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German Pages 394 Year 1999
CHRISTIAN MÜLLER
Der Tod als Wandlungsmitte
Philosophische Schriften Band 38
Der Tod als Wandlungsmitte Zur Frage nach Entscheidung, Tod und letztem Gott in Heideggers "Beiträgen zur Philosophie"
Von
Christian Müller
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Müller, Christian: Der Tod als Wandlungsmitte : zur Frage nach Entscheidung, Tod und letztem Gott in Heideggers ..Beiträgen zur Philosophie I von Christian Müller. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Philosophische Schriften; Bd. 38) Zug\.: Frreiburg, Univ., Diss., 1998 ISBN 3-428-09597-9
D25 Alle Rechte vorbehalten
© 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-09597-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9
Meinem Freund Jean
Damals, da, beim Geheimnisse des Weinstoks sie Zusammensaßen, zu der Stunde des Gastmals, Und in der großen Seele, wohlauswählend, den Tod Aussprach der Herr, und die lezte Liebe, denn nie genug Hau er, von Güte, zu sagen Der Worte, damals, und zu bejahn bejahendes. Aber sein Licht war Tod. Denn karg ist das Zürnen der Welt.
Friedrich Hälderlin
Vorwort
Das Zustande kommen dieser Arbeit verdanke ich der vielfältigen Unterstützung durch diejenigen Menschen, die mich auf diesem Weg begleitet haben. Vor allem möchte ich Prof. Dr. Friedrich-Wilhelm von Herrmann danken, der mich mit seinen Seminaren durch die Philosophie Heideggers geführt und dabei den Blick für die weitreichende Dimension dieses Denkens eröffnet hat. Er zeigte mir, was Philosophie überhaupt als Heimat im Denken und damit Quelle unerschöpflichen Fragens und Öffnens neuer Horizonte des Lebens sein kann. Außerdem danke ich ihm für sein stetiges Geleit durch diese Arbeit. Meinen Eltern, Inge und Jochen Müller, danke ich für den Rückhalt und ihre unablässige Anteilnahme, mit der sie diese Arbeit ennöglicht haben. Den Mitstreiterinnen und Mitstreitern unseres Arbeitskreises Paola-Ludovica Coriando, Antje Heinemeier, Natalie Knapp, Alfred Knödler, Stephan Koban, Jean Levien (1969-1993), Peter McDonald, Mark Michalski und Daniela Neu danke ich für den anregenden Für- und Widerspruch und die jahrelange fruchtbare gemeinsame Arbeit. Vanessa Geczy-Sparwasser, Tanja Filipp und Gregor Fritz möchte ich besonders für die Übernahme der Korrekturen danken. Weiterhin geht mein Dank an meinen Bruder Sebastian Müller und an meinen Freund Stefan Jordan, deren praktischer und menschlicher Beistand mir eine große Hilfe war. Dr. Christian Gernhardt möchte ich für das jahrelange Wohlwollen, mit dem er mich persönlich begleitet und unterstützt hat, danken. Christian Müller
Inhaltsverzeichnis
A. EINLEITUNG § 1.
Die Exposition der Frage nach Tod, Gott und Entscheidung im Denken des anderen Anfangs ............................................................................................... 15
§ 2.
Der Gedankengang der Untersuchung im Aufriß ............................................. 21
B. HAUPTTEIL Erster Abschnitt: Das Denken der Entscheidung J. Grundzüge des Denkens der Entscheidung § 3.
Die Frage nach der Entscheidung .................................................................... 31 a) Die Entscheidung und die Frage nach der Wahrheit des Seins ..................... 31 b)Die Entscheidung des Wesenswandels des Menschen .................................. 34 c) Der Bereich des Gotthaften in der Entscheidung ......................................... .43
§ 4.
Die Entscheidung in ihrem Wesen als Ent-scheidung ..................................... .46 a) Der Sprung in die Ent-scheidung und das neuzeitliche Vorstellen ............. ..46 b)Die Ent-scheidung als das lichtende Sichverbergen ..................................... 50 c) Die Lichtung des Sichverbergens und die Ent-scheidung zwischen Mensch und Gott ........................................................................................................ 52 d)Die Seinsverlassenheit in der Ent-scheidung ................................................ 57
§ 5.
Die geschichtlichen Entscheidungen aus der Ent-scheidung .......................... .59 a) Subjekt und Da-sein ...................................................................................... 60 b)Seiendes, Sein und Wahrheit ........................................................................ 64 c) Die griechische Wahrheitsfrage und der Einsturz der aletheia ..................... 65 d)Die neuzeitliche Wahrheitsbestimmung als Gewißheit des VorsteIlens ....... 70 e) Das Gotthafte und das Wagen des Seins ....................................................... 76
§ 6.
Die einzige Entscheidung im Übergang zum anderen Anfang .......................... 80
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Inhaltsverzeichnis
11. Entfaltungen der Entscheidung § 7.
Die Entscheidung und das Entweder-Oder im Sein und Nichts ........................ 87 a) Das Sein und.das Nichts als Urgeschehen der Entscheidung und des Entweder-Oders ............................................................................................ 87 b)Die Scheidungen hinsichtlich Un-wesen, Verstellung und Un-wahrheit ...... 93 c) Die Entscheidung von Zuwurf und Entwurf im Sein und Nichts .................. 96
§ 8.
Die Entscheidung des Seins im Geschehen von Da-sein, Mensch und Seiendem .................................................................................................... 99 a) Das Da-sein im Sein und die Gründung der Wesung der Wahrheit .............. 99 b) Die Wahrheit des Seins und das Seiende .................................................... 103 c) Das Übermaß der Lichtung des Sichverbergens und die Unerschöpflichkeit des Seins .............................................................................................. 108 d) Das Da-sein und der Mensch ...................................................................... 111 e) Die Inständigkeit für das Seiende als die eigentliche Vollzugs weise des Menschseins ................................................................................................ 113
§ 9.
Die Frage nach dem Freien und Möglichen der Entscheidung: Das System der Freiheit bei Schelling ............................................................................... 118 a) Das Denken des Systems aus der ontotheologischen Verfassung der Metaphysik ................................................................................................. 120 b) Schellings Ursein als Wille ........................................................................... 124 c) Die Bewegtheit des Seienden aus der Einheit von Grund und Existenz im Willen ......................................................................................................... 125 d)Die Möglichkeit der menschlichen Freiheit zum Bösen als Zertrennlichkeit der Prinzipien ....................................................................................... 127 e) Die Freiheit zum Bösen in den Modalitäten von Notwendigkeit, Möglichkeit und Wirklichkeit .................................................................................. 129 f) Das Absolute des Ungrundes und des Endes .............................................. 131 g) Schellings Scheitern an der absoluten Einheit ............................................ 134 h)Die Widersprüchlichkeit von Bewegtheit und Freiheit im Sein in beständiger Anwesenheit ...................................................................................... 136 i) Die Einzigkeit des Seins in seiner Widerwendigkeit .................................. 139
§ 10.
Das Freisein der Entschiedenheit und das Freie und Mögliche des Seins .... 141 a) Die menschliche Entschiedenheit aus der Freiheit des Abgrundes ............. 144 b) Das Mögliche des Seins in der Zerklüftung des Freien .............................. 149 c) Die tiefste Zerklüftung der Entscheidung und der Tod ............................... 152
Inhaltsverzeichnis
II
Zweiter Abschnitt: Die Zeit der Entscheidung: der Tod und der letzte Gott J. Das Denken des Todes § 11.
Das Phänomen des Todes im lebensweltlichen Umgang ................................ 159 a) Das Lebensende im Umgang der medizinischen Technik .......................... 160 b)Die Fragwürdigkeit von Leben und Tod im Mitsein mit der Entscheidung über Leben und Tod eines Anderen ............................................................ 163 c) Das Mitsein mit dem Sterben eines Anderen .............................................. 171 d) Der Tod im Opfer des eigenen Lebens ....................................................... 173
§ 12.
Der Tod im Sein und das Sein zum Tode ........................................................ 178 a) Die Aufgabe der Frage nach dem Tod und dem Sein zum Tode in den »Bei trägen« ................................................................................................. 178 b) Das Sein zum Tode des Menschen als Entschiedenheit zur kürzesten Bahn ............................................................................................................ 183 c) Der Tod als höchstes Zeugnis des Seins ..................................................... 186 d) Die Sterblichen und der Tod als das Gebirg des Seins ............................... 188
§ 13.
Das Denken der Unsterblichkeit bei Platon ................................................... 190 a) Platons Denken der unsterblichen menschlichen Seele .............................. 192 b)Die Unsterblichkeit im Denken der Ganzheit des sich selbst Bewegenden 195
§ 14.
Das Unsterbliche des nous bei Aristoteles ..................................................... 199 a) Die Unsterblichkeit im Denken des unbewegt Bewegenden ...................... 199 b)Der menschliche nous in seiner Göttlichkeit und Unsterblichkeit .............. 203 c) Die Scheidung von göttlichem und menschlichem nous .............................. 206 d)Der Vollzug der reinen noesis noeseos und das Unsterblichsein des Menschen ........................................................................................................... 209
§ 15.
Meister Eckharts Denken des Todes und des unsterblichen Ich ..................... 211 a)Die Todesdurchbrechung zum Einssein von Ich und Gott .......................... 212 b)Das Ich und der Tod im christlichen Denken Eckharts ............................... 218 c) Der Tod und die Auferstehung als Eröffnung des Gottmenschenturns ....... 221 d) Die Unsterblichkeit bei Eckhart in Absetzung von Platon und Aristoteles .223
§ 16.
Kants kritisches Denken der Idee der Unsterblichkeit ................................... 225 a) Die Idee der Unsterblichkeit im Ganzen der »Kritik der reinen Vernunft« 226 b)Die vier Paralogismen zum "Ich denke" ..................................................... 229 c) Die Zeit und das stehende und bleibende Ich ............................................. 234 d) Die Idee in ihrem regulativen Charakter für die reine theoretische Vernunft ............................................................................................................ 237
12
Inhaltsverzeichnis e) Die Idee der Freiheit als Übergang zur Idee der Unsterblichkeit in der praktischen Vernunft .................................................................................. 240 f) Die Idee der Unsterblichkeit als Postulat der reinen praktischen Vernunft 244 g)Die Idee der Unsterblichkeit innerhalb der ontotheologischen Blickbahn 246
§ 17.
Vom Denken der Unsterblichkeit zum Denken der Sterblichen ...................... 250 a) Die Kritik am metaphysischen Denken von Tod und Unsterblichkeit ........ 250 b)Der Tod im transzendental-horizontalen Denken von »Sein und Zeit« ...... 255 c) Die fünf Bestimmungen des Seins zum Tode und der Bevorstand des Todes .......................................................................................................... 259 d)Der Wandel der fünf Bestimmungen des Seins zum Tode im Ereignisdenken ........................................................................................................ 261 e) Der Wandel des Denkens der geschlossenen Endlichkeit zur Endlichkeit als Abgründigkeit ....................................................................................... 266
§ 18.
Die Todesdurchschrittenheit aus der Wandlungsmitte des Todes ................... 270 a) Die Todesdurchschrittenheit aus dem Hereinstand des ganz Verborgenen im Ereignisdenken ...................................................................................... 270 b)Die Todesdurchschrittenheit im geweitet gedachten Vollzug des Menschen ........................................................................................................... 273 c) Die augenblicks hafte Unerschöpflichkeit der Gabe des Todes als Wandlungsmitte ................................................................................................... 276 d) Die Todesdurchschrittenheit im geweitet gedachten faktischen Tod .......... 279
11. Die Zeit des Todes: der letzte Gott und die Liebe § 19.
Der Zeit-Spiel-Raum und die Ver-ewigung ..................................................... 285 a) Der Zeit-Raum in Abgrenzung zum gewöhnlichen Denken von Raum und Zeit ....................................................................................................... 285 b)Der Zeit-Raum als der Abgrund ................................................................. 287 c) Die Zeit als Entrückung der Zeitigung ........................................................ 288 d)Der Raum als Berückung der Einräumung ................................................. 291 e) Der Zeit-Raum als Augenblicksstätte aus dem Wink ................................. 292 f) Die Unerschöpflichkeit der Grade des Zeit-Raumes und die Todesdurchschrittenheit ................................................................................................ 295 g)Die Ver-ewigung im Zeit-Raum ................................................................. 299 h) Das Endenlassen des Zeit-Raumes und der Wink in den Tod .................... 302
§ 20.
Der letzte Gott und der Tod ............................................................................ 305 a) Die Frage nach der denkerischen Erfahrung des Gotthaften im Ereignis ... 305 b)Das ontotheologische Denken der Metaphysik als Geschichte der Götterdämmerung ................................................................................................. 311
Inhaltsverzeichnis
13
c) Das Sein zwischen dem Menschen und dem Gott ...................................... 3 I 9 d)Die erste Erfahrung des Gotthaften als Ausbleib ........................................ 323 e) Die Ankunft und Flucht der Götter als Bewegtheit im Sein ....................... 326 f) Die Zeitigung des Götternsin der Hölderlinhymne "Germanien" .............. 329 g) Die gewesenen Götter und ihre verborgene Verwandlung in der Zeitigung ............................................................................................................ 333 h) Der Tod und das erfüllende Göttern des letzten Gottes ............................... 337 i) Das Zerreißen des Netzes als Geschehen des letzten Gottes im Tod .......... 344 j) Das Maß des Seins und das Gesetz des Todes zwischen Mensch und Gott ............................................................................................................. 349 § 21.
Der Gott und die Liebe ................................................................................... 352 a) Das Gottesgeschehen in der Bergung des Seienden ................................... 352 b)Die Liebe zur Erde ...................................................................................... 359 c)Hölderlins "Sohn des Höchsten" ................................................................ 361
Siglenverzeichnis ................................................................................................ 368 Literaturverzeichnis .......................................................................................... 369 Personenregister ................................................................................................... 382 Sachregister ............................................................................................................ 384
A. EINLEITUNG
§ J. Die Exposition der Frage nach Tod, Gott und Entscheidung im Denken des anderen Anfangs
Das Denken lebt aus einer Wahlverwandtschaft mit dem Tod.
Martin Heidegger
Die Frage nach dem Tod, die im Mittelpunkt dieser Arbeit steht, verweist in einen Bereich, der dem Leben sowohl sehr fremd als auch sehr nah sein kann. Wenn wir uns vom Tod bewegen lassen, kann der Tod uns tief anrühren, weil er uns und unser Leben in Frage stellt. Nicht nur, weil er droht, es enden zu lassen, sondern auch, weil er mit dieser Bedrohung uns nach demjenigen fragen läßt, was wir leben und was wir eigentlich zu leben vermögen. Er verweist uns auf diejenigen Bezüge, von denen wir vielleicht an unserem Lebensende wünschen, für sie gelebt zu haben. So läßt er uns fragen, ob und wie wir in dem für uns Wichtigen leben. Andererseits jedoch löst der Tod fast natürlich eine Fluchtbewegung aus, sei es in der Angst vor dem konkreten Tod oder in der Abwehr eines Nachsinnens über ihn. Über den möglichen Tod eines Anderen oder den eigenen möglichen Tod zu denken oder zu reden, ist fast ein unausgesprochenes Tabu. Vielleicht, weil es uns zu sehr im Eigenen trifft. Und vielleicht ist das die größere Angst des Menschen: die Angst vor seinem Eigensten. Gerade in unserer Zeit scheint der Mensch fast ausschließlich bemüht zu sein, den Tod und das Sterben von sich entfernt zu halten. Der Tod erscheint gewöhnlich für den Lebensvollzug unwichtig und ein Denken über den Tod fast müßig. Nicht nur, daß heute zumeist das Sterben und der Tod in den Bereich der Medizin und den Raum der Krankenhäuser abgedrängt wird, so daß wir kaum damit in Berührung kommen. Wir könnten sogar erwägen, ob die heutige Forschung und Technik nicht in ihrer Grundausrichtung eigentlich daran arbeitet, den Menschen in seinem mit ihr faßbaren sogenannten Physischen nicht nur immer länger am Leben zu erhalten, sondern letztlich "unsterblich" zu machen, ohne dabei hieran selbst konkret zu denken. Grundsätzlich können wir in unserem normalen Leben sowie in der modernen Technik einen Bezug zum Tode
16
A. Einleitung
finden, der ganz natürlich bemüht ist, den "Tod" zu fliehen und ihn aus dem "Leben" herauszunehmen. Wenn wir jedoch das Phänomen des Todes denkerisch betrachten, so läßt sich die Möglichkeit eines völlig gewandelten Bezuges zum Tod entfalten und das gewöhnliche Denken sowie das Denken der modernen Technik im Verhältnis zum Tod in ihrer fliehenden Ausrichtung verdeutlichen. Diese Arbeit trägt deshalb den Titel: "Der Tod als Wandlungsmitte". Damit soll keine Philosophie des Todes entfaltet werden. Daß aber der Tod in der Philosophie eine gewichtige Frage ist, zeigt sich in dem Bedenken der Unsterblichkeit des Menschen, das fast die gesamte bisherige abendländische Philosophie durchzieht, auch dort, wo sich das Denken gegen ein Unsterblichsein wendet. Mit dem Denken Heideggers, das im Zentrum dieser Arbeit steht, geschieht jedoch ein Um- und Aufbruch zu einem gewandelten Denken, das die bisherige Philosophie verläßt. Heidegger beansprucht für "sein" Denken, daß damit ein anderer Anfang des Denkens sich gegenüber dem aus seiner Blickbahn erstanfanglichen Denken der bisherigen Philosophie von den Griechen bis zu Nietzsche zeigt. Ohne diese Geschichte in ihrer Verschiedenartigkeit und ihrem Reichtum zu schmälern und auf einen einzigen Grundzug zu reduzieren, läßt sich dennoch der "Anspruch" Heideggers anhand seiner genauen Untersuchungen zur bisherigen Philosophie sowie anhand des ganz Anderen in seinem Denken als berechtigt aufweisen. Ob jedoch dieses ganz andere und damit neue "Vermögen" zu denken eine solche Geschichte wie die des Abendlandes, die für Heidegger aus dem griechischen Denken entspringt, zeitigen wird, ist unabsehbar. Nur die Wucht dieses Aufbruchs läßt sich zunächst zeigen.
In diesem Zusammenhang kommt der Frage nach dem Tod eine besondere Stellung zu. Das bei Heidegger aufbrechende Denken ist nicht primär auf die Frage nach dem Tod ausgerichtet. Heideggers Grundfrage oder, wie er auch sagt, seine einzige Frage ist die Frage nach dem Sein. Deshalb soll mit der Betonung des Todes das Denken Heideggers nicht auf dieses Phänomen verengt werden. Jedoch bedeutet der Tod als Verbergung, wie Heidegger auch von ihm spricht, das tiefste Verbergen im von Heidegger gedachten andersanfanglichen Geschehen von Sein als sichlichtende Verbergung und somit die tiefste und weitreichendste Öffnung eines neuen Denkens. Deshalb kann der Tod als das tiefgreifendste Geschehen des gewandelten Denkens des anderen Anfangs gedacht werden, das selbst um eine gewandelte Erfahrung des Denkens und des Seins bemüht ist. In diesem Sinne soll mit dem Tod als Wandlungsmitte das Denken des anderen Anfangs entfaltet und darin ein Bezug zum Tod als denkerische Möglichkeit eröffnet werden, die entgegen der "natürlichen" Fluchttendenz den Tod gewandelt erfahren kann.
§ I. Die Exposition der Frage nach Tod, Gott und Entscheidung
17
Betrachten wir den ganzen Weg des Denkens Heideggers, so ist auffällig, daß schon im Frühwerk in »Sein und Zeit« 1 innerhalb der Seinsfrage dem Phänomen des Todes eine ausgezeichnete Rolle zukommt. Da der Tod in »Sein und Zeit« so bedacht wird, daß er als Verschlossenheit in den Daseinsvollzug hereinstehen kann, wird das Ganzseinkönnen des Daseins und die Zeit als eigentliche, endliche Zeitlichkeit des Daseins in bezug zu einer eigentlichen Erschlossenheit von Sein denkbar. So ist schon im Frühwerk der Tod in einem besonderen Bezug zum Sein im Sinne der Eröffnung eines eigentlichen Vollzuges von Sein im Unterschied zum uneigentlichen Vollzug gedacht. Und auch im Spätwerk des sogenannten topologischen Denkens erfährt das Phänomen des Todes, z.B. in der Wendung des Schreins des Nichts, der das Wesende des Seins birgt, ein Auszeichnung, die es als die höchste Eröffnungsmöglichkeit von Sein zeigt. Ebenso finden wir im Spätwerk den Bezug zum Tod in der Fassung des Menschen als des Sterblichen. Da das Denken Heideggers in der Frage nach dem Sein besonders um die Erfahrung des einig gedachten Zwiefachen von Lichtung und Verbergung als ganz andere Fassung des Geschehens von Sein und Wahrheit ringt, kommt dem Tod sowohl im Sinne der Verschlossenheit in der Erschlossenheit von Sein im Frühwerk in »Sein und Zeit« wie auch als Schrein des Nichts für das Wesende des Seins im Spätwerk durchgängig eine ausgezeichnete Notwendigkeit zu. Wenn wir die bisher veröffentlichten Schriften Heideggers betrachten, so fällt jedoch auf, daß die Bedeutung der Verbergung und so des Todes in ihrer vielfältigen Hinsicht in dieser Ausführlichkeit nur im Werk »Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)«2 von Heidegger bedacht wird. Deshalb läßt sich in ihnen 1 Heidegger, Martin Sein und Zeit, Gesamtausgabe Bd. 2, Frankfurt a.M. 1977, Einzelausgabe, Tübingen 16 1986 (im folgenden zitiert nach der Einzelausgabe als: SuZ). 2 Heidegger, Martin, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Gesamtausgabe Bd. 65, Frankfurt a.M. 1989 (im folgenden zitiert als: GA 65). Die »Beiträge« wurden von Heidegger in den Jahren 1936-38 abgefaßt, jedoch nicht zu Lebzeiten Heideggers veröffentlicht. Heidegger sah als Voraussetzung für das Verständnis dieses Manuskriptes die Kenntnis seiner Vorlesungen für notwendig an. Deshalb gab er für die Herausgabe der Gesamtausgabe als Ausgabe letzter Hand die Anweisung, zuerst die 11. Abteilung dieser Ausgabe zu veröffentlichen, die seine Vorlesungen enthält. Erst im Anschluß hieran sollte mit der III. Abteilung begonnen werden, innerhalb derer die »Beiträge« und weitere bisher unveröffentliehe Schriften erscheinen. Zum 100. Geburtstag Heideggers 1989 wurde mit den »Beiträgen« die Herausgabe der III. Abteilung begonnen, weil zu diesem Zeitpunkt die meisten Vorlesungen erschienen oder zur Herausgabe vergeben waren (vgl. zur Herausgabe der »Beiträge« das Nachwort des Herausgebers Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, GA 65, S. 511-521). Diese Vorsicht Heideggers wird bei der Lektüre der »Beiträge« nachvollziehbar, da sie ohne didaktische Erläuterungen geschrieben wurden und deshalb zunächst zwangsläufig sehr schwer zugänglich sind. Heidegger prägt in ihnen eine Fülle von Begriffen, die die »Beiträge« allein rein sprachlich sehr unverständlich erscheinen lassen können. Es bedarf deshalb eines sehr langen Nachgehens der einzelnen Worte und ihrer immer wieder sich wandelnden Wendungen, um das mit ihnen Gedachte herauszuarbeiten.
2 Müller
18
A. Einleitung
als Werk der mittleren Phase Heideggers das Geschehen der Verbergung in der Lichtung besonders deutlich herausarbeiten. Zwar ist schon in »Sein und Zeit« die Verbergung als Verschlossenheit in der Erschlossenheit von Sein bedacht. Erst jedoch mit dem Wandel der transzendental-horizontalen Blickbahn der Seinsfrage von »Sein und Zeit« zur seinsgeschichtlichen oder Ereignisblickbahn in den »Beiträgen«, wie wir mit Friedrich-Wilhelm v. Herrmann 3 sagen können, vermag das Denken Heideggers das Geschehen der Verbergung in der Lichtung und so das Geschehen des Hereinstandes des Todes in seiner "Bewegtheit" weitreichender zu fassen. Die Erfahrung des andersanfänglichen Denkens kommt erst in den »Beiträgen« in seine sprachlich dem Geschehen gemäßere Fassung und spricht dabei aus einer gegenüber »Sein und Zeit« immanent gewandelten Erfahrung des Denkens. In diesem Sinne läßt sich mit v. Herrmann 4 von den »Beiträgen« als zweites Hauptwerk nach dem Grundwerk »Sein und Zeit« reden. Nur von den »Beiträgen« ausgehend ist das Geschehen von Sein im sichlichtenden Verbergen auf den verschiedenen Denkwegen des Spätwerkes in seiner Tiefe zu erfassen, da im Spätwerk, soweit es veröffentlicht ist, nicht in dieser Ausführlichkeit davon gesprochen wird. Deshalb beschränkt sich diese Arbeit hauptsächlich auf ein Herausarbeiten der Frage nach dem Sein und dem Tod im Geschehen von Sein in den }}Beiträgen«. Um aber den Tod und das andersanfängliche Denken in derjenigen Tiefe zu entfalten, in die Heidegger hierbei fragt, ist es unumgänglich, die Frage nach dem Gott zu thematisieren. Diese zwingende Unumgänglichkeit besteht deshalb, weil in den }}Beiträgen« von Beginn an der andere Anfang in bezug zu einem Geschehen des Göttlichen im weitesten Sinne gebracht wird. Heidegger geht sogar so weit zu sagen, daß der Gott im Sinne des von ihm gedachten letzten Gottes der andere Anfang unserer Geschichte ist.
Dann aber kann nachvollzogen werden, warum Heidegger so sehr bemüht ist, in immer neuen Anläufen in einer derart schwierigen Sprache dem Zudenkenden zu genügen und insofern um der Sache willen diese Art von Arbeit an der Sprache vollzieht. Die in den »Beiträgen« gedachten Worte sind wie Kristalle zu lesen, die in langjähriger Denkarbeit geschliffen wurden, um eine gewisse "Gestalt" des Denkens herauszuarbeiten und zu fassen. Anhand der Vorlesungen im Umfeld der »Beiträge« können bestimmte Bezüge in den »Beiträgen« deutlicher werden, weshalb wir sie an geeigneten Stellen für unsere Auslegung hinzuziehen, da Heidegger in seinen Vorlesungen mit Rücksicht auf die Zuhörer didaktisch seine Gedanken entfaltet, während er in den »Beiträgen« diese Rücksicht fallen läßt und rein dem Zudenkenden zu entsprechen versucht. 3 Vgl. Herrmann, Friedrich-Wilhelm V., Wege ins Ereignis, Frankfurt a.M. 1994, S. 57, S. 30-32 sowie S. 55-58. 4 Vgl. Herrmann, Friedrich-Wilhelm V., Wege ins Ereignis, S. 6.
