation

Einleitung

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für ihre Greueltaten suchen, sondern es sind oft die unbeabsichtigten Folgen eines politischen Vorstellens und Denkens, das die eigenen Implikationen nicht reflektiert, woraus dann Gewalt resultieren kann. Wenn Herder beispielsweise in der Frühphase des Nationalismus die Verschiedenartigkeit der Völker in ihren »Nationalcharakteren« und »Volksgeistern« behauptete und ihre friedliche Koexistenz forderte, geht es nicht darum, Herder als »gewaltgeilen« Nationalisten zu entlarven, sondern die Gefährlichkeit der »Volksgeist«-Spekulation als politische Denk- und Handlungsorientierung aufzuzeigen. Die Motive der Gewalt lassen sich nur in den politisch relevanten Bewußtseinsparadigmen entschlüsseln. Theoretisches Bemühen um das Problem der modernen politischen Kollektivität muß sowohl die Analyse der beabsichtigten als auch der unbeabsichtigten Folgen politischen Vorstellens und Denkens zum Ziel haben. Es ist auch nicht viel damit gewonnen, eine dekorativ ansprechende kosmopolitische oder multikulturelle Harmonielehre feilzubieten und dann von einem »Ethnopluralismus« zu sprechen, was bei Licht betrachtet, nichts anderes bedeutet, als die gescheiterte Illusion eines Herder oder anderer »gutmeinender« Nationalisten aufrechtzuerhalten. Sich und anderen zu bestätigen, daß man ein guter und friedliebender Mensch ist, mag vielleicht verlockend sein, kann aber ein rationales, analytisches Bemühen um die implizierten Probleme politischen Vorstellens, Denkens und Handelns keinesfalls ersetzen. Die Verurteilung der Gewaltakte und Verbrechen, die in Bezug auf Nationalismus und Rassismus immer von konkreten Menschen begangen wurden, ist schnell und oft folgenlos geschehen - zumal dann, wenn die Täter als Un-Menschen, Monster und Dämonen entmenschlicht werden. Nicht in den Ideologien wirkende »Dämonen« aber sind es, die aus Menschen blutrünstige Monster machen, sondern es sind Menschen, die Ideologien schaffen, ihnen zustimmen und ihre Handlungen daran orientieren, und es sind und bleiben Menschen, die die Subjekte einer oft grausamen Gewalt sind. Es sind keine »außermenschlichen Kräfte«, die, in den Ideologien wirkend, die Greueltaten erklären könnten. Dies ist nur eine bequeme Ausrede, um uns nicht mit den Hoffnungen, Wünschen und Ängsten der Täter beschäftigen zu müssen. Vielleicht befürchten wir hier die Erkenntnis, daß wir eigene Phantasien darin wiederfinden könnten, die es erschweren, uns von möglichen Entgleisungen voreilig freizusprechen. Wenngleich die nationalsozialistische Entgleisung politischen Denkens und Handelns eine beispiellose Geschichte der Gewalt darstellt, sind doch nationalistische und rassistische Kriege, Verfolgung und Vernichtung keineswegs nur ein historisches Problem der deutschen Nation. Ich sage dies nicht, um eine Aufrechnung oder gar Relativierung vorzunehmen, sondern um die Perspektive auf einige grundlegende Probleme der modernen politischen Kollektivität zu richten, die keineswegs nur für die deutsche Nation relevant waren und sind. Wenn der Nationalismus nationalisiert wird, indem etwa Nationalismus lediglich als deutsches Problem betrachtet wird, liegt der Irrweg nahe, daß genau das Denken reproduziert wird, das zu kritisieren vorgegeben wird. Es ist die Rückkehr des Volksgeistphantasmas, das mit veränderten Vorzeichen als Kritik daherkommt. Es ist aber nichts damit gewonnen, die beklagenswerte deutsche Hybris - die »Überlegenheit der deutschen Seele« - zu ersetzen durch die »Boshaftigkeit der deutschen Seele«. Beide Positionen sind Ausdruck eines verklärten Denkens, das an einer spekulativen nationalen Substanz festzuhalten sich gewöhnt hat.

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Dieses Denken findet sich mitunter auch in der vergleichenden Nationalismusforschung. Die Nationalisierung des Nationalismus ergibt sich hier, wenn Wissenschaftler dem Bann ihres angewandten kategorialen Instrumentariums erliegen und die Ordnungskategorien wie: Nation, Volk oder Ethnie als historisch konstante Kollektivsubstanzen oder gar als kollektive Subjekte denken oder vorstellen, denen eine historische Identität und Konstanz zugeschrieben wird. Die Zuordnung bestimmter »Nationen« zu bestimmten Nationalismustypologien ist aber deshalb problematisch, weil die Ausprägungen der jeweiligen Ideologien nicht nur international variieren, sondern auch »national« und nicht selten auch bei Individuen. Nationale Bewegungen sind selten homogen, nicht nur weil diese Bewegungen meistens mehrere Strömungen aufweisen, sondern auch weil diese Bewegungen historischen Veränderungen unterliegen. Die deutsche Nationalbewegung von 1813, 1848, 1871, 1914 und 1933 - um einige Stationen zu nennen - kann beispielsweise ebensowenig als identisches Produkt eines historisch wirkenden kollektiven Geistes verstanden werden, wie die französische Nationalbewegung von 1789, der Zeit der Revolutionskriege, 1871 oder 1914. Wenn hier für eine Entnationalisierung der Diskurse über die modernen politischen Kollektivitätsideologien plädiert wird, ist damit also nicht eine Einebnung aller Differenzen intendiert, sondern das Ziel, einige grundsätzliche Probleme politischer Kollektivität in der Moderne zum Untersuchungsgegenstand zu machen. Mit der Entnationalisierung der Diskurse soll keine nivellierende Relativierung gefordert werden, sondern eine Frageperspektive der politischen Theorie, die über den »nationalen« Tellerrand hinausgeht. Seit nunmehr über zweihundert Jahren werden die Debatten über die modernen politischen Einheitsbegriffe mit teilweise großer Erregung und Pathos geführt. Die humanwissenschaftlichen Forschungsdisziplinen, die sich zeitweise mit großem Eifer und Engagement des Gegenstandes der politischen Kollektivität angenommen haben, schufen einerseits eine große, kaum mehr überschaubare Kenntnisfülle und andererseits waren es eben auch die Wissenschaftler und Intellektuellen, die manches Mißverständnis produzierten, reproduzierten und mitunter beharrlich verteidigten. Trotz der enormen Kenntnisfülle, an der mehrere wissenschaftliche Disziplinen mitgewirkt haben, sind einige zentrale Desiderata der Forschung zu verzeichnen. Eines der wichtigsten Probleme, die bisher nur unzulänglich theoretisch erfaßt sind, ist die enorme Hingabe- und Gewaltbereitschaft, die die Karriere der Kollektivitätsideologien begleitet hat. Die in großer Fülle zusammengetragene historische Empirie bietet für eine theoretische oder philosophische Forschungsperspektive noch viele ungenutzte Möglichkeiten. So auch für den hier intendierten theoretischen Entwurf, der sowohl auf die Erhellung des kollektiven Bandes, der »erfolgreichen Karriere« der modernen politischen Kollektivitätsvorstellungen als auch auf die Phänomene der Gewalt abzielt. Eine (marxistisch) ökonomische Analyse vermag diese Phänomene ebensowenig zu erklären wie die lange Zeit beliebte Modernisierungstheorie des nation-building. Nun soll keineswegs bestritten werden, daß Kollektivitätsideologien ökonomischfunktional als Ausbeutungsstrategien angewendet werden können. Bestritten werden muß aber, daß Nationalismus, Rassismus oder Ethnizismus nur in kapitalistischen Wirtschaftsordnungen zu beobachten ist. Der russische Nationalismus und Antisemitismus war in der Sowjetunion ebensowenig verschwunden, wie die vielen anderen Na-

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tionalismen. Der zentralistische Apparat der Sowjetunion war lediglich der Deckel auf dem Topf, der nunmehr fehlt. Ein weiterer Einwand gegen eine primär ökonomische Interpretation ist, daß die Begeisterung für die modernen Kollektivitätsideologien von denjenigen, die von einer solchen Ökonomie nicht profitieren, hiermit nicht erklärt werden kann. Selbst wenn die Kollektivitätsideologien ein primär kompensierendes Überbau-Angebot für real stattfindende Ausbeutung innerhalb bestimmter ökonomischer Basisstrukturen wären, bliebe immer noch die Frage, warum dieses Angebot so begierig angenommen wurde und wird. In der ökonomisch-funktionalen Perspektive bleiben gerade die Dimensionen zu wenig berücksichtigt, die die Faszination der Kollektivitätsideologien verständlich machen können. Das trifft auch für die modernisierungstheoretischen Ansätze der Nationalismusforschung zu. Für K. W. Deutsch ist Nationalismus eine Antwort auf das in der Moderne größer gewordene Bedürfnis nach Kommunikation. Die Nation ist für ihn das politisch instituierte Volk im Staat, während das Volk ein »Allzweck-Kommunikationsnetz« sei. Das Volk als Kommunikationsgemeinschaft entspricht bei Deutsch einem funktionalen Imperativ der Moderne, der auf eine größere soziale Mobilität und einen Schrumpfungsprozeß der Tradition zurückgehe (vgl. 1972: 204ff.). »Im Verlauf dieser weltweiten Entwicklung«, so Deutsch, »können sich die einzelnen Menschen immer weniger auf Gewohnheiten und auf den traditionsbedingten Konsensus von Dorf, Sippe oder Stamm verlassen; sie sind vielmehr auf sich selbst als Individuen angewiesen, und sie benötigen eine gemeinsame Sprache, Kultur und gewisse Fertigkeiten, um in fremder Umgebung mit ungewohnten Arbeits- und Lebensbedingungen fertig zu werden« (1972: 206). Innerhalb einer funktionalistischen Perspektive ist Deutschs Interpretation durchaus plausibel. Eine ausschließlich funktionale Betrachtung der modernen politischen Kollektivität wird aber dann zu einer Spekulation, wenn die Erfüllung der festgestellten Funktionen als nahezu zwingendes historisches Movens verstanden wird. Das kann nicht nur zu einer verkappten geschichtsphilosophischen Spekulation geraten - in der eine Art Welt- oder Volksgeist als Modernisierungsgeist angeboten wird sondern verdeckt auch den Umstand, daß diese Ideologien nicht nur in funktionale Ordnungen integrieren, sondern diese auch - allen Funktionsimperativen zum Trotz - sprengen können. Jede bestehende Gesellschaft muß immer auch pragmatisch-funktional sein, da sie sonst nicht existieren kann. Jede Gesellschaft impliziert aber auch, wie im Gang der Untersuchung noch aufgezeigt wird, Bedeutungen, die weit über die pragmatischfunktionalen Bedingungen hinausgehen. Besonders die Phänomene der Gewalt können innerhalb solcher funktionalistischer Betrachtungen dann nur als pathologischer oder irrationaler Abfall von der »wirkenden« Rationalität der Moderne bezeichnet werden (vgl. Deutsch 1972: 205). Eine Antwort die, wie ich meine, nicht zufriedenstellen kann. Dies um so mehr, als innerhalb einer modernisierungstheoretischen Perspektive, etwa der von Gellner (1991), politisch-psychologische Fragestellungen als überflüssig erklärt werden und die dahingehenden wissenschaftlichen Bemühungen mit lapidaren Behauptungen verworfen werden. So behauptet Gellner kurz und bündig, daß die menschliche Psyche mit einiger Sicherheit seit vielen Jahrtausenden gleich geblieben sei und zur Erklärung des Nationalismus nicht beitragen könne (vgl. 1991: 57). Die Frage, ob die

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menschliche Psyche vielleicht etwas sein könnte, das sich unter jeweils spezifischen Bedingungen erst ausbildet und geprägt wird und wiederum an der politischen Instituierung von Denk- und Handlungsbedingungen mitwirkt, scheint für Gellner nicht einmal bedenkenswert zu sein. Die Doktrinen des Nationalismus hält Gellner dann auch der Analyse kaum für wert (vgl. 1991: 182). Dies kann indessen nicht verwundern, weil Gellner in geschichtsphilosophischer Manier, den Nationalismus als äußere Manifestation von objektiven, unausweichlichen Imperativen versteht, die auf eine Homogenisierung und Standardisierung der modernen Industriegesellschaft hinwirken sollen. Die Einfügung der Individuen in eine derartig homogenisierte Kultur nennt Gellner »Exo-Sozialisation«, die für ihn die Basis des Nationalismus bedeutet. »Der Imperativ der Exo-Sozialisation ist der wichtigste Schlüssel zur Beantwortung der Frage, warum Staat und Kultur heute verbunden sein müssen, während in der Vergangenheit ihre Verbindung dünn, zufällig, verschiedenartig, locker und häufig minimal war. Heute ist sie unvermeidbar. Darum geht es im Zeitalter des Nationalismus, und dies ist der Grund, warum wir in einem Zeitalter des Nationalismus leben« (1991: 62). Wenn Nationalismus solchermaßen auf ein »objektives« Modernisierungsmovens zurückgeführt wird, können auch die gewaltsamen Schattenseiten des Prozesses, entsubjektiviert und auf das ausgemachte »objektive« Movens zurückgeführt werden. Entspricht die Gewalt dann einer »List des eskamotierten Modernisierungsgottes«, oder ist die Gewalt Ausdruck einer »Gegenkraft«, die die modernen, kulturell standardisierten, funktionierenden politischen Ordnungen immer wieder bedroht? Eine Ablösung der Geschichte vom politischen Denken und Handeln konkreter Subjekte - und das sind immer konkrete Menschen - führt schnell in diese Sackgasse. Weder substantialisierende deskriptive Forschungsperspektiven noch primär ökonomische oder modernisierungstheoretische Ansätze vermögen die Gewaltakte von konkreten Menschen in Bezug auf ihre jeweiligen Kollektivitätsvorstellungen angemessen zu erklären. Eine psychologische Perspektive, die sich primär nur um individuelle, subjektive Handlungserklärungen bemüht, läßt leicht die politischen Bedingungen des Psychischen aus dem Blick geraten. In dieser Untersuchung sollen die Wünsche, Hoffnungen und Ängste erörtert werden, die in die Vorstellungen und Ideen der politischen Kollektivität immer wieder integriert wurden und Gewalt zur Folge hatten. Mit dieser Untersuchungsperspektive sollen sowohl der anhaltende »Erfolg« dieser Ideologien als auch die integrierten gewaltfördernden Phantasmen erhellt werden. Hierbei geht es nicht nur um eine politisch-psychologische Perspektive, sondern auch darum, die in den instituierten symbolischen Ordnungen manifestierten Bedingungen politischen Denkens und Handels aufzuzeigen. Das Bemühen um Erkenntnis dieser integrierten Wünsche, Hoffnungen und Ängste, soll der Möglichkeit des Verstehens dienen, nicht aber der Entschuldigung der Verbrechen, die im Namen der Kollektivitätsideologien begangen wurden und werden. Es soll deshalb der Frage nachgegangen werden, inwieweit politische Kollektivität als hergestellte Wirklichkeit in einem Spannungsverhältnis psychischer oder geistiger Prozesse und den instituierten politischen Bedingungen des Fühlens, Vorstellens, Denkens und Handelns betrachtet werden kann. Hiermit ist die wichtige Frage verknüpft,

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inwiefern die Probleme der Gewalt - in Bezug auf die Konzeptionen der politischen Kollektivität - aus einer Überladung des Politischen mit den Wünschen, Ängsten oder Hoffnungen der in den jeweiligen Gebilden lebenden Individuen und den instituierten symbolischen Ordnungen entstehen. In der hier angelegten Perspektive sind deshalb die implizierten Phantasmen der politischen Kollektivität von besonderem Interesse, die über eine pragmatisch-politische oder ökonomische Funktionalität hinausgehen. Das Agieren der politischen Subjekte kann nur erklärt werden, wenn diese Subjekte als konkrete Menschen betrachtet werden, die ihren existentiellen Fragen nicht entkommen können. Durch spezifische Verbindungen dieser Fragen mit dem Bewußtsein von Politik und den imaginären Gehalten der Gesellschaft werden die existentiellen Grundfragen (etwa des Todes, der Angst, des Seins, der Schuld, der Erlösung usw.) prägend und bestimmend für die politische Praxis. Diese spezifischen Verbindungen sollen, wie sie in den Ideen der modernen politischen Kollektivität generiert wurden, hier aufgeklärt werden. Es sind vor allem die religiösen Dimensionen der modernen politischen Kollektivitätsvorstellungen, die zur Analyse der Probleme dieses Bereichs des Politischen herangezogen werden müssen, um den Erfolg und die Gewalt der modernen politischen Kollektivitätskonzeptionen zu erklären. Eine solche These mag für viele moderne Sozialwissenschaftler, die die Moderne gerne als vollzogene Trennung zwischen Religion und Politik verstehen, provokativ oder befremdlich anmuten. Wenn man sich als Politikwissenschaftler mit dem problematischen Verhältnis zwischen Religion und Politik in der Moderne befaßt, gerät man leicht in den Verdacht des Antimodernismus, da man sich angeblich mit einem bereits überwunden geglaubten »antiquierten« Problem befaßt. Zumal dann, wenn die Beschäftigung mit Religion und Politik den Rahmen des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat überschreitet. Die weitverbreitete Haltung, daß eine mehr oder weniger starke Trennung zwischen Kirche und Staat auch eine generelle Trennung zwischen Politik und Religion nach sich gezogen hat, halte ich für keine zutreffende Charakterisierung der modernen Gesellschaft. Daß das Verhältnis zwischen Religion und Politik in der Moderne nicht nur eine Frage des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat, sondern viel weitgehender ist, bleibt allerdings noch am Problem der politischen Kollektivität aufzuzeigen. An dieser Stelle kann ich nur um Offenheit in dieser Frage werben und mit Bärsch - der zurecht eine Religionspolitologie fordert - folgendes bemerken: »Die Bedeutung der Religion für das Politische ist mithin einfach festzuhalten. Solange nämlich die Menschen ihre Existenz religiös interpretieren, wird sich ihre Existenzinterpretation auf ihr Bewußtsein von Gesellschaft und damit auf den Versuch der realen Konstitution von Gesellschaft auswirken. Die religiöse Sinngebung der Existenz ist umfassender als das Denken über Tagespolitik. [...] Fangen die miteinander oder gegeneinander handelnden Menschen an, ihre Existenz nicht mehr religiös zu interpretieren, oder versuchen sie, Religion und Politik zu trennen, heißt das noch lange nicht, daß sie überhaupt nicht mehr von religiösen Denkmustern abhängig geworden sind« (1994: 3). Zusammenfassend gesagt, soll mit der vorliegenden Arbeit das Ziel verfolgt werden, die modernen politischen Kollektivitäten als historische Produktionen und Reproduktionen politischen Vorstellens, Fühlens, Denkens und Handels historisch-empirisch und theoretisch zu erfassen.

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Mit der Frage nach dem Band des politischen Kollektivs, sollen auch besonders die über die politisch- und ökonomisch-funktionalen Bedeutungen hinausgehenden Vorstellungen des Bandes verknüpft werden. Die Bedeutungen, die innerhalb einer nur funktionalen Betrachtung oft schlicht als irrational charakterisiert werden, sollen dann auf ihre religiösen Dimensionen hin analysiert werden. Vor dem Hintergrund dieser Analyse soll dann gefragt werden, in welcher Weise Vorstellungen von Tod und Endlichkeit in die Phantasien von politischer Kollektivität integriert sind, um dem Phänomen des Sterbens und Tötens für »Volk«, »Nation« und »Rasse« auf die Spur zu kommen. Der Tod des politischen Kollektivs kann nur dann als eine Bedrohung gesehen und zum Movens der Gewalt werden, wenn dem Kollektiv die Prädikate des Vitalen unterstellt werden. Der mitunter gewaltsam geäußerte Drang, die »Sterblichkeit« des Kollektivs zu überwinden, ist nur zu verstehen, wenn die Phantasmen der Vitalisierung erkannt werden. Der Gang der Untersuchung wird in folgenden Schritten vorgenommen: Begonnen werden soll mit einer historischen Skizzierung des Bedeutungswandels der Begriffe: »Volk«, »Nation«, »Staat«, »Rasse« und »Ethnie«. Es soll aufgezeigt werden, inwiefern die Verwendung der genannten Begriffe als fundamentale Kategorien des Politischen ein Phänomen der Moderne ist. Die Karriere dieser Begriffe als Einheits- und Ausgrenzungskategorien ließ die Bestimmung von »verbindlichen« Merkmalen der Zugehörigkeit als notwendig erscheinen. Hierbei wurde immer wieder - in wechselnden Kombinationen - auf Abstammung, Sprache, Kultur, Geschichte und Territorium rekurriert. In den Kapiteln 3.1-3.5 werden diese Merkmale einer kritischen Prüfung unterzogen, um den imaginären Gehalt der Merkmalsbestimmungen zu klären und sie als »objektive« bzw. substantielle in Frage zu stellen. In Verbindung mit den aufgezählten Merkmalen wurde in den Diskursen über politische Kollektivität immer wieder der Topos der »kollektiven Identität« als Ausdruck einer Zuordnung und eines Verbundenheitsgefühls verwendet. Mit der Problematisierung einer »kollektiven Identität« soll in Kapitel 4 nicht nur eine kritische Analyse vorgenommen werden, sondern auch die Entstehung dessen, was oft als »Wir-Gefühl« bezeichnet wird, rekonstruiert werden. Politische Kollektivität existiert - wie in Kapitel 5 unter Berücksichtigung wichtiger Positionen aus der Forschungsliteratur aufgezeigt werden soll - nicht durch ein vorpolitisches, sondern durch ein imaginiertes Band. Deshalb müssen die Instituierungsprozesse untersucht werden, die die historische Produktion und Reproduktion der hergestellten politischen Realitäten verdeutlichen können. Zu klären ist die realitätsgestaltende Genese des imaginären Bandes politischer Kollektive. Es muß nach dem Verhältnis zwischen imaginärem Entwurf, politischem Denken, politischer Handlung und den instituierten Resultaten gefragt werden. Die instituierten Realitäten politischer Imagination und Handlung werden in Kapitel 6 als symbolische Ordnungen rekonstruiert. Die symbolischen Ordnungen sind weit mehr als nur schmückendes Beiwerk der politischen Kollektivitäten. Gezeigt werden soll, daß erst die Symbole das imaginäre unsichtbare Band sichtbar und damit politisch wirksam machen. In den symbolischen Ordnungen sind aber nicht nur diese politischen Bedeutungen enthalten, sondern auch solche, die darüberhinausgehen, indem sie die politischen Bedeutungen transzendieren. Deshalb sollen die Bedeutungen auf ihre religiösen Ge-

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halte hin geprüft werden. Um symbolische Bedeutungen und Ordnungen, Ideen und Handlungen als religiös charakterisieren zu können, war es m.E. unumgänglich, den Begriff der Religion hinsichtlich politischer Kollektivität näher zu bestimmen. Dies um so mehr, weil der Begriff der Religion in der Moderne unschärfer geworden ist und häufig nur noch für die »Restbestände« der religiösen Traditionen verwendet wird. In Kapitel 7.1 wird daher Religion im Spannungsverhältnis zwischen Säkularisierungs- und Resakralisierungsprozessen als analytische Kategorie erörtert und bestimmt, um die religiösen Dimensionen der Kollektivitätsvorstellungen transparent zu machen. Im darauf folgenden Kapitel werde ich vor diesem Hintergrund drei verschiedene religiöse Bezugsebenen vorschlagen, mit denen die unterschiedlichen religiösen Bezüge politischer Kollektivität erfaßt werden können. Die Bezugsebenen unterscheiden sich je nach der Bedeutung der religiösen Tradition, der (politischen) Welt und dem Grad der Bewußtheit und Explikation der religiösen Implikationen. Die Erfassung der religiösen Dimensionen politischer Kollektivität ist für das Problem der Gewalt von großer Bedeutung. Die immer wieder zu beobachtende massenhafte Bereitschaft zum Sterben und Töten für »Volk«, »Nation«, »Ethnie« und »Rasse« kann erhellt werden, wenn die in den Kollektivitätsvorstellungen enthaltenen Metaphern des Todes analysiert werden. Um dies leisten zu können, werde ich zunächst in Kapitel 8 die Problematik des Todes in Bezug auf das politische Kollektiv erörtern. Politisch vorstellende, denkende und handelnde Individuen sind auch in der Moderne sterblich und den damit verbundenen Fragen konfrontiert geblieben! Die Angst mag mitunter geleugnet werden, aufzulösen ist sie indessen nicht. Die Angst hinsichtlich des Todes muß als Movens für die Genese der kompensierenden Phantasmen einer vitalen politischen Kollektivität ins Blickfeld gestellt werden. Diese Forderung kann mit einem mentalitätsgeschichtlichen Rückblick auf mittelalterliche und neuzeitliche Stationen verbreiteter Todesvorstellungen bekräftigt werden. Nicht nur deshalb soll aber in Kapitel 9 ein historischer Rückblick unternommen werden, sondern auch, um die Übertragung der Todesproblematik ins Politische historisch zu verdeutlichen. In diesem Kapitel soll der mentalitätshistorische Weg nachgezeichnet werden, der dazu führte, dem politischen Kollektiv die Last der religiösen Fragen und Antworten hinsichtlich des Todes in wechselnder Gewichtung aufzutragen. Mit dem Nachweis der zentralen Bedeutung der Todesproblematik für die Karriere der modernen politischen Kollektivität kann dann nach den gewaltfördernden Phantasmen gefragt werden. Die in der Geschichte der modernen politischen Kollektivität zeitweise massenhaft vorhandene Sterbebereitschaft soll mit der Analyse der heroischen Phantasien und Mythen in Kapitel 10 erörtert werden. Hierbei geht es nicht nur um die sterbebereiten Individuen selbst, sondern auch um die Bedeutung der »Heroen« für die imaginäre kollektive Integration. Die Sterbebereitschaft der Kollektivitätsgläubigen geht meist mit der Bereitschaft zum Töten einher. Die Gewalt- und Tötungsbereitschaft in Bezug auf die Vorstellung politischer Kollektivität soll dann in Kapitel 11 untersucht werden. Es wird hier danach gefragt, in welcher Weise bestimmte Vorstellungen von Selbsterhaltung oder Todesüberwindung in den Kollektivitätsvorstellungen transzendiert werden. Aufgezeigt werden soll, daß Selbsterhaltung als fortgesetzte Abwendung des Todes auf das Kollektiv übertragen

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wird. Aggressivität und Gewalt soll dann als illusionäre Selbsterhaltungsaggressivität eines als vital vorgestellten Kollektivs erörtert werden, deren geglaubte Notwendigkeit für die jeweils Gläubigen Gewalt und Tötung als gerechtfertigt oder gar als notwendig erscheinen lassen kann.

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Die Konstruktionen der modernen politischen Kollektivität beinhalten meist die Vorstellung, es gäbe präpolitisch, »natürlich« oder »ursprünglich« festgelegte Kollektive, die gewissermaßen eine Urmasse politischer Gebilde darstellten, die gemeinhin als »Staaten« bezeichnet werden. Der Begriff des »Staates« stellt allerdings ein fragwürdiges Ursprungskollektivum dar, dem besonders in der deutschen Staatstheorie Konnotationen anlasten, die auf eine ursprüngliche »Souveränität« einer abstrakt spekulativen Wirkungseinheit abzielen (vgl. Barsch 1974). Die Rede vom »Staat« als handelndem Subjekt impliziert das Problem, wer denn letztlich handelt bzw. behandelt wird, da abstrakte Ideen und Kollektiva nicht handeln können. Ein Blick in die Bedeutungsgeschichte des Wortes »Staat« (vgl. Weinacht 1968 und Bärsch 1974) bzw. dessen etymologischen Vorläufern, auf die ich hier nicht detailliert eingehen kann, zeigt die unterschiedlichsten Bedeutungen in den verschiedenen historischen Kontexten, so daß die Verwendung des Wortes »Staat« als Oberbegriff für politische Gebilde sehr fragwürdig erscheint. So ist die Bedeutung von Stat im Fürstenstat des 17. Jahrhunderts noch nicht im Sinne von eigenmächtigem politisch-moralischen Subjekt oder als die im Land zusammengeschlossene »Gesellschaft« zu verstehen. »Die territoriale Erstreckung und die Menge der Untertanen bleibt ohne Gewicht« (Weinacht 1968: 100). Wenn auch die Verwendung der Wörter stato, estato, status und état schon in der Renaissancezeit zur Bezeichnung von Herrschaftsverbänden, Herrschaftsgebieten und Herrschaftsgewalt Anwendung fanden, wurde das Wort »Staat« erst im 19. Jahrhundert zur allgemeinen Bezeichnung für »den mit oberster Gewalt ausgestatteten Herrschaftsverband«, wodurch die älteren Begriffe res publica, civitas, imperium und regnum verdrängt wurden (vgl. Zippelius 1986: 490). Zusammenfassend möchte ich mit Bärsch auf zwei Bedeutungslinien allgemeiner Art hinweisen: »eine, innerhalb deren >Staat< im Sinne von Verband und der damit korrespondierenden Wortfelder und eine, innerhalb deren >Staat< im Sinne von Apparat bzw. Gesamtinstitution verstanden wird« (1974: 38). In dem Moment, in dem »Staat« als Gesamtheit von Individuen verwendet wird, wie es der Begriff des »Nationalstaates« nahelegt, verweist das Wort auf eine Gesamtheit, die alles andere als bestimmt ist. Anders formuliert muß man fragen, was die einzelnen zu einem potentiellen »Staatsverband« prädestiniert. Was sind die Zurechnungskriterien zu diesem »Verband«? Der Staatsapparat, »gemeinsame Institutionen«, Recht etc. sind das Produkt und nicht der Ursprung von handelnden Menschen in einem politischen Gebilde, das sich immer aus konkreten einzelnen zusammensetzt, d. h. konstituiert werden muß.

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Auch wenn »Staat« in Anlehnung an die Vertragstheorie (z. B. Hobbes, Locke, Rousseau) als Zusammenschluß freier Individuen betrachtet wird, ist damit noch nicht die Frage geklärt, welche Individuen der Gattung Mensch mögliche Vertragspartner sein können. Seit dem 18./19. Jahrhundert fand der Glaube zunehmend Verbreitung, daß die »Nation« eine bereits vorhandene »Einheit« sei, die in der Bildung eines »Nationalstaates« ihre politische Vollendung findet. In diesem Sinne muß man von der Vorstellung einer »Urmasse des Staates« sprechen, obgleich »fiktive Urmasse des Politischen« eine bessere Bezeichnung wäre. Wenn ich im weiteren Gang der Untersuchung von »Staat« spreche, so ist damit weder ein ursprünglich »souveränes« Abstraktum noch ein feststehender denkender und handelnder Verband gemeint, sondern ein politisches Gebilde, ein Artefakt, in dem Institutionen geschaffen worden sind bzw. werden, durch die auch ein Geltungsbereich für Gesetze, Regierung etc. festgelegt wird. Die Vorstellung, daß ein Geltungsbereich bereits vorhanden, d. h. durch vorab zusammengehörende Individuen (Urmasse) festgelegt ist, manifestiert sich in erster Linie im Begriff der »Nation«, aber auch im Begriff der »Rasse«, des »Volkes« und zunehmend in dem scheinbar unbelasteten Begriff der »Ethnie«. Da es in der Vorstellungswelt dieser Kollektivitätskonstruktionen ein Charakteristikum ist, ihre Existenz in der möglichst fernen Vergangenheit zu verankern, halte ich es für geboten, meiner Untersuchung einen historischen Abriß voranzustellen, der die Karriere dieser Kollektivitätskonstruktionen als moderne Phänomene verdeutlichen soll. Wenn wir von Nationalismus, Rassismus oder Ethnozentrismus sprechen, beziehen wir uns auf Ideologien, die im 18. und besonders im 19. Jahrhundert relevant wurden und bis in die Gegenwart relevant sind. Zunächst aber zur Karriere der »Nation«: Gruppenkonstruktionen, die sich an einer »Stammeszugehörigkeit« orientierten, lassen sich bis in die antike Welt der Griechen und der Juden zurückverfolgen. »Die Juden symbolisierten ihre Stammeseinheit und ihr Verständnis eines nationalen Auftrags im Begriff Jehovas, dem seines Volkes, und kamen damit dem modernen Nationalismus sehr viel näher als die meisten Völker des Altertums. Auch die Vietnamesen und Koreaner, die vom chinesischen Reich der Mitte bedrängt wurden, entwickelten bereits in ihrer Frühgeschichte ein ungewöhnlich starkes Nationalgefühl. Die Griechen hatten eine gemeinsame Vorstellung von Hellas und teilten die bekannte Welt, die oikumene, in Griechen und Barbaren auf. Die Chinesen unterschieden das Reich der Mitte, das Zentrum der Welt (das von den Chinesen bevölkert wurde), von der äußeren Barbarei, die von anderen bewohnt wurde. Diese Art von Stammesoder Nationalbewußtsein, diese Neigung, zwischen in-group und out-group zu unterscheiden, findet sich in der gesamten menschlichen Geschichte« (Kamenka 1986: 590) (vgl. auch Kohn 1962: 31). Wir sollten allerdings vorsichtig sein, verschiedene historische Phänomene vorschnell zu identifizieren. So verführt beispielsweise die lange historische Kontinuität des Chinesischen Reiches dazu, mit modernen Kategorien die Geschichte zu rekonstruieren. Als massenmobilisierende Ideologie wurde der Nationalismus in China aber erst im 20. Jahrhundert mit der »4.-Mai-Bewegung« von 1919 relevant (vgl. Staiger 1991: 34). Protonationalismus, wie z. B. das stammesorientierte Denken, das sich auch in der Antike findet, sollte von modernem Nationalismus unterschieden werden. Der moder-

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ne Nationalismus beginnt im Vorfeld und im Zuge der Französischen Revolution. Erst ab dieser Zeit entsteht die Vorstellung von der Nation als »Urmasse des Staates«, die die Zugehörigkeit der einzelnen zum »Ganzen« regelt und neue Legitimitätsvorstellungen von Herrschaft und kollektiver Souveränität entwirft. »Seit der Französischen Revolution versteht man daher unter Nationalismus eine von breiten Schichten getragene politische Bewegung, welche die Bindung an die Nation zur höchsten gesellschaftlichen Bindung überhaupt erklärt und die Selbstbestimmung der Nation im Nationalstaat anstrebt. Der moderne Nationalismus hat ein Programm, das eine neue politische und soziale Wirklichkeit entwirft, und er ist organisiert« (Alter 1985: 60). Obwohl der Begriff der »Nation« auch schon wesentlich früher in der öffentlichen Diskussion verwendet wurde, war doch damit etwas anderes gemeint als das, was seit der Französischen Revolution darunter verstanden wird. Im »Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation« bezeichnete Nation lediglich den Hochadel. Die Bindung der Untertanen bestand vor allem noch an die Religion oder an Landschaften und Siedlungsgebiete (vgl. Kohn 1962: 120; Minogue 1970: llf.). Die »Nation«, als die Gesamtheit der politisch verantwortlichen Stände, schloß das »Volk« als die von der politischen Partizipation ausgenommenen Schichten aus. Nation und Volk waren hier also noch keine Synonyme, sondern Gegensätze (vgl. Dann 1991: 59). Erst das emanzipationsorientierte Bürgertum im 18. und mehr noch im 19. Jahrhundert politisierte den Begriff des »Volkes«, während der Begriff der »Nation« auf breitere Bevölkerungsschichten ausgedehnt wurde. Die englische Revolution von 1648, die amerikanische von 1776 und vor allem die französische von 1789 waren Schritte, »Volk« und »Nation« zu neuen politischen Fundamentalkategorien zu machen, die auch eine Umwertung von Herrschaftslegitimation umfaßte: »Erst seit der Französischen Revolution wird >im Namen des Volkes< in bewußtem Gegensatz zu >im Namen Gottes< gebraucht« (Koselleck u. a. 1992: 204). Die massenintegrative Wirkung des Nationalismus ist also ein relativ junges Phänomen in der Weltgeschichte. Da die Erklärung der Attraktivität dieser Ideologie eine zentrale Frage der vorliegenden Arbeit ist, auf die ich an einigen anderen Stellen noch zurückkommen werde, möchte ich mich hier darauf beschränken, einige allgemeine Entwicklungslinien der europäischen Geschichte darzustellen, die für die Genese dieses Phänomens von Bedeutung waren. Eine Erklärung ist hiermit noch nicht intendiert, sondern durch die Bezugnahme auf vorangehende und begleitende Phänomene soll lediglich eine historische Einordnung erleichtert werden. Das Europa des Mittelalters war bis zur Reformation in der Religion weitgehend geeint, in der politischen Gliederung aber durch zahlreiche Herrschaftsgebiete der verschiedenen Feudalherren zerstückelt, die sich mitunter erbittert bekämpften. Durch die Reformation mit ihren verschiedenen Zweigen (Luther, Calvin, Zwingli) war die geglaubte Einheit der Christenheit zerbrochen, was sich in zahlreichen Glaubenskriegen grausam zeigte. 1 Der herrschende Adel versuchte, entweder sich dem

1 Auf die Bedeutung des Zerfalls der »Einheit« der Christenheit, der Infragestellung der traditionellen religiösen Weltbilder und der Aufklärung werde ich an anderen Stellen noch ausführlich zu sprechen kommen.

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Einfluß des Papstes zu entziehen, indem er sich die neue christliche Religion zu eigen machte, oder aber mit dem Papst zu paktieren, um mit dessen Macht die eigene zu festigen und zu erweitern. Aus diesen Kämpfen um Macht, Boden und Religion, gingen mit wechselnden Koalitionen und Stärkeverhältnissen nach und nach die Zentralstaaten des Absolutismus hervor. »In allen größeren Territorien des europäischen Kontinents, aber auch in England, sammelt sich die Macht in der Hand des Fürsten, dem die Stände nicht gewachsen sind. Die >Autarkie der vielen< wird Schritt für Schritt ersetzt: in Frankreich, England, Spanien, Schweden und den habsburgischen Ländern durch die Königsmacht, in Italien und Deutschland durch kleinere Territorialherren, Duodezfürsten und Oligarchien der Stadtstaaten« (Bauer/Matis 2 1989: 191). Mit diesem Prozeß der Zentralisierung verbindet sich auch die Entstehung des »staatlichen« Gewaltmonopols. Der siegreiche Fürst erlangte eine zentralisierte Verfügung über die militärischen Machtmittel, die nur noch von ihm selbst oder mit seiner Erlaubnis angewendet werden dürfen. Auch die Verfügung über Abgaben und Steuern und der Einfluß auf den Aufbau der Verwaltung fällt zunehmend in die Hände des Zentralherren. Norbert Elias hat diesen Prozeß anschaulich zusammengefaßt: »Aus den Konkurrenz- und Ausscheidungskämpfen kleinerer Herrschaftseinheiten, der Territorialherrschaften, die sich selbst in den Ausscheidungskämpfen noch kleinerer Einheiten heranbilden, gehen langsam einige wenige und schließlich eine der kämpfenden Einheiten als Sieger hervor. Der Sieger bildet das Integrationszentrum einer größeren Herrschaftseinheit; er bildet die Monopolzentrale einer Staatsorganisation, in deren Rahmen viele der ehemals frei konkurrierenden Gebiete und Menschengruppen allmählich zu einem mehr oder weniger einheitlichen, einem besser oder schlechter ausgewogenen Menschengewebe höherer Größenordnung zusammenwachsen« ( 15 1990, Bd. 2: 435). Dieser kriegerische Entstehungsgeschichte der Zentralstaaten, auf denen die späteren »Nationalstaaten« aufbauten, sollte gedacht werden, wenn von einer quasi naturwüchsigen Zugehörigkeit bestimmter Territorien zu bestimmten »Nationen« die Rede ist. Der nächste entscheidende Schritt auf dem Weg zum Nationalstaat war die Amerikanische - und für die europäische Geschichte bedeutsamer - die Französische Revolution. In der politischen Philosophie hatte die Kategorie der »Nation« schon seit längerem eine erhebliche Aufwertung und Umdeutung erfahren. Montesquieu stellte sich die Staaten als kollektive Organismen vor, deren Ziele sich im »Geist« ihrer »Gesetze« ausdrückten. Rousseau konstruierte in seinem »Gesellschaftsvertrag« ein kollektives »Subjekt«, das durch einen Vertrag, geschlossen von freien Individuen, entsteht und mit einem Gemeinwillen (volonté générale) als kollektiver Verwirklichung der individuellen Freiheit gedacht wird. Groethuysen hat das politische Denken vor der Französischen Revolution auf einen treffenden Nenner gebracht: »Das Individuum hat auf der einen Seite das Bewußtsein der Unabhängigkeit, was seine Rechte anbetrifft, auf der anderen Seite das Bewußtsein, in ein kollektives, von Gesetzen regiertes Ganzes integriert, Teil der Nation zu sein« (1975: 150). In der Französischen Revolution wurde der teilweise erfolgreiche Versuch gemacht, die »Souveränität« 2 des absoluten Monarchen durch die »Souverä-

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Dieser Begriff ist insofern problematisch als hiermit eine ursprüngliche, nicht abgeleitete Herr-

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nität« der »Nation« zu ersetzen. Wer war aber die Nation? Wer sollte berechtigter Teilhaber der neuen »Souveränität« werden? Die berühmte Formel des Abbé Sieyès, die er 1789 verkündete, verknüpfte die Repräsentation des »nationalen Willens« in einer gesetzgebenden Versammlung (volonté nationale) und die Gleichsetzung von »Nation« und »Drittem Stand«: »Was ist eine Nation? Eine Körperschaft von Gesellschaftern, die unter einem gemeinschaftlichen Gesetz leben und durch dieselbe gesetzgebende Versammlung repräsentiert werden usw. [...] Der Dritte Stand umfaßt also alles, was zur Nation gehört; und alles was nicht der Dritte Stand ist, kann sich nicht als Bestandteil der Nation ansehen. Was also ist der Dritte Stand? ALLES« (Sieyès 1975 [1789]: 124f.). Wer aber war der »Dritte Stand«? Alle, die nicht dem Adel oder dem Klerus angehörten? Sieyès hatte hier das wohlhabende Bürgertum im Auge: »War bei den Wahlen zu den Etats généraux 1789 noch allen erwachsenen, männlichen Steuerzahlern das Wahlrecht übertragen worden, so hatte die entscheidend auf Sieyès zurückgehende Einteilung der Bevölkerung in aktive und passive Staatsbürger dazu geführt, daß mit der Verfassung von 1791 die Schwelle noch angehoben und das Wahlrecht an eine Mindeststeuerleistung gebunden wurde, wodurch weitere Millionen von Franzosen von der aktiven Teilnahme am politischen Leben ausgeschlossen wurden« (Dippel 1986: 28) In der »Erklärung der Communes zur Nationalversammlung vom 17. Juni 1789« verkündete Sieyès: »Die Frauen, zumindest im jetzigen Stadium, die Kinder, die Ausländer und auch diejenigen, die nichts zur öffentlichen Gewalt beitragen, dürfen keinen aktiven Einfluß auf das Gemeinwesen nehmen« (Sieyès 1975 [1789]: 251). Die Französische Revolution warf das nach wie vor relevante Problem des »souveränen Kollektivs« auf, das, sobald mit dem Prädikat der »Souveränität« bezeichnet, definiert werden muß. Durch die Französische Revolution wurde die »Nation« zur fundamentalen politischen Kategorie. Andere »Nationalbewegungen« beriefen sich zum Teil - oder zeitweise - auf die revolutionäre »Nation« der Franzosen oder begannen »eigene« Konstruktionen der »Nation« zu entwerfen. 3 Mit welchen Kriterien die »Nation« auch immer bestimmt wurde, diese fundamentale Kategorie des politischen Kollektivs wurde an Erfolg von keiner anderen übertroffen - bis heute. »Die Nation, die Nationalität, der Nationalismus haben den ganzen Planeten überzogen. Der Anspruch auf Nationalität ist zu einem universellen Anspruch geworden« (Morin 1991a: 92) Bei der Betrachtung des Rassismus ist es ebenso geboten zwischen Protorassismus und modernem Rassismus zu unterscheiden. Der Rassismus ist ebenso wie der Nationalismus keine monolithische Ideologie, so daß es besser wäre, von Nationalismen und Rassismen zu sprechen. Da es in dieser

schaft bezeichnet werden soll. Dieses Begriffsverständnis verschleiert den Umstand, daß Herrschaftsverhältnisse ein Produkt politischer Prozesse sind und nicht dem Politischen überhaupt, d. h. ursprünglich und nicht abgeleitet vorausgehen. 3 Die Enttäuschung über das gebrochene Versprechen, das die Deputierten der Konstituante gegeben hatten, nämlich niemals die Freiheit eines anderen Volkes anzutasten, wurde in Deutschland nach den Eroberungskriegen der Franzosen besonders heftig empfunden.

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Untersuchung aber weniger darum geht, einen Vergleich der verschiedenen Rassismen und Nationalismen zu unternehmen, werden im weiteren Gang der Untersuchung Nationalismus und Rassismus vor allem in ihrer Bedeutung als Konstituierungspotentiale von individueller Existenz, Gesellschaft und Geschichte von Interesse sein. Die ältesten Wurzeln eines »rassistischen« Denkens und Glaubens lassen sich bis in die Anfänge (1500 v.u.Z.) des indischen Kastensystems zurückverfolgen (vgl. Geiss 1988: 48ff.). Die Eroberung durch hellhäutige »Arier« (so die Selbstbezeichnung, die übersetzt die »Edlen« bedeutet) war hier die Voraussetzung zur Errichtung des indischen Kastenwesens, das in veränderter Form trotz Verfassungsverbot bis heute fortbesteht. Die Zugehörigkeit einer Kaste wird noch heute durch die Geburt (»Jati«) festgelegt. »Die Kasten (>Jatirassisch Minderwertigem mußten ausweglos in ihrem Zustand festgehalten werden« (1990: 10). Diese Geschlossenheit des konstruierten Kollektivs ist ein häufig vorkommendes Element sowohl des rassistischen wie auch des nationalistischen Denkens, auf die ich an anderer Stelle noch zurückkommen werde. Auf dieser Grundlage löste der rassistische Antisemitismus den religiösen Antijudaismus ab. Die Juden wurden nicht mehr primär als Religionsgemeinschaft, sondern als biologisch festgelegte Rasse betrachtet. »Als vom späten achtzehnten Jahrhundert an die Wissenschaft sich entwickelte und auf die Natur wie auch später im engeren Sinne auf die Gesellschaft angewendet wurde, nahm die >RassenRasse< bezog sich nun in zunehmendem Maße auf einen biologischen Menschentypus, und die Wissenschaft gab vor, nicht nur die Anzahl und jeweiligen Charakterzüge der Rassen, sondern auch eine hierarchische Beziehung zwischen ihnen nachweisen zu können« (Miles 1991: 44). Zunächst waren aber nicht die Juden Hauptgegenstand der rassistischen Betrachtung, sondern die Menschen, die ab Ende des 15. Jahrhunderts durch den beginnenden Kolonialismus als »Andersartige« entdeckt und erobert wurden. »Juden in Übersee stiegen als Weiße in die Solidargemeinschaft der Euramerikaner gegenüber Indios-Indianern und Schwarzen auf. Antijudaismus bzw. Antisemitismus spielte daher in der neuen Welt eine untergeordnete Rolle, während in der alten Welt umgekehrt Schwarze zunächst marginal blieben« (Geiss 1988: 110). Während »Schwarze« und »Gelbe« im Mittelalter oft noch mit dem Reiz des Exotischen bewundert wurden, wie der außerordentliche Erfolg von Marco Polos Reisebeschreibungen beispielhaft belegt (vgl. Poliakov/Delacampagne/Girard 1979: 63), veränderte sich dies, als die militärisch-technische Überlegenheit der Europäer, die sich in den kolonialen Eroberungszügen zeigte, als rassische Überlegenheit interpretiert wurde. Zwar räumten die vorherrschenden europäischen Darstellungen des afrikanischen Menschen bis zum Ende des 18. Jh. explizit oder implizit ein, daß die »festgestellten« Unterschiede, keine invariablen seien, betonten jedoch die Minderwertigkeit der Schwarzen. »Wiewohl nun die vorherrschende Ansicht dahin ging, daß der Afrikaner ein menschliches Wesen, ein Teil von Gottes Schöpfung sei und milieubedingte Charakterzüge trage, galt er dennoch als menschliches Wesen minderen

5 Im Gegensatz zum modernen Rassismus stellen Poliakov/Delacampagne/Girard aber fest, daß der erbliche Makel der Marranen [Schimpfname für die zwangsgetauften Juden, P. B.] eher kultureller als politischer Art gewesen sei. Was man bei ihnen befürchtete, war die leicht zu erklärende Neigung zur Häresie (vgl. 1979: 59).

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Ranges« (Miles 1991: 42). Ein weiterer Anstoß zur Rassenideologie wurde durch französische Aristokraten gegeben, die solchermaßen auf die Illegitimität ihrer genommenen Privilegien hinweisen wollten. Sie behaupteten, daß der französische Adel von germanischen und fränkischen Eroberern, die übrige Bevölkerung von den unterworfenen Galliern abstamme. Eine Einschränkung ihrer Privilegien war nach ihrer Deutung ein Verstoß gegen die weitervererbten Rechte der fränkischen Eroberer (vgl. Marten 1987: 57). Sehr bedeutend für die Entstehung der Rassenideologie war das angeschlagene christliche Menschenbild 6 ; »die kirchliche Gottesidee wurde zunehmend durch eine materialistische Idee der Einheit von Leib und Seele überlagert, der zufolge man vom Körperzustand auf den Seelen- und Geisteszustand der Menschen rückschließen zu können glaubte, wie die Physiognomik Lavaters (1741-1801) sowie die Phrenologie Galls (1758-1828) zu belegen versuchten« (Marten 1987: 58). Die politische Sprengkraft des Rassismus geht nicht zuletzt auf die enge Verbindung zum Nationalismus zurück. Die Verbindung geht soweit, daß die Begriffe »Nation« und »Rasse« häufig synonym gebraucht wurden. Dies gilt in besonderem Maße für die nationalistische/rassistische Bewegung in Deutschland, die in der »Christlichdeutschen Tischgemeinschaft« von 1811-1813 bereits einen Vorläufer hatte. Dieser Gemeinschaft gehörten beispielsweise Clemens v. Brentano, Heinrich v. Kleist, Friedrich v. Savigny und Johann Gottlieb Fichte an. Die Gemeinschaft nahm keine Juden, Getaufte oder deren Nachkommen auf und griff damit historisch auf die »Blutreinheit« zurück (vgl. Geiss 1988: 269). Aber auch im baskischen Nationalismus gab es eine enge Verbindung zum Rassismus. Mit dem Glauben an einen »kollektiven baskischen Adel«, der die »Blutreinheit« betonte, wurde auch die Überzeugung ausgedrückt: »Nur die Basken hätten seit der Reconquista ihr Volk >rein< von Juden und Mauren gehalten, im Gegensatz zu Spanien« (Geiss 1988: 157). Wenn, wie John Stuart Mill einmal gesagt hat, der Nationalismus vor allem von dem Wunsch bestimmt wird, »unter derselben Regierung zu stehen, und zwar unter einer Regierung, die ausschließlich entweder durch sie selbst oder durch Personen aus ihrer Mitte gebildet wird« (in: Hobsbawm 1991: 30), dann war der Rassismus vor allem eine willkommene Ergänzung des Nationalismus, weil dieser mit der Aura der »Wissenschaftlichkeit« umgeben, den Anschein erweckte, die »Mitte«, aus der sich die politische »Souveränität« bilden solle, mit »naturwissenschaftlicher« Genauigkeit bestimmen zu können. Dies führte zu solchen Absurditäten wie beispielsweise im Großbritannien des 19. Jahrhunderts, wo die Iren als »Rasse« mit deterministisch ausgestatteten Eigenschaften betrachtet wurden (vgl. Miles 1991: 79). Die an den Naturwissenschaften orientierten rassistischen Darstellungen des Kollektivs sollten aber nicht voreilig als materialistisch-biologistische Deutung von Kollektivität interpretiert werden. Das dem Kollektiv unterstellte Leben (Bios) war nie und ist nicht naturwissenschaftlich nachzuweisen. Es ist ein geglaubtes mystisches Leben, auf das an späteren Stellen noch zurückgekommen werden soll.

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Ich werde an anderen Stellen noch auf die für die Entstehung des Rassismus aber auch des Nationalismus entscheidende Bedeutung zurückkommen, die der Zerfall der traditionellen religiösen Welt- und Menschenbilder hatte.

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Im deutschen Sprachgebrauch ist der Begriff des »Volkes« als politisches Kollektivum zu großer Bedeutung gelangt. Sofern dieses Wort nicht als Synonym für die »Nation« gebraucht wurde, wie sie die Französische Revolution geprägt hatte, rückte dieser Begriff im Zuge der deutschen Romantik in den allgemeinen Sprachgebrauch. »Ursprünglich bedeutet >Volk< nichts anderes als eine Anzahl von anschaulich gegenwärtigen Menschen, also: Haufe, Menge, ganz allgemein Leute. Genau diesem Sinn entspricht das englische Wort >people< und die namentlich in Amerika gebräuchliche Anrede >folksgens< verwendet, z.B. >multa gente< (viele Leute, früher sagte man auch bei uns: viel Volk), frz. >gens d'affaires< (Geschäftsleute). Im Deutschen hat sich diese Bedeutung in verschiedenen z. T. archaisch anmutenden Ausdrücken erhalten, wie >VolksauflaufVolksmengeKriegsvolkFußvolkMädchen aus dem Volk< u. dgl.« (Francis 1965: 69) Weitere Bedeutungen, wie z.B. Bevölkerung eines irgendwie geographisch begrenzten Gebietes, kommen in den Wörtern »Volkszählung« oder »Volksgesundheit« zum Ausdruck oder »Volk« im Sinne von das einfache, gemeine, oder niedrige »Volk« (vgl. Francis 1965: 69). Die mystisch-spekulative Bedeutung von »Volk« als ein Verband des »Geistes« oder besser gesagt »Volksgeistes« bekam das Wort erst im 18. und besonders im 19. Jahrhundert, wobei vor allem Herder und Hegel als Vordenker genannt seien. »Das Volk wurde als ein Stück der von Gott geschaffenen natürlichen Ordnung mythologisiert und als das spontan oder >organisch< Gewordene dem bloß künstlich gemachten, von einer (staatstragenden) Oberschicht bewußt Geschaffenen gegenübergestellt« (Francis 1965: 72). »Volk« in diesem Sinne wurde in der deutschen Nationalbewegung auch in bewußtem Gegensatz zu »Nation« verwendet. Die »Nation« wurde den Franzosen zugerechnet, von denen man - nach anfänglicher Sympathie für die Revolution - nach der Kaiserkrönung Napoleons und den Expansionskriegen enttäuscht war. Die ablehnende, nicht selten haßerfüllte Haltung gegenüber der französischen Nation, ließ »Volk« in der deutschen Nationalbewegung zu einem Begriff werden, der die »Eigenart« auch in der Bezeichnung zum Ausdruck bringen sollte. 7 Kann man für die Begriffe »Nation«, »Rasse«, »Volk« sagen, daß diese Kollektiva zur Kennzeichnung politischer »Einheiten« im 18. und 19. Jahrhundert herangezogen wurden, so ist für den Begriff der »Ethnie« (ethnos) s festzustellen, daß diese Kategorie erst seit ein paar Jahrzehnten, zunächst in der amerikanischen Diskussion, zur Beschreibung von Gruppenzugehörigkeiten reaktiviert wurde (vgl. Dittrich/Radtke (Hg.) 1990: 26f.). Ob die Beschreibung von Kollektivitäten mit diesem Begriff besser geleistet werden kann, ist indessen sehr fraglich. »Die Idee des >Volksgeistes< oder

7 »>Volk< wird gleichsam ein spezifisch deutscher Kompensationsbegriff, der einlösen sollte, was der französische Nachbar mit >nation< nicht nur auf den Begriff gebracht hatte, sondern auch verwirklicht zu haben schien. Der im Deutschtum vagierende Wortwechsel zwischen >Volk< und >Nation< zeugt deshalb von strukturellen Gemeinsamkeiten mit den Nachbarn wie auch vom Willen, sich als deutsches Volk< spezifisch auszuweisen und abzugrenzen« (Koselleck u.a. 1992: 149). 8 Der griechische Begriff ethnos (Schar, Schwärm, Gruppe, Volk) wurde »seit dem 5. Jh. zuerst gelegentlich, später regelmäßig als Bezeichnung des Stammstaates der Polis, dem Stadtstaat, entgegengestellt« (Gschnitzer 1965: Sp. 890).

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Die historische Genese der modernen politischen

Kollektivitätskonstruktionen

der >völkischen EigenartRasse< im Spanien der Reconquista (1064-1492) (>razaRas< erweisen und das vielfältige Spektrum seiner Bedeutungen mühelos erklären >AbstammungDynastieKönigshausrazarace< als Synonym für >Generation< innerhalb einer adligen Familie zum Nachweis adliger Abstammung und adligen >Bluts«< (Geiss 1988: 16f.). Im »Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation« war mit Nation ebenfalls der führende Hochadel gemeint. Die Gemeinschaft des »edlen Blutes«, als die sich der Adel betrachtete, war also durchaus schon im Mittelalter mit den Begriffen »Rasse« und »Nation« verbunden, nur daß damit eine kleine Gruppe und nicht eine abstrakte politische Gesamtheit gemeint war. Erst mit der Vorstellung, daß »Nation« und »Rasse« Kategorien werden, mit denen sich die einzelnen der Gattung »Mensch« zuverlässig einem Kollektiv zuordnen lassen sollen, wurde auch die »Blutgemeinschaft« auf ein abstraktes politisches Kollektiv bezogen. »Inzwischen ist längst erwiesen, daß entgegen jenen humanistischen und romantischen, vielfach heute noch im Volksglauben lebenden Vorstellungen nicht einmal der Stamm eine Abstammungsgemeinschaft darstellt« (Lemberg 1964: 41).

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Die substantialisierten

Bänder des

Kollektivs

In der antiken Gesellschaft war nicht einmal die Familie primär durch Blutsverwandtschaft bestimmt, sondern durch einen gemeinsamen religiösen Kult. Das Wort Familie ist von lat. famulus (Diener) bzw. lat. familia (Gesamtheit der Dienerschaft) abgeleitet. Der französische Historiker Numa Denis Fustel de Coulanges schrieb in seiner 1864 zuerst veröffentlichten »La Cité antique«: »Die antike Familie ist eher eine religiöse als eine von der Natur geschaffene Vereinigung. [...] daß der Sohn nicht mehr zur Familie gehört, wenn er auf den Kult verzichtet oder emanzipiert worden ist; daß dagegen der adoptierte Sohn als leiblicher betrachtet wird, weil ihn statt der Bande des Blutes etwas Stärkeres, die Gemeinschaft im Kult, mit der Familie verbindet; daß der Erbe, der den Kult der Familie anzunehmen sich weigert, die Erbschaft nicht antreten kann; daß schließlich die Blutsverwandtschaft und das Erbrecht nicht nach der Geburt, sondern nach den Rechten der Teilnahme am Kult, wie die Religion sie eingeführt hatte, bestimmt wurde« (1988: 62f.). Auch die Zusammenschlüsse in den größeren Gemeinschaften der Gens, Phratrie, Kurie, Tribus und schließlich der Stadt wurden primär durch einen gemeinsamen religiösen Kult konstituiert. Der gemeinsam verehrte Ahnherr war ein religiöser, kein biologischer Stammsater (vgl. Fustel de Coulanges 1988 [1864]: 161). Die Rede von einer gemeinsamen biologischen Abstammung wird um so absurder, je mehr sie sich auf abstrakte Großgruppen bezieht, weil hier durch Wanderungsbewegungen und vielfältigen Austausch zahlreiche Vermischungen stattgefunden haben. Die Gruppen, die heute als »Nationen« bezeichnet werden, sind ein biologisches Gemisch. Ich stimme deshalb Lemberg zu, der in der Rede über eine »nationale Abstammung« nicht eine empirische Realität, sondern das Fortwirken eines urzeitlichen Glaubens an »die magische Kraft des Blutes« sieht (1964: 41). Da die Vorstellung »nationaler Abstammungsgemeinschaften« in enger Verbindung mit der Vorstellung von »Rassen« steht, ist nun diese Kategorie näher zu betrachten. Die meisten »Rassentheoretikern« unterstellen, daß Rassen genetisch festgelegte, meist phänotypisch unterscheidbare Menschheitskategorien sind, die zudem qualitativ hierarchisiert werden können. Die Unterscheidung der Menschen nach biologisch-erblichen oder genetischen Merkmalen ist selbstverständlich möglich; aber welche Merkmale sind relevant für die Zugehörigkeit zu einer »Rasse«? Poliakov/Delacampagne/Girard haben in ihrer Studie zum Rassismus auf die Willkürlichkeit der herangezogenen Rassenmerkmale und ihre Kombinationen hingewiesen. Wenn man nur etwa zwanzig der erblichen Merkmale nähme - ihre Anzahl ist unendlich viel größer - die verschiedenen Kombinationen, die sie miteinander bilden können, so erreichte man eine Million und darauf müßte man auf eine Millionen Menschenrassen schließen (vgl. 1979: 17). 9 »Rassen« entstehen nicht genetisch, d.h. sie sind nicht durch festgelegte biologische Merkmale einfach vorhanden, sondern sie entstehen durch eine Bedeutungskonstruktion, die Robert Miles auf zwei Selektionsebenen festgestellt hat: »Die erste ist die Selektion biologischer oder somatischer Eigenschaften allgemein; sie dient als

9

Ein Blick in die Rassenkonzeptionen einiger bekannter »Rassentheoretiker« belegt sowohl die Beliebigkeit der Unterscheidungskriterien als auch die daraus resultierende Anzahl der »Rassen« (vgl. Geiss 1988: 142ff.).

Das Band des Blutes und der Gene

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Mittel der Klassifizierung und Kategorisierung. Die zweite ist eine Selektion aus der verfügbaren Bandbreite somatischer Eigenschaften, wobei diejenigen ausgewählt werden, die als Bedeutungsträger einer angenommenen Differenz zwischen den Menschen gelten sollen. [...] Wenn man sich also der >RassenRassen< sind gesellschaftliche Fiktionen, keine biologischen Realitäten« (1991: 95f.). Der Genetiker Luigi Luca Cavalli-Sforza kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, daß »Rassen« wissenschaftlich unbrauchbare Kategorien sind: »Keine menschliche Gruppe ist biologisch rein, wie es ein Stamm von Labormäusen sein kann. Nimmt man ein Mäusepaar und erlaubt seinen Nachkommen, sich zwanzig Generationen lang nur zwischen Brüdern und Schwestern fortzupflanzen, erhält man eine >reine RasseRasse< im eigenen Bewußtsein. Wer einer ausgesprochenen, reinen Rasse angehört, empfindet es täglich« (Chamberlain 29 1944: 272). Um die »Rasse« zu verwirklichen, bedarf es nach Chamberlain der »Nationen«: »Fast immer ist es die Nation, als politisches Gebilde, welche die Bedingungen zur Rassenbildung schafft oder wenigstens zu den höchsten, individuellsten Betätigungen der Rasse führt« ( 29 1944: 290).

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Virchows Untersuchung wird in den »Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts« ausdrücklich erwähnt ( 2 9 1944: 486).

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Die substantialisierten

Bänder des Kollektivs

Bei Chamberlain, der einer der geistigen Wegbereiter der nationalsozialistischen Rassenideologie war, findet sich bereits der Versuch, die kontrafaktische biologische Reinheit durch den Rückzug auf eine spekulative Rassenseele zu retten. »Rasse«, »Nation«, »Volk« oder »Ethnien« sind keine biologisch bestehende Einheiten. Die Rettung der Abstammungsgemeinschaft durch den Verweis auf andere fragwürdige Kriterien, wie etwa »Rassenseele«, »Volksgeist« oder kulturelle Abstammung (Kulturnation) ist ein Versuch, die offensichtliche Unhaltbarkeit der »biologischen Abstammungsgemeinschaft« durch Rückzug auf etwas Geistiges oder spekulativ Spirituelles dennoch aufrechtzuerhalten. Da ich auf das Kriterium der »Kultur« noch an anderer Stelle zurückkommen werde, möchte ich hier nur ein Beispiel für diesen Versuch aufzeigen. Für Tilman Mayer ist beispielsweise die Nation als Abstammungsgemeinschaft dann falsch, wenn eine unilineare Entwicklung angenommen werde, die sich durchhalte. Es seien eben nicht alle Vorfahren der heutigen Deutschen Deutsche im ethnischen Sinne gewesen, noch seien alle Nachfahren der Deutschen des 12. Jahrhunderts heute etwa Deutsche (Mayer 1986: 27). Mayer rettet dann die »Abstammungsgemeinschaft« durch den nicht überzeugenden Versuch, dem Volk (Ethnos) eine letztlich kulturelle Abstammungshomogenität zu unterstellen. Das Volk, so Mayer, sei eine Abstammungsgemeinschaft, die sich aus verschiedenen Stämmen oder Großstämmen zusammensetze. Gemeinsame Traditionen und Lebensweisen und eine einheitliche Sprache kennzeichneten dieses dynamische soziale Gebilde. Das Volk sei eine vorpolitische Einheit (vgl. Mayer 1986: 149). Dieses Denken verleitet Mayer dann zu folgender Verkenntnis: »Die Deutschen sind eine einheitliche homogene Nation, weil sie eine ethnische Abstammungsgemeinschaft, eine Nationalität sind und haben; weil sie eine Schicksalsgemeinschaft bilden (>die< Deutschen); weil sie eine Kulturgemeinschaft, eine Kulturnation darstellen, die sich von anderen abgrenzen läßt; weil sie eine Siedlungsgemeinschaft und schließlich eine Willensgemeinschaft bilden« (Mayer 1986: 107). Der Glaube an die Existenz von rassischen, nationalen, völkischen oder ethnischen Abstammungsgemeinschaften ist leider ein sehr zählebiger Mythos. Dies wird auch deutlich, wenn man die Aussiedler-Anerkennungspraxis der deutschen Behörden betrachtet, die sich immer noch anmaßen - oder dazu gezwungen sind - , über die »Deutschstämmigkeit« von Individuen entscheiden zu können. Die Anerkennung erfolgt mit Kriterien, deren Grundlagen auf nationalsozialistische »Volkslisten« zurückgehen (vgl. Spiegel, Nr. 52/1989: 54ff.). Zur Erinnerung: Heinrich Himmler, der im Oktober 1939 zum »Reichskommisar für die Festigung des deutschen Volkstums« ernannt worden war, verkündete einmal: »Alles gute Blut in der Welt, alles germanische Blut, was nicht auf deutscher Seite ist, kann einmal unser Verderben sein. Es ist deswegen jeder Germane mit bestem Blut, den wir nach Deutschland holen und zu einem deutschbewußten Germanen machen, ein Kämpfer für uns und auf der anderen Seite ist einer weniger. Ich habe wirklich die Absicht, germanisches Blut in der ganzen Welt zu holen, zu rauben und zu stehlen, wo ich kann« (in: Hermand 1988: 328). Vor diesem Hintergrund müssen auch die nationalsozialistischen »Volkslisten« betrachtet werden, in denen vier Klassen von Volks- und Staatszugehörigkeiten unterschieden wurden. In der Gruppe 3 wurden beispielsweise polnische »Volkszugehörige« erfaßt, denen man eine deutsche Herkunft bzw. »Blutsverwandtschaft« zusprach.

Das Band der Sprache

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Die so klassifizierten Männer mußten deutsche Soldaten werden. Wer sein »deutsches Blut« nachweisen kann, weil der Vater oder Großvater in dieser Kategorie geführt wurden, hat heute gute Chancen als »deutschstämmig« anerkannt zu werden (vgl. Spiegel, Nr. 52/1989: 54). Aber auch hier wird nicht nur mit einer haltlosen biologischen Abstammung operiert, sondern der Antragsteller muß mit Zeugenaussagen nachweisen, daß er das »deutsche Volkstum« gepflegt hat.11 Daß die vorgestellte »Blutgemeinschaft« nicht weit davon entfernt ist, zur blutigen Gemeinschaft zu werden, zeigt sich bedauerlicherweise auch im ehemaligen Jugoslawien. Nicht nur die von den Serben durchgeführten »ethnischen Säuberungen« belegen dies, sondern auch Äußerungen kroatischer Politiker und Journalisten, die ihre Reinheit vom »byzantinischen Blut« der Serben - das mit verschlagen, schmutzig, betrügerisch in Verbindung gebracht wird - bekunden. So erklärte der Präsident seinen Stolz darüber, eine »reinblütige« Kroatin zur Frau zu haben (vgl. Die Zeit, Nr. 44/1992: 66). Es sind gewiß die blutigen Grausamkeiten, die die Gläubigen des »Blutes« hervorgebracht haben, die uns zur Kritik dieses Wahns drängen, aber auch die hervorgebrachten Absurditäten, die kaum noch zu überbieten sind. So wurde beispielsweise in Parteizirkeln der NSDAP ernsthaft behauptet, daß die Feindschaft zwischen Hund und Katze daher rühre, daß der Hund schon immer das Haustier der Arier gewesen sei, während die Katze durch asiatische Völkerschaften nach Europa gebracht worden sei. In Oberbayern durften Kühe und Bullen, die von jüdischen Besitzern »stammten«, nicht zur Zucht verwendet werden (vgl. Mühlen 1977: 141). Während des Ersten Weltkrieges wurde von französischen Ärzten behauptet, daß französische Kampfflieger die deutschen Stellungen hätten riechen können, weil die Deutschen an einer rassenspezifischen Darmüberfunktion litten. Die Pariser Medizinische Gesellschaft veröffentlichte 1917 einen Bericht über relativ leichte und sichere Methoden zur Entlarvung deutscher Spione: der Urin von Deutschen enthalte - so die »Wissenschaftler« - 20% Stickstoff, während der normale Stickstoffgehalt sich nur auf 15 % belaufe (vgl. Mühlen 1977: 141f.).

3.2

Das Band der Sprache

Das Kriterium der Sprache wird häufig herangezogen, wenn es darum geht, »Nationen«, »Völker« und »Ethnien« zu definieren und voneinander abzugrenzen. Zunächst fällt hierbei auf, daß sich die Sprachgemeinschaften nicht mit den Kollektiven dekken, die sich heute als »Nationen«, »Völker« oder »Ethnien« bezeichnen. »Während heute nahezu alle modernen Nationen - und auch Nationalstaaten >nationale Schriftsprachen besitzen, muß eine Vielzahl von ihnen ihre Sprache entweder mit anderen teilen, oder es gebraucht nur ein geringer Teil der Bevölkerung die Nationalsprache in der Unterhaltung oder auf dem Papier. Die Nationalstaaten des spanischsprachigen Amerika oder der angelsächsischen Familie< sind herausragende Beispiele für die erste Konstellation, viele ehemalige Kolonialstaaten, besonders in

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Weitere Informationen zur Anerkennungspraxis von Aussiedlern sind neben der bereits erwähnten Ausgabe des Spiegels auch in der Nr. 14/1992, 95f. zu finden.

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Die substantialisierten

Bänder des Kollektivs

Afrika, für die zweite. Mit anderen Worten: Die konkrete Gestalt heutiger Nationalstaaten stimmt nie genau mit der Reichweite einzelner Schriftsprachen überein« (Anderson 1988: 53). Bezieht man in die Betrachtung der Sprachgemeinschaften auch die existierenden Umgangssprachen oder Mundarten mit ein, wird noch deutlicher, wie wenig das Kriterium der Sprache geeignet ist, eine homogene »Sprachnation« begrenzen zu können. Wer beispielsweise die unterschiedlichen deutschen Mundarten etwas besser kennt, wird Eugen Lemberg gerne zustimmen, der einmal gesagt hat, daß mancherorts der Übergang von der Mundart zur Hochsprache von dem Erlernen einer Fremdsprache nur noch graduell verschieden sei (vgl. 1964: 38). Die Genese der »nationalen Schriftsprachen« ist eng mit der Genese der modernen politischen Kollektivitätsvorstellungen verbunden. Einerseits hat die zunehmende Abwendung vom »Latein der Gelehrten« 12 die Vorstellung einer zusammenhängenden Kommunikationsgemeinschaft gefördert, andererseits haben die Ideen und Vorstellungen über die »Nation« oder das »Volk« erst die Verbindlichkeit der Schriftsprachen hergestellt. Den ersten Aspekt hat Anderson verdeutlicht, indem er das Zusammenwirken von dem Aufkommen des Buchdrucks und den entstehenden kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen - die einen neuen Buchmarkt hervorbrachten - als entscheidend für die Genese der »Nationalsprachen« hervorgehoben hat. »Diese Schriftsprachen schufen auf drei verschiedene Weisen das Fundament für das Nationalbewußtsein. Vor allem bildeten sie die einheitliche Grundlage für den Austausch und die Kommunikation unterhalb des Lateinischen und oberhalb der gesprochenen Umgangssprachen. Menschen, die die verschiedensten französischen, englischen und spanischen Idiome gebrauchten und darum nur schwer oder gar nicht miteinander reden konnten, vermochten sich nun mit Hilfe von Buchdruck und Papier zu verständigen. In diesem Prozeß wurden sie allmählich der Hunderttausende, ja Millionen Menschen in ihrem eigenen Sprachbereich gewahr - und gleichzeitig der Tatsache, daß ausschließlich jene Hunderttausende oder Millionen dazu gehörten. Diese Mit-Leser, mit denen sie über den Buchdruck verbunden waren, bildeten in ihrer besonderen, diesseitigen und ersichtlichen< Unsichtbarkeit den Beginn der national vorgestellten Gemeinschaft« (1988: 51). Diesen Prozeß darf man sich aber nicht so denken, daß zuerst die Sprachgemeinschaften oder vorgestellten Mit-Leser-Gemeinschaften entstanden, die dann zu den »Nationen« wurden. Es war die Idee des »Volkes« oder der »Nation«, die die Gebildeten beflügelte, Grammatiken, Wörterbücher, Übersetzungen, Zeitschriften zu verfassen, die dann wiederum Voraussetzung waren, die neuen Hoch- und Schriftsprachen zu verbreiten (vgl. Bergeron/Furet/Kosselleck 1969: 291 f.). Auch in »Nationalstaaten«, wie beispielsweise Frankreich, die auf die vorherige Existenz von absolutistischen, zentralen Verwaltungsstaaten aufbauten, ging die Sprachgemeinschaft nicht der »Nation« voraus. Im Jahre 179413 wurde in Frankreich

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Nach heutigen Schätzungen erreichte die deutsche periodische Tagespublizistik um 1750 mit 100-120 Unternehmen ca. eine Millionen Leser, während das Latein als Publikationssprache zunehmend marginalisiert wurde (vgl. Giesen/Junge 1991: 267). Genau 200 Jahre später zeigt der Gesetzentwurf von Kultusminister Toubon, mit dem die öffentliche Verwendung ausländischer Wörter unter Strafe gestellt werden soll, die Aktualität der

Das Band der Sprache

35

eine Erhebung durchgeführt, die unter anderem Aufschluß über die Verbreitung der französischen Sprache geben sollte. Diese Erhebung ergab, daß nur in etwa fünfzehn Departements im Inneren des Landes die französische Sprache ausschließlich gesprochen wurde, dagegen wurden noch ungefähr dreißig »patois« mit eigenem Namen verwendet (vgl. Francis 1965: 116). Erst 1794 beschloß dann die französische Nationalversammlung ein staatliches Schulwesen einzuführen, um vor allem in den fremdsprachigen Regionen das Französische als Unterrichtssprache einzurichten (vgl. Francis 1965: 120). Die Eindämmung der occitanisehen, katalanischen, baskischen, bretonischen oder korsischen Sprache - die zum Teil heute noch in Frankreich gesprochen werden - und die damit hergestellte allgemeine Verbindlichkeit der französischen Sprache ist das Ergebnis der Vorstellung einer französischen Sprachnation. Ernest Renan war sich der Untauglichkeit der Sprache als Abgrenzungskriterium bewußt, als er 1882 erklärte: »Es gibt im Menschen etwas, das seiner Sprache überlegen ist: das ist sein Wille. Der Wille der Schweiz, geeint zu sein, trotz der Verschiedenheit der Sprache, ist eine viel wichtigere Tatsache als eine Gleichförmigkeit der Sprache, die oft durch Unterdrückung erreicht wird« (in: Vogt 1967: 140). Dies bedeutet nicht, daß die Sprache für die Vorstellung der »Nation« oder des »Volkes« unerheblich ist, sondern nur, daß die Sprache als Abgrenzungskriterium, also für die Definition politischer Kollektivität untauglich ist. Der Bezug auf eine gemeinsame »Muttersprache« kann die Interaktionsbereitschaft erhöhen und solidarische Gefühle erzeugen helfen. Die »Sprachnation« ist ein wirkungsvolles Symbol für ein Kollektiv, dessen Individuen sich als »Gemeinschaft der gegenseitig Verstehenden« betrachten; dies gilt um so mehr, als die Metapher »Muttersprache« einen Zustand geschwisterlicher Liebe suggeriert. »Die »Muttersprache« ist nicht unbedingt die der realen Mutter. Die sprachliche Gemeinschaft ist eine aktuelle Gemeinschaft, die das Gefühl vermittelt, daß sie immer existiert hat« (Balibar/Wallerstein 2 1992: 121f.). Die Genese der »nationalen Schrift- und Hochsprachen« muß gewiß auch im Zusammenhang von industrieller Modernisierung gesehen werden, wie dies beispielsweise Gellner hervorgehoben hat. Die Industriegesellschaft erfordere, so Gellner, aufgrund ihrer hochentwickelten Technologie, der Erwartung anhaltenden Wachstums und den Anforderungen einer mobilen Arbeitsteilung, eine häufige und präzise Kommunikation, die auch schriftlich übermittelt werden müsse (vgl. 1991: 55). Gellner verkennt aber - indem er die Bedeutung psychischer Faktoren leugnet bzw. bagatellisiert (vgl. 1991: 57) - die emotionale Bindekraft der Sprache, die auf einen einfachen Nenner gebracht, als die Sehnsucht nach einer säkularen Gemeinschaft des »Geistes« betrachtet werden kann. Dieser Sehnsucht entspricht der Wunsch, einer als ursprünglich vorgestellten Gemeinschaft anzugehören, deren gemeinsamer »Geist« sich in gemeinsamen Sprachsymbolen manifestiert. Mit dieser These will ich nicht grundsätzlich die von Gellner behaupte Bedeutung der industriellen Modernisierung bestreiten, sondern den in ihr enthaltenen Reduktionismus. Wie kann man mit der Behauptung Gellners die vielerorts zu beobachtende Renaissance der Regionalsprachen erklären oder die oft emotional geladenen Sprachrivalitäten innerhalb der EG? Wenn Sprache nur als die Erfüllung einer notwendigen Kommunikationsfunktion betrachtet wird, bleibt die Frage offen, warum so viele Menschen

Problematik einer homogenen Nationalsprache.