§ I. Die Exposition der Frage nach Tod, Gott und Entscheidung
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Die Frage nach dem Gott kann aber unserem heutigen gewöhnlichen Denken noch abwegiger erscheinen als die Frage nach dem Tod, zu dem jeder Mensch wenigstens einen Bezug hat, auf den er sich besinnen kann. Wieso jedoch das Denken Heideggers zu einer Notwendigkeit kommt, den Gott zu thematisieren, muß eine Frage werden, wenn wir Heideggers Denken des anderen Anfangs ernst nehmen wollen. Ohne die Frage nach dem Gott bleibt ein Nachvollzug des Denkens des anderen Anfangs in den »Beiträgen« an der Oberfläche. Daß Heidegger den Gott nicht derart thematisiert, wie dieser in der Geschichte der bisherigen Philosophie bedacht wurde, ergibt sich schon allein aus dem Versuch, einen anderen Anfang des Denkens zu gründen. Zugleich muß Heideggers Denken des Gottes von jeglicher Konfession ferngehalten werden, wenn wir rein denkerisch dieser Frage nachgehen wollen. Heidegger denkt zunächst den Ausbleib und Fehl des Gottes als erste Erfahrung eines andersanfänglichen Gottesgeschehens, womit deutlich wird, daß er bezüglich des Gotthaften gerade nicht von einer Weltanschauung und einer Konfession ausgeht. Diese Erfahrung kann unserem heutigen Denken näher sein als die direkte Frage nach Gott, auch wenn erst zu zeigen sein wird, was Heidegger hier mit dem Fehl denkt. Jedoch bleibt Heidegger nicht allein beim Fehl des Gottes, auch wenn die Häufigkeit der Wendungen des Ausbleibs des Göttlichen in den »Beiträgen« dazu verleiten mag, zunächst allein vom Ausbleib des Gottes im Denken der »Beiträge« zu sprechen. Beim genaueren Bedenken der »Beiträge« zeigen sich aber deutlich unterscheidbare Weisen Heideggers, vom Göttlichen oder Gotthaften im anderen Anfang zu sprechen. Aus diesen Unterscheidungen lassen sich Grade der denkerischen Erfahrung des Gotthaften entfalten bis hin zu einem erfüllten Gottesgeschehen, so fern dem gewöhnlichen Denken eine solche denkerische Erfahrung auch zunächst erscheinen mag. Wenn wir aber Heidegger ernst nehmen wollen, führt kein Weg an einer solchen Entfaltung vorbei; es sei denn, wir würden ein solches Bedenken von vorneherein ablehnen, damit aber an der entscheidenden Tiefe des Denkens des anderen Anfangs vorbeigehen. Wenn der letzte Gott der Anfang des anderen Anfangs des Denkens ist, so müssen wir dieses Geschehen bedenken, wenn wir dem Andersanfanglichen nachgehen wollen. Das heißt jedoch nicht, daß nicht schon z.B. die Erfahrung des Denkens in »Sein und Zeit« in das Andersanfängliche verweisen würde, auch wenn dort nicht der Gott im Seinsdenken eigens bedacht wird. Und ebenso bedeutet die Weise des Geschehens von Sein als sichlichtendes Verbergen schon der Aufgang eines Andersanfanglichen. Der letzte Gott ist nicht allein das Geschehen des Andersanfänglichen, sondern als Anfang des anderen Anfangs bedeutet er dessen tiefster Anfang. Ohne eine ausführlichere Thematisierung des letzten Gottes bliebe ein Nachvollzug des Denkens der »Beiträge« bei den ersten, wenn auch ebenso bedeutsamen Schritten stehen und würde nicht in die weitere Dimension des dort Gedachten fragen.
2·
20
A. Einleitung
Ebenso wie für die Frage nach dem Tod und dem sichlichtenden Verbergen kommt den »Beiträgen« im Verhältnis zum Spätwerk für das Bedenken des Gotthaften eine herausragende Position zu. Zwar entfaltet sich das Denken des Spätwerkes noch weiter in den verschiedenen Versuchen, das Gotthafte im dort gedachten Geviert der vier Weltgegenden als einer dieser Gegenden in der Versammlung z.B. in den Dingen zu bedenken. Dennoch zeigen von den bisher veröffentlichten Schriften allein die »Beiträge« einen derart ausführlichen und tiefgehenden Versuch, das Gotthaften zu bedenken. Deshalb läßt sich sagen, daß für das Geschehen des Gotthaften - wie für die Bezüge von Tod und sichlichtender Verbergung - erst von den »Beiträgen« und den dort ausführlich entfalteten Bezügen von Mensch und Gott aus, diese Bezüge im Spätdenken, wie Z.B. in der Fassung der Göttlichen und der Sterblichen, deutlicher werden. Sowohl den Tod als auch ein mögliches Geschehen zwischen dem "Gott" und dem "Menschen" bringt Heidegger in den »Beiträgen« in einen besonderen Bezug zur Entscheidung. Einerseits zeigt sich der Tod als äußerste oder tiefste Entscheidung und andererseits spricht Heidegger vom Geschehen zwischen Gott und Mensch als der weitesten Entscheidung im Denken des anderen Anfangs. Deshalb soll in dieser Arbeit dem Grundwort der Entscheidung, so wie es Heidegger in den }}Beiträgen« in verschiedenen Hinsichten prägt, besonders nachgegangen werden. Heideggers wichtigstes Grundwort für das andersanfängliche Geschehen von Wahrheit als Wahrheit des Seins und somit für das andersanfängliche Denken überhaupt ist das Ereignis. Mit der Wendung Sein als Ereignis wird von Heidegger das Grundlegendste des Denkens des anderen Anfangs überhaupt gefaßt. In mehrerer Hinsicht bietet sich aber zur Entfaltung dieses Grundgeschehens an, vom Denken des anderen Anfangs im Sinne des Ereignisses als Denken der Entscheidung zu sprechen. Einerseits versteht sich das Denken des anderen Anfangs als ein Denken, das gegenüber dem Denken des ersten Anfangs in unserer heutigen geschichtlichen Zeit zur Entscheidung steht bzw. stehen kann. Andererseits geschieht eine solche Entscheidung nur im jeweiligen, in einem besonderen Sinne von Zeit geschehenden Augenblick der Entscheidung. Außerdem läßt sich die wichtigste Grunderfahrung des denkerischen Geschehens des Ereignisses, das Auseinandertreten von Zuwurf und Entwurf, sehr deutlich anhand der Entscheidung entfalten. Mit dem Denken der Entscheidung soll insofern nicht anstelle des Grundwortes des Ereignisses nun die Entscheidung in den Vordergrund gerückt werden, sondern zunächst anhand der Entscheidung das andersanfangliche Geschehen des Denkens von Sein als Ereignis dargestellt werden. Die Aufgabe dieser Arbeit besteht einerseits darin, in der Fragerichtung nach Entscheidung, Tod und letztem Gott im Denken des anderen Anfangs diese Bezüge anhand der }}Beiträge« zu entfalten und damit einen Weg durch die }}Beiträge« zu bahnen. Insofern stellt diese Arbeit im engeren Sinne eine Untersu-
§ 2. Der Gedankengang der Untersuchung im Aufriß
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chung zu Heideggers »Beiträgen« dar und bewegt sich deshalb über' weite Strecken in einer Textauslegung der »Beiträge« und darin in einem denkerischen Nachvollzug des in ihnen Gedachten. Weiter gefaßt liegt hierin aber andererseits eine Entfaltung des Denkens des anderen Anfangs überhaupt und in dieser Hinsicht der grundsätzlichen Ausrichtung des Denkens Heideggers, weshalb jeweils relevante Werke aus dem Gesamtwerk an gegebener Stelle hinzugenommen werden. Damit soll ein möglicher Weg gebahnt werden, mit dem VOn Heidegger Eröffneten zu denken.
§ 2. Der Gedankengang der Untersuchung im Aufriß
Der Gedankengang zur Entfaltung des Denkens der »Beiträge« und damit des Denkens des anderen Anfangs in besonderer Hinsicht auf die Entscheidung, den Tod und den letzten Gott gliedert sich in zwei Abschnitte. Im ersten Abschnitt, der den Titel "Das Denken der Entscheidung" trägt, werden die wichtigsten Grundzüge des andersanfänglichen Denkens an hand der Entscheidung entfaltet, um im zweiten Abschnitt "Die Zeit der Entscheidung: Der Tod und der letzte Gott" dieses Denken hinsichtlich der äußersten Entscheidung des Todes und der weitesten Entscheidung des Gottes zu bedenken. Im ersten Kapitel des ersten Abschnittes mit dem Titel "Grundzüge der Entscheidung" werden zunächst die weiteren Bahnen der Entscheidung bedacht. Dafür wird im § 3 die Frage nach der Entscheidung entfaltet, um in das Denken des anderen Anfangs einzuführen. Hierbei läßt sich zunächst die Entscheidung des Übergangs vom Denken der bisherigen Philosophie zum Denken des anderen Anfangs anhand der von Heidegger gestellten Grundfrage nach der Wahrheit des Seins gegenüber der Leitfrage des Denkens des ersten Anfangs nach der Wahrheit der Seiendheit verdeutlichen. Weitergehend wird die grundsätzliche Entscheidung hinsichtlich des Wesenswandels des Menschen befragt, den Heidegger im Wandel vom animal rationale im Sinne der Bestimmung des Menschen als denkendes Wesen zum Da-sein als andersanfängliche Möglichkeit, das Menschsein zu vollziehen, bedenkt. Darüber hinaus stellt sich die Frage nach der weitesten Entscheidung bezüglich des Bereiches des Gotthaften, die Heidegger derart als Gefahr bedenkt, daß er fragt, ob die Zeit der Götter um sein kann, wenn sich dem Menschen keine neue Geschichte mehr öffnet. VOn diesem grundSätzlichen Bedenken der Entscheidung ausgehend folgt im § 4 die Entfaltung des Wesens der Entscheidung im engeren Sinne des Wortes,
wie sie Heidegger für die wichtigste denkerische Grunderfahrung des Geschehens von Sein im anderen Anfang in der Scheidung von Zuwurf und Entwurf faßt. Dabei läßt sich eine erste Kennzeichnung des andersanfanglichen Geschehens von Sein als sichlichtende Verbergung entfalten. Da in diesem Geschehen von Sein zunächst der Entzug im Sinne der Seinsverlassenheit sich zeigt, ist hier
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A. Einleitung
für das Andersanfängliche zunächst das Ereignis als Enteignis zu entfalten. Darüber hinaus stellt sich jedoch schon hier die Frage, inwiefern Heidegger in den »Beiträgen« nicht auch schon die offene Wesung des Seins im Sinne des eifüUt Andersanfänglichen bedenkt, auch wenn die erste Erfahrung des Andersanfänglichen die Seins verlassenheit im sichlichtenden Verbergen bedeutet. Für diese grundsätzliche Frage nach der Unterscheidung zwischen übergänglich Andersanfänglichem und eigentlich oder erfüllt Andersanfänglichem, die den gesamtem Gedankengang durchzieht, wird es nun notwendig, im § 5 die verschiedenen geschichtlichen Entscheidungen zu entfalten, um außerdem die Tragweite der Wandlung des Denkens durch das Denken des anderen Anfangs gegenüber dem Denken des ersten Anfangs zu veranschaulichen. Dazu werden die Entscheidung zwischen Subjekt und Da-sein und die grundverschiedenen Wahrheitsfragen im Denken des ersten und des anderen Anfangs bedacht. Hierfür ist es notwendig, den ersten Anfang in der platonisch-aristotelischen Wahrheitsfrage zu verdeutlichen, was an hand der Vorlesung aus dem Jahre 1937/385 erfolgt, um weitergehend die neuzeitliche Frage nach der Wahrheit charakterisieren und das andersanfängliche Geschehen von Wahrheit hiervon absetzen zu können. Die Auswirkungen dieser Geschichte der Wahrheitsfrage werden zudem für das Gottesdenken im ersten Anfang umrissen und demgegenüber das andersanfängliche Fragen nach dem Gott und das Wagen des Seins aufgezeigt. Für diese geschichtlichen Entscheidungen spricht Heidegger von einer einzigen Entscheidung, die alle durchzieht und der im § 6 nachgegangen wird. Diese Entscheidung liegt darin, ob das Sein sich endgültig entzieht, oder ob die Erfahrung von Sein zum anderen Anfang einer neuen Geschichte wird. Anhand dieser Entscheidung wird der übergängliche Charakter des Denkens der »Beiträge« gezeigt und die Frage nach Übergang und anderem Anfang entfaltet. Dabei läßt sich eine grundlegende Unterscheidung zwischen verschiedenen Weisen des andersanfanglichen Denkens herausarbeiten, der für die folgenden Untersuchungen leitend wird. Als erste Weise läßt sich der Aufgang der Seinsverlassenheit aufweisen. Dabei öffnet sich allererst die sichlichtende Verbergung und die Scheidung von Zu- und Entwurf, jedoch in der Weise des Enteignisses, d. h. des Ausbleibs des offenen oder erfüllten Ereignisses. In dieser übergänglichen Weise des Ereignis als Enteignis steht es aber zur Entscheidung, ob sich das Andersfangliche als erfülltes Ereignis gibt. Dieses erfüllte Geschehen der sichlichtenden Verbergung oder die offene Wesung von Sein bzw. das eigentlich Andersanfängliche läßt sich ebenso im Denken der »Beiträge« aufweisen und nicht nur und allein das übergängliche Geschehen im Sinne des Enteignisses. Insofern kann zwischen zwei bzw. drei Weisen des übergänglich
5 Heidegger, Martin, Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte Probleme der »Logik«, Gesamtausgabe Bd. 45, Frankfurt a.M. 21992.
§ 2. Der Gedankengang der Untersuchung im Aufriß
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Andersanfänglichen geschieden werden. Dem Denken kann sich I. das Enteignis öffnen und es kann damit 2. zur Entscheidung stehen, ob ein eigentlich Andersanfängliches geschieht. Diese Weisen lassen sich mit dem Begriff des Übergänglich-Andersanfänglichen auch als eine Weise zusammenfassen. Darüber hinaus jedoch kann sich 3. das Andersanfängliche im erfüllenden Sinn des Ereignisses und der offenen Wesung von Sein und so als eigentlich Andersanfängliches zeigen. Diese eigentlich andersanfängliche Weise ist deshalb so zu betonen, weil in den »Beiträgen« zunächst meistens vom Ereignis im Sinne der Seinsverlassenheit gesprochen wird und von daher eine Auslegung nahe liegen kann, die nur die Erfahrung des sichlichtenden Verbergens als Enteignis der Seinsverlassenheit bedenkt. Deshalb wird im Rahmen dieser Arbeit von diesen Unterscheidungen ausgehend durchgängig das Übergänglich-Andersanfängliche und das erfüllte, eigentlich Andersanfängliche bedacht. Diese durchgängige Interpretationslinie wird dabei nicht als festes Gerüst genommen, sondern jeweils ausgehend von den zu bedenkenden Phänomenen wird aufweisbar sein, wie Heidegger zwischen der ersten Erfahrung der sichlichtenden Verbergung im Sinne des Enteignisses und der eigentlich andersanfänglichen offenen Wesung des Seins als erfüllt andersanfängliches Geschehen unterscheidet. Denn ein Aufweis allein des Enteignisses weist zwar schon in den Bereich des Andersanfänglichen und bereitet es vor. Jedoch brächte eine solche Auslegung das andersanfängliche Denken der »Beiträge« gerade um sein Andersanfängliches, wenn sie dieses nicht als erfülltes Ereignis der offenen Wesung des Seins' zeigen würde. Hierfür ist eine Darlegung der genaueren Bezüge der Entscheidung notwendig, was im zweiten Kapitel "Entfaltungen der Entscheidung" erfolgt. Dazu wird im § 7 die Entscheidung im Geschehen von Sein und Nichts bedacht. Der Streit von Sein und Nichts zeigt sich dabei als das Urgeschehen der sichlichtenden Verbergung und der Entscheidung. In diesem Urgeschehen lassen sich die differenzierbaren Weisen des Enteignisses und des eigentlich andersanfänglichen Ereignisses hinsichtlich der Durchstimmung des Nichts unterscheiden. Dabei zeigen sich Grade der Erzitterung als Grade des eigentlich durchstimmenden Nichts und infolgedessen kann von Graden des nun denkbaren andersanfänglichen Denkens im Sinne des eigentlich Andersanfänglichen als erfüllende Schenkung und Zuweisung gesprochen werden. Hiervon ausgehend läßt sich im § 8 das genauere Geschehen des Daseins und der Wesung der Wahrheit des Seins sowie der Wahrung in der Bergung in das Seiende bedenken. Besonders entscheidend ist dabei der Aufweis des Übermaßes und der Unerschöpflichkeit des Geschehens von Sein und Nichts als erweitertes Aufgehen der sichlichtenden Verbergung, weil diese notwendig zu denkende Unerschöpflichkeit erst die unerrneßlichen Möglichkeiten der Bergung im Denken des anderen Anfangs verdeutlicht. Erst hiennit hat der Gedankengang die Frage nach dem Menschen eingeholt, der jetzt in seiner andersanfanglichen Möglichkeit im Sinne der Inständigkeit und der Gründung des Daseins
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A. Einleitung
für die Wahrung des Seienden entfaltet werden kann. Da der Vollzug von Sein entscheidungshafter Vollzug im Geschehen von Sein und Mensch bedeutet, stellt sich davon ausgehend die Frage nach dem Möglichen von Mensch und Sein.
Diese Frage stößt auf eine grundsätzliche Schwierigkeit im Bedenken des anderen Anfangs. Es besteht beim Nachvollzug der verschiedenen Bezüge des Ereignisdenkens immer die Gefahr, dieses Denken nur als eine neue Fassung von Wahrheit und Sein zu verstehen und in diese Fassung ein Einheitsdenken hineinzulegen, wenn z.B. gedacht würde, daß alles Ereignis ist, d. h. auch das Enteignis. Zwar zeigt sich das Enteignis und das neuzeitliche Denken als Seinsverlassenheit nur aus dem Geschehen der Ereignung. Dennoch aber bedeutet das Denken des Ereignisses keine alles umgreifende Klammer, sondern geschieht nur entscheidungshaft. Um diesen Charakter des Möglichen und Entscheidungshaften deutlicher herauszuarbeiten, ist deshalb die Frage nach der Freiheit und dem Freien in diesem Geschehen zu stellen. Dafür wird an dieser Stelle des Gedankengangs ein Seitenweg eingeschlagen, der über Schelling führt, weil in seinem Denken der Freiheitsschrift6 das Freie und die Möglichkeit des Freien an die Grenzen des bisherigen Denkens geführt wird. Schelling versucht, die Freiheit mit dem System - als eine entscheidende Grundausrichtung des Denkens des ersten Anfangs - in eine Einheit zu denken. Vor dem Hintergrund der Thematisierung der Freiheit und Möglichkeit bei Schelling, die im § 9 eine ausführlichere Darlegung der Freiheitsschrift erfordert, zeigt sich deutlicher das ganz Andere des Freien und Möglichen des Seins im Andersanfanglichen. Der § 10 behandelt die Frage der Entscheidung anhand der Entfaltung der Freiheit aus dem Abgrund. Damit wird diese Thematik vorläufig abgeschlossen. Mit dem Abgrund läßt sich das Freie und das Mögliche, das Heidegger mit dem Wort "Zerklüftung" denkt, in den jeweiligen Graden des Freien und daraus der Freigelassenheit des Menschen bedenken. Die Unterscheidung zwischen Übergänglich-Andersanfänglichem und erfüllend Andersanfänglichem zeigt sich außerdem im Geschehen von Ungrund, Abgrund und Urgrund im Abgrund, mit dem erst hinreichend das erfüllt Andersanfängliche entfaltet werden kann. Das Äußerste des Freien und des Urgrundes zeigt sich hierbei in einer Steigerung in die Verweigerung und in eine sich steigernde Nähe des Unabwendbaren, das als der Tod denkbar ist. Innerhalb der Frage nach der Entscheidung läßt sich deshalb von Graden der Näherung des Todes als Grade der erfüllenden Durchstimmung von Sein und Nichts sprechen, weil der Tod sich als das tiefste Ver-
6 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, in: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Schriften von 1806-1813. Ausgewählte Werke Bd. VII, unveränd. reprograf. Nachdr. d. Ausg. 1860 u. 1861, Darmstadt 1983, S. 331-416.
§ 2. Der Gedankengang der Untersuchung im Aufriß
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bergen und somit als höchste Durchstimmungseröffnung zeigen läßt. Damit ist der Tod jedoch zunächst nur innerhalb der Frage nach der tiefsten Entscheidung entfaltet. Wie er an sich selbst zu denken ist, verlangt eine weitergehende Untersuchung. Die zum Ende des § 10 entfalteten Bezüge bleiben aber für den weiteren Verlauf bestimmend und kehren zum Ende des zweiten Abschnittes in der Frage nach dem letzten Gott gewandelt wieder. Das erste Kapitel des zweiten Abschnittes mit dem Titel "Das Denken des Todes" widmet sich dieser weitergehenden Untersuchung. Hierfür erfolgt im § 11 zunächst eine phänomenale Beschreibung verschiedener Weisen der Begegnung mit dem Tod im lebensweltlichen Umgang, um das Phänomen des Todes nicht allein innerhalb des Denkens des anderen Anfangs zu behandeln, sondern von konkreten Gegebenheiten ausgehend zu beleuchten. Dabei wird zuerst der Umgang mit dem Tod innerhalb der Medizin und Technik befragt und in seiner Ausrichtung des Denkens des Bestandes und letztlich der "Unsterblichkeit" kritisch bedacht. Demgegenüber wird das Unberechenbare des Phänomens des Todes anhand der Frage der Verantwortung für Leben oder Tod im Falle eines Komapatienten bedacht und die Fragwürdigkeit der Denk-richtung der modernen Technik und deren Vorstellung von einer möglichen Regelung dieser Frage entwickelt. Außerdem wird die Frage nach dem Geleit eines Sterbenden und dem Geschehen nach dem Tod eines anderen Menschen entfaltet, wobei sich das mögliche Heilvolle im Geschehen des Todes zeigen kann. Abschließend stellt sich die Frage nach dem Opfer des eigenen Lebens, anhand derer eine mögliche Eröffnung eines eigentlichen Umgangs mit dem Tod verdeutlicht werden kann. Mit dem § 12 kehrt der Gedankengang zu den »Beiträgen« zurück, in dem die zuvor nur angedeuteten Fragen zum Tod eigens mit dem Denken des anderen Anfangs bedacht werden. Die denkerische Frage nach dem Tod verlangt eine Entfaltung, wie Heidegger sie als Notwendigkeit im Denken des anderen Anfangs faßt, da durch sie erst das Sein in seinem Äußersten und der Daseinsvollzug in seiner Bewältigung des Abgründigsten befragbar wird. Im Denken des Todes innerhalb der »Beiträge« zeigt dieser sich gerade nicht als das Zu fliehende, sondern im "positivsten" Sinne als Eröffnung der Möglichkeit eines eigentlichen Vollzuges des Menschseins im Dasein. Im Vermögen des Menschen, um seinen Tod zu wissen, kann sich seine höchste Entschiedenheit zeigen, was Heidegger mit dem Sein zum Tode als Sein vom Tode her denkt. Der Tod wird dabei von Heidegger als höchstes Zeugnis des Seins gedacht, weil, aus der Verbergung herkommend, die tiefste Durchstimmung des Nichts und darin aber des Seins geöffnet ist. In diesem Zusammenhang läßt sich vom Tod als Wandlungsmitte sprechen, weil der Tod in seinem Hereinstehen den Vollzug des Daseins völlig verwandeln kann. Dieses Denken des Todes als ganz anderer Bezug zum Tod wird weitergehend in das Spätdenken des Todes als Schrein des Nichts und des Menschen als des Sterblichen entfaltet.