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Die substantialisierten

Bänder des

Kollektivs

(beispielsweise in der ehemaligen Sowjetunion) den Imperativen, der auf Kommunikation angewiesenen Modernisierung der Industriegesellschaft zum Trotz, ihre als »ursprünglich« vorgestellte Sprache hegen und pflegen oder gar wieder ausgraben, obwohl eine andere Sprache (z.B. russisch) funktionaler wäre. Der Wunsch, die Sprache zu erhalten und zu pflegen, die als ursprünglich zu einer Gruppe gehörend vorgestellt wird, ist doch häufig viel stärker als die Bereitschaft zur Anpassung an die Erfordernisse der modernen Industriegesellschaft, obwohl damit oft Nachteile im Zugriff auf Ressourcen verbunden sind. Das »Band der Sprache« verbindet Individuen nicht nur wegen der Erfüllung funktionaler Imperative der modernen Industriegesellschaft, sondern vor allem, weil sich die vorgestellten Sprachgemeinschaften auf zählebige Mystifikationen stützen. Der zentrale Mythos der »ursprünglichen Sprachgemeinschaft« ist die Vorstellung der »ursprünglichen« Festlegung. Es werden eben nicht immer alle zur »ursprünglichen Sprachgemeinschaft« gerechnet, die die jeweilige Sprache beherrschen, sie etwa n u r erworben haben, sondern nur die, die als native Speaker oder »Muttersprachler« anerkannt werden. Die Bedeutung der native Speaker (also der »eingeborene, natürliche« Sprecher) oder der »Muttersprachler« ist in der Regel eingebunden in Konnotationen, die über die Feststellung, daß die jeweilige Sprache zuerst gelernt wurde, hinausweisen, denn der Ausdruck »Erstsprache« ist im Gegensatz zur »Zweitsprache«, die man als zweite erlernt, nicht gebräuchlich. Diese Konnotationen beziehen sich auf eine »höhere« Wirklichkeit (Natur, Gott), die dem bloß Erworbenen als »ursprünglicher« und damit bindender vorangestellt wird. Um dies zu verdeutlichen, werde ich im folgenden einige Gedanken Johann Gottlieb Fichtes darstellen, der diese Phantasie philosophisch ausformuliert hat. Die 1808 erstmals veröffentlichten »Reden an die Deutsche Nation« waren als Fortsetzung der 1806 erschienenen geschichtsphilosophischen Vorlesungen 1 4 »Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters« gedacht. Während Fichte in den »Grundzügen ...« noch die gesamte menschliche Gattung im Auge hatte, verengte sich sein Blick in den »Reden ...« zunehmend auf die »deutsche Nation«. Die Sprache ist für Fichte ein zentrales Moment in der Bestimmung dessen, was er für die »deutsche Nation« hält. In der Sprache offenbart sich für ihn die menschliche Natur, was sie zu mehr macht, als einem instituierten Symbolsystem, das von einer Kommunikationsgemeinschaft produziert und reproduziert wird. »Die Sprache überhaupt, und besonders die Bezeichnung der Gegenstände in derselben durch das Lautwerden der Sprach Werkzeuge hängt keineswegs von willkürlichen Beschlüssen, und Verabredungen ab, sondern es gibt zuvörderst ein Grundgesetz, nach welchem jedweder Begriff in den menschlichen Sprachwerkzeugen zu diesem, und keinem anderen Laut wird. [...] Nicht eigentlich redet der Mensch, sondern in ihm redet die menschliche Natur« (Fichte 1978 [1808]: 61). Als Vertreter des »Deutschen Idealismus« geht es Fichte vor allem um die »geistige Natur«, die sich zumindest »beim Volke der lebendigen Sprache« in der Sprache manifestiere. Zusammenfassend heißt es bei ihm: »Beim Volke der lebendigen Spra-

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Fichtes Geschichtsphilosophie ist vor allem der Versuch, den Weg zum »verlorenen Paradies« wiederzufinden. Diese (Rück-) Entwicklung soll sich in fünf qualitativ verschiedenen Epochen vollziehen (vgl. Fichte 1956 [1806]: 11-15, 69)

Das Band der Sprache

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che greife die Geistesbildung ein in das Leben; beim Gegenteile gehe geistige Bildung und Leben jedes für sich seinen Gang fort« (1978 [1808]: 76). Die »lebendige Sprache« bedarf zur Entäußerung ihres »Geistes« der schöpferischen Kraft der Menschen, denn »die Sprache, die niemals ist, sondern ewigfort wird, redet sich nicht selbst, sondern wer sie gebrauchen will, muß eben selber nach seiner Weise, und schöpferisch für sein Bedürfnis sie reden« (1978 [1808]: 86). Der »ursprüngliche Geist« kann sich nur dann entäußern, wenn die einzelnen schöpferisch und mit Freiheit diesen hervorbringen. Die Menschheit müsse den Weg zum Ursprung, so Fichte, auf ihren eigen Füßen gehen; »mit eigener Kraft soll sie sich wieder zu dem machen, was sie ohne alles ihr Zutun gewesen; und darum mußte sie aufhören es zu sein« (1956 [1806]: 69). Die »ursprüngliche« Sprachgemeinschaft ist bei Fichte nicht durch einen vordergründigen, gemeinsamen Kommunikationscode begründet, sondern durch ein »geistiges Band«. Dieses »geistige Band« wird bei Fichte dann auch als konstituierend für politische Kollektivität gedacht. »Die ersten, ursprünglichen, und wahrhaft natürlichen Grenzen der Staaten sind ohne Zweifel ihre inneren Grenzen. Was dieselbe Sprache redet, das ist schon vor aller menschlichen Kunst vorher durch die bloße Natur mit einer Menge von unsichtbaren Banden aneinandergeknüpft; es versteht sich untereinander, und ist fähig, sich immerfort klärer zu verständigen, es gehört zusammen, und ist natürlich Eins, und ein unzertrennliches Ganzes. Ein solches kann kein Volk anderer Abkunft und Sprache in sich aufnehmen und mit sich vermischen wollen, ohne wenigstens fürs erste sich zu verwirren, und den gleichmäßigen Fortgang seiner Bildung mächtig zu stören« (1978 [1808]: 207). Hierzu scheinbar widersprüchlich heißt es an anderer Stelle: »Was an Geistigkeit, und Freiheit dieser Geistigkeit glaubt, und die ewige Fortbildung dieser Geistigkeit durch Freiheit will, das, wo es auch geboren sei, und in welcher Sprache es rede, ist unsers Geschlechts, es gehört uns an und es wird sich zu uns tun« (1978 [1808]: 122). Dieser Widerspruch ergibt sich bei Fichte aber nur, wenn man die Sprache als einen erlernbaren Code betrachtet, den sich jeder aneignen kann. Die »lebendige Sprache« ist für Fichte aber, wie oben gesagt, die Manifestation eines »ursprünglichen Geistes«, der zur Verwirklichung das Bekenntnis zu demselben bedarf. Es ist der Glaube und das Bekenntnis zu einer Haltung, die sich auf eine verbindende geistige Urquelle bezieht, die die geistigen Hervorbringungen - und besonders auch die Sprache - speist. Dieser »gemeinsame Quell« des geistigen Lebens ist bei Fichte Gott (vgl. 1978 [1808]: 76). Das Bekenntnis zur »lebendigen Sprache« kommt damit einem Bekenntnis zu Gott gleich. Der Ausspruch Fichtes, daß Charakter haben und deutsch sein, ohne Zweifel gleichbedeutend seien (1978 [1808]: 193), ist vor diesem Hintergrund zu verstehen. Die Nation oder das Volk definiert sich dann eben aus dem gelebten Bekenntnis zur göttlichen »Ursprünglichkeit«, was für Fichte gleichbedeutend ist mit deutsch sein. Dies wird aus folgendem Zitat ersichtlich: »Der eigentliche Unterscheidungsgrund liegt darin, ob man an ein absolut Erstes und Ursprüngliches im Menschen selber, an Freiheit, an unendliche Verbesserlichkeit, an ewiges Fortschreiten unseres Geschlechts glaube, oder ob man an alles dieses

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Die substantialisierten

Bänder des Kollektivs

nicht glaube, ja wohl deutlich einzusehen, und zu begreifen ver/meine, daß das Gegenteil von diesem allen stattfinde. Alle, die entweder selbst, schöpferisch, und hervorbringend das Neue, leben, oder, die, falls ihnen dies nicht zuteil geworden wäre, das Nichtige wenigstens entschieden fallen lassen, und aufmerkend dastehen, ob irgendwo der Fluß ursprünglichen Lebens sie ergreifen werde, oder die, falls sie auch nicht soweit wären, die Freiheit wenigstens ahnden, und sie nicht hassen, oder vor ihr erschrecken, sondern sie lieben: alle diese sind ursprüngliche Menschen, sie sind, wenn sie als ein Volk betrachtet werden, ein Urvolk, das Volk schlechtweg, Deutsche« (1978 [1808]: 121). Auch wenn den meisten heutigen Zeitgenossen die Ausführungen Fichtes völlig zurecht befremdlich und überzogen erscheinen, werden hier jedoch die Konnotationen der Sprachgemeinschaft deutlich formuliert, die auf eine, durch die Sprache vermittelte, »Ursprünglichkeit« verweisen. Es ist eben das Phantasma des geistig-religiösen, durch die Sprache vermittelten »Urbandes«, das die Sprache zu einem so emotional verbindenden Kriterium für politische Kollektivität hat werden lassen. Die Spekulationen Fichtes illustrieren dies in bemerkenswerter Deutlichkeit. Die Renaissance der »Ursprachen«, beispielsweise in der ehemaligen Sowjetunion, geben ein eindrucksvolles Beispiel dafür, daß die Sprache in der Vorstellung der meisten Menschen offenbar mehr enthält, als die Möglichkeit mit anderen kommunizieren zu können, denn dies war und ist mit der heute oft verhaßten russischen Sprache auch möglich. Ein weiterer Aspekt, der die Sakralisierung der »Nationalsprachen« erklären hilft, ist, wie Anderson hervorgehoben hat, die mit ihrer Genese verbundene Konkurrenz zu den alten heiligen Sprachen (Latein, Griechisch und Hebräisch). »Nun teilten alle Sprachen ein und denselben (inner)weltlichen Status und waren gleichermaßen der Förderung und Verehrung würdig. Aber durch wen? Da sie nicht mehr Gott gehörten, mußten es logischerweise die neuen Besitzer der jeweiligen Sprachen sein: ihre natürlichen Sprecher - und Leser« (Anderson 1988: 75). Das Bindende einer Sprachgemeinschaft ist also nicht nur ein gemeinsamer Kommunikationscode, der bestimmte funktionale Imperative der modernen Gesellschaft erfüllt, sondern vielmehr der instituierte Glaube an die Partizipation an einem, der Sprache zugrundeliegenden, kollektiven »Geist«.

3.3

Das Band der Kultur Unbehagen in der Kultur. Natürlich zückt niemand mehr einen Revolver, sobald er dieses Wort hört. Doch zücken immer mehr Menschen beim Wort »Denken« ihre Kultur. (Finkielkraut 1989: 9)

Kultur - das heißt hier im weitesten Sinne die Überschreitung und Transformation von Natur durch den Menschen - kann verbinden, aber auch trennen. Die Frage, die es hier zu beantworten gilt, ist aber nicht, ob Kultur irgendwelche Individuen verbinden kann, sondern ob Kultur zur Konstitution politischer Kollektivität geeignet ist, wie sie in den Begriffen »Rasse«, »Volk«, »Nation« und »Ethnos« vorgestellt wird.

Das Band der Kultur

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Seit Friedrich Meinecke der »Kulturnation« in der Unterscheidung zur »Staatsnation« eine breite Rezeption verschaffte, wird der Typus der »Kulturnation« gerne verwendet, um »Nationen« zu bezeichnen, die sich auf die verbindende Kraft der Kultur beziehen. Bei Meinecke heißt es: »Man wird, trotz aller sogleich zu machenden Vorbehalte, die Nationen einteilen können in Kulturnationen und Staatsnationen, in solche, die vorzugsweise auf irgendwelchen gemeinsam erlebten Kulturbesitz beruhen, und solche, die vorzugsweise auf die vereinigende Kraft einer gemeinsamen politischen Geschichte und Verfassung beruhen« ( 9 1963: 10). Ich werde auf die Typologie Meineckes noch zurückkommen. Zunächst möchte ich aber die Kultur als Kriterium politischer Kollektivität etwas näher betrachten. Was über die Identifizierung der Sprachgemeinschaft mit der Nation gesagt wurde, gilt prinzipiell auch für die sogenannte »Nationalkultur«, nämlich, daß eine plausible Bestimmung derselben, wegen der Heterogenität der Kultur nach innen und zahlreicher Überschneidungen nach außen, unmöglich ist.15 Die in den letzten Jahren verstärkt betriebene Forschung zur »Alltagskultur« hat die Ungleichheiten der kulturellen Bezüge und Hervorbringungen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen sehr deutlich werden lassen. Betrachtet man die Verschiedenheit der Partikularkulturen innerhalb der »Kulturnationen« oder »Volkskulturen« wird deutlich, daß es nicht eine homogene Kultur ist, die ein Kollektiv verbindet, sondern die Vorstellung einer einheitlichen Kultur. Die Gleichsetzung jeweiliger Hochkulturen mit der »Nationalkultur« entspricht eher der Eitelkeit und Selbstüberschätzung der Gebildeten, die sich gerne als Träger und Schaffende des integrierenden »Kultursubstrats« betrachten, sowohl im 19. Jahrhundert als auch heute (vgl. Dann 1991: 73). Ferner ist es - scheinbar paradox ausgedrückt - die »Internationalität« der »Nationalkulturen«, die die Fragwürdigkeit dieser Konzeption verstärkt. Kultur entsteht nicht in abgeschlossenen Treibhäusern der »Nation« oder des »Volkes«, sondern durch beständigen Austausch, Reibungen und Ergänzungen der Kulturschaffenden und Kulturtragenden aus den verschiedensten »Nationen«. Es ist die spekulative Idee des »Volksgeistes« und dem damit verbundenen »Nationalcharakter«, die den Mythos der Kulturnation begründet hat. Diese von Herder begründete und von Hegel aufgenommene und weiter gesponnene Spekulation erfreut sich nicht zuletzt in den heutigen Reden über Ethnizität großer Beliebtheit (vgl. Dittrich/Radtke (Hg.) 1990: 29). Bei Herder heißt es im 88. »Brief zur Beförderung der Humanität«: »Wie ganzen Nationen Eine [Großschreibung im Original, P. B.] Sprache eigen ist, so sind ihnen auch gewisse Lieblingsgänge der Phantasie, Wendungen und Objekte der Gedanken, kurz ein Genius eigen, der sich, unbeschadet jeder einzelnen Verschiedenheit, in den beliebtesten Werken ihres Geistes und Herzens ausdruckt. Sie in diesem angenehmen

15

Die Nichtbestimmbarkeit eines »spezifischen Kulturintegrats« konstatiert auch Francis: »Wir gelangen zu dem Schluß, daß sich konkret eine soziale Kollektivität nicht umschreiben und von jeder anderen Kollektivität der gleichen oder einer anderen Gattung unterscheiden läßt, indem man vom Vorhandensein eines spezifischen Kulturintegrats ausgeht; und zwar vor allem deshalb, weil ein solches Integrat gar nicht eindeutig feststellbar ist« (1965: 112). 16 Aus der Vielzahl der hierzu vorliegenden Untersuchungen möchte ich auf drei Sammelbände verweisen: Niethammer (Hg.) 1985; Heer/Ulrich (Hg.) 1985; Jeggle u.a. (Hg.) 1986.

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Die substantialisierten

Bänder des

Kollektivs

Irrgarten zu belauschen, den Proteus zu fesseln und redend zu machen, den man gewöhnlich Nationalcharakter nennt und der sich gewiß nicht weniger in Schriften als in Gebräuchen und Handlungen der Nation äußert; dies ist eine hohe und feine Philosophie. In den Werken der Dichtkunst d. i. der Einbildungskraft und der Empfindungen wird sie am sichersten geübet, weil in diesen die ganze Seele der Nation sich am freiesten zeiget« (Herder 1967 [1883]: 58). Die in den Spekulationen über »Volksgeist« und »Nationalcharakter« enthaltenen Vorstellungen über eine kulturdetermininierende »Volksseele« entspricht dem Wunsch nach einer ursprünglichen, verbindenden Kraft, die in den Werken, der sie umfassenden Individuen, zu einer wahrnehmbaren und vorzeigbaren Entäußerung drängt. Der einzelne Mensch wird zwar in eine kulturell geprägte Welt hineingeboren, diese ist jedoch nicht identisch mit der »Nation« oder dem »Volk«, sondern ist eine dem Individuum erfahrbare Lebenswelt, die in modernen Gesellschaften mit hoher Mobilität große Differenzen zu denen anderer aufweisen kann. Kultur ist keine kollektive Substanz! Sie ist ein häufig widersprüchliches und konfliktbeladenes Identifikationsangebot, aus dem sich die einzelnen durch Integrationsleistungen Kultur aneignen. »>Kulturelle Identität wäre so gesehen die Fähigkeit, die >Landkarten der Bedeutung< und das mitgebrachte kulturelle Material den aktuellen Lebensbedingungen anzupassen. Sie klebt nicht an den Individuen wie Pech und sie treibt sie mit dem Wechsel der Lebensbedingungen nicht unweigerlich in Konflikte und Schwierigkeiten. Sie ist eine lebenslange Aufgabe. [...] Sofern die einzelnen das Konzept ethnischer Identität für die Konstruktion ihres Selbst benutzen, können sie sich auf dem Wege der Selbstethnisierung an einer angemessenen Auseinandersetzung mit einer sich wandelnden gesellschaftlichen Realität hindern« (Dittrich/Radtke (Hg.) 1990: 31). Die Variation der »Nationalcharaktere« oder besser gesagt deren Beschreibungen, wird in folgenden Beispielen deutlich: Zu Beginn des 18. Jahrhunderts hielt Voltaire die Engländer für eine Nation mit starker Neigung zu Umstürzen und Veränderungen, während er den Franzosen Beständigkeit und Schwerfälligkeit zuschrieb (vgl. Vogt 1967: 34). Ob er dies hundert Jahre später auch noch behauptet hätte? Balzac schrieb den Deutschen einen ehrenwerten und friedfertigen Charakter zu (vgl. Vogt 1967: 34). Wieviele Franzosen mögen diese Ansicht 1871 oder 1945 geteilt haben? »Die Juden denen die europäischen Völker jahrhundertelang das Geldgeschäft und gewisse Formen des Handels als einzige Einkommensquelle gestattet hatten, sie damit zum >Volk der Händler und Trödler< machend, wurden in Israel, unter ganz anderen Herausforderungen, so etwas wie ein >Volk der Bauern und KriegerNation< ist ein Begriff, der, wenn überhaupt eindeutig, dann jedenfalls nicht nach empirischen gemeinsamen Qualitäten der ihr zugerechneten definiert werden kann. Er besagt, im Sinne derer, die ihn jeweilig brauchen, zunächst unzweifelhaft: daß gewisse Menschengruppen ein spezifisches Solidaritätsempfinden anderen gegenüber zuzumuten sei, gehört also der Wertsphäre an. Weder darüber aber, wie jene Gruppen abzugrenzen seien, noch darüber, welches Gemeinschaftshandeln aus jener Solidarität zu resultieren habe, herrscht Übereinstimmung« (1972: 528). Lemberg, der die »empirischen Qualitäten«, die Max Weber bezweifelte, genauer untersucht hat, kommt zu dem Schluß, daß die Kriterien der Definition austauschbar sind und daß es nicht irgendwelche »objektiven« Merkmale sind, die eine Großgruppe integrieren, sondern »ein System von Vorstellungen, Wertungen und Normen, ein Welt- und Gesellschaftsbild, und das bedeutet: eine Ideologie, die [...] diese Großgruppe integriert und gegen ihre Umwelt abgrenzt« (1964: 52). Entscheidend, so Lemberg, sei auch nicht die Homogenität der Integrationsideologie, »sondern die Tatsache, daß im Inhalt dieser Ideologie die Großgruppe als eine Einheit auftritt, daß das Welt- und Gesellschaftsbild ihrer Angehörigen diese Einheit als zentrales Faktum enthält, daß in diesem Welt- und Gesellschaftsbild die in Rede stehende Gruppe gegen ihre Umwelt abgegrenzt und mit Wertakzenten versehen erscheint. Diese Gestalt, dieses Bild, das >Image< der zu integrierenden Gruppe ist es, was die integrierende Kraft ausübt« (1964: 58).

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Um noch einmal an den Topos der »kollektiven Identität« zu erinnern, den ich im vorherigen Kapitel behandelt habe: Es ist nicht entscheidend, ob das gemeinsame Identifikationsobjekt innerhalb einer Gruppe mit identischen Prädikaten vorgestellt wird, sondern entscheidend ist, ob es als gemeinsames Objekt fungieren kann, in dem die einzelnen trotz ihrer Verschiedenheit ihre Gemeinsamkeit zu erkennen glauben, die sie signifikant von anderen unterscheiden soll. Es kann sogar für die Einheitsvorstellung von großem Vorteil sein, wenn sie eine projektive Offenheit behält, in die verschiedene Vorstellungen projiziert werden können. Minogue hat die Ideen des Nationalismus einmal mit Chamäleons verglichen, die die Farbe ihrer Umgebung annähmen (1970: 191). Die Farbskala des Chamäleons, um diese Metapher aufzunehmen, hängt dann davon ab, wieviel Pluralismus und Offenheit in dem jeweiligen Kollektiv möglich sind. Sowohl die Variabilität der Zugehörigkeitsmerkmale der verschiedenen Nationalismen, als auch die programmatische Flexibilität des Nationalismus, dessen Ideologie sich ebensogut mit »linken« als auch mit »rechten« Ideologien verbinden läßt, können den Erfolg dieses Konstruktes verständlich werden lassen. »Gerade seine Unbestimmtheit und sein Mangel an programmatischem Gehalt verleihen ihm innerhalb seiner eigenen Gemeinschaft potentiell allgemeine Unterstützung« (Hobsbawm 1991: 200). Es ist, so möchte ich hier ergänzen, die Unbestimmtheit oder projektive Offenheit der Kollektivitätskonzeption, die aber dennoch das Gefühl der Bestimmtheit zu erzeugen vermag. Dies wird an späterer Stelle deutlicher, wenn von Religion und politischer Kollektivität zu sprechen sein wird. Für Benedict Anderson ist die Nation eine vorgestellte politische Gemeinschaft, »weil die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert« (1988: 15). Schließlich, so Anderson, würde die Nation als Gemeinschaft vorgestellt, »weil sie, unabhängig von realer Ungleichheit und Ausbeutung, als >kamaradschaftlicher< Verbund von Gleichen verstanden wird« (1988: 17). Diese imaginären Aspekte politischer Kollektivität, die Anderson hier anspricht, sind zwar wichtig für das Verständnis der modernen Nationen, können aber die imaginären Dimensionen nicht hinreichend erfassen. M. E. ist hierzu die Rekonstruktion politischer symbolischer Ordnungen erforderlich, die im nächsten Kapitel unternommen werden soll. Ein weiterer Aspekt des imaginären Gehalts politischer Kollektivität ist die Bedeutungskonstruktion von Merkmalen, die am Beispiel der »Rasse« bereits in Kapitel 3.1 mit Miles erwähnt wurde. Es gibt unendlich viele Merkmale, nach denen man Menschen in Kategorien einordnen kann, ohne daß die Individuen, die in einer bestimmten Kategorie zusammengefaßt sind, ein »Wir-Gefühl« entstehen lassen. »Reale gemeinsame Merkmale und reale gemeinsame Lagen kann es schon lange geben, bevor sie als gemeinsame Interessen empfunden und artikuliert werden. Lohnabhängige statistische Gruppen gab es zum Beispiel schon längst, bevor es zur Bildung von Gewerkschaften kam. Es mußte die Idee dazu kommen, diese Lohnabhängigkeit und ihre Folgen seien so bedeutsam, daß sie einen Zusammenschluß sinnvoll machen« (Hättich 1983: 274). Nun ist das Merkmal »Lohnabhängigkeit« noch relativ eindeutig festzustellen. Um wieviel fragwürdiger ist es aber, wenn beispielsweise festgestellt werden soll, ob je-

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Das imaginierte Band des Kollektivs

mand eine »deutsche Kultur« oder »deutsche Abstammung« hat, wie dies absurderweise in »Aussiedler-Anerkennungsverfahren« geschieht? Wenngleich die Setzung von Zugehörigkeitskriterien, die nun mal nicht von »Natur« aus als relevante Merkmale politischer Kollektive bestehen, sondern immer Produkt von politischen Prozessen sind, auch unumgänglich ist, so ist es aber durchaus vermeidbar, diese als »objektive«, d. h. hier vom Bewußtsein der einzelnen unabhängige Merkmale und Konstruktionen zu betrachten. Deshalb hat Lutz Hoffmann recht, wenn er zum Begriff des »Volkes« schreibt: »Aber es ist der Irrtum aller objektivistischen Volkstheorien, diese Kriterien vom subjektiven Bewußtsein ablösen und als eigenständige Indikatoren behandeln zu wollen. Sie sind lediglich Objektivationen eines konkreten Bewußtseins der Menschen von sich als einem >Volk< und verlieren ihren Aussagewert, wenn man sie als objektive Realien der Disposition des subjektiven Bewußtseins entzieht« (1991: 197). Das wissen wohl auch die meisten Nationalisten, die gerne ihre Ordnungsvorstellungen als »höhere Natur« darstellen, der sich der Mensch zu fügen hat. Würden sie wohl sonst mit ihren unablässigen Appellen und Predigten fortfahren, wenn es für die Existenz einer Nation unerheblich wäre, was in den Köpfen der einzelnen vorgestellt wird? Politische Kollektive sind immer Artefakte, sie sind symbolische Ordnungen, die sich sowohl aus der Phantasie herleiten als auch an der jeweiligen historischen Realität angelehnt werden. Deshalb wird nun genauer zu betrachten sein, wie der Zusammenhang zwischen Imagination, Symbol und kollektiver Ordnung denkbar ist.

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Imagination, Symbol und Ordnung. Zum Verhältnis zwischen Phantasie und der Produktion und Reproduktion von Ordnung

Wenn das, was politische Kollektive zunächst verbindet, nicht real ist, sondern imaginär, die einzelnen dieser Kollektive sich aber dieses Imaginäre als Realität vorstellen und dementsprechend handeln, stellt sich das Problem des Verhältnisses zwischen Imagination und Realität, das hier im Hinblick auf politische Kollektivität nun näher betrachtet werden soll. Wenn wir von Imaginärem sprechen (lat. imaginarius »bildhaft nur in der Einbildung bestehend«), meinen wir meist das Nichtwirkliche, Eingebildete, das der Realität gegenübersteht. Auch Phantasie steht für Einbildung und Trugbild. Das dem griechischen Substantiv (phantasia »Erscheinung, geistiges Bild, Vorstellung«) zugrundeliegende Verb phantäzesthai bedeutet »sichtbar werden, erscheinen«, das zu phainein »sichtbar machen« gehört. Aus dem bisher Gesagten dürfte aber schon deutlich geworden sein, daß eine strikte Gegenüberstellung von Phantasie/Imagination auf der einen Seite und Realität auf der anderen nicht überzeugen kann. Vielmehr geht es in diesem Kapitel darum, aufzuzeigen, daß es sich hier um ein dialektisches Verhältnis handelt. Zu diesem Zweck werde ich in diesem Teil der Arbeit einige Ansätze der modernen sozialwissenschaftlichen Theorie heranziehen, die zur Klärung des hier in Rede stehenden Verhältnisses beitragen können, um sie sodann mit Ergebnissen der historischen Forschung zu konfrontieren. Wenn das Band, daß die einzelnen zu »Völkern«, »Nationen«, »Rassen« und »Ethnien« verbindet ein Imaginäres ist, stellt sich die Frage, wie aus dem Phantasierten eine sichtbare oder wahrnehmbare Realität wird. Es sind die Symbole und Institutionen, die das Unsichtbare sichtbar machen. Das griechische Substantiv symbolon »Kennzeichen, Zeichen« gehört zu symbällein »zusammenwerfen, zusammenfügen«. Das symbolon war eine verabredete Erkennungsmarke, ein Ausweis, der aus zwei Bruchstücken eines Gegenstandes - z. B. eines Ringes - bestand. Auch in der antiken Bedeutung ist das Symbol also schon das sichtbare Kennzeichen eines unsichtbaren Bandes und ist es nicht weniger in den Ideologien des Nationalismus, Rassismus und Ethnizismus. Die allgemeine Bedeutung von Symbol im Sinne von »Zeichen, Kennzeichen« subsumiert dagegen Verschiedenes, so daß hierdurch Verwirrung entstehen kann. Die Unterscheidung der »Zeichen« in »Anzeichen, Repräsentationszeichen und Symbole«, wie sie Saner vorgeschlagen hat, kann hier sehr hilfreich sein. »Ein Anzeichen ist ein Indiz für etwas. Es weist auf etwas hin, durch das es kausal verursacht worden ist. Der Rauch ist ein Indiz für Feuer. [...] Anzeichen haben eine dynamische Potenz, überschreiten aber durch ihre kausale Gebundenheit nie den Bereich immanenter Sachverhalte. Die Funktion des Anzeichens erschöpft sich im kau-

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salen Hinweis, das Symbol weist jenseits kausaler Zusammenhänge auf Sinn. [...] Ein Repräsentationszeichen ist im Unterschied zu Anzeichen ein künstlich hervorgebrachtes Bedeutungs-Zeichen, das mehr oder weniger willkürlich, aber vielleicht nie ganz unmotiviert, so geschaffen worden ist. Das Wort >Rauch< ist ein Repräsentationszeichen für die Sache Rauch, und diese Sache ist das Anzeichen für Feuer. [...] Das Entscheidende ist die einfache, referentielle Relation, in der sich die Funktion des Repräsentationszeichens erschöpft. [...] Symbole dagegen fügen immer eine weitere Dimension hinzu, einen neuen Bedeutungsinhalt, der das Signifikat überschreitet« (1988: 13). Auch Anzeichen und Repräsentationszeichen können, so Saner, symbolisch aufgeladen werden, was den Umgang mit Sprache so schwierig mache. Ferner hat Saner zwischen »Symbolen der Immanenz« und »Symbolen der Transzendenz« unterschieden. Symbole der Immanenz seien solche, die auf ein immanent Seiendes, Symbole der Transzendenz solche, die auf ein Transzendentes hinwiesen (1988: 14). Diese Unterscheidung wird im nächsten Teil der Untersuchung noch von Bedeutung sein, wenn von Religion und politischer Kollektivität zu sprechen sein wird. Die Unterscheidung zwischen »Repräsentationszeichen« und »Symbolen« ist insofern für diese Untersuchung relevant, als die Zeichen, die für die Bezeichnung politischer Kollektive verwendet werden, keine bloßen Repräsentationszeichen sind, die einen bereits vorhandenen Sachverhalt bezeichnen. Symbole schaffen und prägen das Bezeichnete im Prozeß des Bezeichnens. Durch dieses Bezeichnen wird im Rückbezug wiederum die Wahrnehmung der Bezeichnenden geprägt. Durch intersubjektive, kommunikative Bezeichnung wird Wahrnehmung sozial synchronisiert und reproduziert.23 Das schließt aber nicht aus, daß die Symbole politischer Kollektivität als Repräsentationszeichen mißverstanden werden, indem unterstellt wird, daß politische Kollektivitäten gegebene Sachverhalte sind, die unabhängig von ihrer Bezeichnung existieren. Der Sachverhalt »Rauch« existiert unabhängig davon, ob dieser Sachverhalt bezeichnet wird oder nicht. Politische Kollektivität existiert nicht unabhängig von den Zeichen (Symbolen), sondern wird erst mit ihnen konstruiert. Deshalb sind Symbole der politischen Kollektive nicht nur schmückendes Beiwerk und Attribute, die objektive Sachverhalte nur veranschaulichen, sondern deren konstitutive Elemente. In diesem Sinne stimme ich Edelman zu, der gesagt hat, daß die Sprache nicht nur eine objektive >Realität< spiegele, sondern sie schaffe, indem sie von einer komplizierten und verwirrenden Welt bestimmte Wahrnehmungen abstrahiere und sie zu einer Sinnstruktur organisiere (vgl. 1990: 147). Die Symbole der Einheit, die die zusammengesetzte Existenz des Bezeichneten setzen, müssen, um real existierende Differenzen integrieren zu können, eine projektive Offenheit haben. Im vierten Kapitel habe ich von der projektiven Offenheit des Identifikationsobjektes gesprochen, die die Identifizierung der Verschiedenen mit einem gemeinsamen Objekt begünstigt. In dem Negationspotential des differenten Trennenden, so kann hier gesagt werden, liegt das integrierende Potential des Symboli-

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»Im Akt des sprachlichen Ausdrucks selbst nehmen unsere Eindrücke eine neue Form an. Sie sind keine isolierten Gegebenheiten mehr; sie geben ihren individuellen Charakter auf, sie werden unter Begriffsklassen gebracht, die durch allgemeine >Namen< bezeichnet werden« (Cassirer 1985 [1949]: 63).

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sehen. »Dank seiner verallgemeinernden und über die Sinne wirkenden Simplizität überspielt das Symbol das Trennende und weckt das Einigende. Das Symbol des Symbols ist die Einheit. Einheit ist aber das Grundwort aller Mystik und deshalb enthält das Symbol sehr oft auch ein mystisches Element« (Künzli 1988: 235). 24 Ein Mißverständnis des Verhältnisses zwischen Imagination und Realität wäre allerdings vorhanden, wenn eine naive Kausalbeziehung konstruiert würde, d.h. die Realität eindimensional aus der Imagination erklärt würde. Die Bildung der Realität ist selbstverständlich nicht nur eine eindimensionale Folge der Einbildungskraft. Es ist ja, wie wir auch im Alltag immer wieder erfahren können, keineswegs so, daß wir nur unsere Vorstellungen änderen müssen und damit auch die Realität verändern. Um dieses Verhältnis genauer beschreiben und analysieren zu können, werde ich zunächst einige Überlegungen von Castoriadis heranziehen. Weil das Imaginäre eben nicht nur das Eingebildete ist, sondern auch das Bildende, das in den menschlichen Welten dann auch als Gebildetes vorhanden ist, unterteilt Castoriadis das Imaginäre in ein »radikales« und ein »aktuales«: »In dem Maße jedoch, wie das Imaginäre letztlich auf eine ursprüngliche Fähigkeit zurückgeht, sich mit Hilfe der Vorstellung ein Ding oder eine Beziehung zu vergegenwärtigen, die nicht gegenwärtig sind (die in der Wahrnehmung nicht gegeben sind oder es niemals waren), werden wir von einem letzten oder radikalen Imaginären als der gemeinsamen Wurzel des aktualen Imaginären und des Symbolischen sprechen. [...] Man könnte versuchen, das, was wir als das letzte oder radikale Imaginäre bezeichnen - das Vermögen, etwas als Bild auftauchen zulassen, das weder ist noch war - , terminologisch von den Produkten dieses Vermögens zu unterscheiden, die man als Imaginiertes bezeichnen könnte. Aber die grammatische Form dieses Ausdrucks ist geeignet, Verwirrung zu stiften; daher ziehen wir es vor, von aktualem Imaginärem zu sprechen« (1984: 218). Das Imaginäre, so könnte man sagen, manifestiert sich im Realen, in den Symbolen und Institutionen, ohne daß die Realität eine bloße Folgewirkung des Imaginären ist, denn diese ist für die Vorstellenden niemals tabula rasa. »Die Gesellschaft konstituiert ihren Symbolismus, doch nicht in völliger Freiheit. Er benutzt das bereits vorliegende natürliche und geschichtliche Material als Anknüpfungspunkt; schließlich hat er Teil am Rationalen. Dabei entstehen Verkettungen zwischen Signifikanten, Beziehungen zwischen Signifikanten und Signifikaten, Zusammenhänge und Konsequenzen, die weder angestrebt noch voraussehbar waren« (Castoriadis 1984: 215). 25 Bezogen auf den Nationalismus und dessen Symbole bedeutet dies, daß dieser weder einer geschichtsphilosophischen Notwendigkeit noch einer reinen Zufälligkeit entspricht, denn der Nationalismus ist in den spezifisch europäischen Bedingungen entstanden. Wenn Castoriadis von der Gesellschaft als einer »imaginären Institution«

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Siehe auch die Untersuchung Lynn Hunts über die Bedeutung der Symbole in der Französischen Revolution (1989: 155). Hunt konstatiert hier, daß die Wirkung der Symbole zum Teil gerade auf ihrem Mangel an Spezifität beruhte. Die auf imaginären Entwürfen basierende Realitätsgestaltung ist immer bruchstückhaft. Dies bedeutet nicht zuletzt, daß die geschaffene Realität zu einem guten Teil unbeabsichtigt oder ungewollt sein kann. Zu den unbeabsichtigten Folgen des Handelns siehe auch: (Giddens 1988: 65).

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Symbol und Ordnung

spricht, legt er einen Begriff der Institution zu Grunde, der über eine nur funktionale Bestimmung hinausgeht: »Jenseits der bewußten Tätigkeit der Institutionalisierung finden die Institutionen ihren Ursprung im gesellschaftlichen Imaginären. Dieses Imaginäre muß sich mit dem Symbolischen verschränken, weil sich die Gesellschaft sonst nicht hätte >sammeln< können, muß aber auch mit dem Ökonomisch-Funktionalen verbunden sein, weil sie sonst nicht hätte überleben können. Es kann sich und muß sich auch zwangsläufig in den Dienst beider stellen: Gewiß erfüllt das Imaginäre der Institution eine Funktion, aber auch hier wieder muß man feststellen, daß die Wirkung des Imaginären über seine Funktion hinausschießt« (1984: 226). Wenn man beispielsweise in den politischen Gebilden, die durch nationales Denken und Vorstellen geprägt sind, gewisse Funktionen wiederfindet, die eben durch dieses Denken gewährleistet sind, wie etwa die Konstitution und Abgrenzung eines Wirtschaftsraumes, bedeutet dies nicht, daß diese Funktion das Movens der Genese war, sondern nur, daß das Ökonomisch-Funktionale notwendigerweise in allen Gesellschaften instituiert werden muß, aber nicht in welchem Rahmen. Die »Nation« geht aber weit über die Funktion eines Wirtschaftszusammenschlusses hinaus. Das in den Symbolen und Institutionen enthaltene Imaginäre möchte ich hier aber scharf abgrenzen von einem spekulativen, kollektiven Unbewußten oder eines wie auch immer wirkenden »Kollektivgeistes«, dem ein kollektives Subjekt zugrundegelegt wird. Geist, Psyche, Bewußtsein und Imagination sind Merkmale lebender Subjekte. Kollektive sind keine lebenden Subjekte, sondern deren Produkte und Reproduktionen. Folglich können die Prädikate des Lebenden nicht Kollektiven zugeschrieben werden. Der Ort des »radikal Imaginären«, also des letztlich kreativen Potentials ist das individuelle Subjekt, das aber nicht losgelöst von den anderen, dem, was bereits historisch instituiert wurde und dem, was von Natur aus besteht, zu denken ist. »Das Subjekt [...],« so Castoriadis, »ist also nicht das abstrakte Moment der philosophischen Subjektivität, sondern das durch und durch von der Welt und den anderen geprägte wirkliche Subjekt. [...] Es ist vielmehr eine tätige und hellsichtige Instanz, die ihre Inhalte unter Zuhilfenahme eben dieser Inhalte immer wieder neu organisiert, die bei ihrer Produktion auf ein Material angewiesen ist und die Bedürfnissen und Ideen gemäß produziert, in denen selbst wiederum Vorgefundenes und Selbstgeschaffenes vermengt ist« (1984: 181). Vorstellen und herstellen - legein und teukein - sind gegenseitig aufeinander verwiesen, das eine ist nicht auf das andere kausal zurückzuführen: Die Vorstellung benutzt das Vorgestellte (Hergestellte) als Anknüpfungspunkte, welches aber seinerseits nicht ohne das Imaginäre hätte hergestellt werden können (vgl. Castoriadis 1984: 416f.). Das, was die verschiedenen individuellen Vorstellungen und die Gesellschaft zusammenhält, bezeichnet Castoriadis als »gesellschaftlich-geschichtliches phantasma«

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»Das legein ist die identitätslogische Dimension des gesellschaftlichen Vorstellens/Sagens; legein die etymologische Wurzel von logos und Logik, bedeutet unterscheiden/auswählen/ aufstellen/zusammenstellen/zählen/sagen. [...] Das teukein ist die identitätslogische (funktionale, instrumenteile) Dimension des gesellschaftlichen Tuns; teukein die etymologische Wurzel von techne und Technik, bedeutet: zusammenstellen/zurichten/herstellen/aufbauen« (Castoriadis 1984: 298f.).

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(1984: 423). Der Stoff, aus dem das Gesellschaftliche gemacht ist, ist das Intersubjektive. »Das Gesellschaftlich-Geschichtliche besteht einerseits aus vorgegebenen Strukturen, Institutionen und >materialisierten< Werken (die auch immateriell sein können), zum anderen jedoch aus dem, was da strukturiert, instituiert und materialisiert. Kurz, es ist die spannungsvolle Einheit von instruierender und instituierter Gesellschaft, geschehener und geschehender Geschichte« (Castoriadis 1984: 184). Dies ist nicht nur eine Absage an eine entsubjektivierte, strukturalistische Deutung der Gesellschaft, sondern auch gegen einen Psychologismus gerichtet, innerhalb dessen die Gesellschaft aus der individuellen Psyche abzuleiten ist. Denn, so konstatiert Castoriadis, erst die Institution der Gesellschaft, die sich aus dem gesellschaftlichen Imaginären speise, vermöge der radikalen Imagination der Psyche Schranken zu setzen und eine Realität für sie aufzurichten, indem sie eine Gesellschaft für sie sein lasse (vgl. 1984: 511). »In den Totems, in den Göttern der Stadt, in der räumlichen und zeitlichen Ausdehnung der Person des Königs verdichtet und materialisiert sich die Institution. Sie setzt die Gemeinschaft als bestimmte und dauerhafte Substanz jenseits ihrer vergänglichen Moleküle und antwortet auf die Frage nach dem Sein und der Identität der Gemeinschaft, indem sie sie auf Symbole bezieht und damit eine Verbindung mit einer anderen >Realität< herstellt. Heute spielt die Nation diese Rolle« (Castoriadis 1984: 254). In Kapitel 3.4 habe ich mit Halbwachs von einem Bezugsrahmen für die individuellen Erinnerungen gesprochen. Mit Castoriadis läßt sich von einem instituierten kollektiven Bezugsrahmen für die individuellen Vorstellungen sprechen. In diesem Sinne wäre von einem kollektiven Imaginären zu sprechen, das aber - wie bereits gesagt nicht mit einem »sich offenbarenden Volksgeist« verwechselt werden darf. Mit Castoriadis lassen sich die Konstruktionen und instituierten Vorstellungen politischer Kollektivität als Produkte des gesellschaftlichen und politischen Vorstellens und Handelns rekonstruieren, ohne einem Wahn der grenzenlosen Machbarkeit und Gestaltbarkeit des Politischen zu unterliegen, denn das instituierte Imaginäre ist ebenso Begrenzung, wie das »radikal Imaginäre« kreative Möglichkeit ist. Die Hypostasierung der symbolischen Ordnung oder wie Castoriadis sagt: die »Entfremdung der Gesellschaft« sei darin verwurzelt, daß sie sich so instituiere, daß sie nicht sehen wolle, daß sie sich instituiere (1984: 362). D.h. die entworfene und instituierte Realität begegnet uns als vorstellungs- und handlungsunabhängiger Gegenstand und wird zur Hypostase der hervorgebrachten symbolischen Ordnung. Die Rede über diese »Gegenstände« gerät zu »echten Mythen« ,in dessen Bann wir leicht geraten. Abschließen möchte ich die Rezeption Castoriadis' mit zwei Sätzen, die auch die letzten Sätze seines Hauptwerkes sind: »Die Selbstverwandlung der Gesellschaft hängt von dem gesellschaftlichen und also im ursprünglichen Wortsinne politischen Tun der Menschen in der Gesellschaft ab - und von nichts sonst. Ein wesentlicher Bestandteil

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Dieser Ausdruck ist von Cassirer geprägt worden. Im Gegensatz etwa zu den Mythen Piatons, der diese nicht mit Realität verwechselte und damit unter ihrer Macht gestanden habe, würden die echten Mythen, so Cassirer, nicht als Bilder, sondern als Realität betrachtet (vgl. 1985 [1949]: 66).

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davon ist das denkende Tun und das politische Denken: das Denken der sich selbst schöpfenden Gesellschaft« (1984: 609). Die Produktion und Reproduktion symbolischer Ordnungen bzw. gesellschaftlicher Wirklichkeiten können mit Berger/Luckmann noch weiter erhellt werden. Daß der Mensch sich eine »stabile« Umwelt schaffen muß, ist nach Berger/Luckmann in der unvollkommenen und instabilen biologischen Verfassung des Menschen begründet. Im Gegensatz zu den Tieren habe der Mensch keine »artspezifische Umwelt«, in der er mit einem genetisch programmierten Instinktapparat überleben könne. Verglichen mit dem Instinktapparat der anderen höheren Säugetiere könne der Mensch geradezu als unterentwickelt bezeichnet werden (vgl. 1980: 49f.). Der Mensch muß seine Überlebenspraktiken und -Strategien und die hierfür erforderlichen Umweltbedingungen erst schaffen, d.h. mit Kultur im weitesten Sinne kompensieren, was von Natur aus unfertig ist. Vor diesem Hintergrund, der zugleich Möglichkeit und Begrenzung ist, produziert sich der Mensch selbst. »Die Selbstproduktion des Menschen ist notwendig und immer eine gesellschaftliche Tat. Zusammen produzieren die Menschen eine menschliche Welt mit der ganzen Fülle ihrer sozio-kulturellen und psychologischen Gebilde. Keines dieser Gebilde darf als Produkt der biologischen Verfassung des Menschen aufgefaßt werden - die, [...] dem produktiven Tun des Menschen lediglich die äußeren Grenzen setzt« (Berger/ Luckmann 1980: 54). Der Mensch muß sich äußern, um seine Welt fertigzustellen, wobei das Geäußerte ihm als faktische Wirklichkeit gegenübertreten kann, die er sich dann durch Verinnerlichung wieder aneignet. Berger hat diesen dialektischen Prozeß an anderer Stelle wie folgt zusammengefaßt: »Der Gesellschaft stiftende dialektische Prozeß besteht aus drei Schritten: Externalisierung, Objektivierung und Internalisierung. Nur wenn die drei zusammen gesehen werden, läßt sich eine der Empirie adäquate Auffassung von Gesellschaft aufrechterhalten. Externalisierung ist das ständige Strömen menschlichen Wesens in die Welt, des materiellen und immateriellen Handelns von Menschen. Objektivierung ist die Gewinnung einer Wirklichkeit (durch die Produkte wiederum sowohl materiellen wie immateriellen Handelns), einer Wirklichkeit, die ihren Hervorbringern dann als Faktizität, außen und anders als sie selbst, gegenübersteht. Internalisierung ist die Wiederaneignung eben dieser Wirklichkeit seitens der Menschen, die sie noch einmal aus Strukturen der objektiven Welt in solche des subjektiven Bewußtseins umwandeln. Aufgrund von Externalisierung ist die Gesellschaft Produkt des Menschen. Aufgrund von Objektivierung wird sie Wirklichkeit sui generis. Aufgrund von Internalisierung ist der Mensch Produkt der Gesellschaft« (Berger 1988: 4). Dies mag nochmal verdeutlichen, was ich mit Castoriadis weiter oben bereits festgestellt habe; nämlich, daß die Tatsache, daß Gesellschaft und besonders politische Kollektivität Produkte der konstruierenden Vorstellung des Menschen sind, keineswegs bedeuten muß, daß die gemachte Welt den Schluß auf eine grenzenlose Machbarkeit der Welt zuläßt. Ebenso wird hiermit aber auch deutlich, daß die Produkte des politischen Vorstellens, Denkens und Handelns kein unausweichliches und unveränderbares Schicksal sind, in daß sich die Menschen zu fügen haben, wie die Ideologen der »Nation«, der »Rasse«, der »Ethnie« uns das gerne weismachen möchten. Hypostasierung ist ebenso ein Realitätsverlust wie die Nichtanerkennung der zur Wirklichkeit geronnen Phantasie. Denn wie immer man Wirklichkeit zu gestalten

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wünscht, niemand kommt an dem vorbei, was bereits Wirklichkeit ist oder als solche anerkannt ist und wie sie interpretiert wird. Durch die Internalisierung der externalisierten Objektivationen wird aber nicht nur die politische Welt gestaltet, sondern auch die Wahrnehmungsmuster dieser Hervorbringung. Kein kollektives »Blut« oder ein »Volksgeist« prädisponiert bestimmte Verhaltensweisen, sondern die Wahrnehmung und Internalisierung einer produzierten Objektivation. Ob ein Franzose seine tägliche Menge Rotwein trinkt und der Deutsche sein Quantum Bier, ist nicht durch genetisch anders dispositionierte Geschmackssinne bestimmt oder muß auch nicht Ausdruck einer von der Gesellschaft losgelösten persönlichen Präferenz des jeweiligen Trinkers sein, sondern ist eben auch eine wahrgenommene, internalisierte Gewohnheit, eine Habitualisierung, 28 die als Symbol für eine Zugehörigkeit steht. Dies wußte auch Heinrich Heine, als er in einer Denkschrift von 1840 über die Versammlung auf der Wartburg spottete: »Mit welchem kleinseligen Silbenstechen und Auspünkteln diskutierten sie über die Kennzeichen deutscher Nationalität! wo fängt der Germane an? wo hört er auf? darf ein Deutscher Tabak rauchen? Nein, behauptet die Mehrheit. Darf ein Deutscher Handschuhe tragen? Ja, jedoch von Büffelhaut. [...] Aber Biertrinken darf ein Deutscher, und er soll es als echter Sohn Germanias; denn Tacitus spricht ganz bestimmt von deutscher Cerevisia. Im Bierkeller zu Göttingen mußte ich einst bewundern, mit welcher Gründlichkeit meine altdeutschen Freunde die Proskriptionslisten anfertigten, für den Tag wo sie zur Herrschaft gelangen würden« (in: Longerich 1990: 66f.). Was Heine hier heiter spottend schildert, ist nichts anderes als der Konflikt um Symbole, die zur Kennzeichnung des »Bandes« gesucht werden. »Die symbolische Sinnwelt kommt selbstverständlich auch durch gesellschaftliche Objektivation zustande. Doch reicht ihre sinnverleihende Qualität weit über den Eigenbereich des sozialen Lebens hinaus, so daß die Person noch bei den einsamsten Erlebnissen >ihren Ort< in ihr findet« (Berger/Luckmann 1980: 103). Die Setzung der Symbole als Zeichen der Zusammengehörigkeit ist eine zweifache Setzung. Einerseits wird mit Symbolen der »Einheit« das Kollektiv konstituiert und andererseits werden mit prädikativen Symbolen Bedeutungen hinsichtlich bestimmter Werte, Verhaltensweisen und Kristallisationen von Wünschen und Ängsten transportiert. Die Setzung des Kollektivs muß mit einem Symbolsystem legitimiert werden, damit das unsichtbare »Band« durch Kennzeichnung sichtbar wird. Mit anderen Worten: Im Unterschied zu Gegenständen, die unabhängig von ihrer Bezeichnung existieren und für unsere Wahrnehmung zugänglich sind - wie etwa ein Baum, ein Stein usw.- wird eine »Nation«, ein »Volk«, eine »Rasse« oder eine »Ethnie« eben erst dadurch zusammengesetzt (symbállein = zusammenwerfen, zusammenfügen), daß Symbole, die zu ihrer Bezeichnung gesetzt werden, zugleich die Existenz dieser Kollektive setzen, als auch Eigenschaften und Bedeutungen festlegen. Wenn Biertrinken ein Kennzeichen der Deutschen sein soll, impliziert dies, daß die Deutschen als Kollektiv existieren und das die Zugehörigen durch diese symbolische Präferenz eines Getränks anschaulich wird und eine Eigenschaft vermittelt. Die erste Setzung kann

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Zum Habitus als Vermittlungsinstanz zwischen Struktur und Verhaltenspraxis siehe auch: (Bourdieu 4 1991: 39f.).

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von einem bereits instruierten ausgehen, wie beispielsweise das französische Territorium zur Zeit der Revolution oder aber auf eine Veränderung abzielen, wie sie in der deutschen Nationalbewegung mit der Zusammenlegung der »deutschen« Territorien intendiert wurde. Beides muß legitimiert werden. Berger und Luckmann sprechen in diesem Zusammenhang von primären und sekundären Objektivationen: »Legitimation als ein Prozeß, als Legitimierung also, läßt sich als >sekundäre< Objektivation von Sinn bezeichnen. Sie produziert eine neue Sinnhaftigkeit, die dazu dient, Bedeutungen, die ungleichartigen Institutionen schon anhaften, zu Sinnhaftigkeit zu integrieren. Die Funktion dieses Vorgangs ist, >primäre< Objektivationen, die bereits institutionalisiert sind, objektiv zugänglich und subjektiv ersichtlich zu machen« (1980: 99). 29 Die Legitimierung durch Sichtbarmachung des unsichtbaren (imaginären) Bandes mit Hilfe von Symbolen kann dann auch zu stabilen Stereotypen führen. Den Juden wurde immer wieder »Häßlichkeit, Schmutz und Mangel an Geistigkeit« vorgeworfen. Die Lebensbedingungen in den Ghettos, in denen sie zu leben gezwungen wurden, waren allerdings so mangelhaft, daß die Eigenschaften, die zur Legitimation der Ghettos angeführt wurden, den Schein von Wahrheit erhielten (vgl. Mosse 1990: 168). Symbolische Eigenschaftszuschreibungen können Fakten schaffen, die dann die tatsächliche Ausbildung dieser Eigenschaften zumindest unterstützen. Bei diesem Beispiel wird deutlich, daß Symbole nicht nur innerhalb des Kollektivs konstituiert werden, sondern daß Kollektive auch von außen bezeichnet, gedeutet und bewertet werden. Ich erinnere hier an die passive und aktive Identifizierung, die ich an anderer Stelle ausgeführt habe. »Wird ein Symbol auch von der betroffenen Nation selbst akzeptiert, so tendiert es zu einem stabilen Kern-Symbol. So akzeptierte der deutsche Nationalismus den französischen Vorwurf des Pedantismus als deutsche Gründlichkeit, und der englische Nationalismus akzeptierte den französischen und deutschen Vorwurf des platten Empirismus als Pragmatismus des Bodens der Tatsachen« (Gerhard/Link 1991: 33). Die Produktion und Reproduktion der gemeinschaftsstiftenden Symbolsysteme und Wirklichkeitsbestimmungen im Inneren ist, wie festgestellt wurde, auf eine zweifache Setzung zurückzuführen. Die imaginäre Setzung der Existenz dessen, was das Innere und damit verbunden auch das Außere ist, und die Setzung der Kennzeichnungen (Symbole), die sich auf die Prädikate dieser Existenz beziehen, durch die die erste Setzung der Wahrnehmung zugänglich wird. Die Aussage beispielsweise: »Es gibt eine deutsche Nation«, ist eine Aussage, die die Existenz eben dieses Kollektivs als real setzt, ohne aber hierdurch schon als Kollektivität wahrnehmbar zu sein. Wahrnehmbar und ordnungsgenerierend wird diese Setzung aber erst mit instituierten Symbolen, die eben die Zugehörigkeit der konkreten einzelnen kennzeichnen. Diese kennzeichnenden Symbole stehen für Prädikate, denen sich die einzelnen zuordnen und

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vgl. hierzu auch: (Hoffmann 1991). Hoffmann betont am Beispiel des »Volkes«, daß die Existenz dieses Kollektivs nicht ausreicht, sondern der Benennung empirischer Merkmale bedarf. »Ohne derartige Merkmale könnte das Bewußtsein eines Volkes von sich als einem >Volk< nicht handlungswirksam werden. Gegenüber der primären Objektivation im Namen >Volk< für die Wir-Idee sollen solche Merkmale hier als sekundäre Objektivationen bezeichnet werden. In diesen sind Wertvorstellungen verankert, die im Selbstverständnis der Völker einen obersten Rang einnehmen und denen daher eine gemeinsamkeitsstiftende und andere Menschen ausschließende Funktion zukommt« (199).

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mitunter zugeordnet werden. Die Aussagen, etwa über die Geschichte, Sitten und Gebräuche, Vorlieben usw., die über eine Nation gemacht und symbolisch dargestellt werden, schaffen wahrnehmbare Identifizierungsangebote, die die Existenzsetzung bekräftigen. Die »erfolgreiche« Instituierung politischer Kollektivität bedarf also einerseits der existenzsetzenden Symbole der Einheit, andererseits der prädikativen Symbole, die die »Einheit« durch festgelegte Eigenschaften erfahren lassen. Stellt man die Frage, wer genau denn das oder die Subjekte dieser Setzungen ist oder sind, müßten die Symbolsysteme der verschiedenen politischen Kollektive in ihrer Entstehungsgeschichte rekonstruiert werden. Dies kann hier selbstverständlich der Fülle dieser Aufgabe wegen nicht geleistet werden. Dennoch kann eine Tendenz formuliert werden, die mit wenigen Beispielen zu illustrieren ist. Im Feudalismus und Absolutismus waren es wenige oder einer, die durch »Gottes Gnaden« legitimiert, diese Setzungen festlegen konnten und zwar in gegenseitigen, meist militärischen Auseinandersetzungen. Wenn Ländereien durch einen König erobert wurden, war es irrelevant, ob die jeweilige Bevölkerung sich in den Symbolen des Eroberers wiedererkennen konnte oder nicht. Entscheidend war, ob der jeweilige Herrscher stark genug war, seine Insignien gegenüber einem anderen Herrscher durchzusetzen. Was zu einem Königreich gehörte und was nicht, wurde nicht durch die Bevölkerungen bestimmt, sondern durch das ökonomische und militärische Potential sowie dem Willen der Könige und Feudalherren. Auf einen Punkt gebracht: es waren wenige und diese wenigen waren »durch göttlichen Willen« bestimmt. Die Zugehörigkeit zu einem politischen Gebilde war wesentlich von oben durch Herrschaft geregelt. Den Bruch, der dann in der Französischen Revolution erfolgte, hat Lynn Hunt wie folgt formuliert: »Die Könige empfingen bei der Krönung >die übernatürlichen Insignien [ihrer] Macht< im Namen eines transzendenten Gottes, während der Treueeid auf die Revolution eine Souveränität begründete, die aus der Gemeinschaft hervorging« (1989: 35). Die Idee der »souveränen Nation« stellt beide Bestimmungen in Frage. Es ist nicht mehr der eine König oder die wenigen Feudalherren, sondern eine erst noch zu bestimmende Menge der Vielen, die sowohl festlegen müssen, was das Ganze - oder die Nation - ist, als auch durch welche Eigenschaften oder Merkmale es zum Ausdruck gebracht werden kann. Hierin liegt eine fundamentale Veränderung der politischen Kollektivität in der Moderne begründet. Diese zweifache Setzung, verbunden mit den historisch möglich gewordenen ökonomischen und technologischen Voraussetzungen einer Massenkultur, wie sie Anderson mit der Genese des Kapitalismus und der Erfindung des Buchdrucks beschrieben hat, ist eine der wichtigsten Charakterzüge moderner politischer Kollektivität. Die Technologie des Buchdrucks machte die massenhafte Herstellung von Schriften möglich, während die gewinnorientierte Ökonomie des Kapitalismus für die Verbreitung dieser Produkte sorgte (vgl. Anderson 1988: 50f.). An diese vorgestellte Gemeinschaft der »Mit-Leser«, wie Anderson schreibt, konnte die Setzung des politischen Kollektivs (Nation) anknüpfen. Die »Nation« kann aber nicht aus der »Mit-Leser« Gemeinschaft kausal hergeleitet werden, sondern hier mußte der Legitimitätsbruch, der allgemein mit den Begriffen »Aufklärung, Säkularisierung« und »Emanzipation« benannt wird, hinzukommen. Die monarchischen Hymnen in Europa beispielsweise wurden von den Herrschern initiiert; durch Preisausschreiben, Aufträge an Komponisten; in Portugal verfaßte der

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König die Hymne sogar selbst (vgl. Fehrenbach 1971: 320). 30 Die Marseillaise entstand in einem Wechselspiel zwischen Propaganda und der Spontanität der Bürger. Die Marseillaise war zunächst nur eines von vielen Kriegsliedern der Nationalgarde. Zu der Revolutionshymne wurde die Marseillaise einerseits durch Fürsprecher im Jakobinerclub, andererseits durch ihre Beliebtheit, die sie wegen ihres mitreißenden Rhythmus', den plötzlichen Steigerungen und ihres erregungwekkenden Potentials genoß (vgl. Fehrenbach 1971: 304). Durch die Presse und das Spielen der Marseillaise in den Aktpausen der Theater wurde diese Hymne zunehmend populär, was die Voraussetzung dafür war, daß sie für Robbespierre und die Jakobiner zu einem Propagandainstrument werden konnte (vgl. Fehrenbach 1971: 304). In der Französischen Revolution wurden die politischen Akteure, die Lynn Hunt als »politische Klasse« beschreibt, erst durch die »symbolische Praxis - die Verwendung einer bestimmten Rhetorik, die Ausbreitung bestimmter Symbole und Rituale« hervorgebracht (1989: 26f.). Es gab weder ein »Drehbuch« für die Inszenierung der Revolution, das die »Rollen« der einzelnen Akteure festlegte, noch einen bestimmten »Regisseur«, der vorab als bestimmende Institution gesetzt war. »Da es keine gewohnheitsrechtliche Tradition gab und auch kein allgemein anerkannt heiliges Buch, auf das man sich beziehen konnte, mußte die Stimme der Nation unablässig zu hören sein. Das Sprechen und Bezeichnen erhielt eine gewaltige Bedeutung; es wurde zur Quelle von Bedeutung« (Hunt 1989: 60). Weil noch unklar war, wer oder was das Ganze ist und wodurch dieses bezeichnet und charakterisiert werden konnte, war der Streit um die Symbole nicht nur ein Kampf um die politische Macht, sondern als Voraussetzung dafür ein Kampf um die Bestimmung der Wirklichkeit. Parteipolitik war verpönt; es mußte immer der Anschein erweckt werden, daß der einzelne Akteur oder eine Gruppe mit ihrer Rhetorik und Symbolik das Ganze oder den volonté nationale repräsentierte. »Unterschiede in der Kleidung standen für unterschiedliche politische Positionen; bestimmte Farben, das Tragen von Hosen einer bestimmten Länge, Schuhe eines gewissen Zuschnitts oder nur der falsche Hut konnten zum Auslöser für einen Streit, einen Faustkampf oder allgemeine Unruhen in den Straßen werden. Während der Revolution wurden die gewöhnlichsten Gegenstände und Kleidungsstücke zu politischen Emblemen und potentiellen Anlässen für politische und soziale Konflikte. Farben, Schmuck, Kleidung, Geld, Kalender und Spielkarten wurden zu >Erkennungsmarken< für die eine oder andere Seite« (Hunt 1989: 71). Indem es um eine Neugestaltung der politischen Ordnung ging, waren Symbole, wie etwa Kleidung, nicht nur Ausdruck einer bestimmten politischen Vorstellung, sondern zugleich auch ein Mittel, mit dem die Vorstellung verbreitet und als Entwurf zur Herstellung der neuen Ordnung fungierte. Das Gesellschaftlich-Geschichtliche als spannungsvolle Einheit von instituierter und instituierender Gesellschaft, um Castoriadis nochmal aufzugreifen, wird auch dort deutlich, wo die instabil instituierte »politische Klasse« der jeweils dominierenden Gruppe versuchte, ihre Instituierung als »Sprachrohr der Nation« zu stabilisieren. 31

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Fehrenbach führt auch noch weiter aus, daß die monarchischen Hymnen fast ausnahmslos durch ihre feierlich getragenen Melodien an Kirchenchoräle erinnerten und dadurch die Ehrfurcht vor dem Gottesgnadentum des Monarchen ausdrückten (315).

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Dies war nur möglich über den Schutz des instabil Instruierten durch die Ausübung von Herrschaft. Dies erforderte einerseits die Disziplinierung der abweichenden symbolischen Formen (etwa das Verbot kirchlich-religiöser oder monarchistischer Symbole), andererseits die Aufnahme und Transformation der verbreiteten, populären Symbole. »Vom Volk >erfundene< Symbole wie die Kokarde und der Freiheitsbaum mußten in das Repertoire der Symbole aufgenommen werden, weil sie für die Stimme des Volkes zu stehen schienen. Zugleich aber versuchten die Verantwortlichen, diese volkstümlichen Formen zu disziplinieren und eigene Symbole (wie die Freiheitsgöttin, die weibliche Personifizierung der Republik) einzuführen, um die Erziehung des Volkes zur Wahrnehmung seiner Rechte und zur Erfüllung seiner Pflichten anzutreiben« (Hunt 1989: 95). 3 f Auch die These von Castoriadis, daß das Symbolische - auch das neu Entstehende - Anknüpfungspunkte benötigt, um ausgedrückt zu werden, wird von Hunts Untersuchung bestätigt. So war die »Freiheitsgöttin« der römischen Tradition bereits durch ein Gemälde Moreaus von 1775 bekannt, bevor sie im Verlauf der Revolution als »Marianne« zu einer zentralen Symbolgestalt werden konnte. Ebenso wurden viele Symbole, die aus anderen Traditionen bekannt waren (z.B. aus der Bibel, der katholischen Tradition, der Antike oder Freimaurerei), als Bedeutungsträger eingeführt. »Das Richtscheit der Freimaurer wurde zum Symbol für Gleichheit, das römische Rutenbündel zum Symbol für Einheit, der römische und gallische Lorbeerkranz zum Zeichen bürgerlicher Tugend, das ägyptische Auge zum Emblem der Wachsamkeit, und eine Fülle weiblicher Göttinnen stand nicht nur für die Freiheit, sondern auch für Vernunft, Natur, Sieg, Empfindsamkeit, Barmherzigkeit, Mildtätigkeit und ähnliches. [...] An die Stelle der katholischen Heiligen traten die neuen Revolutionsembleme; an die Stelle der Priester und Vikare der Kirchen traten die Beamten und Zeremonienmeister des neuen Staates« (Hunt 1989: 80f.). Die drei Komponenten der Wirklichkeitskonstruktion: Externalisierung, Objektivation und Internalisierung, wie sie Berger/Luckmann formuliert haben, lassen sich mit der Untersuchung Hunts ebenfalls bestätigen. Aus den zunächst divergierenden Externalisierungen der verschiedenen Akteure und Gruppen bildeten sich nach und nach dominante Bezugsrahmen heraus (Objektivationen), die dann als instituierte Wirklichkeit auf die einzelnen in größerer Verbindlichkeit zurückwirkten, weil sie durch Internalisierung akzeptiert wurden. »Der symbolische Rahmen der Revolution

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Bourdieu hat auf die Bedeutung der sprechenden Repräsentanten für die Existenz eines Kollektivs hingewiesen. Die Existenz von Repräsentant und Kollektiv führt er auf einen »Urzirkel der Repräsentation« zurück: »Weil der Repräsentant existiert, weil er repräsentiert (ein symbolischer Akt), existiert die repräsentierte symbolisierte Gruppe und läßt sie im Gegenzug ihren Repräsentanten einer Gruppe existent werden (1989: 37). Mit Voegelin könnte man auch von der Bedingung der »Artikulation« für die Repräsentation sprechen, die zur Hervorbringung der Gesellschaft unerläßlich ist: » U m zur Existenz zu gelangen, muß eine Gesellschaft sich artikulieren, indem sie einen Repräsentanten hervorbringt, der für sie handelt« ( 2 1965: 67).

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Ferner führt Hunt aus, daß der Konvent die Freiheitsgöttin einführte, weil darin ein geeigneter Ersatz für den König als zentrales Symbol der Regierung und ihrer Legitimität erblickt wurde, das gleichzeitig abstrakt genug war, um nicht an die monarchische Vergangenheit zu erinnern. Hierzu komplementär verbrannten Delegierte die verhaßten Symbole der Monarchie und erneuerten damit die rituelle Opferung des Monarchen für die Göttin der Republik (1989: 85 u. 121).

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verlieh der neuen politischen Kultur Einheit und Kontinuität. Der beständige Bezug auf die neue Nation, das Gemeinwesen und den allgemeinen Willen trug dazu bei, den Sinn für nationale Ziele zu stärken. Marianne, Herkules, die Nationalkokarde und die Feste waren als Appelle an das französische Volk gedacht. Die Freiheitsbäume, die patriotischen Altäre, die Jakobinerclubs und Wahlverfahren setzten sich in nahezu identischer Form überall durch. Dieser symbolische Rahmen war nicht so sehr Ausdruck eines bereits vorhandenen Nationalgefühls oder der demokratischen Bestrebungen der Massen; vielmehr wurde ein Nationalgefühl durch diesen symbolischen Rahmen erst erzeugt. Die Umzüge, die Eide, der Umlauf von Münzen mit Abbildungen der Freiheitsgöttin oder der Herkulesfigur, all das schuf und stärkte die neue Nation, die zuallererst von der revolutionären Rhetorik gesetzt worden war« (Hunt 1989: 151 f.). In diesem Zusammenhang möchte ich nochmal daran erinnern, daß Französisch als Nationalsprache erst im Zuge der Revolution etabliert werden konnte und die occitanische, katalanische, baskische, bretonische und korsische Sprache mehr und mehr verdrängte. Aufgrund eines Konventsbeschlusses wurde Französisch erst 1794 zur offiziellen Unterrichtssprache (siehe Kap. 3.2). Obwohl die Nationbildung in Deutschland bekanntermaßen innerhalb anderer politischer Bedingungen verlief, sind auch hier die Homogenisierungsbestrebungen der Symbolwelten erkennbar, bevor das existierte, was man mit diesen Symbolen zu bezeichnen trachtete, nämlich die »deutsche Nation« als politisches »Ganzes«. Zum Beispiel wären hier die Bemühungen der Brüder Grimm zu erwähnen: »Die Fleißarbeit der Brüder Grimm, Epen, Märchen und Lieder zu sammeln und die Bedeutung der Wörter in einem deutschen Wörterbuch zu katalogisieren, war Teil einer politischen Homogenisierungsanstrengung, die den Anspruch der bis dahin heterogenen Bevölkerung auf Nationbildung in definierten Grenzen und unter einer legitimen Verfassung begründen sollte. Sprachforschung erschien Jakob Grimm als das >alle vaterländischen Wissenschaften verknüpfende Bandunserer deutschen Vorfahren< in den mythischen Urgrund des deutschen Volkes verwiesen, gilt als Symbol teutscher Gesinnung und Heldenkraft, teutscher Einheit. Edle, kräftige Größe wurde ihr attestiert und jahrhundertelange Dauer. Damit konnte sie zum Symbol des unvergänglichen deutschen Vaterlandes werden. [...] Seit der Befreiungsbewegung gehören die Eiche, das Eichenlaub, der Siegerkranz aus Eichenlaub - die Krone für den siegreichen Bürger - , f...] zu den Attributen der Germania« (Brunn 1989: 108). Die Intensität, mit der die Symbole zur Orientierung der einzelnen fungieren, hat in der Geschichte des Nationalismus, Rassismus und Ethnizismus stark variiert. Diese

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zu Ideologien systematisierten Symbolsysteme werden vor allem in Krisen- und Umbruchzeiten besonders stark expliziert, wenn entweder neue Ordnungen erstellt werden müssen oder die bestehende bedroht ist, wobei nicht unbedingt eine reale Bedrohung vorhanden sein muß, sondern entscheidend ist, ob die Ordnung als bedroht wahrgenommen und vorgestellt wird. Das bedeutet aber nicht, daß die Kollektivsymbole in Zeiten einer relativen Stabilität bedeutungslos wären. Mit Giddens könnte man hier von »Strukturmomenten« als den institutionalisierten Aspekten sozialer Systeme sprechen, durch die Beziehungen über Raum und Zeit stabilisiert werden (vgl. 1988: 45). Diese symbolische Ordnung, die als Struktur instituiert ist, bedeutet für die Handelnden sowohl Bedingung als auch Möglichkeit. »In und durch ihre Handlungen reproduzieren die Handelnden die Bedingungen, die ihr Handeln ermöglichen« (Giddens 1988: 52). Bezogen auf den modernen demokratischen Nationalstaat bedeutet dies, daß die Praxis demokratischen Handelns nur möglich ist, wenn in irgendeiner Weise das Kollektiv (demos) bestimmt ist und diese Bestimmung in den Handlungen reproduziert wird. Diese Bestimmung ist dann sowohl Ermöglichung und Bedingung demokratischen Handelns. Die »Nation« ist aber nur eine und keine zwangsläufige Bestimmung des demos. Wer dies dennoch behauptet, verdinglicht die von Menschen gemachte Ordnung. »Als >verdinglichenden Modus< sollte man jene Form oder jenen Stil des Diskurses ansehen, in welchem die Strukturmomemte sozialer Systeme so erscheinen, als wären sie im selben Sinne unveränderlich, wie man das von den Naturgesetzen erwartet« (Giddens 1988: 234). Was die Kontinuität der Praxis bzw. die verändernden Interventionen betrifft, formuliert Giddens einen Zusammenhang: »Je größer die Raum-Zeit-Ausdehnung sozialer Systeme - und das heißt je weiter ihre Institutionen in Raum und Zeit ausgreifen desto größer ihre Widerstandskraft gegen die Einwirkung oder Veränderung seitens individueller Akteure« (1988: 224). Um die Stabilität und Zähigkeit der kollektiven Symbolik zu verstehen, genügt es m. E. aber nicht, lediglich die Raum-Zeit-Ausdehnung der instituierten Symbole zu betrachten, wenngleich die Routinisierung und die traditionelle Gewöhnung über lange Zeit und in großen Räumen nicht zu unterschätzen ist. Stabil sind symbolische Ordnungen in einer großen Raum-Zeit-Ausdehnung meist dann, wenn sie für die jeweiligen Individuen Signifikate anbieten, die über das unmittelbar intendierte hinausgehen. Das unmittelbar Intendierte kann die Bestimmung eines demos sein, verbunden mit dem Wunsch nach Ablösung einer ungerechten Herrschaftselite; die Befreiung von diskriminierenden Verhältnissen innerhalb eines umfassenderen Verbandes oder die Vereinigung mit anderen - als identisch betrachteten. Was auch immer das unmittelbar intendierte sein mag, was symbolische Ordnungen über lange Zeit und große Räume relativ stabil bleiben läßt sind die implizierten Kompensationssignifikate. Mit diesen Kompensationssignifikaten wird etwas ausgeglichen, das aus der Sicht derjenigen Individuen, die sich durch diese impliziten Bedeutungen angerufen fühlen, nicht anders bewältigt werden kann. Die Vorstellung des politischen Kollektivs als »Abstammungsgemeinschaft« kann die unmittelbare Intention haben, die Menge der partizipationsberechtigten Bürger eines Staates festzulegen. Ein der »Abstammungsgemeinschaft« inhärentes Kompensationssignifikat ist die Übertragung des Verwandtschaftsbandes aus der sich auflösenden Produktionsfamilie auf die Nation. »In dem Maße also, wie sich die abstam-

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Imagination, Symbol und Ordnung

mungsmäßige Verwandtschaft, die Solidarität zwischen den Generationen und die ökonomischen Funktionen der Familie auflösen, entsteht keine natürliche Mikrogesellschaft oder eine rein >individualistische< Vertragsbeziehung, sondern eine Nationalisierung der Familie, deren Gegenstück die Identifikation der nationalen Gemeinschaft mit einer symbolischen Verwandtschaft ist; diese wird durch pseudoendogamische Regeln bestimmt und kann, mehr noch als eine Aszendenz, in eine gemeinsame Deszendenz projeziert werden« (Balibar/Wallerstein 2 1992: 125).33 Der Verlust der traditionellen Familie wird in diesem Fall durch die Bedeutung der »Nation« als Super-Familie kompensiert. Dieses Beispiel zeigt schon, daß die kollektive Symbolik nicht nur an Signifikanten vorhandener Traditionen anknüpft, diese transformiert und durch Neuschöpfungen erweitert, sondern auch an bereits existierenden Signifikaten, die den Individuen zur Orientierung ihrer Existenz und Sinnerfüllung gedient haben, dies in der gewohnten Weise aber nicht mehr können und auf andere Signifikanten übertragen werden. Es war aber nicht nur die traditionelle Familie, die in der Moderne ins Wanken geriet, sondern die traditionellen Weltbilder und Existenzinterpretationen, die in den späteren europäischen Nationalstaaten vor allem christlich-religiös geprägt waren. Stichworte wie »Säkularisierung« und »Resakralisierung« markieren ein Spannungsverhältnis, das in den nächsten Kapiteln im Hinblick auf politische Kollektivität betrachtet werden soll. Die in den symbolischen Ordnungen enthaltenen Kompensationssignifikate müssen nun auf ihre religiösen Dimensionen hin untersucht werden. Sowohl der Erfolg der modernen Kollektivitätsideologien als auch die damit verbundenen Probleme der Gewalt können hierdurch erhellt werden.

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Siehe hierzu auch: (Morin 1991b: 53f.). Morin konstatiert hier, daß die Nation die Familienbeziehung zwischen Mutter, Vater und Kind annehme. Während die Nation feminisiert und als nährende Mutter betrachtet würde, die von ihren Kindern verehrt und beschützt werden müsse, erhalte der Staat paternalistische Züge, indem man ihm eine allzeit gerechtfertigte Autorität zuschreibe, mit der er zu den Waffen und der Pflicht rufen könne.

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Die religiösen Dimensionen politischer Kollektivität

7.1

Religion, Säkularisierung und Resakralisierung. Zu einem SpannungsVerhältnis politischer Kollektivität

Das Verhältnis zwischen Religion und politischer Kollektivität hat - so scheint es durch die blutigen Konflikte im ehemaligen Jugoslawien, der ehemaligen Sowjetunion und Ost-Europa eine neue Aktualität gewonnen. Die Evidenz der religiösen Bezüge, die sich in den verschiedenen »nationalen« oder »ethnischen« Konstruktionen dem Betrachter aufdrängt, läßt vielleicht schon ahnen, daß es sich hierbei nicht um ein beiläufiges, sondern um ein sehr zentrales Verhältnis handelt. Es wäre allerdings ein Fehler, beschränkte man die Wirksamkeit des Verhältnisses zwischen Religion und politischer Kollektivität auf diese aktuellen Prozesse, mit dem Hinweis, daß es sich hier um spezifische Folgeerscheinungen handele, deren Ursache allein im Zusammenbruch des Kommunismus liege. Vielmehr ist das Verhältnis zwischen politischer Kollektivität und Religion bedeutender und weitgehender als es die expliziten Bezüge etwa der Serben auf das orthodoxe Christentum, der Kroaten auf das katholische Christentum oder der Bosnier auf den Islam - erkennen lassen. Die religiösen Dimensionen politischer Kollektivitätskonstruktionen werden in der Forschungsliteratur zwar häufig gesehen und benannt, aber auch oft mißverständlich oder verzerrend dargestellt. So schreibt beispielsweise Winkler: »Die Entthronung des christlichen Universalismus schloß als radikale Konsequenz die Umwandlung des Nationalismus in einen Religionsersatz in sich: Wenn die Loyalität gegenüber der Nation einen höheren Rang für sich beanspruchte als jede andere Bindung, dann kam der Nation eine geradezu transzendentale Qualität zu. Sie wurde an Stelle der Kirche zur verbindlichen Sinngebungs- und Rechtfertigungsinstanz des nachrevolutionären Menschen« (1978: 6). Wenn Nationalismus in diesem Sinne als Religionsersatz bezeichnet wird, ist dies nur ein kleiner Teil der Wirklichkeit, denn viele Nationalisten verstanden es durchaus, Nationalismus und religiöse Tradition miteinander zu verbinden. Zudem muß man fragen: Wenn der Nationalismus die Religion ersetzt hat, wie ist dann dieser Ersatz zu bezeichnen? Als schlichte säkulare Weltanschauung? Dazu würden aber die von Winkler festgestellten »transzendentalen Qualitäten« nicht passen. Wird der Nationalismus aber als eine Religion verstanden, ist er kein Ersatz, sondern allenfalls eine andere Form von Religion.