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A. Einleitung
Mit diesem ersten Bedenken des Todes im Denken des anderen Anfangs wird jedoch fragwürdig, inwiefern das Denken, wenn es den Tod als die tiefste Verbergung in den Vollzug des Daseins herein stehen lassen kann und diese Verbergung innestehend auszuhalten vermag, dabei die Grenze des Todes nicht berührt. Da ein äußerstes Hereinstehen des Todes als tiefste Durchstimmung in der nächsten Nähe des Todes gedacht werden kann, stellt sich die Frage, inwiefern hier das Denken in eine Nähe zum Denken der Todesüberwindung und zur Unsterblichkeit gelangt ist. Deshalb wird an dieser Stelle des Gedankenganges ein Rückgang zur Geschichte des Denkens von Tod und Unsterblichkeit notwendig. Dieser Rückgang erfüllt dabei einen zweifachen Sinn. Einerseits kann er das Denken des anderen Anfangs in seinem ganz Anderen zum bisherigen Denken verdeutlichen, was nicht nur die Frage nach dem Tod betrifft, sondern ebenso die Frage nach dem Gott, weil dieser im Laufe der Geschichte des Denkens der Unsterblichkeit immer mit der Unsterblichkeit zusammengedacht wird. Insofern ist dieser Rückgang ebenso wichtig für die am Ende dieser Arbeit zu stellende Frage nach dem Gott. Andererseits läßt sich vor diesem Hintergrund eine Kritik am bisherigen Denken des Todes entwickeln und somit besser verdeutlichen, inwiefern das Denken des Todes im anderen Anfang einen ganz gewandelten Bezug zum Tod zeigt. Für die Frage nach Tod und Unsterblichkeit behandeln wir zuerst das Denken der Unsterblichkeit innerhalb der platonisch-aristotelischen Frage nach dem Sein in beständiger Anwesenheit. Im § 13 wird anhand Platons »Phaidon« und »Phaidros« entwickelt, aus welcher denkerischen Notwendigkeit das Denken zu Beginn des ersten Anfangs zur Fassung der Unsterblichkeit der Seele kommt. Die von Heidegger gedachte ontotheologische Verfassung der Metaphysik zeigt sich hier in der Notwendigkeit des Denkens der Unsterblichkeit der Seele. Der § 14 entfaltet das aristotelische Denken der Unsterblichkeit und Göttlichkeit der menschlichen Seele. Bei Aristoteles zeigt sich deutlicher als bei Platon, inwiefern aufgrund des Denkvollzuges der Seele diese als unsterblich gedacht werden muß, auch wenn er die Unsterblichkeit der Seele nur kurz erwähnt. Bei ihm läßt sich eine Weise des Denkens aufzeigen, die, wie der göttliche nous, im Vollzug göttlich und unsterblich ist. Anschließend erfolgt im § 15 eine Entwicklung des Denkens des unsterblichen Ich bei Meister Eckhart. Meister Eckhart wird deshalb herangezogen, weil auch er das Nichts und den Tod eigens als Eröffnung bedenkt, jedoch zugleich innerhalb der Grenzen des metaphysischen Denkens verbleibt. Es läßt sich bei Meister Eckhart von einer Todesdurchbrechung zum unsterblichen Ich sprechen, das sich als Ich zugleich im Einssein mit Gott weiß. Hierzu wird das christliche Denken Meister Eckharts herangezogen, weil so erst die Fassung des Ich und die hier gedachte Auferstehung im Gegensatz zum griechischen Denken deutlich wird. Als letzter Schritt in der Geschichte des Denkens der Unsterblichkeit wird im § 16 das Denken Kants sowohl in der »Kritik der reinen Vernunft« als auch in der »Kritik der praktischen Vernunft«
§ 2. Der Gedankengang der Untersuchung im Aufriß
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dargestellt, um zu zeigen, daß Kant zwar für die reine theoretische Vernunft eine Erkenntnis der Unsterblichkeit abwehrt und das griechische Denken diesbezüglich als Scheinschluß nachweisen kann, zugleich aber für die praktische Vernunft die Idee der Unsterblichkeit und ebenso die Idee des Gottes als notwendige Postulate der praktischen Vernunft entfaltet. Kant hält insofern an der Idee der Unsterblichkeit fest und zeigt ihre denkerische Notwendigkeit für ein Denken der Allgemeinheit des Willens. Im § 17 werden diese vier Stationen kritisch hinterfragt und gezeigt, inwiefern die Blickbahn von Sein in beständiger Anwesenheit und die ontotheologische Verfassung der Metaphysik verhindert, den Tod als Phänomen hinreichend zu bedenken. Vor diesem Hintergrund verdeutlicht sich, was für ein Umbruch schon im Denken von »Sein und Zeit« bezüglich des Denkens des Todes geschieht, dem anschließend nachgegangen wird, weil dort ausführlicher als in den »Beiträgen« der Tod und das Sein zum Tode thematisiert wird. Die fünf Bestimmungen des Seins zum Tode, d. h. die Bestimmung des Eigensten, der Unbezüglichkeit, Gewißheit, Unbestimmbarkeit und Unüberholbarkeit, werden als Eröffnung der eigentlichen Vollzugsmöglichkeit des Menschseins entfaltet. Weil diese Bestimmungen jedoch noch innerhalb von Transzendenz und Horizont gedacht werden, wird für die »Beiträge« eigens ein gewandeltes Denken dieser fünf Bestimmungen und der Endlichkeit aufgewiesen, da Heidegger eine solche gewandelte Entfaltung nicht in den »Beiträgen« gibt. Damit läßt sich nun vertieft zeigen, inwiefern das Denken Heideggers in den »Beiträgen« das Hereinstehen des Todes als Möglichkeit der völligen Gabe des Todes und des Erreichens des Todes denkt, ohne dabei zu einen Denken der Todesüberwindung zu einem Unsterblichen zu kommen, wobei dennoch weiterhin fraglich bleibt, wie der Tod sich im Denken öffnen kann. Was als das Äußerste des Todes in seinem völligen Hereinstehen als Gabe des völligen Todes und Erreichen des Todes mit Heidegger zu denken ist, fassen wir im § 18 mit dem im Rahmen dieser Arbeit neu gebildeten Wort der Todesdurchschrittenheit, wobei das "durch" das völlige Hereinstehen meint und nicht ein "durch" zu etwas über den Tod Hinausgehenden bedeutet, sondern damit gerade das Inständige im Tod gefaßt ist. Dabei wird vorläufig abschließend gezeigt, wie Heidegger das Äußerste des Todes als völlige Gabe und so als tiefste Durchstimmung denkt, in der der Tod aber zugleich das ganz Verborgene bleibt. Außerdem wird hinsichtlich des Todes ein Gedankengang entwickelt, der nicht mehr als Heideggerauslegung, sondern als ein eigenständiges Nachgehen der Frage nach dem Tod zu verstehen ist. In diesem Nachgehen wird eine andere Gegebenheit des völligen Todes in seinem Hereinstehen und im faktischen Tod bedacht. Im zweiten Kapitel des zweiten Abschnittes mit dem Titel "Die Zeit des Todes: Der letzte Gott und die Liebe" entwickelt der § 19 den Zeit-Raum als den
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A. Einleitung
eigentlichen Bereich des Denkens der »Beiträge« anhand des zentralen 242. Abschnittes. Was Heidegger mit dem Zeit-Raum denkt, ist zunächst von dem gewöhnlichen Denken von Zeit und Raum zu unterscheiden, um den Zeit-Raum im Sinne der Entrückung in die ursprüngliche Zeit und der Berückung des ursprünglichen Raumes zu entwickeln. Im Zeit-Raum bedenkt Heidegger das Geschehen des andersanfänglichen Denkens in seinem eigentlichen Bereich als Augenblicksstätte des Ereignisses. Nur in dieser Augenblicksstätte ist das Geschehen des Todes als tiefste Entscheidung zu entfalten. Mit der Augenblicksstätte wird außerdem das von Heidegger in den »Beiträgen« nur angedeutete Geschehen der gewandelt zu denkenden "Ewigkeit" denkbar. Der 242. Abschnitt entfaltet im Geschehen der Augenblicksstätte als Abgrundgeschehen zudem den Wink, mit dem das Urspünglichste des Ereignisses zu denken versucht wird. Dieser Wink steht in einem besonderen Bezug zum Tod, wie aus dem Zusammenhang mit dem Netz sich entfalten läßt, das an anderer Stelle im Zusammenhang mit dem Endenlassen des Zeit-Raumes von Heidegger bedacht wird. Aus diesem Bezug läßt sich das tiefste Geschehen des Winkes als Wink in den Tod bedenken, mit dem das Äußerste des Geschehens des Zeit-Raumes entfaltet werden kann. Die Bezüge des Todes und des Zeit-Raumes stehen in einem besonderen Verhältnis zum Denken des Gottes in den »Beiträgen«, dem im § 20 nachgegangen wird. Hierfür wird zunächst nun ausführlicher bedacht, warum das Denken des anderen Anfangs überhaupt zur Frage nach dem Gott kommt. Ausgehend von Nietzsche und seinem Ruf "Gott ist tot" erfolgt zuerst ein Rückblick auf die Geschichte des Gottesdenkens im ersten Anfang. Darüber hinaus ist Hölderlins Dichtung für Heideggers Denken des Gottes im anderen Anfang von weitreichender Bedeutung. Nur von Nietzsche und Hölderlin aus ist überhaupt ein Zugang zum andersanfänglichen Denken des Gottes zu finden. Dieses Denken wird, von der ersten Erfahrung des Ausbleibs und des Fehls ausgehend, zur Flucht und Ankunft als weiterreichendes einiges Geschehen des Gotthaften entwickelt. Dieser Gedanke läßt sich besonders in bezug zu Hölderlin entfalten, weil Heidegger in der Hölderlinvorlesung aus dem Jahre 1934/357 das Geschehen von Flucht und Ankunft anhand der Germanienhymne Hölderlins aufweist und dabei deutlicher als in den »Beiträgen« das zeithafte Geschehen von Aucht und Ankunft in der eigentlichen Zeitlichkeit bedenkt. Hiervon ausgehend können Flucht und Ankunft in der ursprünglichen Zeit des ZeitRaumes aufgewiesen werden. Mit diesem Geschehen bedenkt Heidegger jedoch zunächst nur die Götter als ein Nicht-mehr und Noch-nicht, d. h. den Entscheidungsbereich für den letzten Gott und noch nicht den letzten Gott selbst.
7 Heidegger, Martin, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, Gesamtausgabe Bd. 39, Frankfurt a.M. 2 1989.
§ 2. Der Gedankengang der Untersuchung im Aufriß
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Das eigentliche Geschehen des Vorbeigangs des letzten Gottes wird hiervon als deutlich unterscheidbar aufgewiesen. Für das Denken des letzten Gottes kann bei einer Zusammenschau der wichtigsten Stellen von einer erfüllenden Götterung dieses letzten Gottes gesprochen werden, die dann sich ereignet, wenn der Tod geschieht, wie sich an hand der Steigerung in die Verweigerung und der nächsten Nähe des letzten Gottes aufweisen läßt. Insofern läßt sich das Letzte des letzten Gottes als das Geschehen des Todes im Zeit-Raum bedenken. Dieser Sachverhalt wird außerdem anhand des Zerreißens des Netzes des ZeitRaumes verdeutlicht. Die Todesdurchschrittenheit und der Vorbeigang des letzten Gottes werden somit als die eigentliche Entgegnung des Gottes und des Menschen bedacht. Diese Entgegnung hat jedoch ihr Maß im Sein als das Zwischen des Gottes und des Menschen. Das Gesetz des letzten Gottes aber läßt sich als das Gesetz des Todes entfalten. Im abschließenden § 21 wird andeutend das erweiterte Geschehen der unermeßlichen Möglichkeiten der Geschichte des anderen Anfangs als Geschichte einer neuen Durchgötterung des Seienden im Streit von Welt und Erde bedacht. Die Liebe und im besonderen Sinne die Liebe zur Erde kann hierbei als ausgezeichneter Bereich der Bergung entfaltet werden. Abschließend läßt sich in bezug auf die Liebe die Frage erörtern, ob das Denken des Gottes im anderen Anfang nicht eine Nähe zu einem christlichen Gottesdenken bedeutet. Zwar muß für Heidegger selbst dabei diese Nähe eindeutig abgewiesen werden, mit Hölderlin jedoch als Dichter des anderen Anfangs stellt sich diese Frage anders dar. Heidegger selbst spricht nicht über Hölderlins "Sohn des Höchsten". Mit dem Ausblick, wie mit Hölderlin als Dichter des anderen Anfangs und dem Denken des anderen Anfangs der "Sohn des Höchsten" aber denkbar ist, endet diese Untersuchung in der Andeutung einer Auslegung der Patmoshymne Hölderlins.
B. HAUPTTEIL
Erster Abschnitt: Das Denken der Entscheidung
I. Grundzüge des Denkens der Entscheidung § 3. Die Frage nach der Entscheidung
a) Die Entscheidung und die Frage nach der Wahrheit des Seins In den »Beiträgen« fragt Heidegger in zwei verschiedenen Hinsichten nach der Entscheidung. Die Entscheidung wird einerseits in ihrem Wesen und andererseits in einer Vielfalt von zur Entscheidung Stehendem ausgelegt. Die Frage nach der Entscheidung und dem In-Entscheidung-Stehenden dient zur Eröffnung und Bahnung des Weges, den das Denken in den ))Beiträgen« als ein erster Versuch, vom Ereignis zu sagen, geht. Wie kann nach der Entscheidung gefragt werden? Im alltäglichen Denken meint Entscheidung eine Wahl zwischen Möglichkeiten. Ich entscheide mich für etwas gegen etwas anderes. Diese Entscheidung hängt von Gründen ab, die ich für diese oder jene Möglichkeit der Entscheidung heranziehe. Die Richtigkeit dieser Entscheidung bemißt sich am Erfolg der zu entscheidenden Situation. Ich ziehe für den Erfolg einer Entscheidung möglichst viel Wissen und Berechnung heran, um eine richtige Entscheidung treffen zu können. Je umfangreicher die Berechnung und das Wissen sind, desto wahrscheinlicher wird der Erfolg der Entscheidung. Aber wird auf einem solchen Weg noch etwas in die Entscheidung gestellt? Einerseits ja, weil eine Situation in entscheidbaren verschiedenen Möglichkeiten bedacht wird. Andererseits aber nicht, denn mit der Auslegung nach meinen Wahlmöglichkeiten und ihrer Berechnung habe ich den Ort der Entscheidung schon verlassen, obwohl ich doch gerade glaube, mich in einer Entscheidung zu befinden. Die Wahlmöglichkeiten sind deshalb nicht der Ort der Entscheidung, weil bei ihnen schon entschieden ist, diese oder jene Wahlmöglichkeit in die Wahl zu nehmen.
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B. I. I. Grundzüge des Denkens der Entscheidung
Was ist dementgegen der Ort der Entscheidung? Der Ort der Entscheidung ist die Frage. Die Frage als Fragehaltung ist der Ort, an dem überhaupt etwas zur Entscheidung steht. Damit etwas zur Entscheidung stehen kann, muß es in Frage stehen. Es muß fragwürdig werden, d. h. es muß aus dem "Schon verstanden haben" und "Schon nach Möglichkeiten zur Lösung ausgelegt haben" hinausgerückt sein in ein Offenes einer Frage. Damit ihm die Würde der Frage zukommen kann, muß es in diese hereinrücken. Dafür muß es befremden, d. h. dem selbstverständlichen Verstehen und Entscheiden nach vorausberechneten Wahlmöglichkeiten fremd werden. Der Frageraum muß als solcher geöffnet sein, damit etwas fragwürdig wird und so zur Entscheidung steht. Die Frage nach der Entscheidung ist somit als Frage zuerst ein Eröffnen eines Fragwürdigen, und zugleich zeigt sich damit die Entscheidung selbst nur als Entscheidung im eigentlichen Sinne, wenn sie als das Verborgene aufgeht und nicht durch die selbstverständliche Abwägung der Wahlmöglichkeiten verdeckt wird. Die Frage als Offenhalten des Verborgenen ist somit die zu leistende denkerische Haltung, damit überhaupt etwas zur Entscheidung steht und die Entscheidung sich öffnet. Diese Fragehaltung ist die Grundstimmung des Denkens der »Beiträge«, die Heidegger auch die Verhaltenheit nennt. 8 Dennoch fragt Heidegger in den »Beiträgen« nicht nur nach der Entscheidung, sondern formuliert direkt zu Anfang des 1. Abschnitts eine schon entschiedene Entscheidung: "Die »Beiträge« fragen in einer Bahn, die durch den Übergang zum anderen Anfang, in den jetzt das abendländische Denken einrückt, erst gebahnt wird. Diese Bahn bringt den Übergang ins Offene der Geschichte und begründet ihn als einen vielleicht sehr langen Aufenthalt, in dessen Vollzug der andere Anfang des Denkens immer nur das Geahnte aber doch schon Entschiedene bleibt." (GA 65, S. 4)9
8 Vgl. zur Grundstimmung in den »Beiträgen« bes. S. 14-17 sowie den 6. Abschnitt "Die Grundstimmung" (GA 65, S. 20-23) und den 13. Abschnitt "Die Verhaltenheit" (ebd., S. 33-36). Die Grundstimmung meint kein subjektives Gefühl des Denkens, sondern ist Grundstimmung der zu denkenden Sache, die das Denken stimmt und dieses so nach ihr gestimmt sein läßt (vgl. auch »Sein und Zeit« zum Phänomen der alltäglichen Befindlichkeit und dem Gestimmtsein: SuZ, S. 134-140). Das mit dem Eröffnen eines Verborgenen hier Dargelegte ist nur als eine Anzeige der Grundstimmung, die Heidegger in den »Beiträgen« hinsichtlich Erschrecken, Scheu, Verhaltenheit und Ahnung ausfaltet, zu nehmen. Unter anderem ist es z.B. mit dem zum Erschrecken Gedachten zu vergleichen: "Das Erschrecken ist das Zurückfahren aus der Geläufigkeit des Verhaltens im Vertrauten zurück in die Offenheit des Andrangs des Sich verbergenden, in welcher Offenheit das bislang Geläufige als das Befremdliche und die Fesselung zugleich sich erweist." (GA 65, S. 15) 9 Der Begriff "das Geahnte" nennt die Weise des Denkens im anderen Anfang. Mit dieser Formulierung ist deshalb nicht der andere Anfang des Denkens in eine nur geahnte Ferne gerückt. Das "nur" im Zitat ist auf das Ahnen zu lesen im Sinne von "nur das Geahnte", d. h. das Denken als Ahnen allein ist das Denken im Vollzug des Aufenthalts.
§ 3. Die Frage nach der Entscheidung
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Der andere Anfang ist demnach schon entschieden. Was aber heißt hier das Entschiedene? Das Entschiedene ist Entschiedenes dadurch, daß der Übergang ins Offene der Geschichte rückt und als Aufenthalt begründet ist. Der Übergang ist dadurch ins Offene der Geschichte gerückt, daß seine Bahn gebahnt wird. 10 Was ist das für eine Fragebahn? Es ist die Frage als erneutes In-dieEntscheidung-Stellen der Wahrheit und des Seins. Nach Wahrheit und Sein wird erneut gefragt als Frage nach der Wahrheit des Seins. Inwiefern ist aber ein solches Fragen eine Bahn eines Übergangs zu einem anderen Anfang? Wie kann eine solche Frage von sich in Anspruch nehmen, sie allererst begründe einen Übergang und sei so noch nicht gestellt worden und bedeute deshalb einen Anfang eines bisher gänzlich unbekannten Denkens? Sie kann dies zunächst nur, wenn sie fragt, wie bisher nach der Wahrheit und dem Sein gefragt wurde, um das ganz Andere des Denkens des anderen Anfangs zeigen zu können. Auf diesem Weg gelangt das Denken Heideggers zu der Einsicht, daß bisher nach der Wahrheit des Seins nur gefragt wurde als Wahrheit der Seiendheit des Seienden und nach der Wahrheit nur als Richtigkeit des Denkens über diese Seiendheit. Die Leitfrage, anhand derer bisher gefragt wurde, lautet: Was ist das 10 Aus dem Denken des Übergangs zum anderen Anfang ergibt sich die Architektonik der »Beiträge« in ihrer Großeinteilung in einzelne "Fügungen". Die heutige geschichtliche Situation wird von Heidegger nach dem "Vorblick" in der ersten Fügung "Der Anklang" bedacht, um anschließend den Blick auf die bisherige Philosophie und besonders die Griechen in der zweiten Fügung "Das Zuspiel" zu lenken. In der dritten Fügung "Der Sprung" wird explizit der Übergang zum Denken des anderen Anfangs entfaltet, dessen genauere Zusammenhänge die vierte Fügung "Die Gründung" behandelt. Die fünfte Fügung "Die Zukünftigen" entfaltet kurz die gewandelte Weise des Menschseins als Möglichkeit im anderen Anfang und abschließend bedenkt Heidegger mit der sechsten Fügung "Der letzte Gott" das Gotthafte im anderen Anfang. Der letzte Abschnitt "Das Seyn" versucht die zuvor entfalteten Bezüge nochmals zusammenhängend zu denken. Vgl. für den Aufbau und den inneren Zusammenhang der Fügungen: Herrmann, Friedrich-Wilhelm V., Wege ins Ereignis, ebd., S. 16-26; 32-39 u. 55-63; Patt, Walter, Besprechung der »Beiträge«, in: Philosophisches Jahrbuch 98, 1991, S. 403-409; Emad, Parvis, The Echo of being in »Beiträge zur Philosophie« - Der Anklang: Directives for its interpretation, in: Heidegger Studies 7, 1991, S. 15-35, Maly, Kenneth, Soundings of "Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)", in: Research in Phenomenology 21, 1991, S. 169182, und: Greisch, Jean, Le "Contributions a la Philosophie (a la partir de l' Ereignis)" de Martin Heidegger, in: Revues Sciences philosophiques et theologiques 73, 1989, S. 605632. Besonders ausführlich entfaltet Daniela Neu in: Die Notwendigkeit der Gründung im Zeitalter der Dekonstruktion. Zur Gründung in Heideggers »Beiträgen zur Philosophie« unter Hinzuziehung der Derridaschen Dekonstruktion, Berlin 1997, die ersten vier Fügungen in Hinblick auf die Frage nach der Gründung des anderen Anfangs (Vgl. S. 132-214 und für den Gesamtzusammenhang zu "Das Seyn" S. 214-224). Zur Bedeutung der »Beiträge« für den Denkweg Heideggers vgl. auch: Gander, Hans-Helmuth, Wege der Seinsfrage. Aus Anlaß der 100. Wiederkehr des Geburtstages Martin Heideg~rs. Veröffentlichte Texte aus dem Nachlaß, in: Heidegger Studies 6,1990, S. 117-129, und zur Frage nach dem Methodischen des Ereignisdenkens: Herrmann, FriedrichWilhelm V., Weg und Methode. Zur hermeneutischen Phänomenologie des seinsgeschichtlichen Denkens, Frankfurt a.M. 1990.
3 MUller
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B. I. I. Grundzüge des Denkens der Entscheidung
Seiende in seiner Seiendheit, und wie stimmt das Denken mit dieser Seiendheit überein? oder anders gewendet: Wie ist das Denken verfaßt oder muß es verfaßt sein, damit es Wahrheit als Seiendheit einer Sache sagen kann? Nach dem "Was" des Seins als Seiendheit wird gefragt, sowie nach dem "Wie" des Denkens, um wahr über die Seiendheit auszusagen. Wie fragt nun aber eine Frage ursprünglicher als diese Frage, die Heidegger als Leitfrage der bisherigen Philosophie als Metaphysik kennzeichnet? Vorläufig können wir die ursprünglichere Frage folgendermaßen anzeigen: Die Frage nach dem Wie der Wahrheit und nach der Wahrheit des Seins, d. h. nach der Weise, wie Sein gegeben ist oder, wie es Heidegger auch faßt, nach der Wesung der Wahrheit des Seins eröffnet die Bahn des Denkens des anderen Anfangs. Mit dieser Frage wird das Wesen der Wahrheit und das Wesen des Seins erneut in die Entscheidung gestellt. Und dieses In-die-Entscheidung-Stellen der Wahrheit und des Seins läßt in den Übergang zum anderen Anfang einrücken. Hiermit ist deshalb der andere Anfang schon entschieden, weil das bisherige Fragen als Fragen des ersten Anfangs in die Frage gerückt ist, d. h. seine Leitfrage nach Sein und Wahrheit befragt wird. Der erste Anfang der Philosophie ist nach Heidegger das bisherige Denken von den Vorsokratikern bis Nietzsche. Dadurch, daß das Fragen des ersten Anfangs in die Frage rückt, wird dieser Anfang verlassen und erscheint als erster Anfang. Dadurch ist zugleich der andere Anfang als ein anderer Anfang entschieden. Die Leitfrage des ersten Anfangs nach Sein und Wahrheit wird als solche erkannt und verlassen, indem nun in Absetzung zur Leitfrage die Grundfrage als Frage nach der Wahrheit des Seins als solchen von Heidegger gefaßt wird.
b) Die Entscheidung des Wesens wandels des Menschen Mit dem In-Frage-Stellen der Wahrheit des Seins wird zugleich das Wesen des Menschen in Frage gestellt. Denn die Weise, wie der Mensch Sein und Wahrheit auslegt, bedeutet zugleich, wie er sein eigenes Sein auslegt. Das Wesen des Menschen steht in den »Beiträgen« in der Frage nach der Entscheidung in der seihen Entscheidung wie das Wesen des Seins und der Wahrheit. Wenn ich mich für etwas entscheide, so sage ich, daß ich mich entscheide. Um aber so sprechen zu können, muß ich in einer Entscheidung stehen, die mich entscheidet. Was geschieht, für das alltägliche Entscheiden unbemerkt, hier? Wenn ich mich entscheide, werde ich zu einem "mich". Ich muß in einer Entscheidung gestanden haben, damit ich zu einem "mich", für das ich mich entscheide, komme bzw. werde. Die Sprache verweist im "Mich-entscheiden" auf ein Offenes und so zur Entscheidung Stehendes. Ich stehe zur Entscheidung. Der Mensch steht zur Entscheidung, indem er sich in die Entscheidung stellt.
§ 3. Die Frage nach der Entscheidung
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Ausdrücklich vollzogen liegt hierin eine Entschiedenheit zu einem Sich-in-dieEntscheidung-Stellen. Was ist dies für eine Entschiedenheit? Es ist die Entschiedenheit zur Frage, das Wagnis als "Einstieg in das Ungeschützte" (GA 65, S. 298). Das Sich-in-die-Frage-Stellen ist die Voraussetzung für eine Erfahrung der Entscheidung. In der Frage "Wer bin ich?" oder "Wer sind wir?" liegt die Eröffnung des Zur-Entscheidung-Stellens und der Entscheidung, wenn wir nicht daran festhalten, schon zu wissen, was oder wer wir sind. 11 Wenn der Mensch in den »Beiträgen« zur Entscheidung steht, so steht ein Wesens wandel des Menschen zur Entscheidung. Direkt zu Beginn der »Beiträge« heißt es hierzu: "Nicht mehr handelt es sich darum, »über« etwas zu handeln und ein Gegenständliches darzustellen, sondern dem Er-eignis übereignet zu werden, was einem Wesenswandel des Menschen aus dem »vernünftigen Tier« (animal rationale) in das Da-sein gleichkommt." (ebd., S. 3) Es "handelt" sich demzufolge für das Denken "nur" noch darum, dem Er-eignis übereignet zu werden. Im 2. Abschnitt der »Beiträge« sagt Heidegger: "Niemand versteht, was »ich« hier denke: aus der Wahrheit des Seyns (und d. h. aus der Wesung der Wahrheit) das Da-sein entspringen lassen, um darin das Seiende im Ganzen und als solches, inmitten seiner aber den Menschen zu gründen. [... ] Und der, der es einstmals begreifen wird, braucht »meinen« Versuch nicht; denn er muß selbst den Weg dahin sich gebahnt haben. So muß einer das Versuchte denken können, daß er meint, es komme von weit her auf ihn zu und sei doch sein Eigenstes, dem er übereignet ist als einer, der gebraucht wird und deshalb nicht Lust und Gelegenheit hat, »sich« zu meinen." (ebd., S. 8) Für den Wesenswandel des Menschen und das Denken des Andersanfanglichen nennt diese Passage das Tor, das sich öffnen muß, um überhaupt etwas vom Denken der »Beiträge« nachvollziehen zu können. Denn diese Stelle verweist einzig auf die eigene denkerische Erfahrung, die allein ausschlaggebend ist, ob wir das Denken der »Beiträge« nur der Struktur nach verstehen können, oder ob sich uns eine Erfahrung des anderanfanglichen Denkens öffnet. Diesen Weg muß sich jeder selbst bahnen, weshalb Heideggers Versuch nur ein Anstoß für die eigene denkerische Erfahrung sein kann, und er deshalb davon spricht, daß derjenige, der dieses Denken begreift, "seinen" Versuch nicht unbedingt braucht. Dem steht gegenüber, daß niemand versteht, was hier gedacht ist, weil das Verstehen schon den Raum des In-die-Entscheidung-Stellens als Erfahren eines Verborgenen verstellt hat. Das Verstehen als ein Auslegen von etwas auf etwas schon Gekanntes und mit diesem schon Gekannten irgendwie Übereinstimmenden oder Korrespondierenden verstellt das hier Gedachte, weil es nichts in die
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Vgl. GA 65,19. Abschnitt: "Philosophie (Zur Frage: wer sind wir?)", S. 48-54.