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Die religiösen Dimensionen politischer

Kollektivität

Minogue hat bemerkt, »daß der Nationalismus gerade zu dem Zeitpunkt in der Welt aufkam, als die Anschauungen und Einstellungen der Menschen immer weniger von der Religion bestimmt wurden. In dem Maße, in dem die Religion an Bedeutung verlor, traten politische Ideologien, insbesondere der Nationalismus, in den Vordergrund« (1970: 183). Diese Interpretation des Nationalismus, so Minogue, lasse sich auch weiter erhärten, wenn man die Sprache des Nationalismus heranziehe, die von einem eindeutig religiösen Eifer durchdrungen sei (1970: 183). Hier wäre zu fragen, ob es wirklich die Religion war, die im Europa der Aufklärung und des Schismas ins Wanken geriet oder lediglich bestimmte religiöse Traditionen, nämlich die christlichen Traditionen und ihre Institutionen. Wenn Minogue die politischen Ideologien, insbesondere den Nationalismus an die Stelle der Religion gerückt sieht, und sie an anderer Stelle als Religion bezeichnet, drängt sich die Frage auf, ob politische Ideologie und Religion dasselbe sind und ob ein sprachlich explizierter religiöser Eifer als Kriterium der Religion bereits genügt. Es kann auch nicht genügen, wenn der Nationalismus oder Rassismus als »säkulare« oder »weltliche« Religion (vgl. Mosse 1990: 27; 1993: 13f.) bezeichnet wird, ohne auszuführen, was unter »säkularer« oder »weltlicher« Religion verstanden werden kann. Deutlicher wird es bei Lemberg ausgedrückt, der hinsichtlich des Nationalismus die Begriffe: Religion, Säkularisierung und Re-Sakralisierung in einen Zusammenhang stellt. »Der Weg zum modernen Nationsbegriff führt über mehrere Stufen der Säkularisierung. Aber das Bedürfnis nach Verankerung in der Transzendenz bewirkt verschiedene Formen der Re-Sakralisierung der säkularisierten, insbesondere der staatlich geformten Nation. [...] Das Erwachen der modernen Völker vollzieht sich unter dem Einfluß einer Ideologie, die das Volk oder die Nation - ob nun als eine Art Individuum mit einer Seele ausgestattet oder als Gemeinschaft von Einzelmenschen betrachtet - zum Ergebnis eines göttlichen Schöpfungsaktes macht, in ihrer Einheit und Eigenart von Gott gewollt, im göttlichen Schöpfungsplan mit einer Sendung beauftragt. Nun ist der Dienst an Volk und Vaterland zugleich die Erfüllung eines göttlichen Gebotes. Nun ist ein Angriff gegen ihren Bestand, er komme von innen oder außen, gegen den Willen Gottes gerichtet und darum sündhaft. Diese Re-Sakralisierung ermöglicht es auch der säkularisierten Nation, die Hingabe ihrer Angehörigen, ihr Leben und ihren Tod, zu fordern« (1964: 96). Auch wenn Lemberg nicht von einem Spannungsverhältnis spricht, wird doch hier deutlich, daß die Konstruktion des politischen Kollektivs zwar aus der traditionellen Konstruktion der Transzendenz herausgelöst wird - was allerdings nicht generell der Fall ist 34 - aber durch das »Bedürfnis nach Verankerung in der Transzendenz« in das Spannungverhältnis zwischen Säkularisierung und Re-Sakralisierung gerät. Auch Hayes hat den Nationalismus als Religion bezeichnet, die er mit anderen traditionellen Religionen in eine Reihe stellt und hervorgehoben, daß »man' s religious sense is exemplified not only in great surviving religions such as Christianity, Hinduism, Buddhism, and Islam, and in the animism and pagan cults of primitiv peoples, but in contemporary communism and especially in modern nationalism« (1960: 18).

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Dieses Problem wird im nächsten Kapitel ausführlich behandelt.

Religion, Säkularisierung

und

Resakralisierung

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Daß Hayes den Nationalismus als Religion neben andere stellt, ergibt sich für ihn aufgrund mehrerer Parallelen, die sich beim Vergleich von Nationalismus und anderen Religionen - wobei er besonders das Christentum hervorhebt - ergeben. »To national State, as to universal Church, is attributable a mission of salvation and an ideal of immortality. The nation is conceived of as eternal, and the death of its loyal sons only add to its undying glory. It guards its members against any foreign devil, fosters for them the arts and sciences, and gives them nourishment. [...] It is primarily spiritual, even other-worldly, and its driving force is its collectiv faith, a faith in its mission and destiny, a faith in things unseen, a faith that would move mountains« (Hayes 1960: 165). Diese in den Kollektivitätsvorstellungen auffindbaren religiösen Topoi sind zweifellos ein gewichtiges Argument, um den Nationalismus als eine Religion zu betrachten. Gleichwohl muß aber gefragt werden, ob die Religion des Nationalismus tatsächlich nichts anderes ist als die genannten anderen Religionen. Um den religiösen Dimensionen der modernen politischen Kollektivitätsvorstellungen auf die Spur zu kommen, ist es m. E. notwendig, sie in einem Spannungsverhältnis zwischen traditioneller Religion, Säkularisierung und Re-Sakralisierung zu denken. In den genannten Beispielen aus der Forschungsliteratur wird aber bereits deutlich, daß insbesondere die Begriffe Religion und Säkularisierung keineswegs trennscharfe analytische Kategorien sind, die keiner Klärung bedürfen. Um grobe Mißverständnisse zu vermeiden, müssen diese Begriffe für das Problem der politischen Kollektivität zumindest so weit erörtert werden, daß die Kriterien für Religion und Säkularisierung als analytische Kategorien deutlich werden. Es geht mir nicht darum, allgemeingültige Definitionen dieser Begriffe vorzuschlagen, sondern plausible Grenzlinien zu markieren, die Voraussetzung dafür sind, Religion und säkulare Weltanschauungen unterscheiden zu können, auch wenn diese Grenzlinien eher fließend als starr sind. Aus diesem Grunde möchte ich im folgenden einige Positionen aus der Diskussion um den Religionsbegriff heranziehen. Die Etymologie von Religion bleibt leider unscharf und kann als Richtschnur kaum verwendet werden. Die Bedeutung von religio, der lat. Wurzel von Religion, war bereits in der Spätantike umstritten. »Cicero leitet religio von dem Verb >relegere< ab und zielt mit ihr auf den den Göttern immer erneut entgegenzubringenden Dienst der Verehrung. Ebenso einflußreich ist die von Laktanz und Augustin vertretene Herleitung von >religarereeligere< zurück, so daß mit religio der Akt intendiert ist, durch den sich der Mensch für Gott, nachdem er ihn verlassen hatte, wieder entscheidet« (Wagner 1986: 20). Da hier die Erörterung des Religionsbegriffs hinsichtlich politischer Kollektivität von besonderem Interesse ist, erlaube ich mir einen Sprung vom spätantiken Streit um den Begriff religio und komme gleich zur Religionssoziologie Dürkheims, der als erster Soziologe die Entstehung der Religion in den Zusammenhang gesellschaftlicher Konstitutionsprozesse rückte. Nach Dürkheim ist Religion »ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d. h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören. Das zweite Element, das in unserer Definition auftaucht, ist nicht weniger wichtig als das erste; denn wenn man zeigt, daß die Idee der Religion von der Idee der Kirche nicht

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Die religiösen Dimensionen politischer

Kollektivität

zu trennen ist, dann kann man ahnen, daß die Religion eine im wesentlichen kollektive Angelegenheit ist« ( 3 1984: 75). Letztlich wird Religion bei Dürkheim als »der konzentrierte Ausdruck des gesamten kollektiven Lebens bestimmt«. Die Idee der Gesellschaft, so Dürkheim, sei die Seele der Religion ( 3 1984: 561). Religion wird hier zum kollektiven Ideal, dem die Funktion der Gesellschaftkonstitution und Integration zukommt. So heißt es weiter: »Eine Gesellschaft kann nicht entstehen, noch sich erneuern, ohne gleichzeitig Ideales zu erzeugen. Diese Schöpfung ist für sie nicht irgendeine Ersatzhandlung, mit der sie sich ergänzt, wenn sie einmal gebildet ist, es ist der Akt, mit dem sie sich bildet und periodisch erneuert. [...] Denn eine Gesellschaft besteht nicht einfach aus der Masse von Individuen, aus denen sie sich zusammensetzt, aus dem Boden den sie besetzen, aus den Dingen, deren sie sich bedienen, aus den Bewegungen die sie ausführen, sondern vor allem aus der Idee, die sie sich von sich selbst macht. [...] Es ist keinesfalls zutreffend, daß das kollektive Ideal, das die Religion ausdrückt, durch irgendeine innewohnende Kraft des Individuums entsteht, vielmehr lernt das Individuum eher in der Schule des kollektiven Lebens zu idealisieren. [...] Indem die Gesellschaft ihn in ihre Aktionssphäre reißt, impft sie ihm das Bedürfnis ein, sich über die Erfahrungswelt zu erheben, und gibt ihm gleichzeitig die Mittel, diese andere Welt zu begreifen« ( 3 1984: 565f.). Das Verdienst Dürkheims besteht darin, die Konstitution der Gesellschaft als religiöses Phänomen interpretierbar gemacht zu haben. Diese Ausweitung des Religionsbegriffs von den traditionellen Religionen auf das »kollektive Ideal« ist bei Dürkheim aber auch gleichzeitig eine Reduktion der Religion auf ihre Funktion der gesellschaftlichen Integration. Die Gesellschaft wird bei ihm zu einem letztlich nebulösen, religionsgenerierenden Subjekt erkoren, daß nach seiner Ansicht die individuellen Dimensionen der Religion zu vernachlässigen erlaubt. Hierin mag der Grund dafür liegen, daß Dürkheim das Problem übergeht, daß die Religion eben nicht nur integrierend und konstituierend wirkt, sondern auch sich ins Gegenteil verkehren kann, nämlich in Desintegration und Destruktion. Die Religion kann nicht nur auf eine gesellschaftliche Funktion zurückgeführt werden, weil sie für die einzelnen einer Gesellschaft immer auch Existenzinterpretation bedeutet, die in ihren verschiedenen Ausprägungen nicht nur über die gesellschaftliche Integrationsfunktion hinausschießen, sondern ihr auch zuwiderlaufen können. Für die einzelnen ist Religion nicht zuletzt Kontingenzbewältigung. »Es gibt Ereignisse, Situationen und Sachverhalte, die außerhalb menschlicher Disposition stehen und sich prinzipiell nicht in menschlichen Handlungssinn verwandeln lassen. Solche Kontingenzerfahrungen sind zusammen mit dem Heilsverlangen der Ursprung aller Kontingenzbewältigungen in Wissenschaft, Metaphysik und Religion« (Wuchterl 1982: 48). Ich werde später noch auf diesen Problembereich des Religiösen zurückkommen, möchte aber zunächst zur phänomenologischen Betrachtung der Religion kommen, die in den Religionswissenschaften großen Einfluß hat. Bei Rudolf Otto ist die zentrale Kategorie der Religion das Heilige bzw. das Numinose. Dieses Numinose ist für ihn nicht als Funktion eines anderen ableitbar, sondern ein Phänomen sui generis. »Etwas als >heilig< erkennen und anerkennen ist in erster Linie eine eigentümliche Bewertung die so nur auf religiösem Gebiete vorkommt. Sie greift zwar alsbald auf anderes, z.B. auf die Ethik über, aber sie entspringt nicht selber aus anderem« (1971 [1917]: 5).

Religion, Säkularisierung

und

Resakralisierung

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Das Numinose ist bei Otto keine definierbare Erkenntnis im strengen Sinne, sondern wird als Gefühl erlebt, das er »Kreaturgefühl« nennt. Dieses Gefühl ist »das Gefühl der Kreatur die in ihrem eigenen Nichts versinkt und vergeht gegenüber dem was über aller Kreatur ist. [...] Unmittelbar und in erster Hinsicht wäre das religiöse Gefühl dann ein Selbstgefühl, das heißt ein Gefühl einer eigentümlichen Bestimmtheit meiner selbst, nämlich meiner Abhängigkeit« (1971 [1917]: 10). Dieses Gefühl will Otto aber nicht als ein subjektives, gar psychologisch erklärbares Phänomen verstanden wissen. »Das >Kreatur-gefühlScheuGanz anderenatürlichenprofanen< Welt sind. [...] Der heilige Stein, der heilige Baum werden nicht als Stein oder Baum verehrt; sie werden verehrt, weil sie Hierophanien sind, weil sie etwas >zeigenfesten Punkt< und damit die Möglichkeit, sich in der chaotischen Homogenität zu orientieren, >die Welt zu gründenfeste Punkt< ist nicht mehr eindeutig ontologisch bestimmt; er erscheint und verschwindet je nach den Erfordernissen des Tages« (Eliade 1990 [1957]: 25). Die »heilige Wirklichkeit« ist hier die »höhere« Wirklichkeit, die erst die Orientierung im Profanen ermöglicht und die profane Ordnung vom Makel der Willkür befreit, weil diese eine Manifestation des Heiligen darstellt. Dies entspricht nach Eliade dem Verlangen des religiösen Menschen »in der objektiven Realität [d. h. hier: in der heiligen Realität, P. B.] zu leben, nicht in der endlosen Relativität rein subjektiver Erfahrungen gefangen zu bleiben, in einer wirklichen und wirksamen - und nicht in einer illusorischen - Welt zu stehen« (1990 [1957]: 29). Der homo religiosus, so Eliade, glaube immer an die Existenz einer absoluten Realität, an die Existenz des Heiligen, das diese unsere Welt transzendiere, sich aber in dieser Welt offenbare und sie dadurch heilige und real mache (1990 [1957]: 174). Der religiöse Mensch erlangt aber durch die Hierophanie nicht nur ein Zentrum für die profane Ordnung, in der er existiert, sondern auch »den Anschluß an eine heilige Zeit, die in gewisser Hinsicht der >Ewigkeit< gleichgesetzt werden kann« (1990 [1957]: 64). Vor allem aber ist die »heilige Zeit« bei Eliade, die Zeit des Ursprungs. »Da die heilige und starke Zeit die Zeit des Ursprungs ist, der wunderbare Augenblick, in dem eine Realität geschaffen wurde und sich zum ersten Mal vollkommen manifestierte, bemüht sich der Mensch, periodisch in diese ursprüngliche Zeit wiedereinzutreten« (1990 [1957]: 73). In diesem Zusammenhang möchte ich an die Bedeutung der »nationalen«, »rassischen« oder »völkischen« Ursprungsmythen erinnern, die darauf abzielen, das politische (profane) Kollektiv an einen heiligen Ursprung anzubinden, der zugleich kollektives »Ordnungszentrum« und auch die Legitimation dieser »Einheit« darstellt. Die profane Zeit - d. h. die von Menschen gemachte Geschichte - kann dann gegenüber dem »heiligen Ursprung« als der »heiligen Zeit« herabgesetzt werden, so daß sie als Störung der Beziehung zum »Heiligen« erscheint, es sei denn Geschichte wird als teleologische Entwicklung oder Rückkehr zum Heiligen betrachtet. Wenn die religiösen Dimensionen in den politischen Ordnungsvorstellungen erkannt werden sollen, stellt das »Heilige« eine wichtige analytische Kategorie dar, um die Transzendierung des politischen Kollektivs aufzuzeigen. Aus diesem Grunde möchte ich nun, mit Berücksichtigung des Erörterten, eine Unterscheidung zwischen Heiligem und Profanen vornehmen. Das Profane ist das Vergängliche, dessen Ordnung immer vom Zerfall bedroht bleibt. Die Ordnung des profanen Zusammenlebens - also das Politische - ist ein zeitliches Artefakt, dessen Existenz immer wieder in Frage gestellt werden kann. Sie wird produziert und reproduziert von vergänglichen und unvollkommenen Subjekten, geformt aus Elementen der Natur, deren Teile die Formenden selbst sind, ohne aber durch sie geordnet zu sein. Die Natur bedingt unsere Möglichkeiten, etwa durch natürliche Abhängigkeiten, wie den Drang zum Essen und Trinken oder durch unsere Sterblichkeit. Die Ordnung des Zusammenlebens muß in diesen Grenzen aber immer erst hergestellt werden und bleibt als Hergestelltes profan, d. h. vor allem fragmentarisch, zeitlich und vergänglich. Das Heilige steht außerhalb der profanen Zeit. Dem »Heiligen« wird ein geheimnisvoller, heiler Ursprung zugeschrieben und eine Zukunft, die die fragmentarische,

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profane Ordnung überdauert. Das Heilige wird vorgestellt als die »Substanz« der heilen Welt, die als idealer Zustand für Ursprung und Zukunft in dieser oder einer anderen Welt steht. Es muß getrennt werden von Verunreinigungen, 36 die die Gefahr des Chaos bergen und Kategorien zur Verfügung stellen, die nicht durch die Menschen hinterfragt werden sollen. Das »Heilige« steht für das geordnete (kosmische) Ganze, für die »Wirklichkeit«, die die profanen, fragmentarischen Wirklichkeiten verbindet und die Anbindung zu dem Anderen (dem Nicht-Menschenbewirkten) herstellen kann, wenn in ihnen die »Wirklichkeiten des Heiligen« anerkannt bzw. geglaubt werden. Die verschiedenen Sichtweisen des »Heiligen« zeigen aber, daß auch die »heilige Wirklichkeit« - wenn überhaupt - sich allenfalls fragmentarisch, d. h. aus einer bestimmten Perspektive offenbart oder vielleicht auch nur imaginiert wird. »Das Ganze der Wirklichkeit - man kann es sprachlich auch ganz formal >Heil< nennen - ist uns nicht gegeben, unsere Grenze hindert uns immer wieder an der Ganzheitserfahrung. [...] Das betrifft sowohl unsere Sehnsucht nach sittlicher Vollkommenheit im Rahmen gesetzter Wertordnungen wie auch das Erkennenwollen und die Überwindung der Zeit, d. h. die Aufhebung unserer fragmentarischen Natur« (Stephenson 1976: 236). Aufgrund dieser Überlegungen läßt sich bereits ahnen, daß den in den Ordnungsvorstellungen (Nation, Rasse usw.) enthaltenen Vorstellungen, von Vergänglichkeit und Endlichkeit - eben dem Tod - eine zentrale Bedeutung zukommt, die an späterer Stelle ausführlich untersucht werden soll. Doch hier möchte ich nun mit der Erörterung des Begriffs der Religion fortfahren. Zum Verhältnis zwischen Individuum, Gesellschaft und Religion haben sowohl Peter L. Berger als auch Thomas Luckmann interessante Überlegungen angestellt, die ich im folgenden in diese Untersuchung miteinbeziehen möchte. Aus ihrem gemeinsamen wissenssoziologischen Entwurf habe ich in Kap. 6 bereits zitiert. In der Bestimmung der Religion unterscheiden sich allerdings ihre Denkweisen. Während Berger sich an die Religionsphänomenologie Ottos und Eliades anlehnt, versucht Luckmann zu einem anthropologisch-funktionalen Religionsbegriff zu kommen. Zunächst aber zu Berger. Ausgehend von den mit Luckmann gemeinsam erarbeiteten Positionen zum dialektischen Prozeß der Gesellschaft, der - wie in Kap. 6 dargestellt - aus den drei Schritten: Externalisierung, Objektivation und Internali sierung besteht, kommt Berger zu der Feststellung, daß die Gesellschaft dem Individuum als objektive Wirklichkeit gegenüberstehe. Der fundamentale Zwangscharakter der Gesellschaft manifestiere sich nicht in ihren Kontrollapparaten, sondern in ihrer Macht, sich als Wirklichkeit zu setzen und einzusetzen (vgl. 1988: 12f.). Mit Bezug auf Otto und Eliade kommt Berger zu

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Zum Zusammenhang zwischen Verunreinigung und Ordnungsgefährdung, möchte ich auf Mary Douglas (1988) verweisen. Douglas stellt hier fest, daß die Vorstellung einer Verunreinigung nur einen Sinn ergebe im Zusammenhang mit einer umfassenden Denkstruktur, deren Hauptstützen, Grenzen, Randbereiche und innere Unterteilungen durch Trennungsrituale aufeinander bezogen seien. Heiligkeit erfordere, daß die einzelnen Dinge der Klasse entsprächen, zu der sie gehörten. Sie erfordere außerdem, das verschiedene Klassen von Dingen nicht vermischt werden dürften (60, 73).

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folgender Religionsbestimmung: »Religion ist Kosmisierung auf heilige Weise. Als heilig bezeichnen wir hier eine numinose, furchterregende Mächtigkeit, die der Mensch anders als sich selbst und doch mit ihm verbunden erlebt und von der er glaubt, sie hause in bestimmten Objekten der Erfahrung. Als Qualität kann er sie Naturdingen und Artefakten, Tieren, Menschen oder Kulturprodukten zuschreiben« (1988: 26). Anders als Otto und Eliade hebt Berger aber die Bedeutung menschlichen Vorstellens und Handels hervor. »Was die Religion auch sonst sein mag, sie ist eine von Menschen errichtete Sinnwelt, Weltkonstruktion mit sprachlichen Mitteln« (1988: 165). Das menschliche Handeln ist sowohl für die Hervorbringung der Gesellschaft als auch der Religion ausschlaggebend, »wobei die Beziehung zwischen beiden Produkten immer dialektisch ist. Daher kann auch in der einen historischen Periode ein gesellschaftlicher Prozeß die Folge religiöser Ideation sein, in einer anderen Periode wiederum kann das Umgekehrte der Fall sein. Die Schlußfolgerung, daß menschliches Handeln der Ursprung aller Religion ist, bedeutet also nicht, daß sie immer eine historisch abhängige Variable sei, sondern vielmehr, daß sie ihre objektiv-subjektive Wirklichkeit Menschen verdankt, die sie ständig produzieren und reproduzieren« (Berger 1988: 47). Im Anschluß an diese Schlußfolgerung Bergers möchte ich nun folgende Überlegung anführen: Was das »Heilige« als »transzendente Wirklichkeit« auch sein mag, ist unserer diesseitigen Erfahrung und damit unserer Erkenntnis nicht zugänglich. Transzendente »Wirklichkeiten« können geglaubt, aber nicht denkend und wissend begriffen werden. Das »Heilige« - oder das, was dafür gehalten wird - als »immanente Wirklichkeit« ist unserer Erfahrung zumindest potentiell zugänglich, wenn auch nur fragmentarisch aus einer bestimmten Perspektive. Das in die Welt der Erfahrung immanentisierte Heilige verliert seine Unantastbarkeit. Da wir als Menschen in einer Wirklichkeit leben, die einerseits nicht auf menschliche Tätigkeit zurückzuführen ist, wie beispielsweise die unkultivierte Natur, so leben wir andererseits in Wirklichkeiten, die entweder menschliche Schöpfungen oder Transformationen einer variablen, gegebenen Ordnung darstellen. Eine transformierte, variabel gegebene Wirklichkeit wäre z.B. die kultivierte Natur des Ackerbaus oder kurz: die durch menschliche Tätigkeit veränderte Natur. Wenn wir das »Heilige« nicht hypostasieren wollen, müssen wir den Anteil menschlichen Vorstellens und Handelns in den verschiedenen Wirklichkeiten markieren. Hierin scheint aber ein großes Problem der menschlichen Existenz zu liegen. Es ist die Flucht aus der Verantwortung gegenüber den menschlichen Werken und der oft zu beobachtende Drang, das eben durch menschliches Vorstellen und Handeln Produzierte und Reproduzierte auf ein »heiliges Subjekt« außerhalb des Menschen zu projizieren. Diesen Vorgang kann man als Sakralisierung des Profanen oder mit Berger als »religiöse Legitimation« bezeichnen: »Das >Grundrezept< für religiöses Legitimieren ist die Verwandlung menschlicher Produkte in über- oder außermenschliche Faktizitäten. Die von Menschen errichtete Welt wird auf eine Weise erklärt, die ihren Produktcharakter verleugnet. Menschlicher Nomos wird göttlicher Kosmos oder jedenfalls eine Wirklichkeit, die ihren Sinn von jenseits der menschlichen Sphäre herleitet. [...] Indem Religion dazu tendiert, dem Menschlichen ein Fremdes gegenüberzustellen, tendiert sie ipso facto dazu, den Menschen auch sich selbst zu entfremden« (Berger 1988: 87).

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So verschieden politische Kollektive auch konstruiert werden mögen, Artefakte dies habe ich in den vorherigen Kapiteln ausführlich aufgezeigt - sind sie alle. Als Artefakte werden sie aber selten gesehen. Dies sollte uns danach fragen lassen, was die Menschen so geneigt macht, das Artefaktische als »Heiliges« zu verschleiern. Hier möchte ich nun zum Zweck einer näheren Bestimmung des Religiösen eine erste Annäherung mit Luckmann versuchen. Zum besseren Verständnis der anthropologisch-funktionalen Religionsbestimmung, wie sie Luckmann vorgeschlagen hat, sei nochmal an die gemeinsam mit Berger verfaßte wissenssoziologische Theorie erinnert. Der Zwang sich eine stabile Umwelt zu schaffen, wurde hier in der anthropologischen Bedingung des instabilen menschlichen Organismus gesehen, durch die der Mensch einerseits genötigt ist, diesen unvollendeten Organismus dem anzupassen, was ihm als Welt gegenübersteht und andererseits die Welt nach den Erfordernissen dieses »unvollkommenen Naturproduktes« [dieser Begriff wird von Berger/Luckmann nicht verwendet] einzurichten (vgl. Berger/Luckmann 1980: 49-56). Den Prozeß der Individuation, in dem der Organismus zum Selbst, zur Person wird, bezeichnet Luckmann als religiöses Phänomen. Zur Verdeutlichung dieser Bestimmung möchte ich zwei Textstellen zitieren: »Der Organismus - für sich betrachtet nichts anderes als der isolierte Pol eines >sinnlosen< subjektiven Prozesses - wird zum Selbst, indem er sich mit anderen an das Unternehmen der Konstruktion eines >objektiven< und moralischen Universums von Sinn macht. Dabei transzendiert er seine biologische Natur. [...] Religion wurzelt in einer grundlegenden anthropologischen Tatsache: Das Transzendieren der biologischen Natur durch den menschlichen Organismus. Diese Fähigkeit des einzelnen Menschen entsteht ursprünglich in gesellschaftlichen Vorgängen, die in der Reziprozität in Face-to-Face-Situationen gründen. Diese Vorgänge führen zur Konstruktion einer objektiven Weltansicht, zur Artikulation eines Heiligen Kosmos und, unter bestimmten Bedingungen, zur institutionellen Spezialisierung der Religion« (1991: 85, 108). Wenn Luckmann auch die Religion auf die anthropologische Bedingung des instabilen Organismus zurückführt, bedeutet das nicht, daß er Religion als individuelles, innerpsychisches Produkt versteht, sondern erst durch die intersubjektive Objektivation von Sinn entstehe eine gemeinsame Sinnmatrix. Nicht einzelne Deutungschemata erfüllten eine religiöse Funktion. Es sei vielmehr die Weltansicht als ganze, als einheitliche Sinnmatrix. Sie bilde den historischen Rahmen, in dem menschliche Organismen Identität ausbildeten und dabei ihre biologische Natur transzendierten (1991: 93). Die Überschreitung der subjektiven Erfahrungen in den intersubjektiven Objektivationsprozessen führt zu wenigstens teilweisen Institutionalisierungen und damit zu Strukturmomenten einer Ordnung (siehe hierzu die Ausführungen in Kap 6). Wie im vorhergehenden Kapitel ebenfalls bereits angesprochen, beziehen sich die Bedeutungen der Ordnungssymbole nicht nur auf die immanente Wirklichkeit, sondern überschreiten die Grenzen des Profanen, um sie mit einer heiligen, transzendenten Wirklichkeit zu verbinden. Hierzu nochmals Luckmann: »Symbole schließlich sind Verkörperungen einer anderen Wirklichkeit in der alltäglichen; sie können aber auch in Verbindung mit bestimmten (nämlich ritualisierten) Handlungen in Anspruch genommen werden, um die Grenzen zu anderen Wirklichkeiten, einschließlich der letzten Grenze zu überschreiten« (1991: 175f.).

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Die religiösen Dimensionen politischer

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Bevor ich mich nun dem Topos der »Säkularisierung« zuwende, will ich die hier erörterten Positionen und Probleme der Religionsbestimmung dazu nutzen, eine Bestimmung der Religion vorzunehmen, die als analytische Kategorie für diese Untersuchung brauchbar ist und meine theoretische Perspektive transparent macht. Von religiösem Vorstellen, Denken und Handeln will ich dann sprechen, wenn in diesen menschlichen Aktivitäten auf eine »heilige Wirklichkeit« ein bestimmender Bezug genommen wird. Ein Wirklichkeitsbezug muß dann als geheiligt betrachtet werden, wenn erstens in diesem der Anteil der menschlichen Wahrnehmung, Vorstellung und Handlung nicht gesehen, geleugnet oder verschleiert und zweitens dieser Anteil auf eine »Kraft« übertragen wird, die anders ist als der Mensch, nämlich nicht fragmentarisch und unvollkommen, sondern heil. Aussagen sind dann religiös, wenn sie sich auf eine, über den profanen Wirklichkeiten stehende, »absolute Wirklichkeit« beziehen, die anders ist, als die fragmentarische, unvollkommene und »sterbliche« Ordnung des Profanen, indem sie als ganze, heile oder kosmische Wirklichkeit vorgestellt wird, deren Genese aber außerhalb des Menschen steht oder gesetzt wird. Wenn wir aufhören - oder vielleicht auch gar nicht erst beginnen - uns zu bemühen, die Grenzen der Wirklichkeiten auszumachen, die nicht von uns abhängen (wie etwa die Wirklichkeit des Kosmos oder der von Menschen unbeeinflußten Natur) und sie zu scheiden von den Wirklichkeiten, die Menschenwerk sind (wie z. B. politische Kollektivität) bereiten wir die Heiligung unserer fehlerhaften Werke durch Hypostasierung vor. Wenn das Begehren, das auf die Bestimmung des Unbestimmbaren abzielt, auf das Transzendente, nicht als unerfüllbares Begehren gesehen wird, finden sich Antworten, die die Begehrenden als vorfindlich sehen und nicht als solche, die sie selbst geben. Im expliziten oder impliziten Rückbezug auf diese selbstbeantworteten Fragen und Bestimmungen des Unbestimmten entsteht Religion. Ob aber nun eine menschenunabhängige oder eine von Menschen hergestellte Wirklichkeit geheiligt wird, einen Anteil menschlichen Vorstellens und Denkens gibt es bei allen »heiligen Wirklichkeiten«, denn keine »heilige Wirklichkeit« kann existieren, ohne daß sie vorgestellt, gedacht bzw. geglaubt wird. Vorstellen und Denken sind geistige Tätigkeiten, die immer nur konkreten Subjekten zugeschrieben werden können und insofern geht immer subjektive Tätigkeit in die Konstruktion »heiliger Wirklichkeiten« mit ein, die dann auch wieder auf andere Wirklichkeiten zurückwirken kann. 37 Wird aber eine Wirklichkeit geheiligt, die von Menschen produziert wurde und reproduziert wird, ist der menschliche Anteil nicht nur im Akt des Glaubens gegeben, sondern auch im Gegenstand des Glaubens, nämlich der hergestellten Wirklichkeit. Man könnte hier auch von einer zweifachen Hypostasierung sprechen: einerseits des Glaubensaktes und andererseits des Gegenstandes, auf den sich der Akt des Glaubens bezieht. Diese geheiligte Wirklichkeit entzieht sich dann in der Vorstellung der Gläubigen der Kritik und der Gestaltung durch den profanen Menschen. Die Mißachtung der »heiligen Wirklichkeit« für die Gestaltung der profanen Wirklichkeit birgt für die

37

»Wo immer der Mensch versucht, Gott zum Objekt zu machen, ihn durch Bilder oder Gesetze in die Welt zu bannen, gerät er selbst in den Bann der Bilder oder Gesetze, die ihn beherrschen« (Oelmüller 2 1982: 25).

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Gläubigen die Gefahr der Zersetzung und Auflösung der Ordnung und der sie tragenden Individuen, weil diese dann auf ihre fragmentarische und sterbliche Natur zurückgeworfen sind. Deshalb wird das Heilige mit Tabus belegt, um - zumindest in der Vorstellung - nicht das Zentrum und den Maßstab der Ordnung zu verlieren und im Chaos zu versinken. Um die ordnungsrelevanten Funktionen der Integration eines Kollektivs, die Legitimation der Wertbezüge und die Stabilisierung des Zerbrechlichen ausfüllen zu können, muß die Religion als Vorstellungs- und Symbolsystem zumindest eine vorgestellte Harmonie zu folgenden Wirklichkeitsbereichen enthalten: Der erste Bereich ist die Existenz des Individuums. Aus der Perspektive der Individuen muß Religion Interpretationen anbieten, die die Begrenztheit und Vergänglichkeit des jeweiligen Selbstes durch die Konstruktion eines symbolischen Selbstes überschreitet oder aufhebt. 38 Die Fragen: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Warum existiere ich? Warum geschieht mir dies oder jenes? Warum bin ich zum Tode verurteilt?, sind die Fragen nach Identität, Konstanz, Sinn, Kontingenz und Zeitlichkeit. Wo die Konstruktion des symbolischen Selbstes mit Elementen einer »heiligen Wirklichkeit«, d.h. in diesem Zusammenhang vor allem eine als unanfechtbar vorgestellte Wirklichkeit, errichtet wird, entsteht aus dem symbolischen Selbst ein religiös-symbolisches Selbst. Ich möchte hier noch einmal an das in der Geschichte des Wortes »Symbol« enthaltene Verb symbállein (zusammenwerfen, zusammenfügen) erinnern, weil hier nicht nur ein zusammengefügtes Selbst entsteht, sondern dieses zusammengefügte Selbst zugleich mit einer Wirklichkeit zusammengesetzt wird, die als »heilige Wirklichkeit« dem profanen Individuum transzendent ist. Seinen stärksten Ausdruck findet dieses religiös-symbolische Selbst in der Bereitschaft des Individuums, die profane Existenz notfalls der religiös-symbolischen Existenz zu opfern, d. h., für die mit einer »höheren Wirklichkeit« verbundenen Existenz zu sterben. Der zweite Bereich ist der der profanen Ordnung - die Gesellschaft bzw. das politische Kollektiv. Das Dilemma dieser profanen Ordnung besteht darin, daß weder das Band der Zugehörigkeit noch die Legitimation der Werte dieser Ordnung zweifelsfrei letztbegründet werden können und unabhängig vom Vorstellen, Reflektieren und Handeln der einzelnen nicht zur Existenz gelangen oder aufrechterhalten werden können. Um eine profane (politische) Ordnung konstituieren und legitimieren zu können, ist immer menschliches Vorstellen, Denken und Handeln notwendig, da diese, wie ich in den vorangegangenen Kapiteln aufgezeigt habe, nicht durch »sich selbst« oder einer »objektiven kollektiven Substanz« existieren.

38

Das Begehren die Begrenztheit und Vergänglichkeit unserer Existenz zu überwinden, wird an späterer Stelle noch ausführlich untersucht. An dieser Stelle möchte ich auf eine, wie ich meine, sehr gelungene Formulierung von Klaus Vondung hinweisen, der bemerkt hat, daß unsere Erfahrungen von »Fülle« instabil sind und immmer wieder - oft abrupt - von Erfahrungen der Defizienz abgelöst werden. Defizienz und Fülle markieren nach Vondung die Pole eines Spannungsfeldes, das auf den Pol der Fülle ausgerichtet ist, weil wir danach streben, »die Fülle, das Glück als möglichst vollkommen und dauerhaft zu erreichen, obwohl oder gerade weil wir die Erfahrung der Defizienz nicht los werden« (1988: 67f.).

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Jede profane Ordnung ist letztlich frag würdig, weil sie immer unvollkommen ist und letztlich den fragenden Menschen auf das stoßen läßt, was offensichtlich schwer zu ertragen ist - die Willkürlichkeit ohne transparentes Subjekt. Dies zeigt uns, daß wir uns in einer Welt selbst zurecht finden müssen, von der wir zuwenig wissen und verstehen, um sicher sein zu können, daß die Verhältnisse und wie wir sie einrichten die »richtigen« sind. Durch die Verleugnung, Verschleierung oder Nichtkenntnisnahme dieses Sachverhaltes kann die Konstruktion und Legitimation der profanen Ordnung zur Religion werden. Wird die profane Ordnung hypostasiert, wird die hergestellte Wirklichkeit zu einer gegebenen Wirklichkeit, wobei die Frage entsteht, wer oder was diese Wirklichkeit gegeben hat. Bleibt das Staunen vor der »Faktizität« der symbolischen Ordnung ungebrochen durch Reflexion, erhält das Menschenwerk der profanen Ordnung eine Erhabenheit über das Profane, die dann als »Heiliges« oder »Göttliches« mißverstanden werden kann. 39 An diesen Gedanken anschließend möchte ich nun zum dritten Bereich des Religiösen kommen, die »Quelle«, aus der sich sowohl das religiös-symbolische Selbst des Individuums als auch die Ordnungsvorstellung speist. Es ist das »Heilige«, das »Göttliche«, welches das Immanente oder Profane zwar umschließen soll und in irgendeiner Weise mit diesem als verbunden vorgestellt wird, aber nicht mit diesem identisch ist. Diese »heilige Quelle« ist sowohl für das religiös-symbolische Selbst der Individuen, als auch für die kollektive Ordnung der geglaubte Urgrund und die Sinnerfüllung der letztlich immer undurchschaubaren profanen Existenz, deren angstvolle Leere im gläubigen Vorstellen erst durch die »Quelle« mit wirklichem Leben durchströmt wird. In diesem Sinne ist religiöses Begehren ein Entgrenzungsbegehren, das sowohl die Grenzen der individuellen als auch kollektiven Existenz zu überschreiten trachtet und die Grenze zu einem als »anders«, nämlich »heilen«, »wirklichen« Leben zu durchbrechen versucht. Decken sich nun in der Vorstellung der Individuen eines Ordnungsgebildes Wahrnehmungsmuster und Prädikate dieser genannten drei Bereiche, kann die Religion das erfüllen, was die Funktionalisten ihr vor allem zuschreiben: Integration, Legitimation und Ordnungsstabilisation. Wie uns jedoch die Geschichte der Glaubenskämpfe, der Religionskriege und der Schlachten im Namen der geheiligten Ideologien zeigt, ist die vorgestellte Harmonie dieser drei Bereiche keineswegs die Regel. Diese Bereiche bleiben in einem Spannungsverhältnis, das ich nun mit der Erörterung des Topos der »Säkularisierung« noch präzisieren möchte. Im Gegensatz zum Begriff der »Säkularisation«, der vor allem ein kloster- und staatskirchenrechtlicher Begriff ist, der die Übereignung kirchlichen Besitzes und die Übertragung geistlicher Hoheitsrechte in weltliche Hände beschreibt, geht die Bedeu-

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Durch die Zurückführung der Fundamente einer sozialen Ordnung auf eine ursprüngliche Sinngebung, so hat Willaime bemerkt, erkläre sich die Gesellschaft den Göttern verpflichtet und tarne auf diese Weise den willkürlichen Charakter ihrer Instituionierung. Die Bezugnahme auf ein transzendentes Fundament brauche nur angedeutet zu werden, es genüge, dessen Zeichen in regelmäßigen Abständen in Erinnerung zu rufen und sie in den Horizont der sozialen Ordnung zu stellen (1986: 168).