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Entscheidung stellt. Es weiß schon vorweg, anstelle eines Aushaltens des Unverständlichen. Das Denken, das hier gefaßt ist, ist kein Verstehen mehr, als nur eine bestimmte Ausprägung des Denkens, und kann deshalb nicht verstanden werden. Wann ist aber demgegenüber ein solcher Weg gebahnt, den jeder, der das in den »Beiträgen« Gedachte erfahren will, sich selbst bahnen muß? Nur dann, wenn er das Versuchte denken kann, "daß er meint, es komme von weit her auf ihn zu und sei doch sein Eigenstes, dem er übereignet ist" (ebd.). Nach dem bisher Dargelegten heißt das, sich dem Er-eignis übereignet zu wissen. Diese Weise des Wissens zeigt Heidegger mit dem "Einstmals" an, in der sich derjenige, der sich übereignet weiß, aufhält bzw. die er denkerisch erfahrt}2 Den Weg zu einem solchen Wissen kann sich nur jeder selbst bahnen, und nur jeder selbst kann anhand seiner denkerischen Erfahrung wissen, wo er sich auf diesem Weg befindet. Denn wenn es sich einzig darum handelt, dem Er-eignis übereignet zu werden, dieses sich aber so vollzieht, daß derjenige, der dieses begreift, seinen Weg sich selbst dahin gebahnt haben muß, so weiß auch nur er allein darum. Dennoch ist ein solcher Weg kein Weg einer nur subjektiven, persönlichen Erfahrung, da Heidegger einerseits seinen eigenen Versuch mit dem in Anführungszeichen gesetzten "meinen" von ihm persönlich weghält und außerdem ausführt, daß derjenige, der sich seinen eigenen Weg gebahnt hat, "nicht Lust und Gelegenheit hat, »sich« zu meinen" (GA 65, S. 8). Das Übereignetsein dem Ereignis ist der "Wesenswandel des Menschen aus dem »vernünftigen Tier« (animal rationale) in das Da-sein" (ebd., S. 3). Dieser Wesenswandel des Menschen benennt das Entscheidungshafte hinsichtlich des Menschen. Das Da-sein als zur Entscheidung stehendes Wesen des Menschen ist die Erfahrung des Seins als Er-eignis, so daß der Mensch sich als Da-sein übereignet dem Er-eignis erfahrt, womit wir zunächst nur angezeigt haben, wie Heidegger diesen Wesenswandel des Menschen denkt.
12 Das Wort "einstmals" trägt in sich einen eigentümlichen zeitlichen Sinn. Zunächst kann es als Zukunft verstanden werden, weil es "einstmals ... wird" im Zitat heißt. Aber in dem "einst-" liegt zugleich eine Gewesenheit. Insofern liegt in ihm eine eigene Weise der Gegenwart, die einen äußersten Bogen von Zukunft und Gewesenheit umspannt. Wie diese Gegenwart als eigentliche Gegenwart genauer auszulegen ist, kann erst bei einer Klärung des Zeit-Spiel-Raumes erfolgen. In dem Manuskript "Das Wesen des Menschen" (unveröffentlichtes Manuskript, Jahresgabe 1993 der Martin-HeideggerGesellschaft) denkt Heidegger z.B. diesen zeithaften Sinn des "einst": "Jetzt bestimmt sich das Gedächtnis zu dem Gedenken, das andenkend an das Einstige dem Einzigen dankt. Das Gedächtnis denkt dem einst Kommenden vor. Das Gedächtnis denkt dem einst Gewesenen nach. Vordenkend und nachdenkend dem Einstigen überdenkt das Gedächtnis beides in das Eine und Selbe, woraus und worein Alles schon angekommen ist." (ebd., S. 14)
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Was steht mit dem Da-sein zur Entscheidung, wenn von Heidegger diese Entscheidung als allein entscheidende Entscheidung gefaßt wird, die den Übergang in den anderen Anfang entscheidet? "Diese Notwendigkeit [zur Gründung des Da-seins] vollzieht sich in der ständigen, alles geschichtliche Menschsein durchherrschenden Entscheidung: ob der Mensch künftig ein Zugehöriger ist zur Wahrheit des Seins und so aus dieser Zugehörigkeit und für sie die Wahrheit als Wahres in das Seiende birgt, oder ob der Beginn des letzten Menschen diesen in die verstellte Tierheit wegtreibt und dem geschichtlichen Menschen den letzten Gott versagt." (ebd., S. 28)
Der Mensch steht demnach in der Entscheidung, ob er in die verstellte Tierheit wegtreibt. Das Verstellte ist die Zugehörigkeit zur Wahrheit des Seins. Damit ist dem Menschen Wahrheit und Geschichte verstellt. Wie geschieht eine solche Verstellung, und woraus entspringt sie? Sie entstammt einer Auslegung des Menschen, die ihm die Möglichkeit nimmt, sich noch anders auszulegen als eine Tierheit. Dadurch, daß der Mensch vom Beginn des ersten Anfangs der Philosophie sich nach Seinsbestimmungen ausgelegt hat, die sein Wesen nach einem Allgemeinen als Art bzw. Gattung bestimmen, ist er in eine Nähe zur Tierheit gefaßt, die sich nur durch die artspezifischen Auszeichnungen wie die Sprache oder die ratio von der Tierheit absetzen läßt. Diese Auslegung des Seins des Menschen hat sich anhand der Auslegung des Seins des Seienden gebildet. Dieses wurde als allgemeines Sein eines Seienden gefaßt, als dessen Seiendheit. Wie nun der Mensch Sein auslegt, so legt er auch sein eigenes Sein aus. Hat der Mensch bisher das Sein als das Allgemeine eines Seienden verstanden, so verstand er rückwirkend auf sich selbst auch sein eigenes Sein als das allgemeine Sein der Gattung Mensch, dem zu der Gattung Lebewesen noch die artspezifischen Eigenschaften wie Sprache oder Denkvermögen oder Individualität zukommen können. Alle Ansätze, den Menschen neu zu bestimmen, bleiben ungenügend, solange sie nicht, wie Heidegger es in »Sein und Zeit« vollzieht, nach der eigensten Seinsweise des Menschen fragen und diese ihm gemäß zu bestimmen versuchen, bevor neue Erkenntnisse über den Menschen ihn scheinbar neu erklären. 13 Ein solches Fragen ist aber erst dann möglich, wenn erneut nach dem Sein gefragt wird. Sonst bleiben alle neuen Entdeckungen über den Menschen, die ihn neu begreifen wollen, unzureichend, weil die Seinsweise als allgemeine Gattung mit artspezifischen Merkmalen nicht hinterfragt, sondern übernommen wird.
13 Vgl. hierzu in »Sein und Zeit« besonders § 10, S. 45-50, in dem Heidegger in der Abgrenzung der Daseinsanalytik gegenüber der Anthropologie, Psychologie und Biologie aufweist, wie diese, weil sie aufgrund des fehlenden Leitfadens der Frage nach dem Sein nicht eigens nach der Seinsweise des Menschen fragen, die ontologischen Bestimmungen des Menschen völlig unbestimmt lassen und somit im Rahmen der traditionellen Bestimmungen bleiben.
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Auch wenn der Mensch heute von der Psychologie in seinen psychischen Phänomenen neu erschlossen wird, oder wenn die Genforschung ihn hinsichtlich seiner Genanlagen neu entdeckt, oder die Soziologie die Einflüsse der Gesellschaft auf den Menschen neu bestimmt, so bleibt doch immer ungefragt, wie denn dem Menschen in seinem Seinsverständnis Psyche, Gene, Gesellschaft oder Arbeitsverhältnisse gegeben sind. Das "Wie" des Menschen bleibt hinsichtlich seiner eigensten Seinsweise, wie er Sein versteht, unbefragt, auch wenn sich das "Was", das ihn ausmacht, in den verschiedensten Wissenschaften ins Unermeßliche der Antworten ausdehnt. Ob es Genkombinationen oder Produktionsverhältnisse, ob es Sozialisation oder Gehirnstrukturen sind, die das Wesen des Menschen in der Auslegung der verschiedenen Wissenschaften ausmachen, ist gleichgültig hinsichtlich der Frage, daß hier jedesmal der Mensch vorab in seinem Wesen als vorhandenes Lebewesen schon angenommen wird, auch wenn das "Was" dieses Lebewesens völlig verschieden interpretiert wird. So gedacht, wird von einer Weltanschauung ausgegangen, und deshalb bleibt jede Frage nach dem Wesen als Wesen verschlossen. Es ist ebenso gleichgültig, ob der Mensch in seinem Wesen ein von Gott geschöpftes Wesen oder eine rein leiblich funktionierende Maschine ist, solange die Frage nach dem Wesen des Menschen nicht nach der eigensten Seinsweise des Menschen fragen kann, weil sie diese schon selbstverständlich als vorhandenes Lebewesen genommen hat. Die Frage, die so ungefragt bleibt, ist die Frage, ob die Seinsbestimmungen des Menschen nach Vorhandenheit und Eigenschaften dem Menschen primär zukommen. Eine solche Frage kann aber nur die Philosophie als Fragen nach dem Sein stellen, weil sie keine positive Wissenschaft ist, d. h. kein positum, kein Schon-Gesetztes einer Weltanschauung hat und deshalb nach Wesen und Sein, wie sie an sich selbst verfaßt sind und verstanden werden, fragen kann. Damit nach dem Wesen des Menschen gefragt werden kann, muß seine bisherige Auslegung von Sein in Frage rücken, ob diese Auslegung den Menschen in seinem Wesen überhaupt trifft. Dafür aber muß das Denken seine Voraussetzungen in Gestalt seiner Seinsbestimmungen durch die erneute Frage nach dem Sein bedenken. Dennoch ist hiermit nicht ausreichend ausgelegt, warum die Seinsbestimmung des Menschen als vorhandene Gattung ihn bedroht, in die verstellte Tierheit wegzutreiben, wenn es doch Eigenschaften des Menschen gibt, die ihn vom Tier unterscheiden. Die Bestimmungen als denkendes Lebewesen und als vernünftiges Lebewesen tragen doch die menschliche Besonderheit. Außerdem geschehen doch Versuche, eine neue Ethik besonders bezüglich der Technik zu finden oder menschliche Werte wie das Recht auf Freiheit des Einzelnen, die einem allgemeinen Konsens entsprechen, festzusetzen, ganz abgesehen von der Möglichkeit der Anleihe bei den bisherigen religiösen sowie philosophischen Systemen. Heidegger kommentiert solche Möglichkeiten folgendermaßen: "Daneben [neben der Erstreitung des Ereignisses] wird das Massenhafte alle Ränke seines Tobens loslassen und alles Unsichere und Halbe, alles nur mit dem Bisherigen
§ 3. Die Frage nach der Entscheidung
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Sich vertröstende abschwemmen. Wird dann die Zeit der Götter um sein und der Rückfall in das bloße Leben weltarmer Wesen beginnen, denen die Erde nur noch als das Ausnutzbare geblieben?" (GA 65, S. 399)
Hier erfolgt eine Absage an die Meinung, vermittelst der bisherigen religiösen oder weltanschaulichen oder ethischen Bestimmungen des Menschen in der Lage zu sein, der Tendenz zum Massenhaften etwas entgegenstellen zu können. Begründet ist diese Absage mit der in den vorhergehenden Absätzen angedeuteten Ungegründetheit der bisherigen Bestimmungen des Menschen hinsichtlich seines eigensten Wesens. Das Massenhafte ist hier als ontologischer Begriff zu verstehen, als Seinsauslegung des Menschen, d. h. als Weise, wie er sich selbst versteht. Dazu tritt die Bestimmung, daß "der Rückfall in das bloße Leben weltarmer Wesen" (ebd.) in der geschichtlichen Entscheidung steht. Das hier Genannte ist nur nachzuvollziehen aus der Erfahrung der Seins verlassenheit des Seienden und der Seins vergessenheit des Menschen, die Heidegger als die Grunderfahrung für den Übergang zum anderen Anfang denkt. Der Mensch in der geschichtlichen Epoche 14 der Seinsverlassenheit legt das Seiende nur noch als bestellbaren Bestand aus, wie es Heidegger im Technikvortrag denkt. 15 Gemäß der neuzeitlichen Auffassung des Denkens als Denken, das im Selbstbewußtsein des Menschen gegründet ist, bestimmt sich das Denken gegenüber dem Seienden als selbstgegründetes und darüber hinaus als selbsttätiges Denken. Damit hat das Denken die Herrschaft über das Seiende angetreten. Es legt die Wahrheit des Seienden nach den Gesetzen seines eigenen Denkens aus. Hieraus folgt für den Menschen ein Selbstverständnis des Produzierenkönnens von Wahrheit und Auslegung des Seienden. Das Seiende ist in seiner Wahrheit hergestellter Gegenstand des Denkens. Als herstell barer Gegenstand des Denkens ist das Seiende weitergehend nur noch bestellbarer Bestand, dem an ihm selbst keine Wahrheit mehr zukommt, weil alle Wahrheit in das selbstgegründete Denken hineingelegt ist. Es kann nun frei nach dem Denken des Menschen in einer Wahrheit entborgen werden, die dem Menschen entspricht. Hieraus erwächst die Möglichkeit der modemen Technik, die alles Seiende dem Menschen zur Verfügung stellt. Das Seiende wird nur noch als bestellbarer Bestand für das Bedürfnis des Menschen befragt. In solcher Auslegung wird es außerdem beliebig reproduzierbar, weil die Wahrheit beliebig reproduzierbar ist. Das Seiende im Ganzen steht so im Gemächte
14 Mit geschichtlicher Epoche ist kein innerzeitlicher Zeitraum gemeint, sondern eine Epoche hinsichtlich der sie durchherrschenden Seinsauslegung. 15 Vgl. "Die Frage nach der Technik", in: Heidegger, Manin, Die Techik und die Kehre, Pfullingen 61988 (im folgenden zitiert als: FdT), S. 14-19. Bestellen nennt die Weise, wie der Mensch das Seiende entdeckt, d. h. seine Wahrheit auslegt, und Bestand die Weise, als was das Seiende entdeckt wird und insofern wahr ist.
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B. 1. I. Grundzüge des Denkens der Entscheidung
des menschlichen Denkens. Die Welt als Verständnis des Seins von Seiendem wird auf einem solchen Weg arm. Die Welt als Wahrheit des Was- und WieSeins des Seienden wird weltann, weil die Auslegung des Seienden in seiner Wahrheit sich auf das selbstgegründete und selbstproduzierende Denken reduziert. Mit dem Wort "weltarm" ist in die Richtung der Weise von Welt gedacht, die Heidegger in der Vorlesung 1929/30 der Seinsweise des Tieres zuspricht. 16 Das Tier wird dort als weltann ausgelegt, weil ihm Welt als Welt verschlossen ist. Es hat zwar eine Welt als Umgebung, die ihn als bedrängende angeht und so zu einem Treiben bewegt. Diese Welt ist ihm aber als Welt verschlossen. Es hat keine Frage zur Welt, sondern ist in ihr eingebettet. Der Mensch hingegen hat ein Verständnis seiner Welt als Welt, weil er nach seinem Verständnis fragen kann und weil ihm dieses Verständnis als Verständnis gewahr werden kann. 17 Wenn nun aber das Weltverständnis des Menschen ihm selbstverständlich wird, weil er sein Denken als etwas völlig Abgelöstes betrachtet und zudem diese Abgelöstheit vergessen hat, und das menschliche Denken nur noch zum selbstverständlichen Auslegen des Seienden als bestellbarer Bestand wird, ist der Mensch weltann, wie das Tier. Seine Weltauslegung wird zur Auslegung der Erde als ausnutzbare zur Sicherung des Bestandes der Gattung Mensch. Denn wenn das Seiende in seinem Sein nur noch als Bestand entdeckt wird, .wird rückwirkend auch das Sein des Menschen als Bestand genommen. Die Auszeichnung der Individualität des Menschen in der Absetzung von der Tierheit endet, solange nicht nach der eigensten Seinsweise der Individualität gefragt wird, in gleicher Weise in der Weltannut. Denn aus dem vorstellenden Denken des Selbstbewußtseins entspringt sowohl das Denken zur Bestandssicherung der Gattung Mensch als auch für den einzelnen Menschen die Sicherung seiner als sich selbst gewisser Individualität. Die Sicherung der Art ist im Geschehen von Wahrheit dieselbe wie die Sicherung des Individuums. 18
16 In den »Beiträgen« spricht Heidegger hinsichtlich der Seinsweise des Lebendigen nicht mehr von Weltarmut, sondern von der Weltlosigkeit (vgl. GA 65, 154. Abschnitt: "Das Leben", S. 276-277). Weltarmut wird dadurch zum Wort für die in die Nähe zum Tier gerückte Weise des Menschen zu sein, in der der Mensch dennoch vom Tier geschieden bleibt. 17 Vgl. Heidegger. Martin, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit Einsamkeit. Gesamtausgabe Bd. 29/30, Frankfurt a.M. 21992, §§ 42-63, S. 261-396. Zusammenfassend zur Umgebung und Trieb s. § 61, S. 374-379, zur Weltarmut s. § 62, S.389-392. 18 Das Denken der Sicherung des Bestandes überhaupt sowie des Menschen als Bestand "eröffnet" ebenso, einen für eine vermeintlich höhere Rasse vermeintlich schädlichen Teil des Bestandes der Gattung Mensch zu vernichten, weil dies der Sicherung des besseren Teils der Gattung dient. Nur in diesem denkerischen Zusammenhang ist folgende provozierende Äußerung Heideggers zu verstehen: "Ackerbau ist jetzt motorisierte
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Die Erfahrung der Weltarmut im selbstverständlichen Auslegen von Welt als bestell barer Bestand ist die Erfahrung der Seinsvergessenheit des Menschen sowie der Seinsverlassenheit des Seienden. Die Weise, wie hierin Sein geschieht, nennt Heidegger im Technikvortrag das "Ge-stell" als die höchste Gejahr. 19 Wenn das Denken die Erfahrung macht, daß Sein nicht selbstverständlich vom Menschen gedacht wird, sondern hier ein Geschick geschieht, aus dem das Denken entwirft, dann ist dieses Seinsgeschick des Denkens der modemen Technik eine Weise, wie Wahrheit geschieht, d. h. geschickt ist. Der Gefahrcharakter im Wahrheitsgeschehen ist die Gefahr, sich am Geschickten so zu versehen, daß dieses allein dem Denken gewahr ist, ohne daß die Herkunft oder das Geschehen des Geschicks selbst aufleuchtet. Diese Gefahr ist äußerste Gefahr im Sein, weil das Sein sich selbst in einer Weise gibt, die dem Denken das selbstgegründete, selbsttätige Produzieren von Wahrheit und somit von aller Weltauslegung eröffnet. Damit verhüllt sich der Geschickcharakter in sich selbst, indem ein Geschick geschieht, das den Entwurf nur noch als selbstgegründet sich erfahren läßt. Das Sein als Geschick verhüllt selbst dieses Geschick. Damit wird das Fragen nach Wahrheit verschlossen, weil das Denken Wahrheit nur noch als Richtigkeit der Berechnung für die Bestellung des Seienden als Bestand denkt. Die Fragen, die heute als geschichtsentscheidend aufgeworfen werden, bleiben, solange sie im vorstellenden Denken sich bewegen, letztlich Fragen zur Si-
Ernährungsindustrie, im Wesen das SeIbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern, das Selbe wie die Blockade und Aushungerung von Ländern, das Selbe wie die Fabrikation von Wasserstoffbomben." (Heidegger, Martin, Bremer und Freiburger Vorträge, Gesamtausgabe Bd. 79, Frankfurt a.M. 1994, S. 27) Das Selbe von Ernährungsindustrie und Gaskammern soll nicht das menschliche Leiden und die Grausamkeit des Geschehens in den Gaskammern als das Gleiche relativieren, sondern anzeigen, daß es die selbe Art zu denken ist, die es dem Menschen "eröffnet", einen anderen Menschen oder eine Gruppierung von Menschen für den zu bestellenden Bestand der Selbst- und Gattungssicherung für minderwertig und schädlich und deshalb für vernichtenswert zu erklären und diese Vernichtung auch in die Tat umzusetzen. Das in diesem Ausmaß einzigartige Zusammengehen von Technik, Berechnung und Grausamkeit im "III. Reich" wird hier in seinem denkerischen Hintergrund bedacht. In dem Augenblick, da der Mensch nur noch den Bestand denkt und zu denken vermag, ist die Frage der Vernichtung eine rein rechnerische geworden. Insofern stellt sich das Geschehen des "III. Reichs" diesbezüglich in einer denkerischen Betrachtung nicht so sehr als archaisch-barbarischer Zusammenbruch aller menschlichen Werte dar, sondern als ein möglicher allermodernster Vollzug des neuzeitlichen Vorstellens. Vgl. zur Auslegung dieses Heideggerzitates auch: Guest, Gerard, Technik und Wahrheit. Zur Erörterung der Gefahr. in: Große Themen Martin Heideggers. Eine Einführung in sein Denken, hg. v. Spaude, Edelgard, Freiburg 1990, S. 33-90, wo er außerdem die Zusammenhänge von Technik, der höchsten Gefahr im Sein selbst und der Kehre in ein anderes Seinsgeschick entfaltet. 19 "Waltet jedoch das Geschick in der Weise des Ge-stells, dann ist es die höchste Gefahr." (FdT, S. 26)
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B. I. I. Grundzüge des Denkens der Entscheidung
cherung des Bestandes, auch wenn sie für sich genommen wichtig sind. Die Ernährungsfrage, der die Erde nur noch als ausnutzbare Ressource gilt, wird allesentscheidend oder die Frage der Friedenssicherung oder des Umweltschutzes umwillen des Überlebens der Gattung Mensch. Die Gefahren der technischen Welt bringen, solange nur nach Lösungen der besseren Beherrschung der Erde und der Technik gesucht wird, die eigentliche Gefahr nicht zum Vorschein. Selbst wenn die Erde nicht zerstört wird, indem eine sanftere Technik und eine genauere Berechnung der Abläufe der Natur, die auch das Element des Chaos oder des Lebendigen mit Faktoren der Unberechenbarkeit mit in die Rechnung einbezieht, friedlich den Menschen neben der Natur leben läßt, ist hiermit die eigentliche Gefahr als höchste Gefahr weder verwunden noch gesehen. Vielmehr kann sich durch den Glauben an die wenn auch in Teilen der Berechnung relativierte Regelbarkeit von allem, die Seins vergessenheit noch weiter verfestigen. Durch ein solches Gelingen der Rettung des Bestandes Mensch und der Erde kann der eigentliche Bereich einer geschichtlichen Entscheidung, der Bereich des Seins, noch weiter in Vergessenheit geraten, weil die Gattung ihr Denken so der Natur angepaßt hat, daß keine Zerstörung ihrer Grundlage mehr droht, sondern alles in das Regelbare eingemündet ist. 20 Die genannte Entscheidung zwischen Zugehörigkeit zur Wahrheit des Seins oder Wegtreiben in die verstellte Tierheit kann die Frage hervorrufen, ob Heidegger mit dem Denken der verstellten Tierheit und des Rückfalls in das bloße Leben weltarmer Wesen etwas Endgültiges denkt und, ob hier das Denken nicht spekulativ ist. Dem ist zunächst entgegenzuhalten, daß diese Entscheidung sich dem Denken allererst als geschichtliche Entscheidung zeigt, in der das Denken sich befindet. Durch die Erfahrung der Seins verlassenheit wird zunächst nichts mehr gesagt, als daß eine solche Entscheidung zur Entscheidung steht. Wenn sich dem Denken das Geschehen von Wahrheit und Sein in einer Weise zeigt, die den Entzug von Sein in der Seinsverlassenheit erfährt, dann ist hiermit zunächst nichts mehr eröffnet als der Raum, in dem eine Entscheidung, ob das Seins geschick sich ganz verschließt, fällt. Denn die Entscheidung, ob dem Menschen noch eine andere Geschichte eröffnet wird, oder ob die Geschichte des ersten Anfangs ihn in die verstellte Tierheit wegtreiben läßt, ist keine Entscheidung des Menschen, sondern eine Entscheidung des Seins, d. h. im Geschehen von Sein und Wahrheit. Wenn diese Entscheidung im Sein fällt, so ist die Frage nach der Wahrheit des Seins der erste Schritt aus dem ersten Anfang und der Gefahr der völligen Geschichtslosigkeit in den anderen Anfang, auch wenn dadurch keine Bestimmung über den "Erfolg" oder "Mißerfolg" des anderen An20 Mit dieser Darstellung soll deutlich werden, daß das Denken der Gefahr im Sein weder gegen die Technik ist noch einem notwendigen Bemühen um Umweltschutz und bessere Regeln des Lebens auf und mit der Erde widerspricht. Vielmehr soll hiermit der Bereich des Seins von diesen Fragen geschieden werden, aus dem allein ein möglicher Wandel des Seinsgeschicks kommen und einzig eine neue Geschichte eröffnet sein kann.
§ 3. Die Frage nach der Entscheidung
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fangs gemacht wird. Dies ist allein schon deshalb nicht möglich, gerade weil die Weise, wie Sein geschieht, geschichtlich sich wandelnd erfahren wird. Das Denken der »Beiträge« ist selbst geschichtlich. Es gilt, nach der Wahrheit des Seins zu fragen, um so erst die Möglichkeit eines Wandels des Seinsgeschicks von dem Ende des ersten Anfangs als der Seinsverlasssenheit und Seinsvergessenheit hin zur Gründung einer andersanfänglichen Geschichte zu eröffnen und somit die Möglichkeit eines Wesenswandels des Menschen hin zum Da-sein zu bahnen. Darin liegt das Geschichtliche und die Tragweite der philosophischen Besinnung auf das Sein als die offen auszuhaltende Frage, ob es gelingt, über den Aufenthalt im Übergang zum anderen Anfang hinaus, diesen anderen Anfang als geschichtlichen zu gründen oder nur erst im Denken zu bahnen.
c) Der Bereich des Gotthaften in der Entscheidung In den beiden Zitaten zur Frage nach der Entscheidung des geschichtlichen Menschen und der Gefahr, in die verstellte Tierheit wegzutreiben, ist außer dieser Gefahr noch ein weiterer Bereich genannt, der gänzlich verstellt zu werden droht. Das Gotthafte ist in der Entscheidung, ob dem geschichtlichen Menschen der letzte Gott versagt bleibt, und der Frage, ob die Zeit der Götter um sein kann, mitbenannt. Heidegger spricht in den »Beiträgen« von der Götterung, den Göttern, der Gottheit und dem letzten Gott. Was hiermit jeweils gesagt ist, muß zunächst offen bleiben. Der Bereich, in den hier gedacht wird, kann vorläufig mit dem Begriff des Gotthaften zusammengenommen angezeigt werden. Wichtig ist zunächst, daß der Bereich des Gotthaften mit in der Entscheidung steht. Was heißt es, daß dem geschichtlichen Menschen der Bereich des Gotthaften versagt bleiben kann? Wie entscheidet sich, ob dem Menschen das Gotthafte versagt bleibt? Diese Entscheidung fällt allein im Geschehen des Seins. Sie fällt mit der Entscheidung, ob der Mensch ein Zugehöriger zur Wahrheit des Seins wird oder nicht. Wie entscheidet aber das "Ob" der Zugehörigkeit zur Wahrheit des Seins über einen Gott? Im »Brief über den Humanismus«21 wird der Bereich des Gotthaften hinsichtlich des Heils oder Heiligen, der Gottheit und dem Gott bzw. den Göttern gekennzeichnet. Dort heißt es, daß erst aus der Wahrheit des Seins das Wesen
21 Heidegger, Martin, Brief über den Humanismus, Einzelausgabe, Frankfurt a.M. 1991, auch in: Heidegger, Martin, Wegmarken, Gesamtausgabe Bd. 9, Frankfurt a.M. 1976, Einzelausgabe, Frankfurt a.M. 2 1978 (im folgenden zitiert nach der Einzelausgabe, Wegmarken als: BüH, WM) S. 311-360.
B. 1. I. Grundzüge des Denkens der Entscheidung
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des Heiligen zu denken ist. Und erst aus der Dimension des Heiligen oder des Heils können die weiteren Ausfaltungen des Bereiches des Gotthaften aufgehen. 22 Solange aber die Wahrheit des Seins nicht gelichtet ist und nicht aus ihr das Seiende gewahrt werden kann, solange ist nicht nur die Wahrheit des Seins verstellt, sondern auch das Heile. Mit der Verschließung des Heilvollen oder Heiligen ist aber der ganze Bereich des Gotthaften verschlossen. Wenn das Seiende nicht in seinem Was-und Wie-Sein gewahrt werden kann, weil der Mensch es nur nach seiner Vorstellung und Bestellung als Vorgestelltes und Bestelltes auslegt, kann nichts Heilvolles im Geschehen der Wahrheit aufgehen. Das Unheilvolle gründet im Ungewahrten der Seinsauslegung des Seienden durch das bestellende Denken der Wahrheit als Bestand. 23 Diese Verschlossenheit des Gotthaften steht sogar in der Gefahr, sich so zu steigern, daß die Zeit der Götter um ist, wobei später auszulegen sein wird, was hier Zeit und was die Zeit der Götter meint. Aber kann eine Zeit der Götter endgültig um sein? Sie kann endgültig um sein, genauso wie die Geschichte des Menschen um sein kann, wenn das Sein sich in der Weise verschließt, daß der Mensch zurückfallt in das bloße Leben weltarmer Wesen. Sie muß genausowenig nicht endgültig um sein, sowenig wie die Geschichte des Menschen um sein muß. Im Denken des Entscheidungshaften kann eine Frage nach Endgültigkeit nicht endgültig beantwortet werden, weil das Wesen des andersanfanglichen Denkens gerade im Entscheidungshaften liegt. Hier gibt es keine kausale Zielhaftigkeit, weil ein Denken nach einem Ziel nicht dem sich zeigenden Geschehen von Denken und Sein als geschichtlich sich wandelndem entspricht. Aber dennoch wird von Heidegger die Not des andersanfanglichen Fragens erfahren durch die Einsicht in das zur Entscheidung stehende Ende der Geschichte von Menschen und Göttern, das als Ende unbestimmbar lange weiterherrschen kann. Dieser Einsicht muß in letzter Konsequenz denkerisch nachgegangen werden, wenn die zitierten Sätze zur Entscheidung keine leere pessimistische Propheterie oder weltanschauliches Anhängsel eines sonst rein philosophischen Denkens sein sollen. Nur durch das Durchdenken dieser äußersten Entscheidungen, ob der Mensch in das technisierte Tier wegtreibt und die Zeit des Gotthaften um sein wird, kann die umfassende Dimension des in den »Beiträgen« Gefragten in den Blick kommen.
Vgl. BüH, WM S. 347-348. Das Heile oder Heilvolle ist im »Brief über den Humanismus« ein rein denkerisches Wort für die erste Weise, in der der Bereich des Gotthaften aufgehen kann. Dem Sachverhalt des Zusammenhangs von der Wahrheit des Seins und dem Heilen kann sich aber auch vom alltäglichen Verständnis des Heils angenähert werden. Eine Sache kann nicht heil sein oder heil geborgen sein, wenn nicht ihr entsprechend auf sie eingegangen wird, wie z.B. eine Krankheit nur wirklich geheilt werden kann, wenn sie in ihrem Wesen verstanden wird. 22 23
§ 3. Die Frage nach der Entscheidung
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In dem bisher Ausgeführten wurde entlang der Frage nach der Entscheidung diese zunächst in ihrem Wesen durch die Weise vorgezeichnet, wie etwas durch die denkerische Fragehaltung zur Entscheidung steht. Von dem ZurEntscheidung-Stellen durch die Frage ausgehend, wurde gefragt, was in den »Beiträgen« in der Entscheidung steht und wie hierin Entscheidung gefaßt ist. In der Entscheidung steht der andere Anfang des Denkens und der Geschichte. Das Denken der »Beiträge« bewegt sich in dem schon entschiedenen Übergang zum anderen Anfang durch die so bisher nicht gestellte Frage nach dem Sein als Frage nach der Wahrheit des Seins selbst. Mit dieser Frage ist der andere Anfang ein schon entschiedener, weil der erste Anfang durch das Fragen der Grundfrage nach der Wahrheit des Seins verlassen und seine Leitfrage nach dem Sein als Seiendheit gesehen wird, ohne daß der andere Anfang damit gesichert ist, weil das Andersanfangliche gerade nur geschichtlich jeweilig geschieht oder nicht geschieht. Die gedankliche Mitte der »Beiträge« können wir mit Wahrheit des Seins als Ereignis vorläufig anzeigen, d. h. entscheidungshaft gedacht, ob der Mensch und das Denken dem Ereignis übereignet wird. Diese Übereignung ist zugleich die Entscheidung, ob der Mensch das Da-sein gründet und so einen Wandel seines Wesens vom denkenden Lebewesen zum Da-sein erfährt. Der Mensch steht somit in der Entscheidung seines Wesenswandels. Die äußerste Ausfaltung dieser Entscheidung ist die Entscheidung, ob künftig der Mensch als Da-sein die Wahrheit des Seins gründet oder in die verstellte Tierheit wegtreibt. Mit dieser Entscheidung geht einher, ob dem Menschen das Gotthafte gänzlich versagt bleibt und die Zeit der Götter um sein wird. Der Mensch und das Gotthafte stehen in der Entscheidung im Übergang zum in der Entscheidung stehenden anderen Anfang. Damit ist ein Vorblick auf die Weite des Denkens der »Beiträge« hinsichtlich der Frage nach der Entscheidung gegeben. Es bleibt zunächst offen, wie die Entscheidung in ihrem Wesen auszulegen ist und wie die vorgezeichneten Entscheidungen in genauerer Hinsicht zu begreifen sind. Versammelt sind die Entscheidungen nach dem Menschen, dem Gotthaften sowie dem anderen Anfang in der Entscheidung des Seins. Diese Entscheidung des Seins als Entscheidung im Sein leuchtet nur auf, wenn die Frage nach der Wahrheit des Seins gestellt wird. Dem Fragecharakter des Denkens kommt insofern die Bedeutung zu, allein das hier zur Entscheidung Stehende zu eröffnen. Deshalb muß in den folgenden Ausführungen dieser Fragecharakter leitend sein. Die Entscheidung kann sich nur öffnen im Verborgenen des "Einstiegs in das Ungeschützte" (GA 65, S. 298) der Frage. Die Frage ist Wagnis als das Gehen in ein Verbor-
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B. I. I. Grundzüge des Denkens der Entscheidung
genes und als solches der Weg des Denkens der »Beiträge«.24 Nur im Denken als Wagnis wird zur Entscheidung gestellt.
§ 4. Die Entscheidung in ihrem Wesen als Ent-scheidung
Die Entscheidung wird von Heidegger neben den vielfältigen Nennungen im Ganzen der »Beiträge« ausdrücklich in den Abschnitten 43-49 behandelt, die das Ende des Vorblicks ausmachen. Das Wesen der Entscheidung wird im 43. Abschnitt entfaltet, bevor Heidegger zur Darstellung des In-EntscheidungStehendem übergeht. Dieser Abschnitt soll deshalb ausführlich ausgelegt werden, weil sich in ihm alle wichtigen Grundbestimmungen der Entscheidung und so des Denkens der Wahrheit des Seins vorzeichnen lassen.
a) Der Sprung in die Ent-scheidung und das neuzeitliche Vorstellen Gegen Ende des 43. Abschnittes wird die "Aufgabe des Fragens nach der Wahrheit des Seyns" (GA 65, S.90) als das Denken der Ent-scheidung bezeichnet. Was ist das für ein Denken? In den Absätzen vor dieser Kennzeichnung stellt Heidegger das Denken der Ent-scheidung dem Denken der Neuzeit gegenüber, das er mit dem Begriff des Systems zusammen faßt. "Wenn die »Entscheidung« gegen das »System« zu stehen kommt, dann ist das der Übergang aus der Neuzeit in den anderen Anfang." (ebd., S. 89) Mit dem Begriff des Systems denkt Heidegger hier dasjenige Denken, das "auf eine gesicherte Auslegung des Seienden gegründet" (ebd., S. 90) ist. Das wesentliche Kennzeichen des neuzeitlichen Denkens ist das Denken der Seiendheit des Seienden als Vorgestelltheit. Das Sein des Seienden wird neuzeitlich zur Vorgestelltheit des Seienden. Das Denken der Vorgestelltheit ist nach Heidegger ein "vorgreifendes Einigen, vor-stellen der Gegenständlichkeit des Gegenstandes" (ebd., S. 89).
24 Vgl. GA 65, S.475: "Und nur im Wagnis reicht der Mensch in den Bereich der Ent-scheidung."
§ 4. Die Entscheidung in ihrem Wesen als Ent-scheidung
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Damit ist die Auslegung des Seienden gesichert, weil sein Sein vorab als Vorgestelltheit der Gegenständlichkeit gedacht wird, und es nach dieser Gegenständlichkeit vorgreifend ausgelegt werden kann. Es ist in dieser Auslegung als Auslegbares dem Denken sicher. Das Sein des Seienden rückt nicht eigens in die Frage, sondern ist vorab als vorstellbare Vorgestelltheit gesichert. Das Seiende kann geeinigt werden in der Vergegenständlichung der Gegenständlichkeit. 25 Das Denken der Ent-scheidung hingegen fragt nach einer ursprünglicheren "Bestimmung des Seienden als solchen aus dem Wesen des Seyns" (ebd., S. 89) entgegen der Bestimmung der Seiendheit als Vorgestelltheit. Die Aufgabe des Fragens nach der Wahrheit des Seins als Denken der Ent-scheidung ist die Aufgabe, das "Sein für das Seiende" (ebd.) allererst zu erfragen, anstelle der gesicherten Auslegung des Seienden aus der Vorgestelltheit. Die Weise des Denkens als Vorstellen faßt Heidegger als ein Erklären von Allem: "Neuzeitlich gesonnen denken wir von uns aus und stoßen, wenn wir von uns wegdenken, immer nur auf Gegenstände. Diesen gewohnten Weg des Vor-stellens eilen wir hin und her und erklären in seinem Umkreis Alles [... ]." (ebd., S. 88)
Dieser gewohnte Weg des Denkens, der in der philosophischen Hebung seines Vollzuges als das vorgreifende Einigen in der vor-gestellten Gegenständlichkeit gekennzeichnet wurde, wird durchbrochen durch die Frage, die Heidegger als die Grundfrage und "die einzige Frage" (ebd.)26 denkt: die Frage nach dem Sinn des Seins oder nach der Wahrheit des Seins. Damit geschieht im Denken etwas, was das Denken als Vorstellen in sich nicht freigibt, weil wir im Vorstellen nie bedenken, "ob nicht dieser Weg unterwegs einen Absprung zulasse, durch den wir erst in den >Raum< des Seyns springen, uns die Entscheidung er-springen" (ebd.).
25 Die sehr gedrängte Auslegung der Vorgestelltheit, die Heidegger im 43. Abschnitt gibt, deren "wesentliche Klärung in Kants Bestimmung des Transzendentalen" (ebd., S.89) zu suchen ist, wird in den »Beiträgen« verschiedentlich weiter ausgelegt. Vgl. hierzu z.B.: 44. Abschnitt, S. 93f, sowie die Abschnitte 103 und 110; 10; 3,4 und 112. Zur herausgehobenen Stellung Kants heißt es im 44. Abschnitt: "Weil all dies [die Klärung der Richtigkeit des Vorstellens] bei Kant am reinsten vollzogen wird, deshalb kann an seinem Werk versucht werden, ein noch Ursprünglicheres und deshalb von ihm her nicht Ableitbares, ganz Anderes sichtbar zu machen." (ebd., S. 93) Heidegger kann sich in der Gegenüberstellung von Neuzeit und anderem Anfang des Denkens allein auf Kant und die Vorgestelltheit beziehen, weil die Weise der Seinsauslegung als bestellbarer Bestand, die das heutige Denken des Ge-stells ausmacht, nur in gesteigerter Weise die Seinsauslegung als Vergegenständlichung vollzieht, was aber in sich ein vorstellungshaftes Denken bleibt. 26 Vgl. zur Charakterisierung als "einzige" Frage: "Hier ist alles auf die einzige Frage nach der Wahrheit des Seyns gestellt: Auf das Fragen." (ebd., S. 10) Heidegger betont mit dieser Kennzeichnung, daß nur die Frage nach der Wahrheit des Seins in den Bereich von ursprünglicherer Erfahrung von Wahrheit und Sein weisen kann.
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B. 1. I. Grundzüge des Denkens der Entscheidung
Das Denken, das sich seines VorsteIlens sicher ist, kommt nicht zu der Frage, woraus es denkt, selbst wenn es das Wie seines Denkens in der Weise des Vorstellens heben kann. Zwei Weisen des VorsteIlens lassen sich aus dem bisher Ausgeführten entfalten. Es wurde einerseits der gewohnte Vollzug des Denkens genannt, wenn ich etwas als etwas erkläre und auf diese Weise geleitet bin, im Umkreis Alles erklären zu können. Diese Weise des VorsteIlens von etwas als etwas Vorgestelltem umfaßt jegliches wissenschaftliche Denken, weil dieses schon von der VorsteIlbarkeit ausgeht, indem es ein schon Gesetztes als Sicheres hat, von dem aus es als positive Wissenschaft nach seiner Erklärung fragt. Dieser gewohnte Bezug zu etwas als ein vorstellender Bezug kann andererseits in einer zweiten Weise des VorsteIlens eigens in der Philosophie bedacht werden, indem das Denken, wie bei Kant, die Bedingungen der Möglichkeit des Denkens beschreibt. Dann ergibt sich dem Denken die ausgeführte Weise des vorgreifenden Einigens von etwas als etwas anhand der vorgestellten Gegenstandsstruktur der Gegenständlichkeit. Dieses Denken bewegt sich aber selbst solange im Vorstellen, wie es das Denken als selbstverständlich nimmt und nach seiner Wahrheit nur hinsichtlich der möglichen Übereinstimmung mit einer unhinterfragten, schon gegebenen und versteh baren Offenheit von Sein als Seiendheit des Seienden fragt. Damit gerät es nicht in den Bereich des Woher des Denkens, weil es nicht nach der Weise des Wie der Offenheit von Sein an ihm selbst fragen kann. Das vorstellende Denken muß in gewisser Hinsicht angehalten werden bzw. an-sieh-halten, damit Denken und Sein fraglich werden können. Fraglich wird das Denken durch die Frage nach dem Sein, indem gefragt wird, wie und woraus so etwas wie ein Auslegen von Wahrheit und Sein im Denken geschieht. Damit geschieht ein Absprung v.om vorstellenden Denken. Durch diesen Absprung springen "wir erst in den >Raum< des Seyns" (ebd., S.88). Dieser Sprung wird in der III. Fügung "Der Sprung" im 115. Abschnitt einleitend charakterisiert: "Der Sprung, das Gewagteste im Vorgehen des anfänglichen Denkens, läßt und wirft alles Geläufige hinter sich und erwartet nichts unmittelbar vom Seienden, sondern erspringt allem zuvor die Zugehörigkeit zum Seyn in dessen voller Wesung als Ereignis." (ebd., S. 227)
Zwei Momente sind hierbei zunächst wichtig. Wenn vom Seienden unmittelbar nichts erwartet wird, so heißt das, daß der denkerische Blick vom gewohnten Vorstellen des Seienden sowie von seiner Auslegung des Denkens anhand des Verstehens von Seiendem läßt, indem keine Erwartung und d. h. keine Ausrichtung danach mehr vollzogen wird. Damit wird alles Geläufige hinter sich gelassen, d. h. das geläufige immer schon Verstandenhaben von etwas als etwas im vorstellend-vorgreifenden Denken wird hinter sich gelassen. Ersprungen wird durch diese Blickwendung des denkerischen Blicks "allem zuvor die Zugehörigkeit zum Seyn" (ebd., S. 227). "Allem zuvor" heißt hier dem vorstellenden Denken zuvor. Es wird hiermit in einen Bereich vorgedrungen, der vor diesem
§ 4. Die Entscheidung in ihrem Wesen als Ent-scheidung
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Denken liegt, nicht zeitlich als vor einem Danach, sondern in Hinsicht der Ursprünglichkeit. Was so ersprungen und erfahren wird, ist die Zugehörigkeit zum Sein als Ereignis. Hierzu heißt es in der III. Fügung im 122. Abschnitt: "Der Sprung (der geworfene Entwurf) ist der Vollzug des Entwurfes der Wahrheit des
Seyns im Sinne der Einrückung in das Offene dergestalt, daß der Werfer des Entwurfes als geworfener sich erfährt, d. h. er-eignet durch das Seyn. Die Eröffnung durch den Entwurf ist nur solche, wenn sie als Erfahrung der Geworfenheit und damit der Zugehörigkeit zum Seyn geschieht." (ebd., S. 239) Der Sprung ist hier die Einrückung in das Offene. Er ist nicht nur Absprung von, d. h. vom vorstellenden Denken, sondern ist Einsprung in, als Einrückung in das Offene. Das Offene ist das Woraus des Entwurfes von Wahrheit im Vollzug des Denkens. Dieses Woraus eigens als ein Offenes zu erfahren, ist die Erfahrung des Entwurfes als eines geworfenen. Die Erfahrung der Geworfenheit des Denkens als geworfener Entwurf ist die Erfahrung des Er-eignetseins durch das Sein. Diese Erfahrung des Denkens ist die Erfahrung der Zugehörigkeit zum Sein in der Gestalt der: Erfahrung des Er-eignetseins und insofern des Sichzugehörigwissens der Er-eignung des Seins. "Das ist der wesentliche Unterschied gegenüber aller nur transzendentalen Erkenntnisart hinsichtlich der Bedingung der Möglichkeit" (ebd.), heißt es hierzu im Anschluß an das zuvor Zitierte. Das Fragen nach der transzendentalen Erkenntnisart als Fragen nach der Bedingung der Möglichkeit für ein Denken gelangt nur zu einem Beschreiben des VorsteIlens in seinen vorgängigen, apriorischen Strukturen der Vorgestelltheit. Es kann aber auf diesem Weg nicht das Denken in seiner Herkunft erfragen und aus einer Geworfenheit erfahren. Gelingt aber dem Denken der Sprung in das Offene als Einrückung in die Geworfenheit, so kann es sich als zugehörig zum Sein als Geschehen der Er-eignung erfahren. Das Denken erfährt sich so als ein ereignetes Entwerfen aus einer als er-eignet erfahrenen Geworfenheit. Das Offene der Einrückung ist zunächst die Erfahrung des Daß des Er-eignetseins. Dieses Offene ist der »Raum« des Seins. Zuvor hieß es zum Absprung, daß durch ihn, "wir erst in den >Raum< des Seyns springen, uns die Ent-scheidung er-springen" (ebd., S. 88). Der "Raum" des Seins ist demnach die Ent-scheidung. Die Ent-scheidung wird er-sprungen durch die Frage nach der Wahrheit des Seins. Das hier genannte Springen wird als Er-springen gefaßt. Durch das abgetrennte Präfix "Er-" wird in den Bereich der Er-eignung verwiesen. Das Er-springen springt in ein "Er-" als einer Erfahrung eines Er-eignetseins. In dem "Er-" kommt die Bewegung der Erfahrung der Geworfenheit als vom Sein als Er-eignung erworfene zur Sprache. 27
27 Das Wort "Sprung" für den hier gedachten Übergang vom vorstellenden Denken zum er-eigneten Denken ist in sich fragwürdig. "Sprung" läßt an eine Aktivität denken, die aus sich heraus willentlich vollzogen wird. Die denkerische Erfahrung jedoch, die hier bedacht wird, ist die der Erfahrung des "Stoßes" des Seins, wie Heidegger es gele-
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B. I. I. Grundzüge des Denkens der Entscheidung
b) Die Ent-scheidung als das lichtende Sichverbergen Was in dem Er-springen in der Frage nach dem Sein bezüglich der Entscheidung sich öffnet, entfaltet die Kernstelle des 43. Abschnitts: "Dann rückt das, was hier Ent-scheidung genannt ist, in die innerste Wesensmitte des Seyns selbst und hat dann nichts mit dem gemein, was wir das Treffen einer Wahl und dergleichen heißen, sondern sagt: das Auseinandertreten selbst, das scheidet und im Scheiden erst in das Spiel kommen läßt die Er-eignung eben dieses im Auseinander Offenen als der Lichtung für das Sichverbergende und noch Un-entschiedene, die Zugehörigkeit des Menschen zum Seyn als des Gründers seiner Wahrheit und die Zugewiesenheit des Seyns in die Zeit des letzten Gottes." (GA 65, S. 88)
Wenn die Ent-scheidung in die innerste Wesensmitte des Seins selbst rückt, heißt das, daß durch die Frage nach der Wahrheit des Seins, in den Bereich des Geschehens von Sein hineingefragt, sich dem Denken die Ent-scheidung zeigt. Ein Zweifaches in einem einzigen Geschehen läßt sich hieran aufweisen. Das Zweifache des Geschehens ist das Auseinander und die Ereignung. Das Geschehen tritt einerseits ins Offene, d. h. kommt ins Spiel. Zugleich tritt es ins Offene aber nicht erst auf und dann auseinander, sondern es tritt als Auseinander, als Scheiden, ins Offene. Etwas Scheidendes zeigt sich somit als zweites Moment. Die Ereignung kommt so ins Spiel, d. h. das Denken erfährt die Ereignung so, daß sie sich im Auseinandertreten zeigt als das Auseinanderscheidende Öffnende. Hier geschieht kein zeitliches Vorher der Ereignung, die ein Geschiedenes gibt, oder umgekehrt ein Auseinanderscheiden, das erst auseinander ist und dann ereignet, sondern hier geschieht zugleich ein Zweifaches von Scheiden und Ereignen, oder anders gesagt ein Scheiden als Ereignen sowie ein Ereignen als Scheiden.
gentlich formuliert. "Sprung" ist deshalb in die Richtung von Ursprung, der wie eine Quelle quillt, zu hören, wobei "-sprung" das Quellende meint. Wenn von "Absprung" die Rede ist, ist deshalb in dem "-sprung" das Zugleich von Einspringen und Erfahren des Sprungs als im Quellenden sich erfahren zu hören. Heidegger verwendet in den auf die »Beiträge« folgenden Schriften auch andere Nennungen für das mit dem "Sprung" Gedachte. (vgl. z.B. in der Gelassenheitsschrift die Rede von "in das Wesen des Denkens eingelassen zu werden" durch das "Warten" (Heidegger, Martin, Gelassenheit, Einzelausgabe, Pfullingen 91988, bes. S. 41-43 (im folgenden zitiert als: GL). Grundsätzlich ist zu Worten wie "Stoß" oder "Sprung" zu bedenken, daß sie keine Metaphern oder dichterische Bilder für etwas sind, was in ihnen abgebildet wird, sondern denkerische Worte, in denen das zu Denkende der Sache gemäß versucht wird zu sagen. Deshalb ist auf das in ihnen Mitschwingende der zu denkenden Sache zu hören, wie es bei der Auslegung von Ursprung und Quelle versucht wurde, wobei auch hier Quelle nicht als ein sinnliches Bild einer abstrakten Sache zu nehmen ist. Die herausragende Bedeutung des Sprunges für den Übergang zum andersanfanglichen Denken und der Fügung "Der Sprung" in den »Beiträgen« betont George Kovacs in: The Leap (der Sprung) for Being in Heidegger's Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), in: Man and World 25, 1992, S. 39-59.
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Das ereignende Auseinanderöffnende als Lichtung zeigt sich in verschiedenen Hinsichten. Zuerst zeigt sich im auseinander Offenen dieses als Lichtung für das Sichverbergende. Damit ist die Weise genannt, wie für Heidegger in seiner geschichtlichen Erfahrung Sein in seiner Wahrheit geschieht, was er auch als zögernde Versagung zur Sprache bringt. Das Auseinander lichtet sich so, daß Sein zunächst als Entzug erfahren wird. Die erstwesentliche Weise, wie die Wahrheit des Seins geschieht, ist das Sichlichten einer sichverbergenden Ereignung. Das Denken erfährt hier die Bewegung des Ereignetwerdens als das Geschehen von Sein in der Gestalt, daß sich ein Auseinander zeigt von einer Lichtung als das Er-eignetwerden und einem Sichverbergen dieser Ereignung. Dies ist die erste Weise, wie sich die Ent-scheidung zeigt: als Scheidung von Lichtung und Sichverbergen. Lichtung ist das Zögernde in der zögernden Versagung. Das Sichverbergende ist das Versagen der offenen Wesung des Seins als Ereignung. Als Auseinander wird die Lichtung als Ereignetsein und das Sichverbergende als das Er-eignen erfahren. Das Ereignen als Geschehen des Zuwurjes zeigt sich zunächst so, daß es den Zuwurf als solchen erfahren läßt, aber als sichverbergenden. Damit wird aber nicht nichts erfahren, sondern zuerst überhaupt das Daß eines Zuwurfes für einen Entwurf. Die Ent-scheidung von Lichtung und Sichverbergendem ist in sich die Ent-scheidung als Erfahrung des Daß des Auseinanders von ereignendem Zuwurj und ereignetem Entwurf. Damit ist eine denkerische Erfahrung ausgefaltet, die das Geschehen von Wahrheit des Seins bewegungshaft erfahrt, was Heidegger als Gegenschwung der Kehre von ereignendem Zuwurf und ereignetem Entwurf faßt. Das Sichverbergende der Ereignung, das als Sichverbergendes in der Lichtung als Gelichtetes, d. h. Erfahrenes sich öffnet, ist die erste Grunderfahrung eines Denkens der Ent-scheidung. Das Denken erfährt sich hier nicht mehr selbstverständlich, sondern erfahrt sein Woher als Herkunft aus einem Verborgenen, wobei Herkunft nicht als vorgestellte Ursache einer Wirkung gedacht ist, sondern bewegungshaft als Geschehen und Erfahren des Herkommens. Erst wenn sich dem denkerischen Blick diese Scheidung von Lichtung und Verbergung öffnet, hat es den "Raum" des Seins erfahren, indem es sich als verborgen ereignet erfahrt, und hiermit eine Scheidung von Gedachtem und dem Woraus des Gedachten sich in der Erfahrung des Denkens öffnet. Das Denken wird so als Denken allererst erfahren, indem seine Herkunft als Herkommen aus einer verborgenen Ereignung erfahren wird.