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tung von Säkularisierung weit über diesen juristischen Kontext hinaus. Säkularisierung ist im 19. und 20. Jahrhundert zu einem geschichtsphilosophischen Prozeßbegriff geworden (vgl. Brunner/Conze/Koselleck (Hg.) 1984: 790). 40 »Säkularisierung« ist überdies als Interpretationskategorie der Moderne zu einem ideologischen Kampfbegriff geworden, der für die einen für Befreiung und Emanzipation von theologischer und kirchlicher Anmaßung, Bevormundung und Unterdrückung steht, während dieser Begriff von anderen als die Bezeichnung eines Verlustes an Sinngebung, des Verschwindens der Religion oder gar des »wahren Glaubens« gesehen wird. Es ist deshalb notwendig, auch diesen Begriff als diagnostisches Instrument zu schärfen, um das hier in Rede stehende Spannungsverhältnis deutlicher hervortreten zu lassen. Wenn im Anschluß an Max Weber von der »Entzauberung der Welt« als ein Schwinden der Religion durch zunehmende Rationalisierung gesprochen wird, liegt ein Verständnis von »Säkularisierung« zugrunde, das der Bedeutung von Religion in der modernen Gesellschaft nicht gerecht wird. Die traditionellen Religionen sind nicht aus der Welt verschwunden; fundamentalistische Bewegungen 41 , neue Religionen, Sekten, religiöse Psychokulte und nicht zuletzt die Religiosität der politischen Ideologien zeigen das Verbleiben religiösen Denkens und Vorstellens in der Moderne, wenn auch in anderen Formen. Gelockert ist allenfalls die Verbindlichkeit zu religiösen Traditionen, so daß wir mit Berger von einem religiösen Pluralismus sprechen können, wobei er »Säkularisierung« und Pluralisierung in einem Verhältnis wechselseitiger Förderung sieht (1971: 62). Den vielfältigen religiösen Formen in der Moderne kann hier aber nicht nachgegangen werden. Betrachtet man allein den Problembereich politischer Kollektivität, so ist in der obigen Erörterung bereits deutlich geworden, daß Religion nach wie vor in einem engen Verhältnis zum Politischen steht. Dennoch bezeichnet »Säkularisierung« einen historischen Prozeß, in dem das Verhältnis zwischen Religion und politischem Kollektiv ein anderes geworden ist, ohne jedoch das Verhältnis aufzulösen oder gar die Religion aus der Welt zu schaffen. »Was immer wir meinen mögen, wenn wir von Säkularisierung sprechen, historisch kann sie auf keinen Fall als ein Verweltlichungsprozeß im strengen Sinne des Wortes angesehen werden; denn die Moderne hat nicht eine diesseitige Welt für eine jenseitige eingetauscht, und genau genommen hat sie nicht einmal ein irdisches, jetziges Leben für ein jenseitig-künftiges gewonnen; sie ist bestenfalls auf es zurückgeworfen« (Blumenberg 1974: 16).

40 41

Zur Ideengeschichte von »Säkularisation/Säkularisierung« siehe auch: (Lübbe 1965). Der Begriff Fundamentalismus ist in der amerikanischen Bibelbewegung des 19. Jahrhunderts entstanden, die eine Gegenbewegung zur Moderne war und mit dem Motto »Zurück zu den Fundamenten« antrat. Die oftmals zu beobachtende Beschränkung im heutigen Sprachgebrauch auf islamische Fundamentalisten ist keineswegs gerechtfertigt, wie die Untersuchungen von (Kepel 1991) und (Pfürtner 1991) zeigen. Seit Mitte der siebziger Jahre sei sogar ein starkes Anwachsen der fundamentalistischen Bewegungen im Judentum, Christentum und Islam zu verzeichnen.

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Nach Blumenberg ist in der Neuzeit eine leistungsfähige Rationalität hervorgebracht worden, die zwar nicht genügte, um die Hypothek mittelalterlicher (theologischer) Fragen abzutragen, aber dennoch hierzu herangezogen wurde. »Insofern ist die Geschichtsphilosophie der Versuch, eine mittelalterliche Frage mit den nachmittelalterlich verfügbaren Mitteln zu beantworten. Dabei wird die Fortschrittsidee zu einer Generalisierung gedrängt, die ihren ursprünglich regional begrenzten und gegenständlich gebundenen Aussageumfang überbeansprucht. Als eine der möglichen Antworten auf die Frage nach dem Ganzen der Geschichte wurde sie in die Bewußtseinsfunktion hineingezogen, die der Rahmen der Heilsgeschichte zwischen Schöpfung und Gericht erfüllt hatte. Es blieb nicht folgenlos, daß diese Erklärungsleistung ihre Rationalität überforderte« (Blumenberg 1974: 60). Diese Überforderung der neuzeitlichen Rationalität, die Blumenberg beschrieben hat, läßt auf ein Begehren schließen, das zu erfüllen auch mit dieser leistungsfähigen Rationalität nicht möglich war. Der Betrachtung der Geschichte als weltliche Heilsgeschichte kommt hier eine zentrale Bedeutung zu. »Für den christlichen Glauben ist die Geschichte keine Welt- und Religionsgeschichte, sondern ein Reich der Sünde und des Todes und deshalb erlösungsbedürftig. Was mit der ersten Ankunft von Jesus Christus beginnt, ist für den Gläubigen keine neue Epoche in der Geschichte dieser Welt, sondern der Beginn eines Endes. Der hoffnungsvolle Glaube an Christus befreit von den hoffnungslosen Geschichten der falsche Erwartungen hegenden Welt. Der Glaube an die absolute Bedeutung der Geschichte als solcher ist das Ergebnis der Emanzipation des modernen historischen Bewußtseins von seiner Begrenzung durch die klassische Kosmologie und die christliche Theologie. [...] Das Ziel, und damit der Sinn, war ursprünglich im Glauben an den vorsehenden Willen Gottes begründet und hat sich, seit der Ablösung der älteren Geschichtstheologien durch die neueren Geschichtsphilosophien, im planenden Willen des Geschichte schaffenden Menschen verweltlicht« (Löwith 1971: 104f.). Wenn sich das menschliche Heilsbegehren nicht mehr auf eine Wirklichkeit der Transzendenz richtet, sondern auf die Wirklichkeit der Immanenz, bedeutet dies keineswegs, daß der Glauben an eine transzendente Wirklichkeit verschwinden muß, sondern kann eben auch bedeuten, daß diese Wirklichkeitsbereiche in der Vorstellung näher zusammengerückt werden. Der Frage, ob diese Wirklichkeitsbereiche in breiten Kreisen der Gläubigen jemals als vollständig getrennt vorgestellt wurden, sei einmal dahingestellt. Die Immanentisierung religiöser Gehalte und Vorstellungen reicht historisch aber weiter zurück als der Prozeß der »Aufklärung«. 4 2 Ideengeschichtlich, so hat Voegelin aufgezeigt, setzte die Immanentisierung der Heilsgeschichte mit der Abwendung vom augustinischen Christentum ein, in dem sich

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Richard van Dülmen hat die Bedeutung der Reformation für eine neue Sichtweise der Welt hervorgehoben: »Die Idee der Eigenverantwortlichkeit gab es zwar schon lange, aber als Pflicht eines jeden Menschen, sich bewußt den Situationen zu stellen, gibt es sie erst mit der protestantischen Ethik. Es waren gerade die Ausschaltung aller vermittelnden Instanzen zwischen Gott und dem Menschen und das Sich-Nicht-Mehr-Berufenkönnen auf besondere erwerbbare Gnaden wie angebotene religiöse Praktiken, die alle einzelnen Christen zwangen, mit sich und ihrem Gott zurechtzukommen. Zwar sollte der Christ Vertrauen auf Gott setzen und im Namen Gottes handeln, doch erstmals die Verantwortung für das eigene Handeln selbst zu tragen hieß sich der Welt in voller Verantwortung zu stellen« (1989: 24).

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das Heil des Menschen auf ein Jenseits der Geschichte bezog. Die Hinwendung zur Weltgeschichte fand dann in den millenaristischen Geschichtsspekulationen Joachim von Fiores (1130-1202) mit Berufung auf die Apokalypse des Johannes einen wirkungsvollen Ausdruck. »Zur Zeit Joachims erlebte die westliche Kultur eine starke Aufwärtsentwicklung. Und ein Zeitalter, das seine Muskeln zu spüren begann, war nicht geneigt, den augustinischen Defaitismus, was die weltliche Sphäre der Existenz anbelangt, ohne weiteres hinzunehmen. Die joachistische Spekulation war ein Versuch, dem immanenten Lauf der Geschichte einen Sinn zu verleihen, den sie in der augustinischen Konzeption nicht hatte. [...] Der Gedanke einer radikal immanenten Erfüllung wuchs nur sehr allmählich in einem langjährigen Prozeß, den man kurz unter den Titel >vom Humanismus zur Aufklärung< bringen kann. Erst im achtzehnten Jahrhundert war mit dem Fortschrittsglauben die Steigerung des Sinngehaltes in der Geschichte zu einem völlig innerweltlichen Phänomen geworden. Diese zweite Phase der Immanentisierung soll >Säkularisierung< genannt werden« (Voegelin 2 1965: 168f.). Durch die Immanentisierung der Heilsgeschichte wird die Geschichte zu einem Gegenstand des Glaubens, da die Zukunft der Geschichte nicht von den in ihr lebenden erfahrbar sein kann. »Ontologisch ist die Substanz der erhofften Dinge nirgends als im Glauben zu finden; und epistemologisch gibt es für die ungeschauten Dinge keinen anderen Beweis als wiederum diesen Glauben« (Voegelin 2 1965: 173). Wenn sich der Glaube an eine heilsgeschichtliche Erfüllung in der Welt aber nicht auf eine erfahrbare Wirklichkeit berufen kann, kann die Quelle, aus der sich dieser Glauben speist, nur eine jenseits der möglichen Erfahrung liegenden Wirklichkeit sein, die heilend in der profanen wirken soll - eben eine »heilige Wirklichkeit«. »Säkularisierung« solchermaßen betrachtet, kann nicht als ein Bedeutungsschwund der Religion für die profanen Menschen betrachtet werden, sondern muß als Aufwertung der profanen Menschen und ihrer Welt in einer veränderten Religion gesehen werden. Diese Aufwertung findet im Problembereich der politischen Kollektivität ihre Entsprechung in der Heiligung des »Volkes«, der »Nation«, der »Rasse« oder des »Staates«. »Im Maße wie die historia civilis von der heilsgeschichtlichen Umschließung und damit ihrer metaphysischen Sinndeutung gelöst wurde und gleichzeitig das pragmatische Interesse an den >Geschichten< zurücktrat vor der Frage nach dem Entwicklungsprozeß der Geschichte im ganzen, wurden Nation und Gesellschaft zu Zentralbegriffen dieses Prozesses, ja wurden deren Entfaltung und Vollendung zu Höchstwerten und letzten Zielen des auf neue Weise geschichtlich verstandenen Menschendaseins erhoben« (Conze 1964: 3). Das politische Kollektiv wird so zu einem Subjekt der Geschichte verklärt, dessen Substanz und Legitimation aus einer über dem weltlichen stehenden Wirklichkeit herangezogen wird, die allerdings schon in der Immanenz als existent vorgestellt wird. Die »innerweltliche Gemeinschaft«, um einen Ausdruck Voegelins zu verwenden, wird zur »partikularen Ekklesia«. »Die Ekklesia löst sich immer mehr aus dem Verband des universalen Reiches mit der hierarchischen Spitze in Gott, bis sie sich in einzelnen Fällen verselbständigt und innerweltlich schließt« (Voegelin 1993 [1938]: 49). Der Sakralisierung des Immanenten steht die Profanisierung des Transzendenten gegenüber. In den Himmelsvorstellungen des 18. und 19. Jahrhunderts rücken Dies-

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seits und Jenseits so nahe zusammen, daß sie kaum noch als verschieden vorgestellt werden. Zu diesem Ergebnis sind Bernhard Lang und Colleen McDannell in ihrer »Kulturgeschichte des ewigen Lebens gekommen«, in der die Geschichte der Jenseitsvorstellungen innerhalb der Christenheit untersucht wurde. »Da Himmel und Erde kaum mehr als wirklich getrennt gelten, ist es möglich, sich den Himmel als vollkommene Erde vorzustellen und zu hoffen, daß die Erde die Verhältnisse des Himmels nachahmt. Daher dürfen wir den Himmel des 19. Jahrhunderts nicht einfach nur als Projektion gesellschaftlicher Hoffnungen in ein Jenseits begreifen. Vielmehr handelt es sich um den Versuch, jene Bereiche des Daseins zu sakralisieren, die im alltäglichen Leben bedeutsam sind. Liebe, Ehe, Kinder, Familie, Freunde, soziale Beziehungen« (Lang/McDannell 1990: 366). Säkularisierung muß in dieser Perspektive als Prozeß der Entgrenzung verstanden werden. Hiermit ist nicht nur die schwächer werdende Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz gemeint, sondern auch die Entgrenzung der Geschichte zur »Heilsgeschichte«, die Entgrenzung politischer Kollektivität zu einer in der profanen Ordnung vorgestellten »sakralen Substanz«, die wiederum in der Geschichte wirken soll, und nicht zuletzt die Entgrenzung des symbolischen Selbstes. Die Entgrenzung der Individuen in einer geheiligten profanen Ordnung zum religiös-symbolischen Selbst, das an einem profanen Heiligen partizipieren soll. Die Säkularisierung des Heiligen in einer politischen Kollektivsubstanz bedeutet auch die Entgrenzung der Zeitlichkeit, nicht erst in der Transzendenz, sondern bereits in der Immanenz. Weil die Zeitlichkeit des Individuums nicht identisch ist mit der Zeitlichkeit der Welt oder der jeweiligen profanen Ordnung, in der das jeweilige Individuum lebt, sondern immer nur Bruchteil der Weltzeitlichkeit ist, kann aus der Perspektive des Individuums eine Transzendenz in der Immanenz entstehen. Um unnötige Verwirrung zu vermeiden, möchte ich diese Transzendenz profane Transzendenz nennen. Politische Kollektivität wird zur profanen Transzendenz, wenn das Kollektiv als Gemeinschaft der Lebenden, Toten und der noch Ungeborenen vorgestellt wird, deren gemeinsame, bindende Substanz zwar in der Geschichte wirken soll, ohne aber als Produkt der in der Geschichte vorstellenden und handelnden Menschen gesehen zu werden. Für die einzelnen gibt es dann jenseits ihrer Existenz eine »Ganzheit«, die zugleich Ursprung als auch Fortexistenz des symbolischen Selbstes suggeriert, welches das Individuum durch Identifizierung mit dem entgrenzten Kollektiv gewinnt. Die profane Transzendenz des politischen Kollektivs ist, anders formuliert, ein »Himmel auf Erden«, der für die einzelnen immer jenseits ihrer Existenz liegt, weil sie diesen Himmel niemals erleben, sondern allenfalls den Glauben haben können, daß sie auch nach ihrem Tod einer Wirklichkeit angehören, die ihre Existenz überdauert, deren implizite Verheißung aber immer eine zukünftige bleibt. Diese profane Transzendenz bleibt aber in einem Spannungsverhältnis zur Transzendenz, weil sie aus sich heraus nicht letztbegründet werden kann. Der Rest der in ihr enthaltenen Willkür kann nur dadurch verschleiert werden, indem diese profane Transzendenz auf eine »Wirklichkeit« bezogen wird, die über die profane hinausgehend vorgestellt wird. Die Frage nach dem Seinsgrund der profanen Transzendenz verliert ihre Bedrohlichkeit erst, indem die profane Transzendenz als von der Transzendenz umschlossen und letztlich bewegt geglaubt wird. Aus diesem Problem der Rückbindung resultiert das Movens für die Resakralisierung des Säkularisierten.

Religion, Säkularisierung

und

Resakralisierung

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Säkularisierung kann aber nicht nur als Transformation der Religion gesehen werden, sondern ist eben auch mit dem verbunden, was wir mit »Aufklärung« bezeichnen. Die Aufklärung ist zwar keine Erfindung, die in der »Neuzeit« gemacht wurde, denn in der griechischen und römischen Antike wurden bereits die Götter und Mythen hinterfragt, mit dem Ziel: Mensch, Ordnung und Welt in ein begründetes, »vernünftiges« Verhältnis zu setzen. Die Menschen der »Neuzeit« haben aber, um auf Blumenberg zurückzukommen, Methoden und Instrumentarien der »Vernunft« hervorgebracht, die neue Möglichkeiten schufen, was insbesondere für die Naturwissenschaften und deren Anwendungsmöglichkeiten gilt. Die sichtbaren und beeindruckenden Erfolge dieser menschlichen Leistungen mögen dazu verleitet haben, diese neuen Möglichkeiten zu überschätzen und die Ratio an Fragen zu versuchen, denen sie nicht gewachsen war und ist. Der Versuch die letzten Fragen unserer Existenz - des Todes, des Sinnes unserer Existenz etc. - aufzuklären, das Wissen um unser Nichtwissen preiszugeben, endet in der Verklärung unserer Möglichkeiten, deren Höhepunkt die falsch verstandene Gewißheit eines Geglaubten ist, die Voegelin als den Rückfall in Gnosis bezeichnet hat. »Wenn wir versuchen, unser Transzendieren zum Grund zu transzendieren und unser perspektivisches Wissen von Realität übersteigend - die Realität absolut wissend zu besitzen, entgleisen wir in Gnosis« (Voegelin 1966: 321). 43 Wenn wir mit Kant unter »Aufklärung« das Heraustreten des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit verstehen wollen, mit dem Ziel das selbstverschuldete Leid zu mindern, müssen Grenzen der Selbstverschuldung markiert werden, um zu verhindern, daß zur Überwindung des nicht Selbstverschuldeten die Verklärung und das Leid nicht noch vermehrt werden. Das Bemühen, die religiösen Dimensionen der »säkularisierten« Moderne aufzuzeigen, sollte nicht dazu führen, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Aufklärung als Werk der Erlösung verstanden ist Verklärung, die pauschale Verurteilung und der Verzicht auf sie, die fundamentale Denunziation der Vernunft ist Dummheit. Bescheidene Mittel zu benutzen, um in der Welt zurecht zu kommen - und mehr ist die »Vernunft« vielleicht nicht - ist immer noch besser, als das zu verlieren, was wir aufgrund des Prädikates der Unvollkommenheit oft mißachten - unseren Verstand. Unser »Verstand« macht uns nicht zu Göttern, aber wir können mitunter mehr verstehen als wir wollen. Durch die Notwendigkeit, politische Kollektivität konstituieren zu müssen, werden wir immer wieder mit unserer Unvollkommenheit konfrontiert, die sich als Menschenwerk in der profanen Ordnung des politischen Kollektivs manifestiert. Wenn die Nichtkenntnisnahme, Verleugnung oder Verschleierung des artefaktischen Charakters politischer Kollektivität mit der Sehnsucht verbunden wird, die fragmentarische Natur des Menschen, seine Unvollkommenheit und Begrenztheit zu überwinden, gerät diese profane Ordnung in ein Spannungsverhältnis zu einer »Wirklichkeit«, die als hypostasierte »heile« Wirklichkeit das Fragmentarische und Begrenzte zu überwinden sugge-

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Ob der von Voegelin gewählte Begriff »Gnosis« ein treffender Ausdruck ist, kann hier nicht erörtert werden. Ich möchte aber die Frage aufwerfen, ob der Prozeß der Säkularisierung, der mit einer massiven Aufwertung der Welt verbunden ist, mit der Bezeichnung einer weltverneinenden religiösen Bewegung treffend charakterisiert ist.

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riert. Die profane Ordnung des politischen Kollektivs erscheint dann nicht mehr als Menschenwerk, sondern als verbunden mit einer »heiligen Wirklichkeit« als Werk der Götter oder der Manifestation eines Heiligen. Die so geheiligte profane Ordnung bleibt aber wiederum in einem Spannungsverhältnis zur profanen Realität, weil die Sehnsucht nach Überwindung der menschlichen Begrenztheit niemals erfüllt wird, d. h. die Erfüllung bleibt immer nur Verheißung, die sich auf eine Zukunft bezieht. Aus Enttäuschung, aus Frustration über die beharrliche Unvollkommenheit unserer menschlichen Welten, kann wiederum die jeweilige »heilige Wirklichkeit« unter den Druck des Zweifeins und Fragens geraten. »Bildet der Heilige Kosmos erst einmal eine andere Logik als >die Welt< aus und können sich beide Sphären auf je eigene institutionelle Bereiche stützen, dann entstehen Spannungen zwischen der religiösen Erfahrung und den Verpflichtungen, die der Alltag fordert« (Luckmann 1991: 106). Insofern stellt der Prozeß der Säkularisierung einen Angriff auf eine traditionelle »heilige Wirklichkeit« dar, der zwar zu einer - wenn auch nicht vollständigen - Herauslösung des Profanen aus dem traditionellen »Heiligen« führte. Die so entheiligte Welt konnte aber nur dann als Projektionsfläche für die Sehnsüchte nach Überwindung der menschlichen Begrenztheit dienen, wenn sie als neue oder komplementäre »heilige Wirklichkeit« vorgestellt wurde. 44 Das aus dem traditionellen »Heiligen« herausgelöste Profane wurde resakralisiert. Ist das resakralisierte Profane erst einmal wieder als »Heiliges« etabliert, steht es wieder in einer Spannung zum Profanen usw. Wenn dieses Spannungsverhältnis vielleicht auch nicht prinzipiell aufgelöst werden kann, so kann es aber in der auf Erfahrung gründenden rationalen Reflexion erkannt und vielleicht entschärft werden. Diese Reflexionen müssen aber die Bedingungen und Möglichkeiten der begrenzten menschlichen Existenz miteinschließen. Die Bestimmung der Begriffe »Religion« und »Säkularisierung«, die ich hier versucht habe, ist zugegebenermaßen weit gefaßt und könnte sicher differenzierter erörtert werden. Um diesem Mangel zu begegnen und diese Kategorien mit historischem Material zu konfrontieren, werde ich nun im nächsten Kapitel verschiedene Ebenen der religiösen Bezüge politischer Kollektivität aufzeigen, die zu einer differenzierteren Erfassung der religiösen Dimensionen politischer Kollektivität beitragen sollen.

7.2

Die religiösen Bezugsebenen in der Imagination des politischen Kollektivs

Die theoretische Erörterung des Religionsbegriffes hinsichtlich politischer Kollektivität, wie ich sie im letzten Kapitel vorgenommen habe, mag dazu verleiten, sehr verschiedene religiöse Dimensionen politischer Kollektivität miteinander gleichzusetzen.

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Das, was Lyotard als das »Schwinden der Wirklichkeit« in der Moderne bezeichnet hat, wird mit den Kollektivitätsphantasmen kompensiert. Mit der Moderne - so Lyotard - gehe stets, »wie immer man sie auch datieren mag, eine Erschütterung des Glaubens und, gleichsam als Erfindung anderer Wirklichkeiten, die Entdeckung einher, wie wenig wirklich die Wirklichkeit ist« (1988: 199).

Die religiösen Bezugsebenen

in der Imagination des politischen Kollektivs

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Wird Religion als analytische Kategorie zu eng aufgefaßt, können religiöse Dimensionen politischer Kollektivität leicht übersehen werden, etwa dann, wenn der Begriff der Religion zu stark an einer bestimmten religiösen Tradition orientiert ist. Mit einem weitergefaßten Begriff der Religion, wie im vorangegangenen Kapitel vorgeschlagen, kann man diesem Mangel zwar begegnen, aber um den Preis, allzu Verschiedenes auf einen Nenner zu bringen. Aus diesem Grunde möchte ich vor dem Hintergrund der theoretischen Erörterung in Kapitel 7.1 verschiedene Bezugsebenen vorschlagen, die sich im Verhältnis zwischen der Konstruktion politischer Kollektivität und Religion erkennen lassen. Diese Bezugsebenen sind als Verfeinerung des analytischen Instrumentariums gedacht und keinesfalls als historische Realkategorien, denen Kollektive, wie Völker oder Nationen, statisch zugeordnet werden könnten. Diese Bezüge variieren nicht nur innerhalb der Kollektive und der Geschichte ihrer instituierten Existenz, sondern bleiben mitunter auch bei einzelnen ambivalent. Dies ist nicht zuletzt darin begründet, daß bei der Konstruktion politischer Kollektivität in der Regel nicht der Logos, sondern der Mythos die Federführung bestimmt. Mit diesen Bezugsebenen sind allenfalls Tendenzen zu markieren, die sich in der Realität häufig überschneiden. Auch in den religiösen Bezügen, die in den Vorstellungen politischer Kollektivität hergestellt werden, ist die £mheit und Reinheit eine Phantasie und nicht selten politisches Programm, aber kein historisches Faktum. Auf der ersten Ebene, die ich die explizit-traditionelle Bezugsebene nennen möchte, wird mit der Konstruktion des politischen Kollektivs ausdrücklich an eine bestehende religiöse Tradition angeknüpft. Die Zugehörigkeit zum politischen Kollektiv ist hier angelehnt an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion, aber nicht immer umgekehrt. D. h. es wird von allen Zugehörigen das Bekenntnis zu einer bestimmten Religion erwartet, während nicht alle Gläubigen dieser Religion zugleich auch Zugehörige des politischen Kollektivs sind oder sein sollen. Dieser analytischen Ebene möchte ich Bezüge zuordnen, die erstens explizit religiös sind und zweitens in Einklang mit einer bestehenden religiösen Tradition zu bringen versucht werden. Die modernen politischen Kollektivitäten sind aber in Europa nicht aus dem entstanden, was Mensching als »Volksreligion« bezeichnet hat, sondern aus universalreligiösen Traditionen. »Während die Volksreligionen als Religionen der menschlichen Frühzeit getragen werden von Vitalgemeinschaften wie Familie, Sippe, Stamm oder Volk, sind die universalen Weltreligionen primär stets von den einzelnen getragen, die sich erst dann zu spezifischen religiösen Gemeinschaften, zu Wahlgemeinschaften im Unterschiede zu den Geburtsgemeinschaften der Volksreligionen zusammenschließen« ( 5 1989: 38). Da ich im letzten Kapitel das Spannungsverhältnis zwischen Religion und politischem Kollektiv ausführlich behandelt habe, möchte ich an dieser Stelle die Problematisierung des Volksbegriffes als »Vital-« oder »Geburtsgemeinschaft« von Mensching einmal ausklammern. Stattdessen soll versucht werden, einen Konflikt klarer zu fassen, der sich an der dynamischen Schnittstelle zwischen »Volks- und Universalreligion« zeigt, wenn diese zur Bestimmung und Legitimation säkularer Kollektive herangezogen wird. Am Beispiel der Geschichte des Judentums wird deutlich, daß die jüdische Religion maßgebend für die Schaffung des »Volkes Israel« war, d. h. die religiöse Imagination ging der historischen Existenz voraus. Im Buch Genesis wird Jakob folgender

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Auftrag erteilt: »Sei fruchtbar, und vermehre dich! Ein Volk, eine Schar von Völkern soll aus dir hervorgehen, Könige sollen deinen Lenden entstammen. Das Land, das ich Abraham und Isaak gegeben habe, will ich dir geben, und auch deinen Nachkommen will ich es geben« (Gen 35, l l f . ) . »Volk« im Singular, wie es hier verwendet wird, ist an dieser Stelle eine imaginäre sakrale Gemeinschaft, die noch zu zeugen ist. Die zu zeugende Schar von »Völkern« und Königen zielt hier offenbar auf die politischen Gemeinschaften ab, deren Vielheit später auch mit den »zwölf Stämmen« bezeichnet wird. Erst nach dem Auszug aus Ägypten und der Einwanderung in Palästina konstituieren sich nach und nach die »zwölf Stämme« zum »Volk Israel«, das in der Folge der militärischen Vereinigung unter Saul im Königtum Davids die erste Gestalt als politische Vereinigung unter einer weltlichen Regierung annahm. 4 5 In diesem Sinne war die jüdische Religion, um den Begriff Menschings aufzunehmen, die »Volksreligion« der Israeliten, die aber schon bald durch die Konfrontation mit den kanaanäischen Göttern universalistische Tendenzen ausbildete. Jahwe war eben auch ein »eifersüchtiger Gott«, der keine anderen Götter neben sich duldete und deren Verehrung zu strafen drohte (Dtn 5, 9). Deshalb konnte es auf Dauer, wie Rendtorf schreibt, kein Nebeneinander von Jahwe und Baal geben, sondern Jahwe wurde zu dem Gott aller Menschen, zum Einen, des Schöpfers des Himmels und der Erde (vgl. 3 1989: 16f.). Vor dem Hintergrund der Universalisierung Jahwes ist auch der Gedanke des »auserwählten Volkes« zu sehen. Um dies zu verdeutlichen möchte ich mir hier ein ausführliches Zitat von Rendtorf erlauben: »Erst viel später wurde den israelitischen Theologen bewußt, daß mit diesem Sieg ihres Gottes über die anderen Götter ein neues Problem entstanden war. Wenn dieser Gott, Jahwe, der einzige Gott und damit auch der Herr der Welt und aller Völker war - wie konnte er dann noch zugleich der Gott Israels sein? Wie ließ sich dieses universalistische Gottesverständnis mit dem überkommenen Glauben Israels in Einklang bringen, daß es eine ganz besondere Beziehung zwischen diesem Gott und seinem Volk gab - einem Volk - das genau wußte, daß es eines der kleinsten unter den Völkern war und eines der schwächsten? Die Antwort darauf finden wir im Deuteronomium, dem 5. Buch Mose, einem theologischen Werk, in dem der Glaube und das theologische Denken von Jahrhunderten ihren zusammenfassenden Ausdruck gefunden haben. Dort heißt es, daß dieser Gott das Volk Israel aus allen Völkern >erwählt< hat. Dieser Gedanke der Erwählung Israels ist also keineswegs ein uraltes Grundelement der israelitischen Religion. Er kann es schon deshalb nicht sein, weil in der Frühzeit Israels die anderen Völker gar nicht zum Zuständigkeitsbereich des Gottes Jahwes gehörten; er hätte aus ihnen gar nicht auswählen oder erwählen können. Erst die universalistische Ausweitung des Gottes Verständnisses machte diesen Gedanken möglich« ( 3 1989: 18). Einer vorschnellen Identifizierung dieser Auserwählungs- oder Bundesidee mit den modernen nationalistischen Ideologien sollte aber mit Skepsis begegnet werden. Im Unterschied zu diesem protonationalistischen Phänomen ist in den modernen nationa-

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Welche historischen Gründe ausschlaggebend waren, aus den als Nomaden lebenden Stämmen ein seßhaftes »Volk« zu machen, kann hier nicht verfolgt werden. Siehe hierzu: (Rendtorf 3 1989: 14ff.); vgl. auch Fohrer 5 1990: 81ff.

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listischen Ideologien - in Anlehnung oder im Gegensatz zur Französischen Revolution - immer, wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung, das Problem der Legitimität von Herrschaft in einem als »souverän« vorgestellten säkularen Kollektiv von großer Bedeutung. Anders formuliert: Es ist das Spannungsverhältnis zwischen politischer Kollektivität, Religion und den spezifisch modernen Säkularisierungsprozessen, wie ich es im vorhergehenden Kapitel aufgezeigt habe, das den modernen Nationalismus von Protonationalismen absetzt. Dieses Spannungsverhältnis, kombiniert mit einer Breitenwirkung der Kollektivitätsideologien, die aus einer Masse von Untertanen diese selbst zu einer als »souverän« vorgestellten politischen Kategorie integriert, ist das, was die modernen Nationalismen von den Protonationalismen unterscheidet. Wenn man mit Conner C. O'Brien den Nationalismus in zwei Bedeutungen aufteilt, nämlich erstens im Sinne einer politischen Ideologie und zweitens in eine kollektive emotionale Kraft, ist ersteres ein modernes Phänomen, während letzteres, wie er schreibt, bereits in der hebräischen Bibel zu finden sei. »Nationalism, as a collectiv emotional force in our culture, makes its first appearance, with explosive impact, in the Hebrew Bible. And nationalism, at this stage, is alltogether indistinguishable from religión; the two are one and the same thing. God chose a particular people and promised them a particular land« (1987; 2f.). So problematisch und kritikwürdig der »Auserwählungsglaube«, der von den israelitischen Theologen formuliert wurde, auch sein mag, hieraus die christlich-antijudaistische Verzerrung eines »Strebens nach der Weltherrschaft« zu konstruieren - wie es leider immer wieder sehr »erfolgreich« vertreten wurde - , wirkt angesichts der Geschichte absurd. Dies gilt inbesondere, wenn man bedenkt, daß im Namen des »Neuen Bundes« (Testamentes), der im christlichen Glauben durch den »Bürgen« und »Mittler« Jesus Christus geschlossen wird (Hebr. 7, 22; 8, 6f.), zahlreiche und blutige Missionierungen und Unterwerfungen vorgenommen wurden. In den modernen Kollektivitätsideologien war die Wendung vom »auserwählten Volk« eine sehr beliebte. Der christliche Universalismus stellte die Nationaltheologen der entstehenden »Nationen« in Europa vor ein ähnliches Problem wie die antiken israelitischen Theologen: nämlich ein partikulares Kollektiv aus einer universalistischen Gottesvorstellung zu begründen. Wird der Versuch unternommen, mit Bezug auf eine Universalreligion ein partikulares politisches Kollektiv zu definieren, entsteht das Problem, daß die Gesamtheit der Religionszugehörigen nicht mehr mit dem politischen Kollektiv (Volk/Nation) in Dekkung gebracht werden kann, das sich aber eben auf diese Tradition beruft. Dieses Problem kann behandelt werden, indem die religiöse universalistische Tradition gebrochen oder ergänzt wird. Darauf werde ich mit der Behandlung der zweiten Bezugsebene zurückkommen. Unter der Voraussetzung, daß die religiöse Tradition bzw. das, was als solche vorgestellt wird, erhalten oder gerettet werden soll, muß das partikulare Kollektiv als besonders oder auserwählt innerhalb der darüberhinausgehenden Glaubensgemeinschaft konstruiert werden. 46

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In der islamischen Welt überwiegt indessen noch eine andere Variante. Die »Umma«, das universale auf die ganze Menschheit abzielende Kollektiv, das alle gläubigen Muslime umfaßt, bleibt hier das primäre Kollektiv. Wie Tibi schreibt, sei hier der Staat nur ein Instrument der Verwirklichung der im Islam schriftlich fixierten islamischen Offenbarung, während die Umma

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Auf der hier in Rede stehenden explizit-traditionellen Bezugsebene wird das »Volk« oder die »Nation« - sofern dieses Kollektiv innerhalb einer universalistischen Tradition abgegrenzt wird - zur Elitegemeinschaft einer umfassenderen religiösen Tradition, die zu verwirklichen, zu bewahren oder zu retten, die Zugehörigen des Kollektivs sich berufen fühlen. Entscheidend ist hier, daß die religiöse Tradition explizit als besondere bindende »Substanz« vorgestellt wird. Um dies zu illustrieren, seien hier einige Beispiele aus der Geschichte des Nationalismus angeführt. Der dichtende Nationalprediger Ernst Moritz Arndt erklärte in einer Schrift, die 1813 erstmalig erschien: »Wir sind von Gott in den Mittelpunkt Europas gesetzt, wir sind das Herz unseres Weltteils, wir sind auch der Mittelpunkt der neuen Geschichte und der Kirche und des Christentums« (in: Vogt 1967: 105). Andere Äußerungen Arndts müssen allerdings einer anderen Ebene zugeordnet werden, was die weiter oben angesprochene Ambivalenz aufzeigt. Ich werde später auf Arndt zurückkommen. Auch Äußerungen Hegels können dieser Ebene zugeordnet werden, wenn er beispielsweise schreibt: »Das Geschäft der Geschichte ist nur, daß die Religion als menschliche Vernunft erscheine, daß das religiöse Prinzip, das dem Herzen der Menschen inwohnt, auch als weltliche Freiheit hervorgebracht werde. [...] Für diese Verwirklichung ist jedoch ein anderes Volk oder sind andere Völker berufen, nämlich die germanischen. Innerhalb des alten Roms selbst kann das Christentum nicht seinen wirklichen Boden finden und ein Reich daraus gestalten« (1986 [1832-1845]: 405). Der Glaube, daß die eigene »Nation« eine besondere Beziehung zum christlichen Gott hat, findet sich beispielsweise auch in England zur Zeit des Bürgerkrieges, wenn in Predigten und Traktaten vorausgesagt wurde, daß England die Welt in das Jahrtausend Christi führen würde, da Gott sich, »wie es seine Art ist, zuerst seinen Engländern« offenbaren würde (vgl. Hill 1991: 113). Dostojewski sah das vorpetrinische Rußland als Hüter des wahren Christentums: »Es hatte sich zur Einheit durchgekämpft und schickte sich an, seine Grenzgebiete zu befestigen, und bei sich wußte es, daß es einen Schatz in sich trug, wie es keinen zweiten in der Welt mehr gibt - die Rechtgläubigkeit; es wußte, daß es der Hüter der Wahrheit Christi ist, der echten Wahrheit, des echten Ebenbildes Christi, das sich in allen anderen Glaubensformen und bei allen anderen Völkern verdunkelt hat« (in: Vogt 1967: 133). Diese explizit-traditionellen Bezüge haben in den modernen politischen Kollektivitätsideologien allerdings nicht den Stellenwert wie die Bezüge, die ich nun der zweiten analytischen Kategorie, der komplementär-traditionellen Bezugsebene zuordnen möchte. Auf dieser Ebene läßt sich eine Aufwertung des säkularen Kollektivs ebenso erkennen, wie Ergänzungen und mehr oder minder starke Brüche zur religiösen Tradition. Auf dieser Ebene wird aber ebenso wie auf der ersten Bezugsebene ausdrücklich ihr inhaltlicher Ausdruck sei (vgl. 2 1991: XIV). »Volk« und »Nation« sind Tibi zufolge politische Kategorien, die durch den Kolonialismus importiert wurden und später im panarabischen Nationalismus ihren Ausdruck fanden. Dieser Panarabismus, der eine politische Vereinigung der Araber anstrebte, blieb aber in Konkurrenz zum Panislamismus, der nicht auf die Araber beschränkt sein sollte. Der Panarabismus mit dem Ziel eine arabische »Umma« in einem nicht zuletzt auch säkular-politischen Sinne zu errichten, sei aber an einem militanten, islamischen Neo-Fundamentalismus gescheitert, der die ganze Welt zum Ziel des islamischen Gottesreiches habe ( 2 1991).

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auf Religion rekurriert. Die größere Bedeutung des politischen (säkularen) Kollektivs und die schwindende Verbindlichkeit zur religiösen Tradition sind die Unterschiede zur ersten Ebene. Dem säkularen Kollektiv wird hier eine eigenständige sakrale Dimension zugemessen, die nicht mehr direkt aus der religiösen Tradition abgeleitet werden kann. Gewissermaßen an der Schnittstelle von der ersten zur zweiten Ebene, läßt sich eine Äußerung Cecil Rhodes einordnen, der 1890 Premierminister der Kapkolonie wurde. In der folgenden Äußerung wird zwar ein Bezug zu Gott hergestellt, jedoch ohne eine bestimmte Tradition zu erwähnen, auch wenn naheliegt, daß Rhodes den christlichen Gott vor Augen hatte. Die Aufwertung des irdischen Kollektivs manifestiert sich hier in der Betrachtung der »Rasse« als ein »weltlicher Orden«. »Wir glauben an Gott, an England und an die Menschheit. Die englischsprechende Rasse ist eines von Gottes erwählten Werkzeugen, die kommenden Verbesserungen im Schicksal der Menschheit auszuführen. Wenn alle diejenigen, die das erkennen, zu einer innigen Verbindung gebracht werden könnten, um mitzuhelfen, diese Rasse zur Erfüllung ihrer von der Vorsehung bestimmten Mission fähiger zu machen und alles zu bekämpfen, was dieses Werk hindert oder schmälert, dann würde eine solche Vereinigung oder weltlicher Orden den Kern oder Kristallisationspunkt bilden für alles, was in der englischen Welt lebenswichtig ist und dessen letzten Einfluß man nur schwer überschätzen kann« (in: Vogt 1967: 148). Die »englischsprechende Rasse« wird bei Rhodes zum Instrument des göttlichen Willens gemacht, das durch die besondere Aufgabe der Mission ein auserwähltes Kollektiv sein soll. Der ergänzende Bezug zur christlichen Tradition wird sehr deutlich bei einem Philosophen, der auf die deutsche Nationalbewegung einen sehr starken Einfluß hatte nämlich Johann Gottlieb Fichte. 47 Die berühmt-berüchtigt gewordenen »Reden an die Deutsche Nation« [1808] sollten die Fortsetzung seiner geschichtsphilosophischen Vorlesungen »Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters« sein (vgl. auch Kap. 3.2). In den »Grundzügen ...« war Fichte darum bemüht die Geschichte der menschlichen Gattung als eine, sich in fünf Epochen vollziehende Rückkehr zum Paradies zu beschreiben. Diese Rückkehr zum Ursprung sollten die Menschen mit Freiheit beschreiten. In den »Grundzügen ...« heißt es: »Der gesamte Weg aber, den in Folge dieser Aufzählung [gemeint sind hier die fünf Epochen, P. B.] die Menschheit hienieden macht, ist nichts anderes, als ein Zurückgehen zu dem Punkte, auf welchem sie gleich anfangs stand, und beabsichtigt nichts, als die Rückkehr zu seinem Ursprung. Nur soll die Menschheit diesen Weg auf ihren eigenen Füßen gehen; mit eigener Kraft soll sie sich wieder zu dem machen, was sie ohne alles ihr Zutun gewesen; und darum mußte sie aufhören es zu sein« (1956: 11-15, 69).

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Der Einfluß Fichtes war keineswegs nur auf die frühe deutsche Nationalbewegung beschränkt. »Fichtes Reden an die deutsche Nation wurden zwischen 1870 und 1914 in mindestens fünfzehn Einzelausgaben neu aufgelegt, zusätzlich zu den Nachdrucken in den beiden Werkausgaben Fichtes und in Sammelwerken anderer Art; und 1914 bezogen sich die Universitätsprofessoren in ihren Kriegsvorträgen mit Vorliebe auf Fichtes Reden« (Vondung 1988: 197).

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Das Subjekt, das »mit Freiheit« die Rückkehr zum Ursprung beschreiten soll, ist in dieser Schrift noch in universal-heilsgeschichtlicher Manier die menschliche Gattung. Dies ändert sich jedoch dramatisch in den »Reden an die Deutsche Nation«, die schon im Banne des nationalen Eifers der Befreiungskriege gegen Napoleon stehen. Hier wird das Subjekt der Heilsgeschichte die »Deutsche Nation«, in deren Geschikken Fichte das Heil der ganzen Menschheit sieht. Am Ende seiner »Reden ...« verkündet er den »Deutschen« voller Pathos: »Gehet ihr in dieser eurer Wesenheit zugrunde, so gehet mit euch zugleich alle Hoffnung des gesamten Menschengeschlechts auf Rettung aus der Tiefe / seiner Übel zugrunde. [...] Es ist daher kein Ausweg: wenn ihr versinkt, so versinkt die ganze Menschheit mit, ohne Hoffnung einer einstigen Wiederherstellung« ( 5 1978 [1808]: 246). Dem Christentum bescheinigte Fichte, obwohl es herabgesunken sei, einen »Grundbestandteil, in dem Wahrheit ist« ( 5 1978 [1808]: 93). Die Vernachlässigung des »irdischen Vaterlandes« im Christentum betrachtete er jedoch als Mangel und eine Abweichung von einem »natürlichen Zustand« ( 5 1978 [1808]: 125). Fichte geht es nicht um eine Entchristlichung, sondern um die Ergänzung des Christentums durch eine Sakralisierung des »Volkes«, die in folgendem Zitat deutlich wird: »Dies ist nun in höherer vom Standpunkte der Ansicht einer geistigen Welt überhaupt genommener Bedeutung des Worts, ein Volk: das Ganze der in Gesellschaft miteinander fortlebenden, und sich aus sich selbst immerfort natürlich und geistig erzeugenden Menschen, das insgesamt unter einem gewissen besonderen Gesetze der Entwicklung des Göttlichen aus ihm steht. Die Gemeinsamkeit dieses besonderen Gesetzes ist es, was in der ewigen Welt, und eben darum auch in der zeitlichen, diese Menge zu einem natürlichen, und von sich selbst durchdrungenen Ganzen verbindet« ( 5 1978 [1808]: 128). Das Volk ist für Fichte Anlage und notwendige Ordnung, um die christliche Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz zu durchbrechen. Das Volk als Ordnung, die fähig ist, Ewiges in sich aufzunehmen, wird somit zum Unterpfand einer diesseitigen Ewigkeit (vgl. 5 1978 [1808]: 126-130). Diese in Anlehnung an die christliche Tradition vorgenommene Ergänzung durch die Sakralisierung des Volkes kommt auch in den Feierlichkeiten zum deutschen Nationalfest von 1814 zum Ausdruck, das der Erinnerung der Leipziger Völkerschlacht gewidmet war. »Durch den Kniefall und das Entblößen der Häupter der unter freiem Himmel befindlichen Festgemeinde, um dem >Gott des Sieges< durch diesen Demutsgestus Dank zu sagen; durch im Freien aus Steinen errichtete und mit Moos und Blumen geschmückte Opfer- und Vaterlandsaltäre, auf denen Opferflammen brennen konnten; durch gewaltige außerhalb des Kirchenraums aufgestellte und festlich beleuchtete Holzkreuze« (Düding 1988: 72). Das Festhalten an »inneren Wahrheiten« des Christentums, kombiniert mit der Forderung, das »verunreinigte« Christentum zu »reinigen« und in einem nationalen Sinne zu erneuern, war eine weitverbreitete Haltung, die besonders in der deutschen Nationalbewegung großen Anklang fand. 48

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Den Grund hierfür sehe ich keineswegs in einem kollektiven Charakter eines »Volksgeistes« oder einer für das Christentum besonders empfänglichen »Volksseele«, sondern im Bedürfnis, die deutsche »Nation« besonders gegenüber der französischen »Nation« abzugrenzen. Die Franzosen

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So auch Paul de Lagarde (ehemals Paul Anton Bötticher), der sich sowohl als Prophet Gottes als auch eines unverdorbenen Volkstums sah und auch so gesehen wurde. Seine Popularität reichte bei den »völkisch« Gläubigen bis weit ins 20. Jahrhundert (vgl. Stern 1986: 52, l l l f f . , 122). Die christliche Religion sei - so Lagarde - durch die aufgenommenen jüdischen Elemente dem Untergang geweiht. »Um die Dogmen der Kirche verwendbar zu machen, muß man das jüdische Gift von ihnen entfernen« ( 4 1903: 234). Obwohl Lagarde heftige Angriffe sowohl gegen den Katholizismus als auch gegen den Protestantismus vornahm, wollte er doch an einem christlichen Kern festhalten. »Das Leben des Geistes folgt überall denselben Gesetzen: das Evangelium ist nach seiner einen Seite hin eine Inventarisierung, die Kirche, soferne sie ein Heilsinstitut ist, durch und durch eine praktische Verwerthung dieser Gesetze und der ihnen parallelen Ideale, und soweit sie dieses ist, unvergänglich. An diese Seite der Kirche kann jeden Augenblick wieder angeknüpft werden« ( 4 1903: 236). Für Lagarde waren die Deutschen eine noch zu erweckende, kollektive Inkarnation des Evangeliums: »Jeder Deutsche, der es will, kann mehr und mehr dahin kommen, das Evangelium in sich Fleischgeworden erblicken zu lassen« ( 4 1903: 75). Auch bei Lagarde wird dann unter Beibehaltung eines christlichen Kerns das »Volk« zu einer sakralen Größe: Alles Geistige, so Lagarde, müsse einen Leib haben, um in der Geschichte tätig sein zu können: »Dieser Leib baut sich von selbst auf, wo man den Geist nicht hindert ihn zu bauen. Auf das Wegräumen der Hindernisse also kommt es vorläufig, auf die Bildung einer Zucht und Treue haltenden Gemeinde hauptsächlich an. [...] Es war ein zu rasches Vorgehen, als Jesus das Menschenthum als das Wesentliche im irdischen Dasein bezeichnete« ( 4 1903: 236f.). Lagarde wollte die »germanische Naturanlage« in der »Kirche der Zukunft« geltend machen. Die Erkenntnis und die »Reinigung« der »deutschen Seele« war für ihn der Weg zur wahren Religion und zum wahren Kern des Christentums. »Will man in Deutschland Religion haben,« - so Lagarde - »so muß man, weil Religion zur unumgänglichen Vorbedingung ihrer Existenz Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit hat, alle den fremden Plunder abthun, in welchem Deutschland vermummt ist, und durch welchen es mehr als durch individuelle Selbsttäuschung vor seiner eigensten Seele zum Lügner wird« ( 4 1903: 247). Die Nationalität sieht Lagarde als eine göttliche Bestimmung, die im Diesseits zur Wirklichkeit gebracht, im Jenseits fortwirkt: »Aber nur auf dem Wege zum ewigen Leben liegt ein Vaterland, so wahr auch im ewigen Leben, wie jeder anderen Nation Genossen als solche, so auch der Deutsche als Deutscher noch wird zu erkennen sein, und so wahr ihn nicht blos als Ich und als Menschen, sondern auch als Deutschen Gott und alle Seligen lieben« ( 4 1903: 242).

hatten ihre »Zivilisation« und die Menschenrechte auf ihre Fahnen geschrieben. Die Originalität der deutschen »Nation« sollte in ihrer »Kultur« (als Gegensatz zur Zivilisation) und in einer (noch) verborgenen religiösen (christlichen) Wahrheit liegen. Die Deutung der deutschen Nation als werdende Potenz machte das Christentum mit seiner Auffassung der Geschichte als Heilsgeschichte für das »kommende Reich« der Deutschen besonders attraktiv. In dieser Wahrnehmung konnte das Noch-Nicht der deutschen Nation als Beginn der anbrechenden wahren Heilsgeschichte interpretiert werden.

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Die Aufgabe der Politik besteht für Lagarde darin, die sakrale Bestimmung des Volkes gegen ihre Hindernisse durchzusetzen. »Darum heißt Regieren die Hindernisse wegräumen, welche dieser Bestimmung der Nationen und der Individuen im Wege stehn, die Bedingungen schaffen und erhalten, unter denen das Leben sich zu entwickeln vermag. Frömmigkeit ist, wie für die einzelnen Menschen so auch für ein Volk, das Bewußtsein zu gedeihen, in Sturm und Wind wie in Sonnenschein und mildem Tau, und durch dies Alles auszureifen zur Vollkommenheit, zu dem Ziele, das Gott der Nation und den Einzelnen gesteckt« ( 4 1903: 247). Von Lagarde beeinflußt und in dessen Fußstapfen tretend, wähnte sich ein anderer Prediger als »Prophet« einer nationalen Religion, dessen Wirkung auf viele leidende Schwarmgeister der Jahrhundertwende und auf die »völkische« Bewegung nicht zu unterschätzen ist49: Julius Langbehn, der »Rembrandtdeutsche«. Das Ziel Langbehns war eine »nationale Wiedergeburt« die durch das Mittel der Kunst erreicht werden sollte. Die Kunst war ihm eine Form der Religion, in der sich das Göttliche offenbaren sollte. »Rembrandt war das Symbol der Erneuerung, der wiedererstandene Prophet, der die unwahre Kunst des Naturalismus zerstören und durch sein Vorbild erweisen konnte, das der Zweck der Kunst nicht allein in der Erschaffung von Schönheit liegt, sondern mehr noch in der Erlangung der höchsten und vollsten Wahrheit« (Stern 1986: 144f.). Mit Lagarde verband ihn nicht zuletzt der Antisemitismus und die Kritik an den Institutionen und Traditionen des Christentums, das er aber ebensowenig wie Lagarde vollends verwerfen wollte. So schreibt er in seinem Buch »Rembrandt als Erzieher«: »Wie eine griechische Statue die menschliche Anatomie aufzeigt, auch ohne das diese von dem betreffenden Bildhauer im modernen Sinne studirt worden wäre; so enthält echtes Menschentum immer das Christenthum, auch wenn das letztere nicht gerade im konfessionellen Sinne fixiert ist. [...] Das Christenthum praktisch ins tägliche Leben zu übersetzen, wie es künstlerisch Rembrandt gethan, wird immer eine der Hauptaufgaben des Deutschen bleiben« (1909: 322). Der in der »Volksseele« verankerte christliche Kern läßt auch Langbehn gleich das Hindernis, d. h. die Feinde erkennen. Die Professoren und Juden seien der »faulste Punkt der heutigen deutschen Zustände«. Die Professoren werden aber vor allem deshalb kritisiert, weil sie »mit den Juden gemeinsame Sache machten« (1909 : 347). Das Volk ist für Langbehn ein heiliges, werdendes und exklusives Kollektiv: »Deutschland für die Deutschen. Ein Jude kann so wenig zu einem Deutschen werden, wie eine Pflaume zu einem Apfel werden kann; ein Pflaumenzweig auf einen Apfelbaum gepfropft, stört immer das betrachtende Auge; und wird höchst schädlich, wenn er den Wurmfraß mitbringt. Die Juden im jetzigen Deutschland thun dies« (1909: 348). Sieben Jahre vor seinem Tod (1907) trat Langbehn zum Katholizismus über, den er zu reformieren trachtete und ließ sich im Februar 1900 in Rotterdam taufen. Das Insistieren auf den christlichen Charakter des deutschen Volkes muß nicht unbedingt in der Lehre eines christlich erneuerten Staates begründet liegen. Treitsch-

49

Anfang der neunziger Jahre des 19. Jh. wurde Langbehns Buch »Rembrandt als Erzieher« von fast jeder Zeitung und Zeitschrift besprochen. Auch in den folgenden Jahrzehnten fand dieses Buch eine große (gläubige) Leserschaft (vgl. Stern 1986: 193, 203)

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ke, der sich selbst als Nicht-Anhänger der Lehre vom christlichen Staat bezeichnete, weil der Staat eine weltliche Ordnung sei, betonte, daß die Deutschen ganz unzweifelhaft ein christliches Volk seien. »Christliche Gedanken befruchten unsere Kunst und Wissenschaft; christlicher Geist lebt in allen gesunden Institutionen unseres Staates und unserer Gesellschaft. Das Judentum dagegen ist die Nationalreligion eines uns ursprünglich fremden Stammes, seinem Wesen nach mehr zur Abwehr als zur Bekehrung geeignet und darum auch wesentlich auf die Stammesgenossen beschränkt. [...] Jenes lebendige Bewußtsein der Einheit, das die Nationalität bedingt, kann sich der Regel nach nicht bilden unter Menschen, die über die höchsten und heiligsten Fragen des Gemüthslebens grundverschieden denken« (Treitschke 1880: 88f.). Auch im 20. Jahrhundert blieb das Christentum eine wichtige Bezugsebene. Von »Verfälschungen« befreit, sollte das Christentum einen durch Universalismus verborgenen Kern enthüllen, der sich in der Nationalreligion erst entfalten könne. So sehnte sich auch Moeller van den Bruck, der »konservative Revolutionär« und Autor des Buches »Das dritte Reich«, nach einem natürlichen, kulturellen und germanischen Christentum; einem Christentum »des Zorns und des Willens, das erst das wahre Christentum unserer [Hervorhebung, P. B] Menschlichkeit sein würde« (in: Stern 1986: 241). Wilhelm Stapel, Redakteur der Zeitschrift »Deutsches Volkstum« und Autor mehrerer Bücher, schrieb in seinem Werk: »Der Christliche Staatsmann«, daß es ihm nicht darum gehe, einen christlichen Staat zu gründen, sondern um einen Staat mit Christen, denn diese seien ihrem Gott geschworen. Sie dächten und handelten in einem größeren Räume als andere Menschen (vgl. 1932: 157). Stapel wollte die christlichen Traditionen nicht zur Grundlage des Staates machen. Nicht die Bewahrung des Christentums ist für ihn das Ziel, sondern die Nutzung christlichen Glaubens für den politischen Glauben. Vor allem sollte der christlichmessianische Glauben an eine göttliche Inkarnation das beizubehaltende traditionelle Fundament für die Sakralisierung des politischen Führers sein. Die Sakralisierung des Volkes verbindet Stapel mit einer messianischen Führersehnsucht, in der der »christliche Staatsmann« zum Vermittler des göttlichen Willens wird: »Der wahre Staatsmann vereinigt in sich Väterlichkeit, kriegerischen Geist und Charisma. Väterlich waltet er über dem seiner Hut anvertrauten Volke. Tapfer wehrt er alle Angriffe auf das Lebensrecht seines Volkes ab und, wenn sein Volk sich mehrt und wächst, schafft er ihm, indem er die kriegerischen Kräfte des Volkes sammelt, Raum zu leben. Gott aber segnet ihn mit Glück und Ruhm, so daß das Volk verehrungsvoll und vertrauend zu ihm aufblickt. So wägt der Staatsmann Krieg und Frieden in seiner Hand und hält Zwiesprache mit Gott. Seine menschlichen Erwägungen werden zum Gebet und seine Gebete werden zu Entscheidungen. [...] Seine Siege und Niederlagen sind nicht menschliche Zufälle, sondern göttliche Schickungen. So ist der wahre Staatsmann Herrscher, Krieger und Priester zugleich« (1932: 190). Ein stärkeren Bruch mit dem Christentum findet sich im allgemeinen bei den »völkisch-religiösen« Gruppen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, die zwar keineswegs homogen waren, aber in der Kritik an den christlichen Kirchen und deren Lehren etwas Gemeinsames hatten. Das »Volk« wird hier zur religiösen Kategorie schlechthin. Die profane Transzendenz (siehe Kap. 7.1) des imaginierten politischen Kollektivs erhält deutlich den Vorzug vor der christlichen Transzendenz. Die Gläubi-

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gen dieser Gruppen verstanden sich aber explizit als religiös. Ekkehard Hieronimus hat das Verhältnis der »völkisch-religiösen« Gruppen zum Christentum wie folgt zusammengefaßt: »Dies ist der eigentliche Vorwurf: das Christentum ist artfremd. Seine Lehre habe, so wird gesagt, negative volksbiologische Folgen, weil sie durch die Aufhebung der Rassenschranken sowohl das Volk als auch die Volksentstammtheit als Ordnungsprinzipien aufhebe. Seine einseitige Bindung an die jüdische Religion des Alten Testaments habe den Germanen an das Judentum ausgeliefert, das bestrebt sei - begründet in seinem Erwähltheitsanspruch - , die starken Völker der Germanen zu vernichten. Die Hinwendung zu Schwachen und Kranken, seine zum Gesetz erhobene Fürsorgepflicht für Außenseiter sei gegen alle vernünftigen Gebote der Eugenik. Die Bindung an einen persönlichen, dem Menschen und der Natur gegenüberstehenden Gott enge die Möglichkeit der Gottesbegegnung ein. Der Erlösungsgedanke durch den Opfertod Jesu sei ungermanisch, die heldische Art des nordischen Menschen verbiete die Annahme eines fremden Opfers für die eigene Sünde. Der völkischen Religiosität fehlt der Schuldbegriff im christlichen Sinn, wo Gott allein im Menschen existent ist, gibt es nur ein Schuldigwerden gegenüber dem Volk, dem Volksgenossen, gegenüber der eigenen Ehre« (1982: 174). Wenngleich diese völkischen Schwarmgeister einen erheblichen Beitrag zur nationalsozialistischen Religion gegeben haben, ist doch das Verhältnis der Nationalsozialisten zum Christentum ambivalenter. Hitler spottete gelegentlich über diese völkisch-religiösen Schwärmer (vgl. Heer 1989: 221, 237). Er griff aber auch das Christentum als »jüdischen Schwindel« an und urteilte über den Klerus: »Würden die Pfaffen bei uns zur Herrschaft kommen, so verfiele Europa wieder in finsterstes Mittelalter« (in: Heer 1989: 395). Andere Äußerungen über die katholische Kirche belegen aber auch einen großen Respekt vor dieser Institution, wenn er beispielsweise sagt: »Die katholische Kirche ist schon etwas Großes. Herr Gott, ihr Leut', das ist eine Institution und es ist schon was, an die zweitausend Jahre auszudauern. [...] Dumm sind die nicht. Das war schon was, die Kirche. Jetzt sind wir die Erben. Wir sind auch eine Kirche. Der ihre Zeit ist abgetan. Sie werden nicht kämpfen. Mir kann es schon recht sein. Wenn ich schon die Jugend habe, die Alten sollen in die Beichtstühle hinken. Aber die Jugend, die wird anders. Dafür stehe ich« (in: Heer 1989: 297f.). Hitler, der übrigens nie aus der Kirche austrat, ist sicherlich nicht als frommer Christ zu bezeichnen. Er war aber ein zutiefst religiöser Mensch, der seinen Glauben mit symbolischen und rituellen50 Anleihen beim Christentum konstruierte. Hitler redete ständig von der »Vorsehung«, in der er die herausragende Führerrolle spielte. Er, der nationalsozialistische »Messias«, sah sich nicht nur selbst als Erlöser, sondern und darin muß man wohl seinen »Erfolg« begründet sehen - wurde von vielen Gläubigen (Christen) als solcher betrachtet. Bärsch hat mit überzeugenden Argumenten darauf hingewiesen, das die nationalsozialistische Religion bestimmbare Ähnlichkeiten zum Christentum aufweise (1987).

50

Hitler gab z.B. für den Schlußkongreß in Nürnberg die Anweisung, daß der Reichsparteitag genauso feierlich und zeremoniell aufgezogen werden müsse, wie eine Handlung der katholischen Kirche (vgl. Heer 1989: 277).

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»Gemeinsam kommt beiden Religionen [gemeint sind hier Christentum und Nationalsozialismus, P. B.] nicht nur der Glaube an die Inkarnation (Mensch- und Fleischwerdung eines göttlichen Wesens) im Blut zu, sondern auch die damit zusammenhängende Gewißheit über das Wirken einer gegen die Ursprungsmacht gerichteten substantiellen Gegenkraft. Beide Religionen stimmen weiterhin in der Anerkennung der magischen Modalitäten des Denkens überein« (Barsch 1987: 284). Anleihen beim Christentum lassen sich auch in der apokalyptischen Deutung 51 der Geschichte erkennen, allerdings mit dem Unterschied, daß in der Johannes-Apokalypse die vernichtende »Endlösung« am Ende des »Tausendjähriges Reiches« durch Gott stattfindet, während die Nationalsozialisten selbst mit der Vernichtung gleich am Anfang ihres »Millenariums« begannen. Die vielschichtigen Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen nationalsozialistischen und christlichen Lehren und Institutionen, zwischen Kreuz und Hakenkreuz, können hier aber nicht weiter verfolgt werden. Ich werde mich deshalb nun auf die Darstellung der Sakralität der nationalsozialistischen politischen Kollektivität beschränken. Die Inkarnation des Göttlichen manifestiert sich für Hitler im »Blut« der »arischen Rasse«. Die »Arier« sind für ihn »Ebenbilder des Herrn«, die nicht mit anderen vermischt werden dürften, da dies eine Sünde gegen Gott sei. In »Mein Kampf« schreibt er hierzu: »Wer die Hand an das höchste Ebenbild des Herrn zu legen wagt, frevelt am gütigen Schöpfer dieses Wunders und hilft mit an der Vertreibung aus dem Paradies« ("1933: 421). Der »völkische Staat« ist bei Hitler das für die Schaffung und Erhaltung des göttlichen Menschentums notwendige Instrument. Der »völkische Staat« schafft und erhält die menschlichen »Ebenbilder des Herrn«, was für den »messianischen« Prediger Hitler »höchste Verpflichtung« und »heiligstes Menschenrecht« ist. So heißt es in »Mein Kampf«: »Nein, es gibt nur ein heiligstes Menschenrecht, und dieses Recht ist zugleich die heiligste Verpflichtung, nämlich: dafür zu sorgen daß das Blut rein erhalten bleibt, um durch die Bewahrung des besten Menschentums die Möglichkeit einer edleren Entwicklung dieser Wesen zu geben. Ein völkischer Staat wird damit in erster Linie die Ehe aus dem Niveau einer dauernden Rassenschande herauszuheben haben, um ihr die Weihe jener Institution zu geben, die berufen ist, Ebenbilder des Herrn zu zeugen und nicht Mißgeburten zwischen Mensch und Affe« ( 57 1933: 444f.).

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Zur Karriere und Tradition apokalyptischen Denkens in Deutschland sei besonders auf die Untersuchung von Klaus Vondung (1988) hingewiesen. Die Apokalypse (apokalypsis = Enthüllung, Offenbarung) vermittle ein Bild von einer Welt, die zutiefst verdorben sei, chaotisch, mörderisch und böse, kurz: reif zur Vernichtung. Die Tradition der symbolische Erfahrungsauslegung der Apokalypse gehe auf die Offenbarung des Johannes und in geringerem Maße auf das Buch Daniel und die apokryphen Apokalypsen zurück. Die apokalyptische Erfahrungsauslegung bediene sich aber nicht nur der anthropologisch gewissermaßen konstanten Bilder von Grundgegebenheiten der Natur und des Lebens, sondern auch der Deutungsmuster, die durch das Sozialfeld des Bewußtseins vermittelt sind und insofern wiederum historischen Charakter haben; und schließlich verarbeite sie Erfahrungsanlässe, die historisch wirklich neu sein könnten. Das Erlösungswissen von einer neuen Welt, die auf die vernichtete folgen soll, sei im Glauben der Apokalyptiker ein finales Wissen; ein Wissen um die Notwendigkeit des Untergangs als Voraussetzung der Erlösung, Wissen um den Zusammenhang von Tat und Opfer, vor dem alles andere Wissen und andere Dinge gleichgültig würden, (vgl. Vondung 1988: 19f., 261, 284, 470).

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Hitler sah sich von der »Vorsehung«, vom »allmächtigen Schöpfer« berufen, das neue rassistische Evangelium zu verkünden, dessen im doppeldeutigen Sinne des Wortes blutigen Ziele nur mit einem starken Glauben einer breiten Gefolgschaft (Kirche) zu erreichen waren. In einer Rede zum 1. Mai 1935 verkündet er sein Credo, das im Stil an christliche Lieder wie: »Jesus, dir leb' ich, Jesus dir sterb ich, Jesus, dein bin ich, im Leben und im Tod« erinnert: »Mein Wille - das muß unser aller Bekenntnis sein - ist euer Glaube! Mein Glaube ist mir - genau wie euch - alles auf dieser Welt! Das Höchste aber, was mir Gott auf dieser Welt gegeben hat [Hervorhebung, P. B.], ist mein Volk. In ihm ruht mein Glaube. Ihm diene ich mit meinem Willen, und ihm gebe ich mein Leben« (in: Heer 1989: 279). »Volk« ist für Hitler somit ein ihm von Gott gegebenes Gefolge, das im »völkischen Staat« organisiert, dazu berufen ist, die Voraussetzungen für Existenz und Erhaltung des »höchsten Ebenbildes des Herrn« zu schaffen und zu erhalten. Als letztes, besonders haarsträubendes Beispiel für das nationalsozialistisch-christliche Glaubensbekenntnis zur Rasse will ich noch aus dem »Vaterunser« von Lanz von Liebenfels zitieren, dessen Zeitschrift »Ostara« auch Hitler las. »Vater unser, der du leibhaftig wohnst im Fleische, im Blute, im Gehirn, im Samen der besseren, edleren Menschen, der Gottmenschen, deiner Söhne. Geheiligt werde dein Name, das ist dein Same. [...] Dein Reich komme. Laß endlich die Gottmenschen über die Affenmenschen siegen« (in: Hermand 1988: 82). Wenngleich der Bezug auf christliche Traditionen in der deutschen Nationalbewegung besonders stark ausgeprägt war, so lassen sich doch auch in anderen Nationalbewegungen derartige Bezüge ausmachen. Henri Lavedan veröffentlichte in der Pariser Zeitschrift L'Illustration, vom 24.8. 1914, eine Art »nationales Vaterunser«: »Ich glaube an den Mut unserer Soldaten, an die Kunst und Pflichterfüllung unserer Führer;/Ich glaube an die Kraft des Rechts, an den Kreuzzug der Zivilisierten, an das ewige Frankreich;/Ich glaube an den Preis der Schmerzen und an die Berechtigungen unserer Hoffnungen;/Ich glaube an die Zuversicht ... an die kämpferische Wohltätigkeit;/Ich glaube an das Blut der Wunden und an das Weihwasser, an den Gott der Artillerie und an die Flamme der Weihkerze und den Rosenkranz;/Ich glaube an die mit Eisen bewaffneten Hände, und ich glaube an die zum Gebet gefalteten Hände« (in: Jeismann 1992: 360f.). In der italienischen Nationalbewegung (Risorgimento = Wiedererstehung) ist Giuseppe Mazzini einer der bekanntesten Ideologen gewesen. Mazzini stand der katholischen Kirche in Italien durchaus mit Skepsis gegenüber, weil er diese für überholt hielt. Das »Rom der Päpste« war für ihn eine Zwischenstufe, die es zu überwinden galt, wie aus folgendem Zitat deutlich wird: »Vom Rom der Zäsaren ging die einheitliche Zivilisation aus, die Europa von der Macht aufgezwungen wurde. Vom Rom der Päpste ging eine einheitliche Zivilisation aus, die von der Autorität einem großen Teil der Menschheit aufgezwungen wurde. Vom Rom des Volkes wird, wenn ihr, oh Italiener, besser seid als heute, eine einheitliche Zivilisation ausgehen, die von den Völkern durch freiwillige Zustimmung akzeptiert werden wird« (in: Ihring/Wolfzettel 1991: 420f.). Das »Volk« gehört für Mazzini zu einem »göttlichen Plan«, der durch schlechte Regierungen verfälscht wurde. Seine tiefe Religiosität, die ähnlich wie in

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den oben genannten Beispielen das »Volk« zu einer zentralen sakralen Kategorie erhebt, wird in nachstehendem Zitat anschaulich: »Das Individuum ist zu schwach und die Menschheit zu groß. Mein Gott, betet, den Anker lichtend, der Matrose der Bretagne - beschütze mich: mein Schiff ist so klein und dein Ozean so groß! Und dieses Gebet enthält die Lage eines jeden von euch, wenn sich nicht ein Mittel findet, eure Kräfte, eure Macht der Tat ins Unbegrenzte zu vermehren. Dieses Mittel fand Gott für euch, als er euch ein Vaterland gab, und so wie ein weiser Leiter der verschiedene Teile je nach der Fähigkeit verteilt, er die Menschheit auf der Erdoberfläche in Gruppen, in abgesonderte Massen verteilte, und den Keim zu den Nationen ausstreute. Die schlechten Regierungen haben den Plan Gottes [...] verfälscht. [...] Aber der göttliche Plan wird sich ohne Zweifel erfüllen. Die natürlichen Abteilungen, die eingeborenen freiwilligen Bestrebungen der Völker, werden an die Stelle der willkürlichen, von den Regierungen festgesetzten Abteilungen treten« (in: Vogt 1967: 124f.). Auch wenn Mazzini die anderen »Völker« ebenso als göttliche Abteilungen betrachtete, so waren die Italiener für ihn doch das zur Mission berufene, besondere Volk. Während Gott den Germanen, so Mazzini, das »Zeichen des Gedankens« und den Franzosen das der »Tat« auf die Stirn setzte, habe er beides vereinigt auf die Stirn der Italiener gesetzt (vgl. Ihring/Wolfzettel 1991: 422). Zusammenfassend kann man sagen, daß auf der zweiten Bezugsebene das politische Kollektiv zu einer komplementären sakralen Kategorie wird. Hier wird in kritischer Distanz zur religiösen Tradition diese zwar angriffen oder als unzulänglich betrachtet, ohne jedoch eine vollständige Negation der religiösen Tradition anzustreben. Wie ich bereits weiter oben erwähnt habe, kann der Bezug auf die religiöse Tradition durchaus ambivalent bleiben, was nicht nur für die individuellen Unterschiede innerhalb eines Kollektivs gilt, sondern auch bei einzelnen schwanken kann. Während beispielsweise Ernst Moritz Arndt in einem Text, den ich auf der ersten Bezugsebene zitiert habe, die Deutschen noch als »Mittelpunkt der Kirche und des Christentums« betrachtete, heißt es an anderer Stelle, daß die Einheit des »Volkes« selbst zur Kirche und der nationalistische Haß zur Religion werden soll. »Einmüthigkeit der Herzen sey eure Kirche, Haß gegen die Franzosen eure Religion, Freiheit und Vaterland seyen die Heiligen bei welchen ihr anbetet« (in: Schulze 1985: 63). Auf der komplementär-traditionellen Ebene ist eine Akzentverschiebung festzustellen, mit der im Zweifelsfalle das irdische politische Kollektiv als geheiligte Kategorie den Vorzug vor der Verbindlichkeit zu einer spezifischen religiösen Tradition erhält. Dies trifft einen wichtigen Punkt der Diskussion, die seit den siebziger Jahren um das Problem der »Zivilreligion« geführt wird. 52

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Hinsichtlich dieser Debatte möchte ich besonders auf den nachstehenden Sammelband verweisen: (Kleger/Müller (Hg.) 1986). In dem darin enthaltenen Aufsatz von Hermann Lübbe findet sich eine zusammenfassende Bestimmung der wichtigsten Aspekte des Konzeptes der Zivilreligion, die ich für eine nähere Erläuterung geeignet halte: »Zivilreligion ist das Ensemble derjenigen Bestände religiöser Kultur, die in das politische System faktisch oder sogar förmlich-institutionell, wie im religiösen Staatsrecht, integriert sind, die somit auch den Religionsgemeinschaften nicht als ihre eigene interne Angelegenheit überlassen sind, die unbeschadet gewährleisteter Freiheit der Religion die Bürger unabhängig von ihren konfessionellen Zugehörigkeitsverhältnissen auch in ihrer religiösen Existenz an das Gemeinwesen binden und dieses Gemeinwesen selbst in seinen

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In dieser Debatte wird ein Gedanke Rousseaus aufgegriffen, dem er in seinem Gesellschaftvertrag ein besonderes Kapitel widmete, indem es um die Rechtfertigung einer religion civile geht. Das Christentum war für Rousseau, wie er in seinem Gesellschaftsvertrag schreibt, eine Religion der Knechtschaft und Unterwürfigkeit, sein Geist sei Tyrannei. Die aufrichtigen Christen seien dazu geschaffen, Sklaven zu sein, da dieses Leben einen zu geringen Wert in ihren Augen habe (vgl. 1981: 162). Daraus leitet Rousseau aber nicht die Forderung nach Abschaffung der Religion ab, sondern nach einer Instituierung einer »Staatsbürgerreligion«, die er wie folgt begründet: »Für den Staat ist es allerdings von großer Wichtigkeit, daß sich jeder Staatsbürger zu einer Religion bekennt, die ihn seine Pflichten liebgewinnen läßt. Die Glaubenssätze dieser Religion gehen dagegen den Staat und dessen Glieder nur insofern etwas an, als sie die Moral und die Pflichten betreffen, die derjenige, der sich zu ihnen bekennt, gegenüber seinem Nächsten zu erfüllen hat. Sonst kann jeder glauben was er will, ohne das dem Souverän das Recht zusteht, sich danach zu erkundigen, denn da er in der anderen Welt keine Befugnis hat, so braucht er sich um das Los seiner Untertanen in dem künftigen Leben nicht zu kümmern, wenn sie nur in dem irdischen gute Bürger sind. Es gibt demnach ein rein staatsbürgerliches Glaubensbekenntnis, und die Festsetzung seiner Artikel ist Sache des Souveräns« (1981: 163). Robert N. Bellah, der den Anstoß zur Diskussion um die »Zivilreligion« gab, hatte vor allem Amerika im Blick, als er in öffentlichen Reden von Politikern und besonders der amerikanischen Präsidenten den häufigen Bezug auf »Gott« feststellte, ohne aber ausdrücklich einer bestimmten religiösen Tradition den Vorzug zu geben. Dennoch stellten die christlichen Traditionen für die »amerikanische Zivilreligion« ein wichtiges Reservoir für Konstruktionselemente dieser Zivilreligion dar. Darin sieht Bellah auch den Erfolg dieser Religion. Die Art, wie die amerikanische Zivilreligion Elemente aus der christlichen Tradition übernahm, habe den durchschnittlichen Amerikaner nie einen Konflikt zwischen den beiden erkennen lassen. »So vermochte die Zivilreligion ohne heftigen Streit mit der Kirche mächtige Symbole der nationalen Solidarität aufzubauen, und es gelang ihr, zur Erreichung der nationalen Ziele die tieferen Schichten der persönlichen Motivation anzusprechen« (Bellah 1986: 32). Man könnte auch allgemeiner formulieren, daß eine »Zivilreligion«, die nicht an bestimmte traditionelle religiöse Dogmen gebunden ist, einerseits verschiedenartige Traditionen integrieren kann, um dann andererseits den Akzent zur Sakralisierung des Politischen zu verschieben, und damit eine neue religiöse Tradition zu begründen, die die alten trotzdem weiterbestehen läßt. In welchem Verhältnis zur religiösen Tradition dies geschieht, ist, wie die obigen Beispiele zeigen, aber sehr unterschiedlich. Im Frankreich der Revolution gab es beispielsweise im Vergleich zu Amerika heftige Attacken gegen die christliche religiöse Tradition, die nicht einem Ausgleich dienen sollten, sondern der Abschaffung dieser spezifischen religiösen Tradition. Als Tendenz verstanden könnte man mit O' Brien den Vergleich von Frankreich und Amerika folgendermaßen beschreiben: »In France supernatural religion was far gone in decline, and the emotions formerly attached to the supernatural were being displaced

Institutionen und Repräsentanten als in letzter Instanz religiös legitimiert, das heißt auch aus religiösen Gründen anerkennungsfähig darstellt« (206).

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onto the new terrestrial religion of nationalism. In America supematural religion remained vigorous, versatile, and dynamic in a multiplicity of Protestant forms. The Enlightenment strongly effected the mind of an elite, especially the rising political leadership, but the American Enlightenment was not hostile to Protestantism in the way that the French Enlightenment was to Catholicism« (1987: 52). Wenngleich der revolutionäre Geist der Dechristianisierung in Frankreich vor allem an die Zeit der Revolution gebunden war, ist hier die Ideologie des Nationalismus als eine Gegenreligion erfunden worden, die zumindest in der Zeit der Revolution gegen das Christentum gerichtet war und diese - vor allem katholische - Tradition überwinden wollte. 53 Als Übergang zur dritten religiösen Bezugsebene möchte ich ein Beispiel anführen, daß nicht aus der Zeit der Französischen Revolution entnommen ist, sondern gewissermaßen eine spätere Radikalisierung des Nationalismus als einer Gegenreligion darstellt. Hinsichtlich dieses Beispiels könnte man auch vom Nationalismus als einer Ersatzreligion 54 sprechen, mit der eine andere religiöse Tradition nicht mehr ergänzt oder verändert, sondern ersetzt werden soll. Maurice Barrés, der der Action Française nahestand, prägte während der Dreyfußaffäre den Satz: »Daß Dreyfuß fähig ist zu verraten, schließe ich aus seiner Rasse« (in: Vogt 1967: 151). In einer 1902 erschienenen Schrift, in der früher veröffentlichte Zeitungsartikel zusammengestellt wurden, macht er die »Rasse«, die »Nation« zu einer sakralen Größe, die er nicht mehr mit einer christlichen Tradition zu verbinden sucht: »Für eine gewisse Anzahl von Menschen hat das Übernatürliche seine Kraft verloren. Ihre Frömmigkeit, die ein Objekt sucht, findet keines mehr im Himmel. Ich habe meine Frömmigkeit vom Himmel auf die Erde geholt, auf die Erde meiner Toten [...] Die menschliche Vernunft ist in der Weise an die Kette gelegt, daß wir alle in die Fußstapfen unserer Vorgänger treten [...] In dieser äußersten Demütigung tröstet uns etwas unendlich Süßes und fordert uns auf, all diese Knechtschaft und den Tod anzunehmen: es [...] ist [...] die Gewißheit, daß wir in der Nachfolge unserer Voreltern stehen [...]. Sie denken und sprechen in uns. Die ganze Folge der Nachkommenschaft bildet ein einziges Wesen [...] Das ganze ist wie ein Taumel, in dem das Individuum versinkt, um sich wiederzufinden in der Familie, in der Rasse, in der Nation« (in: Vogt 1967: 152f.). Die dritte Bezugsebene, die nun zu erörtern ist, nenne ich die Ebene des impliziten Religionsbezugs. Während auf der ersten Ebene der Akzent noch stark darauf liegt, das politische Kollektiv (Volk, Nation etc.) als Instrument einer religiösen Tradition zu betrachten und dies als Auszeichnung seiner Besonderheit zu interpretieren, verschiebt sich der Akzent auf der zweiten Ebene zum politischen Kollektiv. Auf dieser Ebene wird die

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»Während die Reformation nur die Einheit der Kirche zerstört hatte, verlor nun im Gefolge der Französischen Revolution das Christentum überhaupt seine integrierende Funktion für die bürgerliche Gesellschaft. Das Christentum wurde mit anderen Worten selber parteibedürftig und auch parteifähig« (Bergeron/Furet/Koselleck 1969: 302). Die Bezeichnung »Ersatzreligion« meint im Gegensatz zur Bezeichnung »Religionsersatz«, daß das Neue eine andere Religion darstellt, nicht aber den generellen Ersatz für Religion.