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B. I. I. Grundzüge des Denkens der Entscheidung
c) Die Lichtung des Sich'verbergens und die Ent-scheidung zwischen Mensch und Gott Das Offene der Lichtung ist Lichtung für das Sichverbergende und weitergehend Lichtung für das noch Un-entschiedene. Als noch un-entschieden zeigt sich einerseits die offene Wesung des Seins, da diese noch nicht auseinandergetreten ist, sondern sich zunächst erst als Sichverbergende zeigt. Die Erfahrung des "Raums" des Seins als Ent-scheidung von Lichtung und Verbergung erfährt somit das Un-entschiedene als das noch nicht Ent-schiedene, d. h. Auseinandergetretene des Seins in einer offenen Weise. Die Lichtung für das Sichverbergende und noch Un-entschiedene ist weitergehend Lichtung für "die Zugehörigkeit des Menschen zum Seyn als des Gründers seiner Wahrheit und die Zugewiesenheit des Seyns in die Zeit des letzten Gottes" (ebd., S. 88). Hieraus läßt sich die Lichtung für das Sichverbergende als Lichtung für das Sichverbergende der Zugehörigkeit des Menschen zum Sein auslegen sowie die Lichtung für das noch Un-entschiedene als Lichtung für das noch Unentschiedene der Zugewiesenheit des Seins in die Zeit des letzten Gottes. In der Entscheidung zeigt sich demnach das Sichverbergende der Zugehörigkeit und das Un-entschiedene der Zugewiesenheit. Das Auseinander der Entscheidung öffnet somit, weiter entfaltet, das Auseinander im Sein als Geschehen von noch verborgener Zugehörigkeit zum Sein "seitens" des Menschen und noch un-entschiedener Zugewiesenheit des Seins in die Zeit des Gotthaften. Die Zugehörigkeit des Menschen zum Sein ist verborgen hinsichtlich einer Weise als Gründer der Wahrheit des Seins zu sein. Die Zugehörigkeit wird als Zugehörigkeit zwar schon erfahren, aber im Entzug und der Versagung der offenen Wesung des Seins. Deshalb ist die Zugehörigkeit als Gründer der Wahrheit des Seins als sichverbergende erfahren. Das Daß der Zugehörigkeit wird zwar schon erfahren, indem die Lichtung als Lichtung der Er-eignung sich zeigt. Aber das Sein als Ereignung zeigt sich noch nicht hinsichtlich einer offenen Gründung der Wahrheit des Seins aus der Ereignung. Die Zugewiesenheit des Seins hinsichtlich der Zeit des Gotthaften zeigt sich als noch Un-entschiedene. Das Un-entschiedene weist in die Kennzeichnung des Gotthaften hinsichtlich seiner Unentschiedenheit aus dem 259. Abschnitt: "Die Unentschiedenheit,.welcher Gott und ob ein Gott welchem Wesen des Menschen in welcher Weise noch einmal zur äußersten Not erstehen werde, ist mit dem Namen »die Götter« genannt. Aber diese Unentschiedenheit wird nicht als leere Möglichkeit von Entscheidungen nur vor-gestellt, sondern als die Entscheidung im voraus begriffen, aus der sich Entschiedenes oder völlige Entscheidungslosigkeit ihren Ursprung nehmen." (ebd., S. 437)
Die Unentschiedenheit wird hier als "die Entscheidung" genannt, d. h. als Weise, wie sich der Bezirk des Seins als Ent-scheidung öffnet, aus dem eine Antwort für das Fragwürdige des Gotthaften allein kommen kann. Die Unent-
§ 4. Die Entscheidung in ihrem Wesen als Ent-scheidung
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schiedenheit zeigt sich in der Ent-scheidung als die noch un-entschiedene Zugewiesenheit des Seins in die Zeit des Gotthaften. Damit ist das Unentschiedene aber keine vor-gestellte "leere Möglichkeit von Entscheidungen" (ebd.), sondern als Un-entschiedenes zeigt sich die Zugewiesenheit. Die noch unentschiedene Zugewiesenheit des Seins in die Zeit des Gotthaften ist als unentschiedene Zugewiesenheit die erste Weise, wie das Gotthafte sich im Bezirk der Ent-scheidung zeigt. Die erste Erfahrung des Gotthaften als unentschiedene Zugewiesenheit kann auch als Fehl des Gotthaften in Gestalt einer entschiedenen Zugewiesenheit gedacht werden. Heidegger deutet den Fehl Gottes in dem Aufsatz ))WOZU Dichter?«28 folgendermaßen: "Der Fehl Gottes bedeutet, daß kein Gott mehr sichtbar und eindeutig die Menschen und die Dinge auf sich versammelt und aus solcher Versammlung die Weltgeschichte und den menschlichen Aufenthalt in ihr fügt." (HW, S. 248)
Der Fehl Gottes als das Unentschiedene des Gotthaften meint weder einen Atheismus noch eine gesicherte Vorhandenheit des an sich vorhandenen Gottes, der sich nur jetzt entzogen hat. Das Unentschiedene ist gänzlich anders gedacht als der Entzug oder Fehl des Gotthaften in entschiedener Fügung der Geschichte und des Menschen auf sich in einer Versammlung. Dennoch öffnet sich in der Erfahrung der Ent-scheidung des Seins dem Denken das Sein als dem Gotthaften, wenn auch in noch un-entschiedener Weise, zugewiesen. An anderer Stelle heißt es zu dieser Frage: "[ ... ] das Seyn ist Jenes, was die Götterung des Gottes braucht, um doch und vollends davon unterschieden zu bleiben." (GA 65, S. 240)
Hierzu muß erneut bedacht werden, wie und warum das Gotthafte hier thematisiert wird. Um diese Erfahrung des Brauchens als denkerische Erfahrung zu entfalten, muß gefragt werden, was hier dem Denken ansichtig ist, daß es so sprechen kann. Dazu ist es vonnöten, das vorstellungshafte Denken zu verlassen, das sich vorstellen könnte, daß der Gott das Sein braucht, um durch es zum Menschen zu gelangen. Man könnte, wie von außen, Gott und Mensch gegenüberstellen und sich vorstellen, daß das Sein als das Zwischen als offener Raum ist, in den der Gott eintritt und der Mensch ihn erflihrt. Man könnte aber auch denken, daß das Sprechen von 'einem Gotthaften für das Geschehen der Entscheidung unwichtig ist und diesen Bereich bei der Auslegung der »Beiträge« als Heideggers persönliche Erfahrung abblenden. Oder man könnte diese Sätze zum Gotthaften als reine Spekulation nehmen, da das Gotthafte dem vernünfti-
28 Heidegger, Manin, Holzwege. Gesamtausgabe Bd. 5, Frankfurt a.M. 1977, Einzelausgabe Frankfurt a.M. 6 1980 (im folgenden zitiert nach der Einzelausgabe als: HW) S.248-295.
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B. 1. I. Grundzüge des Denkens der Entscheidung
gen Denken als Erfahrung verschlossen bleiben muß und nur Vernunftglaube sein kann, wie es ein Denken, das hierin Kant folgt, fassen müßte. 29 Damit würde man aber an dem von Heidegger in den »Beiträgen« Gedachten vorbeigehen, denn man übersieht so, daß in den »Beiträgen« die Ent-scheidung und die Wahrheit des Seins immer, ob thematisch oder abgeblendet, als das Zwischen zwischen dem Gotthaften und dem Menschen erfahren und gedacht ist. Das Denken des Gotthaften ist keine theologische Zutat zum Denken der »Beiträge«, sondern das Denken der »Beiträge« ist als Denken der Entscheidung immer das Denken des noch zu erfragenden Zwischen von Gotthaftem und Menschen. Deshalb muß dem im Zitat genannten Brauchen des Seins "seitens" des Gotthaften nachgegangen werden, um es in eine denkerische Erfahrung zu bringen. Wenn das Denken sich als verborgen ereignet erfährt, so erfährt es das Verborgene als seine Herkunft. Diese Herkunft zeigt sich als sich entziehende. Der Entzug als Lichtung für das Sichverbergende wird aber eigens zugleich mit einer Zugewiesenheit erfahren. Diese Zugewiesenheit läßt sich zusammen mit dem Brauchen fassen. Insofern liegt in der Erfahrung des Entzuges zugleich eine Erfahrung des Brauchens. Denkt man den Entzug vorstellungshaft, so kommt man nur zu einem Wegsein von etwas, was vorher da war und sich durch den Entzug nun entzogen hat. Bewegungshaft erfahren aber, wenn man dem Entzug nachgeht, liegt in ihm ein Ziehen. Das Entziehen ist zwar ein Wegziehen, aber in seinem Wegziehen liegt ein Anziehen, wie ein Sog.30 Das Brauchen ist in
29 Vgl. hierzu z.B. in der 2. Vorrede zur »Kritik der reinen Vernunft«: "Ich kann also Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zum Behuf des notwendigen praktischen Gebrauchs meiner Vernunft nicht einmal annehmen, wenn ich nicht der spekulativen Vernunft zugleich ihre Anmaßung überschwenglicher Einsichten benehme, weil sie sich, um zu diesen zu gelangen, solcher Grundsätze bedienen muß, die, indem sie in der Tat bloß auf Gegenstände möglicher Erfahrung reichen, wenn sie gleichwohl auf das angewandt werden, was nicht ein Gegenstand der Erfahrung sein kann, wirklich dieses jederzeit in Erscheinung verwandeln, und so alle praktische Erweiterung der reinen Vernunft für unmöglich erklären. Ich mußte also das Wissen aufheben. um zum Glauben Platz zu bekommen [... ]." (Kant. Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1956, S. 28, B XXX; Herv. v. V. (im folgenden zitiert als: KrV»)"Innerhalb der von Kant für das Erkenntnisvermögen ausgewiesenen Grenzen kann tatsächlich das Gotthafte kein Gegenstand der Erfahrung werden, weil es von einem nach Gegenständlichkeit ausgerichteten Vorstellen verstellt ist. 30 Diese freie Auslegung des Entzuges und seinem Ziehen als Sog ist mit der Fassung des Sichentziehens in "Was heißt Denken?" (Heidegger. Martin, Was heißt Denken?, Tübingen 41984 (im folgenden zitiert als: WhD) zu vergleichen: "Was sich entzieht, versagt die Ankunft. Allein - das Sichentziehen ist nicht nichts. Entzug ist Ereignis. Was sich entzieht, kann sogar den Menschen wesentlicher angehen und in den Anspruch nehmen als alles Anwesende, das ihn trifft und betrifft [... ]. Was sich uns entzieht, zieht uns dabei gerade mit, ob wir es sogleich und überhaupt merken oder nicht. Wenn wir in den Zug des Entziehens gelangen, sind wir [... ] auf dem Zug zu dem, was uns anzieht, indem es sich entzieht." (WhD, S.5) Hier wird zwar der Entzug nicht weiter auf das
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sich bewegungshaft auch ein Ziehen. Wenn man sagt, daß man etwas braucht, will man etwas für sich, d. h. zu sich. Zugleich ist das Brauchen aber ein Angezogen werden von etwas, das man für sich will. Der Entzug zieht und in diesem Ziehen, als Sog erfahren, kommt ein Brauchen in der Bewegung zum Vorschein. Das Brauchen zieht selbst, aber zugleich als Angezogenwerden vom Sog des Entzuges. Das Ziehen des Brauchens ist die erfahrene Zugewiesenheit des Seins als Entzuges zum Gotthaften. Das Ziehen des Entzuges zeigt in sich wiederum das Brauchen des Seins "seitens" des Gotthaften, worin der eigene Sog des Brauchens liegt. Diesen eigenen Sog können wir mit dem ersten Absatz des 43. Abschnitts in Zusammenhang bringen, wo das Brauchen mit einer Erhöhung des Menschen zusammen genannt ist, so daß wir sagen können, daß das Brauchen des Gotthaften in seinem Sog in eine Erhöhung zieht. In dieser ersten Ausfaltung der Ent-scheidung zeigt sich der Entzug als das Sichverbergende des Seins als Ereignung in noch unentschiedener Weise seiner Zugewiesenheit in die Zeit des Gotthaften und hierin dennoch aber als ein zugewiesenes Brauchen. Daß das so erfahrene Brauchen ein Brauchen des Gotthaften ist, soll zunächst so stehengelassen werden als die Sprache, in der Heidegger auf das Brauchen und die Zugewiesenheit als denkerische Erfahrung verweist, hinsichtlich einer ersten Weise, wie sich das Gotthafte zeigt. Hiervon ausgehend, läßt sich folgender erster Absatz des 43. Abschnitts entfalten: "Von den Göttern gebraucht, durch diese Erhöhung zerschmettert werden, in der Richtung dieses Verborgenen müssen wir das Wesen des Seyns als solchen erfragen. Wir können aber dann das Seyn nicht als das scheinbar Nachträgliche erklären, sondern müssen es als den Ursprung begreifen, der erst Götter und Menschen ent-scheidet und er-eignet." (GA 65, S. 87)
Das Sein als verborgene Ereignung der Ent-scheidung ent-scheidet Götter und Menschen im Sinne des Ursprungs dieser Ent-scheidung. Damit ist zunächst gesagt, daß weder Götter noch Menschen für sich schon sind. Vorstellungshaft kann man sich einen vorhandenen Gott und vorhandene Menschen denken, die zueinander gewiesen werden. Hier kommt aber etwas ganz anderes zur Sprache. Der Mensch ist hier noch gar nicht Mensch, so wenig wie der Gott schon Gott ist. Erst wenn im Denken sich die Ereignung verborgen zeigt, zeigt sich ein Auseinander, d. h. der Mensch rückt aus seiner selbstverständlichen Selbstgewißheit, die sich ihm im vorstellenden Denken ergibt, heraus und weiß nicht selbstverständlich, wer er ist. Was aber anfänglich erfahren wird in einem solchen In-Frage-Stehen, ist das Auseinander zu einer Ereignung. Damit ist zuBrauchen ausgelegt, dennoch zeigt das hier Gefaßte die Bewegung des Entzugs, die als Sog im Sinne des Ziehens des Entzugs bedenkbar ist.
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B. 1. I. Grundzüge des Denkens der Entscheidung
nächst allererst der "Raum" eröffnet, in dem das Denken sich als geschieden von seinem gewohnten Wesen erfährt, indem es anfangshaft die verborgene Ereignung seines Denkens erfährt. In diesem Auseinander wird, wenn dieses sich weiter öffnet, das Brauchen und der Sog erfahren. Das Brauchen wird in dem Zitat zwar in die Richtung des Wesens des Seins genannt, aber darüber hinaus zeigt sich durch die Zusarnmennennung mit der Erhöhung in der Ent-scheidung ein Brauchen des Gotthaften hinsichtlich des Menschen. Damit sind Götter und Menschen allererst entschieden und so auseinandergetreten, weil sich ein Brauchen einem Gebrauchten, d. h. dem Menschen, zeigt. Die Ent-scheidung als Geschiedenheit von Göttern und Menschen nennt Heidegger infolgedessen auch die Ent-gegnung der Geschiedenen. 31 Wo aber sind Götter und Menschen geschieden ent-gegnet? Wenn sich die Ent-scheidung dem Denken als Entzug lichtet, der eine verborgene Zugehörigkeit des Menschen zur Er-eignung öffnet und in dem sich noch unentschieden im Entzug ein Brauchen zeigt, dann kann, wenn diese Ent-scheidung sich weiter öffnet, in der Erfahrung des Brauchens ein Zug erfahren werden, der das Denken in eine Erhöhung zieht, die als Zerschmetterung droht. Diese Nennung des Zerschmettertwerdens muß zunächst befremden. Durch die Erfahrung des Nicht-mehr-selbstverständlich-wissens, wer ich bin, ist sich ihr anzunähern. Dadurch ist schon die gewohnte Selbstauslegung "zerschmettert". Darüber hinaus droht in der Erfahrung der Erhöhung durch das Gebrauchtwerden vom Gotthaften eine Zerschmetterung. Dieser Sachverhalt kann vorläufig als Nennung des Gefahrcharakters dieses Brauchens genommen werden. Die Erfahrung des Brauchens im Entzug kann sich so steigern, daß ein Brauchen als Zug in eine gefährdende Erhöhung erfahren wird. Diese Erhöhung kündigt sich in einer erfahrbaren Gefährdung durch eine Zerschmetterung an. Damit ist auch auf eine Unberechenbarkeit und Unherstellbarkeit des Gebrauchtwerdens verwiesen. Diese Erfahrung ent-scheidet das Gotthafte und den Menschen, weil allererst die Gefahr einer Erhöhung für den Menschen erfahrbar wird und somit ein Geschiedenes von sich als Mensch im Sinne des Gebrauchtwerdens. Hieran knüpft die zweite Bestimmung des Zitats, in der es heißt, daß das Sein Götter und Menschen ereignet, an. Diesen Sachverhalt faßt Heidegger im 7. Abschnitt folgendermaßen: "Das Ereignis übereignet den Gott an den Menschen, indem es diesen dem Gott zueignet." (ebd., S. 26)
Damit ist zunächst struktural angezeigt, wie sich die Erfahrung des Zuges der Erhöhung zeigen kann. Das Sein als Geschehen der Ereignung ist das Er-eignis
31
Vgl. im 267. Abschnitt, Punkt 2 und 3 (ebd., S. 470).
§ 4. Die Entscheidung in ihrem Wesen als Ent-scheidung
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von sich zuwerfender Ereignung und sich erworfen wissendem Entwurf des Denkens. Dieses Geschehen öffnet sich zunächst als Ent-scheidung im Sinne des Auseinandertretens der sichverbergenden Ereignung. Sein als Er-eignis zeigt sich so als sich entziehende Ereignung. In diesem Entzug aber öffnet sich ein Brauchen, das sich so steigern kann, daß es das Denken in die Erfahrung eines Gebrauchtwerdens erhöht, in dem zugleich das Denken in die Gefahr einer Zerschmetterung gezogen wird. Diese Erfahrung des Gebrauchtwerdens in seiner Gefahr läßt dem Denken sich und das Gotthafte allererst auseinandertreten, indem ein Zug erfahren wird als ein Gebrauchtwerden. Diesen Zug aussagend, kann das Denken vom Sein als Er-eignis als Übereignen uod Zueignen sprechen, weil sich diese Bewegung, wenn auch in noch unentschiedener und verborgener Weise, dennoch dem Denken in der Erfahrung eines Zuges in ein Gebrauchtwerden zeigt. Damit ist nicht mehr spekulativ über ein Gottesverhältnis nachgedacht, sondern eine denkerische Erfahrung des Zuges in eine Gefahr eines Gebrauchtwerdens sprachlich gefaßt. Dieser Sachverhalt wird nur dann denkerisch Erfahrung, wenn das Über- und Zueignen nicht als abstrakte Struktur vorgestellt wird, sondern in der sich entziehenden Ereignung das Gebrauchtwerden erfahren wird, welches dann denkerisch ausgesagt als ein Überund Zueignen gefaßt werden kann. Mit dieser ersten Entfaltung der Bezüge von Mensch und Gotthaftem haben wir das weiteste Auseinandertreten in der Ent-scheidung behandelt. Damit ist die Bahn des Denkens der Ent-scheidung in der Ereignung vorgezeichnet. In der später folgenden, genaueren Darlegung des Gotthaften wird sich zeigen, daß Heidegger nicht bei dieser ersten Fassung des noch unentschiedenen Brauchens und Gebrauchtwerdens stehen bleibt. Da jedoch zunächst das Denken der Entscheidung und des Ereignisses zu entfalten ist, wird der Bereich des Gotthaften im folgenden meist abgeblendet, auch wenn diese Bahn des Zwischen von Mensch und Gott mitthematisch bleibt, um sie am Ende des Ganzen dieser Arbeit in ihrem tieferen Geschehen vor dem Hintergrund des gesamten Denkens des »Beiträge« entfalten zu können.
d) Die Seinsverlassenheit in der Ent-scheidung Im Denken der Ent-scheidung als Erfragen der Wahrheit des Seins zeigt sich aus dem bisher Entfalteten das seinsgeschichtliche Wesen der Ent-scheidung in der ersten Ausfaltung als Lichtung für das Sichverbergende. Als sichverbergend lichtend wird die Ereignung erfahren. Das Sichverbergen als Entzug erfahren, nennt Heidegger auch die Erfahrung der Seinsverlassenheit. Im Hinblick auf das vorstellende Denken und das Denken der Ent-scheidung sind verschiedene Momente dieser Seinsverlassenheit abzuheben. Das vorstellende Denken ist sich selbst klar gegeben in der Weise seines Vollzuges und der
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Nachdenkbarkeit seiner Bedingungen, aber seine Herkunft bleibt ihm selbst dunkel, d. h. wird ihm nicht zur Frage. Hat sich dem Denken aber Sein als sich entziehende Ereignung gezeigt, so wird dem Denken deutlich, daß das vorstellende Denken seinsvergessen ist, weil es aus sich heraus nicht zur Frage nach dem Sein kommt und kommen kann. Diese Seinsvergessenheit, die herrscht, weil sich das Denken selbstverständlich ist, wird aber durch die erste Erfahrung des Seins als sich entziehender Ereignung deutlich als rückgegründet in der Seinsverlassenheit der Ereignung. Damit zeigt sich dem denkerischen Blick eine erste Weise, wie Sein als Er-eignung geschieht. Es geschieht hierin so, daß es das Denken ereignet, das Seiende als Vorgestelltes seinsverlassen, d. h. ohne gewuBte Rückgegründetheit in einer Ereignung zu entbergen. Die Weise des VorsteIlens selbst wird in der Seinsverlassenheit als eine Weise der Ereignung erfahren. Sie läßt sich begrifflich auch als Enteignung oder Enteignis fassen, da Sein als Ereignung sich hierin so gibt, daß das vorstellende Denken diese Ereignung vergiBt. Diese Weise der Seins verlassenheit leuchtet dem Denken auf, wenn es das vorstellende Denken als ereignet erfährt; eine Erfahrung, die dem vorstellenden Denken selbst entzogen bleibt, weil es im Vollzug des VorsteIlens sich befindet und ihn nur erfährt, weil es in ihm aufgeht. Von dieser Erfahrung der Seinsverlassenheit bezüglich des VorsteIlens kann aber die Erfahrung des Entzugs an ihm selbst noch unterschieden werden. Die Seinsverlassenheit kann auch im Blick auf die Zugehörigkeit zum Sein als Ereignung einer entziehend er-eignenden Er-eignung ausgelegt werden. Hier nennt das Denken die Seinsverlassenheit als erstes Aufgehen von Sein in der Erfahrung des Daß der Ereignung, das im Entzug als Seinsverlassenheit dieser Ereignung die Ereignung in verschiedenen Hinsichten dennoch schon zeigt. Zwei Weisen, die Seinsverlassenheit und das Enteignis zu erfahren, lassen sich hieraus unterscheiden. Zum einen ergibt sich die Erfahrung des vorstellenden Denkens als in sich verschlossen aufgrund der Vorgestelltheit von Sein als Seiendheit, weil dieses ihm selbstverständlich ist und zugleich Sein als Ereignung damit ungekannt bleibt. Weitergehend öffnet sich die Erfahrung der Ereignung dieses vorstellenden Denkens aus der Erfahrung der Ent-scheidung als Er-eignung. Hier erfährt das Denken die zur Seinsvergessenheit ereignende Ereignung als die Seinsverlassenheit, d. h. der Blick ist hier auf das ereignete Vorstellen gerichtet. Als zweite Weise, wenn das Denken in die Ereignung selbst hineinfragt, öffnet sich diese selbst zunächst in der Weise der Seinsverlassenheit als Entzug der Ereignung im Sinne des Enteignisses, die aber das Ereignetsein als Lichtung und die Bewegungen von Zugehörigkeit und Zugewiesenheit sowie Brauchen und Gebrauchtwerden freigibt. Hier ist der Blick in die Seinsverlassenheit als den Entzug der Ereignung gerichtet. Seinsverlassenheit ist dann nicht mehr nur die Erfahrung der Ereignung einer seinsvergessenen Weise des Denkens, sondern das Sichöffnen einer verborgenen und insofern seinsverlassenen Ereignung, die in sich aber Bewegungen für die denkerische Erfahrung freigibt, die
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entfaltet werden können. Die Ent-scheidung und das Denken des Ereignisses als Enteignis zeigt sich somit zunächst in den zwei Weisen des Aufgangs des Enteignisses zum vorstellenden Denken und des Aufgangs des Enteignisses an ihm selbst, der die ersten Bewegungen des sichlichtenden Verbergens als zögerndes Versagen der offenen Wesung des Seins als Ereignung erfahrbar werden läßt. Die offene Wesung des Seins im sichlichtenden Verbergen als das eigentlich Andersanfängliche wird sich erst im folgenden als über diese beide Weisen hinausgehende Eröffnung der Entscheidung aufweisen lassen, die hier im ersten Aufgang der Ent-scheidung noch unthematisch bleibt. Wie in den verschiedenen Weisen die Ent-scheidung von Ereignung und Ereignetsein als die Wesung von Sein geschieht, muß anhand verschiedener geschichtlicher Entscheidungen verdeutlicht werden, damit diese Wesungsmitte des Seins als die Ent-scheidung in ihrer Vielfalt an sich öffnenden und verschließenden Weisen hervortritt. Deshalb sagt Heidegger gegen Ende des 43. Abschnittes: "[ ... ] es ist ratsam, die ursprüngliche seinsgeschichtliche Auslegung der Entscheidung vorzubereiten durch einen Hinweis auf »Entscheidungen«, die aus jener Entscheidung als geschichtliche Notwendigkeiten entspringen." (ebd., S. 90)
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Im 44. Abschnitt des Vorblicks der »Beiträge« gibt Heidegger mit der Nennung von zwölf einzelnen Entscheidungen einen genaueren Einblick in dasjenige, was geschichtlich zur Entscheidung steht bzw. was an In-EntscheidungStehendem als geschichtliche Notwendigkeit aus dem im Vorherigen aufgewiesenen Wesen der Ent-scheidung entspringt, um die Ent-scheidung zu verdeutlichen. Bei der Auslegung dieser geschichtlichen Entscheidungen beschränken wir uns auf diejenigen Entscheidungen, die der Frage nach der Wahrheit des Seins nachgehen und die weiteste Entscheidung zwischen dem Menschen und dem Gotthaften berühren. 32 Zunächst ist bei der Nennung der einzelnen geschichtlichen Entscheidungen die Wortwahl Heideggers für die Entscheidungen zu beachten. Heidegger wählt für die Gegenüberstellungen jedesmal die Worte "ob" das Eine "oder" "ob" das Andere. Das "oder" beinhaltet eine Ausschließlichkeit. Das Eine schließt das Andere aus und umgekehrt. In den Entscheidungen gibt es demnach keine 32 Vgl. GA 65, S. 90/91. Die Entscheidungen zur Kunst, Geschichte und Natur werden abgeblendet, da zu diesen Bereichen nur jeweils kurze Ausführungen in den »Beiträgen« zu finden sind und sie nicht wesentlich den Hauptgedankengang bestimmen. Vgl. zur Kunst die Abhandlung: "Der Ursprung des Kunstwerks", in: HW, S. 7-68.