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religiöse Tradition zwar kritisiert, gebrochen oder ergänzt, bleibt aber explizit ein wichtiges Bezugsreservoir für die Konstruktion der Kollektivitätsreligion, die auch ausdrücklich als Religion verstanden wird. Die profane Transzendenz (siehe Kap. 7.1) des politischen Kollektivs wird auf der zweiten Ebene deutlich in den Vordergrund gerückt, während sie auf der dritten Ebene zur zentralen Dimension des Heiligen wird. Gewissermaßen markieren diese drei Ebenen verschiedene Grade der Säkularisierung, die zwar auf der dritten Ebene am stärksten ausgeprägt ist, aber durch Resakralisierung des verweltlichten Kollektivs wird eben dieses als zentrales Objekt religiösen Begehrens hervorgehoben. Die Setzung des politischen Kollektivs als Objekt religiösen Begehrens ist dann ein impliziter Religionsbezug, wenn das Bewußtsein dieser Sakralisierung nicht vorhanden ist und als solches nicht expliziert wird, aber dennoch auf eine Wirklichkeit Bezug genommen wird, die als nicht-fragmentarisch oder heil gedeutet, den menschlichen Tätigkeiten nicht zur Disposition stehen soll (siehe auch Kap. 7.1). Anders formuliert handelt es sich hier um eine Hypostasierung der symbolischen Kollektivkonstruktion, die explizit an keine bestehende Tradition angebunden wird und den Grund ihrer Existenz in einem immanenten Heiligen zu finden glaubt oder zu wissen vermeint. Die »erfolgreiche Artikulierung der Gesellschaft« 55 , um einen Ausdruck Voegelins zu gebrauchen, wird nicht mehr als ein mögliches Produkt des Politischen betrachtet, sondern als ein notwendiges Heiliges verstanden, daß aber nicht unbedingt als solches bezeichnet wird, sondern beispielsweise auch als Natur. Aber auch die Rede über die Nation in der dritten Person Singular, wie es in der französischen Presse durchaus geläufig war, zeugt von einer Vorstellung der Nation als einer eigenständigen Macht (vgl. Jeismann 1992: 179). Wenngleich dieser Typus sakralisierter politischer Kollektivität meist als gegenüber den bestehenden religiösen Traditionen indifferent oder feindlich geäußert wird, sollte nicht der vorschnelle Schluß gezogen werden, daß diese Form politischer Kollektivitätsreligion gänzlich ohne Bezüge auf religiöse Traditionen auszukommen imstande ist. Auch hier gibt es Anleihen aus religiösen Traditionen, die in der Verwendung religiöser Symbole zum Ausdruck kommen, ohne aber unbedingt als solche wahrgenommen zu werden. Dieser Typus religiöser politischer Kollektivität ist am schärfsten in der Französischen Revolution hervorgebracht worden. Die Natur repräsentierte in der Französischen Revolution das Prinzip, das die meisten Revolutionäre als grundlegend für die Gesellschaft ansahen. Die Revolution kann auch als Versuch gelesen werden, die Diskrepanz zwischen Natur und Gesellschaft aufzuheben (vgl. Baxmann 1989), wobei die Natur als sinn- und ordnungsstiftende Quelle, als fragmentaritätsüberwindende Ganzheit und als eine heilige Quelle fungiert.

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»Die erfolgreiche Artikulierung einer Gesellschaft ist ein Faktum, das unter günstigen Umständen möglich geworden ist; und das Faktum kann durch ungünstige Umstände, wie beispielsweise durch das Auftreten einer stärkeren, erobernden Macht, zunichte gemacht werden. [ . . . ] Dieses Risiko einer recht- und grundlosen Existenz ist ein dämonisches Grauen; sogar für den Beherzten ist es schwer zu tragen; und es ist kaum erträglich für zarte Seelen, die nicht leben können ohne den Glauben sie verdienten zu leben. Man kann daher wohl zu recht annehmen, daß in jeder Gesellschaft mehr oder minder stark die Neigung vorhanden ist, den Sinn ihrer Ordnung auf das Faktum ihrer Existenz auszudehnen. [ . . . ] Es ist unvorstellbar geworden, daß die Gesellschaft einfach zu existieren aufhören könnte« (Voegelin 2 1965: 231).

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Kollektivs

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Im letzten Kapitel habe ich mit Eliade auf die Bedeutung von Ursprungsmythen für das religiöse Vorstellen gesprochen. In der Französischen Revolution war der von Rousseau formulierte Ruf: »Zurück zur Natur« gleichbedeutend mit dem Ruf: »Zurück zum Ursprung«. Die Revolution - das re-volvere - wird als Rückkehr zu den natürlichen und geheiligten Quellen der menschlichen Gemeinschaft verkündet (vgl. Arasse 1988: 71). »Die große Utopie des 18. Jahrhunderts hatte mit dem Verweis auf die >Natur< letztendlich Werte formulieren wollen. Natur und die >Rückkehr zum Ursprung< wurden zu einer Art Ersatztheologie, die nicht hinterfragbar war. Natur war der Totalitätshorizont, die einheitsstiftende Kategorie, von der aus eine der menschlichen Natur entsprechende staatliche Ordnung im Tableau repräsentierbar sein sollte« (Baxmann 1989: 157). Die »Vernunft« als vorgestelltes geistiges, natürliches Mittel des Menschen die Gesetze der Natur in ihrer Totalität erkennen zu können, wurde schon bald als ein göttliches Prinzip gefeiert, das zunächst im »Kult der Vernunft« und später unter Robespierre im »Kult des Höchsten Wesens« zum Ausdruck gebracht wurde. In der Verbindung mit dem Begehren nach Vollkommenheit und absoluter Transparenz einer letztlich heilenden Welt wird Vernunft aber von einem begrenzten Aufklärungspotential zum Verklärungspotential, das als eine inkarnierte göttliche Potenz vorgestellt werden kann. Am Beispiel der Feierrituale kann gezeigt werden, daß die implizite Religion, die in der Französischen Revolution gegen die Religion der christlichen Tradition gerichtet war, auf der Schwelle steht als Religion expliziert zu werden. Dies wird dann deutlich, wenn die implizit religiösen Bezüge nicht mehr nur Instrument einer Opposition gegen eine religiöse Tradition sind, die als die Religion mißverstanden wurde, sondern selbst zur dominierenden, ordnungsstiftenden Quelle werden. Die Explikation dessen, was als unhinterfragbares »Heiliges« gelten soll, wird um so notwendiger als die sakralen Fundamente der Gesellschaft in Bedrohung gesehen werden. Die gegen die Religion gerichtete Aufklärung der Natur kann in einer Art Offenbarungsglauben münden, die die Gesetze einer höheren Wirklichkeit dem Menschen offenbart, um nicht zuletzt die politische Ordnung nach diesen Gesetzen zu gestalten. In einer Rede zum »Fest des Höchsten Wesens« heißt es: »Nein es ist keine blinde Kraft, die die wunderbare Harmonie der Natur erhält. Das Ganze und der Gleichklang aller Bewegungen beweist, daß es eine Intelligenz gibt, die sie leitet. Kaum erhebe ich die Augen, so sehe ich über mir den Beweis der Existenz dieser Gottheit [Hervorhebung, P. B.]. Lasse ich meinen Blick über die Ebene schweifen, so spricht alles zu mir von ihrer Weisheit, alle Erscheinungen zeigen mir ihre Güte. Die Ordnung, die in allen Teilen dieses großen Ganzen herrscht, kündet mir von einem höchsten Ordnungsprinzip und seinem Schöpfer, es diktiert mir zugleich den Kult der ihm zusteht« (in: Baxmann 1989: 128). Alle Unwägbarkeiten und Grausamkeiten, die man durchaus auch in der »Natur« auffinden kann, werden hier zu einer heilen Wirklichkeit, die ins Politische zu übertragen das Ziel ist. Nach den Erfahrungen der Dechristianisierungskampagne wußte Robespierre sehr wohl, daß der Glaube an einen Schöpfer nicht einfach überwunden werden konnte. Er beklagte das Chaos, die Leere und die Gewalt, die dieser Versuch hinterlassen habe und warnte vor weiteren Versuchen dieser Art: »Ihr werdet euch davor hüten, das Heilige Band zu zerstören, das die Menschen mit ihrem Schöpfer verbindet. Wenn

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Die religiösen Dimensionen politischer

Kollektivität

dieser Gedanke an einen Schöpfer in einem Volk einmal gelebt hat, so ist es gefährlich, ihn zu zerstören« (in: Baxmann 1989: 45). Für Robespierre bleibt aber dennoch die Natur der Ausdruck einer höheren, heiligen Wirklichkeit, wenn er beispielsweise sagt: »Der wirkliche Priester des Höchsten Wesens ist die Natur, sein Tempel ist die Welt; sein Kult die Tugend; seine Feste sind die Freuden eines großen Volkes, das sich unter seinen Augen versammelt hat, um die zarten Bande universeller Brüderlichkeit zu knüpfen und ihm Huldigungen empfindsamer und reiner Herzen darzubringen« (in: Baxmann 1989: 47). Natur und Vernunft als Quelle und Vermittlung einer heiligen Wirklichkeit ist aber noch nicht die Ordnung des Kollektivs selbst. Mit dem Vermögen der »Vernunft« so in der Imagination dieser Form religiöser politischer Kollektivität - kann die politische Ordnung mit Bezug auf die heilige Quelle (Natur) zu einer heiligen werden. Die einflußreichste Metapher, in der die politische Kollektivität als Analogon zur Natur vorgestellt wird, ist die Imagination des politischen Kollektivs als ein vitaler Zusammenhang, der über die gegenwärtig existierenden hinausgeht 56 . Es ist die Vorstellung des politischen Kollektivs als corpus mysticum, als Gemeinschaft der Lebenden, Toten und noch Ungeborenen, die nicht selten ihren expliziten Ausdruck in der Rede vom »politischen Körper« findet. Weil die Vorstellung des politischen Kollektivs als ein corpus mysticum weit über die Ereignisse der Französischen Revolution wirksam war und ist, halte ich es für notwendig, diese Metapher etwas näher zu erörtern, zumal diese Erörterung eine weitere Verdeutlichung des Begriffes der »profanen Transzendenz« leisten kann, den ich in Kapitel 7.1 eingeführt habe. Voegelin hat diese Vorstellung, mit folgender Begründung, als »innerweltliche Form der unio mystica« bezeichnet: »Wenn an die Stelle Gottes die innerweltliche Kollektivexistenz rückt, wird die Person zum dienenden Glied des sakralen Weltinhaltes. [...] Das Wissen um die Weltinhalte und die darauf begründete Technik sind nicht die temporal untergeordneten Mittel für das ewige Ziel des Lebens im überweltlichen Gott, sondern das Lebensblut des innerweltlichen Gottes selbst; sie bauen das corpus mysticum des Kollektivums und verbinden die Glieder zu der Einheit des Leibes. [...] Die Erzeugung des Mythus und seine Propaganda durch Zeitung und Rundfunk, die Reden und Gemeinschaftsfeiern, die Versammlungen und das Marschieren, die Planarbeit und das Sterben im Kampf sind die innerweltlichen Formen der unio mystica« (1993 [1938]: 54f.). Im vorherigen Kapitel habe ich darauf hingewiesen, daß das Integrationspotential einer Religion von der vorgestellten Harmonie der drei Wirklichkeitsbereiche: individuelle Existenz, profane Ordnung und einer heiligen Wirklichkeit, die für die erstgenannten auch Quelle ist, abhängt. In der Vorstellung des corpus mysticum kann sich das Individuum als dienender Teil eines «¿>er-lebenden Zusammenhangs interpretieren, das seinen Existenzsinn bzw. sein religiös-symbolisches Selbst aus der Vorstellung gewinnt, Teil eines übergreifenden Ganzen zu sein, daß dem Individuum als Teil dieses Ganzen Bedeutung zumißt. Die profane Ordnung erscheint in der Vorstellung des corpus mysticum als eine unwillkürliche Entsprechung einer heiligen Quelle, die mit der Körpermetapher auf

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Siehe hierzu auch das Zitat von Barrés weiter oben.

Die religiösen Bezugsebenen

in der Imagination des politischen Kollektivs

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die Natur bezogen ist und als heile Natur zur heiligen Wirklichkeit wird. Dieses »Heilige« soll als Prinzip sowohl das Individuum als auch die profane Ordnung durchdringen. Die Vorstellung des corpus mysticum wurde nicht von den modernen Nationalisten erfunden, sondern ist eine Umformulierung der christlichen Lehre des corpus Christi mysticum, womit eben auch der implizite Bezug auf christliche Traditionen deutlich wird. Die auf Paulus zurückreichende Lehre von der Kirche als corpus Christi mysticum wurde im 13. Jahrhundert von Papst Bonifaz VIII. in der Bulle JJnam sanctam als Dogma zusammengefaßt. Diesem Dogma zufolge bildet die Kirche einen mystischen Leib, dessen Haupt Christus sei, während das Haupt Christi Gott sei. Dieser mystische Leib sollte die christliche Gesellschaft mit allen vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen, aktuellen und potentiellen Gläubigen umfassen (vgl. Kantorowicz 1990: 206f.). Diese Lehre blieb aber nicht auf die Kirche beschränkt. Wie Kantorowicz festgestellt hat, wurde in dem Ausmaß, »in dem die Kirche als politische Organisation wie jede andere weltliche Körperschaft interpretiert wurde«, der Begriff des corpus mysticum immer mehr mit weltlichen politischen Inhalten beladen (1990: 214). Kantorowiczs Untersuchung ist aber vor allem deshalb interessant, weil er die Übertragung dieser Lehre von der Kirche auf das Königtum rekonstruiert, die von englischen Juristen der Tudorzeit (1485-1603) formuliert wurde. Dieser übertragenen Lehre zufolge hat der König zwei Körper: den natürlichen (body natural) und den politischen (body politic). Der natürliche Körper des Königs bleibt ein sterblicher, der wie alle anderen natürlichen Körper Defekten, Leiden usw. ausgesetzt bleibt. Der politische Körper des Königs ist ein unsterblicher mystischer Körper, der aus Politik und Regierung besteht und von allen Mängeln und Schwächen des natürlichen Körpers frei ist. Das Haupt dieses Körpers ist der König, die Glieder sind die an der Politik und Regierung beteiligten Lords, Ritter und Bürger. Der natürliche Körper des Königs ist die jeweilige Inkarnation des mystischen politischen Körpers, der ewig fortlebt (vgl. 1990: 31, 39, 441). Der beim Tod des natürlichen Körpers des Königs gemachte und weit über England hinaus bekannte Ausspruch: »Der König ist tot, es lebe der König«, brachte diese Lehre auf eine griffige Formel. Der natürliche Körper des Königs war als sterblicher auch ein angreifbarer, der unter Umständen auch bekämpft werden konnte, wie in dem Aufruf: »We fight the King to defend the King«, zum Ausdruck gebracht wurde: »Das Parlament brachte es fertig, >Karl Stuart, als König von England zugelassen und hierbei mit beschränkter Macht betrautDenken an den Tod< bewegt. Dem Dasein geht es auch in der durchschnittlichen Alltäglichkeit ständig um dieses eigenste, unbezügliche und unüberholbare Seinkönnen, wenn auch nur im Modus des Besorgens einer unbehelligten Gleichgültigkeit gegen die äußerste Möglichkeit seiner Existenz« ( 15 1979: 254f.). Das Dasein ist bei Heidegger ein »Vorlaufen« in die eigenste, unbezügliche und unüberholbare Möglichkeit, die das Individuum auf seine Einzelheit zurückwirft und als Angst empfunden wird. »Weil das Vorlaufen das Dasein schlechthin vereinzelt und es in dieser Vereinzelung seiner selbst der Ganzheit seines Seinkönnens gewiß werden läßt, gehört zu diesem Verstehen des Daseins aus seinem Grunde die Grundbefindlichkeit der Angst. Das Sein zum Tode ist wesenhaft Angst« ( 15 1979: 266). Für Heidegger ist dieses Vorlaufen die Möglichkeit des Verstehens des »eigensten äußersten Seinkönnens« und somit »Möglichkeit eigentlicher Existenz« ( I5 1979: 263). Da ich hier aber nicht beabsichtige die Fundamentalontologie Heideggers und deren Verstrickungen zu diskutieren, will ich versuchen, aus den vorangegangenen Gedanken Epikurs und Heideggers für das hier zu untersuchende Problem einige Punkte festzuhalten.

Politische Kollektivität

und das Problem des Todes

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Für die Lebenden ist der Tod nicht erfahrbar. Auch der Tod der anderen kann für die Verbleibenden keine Erfahrung sein, die dem eigenen Tod entspricht. Der Tod ist, um es mit Heidegger zu sagen, durch »Jemeinigkeit« charakterisiert ( 15 1979: 240). In der Befindlichkeit der Angst sind wir aber auf diese zu erwartende Erfahrungsmöglichkeit gerichtet, was uns hindert Epikurs Rat zu folgen. »In der Angst wird der Tod als Möglichkeit erfahren, ohne doch als die bestimmte Möglichkeit des faktischen Todes zugänglich zu werden. In der Angst wird die U n bestimmtheit affektiv erlebt. [...] Das Wovor der Angst ist völlig im Dunkel« (Macho 1987: 104). Wenngleich der Tod für uns kein Begriff ist, mit dem wir eine erfahrungsgestützte Anschauung begreifen, machen wir uns ein Bild oder verschiedene Bilder vom Tod. Wir können den Tod nicht ignorieren, weil die erlebte Angst - die Erfahrung des Unbestimmten - uns den Tod imaginär antizipieren läßt. In der imaginären Antizipation des Todes versuchen wir das Unbestimmte zu bestimmen. 60 Wie Macho schreibt, können wir »den >Tod< als Metapher verstehen, ohne doch zu verstehen, was diese Metapher substituiert« (1987: 182). Ob wir den Tod nun als Schlaf, Übergang, Mord, Reise, Abschied, Ende, Heimkehr, (Wieder-) Geburt, Verwandlung, Orgasmus, Qual oder Strafe betrachten, konstruieren wir Bilder mit Erfahrungselementen, die wir im Leben machen können. Anders formuliert: In den Metaphern des Todes übertragen wir Immanentes in Transzendentes. Im Erleben der Angst, die uns treibt das Unbestimmte zu bestimmen, wird aber nicht nur das »unbezügliche, unüberholbare Seinkönnen« imaginär antizipiert, sondern auch die Möglichkeit der absoluten Einsamkeit. Das Individuum ist letztlich allein mit seinem Tod. In welcher Weise kann diese existentielle Vereinzelung in den Vorstellungen politischer Kollektivität aufgehoben werden? Ich werde zunächst eine Annäherung an die Beantwortung dieser Frage mit einigen Überlegungen Thomas H. Machos versuchen. Wenn wir - so Macho - auch den eigenen Tod und den Tod der anderen nicht erfahren könnten, »erfahren wir die Verwandlung von Mitmenschen in Leichen. Wir können diese Verwandlung nicht erklären, auch nicht auf uns selbst applizieren; wir können sie nicht verstehen. Dennoch erfahren wir ihre unbedingte Faktizität. Alles was sich vom Tod in Erfahrung bringen läßt, erfahren wir in der Konfrontation mit den Leichen. [...] In der Erfahrung der Toten wird uns der Tod nicht offenbart; wir erfahren nur den Widerstand, den uns die Toten, in ihrer puren Anwesenheit, entgegenhalten. [...] Am Anfang war die Leiche; und danach kam alle Theorie« (1987: 195). Der Tod hinterläßt die Leiche, die wir als ein Übriggebliebenes erfahren, daß einerseits unter uns noch Lebenden verharrt und andererseits jede Bindung zu uns abgebrochen hat. Die Leiche ist das von uns absolut Getrennte und Isolierte. Es sei -

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Wenn ich von »imaginärer Antizipation des Todes« spreche, ist damit nicht gemeint, daß der Tod tatsächlich imaginär antizipiert werden könnte, sondern nur, daß wir mit dem Potential des Imaginären versuchen, das Nichtbestimmbare zu bestimmen. Diese imaginäre Antizipation des Todes mündet in einer Paradoxie. »In der Vorstellung meines eigenen Todes müßte ich von mir als dem Subjekt dieser Vorstellung abstrahieren können« (Macho 1987: 32).

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Politische Kollektivität und das Problem des Todes

so Macho - die einzige Erfahrung radikaler Privation und solipsistischer Vereinzelung, die wir in der Konfrontation mit der Leiche machten. »Nur als Leiche ist der Mensch wahrhaft von allen sozialen Systemzwängen entbunden, in unergründlicher Autarkie auf sich selbst gestellt, befreit von imperativischer Logik und von den Pflichten, die ihm die Natur auferlegt - vom Drang zu essen, zu scheißen, zu schlafen, zu koitieren« (Macho 1987: 199). Entscheidend für das Problem der Kollektivität ist, daß wir an der Leiche die Auflösung des sozialen oder kollektiven Bandes erfahren. Das was die Lebenden verbindet, die psychische und gesellschaftliche Ordnung, Werte und Imperative, wird durch die Leiche insofern negiert, als sie durch den Tod hiervon entbunden ist. »Die Leiche ist das solipsistische Individuum par excellence; sie hat die Grenzen des sozialen Körpers transzendiert, um zugleich innerhalb des sozialen Körpers zu verharren. An der Leiche erfahren wir nicht den Tod des individuellen Leibes; aber wir erfahren den Tod des sozialen Körpers« (Macho 1987: 220). Der »soziale Körper«, das muß hier ausdrücklich betont werden, ist bei Macho nicht als ein organischer Lebenszusammenhang gemeint, sondern als ein in der Psyche der Individuen repräsentierter Zusammenhang (vgl. 1987: 210). Im Rückgriff auf die Kapitel 4 - 6 ließe sich sagen, daß dieser in der Psyche der Individuen repräsentierte Zusammenhang das Produkt wechselseitiger (aktiver und passiver) Identifizierungsprozesse ist, deren Phantasmen in der kollektiven symbolischen Ordnung instituiert werden. An diesen wechselseitigen Identifizierungs- und Instituierungsprozessen können nur Lebende partizipieren. In der Konfrontation mit der Leiche erfahren wir das Sterben des Bandes, das uns ein Leben in einer kollektiven Ordnung ermöglicht. »Wir sehen am Sterben allein den Kommunikationsabbruch. [...] Als Desorganisation von Raum und Zeit, als Trennung von Körper und Identität, als Negation aller diskursiven und sozialen Regeln« (Macho 1987: 408). Sofern das politische Kollektiv als Kompensation gegenüber der »Vergänglichkeit der menschlichen Dinge« vorgestellt wird, also Kompensationssignifikate hinsichtlich des Todes impliziert, muß das Kollektiv als etwas vorgestellt werden, das vom Sterben nicht betroffen ist. Weil die Konfrontation mit der Leiche uns aber eben das Sterben des Bandes erfahren läßt, daß uns diese Kompensation ermöglicht, muß den Toten ein anderes Leben im Kollektiv zugeschrieben werden. Die Toten müssen in den kompensierenden Kollektivitätsphantasmen in Verbindung mit den Lebenden bleiben, damit das, was die Lebenden bindet, nicht stirbt. Die Interpretation und Sinngebung des Todes innerhalb einer symbolischen Ordnung eines Kollektivs ist somit aus einer zweifachen Perspektive von großer Bedeutung. In der Perspektive des Individuums kann das Grauen in der imaginären Antizipation des Todes kompensiert werden. In der Perspektive des Kollektivs ist dies die Voraussetzung für die kontinuierliche Produktion und Reproduktion der kollektiven instituierten Wirklichkeit. »Das Grauen vor dem eigenen Tode aber muß wenigstens so gemildert werden, daß es nicht die kontinuierliche Routine des Alltagslebens lähmt. [...] Die symbolische Sinnwelt schützt den Menschen vor dem absoluten Grauen, indem sie den schützenden Strukturen der institutionalen Ordnung die absolute Legitimation verleiht« (Berger/Luckmann 1980: 108f.). Zusammenfassend läßt sich über das Problem des Todes hinsichtlich politischer Kollektivität vorerst folgendes sagen: Der Tod kann keine Erfahrung der Lebenden

Politische Kollektivität und das Problem des Todes

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sein. Der Tod hat aber dennoch für uns eine Bedeutung, weil wir ihn in der Angst vor dem Unbestimmten imaginär antizipieren und ihm Bedeutungen zuschreiben. Diese Bedeutungen sind Metaphern des Todes, von denen wir nicht wissen können, was sie substituieren. Die alle Bänder lösende Vereinzelung im Tod erfahren wir in der Konfrontation mit der Leiche, als ein Sterben desjenigen, das die Lebenden verbindet. Das Band des Kollektivs kann die Vereinzelung im Tod aber nur dann imaginär überwinden, wenn es als ein den Lebenden transzendentes imaginiert wird. Das an der Leiche erfahrbare Sterben des Bandes ist dann keine Trennung mehr, die zu einer absoluten Isolation führt, sondern eine »Geburt« in eine andere Qualität des imaginierten kollektiven Lebens. An dieser Stelle sei noch einmal an die einflußreiche Metapher des corpus mysticum erinnert. Die Transzendierung des Bandes kann somit als ein Produkt des Spannungsverhältnisses zwischen dem individuellen angstvollen Begehren hinsichtlich des Todes und den Anforderungen einer »dauerhaften« Stabilisierung der kollektiven Ordnung betrachtet werden. Der Tod ist, wie Berger formuliert hat, nicht nur ein ungeheures Problem für die Gesellschaft, weil er die Kontinuität menschlicher Beziehungen unmittelbar, sondern mittelbar auch die Grundvorstellungen von Ordnung bedroht, auf denen die Gesellschaft beruhe (1988: 24). Eben weil das politische Kollektiv eine imaginierte Ordnung ist, können diese instituierten Phantasien eine unauflösliche Verbundenheit vorstellen lassen. Sowohl die Isoliertheit angesichts des Todes als auch die in ihren Ausmaßen schwankenden sozialen Isolationsgrade in den Lebenswelten der Individuen, können somit im Profanen transzendiert werden. In Krisenzeiten, in denen die Gesellschaft als instabil oder gar als in Auflösung erlebt wird, ist meist auch eine Aufwertung des Totenkultes und der Begräbnisrituale zu beobachten (vgl. Feldmann 1990: 43). Die Transzendierung des kollektiven politischen Bandes ist nicht nur Ausdruck einer Angstkompensation der sterblichen Individuen - die im übrigen nicht mit Angstüberwindung verwechselt werden darf 61 - angesichts eines möglichen NichtMehr-Seins und der Stabilisierung einer instituierten symbolischen Ordnung. Vielmehr kann die Angst vor dem unbestimmten Tod auch Ausdruck vor der befürchteten Negation dessen sein, was man im Leben als bestimmt, bedeutend und sinnvoll erachtet hat. Wie Jaspers einmal formuliert hat, lasse die Doppelheit von Daseinsangst und Existenzangst den Schrecken des Todes in zweifacher Gestalt erscheinen, »als Dasein das nicht eigentlich ist, und als radikales Nichtsein« (1984: 68). Insofern die symbolische Ordnung des Kollektivs das Dasein der Individuen mit Sinn erfüllt, muß das Sterben des Kollektivs auch als Negation des Lebenssinns der Individuen befürchtet werden. »Wenn die Kette der Erinnerung abbricht, wenn die Kontinuität einer bestimmten Gesellschaft oder der menschlichen Gesellschaft überhaupt abbricht, erlischt auch der Sinn all dessen, was deren Menschen durch die Jahrtausende hin getan haben und was ihnen jeweils als sinnvoll erschien« (Elias 1983: 53f.).

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Angstkompensationen können zwar über relativ lange Zeiträume stabilisiert werden, bleiben aber fragil. Angstüberwindung ist ein unerreichbares Ziel immanenten Begehrens, weil die Überwindung der Angst die Möglichkeit der Bestimmung dessen voraussetzen würde, wovor wir uns als Lebende ängstigen.

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Politische Kollektivität und das Problem des Todes

Die Kompensationssignifikate der Kollektivitätsvorstellungen entsprechen nicht nur dem Begehren einer Todestranszendierung, sondern auch dem Wunsch, das Leben vor dem Tod zu beseelen (vgl. Mosse 1993: 98). Ich werde an späterer Stelle auf die Angst hinsichtlich der Negation des Lebenssinnes im Zusammenhang mit dem heroischen Opfer zurückkommen. Die bisherigen Überlegungen zum Problem des Todes hinsichtlich politischer Kollektivität sind noch zu unspezifisch, um die Bedeutung des Todesproblems innerhalb der Vorstellungen moderner politischer Kollektivität angemessen charakterisieren zu können. Die imaginierte Verbindung der Lebenden durch die Toten reicht historisch weiter zurück als die Vorstellungen moderner politischer Kollektivität. Fustel de Coulanges hat in seiner Untersuchung über den antiken Staat, den Totenkult als primäres Vereinigungsband der verschiedenen Gemeinschaftsebenen im antiken Griechenland und Rom herausgearbeitet. Die Familie (von lat. famulus = Diener; familia = Gesamtheit der Dienerschaft) war nicht primär durch Blutsverwandtschaft verbunden, sondern durch den Dienst eines gemeinsamen Totenkultes, dessen Riten um ein familiäres Herdfeuer nach strengen Regeln abgehalten wurde (vgl. 1988 [1864]: 62f.; vgl. auch Kap. 3.2). Wenn die Riten eingehalten und die Opfergaben dargebracht wurden, dann wurde der Ahn ein schützender Gott (vgl. 1988 [1864]: 55). Der Boden war den Lebenden der Familie nur anvertraut und gehörte den Gestorbenen und noch Ungeborenen. Die daraus resultierende Unveräußerlichkeit des Bodens wurde wahrscheinlich erst mit dem römischen Zwölftafelgesetz (451-450 v. Chr.) auf das Grab eingeschränkt, während das Feld davon befreit wurde (vgl. 1988 [1864]: 98f.). Dieses Vereinigungsmuster um einen gemeinsamen Kult wurde auch auf die größeren Gemeinschaften übertragen: Zunächst auf die Kurie oder Phratie, dann zum Tribus und schließlich zur Stadt. Immer wurde ein Altar zur Verehrung einer gemeinsamen Schutzgottheit eingerichtet, die wie bei der Familie ein Ahne, ein gottgewordener Toter, ein Heros war (vgl. 1988 [1864]: 161). Der antike Patriotismus hatte seine Wurzel im gemeinsamen Totenkult. »Das Wort Vaterland bedeutete bei den Alten der Boden der Väter, terra patria. Das Vaterland eines jeden Menschen war der Teil des Bodens, den die häusliche oder nationale Religion geheiligt hatte, die Erde in der die Gebeine seiner Vorfahren ruhten, der Bereich, in dem ihre Seelen walteten [...] Alles, was dem Menschen teuer war, verband sich für ihn mit dem Vaterland. In ihm fand er seinen Besitz, seine Sicherheit, sein Recht, seinen Glauben, seinen Gott. Wenn er es verlor, verlor er alles« (1988 [1864]: 268). Diese starke Bedeutung von patria verlor erst mit der Karriere des Christentums an Bedeutung. Die Christen waren »Fremde und Gäste auf Erden« (Hebr. 11, 13), für die Gott eine himmlische Stadt vorbereitet hat (Hebr. 11, 16). »Nach den Lehren der frühen Kirche und der Kirchenväter war der Christ Bürger einer Stadt in einer anderen Welt geworden. Seine wahre patria war das Himmelreich, die himmlische Stadt Jerusalem« (Kantorowicz 1990: 243). Diese »Vernachlässigung des irdischen Vaterlandes« war, wie ich im vorherigen Kapitel aufgezeigt habe, der Kern der Kritik, den die christlich orientierten Prediger der Nation gegenüber dem Christentum anführten. Die Wiederaufwertung der Vaterlandsliebe, die in den modernen Vorstellungen politischer Kollektivität mit den Konstruktionen der Nation, der Rasse, des Volkes oder auch des Staates verbunden wurde, werde ich nun exemplarisch an Fichte aufzeigen.

Politische Kollektivität und das Problem des Todes

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Fichte geht davon aus, daß es ein natürlicher Trieb des Menschen ist, »den Himmel schon auf dieser Erde zu finden, und ewig Dauerndes zu verflößen in sein irdisches Tagewerk; das Unvergängliche im Zeitlichen selbst zu pflanzen, und zu erziehen, nicht bloß auf eine unbegreifliche Weise, [...] sondern auf eine dem sterblichen Auge selbst sichtbare Weise« ( 5 1978 [1808]: 126) [Hervorhebungen, P. B.]. Die Voraussetzung, daß dieser von Fichte unterstellte Trieb zu seinem Ziel kommt, ist die Existenz einer Ordnung, die fähig ist, »Ewiges in sich aufzunehmen«. Diese Ordnung wird dann bestimmt als »besondere geistige Natur der menschlichen Umgebung, aus welchem er selbst mit allem seinem Denken und Tun mit seinem Glauben an die Ewigkeit desselben hervorgegangen ist, das Volk, von welchem er abstammt, und unter welchem er gebildet wurde, und zu dem, was er jetzt ist heraufwuchs« ( 5 1978 [1808]: Ulf.). Interessant für das Problem des Todes hinsichtlich politischer Kollektivität ist, daß Fichte den Glauben an ein ewiges, immanentes Fortwirken nach dem Tode als Voraussetzung der »Vaterlandsliebe« bestimmt, während das »Volk« wiederum Voraussetzung dieses Glaubens ist. »Der Glaube des edlen Menschen an die ewige Fortdauer seiner Wirksamkeit auch auf dieser Erde [Hervorhebung, P. B.] gründet sich demnach auf die Hoffnung der ewigen Fortdauer des Volks, aus dem er selber sich entwickelt hat, und der Eigentümlichkeit desselben, nach jenem verborgenen Gesetze; ohne Einmischung und Verderbung durch irgendein Fremdes, und in das Ganze dieser Gesetzgebung nicht Gehöriges. Diese Eigentümlichkeit ist das Ewige, dem er die Ewigkeit seiner selbst und seines Fortwirkens anvertraut, die ewige Ordnung der Dinge, in die er sein Ewiges legt; ihre Fortdauer muß er wollen, denn sie allein ist ihm das entbindende Mittel, wodurch die kurze Spanne seines Lebens hienieden zu fortdauerndem Leben hienieden ausgedehnt wird. [...] Die Liebe, die wahrhaftig Liebe sei, und nicht nur eine vorübergehende Begehrlichkeit, haftet nie auf Vergänglichem, sondern sie erwacht, und entzündet sich, und ruht allein in dem Ewigen. [...] Wer nicht zuvörderst sich als ewig erblickt, der hat überhaupt keine Liebe, und kann auch nicht lieben ein Vaterland, dergleichen es für ihn nicht gibt« ( 5 1978 [1808]: 129f.). Wenn Fichte die »Eigentümlichkeit« als das Ewige bestimmt, an dem die »wahrhaftige Liebe« hafte, verklärt er, um es mit der Begrifflichkeit dieser Untersuchung zu sagen, eine hypostasierte substantielle Identität als Ewiges im Irdischen. Mit diesem Gedanken hat Fichte eine in ihrer Wirksamkeit kaum überschätzbare Phantasie ausgedrückt: Die Phantasie einer die Individuen transzendierenden substantiell-statischen Identität, die im Gefühl dessen, was er »Liebe« nennt, eine profane Unsterblichkeit verspricht. Die Gedanken Fichtes sind aber nur ein Beispiel für diese Konstruktion, die den Vorteil haben, daß sie sehr klar formuliert worden sind. 62 Im Anschluß an dieses Beispiel will ich nun folgende These vertreten: Die Konstruktion politischer Kollektivität, die im Glauben an das Vorhandensein substantiell-statischer Identitätsmerkmale (siehe Kapitel 3-3.5) formuliert und instituiert werden, sind Aus-

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Die Gedanken Fichtes haben nicht nur einen großen Einfluß auf die verschiedenen nationalen oder völkischen Gruppen in Deutschland gehabt. So hat Bassam Tibi überzeugend aufgezeigt, daß im panarabisch-nationalistischen Denken die Rezeption Fichtes prägend war. Dies gilt besonders für die Werke von Sati' Husri und Michel Aflaq (vgl. Tibi 1987).

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Politische Kollektivität und das Problem des Todes

druck einer säkularisierten Todesüberwindungsphantasie, die den Tod im vitalisierten Kollektiv aufheben soll. Mit Rückbezug auf Kapitel 7.1 sei noch einmal darauf hingewiesen, daß Säkularisierung nicht einfach als Verweltlichung religiöser Topoi gesehen werden kann, sondern auch als Resakralisierung des Weltlichen betrachtet werden muß. Dies gilt nicht zuletzt für das hergestellte Weltliche - für das Politische. Die imaginäre Transzendierung des artefaktischen Charakters des Politischen ist der Versuch, die fragmentarische und sterbende Existenz bereits im Profanen aufzuheben, indem das Profane sakralisiert wird. Was Fichte formulierte ist die Konstruktion einer profanen Transzendenz. In Kapitel 7.1 habe ich gesagt, daß die profane Transzendenz aus der erlebten Diskrepanz der Zeitlichkeit des Individuums zu der Zeitlichkeit der profanen Ordnung und der Weltzeitlichkeit entstehen kann. Politische Kollektivität, so habe ich näher bestimmt, würde dann zur profanen Transzendenz, wenn das Kollektiv als Gemeinschaft der Lebenden, Toten und noch Ungeborenen vorgestellt wird, die durch eine Substanz verbunden sind, deren Existenz nicht das Produkt menschlichen Vorstellens und Handelns sein soll, sondern ihre Ursache jenseits dieser Tätigkeiten haben soll. Durch dieses Phantasma wird ersetzend oder ergänzend zur transzendenten »unsterblichen Seele« eine Vorstellung von Todesüberwindung formuliert. Das Individuum ist in dieser Vorstellung bereits durch die Teilhabe an einer kollektiven Substanz, die im symbolischen Selbst integriert ist, auch nach dem Tod in einem vitalen Zusammenhang aufgehoben, in dem dieser individuelle Anteil an der kollektiven Substanz fortwirken soll. In diesem Zusammenhang müssen wir den beharrlichen Erfolg der substantialisierten Kriterien sehen, die in den Kapiteln 3-3.5 untersucht worden sind. 63 Das Band des Blutes ist eine Metapher, die eine Phantasie ausdrückt, in der analog zum »Lebenssaft« des individuellen Körpers ein flüssiger Strom den Über-Organismus nicht nur verbindet, sondern diesen erst mit Leben durchströmt. Die »Abstammungs- oder Blutgemeinschaft« ist eine an die Biologie angelehnte Vorstellung eines corpus mysticum, die im Glauben gründet, daß in den Adern der einzelnen das Blut der Vorfahren und Nachkommen als Substanz von Identität und Konstanz fließt. Im Gegensatz zum Blut des individuellen Körpers, konnte und kann das Blut des corpus mysticum nicht sichtbar gemacht werden. Deshalb wurde das Blut im Rassenmystizismus auch weniger biologistisch gesehen denn als biologisch unsichtbarer Träger einer Rassenseele. Der Rassismus als biologisch-naturwissen-

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Für die Zeit der Weimarer Republik hat Sontheimer auf die weitverbreitete »vulgäre Lebensphilosophie« hingewiesen, die auf das Vitale der Gemeinschaft abzielte, »in ihrer ideologischen Zuspitzung wurde die vulgäre Lebensphilosophie jedoch zu einem plumpen Trick auf der Basis einer simplification terrible. Sie beruhte auf der aller Differenzierung spottenden Art und Weise, in welcher die Welt auf das einprägsame Schema des Gegensatzes von Leben und Tod, Vitalität und Erstarrung, Organik und Mechanik abgezogen wurde« ( 3 1992: 60). Das Blut als Träger der Seele oder lebensspendende Substanz ist eine sehr weit zurückreichende Metapher. »So verläßt z. B. in den Epen Homers die lebensspendende Seele den Sterbenden mit dem Blut durch die Wunde. [...] Nach einer Stelle im Koran schuf Gott den Menschen aus einem Blutgerinsel, und in verschiedenen Religionen vermittelt das Trinken des Blutes eines Opfertiers oder eines Rivalen den Erwerb seiner Eigenschaften. Lebendige Äußerungen dieser Blutmystik sind sowohl die Worte Jesu beim letzten Abendmahl (>Trinket alle daraus, dies ist mein BlutLeben