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Möglichkeit eines »Sowohl-als-auch«, sondern nur ein eindeutig ausschließendes »Entweder-Oder«. Auch eine Dialektik in einem synthetisierenden Dritten ist hier ausgeschlossen. So ausgelegt, wären die Entscheidungen klare Wahlmöglichkeiten zwischen dem Einen oder dem Anderen. Zu Anfang des § 3 wurde jedoch gezeigt, daß der Ort der Entscheidung nicht die Ausrichtung nach Wahlmöglichkeiten ist. Der Ort der Entscheidung wurde mit dem Verborgenen angezeigt. Das Hinausgerücktsein in das Verborgene des Fragwürdigen läßt eine Entscheidung allererst zur Entscheidung stehen. Dieser Sachverhalt muß beachtet werden, wenn Heidegger jeweils mit dem Wort "ob" beide gegenübergestellten Teile der Entscheidungen einleitet. Vor diesem Hintergrund verstärkt das "ob" vor beiden Teilen den offenen Charakter der Entscheidung in beide Richtungen, d. h. der Ausgang der Entscheidung ist offen gelassen und beide Teile stehen als zu Entscheidende offen. Es ist hiermit keine Festlegung möglich, daß eine einmal gefällte Entscheidung für eine Seite die andere auf weiteres ausschließt, so als könnte die Entscheidung einmal entschieden sein, und dann sei diese Entscheidung vorbei. Damit wird der Charakter der eindeutig ausschließenden Entscheidung aber nicht aufgehoben oder relativiert, sondern die Entscheidung wird in einen anderen Bereich als der eines endgültigen Entweder-Oders gehoben. Die Entscheidungen bleiben ausschließende, aber sie sind Entscheidungen in der Offenheit ihrer Möglichkeit, d. h. solche, die jeweils zur Entscheidung stehen. Der von der Wahlmöglichkeit abzuhebende Bereich des offen zur Entscheidung Stehenden muß bei der Auslegung der einzelnen geschichtlichen Entscheidungen mitbedacht sein. Wie in diesem Bereich das Entweder-Oder selbst verfaßt ist, wird im Anschluß an die einzelnen Entscheidungen im § 7 aufgewiesen.
a) Subjekt und Da-sein Bei der Gegenüberstellung in den ersten beiden Entscheidungen von Subjekt und Da-sein sowie der Kultur des aniTTUlI rationale entgegen der Wahrheit des Seyns im Da-sein als seiner Stätte fällt die zeithafte Bestimmung ins Auge. Der Mensch steht in der Entscheidung ob er "»Subjekt« bleiben will oder ob er das Da-sein gründet" (GA 65, S. 90) und hiermit entweder "das »rationale« als »Kultur« dauerfähig bleiben soll oder ob die Wahrheit des Seyns im Da-sein eine werdende Stätte findet" (ebd.). Diese zeithaften Bestimmungen nach Bleiben oder Werden entspringen hier der Selbstauslegung des Menschen. Die geschichtliche Bestimmung der Selbstauslegung des Menschen unserer Epoche, die Heidegger als Subjekt und aniTTUlI rationale faßt, ist von dem Gedanken der Seinsbestimmungen des Menschen nach Vorhandenheit und Wesen des Vorhandenen her zu beleuchten. Hierfür ist zu fragen, in welcher Weise Sein von jeglichem Seienden gedacht wird, so daß
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es für das Sein des Menschen zu Seins bestimmungen nach Vorhandenheit kommt. Das Einfachste, was sich von jeglichem Seienden sagen läßt, scheint die Bestimmung zu sein, daß es ist. Dieses Wirklichsein kann gegenüber anderen Modi des Möglichseins oder Notwendigseins, wie Kant es vollzieht, abgegrenzt werden. Diese Modi sind Weisen, wie jegliches Seiende ist. Das Wiesein in diesen verschiedenen Modi ist dabei aber von der Bestimmung des Wirklichseins im Sinne von Anwesenheit bzw. Vorhandenheit geleitet, da die anderen Modi Abwandlungen der Anwesenheit als Vorhandenheit darstellen. Vom Wiesein ausgehend kann gefragt werden, was das Seiende in seinem möglichen Wechsel von Anwesenheit und Abwesenheit gleichbleibend im Wesen bzw. Allgemeinen oder als Substanz ist. Hiermit ergibt sich eine Scheidung der Seinsbestimmungen nach Wiesein und Wassein. Das Wassein kann als allgemeine Gattung verstanden werden, die sich in spezifische Arten dieser Gattung aufteilen läßt. Für die Frage, was der Mensch ist, ergibt sich die Bestimmung seiner Gattung als animal bzw. Lebewesen mit der artspezifischen Auszeichnung des rationale als des Denkenkönnens. Diese mittelalterliche ontologische Bestimmung steht in den Bahnen von existentia als Wiesein im Sinne von Vorhandenheit und essentia als Wassein 33 , das als animal rationale34 für den Menschen gefaßt wird. Zu dieser Bestimmung stellt Heidegger in der zitierten Entscheidung die des Subjektes hinzu, die die spezifisch neuzeitliche Auslegung des Wesens des Menschen ausmacht. Bei Descartes erfolgt der neuzeitliche Umschlag zur Bestimmung des Menschen als sich gewissen Subjekts, die aber von den mittelalterlichen ontologischen Bestimmungen nach· existentia und essentia geleitet bleibt. Der Mensch kann sich nach Descartes seiner Vorhandenheit als "Ich bin" vergewissern durch das "Ich denke". Das Wassein des "ego sum" wird in den Weisen der "cogitationes" von Descartes neu bestimmt. Das Wiesein des Men-
33 Vgl. zur mittelalterlichen These des Seins hinsichtlich existentia und essentia die Darstellung und Auslegung Heideggers in: Heidegger, Martin, Grundprobleme der Phänomenologie, Gesamtausgabe Bd. 24, Frankfurt a.M. 2 1989, 2. Kapitel, §§ 10, 11, S. 108-158 (im folgenden zitiert als: GA 24). 34 Die froheste Überlieferung der Fassung des Wesens des Menschen als animal rationale, die nach Heidegger die bis heute vorherrschenden Seinsbestimmungen des Menschen leitet, läßt sich bei Seneca als dessen Übersetzung von Aristoteles ': "logon de monon anthropos echei ton zoon" (Aristoteles, Politica, 1253 a 9,10), finden: "Rationale enim animal est homo" (L. Annaei Senecae ad Lucilium epistulae morales. Recognovit et adnotatione critica instruxit L. D. Reynolds, Oxford 1965, Ep. 41, 8). Die von Heidegger oftmals gebrauchte Wendung des zoon logon echon als die entscheidende Wesensbestinunung des Menschen bei Aristoteles, von der ausgehend die gesamte Metaphysik bestimmt ist, läßt sich in dieser Gestalt nicht bei Aristoteles finden, sondern ist eine eigenständige Prägung Heideggers aus der zuvor genannten Aristotelesstelle.
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schen bleibt aber nach Vorhandenheit bestimmt, nun in der Weise des sich seiner selbst in seiner Vorhandenheit gewissen Menschen. 35 Heidegger setzt im Zitat das Subjekt in Anführungszeichen. Damit ist angedeutet, daß er mit diesem in dieser Entscheidung genannten Subjekt nicht nur das ego sum der Philosophie Descartes' meint. "Subjekt" nimmt Heidegger als Grundbestimmung des neuzeitlichen Menschen überhaupt. Dafür ist im Subjekt nicht primär das Subjektive im Unterschied zum Objektiven oder das Individuelle zu hören. Subjekt, lat. subiectum, das Zugrundeliegende, meint eine Auslegung des Seins des Menschen auf etwas dauernd und insofern allgemein Zugrundeliegendes. Dieser Leitfaden für das Sein des Menschen, den Heidegger als Auslegung nach beständiger Anwesenheit faßt, durchzieht auch die auf Descartes folgenden Bestimmungen des Seins des Menschen. Von dieser Ausrichtung aller bisherigen Seinsbestimmungen für den Menschen nach beständiger Anwesenheit setzt sich Heideggers Bestimmung des Seins des Menschen als Da-sein ab. 36 Die Auslegungsweise des Seins des Seienden Mensch nach einem Zugrundeliegenden hat ihren Ursprung in der Weise, wie Sein eines Seienden überhaupt verstanden wird. Den entscheidenden Grundzug bei den bisherigen Bestimmungen des Seins des Seienden Mensch sieht Heidegger in einer Rückübertragung der Auslegung von Sein anhand des begegnenden Seienden auf das Sein des Menschen. Damit wird das Da-sein, als die primäre Weise des Menschen zu sein, übersprungen. Dieses Überspringen ist kein zufälliges, sondern entspringt der "Tendenz, das eigene Sein aus dem Seienden her zu verstehen, zu dem es [das Dasein] sich wesenhaft ständig und zunächst verhält" (SuZ, S. 15). Um ursprünglicher nach den Seins bestimmungen des Menschen zu fragen, bedarf es daher einerseits der Frage nach dem Sein als solchem und andererseits der Frage, wie dem Menschen sein Sein offen steht, um eine rückübertragene Seinsbestimmung zu unterlaufen. Heidegger stößt mit dieser Frage in einen Erfahrungsbereich von Sein, der vor der Auslegung nach beständiger Anwesenheit als Vorhandenheit und Wassein als Art einer Gattung liegt. Das "Da-" im Wort 35 Vgl. zur Abhängigkeit Descartes' von der mittelalterlichen Ontologie und ihren Folgen für seine neue Bestimmung der Seinsweise des Menschen: SuZ, § 6, S. 24/25 und § 10, S. 45/46 sowie in: Heidegger, Martin, Einführung in die phänomenologische Forschung, Gesamtausgabe Bd. 17, Frankfurt a.M. 1994, den 2. Teil, S. 109-246 und die §§ 44, 45, S.247-253. Vgl. zum Vorrang des Wieseins als Vorhandenheit innerhalb der Weltanalyse von »Sein und Zeit«: SuZ, B. Die Abhebung der Analyse der Weltlichkeit gegen die Interpretation der Welt bei Descartes, §§ 19-21, S. 89-101. 36 Vgl. zur Abgrenzung gegenüber Kant, dem deutschen Idealismus, aber auch Schelers Personbegriff: SuZ, § 6, bes. S. 22 und § 10: "Jede Idee von »Subjekt« macht noch falls sie nicht durch eine vorgängige ontologische Grundbestimmung geläutert ist - den Ansatz des subjectum (hypokeimenon) ontologisch mit, so lebhaft man sich auch ontisch gegen die »Seelensubstanz« oder die )>Verdinglichung des Bewußtseins« zur Wehr setzen mag." (SuZ, S. 46)
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"Da-sein" sagt aus, daß der Mensch schon in eine Offenheit versetzt ist, die ihn sein eigenes Sein sowie das Sein alles nichtdaseinsmäßigen Seienden verstehen und auslegen läßt. Dieser Bereich der vorgängigen Offenheit wird übersprungen, wenn nicht eigens nach Wahrheit und Sein gefragt wird, sondern die Seinsbestimmungen nach Vorhandenheit des Subjekts im weitesten Sinne und seines Wasseins als denkendes Lebewesen leitend bleiben. Hierbei handelt es sich um den Vollzug des Denkens, der die Offenheit überspringt und verdeckt. Die selbstverständlichste Selbstauslegung des neuzeitlichen Denkens, ob thematisiert oder unthematisch vollzogen, ist diejenige nach einem zugrunde liegenden Subjekt, aus der die Trennung zwischen Subjekt und Objekt entspringt. Der Mensch kann sich aus dieser Bestimmung in Abgrenzung zur "Welt" denken. Mit dieser Scheidung denke ich aus einem Subjekt und denke mich im Gegensatz zum Objekt. Ich kann durch diese Unterscheidung und Grundlegung mich ständig meiner selbst vergewissern. Unthematisch lege ich damit mein eigenes Sein nach beständiger Anwesenheit aus. Die Abwesenheit im Phänomen des Todes ist in einem solchen Denken nur zugänglich als ein vorgestellter Modus der Anwesenheit. Übersprungen bleibt die Erfahrung dessen, woraus ich mich von der» Welt« scheide und woraus ich mich meiner mit dem Subjekt im Sinne des Zugrundeliegenden vergewissere. Das Woraus des Vollzuges geht im Vollzug unter und bleibt von seinem Ergebnis der Scheidung aus nicht mehr zu erfragen. In dieser Denkungsart ist das Bleiben die leitende Seinsbestimmung. Das Subjekt ist ein Bleibendes als Zugrundeliegendes, weil im Denkvollzug seine Vorhandenheit ständig sicherbar ist. Die Kultur, die in der zitierten Entscheidung angesprochen wird, bleibt insofern dauerfähig, weil sie sich nach dem Bleiben als Versicherbarkeit ausrichtet. Das Denken in Ausrichtung nach einem Bleibenden wird hier von Heidegger als Denken des "rationale" benannt. Heidegger nennt mit dem Begriff der ratio dasjenige Denken, das richtig über Seiendes aussagen kann. Das Seiende wird in einer solchen Denkungsart das in seiner Richtigkeit Aussagbare. Der Mensch ist demnach der richtig aussagen Könnende. d. h. das Seiende mit dem Vermögen der ratio. Der Maßstab der Richtigkeit ist hier Wahrheit als beständige Wahrheit, die reproduzierbar ist. Dauerfahig wird eine Kultur, die aus einem solchen Denken entspringt, dadurch, daß die sie leitenden Bestimmungen diejenigen nach dauerhafter, d. h. immer wieder reproduzierbarer Richtigkeit sind. Selbstverständlich ist hierbei, daß Seiendes in seiner Wahrheit als Richtigkeit ansprechbar ist, welche Formen diese Richtigkeit auch annehmen mag. Diese Möglichkeit des Ansprechenkönnens wird unthematisch vorausgesetzt und im Vorstellen der Gegenständlichkeit vollzogen. Demgegenüber steht die Daseinsgründung als Gründung einer werdenden Stätte der Wahrheit des Seins. Das Da-sein zu gründen, heißt zunächst, das Sein allererst zu erfragen anstelle des selbstverständlichen Vorstellens des Seins des Seienden und einer Auslegung des Seins nach Beständigkeit. Das Da-sein als Weise des Menschen zu sein verlangt sein Sein sowie das Sein alles nichtda-
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seinsmäßigen Seienden, aus dem Zuwurf zu entwerfen, aus dem erst ein Selbst und Seiendes in einer Wahrheit entspringen können. Die werdende Stätte der Wahrheit des Seins weist in das Geschehen von Wahrheit im Zeit-Spiel-Raum. Vorblickend angedeutet heißt dies, daß Wahrheit nur in einem noch zu entfaltenden Sinne augenblickshaft geschieht und erfragt werden kann im Gegensatz zu einer Auslegung von Wahrheit nach einem allgemein Beständigen und insofern Zeitlosen. Die werdende Stätte der Wahrheit des Seins wird sich als der jeweils augenblickshaft geschehende Zeit-SpielRaum aufweisen lassen. 37
b) Seiendes, Sein und Wahrheit Mit diesen vorläufigen Ausführungen werden die nächsten drei Entscheidungen bezüglich des Seienden, des Seins und der Wahrheit berührt. Die erste Entscheidung dieser drei nennt in ihrem ersten Teil die Weise, wie bisher nach dem Sein gefragt wurde: "ob das Seiende das Sein als sein »Generellstes« nimmt und damit der »Ontologie« ausliefert und verschüttet" (GA 65, S. 90). Diese Fragerichtung nennt Heidegger die metaphysische, die das Denken vom ersten Anfang der Philosophie bis heute bestimmt. Wenn nach dem Sein eines Seienden gefragt ist, wird traditionell, wie zuvor ausgeführt, nach seinem Wie- und Wassein gefragt. Sein Wassein oder Wesen wird als ein Allgemeines oder Generelles bestimmt, d. h. nach einem Generellsten, das dieses spezielle Seiende zu diesem speziellen Seienden macht. Diese Fragerichtung nennt Heidegger das Fragen nach der Seiendheit des Seienden. Die traditionelle Ontologie fragt nach dem allgemeinen Sein von jeglichem Seienden und ist insofern die Lehre, wie die Seiendheit zu fassen ist. Mit dieser Denkrichtung über das Seiende hinaus sein Sein und dessen Verhältnis zum Denken zu bestimmen, ist die Erfahrung des Seins als Zuwurf schon übersprungen bzw. ist das Sein in diesem Sinne schon verschüttet. Das Seiende ist hierbei der Anfang für das Denken. Um aber in den Bereich des vorgängigen Zuwurfes des Seins zu gelangen, muß sich das Denken umkehren. Eine solche Umkehrung des denkerischen Blicks wird verschüttet, wenn das Sein vom Seienden aus als dessen Generellstes befragt wird.
In dem zweiten Teil dieser Entscheidung wird die gekehrte Denkrichtung folgendermaßen charakterisiert: "oder ob das Seyn in seiner Einzigkeit zum Wort kommt und das Seiende als Einmaliges durchstimmt" (ebd., S. 90f). Die Einzig37 Das Werden in der werdenden Stätte wird von Heidegger in den »Beiträgen« deutlich von Nietzsches Werden unterschieden. Werden ist hier nicht wie bei Nietzsehe entgegen dem Sein als Seiendheit das Leben, sondern nennt vorläufig die Geschehnisweise des Seins als zeithaft verfaßte (vgl. zu Nietzsehe: GA 65, S. 181).
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keit besagt zunächst die völlige Fremdheit des Seins gegenüber dem Seienden. Das Sein ist unvergleichbar mit dem Seienden. Es ist nicht an ihm ablesbar oder von ihm ausgehend erschließbar oder abstrahierbar. Sein »ist« einzig, d. h. west 38 geschieden vom Seienden als dessen es eröffnende Offenheit und Verbergung. Das Sein als die Ereignung des Zu wurfes west einzig in seiner Geschiedenheit von dem durch seinen Zuwurf im Entwurf offen begegnen könnenden Seienden. Wenn das Seiende aus dem erfahrenen Zu wurf des Seins als Ereignung entborgen werden kann, durchstimmt das Sein das Seiende als Einmaliges. Das Sein west so einmalig anstelle eines allgemeinen Wesens des Seienden. Damit ist auch auf die Zeithaftigkeit des Seins verwiesen. Das Seiende wird so nicht mehr im Nachhinein nach der Zeitlosigkeit eines generellsten Wesens bestimmt. Im Zuwurf geschieht dementgegen Sein einmalig, d. h. nur im jeweiligen Entwurf von Wahrheit aus dem Zu wurf. Damit kommt der Wahrheit von jeglichem Seienden eine einmalige, d. h. augenblickshafte zeitliche Bestimmung zu. Die Wahrheit von jeglichem Seienden wird nicht mehr anhand eines Allgemeinen bestimmt, sondern nach dem jeweiligen Grad der Durchstimmtheit der Ereignung.
c) Die griechische Wahrheitsfrage und der Einsturz der aletheia Über die Wahrheit heißt es in der folgenden Entscheidung weiterführend: "ob die Wahrheit als Richtigkeit in die Gewißheit des VorsteIlens und Sicherheit des Rechnens und Erlebens entartet oder ob das anfänglich ungegründete Wesen der aletheia als die Lichtung des Sichverbergens auf einen Grund kommt-" (ebd., S. 91) Mit den hier genannten Bestimmungen der "Wahrheit als Richtigkeit" und dem "anfänglich ungegTÜndeten Wesen der aletheia" verweist diese Entscheidung auf die Besinnung über den ersten Anfang der Philosophie, die in den »Beiträgen« in der Fügung "Das Zuspiel" ihren Ort hat. 39 Die Wahrheit als Richtigkeit wird im Zitat von der Gewißheit des Vorstellens unterschieden. Damit richtet sich der Blick auf die platonisch-aristotelische 38 Heidegger wählt für die Weise des Seins zu sein das Verb "west" anstelle des "ist", um den Vorhandenheitscharakter, der im "ist" liegt, abzuwenden. 39 Vgl. in der Fügung "Das Zuspiel" besonders die Abschnitte 97, 100, 102, 103, 107, 110 und 111 und innerhalb der Fügung "Die Gründung" zur Frage nach der Wahrheit die Abschnitte 210 und 211. Da jedoch in diesen Abschnitten meist die weiteren Auswirkungen des Denkens des ersten Anfangs der Griechen mitentfaltet werden, bezieht sich die folgende Darstellung weitestgehend auf die enger auf Platon und Aristoteles begrenzte Vorlesung von 1937/38 (Heidegger, Martin, Grundfragen der Philoso~hie. Ausgewählte »Probleme« der »Logik«, Gesamtausgabe Bd. 45, Frankfurt a.M. 1992 (im folgenden zitiert als: GA 45».
5 Müller
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Wahrheitsfrage und setzt diese von der neuzeitlichen Frage nach Wahrheit als Gewißheit bei Descartes und im Anschluß hieran von Kant und dem heutigen technischen Denken ab. Heidegger behandelt in der Vorlesung vom Wintersemester 1937/38 »Grundfragen der Philosophie« die platonisch-aristotelische Wahrheitsfrage, um an ihr einerseits das anfänglich ungegründete Wesen der aletheia aufzuweisen und andererseits die Verschüttung der aletheia zu veranschaulichen. Er unterscheidet hierbei zwei Weisen von Wahrheit, die noch in der platonisch-aristotelischen Wahrheitsfrage aufleuchten: die Unverborgenheit als aletheia und die homoiosis als richtige Angleichung der Aussage. Heidegger wählt diesen Abschnitt der griechischen Philosophie4O , da in Folge der platonisch-aristotelischen Wahrheitsfrage die aletheia als Unverborgenheit in Vergessenheit gerät und die homoiosis als richtige Angleichung der Aussage die allein leitende Wahrheits frage in der Philosophie bleibt. In der Nennung der Wahrheit als Richtigkeit im Zitat ist demnach die aletheia als Unverborgenheit noch mitgedacht. Für die folgende Darstellung des ersten Anfangs und des Übergangs zum Vergessen der aletheia muß vorab bemerkt werden, daß sie Heideggers Entfaltung der platonisch-aristotelischen Wahrheitsfrage folgt. Heidegger befragt das griechische Denken hinsichtlich des in ihm Geschehenden. Das Geschehen der aletheia und ihrer Verschüttung ist im griechischen Denken so explizit nicht thematisiert. Es wird aber aufweisbar, wenn der denkerische Blick auf das Woraus und das Wie des griechischen Denkens achtet, was schon eine nicht mehr erstanfängliche Erfahrung des Denkens beinhaltet. Wie entfaltet sich nach Heidegger die Wahrheits frage im ersten Anfang, so daß die erfahrene aletheia als Unverborgenheit verschüttet wird? Heidegger faßt die Grundstimmung des ersten Anfangs als das Erstaunen 41 , das von einer Not durchstimmt ist, das Bedrängende in einer bestimmten Weise zu bewältigen. 42 Das Erstaunen bezieht sich darauf, daß Seiendes als Seiendes ist, d. h. "daß es ist, was es ist.; [... ] to on he on" (GA 45, S. 169). Es versetzt inmitten des Seienden dergestalt, daß es vor das Seiende im Ganzen versetzt. Das Seiende im Ganzen nötigt in die Anerkenntnis seiner Ungewähnlichkeit, daß es ist. Diese Ungewöhnlichkeit bezieht sich auf Seiendes überhaupt. Ungewöhnlich wird, wie Seiendes überhaupt dazu kommt, daß es in dem, was es ist, offen steht. Seine Weise zu sein wird ungewöhnlich. Sie wird in zweifacher Hinsicht
40 VgI. zur Auswahl der platonisch-aristotelischen Wahrheitsfrage für die Untersuchung der Vorlesung im Anhang: "Aus dem ersten Entwurf: 9. Gliederung der geschichtlichen Erinnerung nach fünf Stufen der Besinnung", GA 45, S. 221-223. 41 Heidegger übersetzt das griechische thaumazein mit Erstaunen (vgl. GA 45, S. 155). Zur Klärung der spezifischen Weise dieses Erstaunens gegenüber den Weisen des Sichverwunderns, Bestaunens und Staunens vgl.: GA 45, § 37, S. 157-165. 42 Vgl. zum Verhältnis von Not und Grundstimmung: GA 45, §§ 35, 36, S. 151-157.
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ungewöhnlich. Daß Seiendes überhaupt ist und daß es als dasjenige, was es ist, offen steht, wird ungewöhnlich. Das Ungewöhnliche ist die Unverborgenheit, aletheia, als das Offene des Seienden als Seiendes. Diese Offenheit des Seins des Seienden überhaupt nötigt das Denken, indem sie sich andrängt. In dieser Not ist das Denken einerseits genötigt, einen Stand in dem Andrang zu finden. Andererseits ist das Denken genötigt, diese sich andrängende Offenheit selbst zu einem Stand zu bringen. Diese zweifache Not entspringt der Erfahrung des Ungewöhnlichen. Das Ungewöhnliche ist das Unsichere und Unvertraute. Im Ungewöhnlichen liegt, daß es fremd ist und deshalb erstaunen läßt. Die Gefahr, die hieraus wesenhaft im Ungewöhnlichen herrscht, besteht zum einen darin, daß seine Ungewöhnlichkeit nicht zu fassen ist, weil sie zu ungewöhnlich ist. Zum anderen liegt in ihm die Gefahr, daß es als Ungewöhnliches nicht zu fassen ist, weil es sich beim Fassen entzieht. Das Ungewöhnliche ist deshalb eine zweifache Not, weil es einerseits nötigt, es überhaupt zu fassen, und andererseits bei diesem Fassen droht, den Charakter des Ungewöhnlichen zu verlieren. Der genötigte Stand im Andrang entspringt aus der Not, überhaupt etwas vom Ungewöhnlichen zu fassen. Der genötigte Stand des Andrangs, d. h. die Offenheit selbst zu einem Stand zu bringen, entspringt aus der Not, daß diese Offenheit des Ungewöhnlichen droht, sich wieder zu entziehen. Um dieser zweifachen Not zu entsprechen, wird die ungewöhnliche Weise, wie Seiendes ist, d. h. sein Sein als Seiendheit, im Wort physis gefaßt. Physis meint: das von sich her Aufgehende. Dem Charakter des ungewöhnlichen Aufgangs der Offenheit der Seiendheit des Seienden wird so versucht zu entsprechen. Der Aufgang wird weiter bestimmt als der Anblick, eidos, den die physis in ihrem Aufgang gibt. Dieser Anblick, eidos, in der ungewöhnlichen Unverborgenheit, aletheia, muß zu einem Stand gebracht werden, da er als ungewöhnlicher in der genannten zweifachen Weise droht, nicht zu fassen zu sein und sich zu entziehen. Aus dieser Not folgen vier Bestimmungen des Anblicks, eidos, um den Anblick zu einem Stand zu bringen: 1. das Ständige im Gegenhalt zum Wechsel und Zerfall, 2. das Anwesende gegenüber dem Abwesenden und dem Schwund, 3. das Sichaujstellen in der Gestalt und 4. das Sichbegrenzen im Aujstellen. 43 Der Anblick, eidos, gibt diese vier Bestimmungen, die als Bestimmungen der idea gefaßt werden. Als idea bestimmt sich die Seiendheit, ousia, des Seienden als solchen. Die physis wird als unverborgen im Hervortreten ihres Anblicks, eidos, in den Bestimmungen dieses Anblicks als idea zu einem Stand gebracht. Die entscheidende Erfahrung ist hierbei, daß das Seiende als solches von sich her die ungewöhnliche Unverborgenheit gibt und zu einem Stand nötigt. Aus dem Andrang der ungewöhnlichen Unverborgenheit selbst
43
5'
Vgl. GA 45, § 32, S. 128-131, bes. S. 130.
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wird die physis als das Aufgehende und in den genannten Weisen Waltende angesprochen. Wenn die Unverborgenheit als Wahrheit der physis angesprochen wird, ist diese Wahrheit insofern ein Charakter, den das Seiende als solches von ihm selbst her gibt. 44 Das Seiende als solches hält sich in der Helle der aletheia dergestalt, daß es als physis in den Weisen der idea offen bzw. unverborgen aufgeht. Die aletheia wird aber in der griechischen Philosophie nicht eigens hinsichtlich ihrer Herkunft befragt. Ihr Wesen bleibt insofern, wie in der zitierten Entscheidung angeführt, ungegründet, weil die aletheia zwar aufleuchtet, aber dazu nötigt, dasjenige, was in ihr aufleuchtet, als physis zu einem Stand zu bringen. Die physis geht zwar nur in der aletheia auf. Aber das Aufgehen ist so übermächtig, daß nur die physis an ihr selbst befragt wird. Die aletheia gibt den Anblick der physis zwar frei, nötigt aber so zu keiner Frage, wie sie selbst verfaßt ist. Die aletheia wird im offenzuhaltenden Aufgang des Seienden als solchen ersehen, und dieses wird als offen erfahren, ohne zu fragen, woraus es offen steht. Die Offenheit der Seiendheit des Seienden wird als ungewöhnlich erfahren, aber es wird nicht in diese Offenheit selbst hineingefragt. Der Andrang des Ungewöhnlichen der aletheia ist so überwältigend, daß das Denken nicht den Andrang selbst befragt, sondern in diesem zuerst zu einem Stand kommen muß und den Andrang selbst damit zu einem Stand bringen muß. Das Denken wird durch diesen Aufgang genötigt, den Menschen als den Vernehmenden und Bewahrenden des Seienden als solchen zu erfahren. Der Mensch ist in diesem Aufgang vom Aufgehenden her miteröffnet und mitgetragen. 45 Durch diese Nötigung aus dem Seienden als solchen wird der Mensch aber auch der Andere zur physis als der Vernehmende und Bewahrende dieser. Im Gegenhalt zum Andrang der physis wird die techne zum Fassen des von sich her aufgehenden Seienden als solchen. Die techne ist zunächst nur Vollzug des Vernehmens des Seienden als solchem und gehört zum Andrang der physis ~ls durch diese Genötigtes. Die techne ist vom Aufgang der physis selbst gefordert. In der techne liegt aber die Gefahr des Eigenmächtigen, da sie das Vernehmen als das Andere zur physis ist und mit ihr der Vernehmende der Andere zur physis wird. Die Gefahr liegt in dem Heraustreten aus der Nötigung, das aber in dieser selbst angelegt ist, da sie zum Fassen nötigt. Dieser Gefahrcharakter entspringt aus der Not des Denkens, einen Stand im Andrang zu finden.
44 Vgl. zur Schwierigkeit des Nachvollzugs der griechischen Erfahrung des Aufgehens des Seins des Seienden von ihm selbst her. GA 45, § 18 b), S. 68-71. 45 Vgl. auch GA 45, § 33, S. 137-139 und in Bezug auf Parmenides in "Zeit des Weltbildes": "Vom Seienden angeschaut, in dessen Offenes einbezogen und einbehalten und so von ihm getragen, in seinen Gegensätzen umgetrieben und von seinem Zwiespalt gezeichnet sein: das ist das Wesen des Menschen in der großen griechischen Zeit." (in: HW, S. 83f, im folgenden zitiert als: ZdW)
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Die zweite Hinsicht der Gefahr des Heraustretens aus der Nötigung entspringt der Not, den Andrang selbst zu einem Stand zu bringen. Das ernötigte Standgewinnen im Andrang des Aufgangs der physis bringt diesen Andrang selbst zu einem Stand, indem es ihn als unverborgenen Anblick, eidos, faßt. Die vier Weisen des Anblicks der idea, die genötigte Weisen sind, um den Andrang sich nicht entziehen zu lassen und in dieser Hinsicht ihn zu einem Stand zu bringen, verfestigen den Aufgang. Dadurch daß diese Weisen festgestellt werden können, kann das Denken zum Sichauskennen in diesen Weisen werden. Aus diesem Standfinden und StandfeststeIlen ergibt sich das Herausgerücktsein aus dem Andrang. Die techne, die die idea genötigt festgestellt hat, wandelt sich aus diesem Stand. Die techne kann jetzt zur Angleichung, homoiosis, des Aussagens an die idea werden. Die Weisen der idea werden so für die techne zu den leitenden Bestimmungen für die Frage nach der Wahrheit. Im Sichauskennen in diesen Weisen rückt die Wahrheitsbestimmung aus der ungewöhnlichen Unverborgenheit heraus, da Wahrheit sich jetzt an den Weisen der idea mißt. Die aLetheia als die sich andrängende, aufgehende, ungewöhnliche Unverborgenheit des Seienden als solchen wird so verschüttet. ALetheia als Wahrheit ist so nicht mehr die Unverborgenheit, sondern die Richtigkeit der Angleichung, homoiosis, an die idea. Die techne, vormals das ernötigte Fassen des Andrangs, kann zum richtigen Aussagen über die idea werden. Damit rückt die aletheia in den Gesichtskreis der techne, hingegen sie vormals als Unverborgenheit die techne allererst ernötigte. Dieser Abfall vom nötigenden Andrang der ungewöhnlichen Unverborgenheit ist der Einsturz der aLetheia. Der erste Anfang als erster Andrang und Aufgang der ungewöhnlichen Unverborgenheit kommt damit zu seinem Ende. Er kommt zum Ende, weil er kein Anfang mehr ist, d. h. jetzt, weil der Andrang zum Anfang verschüttet wird und somit der Anfang aufhört, andrängender Anfang zu sein. In diesem Ende des ersten Anfangs ist die Wahrheitsfrage zwischen das Denken und die Seiendheit, deren Auslegung nach der idea sicher geworden ist, gerückt. Das Denken wird zum vorgängigen Vorblick auf den Anblick, idea. Aus diesem vorblickenden Anblick kann das Denken das Seiende als dasjenige Seiende, das es ist, einigen. Diese im Denken gewonnene Sicherheit, gemäß des vorgängigen Vorblicks auf den Anblick die Wahrheit des Seienden bestimmen zu können, läßt die platonisch-aristotelische Wahrheitsfrage zur Frage nach der richtigen Angleichung der Aussage an die idea werden. Das platonischaristotelische Fragen nach der Wahrheit bleibt jedoch noch ein Denken aus der Unverborgenheit, weil es den Anblick aus dem unverborgen hervortretenden Aufgang des Seienden als solchen vernimmt.
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d) Die neuzeitliche Wahrheits bestimmung als Gewißheit des Vorstellens Von der Wahrheit als Richtigkeit, in der noch die aletheia miterfahren ist, unterscheidet Heidegger in dem ersten Teil der Entscheidung die Gewißheit des Vorstellens, die mit Descartes die Neuzeit beginnen läßt. Im Vortrag "Die Zeit des Weltbildes" charakterisiert Heidegger den Übergang zur Neuzeit als Übergang zur Welt als Bild und zum Menschen als Subjekt. 46 Dafür entscheidend ist der Gedanke des Grundes. In der platonisch-aristotelischen Wahrheitsfrage wird, um die Offenheit als das hervortretende Aufgehen der physis zu einem Stand zu bringen, das Ersehen des Wesens des Seienden gegründet. Der Anblick des Seienden als solchen wird als Grund für es gelegt, um es in seiner Offenheit zum Stand zu bringen. Dieser Grund ist die idea als das Wesen des Seienden, die als Grund gesetzt wird aus dem hervortretenden Aufgehen. Das Wesen als idea wird als das Zugrundeliegende, hypokeimenon, bestimmt. Es ist das Allgemeine, koinon, das als hypokeimenon zugrunde liegt. Zur vorrangigen Bestimmung des Grundes werden die ersten beiden Weisen der idea: das Ständige im Gegenhalt zum Wechsel und Zerfall und das Anwesende gegenüber dem Abwesenden und dem Schwund. Das Wesen des Seienden als solchen wird als das beständig Anwesende des Anblicks in diesem ersehen und als beständig anwesender Anblick gegründet. Dieser Grund ist das zu Grunde Liegende, hypokeimenon, im aufgehenden Anblick des Seienden selbst und von diesem her bestimmt. Der Mensch ist in dieser Bestimmung noch der Vernehmende der Unverborgenheit des Seienden als solchen, auch wenn er den Grund des unverborgenen Seienden als solchen in dessen Aufgehen als allgemeines Wesen nach beständiger Anwesenheit legt, um das Aufgehen zu einem Stand zu bringen. In der Neuzeit hingegen wird der Mensch in seiner sich selbst gewissen Vorhandenheit zum subiectum, d. h. zum zu Grunde Liegenden. Im subiectum klingt zwar noch das hypokeimenon nach. Aber es hat eine entscheidende Wandlung erfahren. Heidegger sieht diesen Wandel in dem Hereinspielen der christlichen Theologie in die Philosophie begründet. Durch das Zusammengehen der griechischen Fragen nach Wahrheit und Grund und der christlichen Theologie des Schöpfergoues und der absoluten Heilsgewißheit erfahren die Bestimmungen der Wahrheit und des Grundes eine Umwandlung in ein Denken des absoluten Grundes und der absolut gewissen Heilsgewißheit. Die Thematik des Schöpfergoues muß zunächst abgeblendet werden, um sie an einer späteren Stelle einzuholen. Zunächst ist die absolute Heilsgewißheit in ihrer Bedeutung für Descartes zu beleuchten. In der cartesianischen Befreiung der Philosophie von der Gebundenheit an die kirchliche offenbarungsmäßige
46 "Daß die Welt zum Bild wird, ist ein und derselbe Vorgang mit dem, daß der Mensch innerhalb des Seienden zum Subjectum wird." (ZdW, S. 85)
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Heilsgewißheit wird trotz dieser Befreiung die Bestimmung der Wahrheit als absolute Gewißheit übernommen: "Diese Befreiung befreit sich jedoch, ohne es zu wissen, immer noch aus der Bindung durch die Offenbarungswahrheit, in der dem Menschen das Heil der Seele gewiß gemacht und gesichert wird. Die Befreiung aus der offenbarungsmäßigen Heilsgewißheit mußte daher in sich eine Befreiung zu einer Gewißheit sein, in der sich der Mensch das Wahre als das Gewußte seines eigenen Wissens sichert." (ZdW, S. 99)
Gesucht wird weiterhin ein absolut unerschütterlicher Grund als Gewisses. Dieser wird im vorstellenden Denken in der Mitvorgestelltheit des vorstellenden Menschen gefunden: "Das Gewisse ist ein Satz, der aussagt, daß gleichzeitig (zugleich und gleichzeitig dauernd) mit dem Denken des Menschen er selbst unzweifelbar mit anwesend, d. h. jetzt: sich mitgegeben sei." (ebd., S. 1(0)
Die Vorhandenheit des vorstellenden Menschen, die im Vorstellen mitgegeben ist, trägt die absolute Gewißheit und wird zum subiectum, d. h. zum zu Grunde Liegenden als oberste Wahrheit. Die Vorstellungen über das Seiende finden so ihren gewissen Grund in der Selbstgewißheit des Vorstellenden als des subiectum. Damit ist die Wahrheit zur Gewißheit im Menschen als Subjekt geworden. Der Mensch ist nicht mehr Vernehmender der Seiendheit des Seienden und "[das] Seiende ist nicht mehr das Anwesende, sondern das im Vorstellen erst entgegen Gestellte, Gegen-ständige" (ebd.). Da die Gewißheit als das zu Grunde Liegende zur Wahrheitsbestimmung geworden ist, wandelt sich der Bezug zum Seienden in das sicherstellende Vorstellen: "Vorstellen meint hier: von sich her etwas vor sich stellen und das Gestellte als ein solches sicherstellen. Dieses Sicherstellen muß ein Berechnen sein, weil nur die Berechenbarkeit gewährleistet, im voraus und ständig des Vorzustellenden gewiß zu sein." (ebd.)
Die Gewißheit als Bestimmung der Wahrheit in der Neuzeit verlangt die Wahrheit als Sicherheit des Gewißseins bezüglich des Seienden, wenn über es wahr ausgesagt werden soll. Deshalb wird das Seiende als das Berechenbare im voraus angesprochen und unter diese Wahrheitsbestimmung gezwungen. Das Berechenbare entspringt aus einem bestimmten Charakter der Mathematik, die die neuzeitliche Wissenschaft, insbesondere die Physik, leitet. Das Mathematische ist in griechischen Sinne das im voraus Bekannteste.47 Wenn nun in 47 Vgl.: "Die neuzeitliche Physik heißt mathematische, weil sie in einem vorzüglichen Sinne eine ganz bestimmte Mathematik anwendet. Allein, sie kann in solcher Weise nur mathematisch verfahren, weil sie in einem tieferen Sinne bereits mathematisch ist. Ta mathemata bedeutet für die Griechen dasjenige, was der Mensch im Betrachten des Seienden und im Umgang mit den Dingen im voraus kennt: von den Körpern das Körperhafte, von den Pflanzen das Pflanzliche, von den Tieren das Tiermäßige, vom Menschen das Menschenartige. Zu diesem schon Bekannten, d. h. Mathematischen, gehören neben
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der neuzeitlichen Ausrichtung bezüglich der Wahrheits frage die Wahrheit als sicherbare Gewißheit gesucht wird, wird folgerichtig die zahlenmäßige Berechenbarkeit das leitende Wahrheitskriterium, weil sie das bekannteste und insofern sicherste ist. Nicht das Zahlenmäßige selbst ist das leitende für die neuzeitliche Wissenschaft, sondern die Ausrichtung nach dem Bekanntesten und insofern Sicherbarsten. Die Berechenbarkeit ist deshalb nicht primär das Auslegen des Seienden im Ganzen in zahlen mäßiger Berechnung. Die Berechenbarkeit nennt die Ausgerichtetheit überhaupt nach dem Bekanntesten. Deshalb umfaßt der Begriff des Berechenbaren die vorstellende Denkungsart überhaupt, aus der heraus die moderne mathematische Physik nur ihre deutlichste Ausprägung ist. 48 Das neuzeitliche Vorstellen sucht seine Wahrheit in dem Sicherstellen des Vorgestellten, um so die sicherste Gewißheit zu erlangen, die im Zahlenmäßigen und Regelhaften gefunden wird. Die Welt wird so zum Vorstellungsbild, zum Weltbild, indem das Seiende in seiner sicherbaren Berechenbarkeit als Gegenstand entgegen- und so vor-gestellt wird. Um diese Wahrheit als sicherbare Berechnung des vor-gestellten Gegenstandes sicherzustellen, wird das Experiment nötig. 49 Die Wahrheit im Experiment ist die immer wieder herstellbare Gültigkeit der Regel, nach der das Seiende untersucht wird. Deshalb müssen künstliche Bedingungen für das Experiment geschaffen werden, damit sie ebenso künstlich überall wiederherstellbar werden, und somit das Ergebnis an jedem Ort zu jeder Zeit überprüft und als wahr gelten kann. so
dem Angeführten auch die Zahlen. Wenn wir auf dem Tisch drei Äpfel vorfinden, dann erkennen wir, daß es deren drei sind. Aber die Zahl drei, die Dreiheit, kennen wir schon. Das besagt: Die Zahl ist etwas Mathematisches. Nur weil die Zahlen das gleichsam aufdringlichste Immer-schon-Bekannte und das Bekannteste unter dem Mathematischen darstellen, deshalb wurde alsbald das Mathematische als Benennung dem Zahlenmäßigen vorbehalten." (ZdW, S. 71/72) 48 Daß die Ausrichtung der Wissenschaft nach dem Mathematischen nicht nur die modeme Physik betrifft, sondern im Zuge des Heraufkommens des neuzeitlichen Vorstellens alle Gebiete der Wissenschaft, d. h. auch die Geisteswissenschaft umgreift, führt Heidegger mit der Klärung des Wesens der neuzeitlichen Wissenschaft entlang der drei Leitbestimmungen nach 1. Forschung, 2. Entwurf und Strenge des Verfahrens und 3. Experiment und Einrichtung der Wissenschaft als Betrieb aus (vgl. ZdW, S. 71-80 und in den »Beiträgen« den 76. Abschnitt "Sätze über »die Wissenschaft«" (GA 65, S. 145159». 49 Vgl. zur ausführlicheren Ausfaltung der Frage nach dem Experiment in den »Beiträgen« die Abschnitte 77-80, (GA 65, S. 159-166). 50 Hier wird speziell auf den Charakter des naturwissenschaftlichen Experiments verwiesen, der darin besteht, daß ein Ergebnis eines Experiments dann als wahr gesichert ist, wenn unter gleichen Versuchsbedingungen es immer wieder zum gleichen Ergebnis kommt. Seine Absicherung als Wahrheit der Wissenschaft erfährt das Ergebnis darüber hinaus gerade durch seinen Charakter der künstlichen Einrichtung, weil sie gewährleistet, daß jeder, der das Experiment unter gleichen Bedingungen wiederholt, sich ebenfalls von der Wahrheit des Ergebnisses überzeugen kann.
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Das Rätselhafte des Seienden ist für das vorstellende Denken nur das noch nicht Erforschte, d. h. das noch nicht so unter die richtigen Bedingungen eines Experiments Gebrachte, daß es sich als Sicherbares gezeigt hätte. Grundsätzlich aber bleibt das Rätselhafte nur das noch nicht Enträtselte. Die Kultur, die in der zweiten Entscheidung angesprochen war, wird durch diese Auslegung des Seienden im Ganzen als berechenbares und insofern vorstellbares Weltbild zur dauerfähigen Kultur der Vernunft im Sinne des Berechnenkönnens, weil alles Seiende vorgestellt werden kann. Die Wahrheit wird so zur Dauerhaftigkeit als die zu jeder Zeit überall herstell bare Sicherbarkeit der Vorgestelltheit des Seienden in seiner Berechenbarkeit. Insofern ist die offene Entscheidung im ersten Teil der Entscheidung zur Wahrheit, ob die griechische "Wahrheit als Richtigkeit" (GA 65, S.91), die noch ihre Bestimmung aus der Offenheit des Seienden erfährt, "in die Gewißheit des Vorstellens entartet" (ebd.), weil diese die Sicherheit des Rechnens fordert. In der Fügung "Der Anklang" faßt Heidegger das neuzeitliche Wesen des Denkens mit dem Begriff der Machenschaft. Das Machenschaftliehe ist selbst eine Weise, wie Sein geschieht, in der das Denken ungewußt dazu gedrängt wird, das Seiende nur noch als das beständig Anwesende im vorstellenden Vergegenständlichen zu sichern. Im einem weiteren Sinne des Machenschaftlichen ist dieses schon in der griechischen techne angelegt. Aus dem Vorblick auf die unverborgen aufgehende physis kann die techne das einzelne Seiende in sein Was- und Wiesein stellen. Dieses Stellen bleibt jedoch noch an den unverborgenen Aufgang der physis rückgebunden. Zum eigentlich und in diesem Sinne erst vollen Machenschaftlichen kommt es erst im neuzeitlichen Vorstellen der Welt als Vorstellungsbild. Hier ist das Unverborgene des Aufgangs gänzlich verschüttet und fraglos geworden. Das Denken ist machenschaftlich, indem es die Wahrheit im vorstellenden Vergegenständlichen nach dem Berechenbaren sicherstellt und insofern macht. In der neuzeitlichen Machenschaft kommt das Denken des ersten Anfangs zu seinem sich in sich zuschließenden Ende. Die Möglichkeiten der von der Unverborgenheit der physis sich ablösenden techne Für die Hereinnahme der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart in die Geisteswissenschaften wäre unter anderem z.B. die vorgängig vorgestellte Arbeitshypothese bei statistischen Untersuchungen innerhalb der Psychologie oder Sozialwissenschaft heranzuziehen. Das Beobachtungsfeld wird im vorhinein differenziert und das Ziel der Untersuchung vorgegeben, um dann anhand des Zahlenmäßigen der Statistik über Wahrheit oder Falschheit der Arbeitshypothese zu entscheiden. Neben dieser expliziten Herübernahme der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart entfaltet aber die Vorstellungsart selbst sich auch implizit in den Geisteswissenschaften. Heidegger verdeutlicht dies am Beispiel der Historie, bei der er die Quellenkritik dem naturwissenschaftlichen Experiment gleichsetzt dergestalt, daß versucht wird, die Geschichte zu vergegenständlichen und nach dem Beständigen vorzustellen (vgl. ZdW, S. 76).
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werden gänzlich ausgeschöpft, indem die Wahrheit zur reproduzierbaren beständigen Anwesenheit geworden ist. Die reproduzierbare beständige Anwesenheit der Berechenbarkeit hat keinerlei Rückbindung mehr an ein Vernehmen des Aufgangs des Seienden. Dieses sich gänzlich vom Vernehmen abschließende Ende des ersten Anfangs ist in dem Ende der platonisch-aristotelischen Wahrheitsfrage zwar angelegt. Aber der erste Anfang kommt jetzt erst zu seinem ganz ausgefalteten Ende, indem er sich in der Ausrichtung nach reproduzierbarer beständiger Anwesenheit vom Vernehmen abschließt und so zum abgelösten Ende des ersten Anfangs wird. 51 In der Machenschaftlichkeit des neuzeitlichen Denkens als Vorstellen liegt zugleich die Selbstgewißheit des Vorstellenden. Wie oben ausgeführt, ist der Vorstellende sich seiner selbst als der Vorstellende sicher und diese Sicherheit der Vorhandenheit kann insofern zum Jundamentum inconcussum des subiectum werden. Im vorstellenden Denken erlebt sich der Vorstellende sicher, weil er sich seiner Vorhandenheit sicher ist. Die Wahrheit als sicherbare Berechenbarkeit ist insofern zugleich das sichere Sich-erleben. Das zweite Grundwort für diejenige Weise, nach der Wahrheit in der neuzeitlichen Epoche ausgelegt wird, faßt Heidegger demgemäß als das Er-leben. Das Präfix "Er-" bringt hierbei die Mitgegebenheit der Mitvorgestelltheit des Vorstellenden zum Ausdruck. Durch das vorstellende Denken er-fährt sich der Mensch als Vorstellender und darin sich sichern Könnender. Das Machenschaftliche als eine Weise, wie Sein sich gibt, macht den Menschen zum Sicherlebenden. Das Sicherleben ist nicht das subjektive Gefühl im Gegensatz zu einem objektiven Denken. Das Sicherleben entspringt aus der im Denken als Vorstellen gegebenen Scheidung von Denkendem und zu Denkendem. Der Denkende, der vorstellt, erlebt sich als Vorstellender, weil er das zu Denkende vor sich stellt. Insofern ist jeder wis51 Vgl. zum Ende des ersten Anfangs, das Heidegger für unsere heutige geschichtliche Situation auch als Ende der Metaphysik bzw. Ende der Philosophie als Metaphysik denkt, und zum Geschichtlichen des Seinsdenkens: Jähni".8. Dieter, Die "Kehre" in Heideggers Verständnis der Geschichte, in: Destruktion und Ubersetzung. Zu den Aufgaben von Philosophiegeschichte nach Martin Heidegger, hg v. Buchheim Thomas, Weinheim 1989, S. 101-125; Opilik. Klaus, Die "abendländische Geschichte" im Denken Martin Heideggers, in: Destruktion und Übersetzung. Zu den Aufgaben einer Philosophiegeschichte nach Martin Heidegger, hg. v. Buchheim. Thomas, Weinheim 1989. S. 141-147 und pöggeler. Ouo, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, FreiburglMünchen 1992. Kurt Fischer spricht in: Abschied. Die Denkbewegung Martin Heidggers, Würzburg 1990, besonders differenziert vom Moment des Abschiedes von der Geschichte der Metaphysik im Vollzug des Denkens und entfaltet dieses Moment durch die verschiedenen Phasen des Heideggerischen Denkens. Zu einer fragend-kritischen Auseinandersetzung hierzu siehe auch: Held. Klaus, Grundbestimmung und Zeitkritik bei Heidegger, in: Zur philosophischen Aktualität Heideggers, hg. v. Papenfuß. Dietrich und Pöggeler. Ouo, Bonn-Bad Godesberg 1991, S. 31-56 und mit Bezug zur Husserlschen Phänomenologie: Held. Klaus, Heideggers These vom Ende der Philosophie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 34, 1980, S.535-560.
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senschaftliche Denkvollzug ein Vollzug des Sicherlebens, auch wenn das Sicherleben im Vollzug untergeht, weil scheinbar nur den objektiven Tatsachen nachgegangen wird. Auch wenn in der neuesten naturwissenschaftlichen Forschung das Subjekt als Größe in das Ergebnis eines Experiments mithereingenommen wird, ist damit das machenschaftliche Denken nicht verlassen. Das vorstellende Denken ist in sich im Vollzug ein Machen der Gegenständlichkeit und darin ein Sicherleben im Vergegenständlichen. Dafür ist es gleichgültig, ob in der neuzeitlichen Wissenschaft das Subjekt vergessen oder seit neuestem entdeckt wird. Das so entdeckte Subjekt im objektiven Experiment ist selbst ein Vergegenständlichtes und insofern Vorgestelltes. Durch das vorstellende Denken ist vorab das subiectum gegeben, gleichgültig ob der Denkende sich als Subjekt vergißt oder entdeckt. Wenn der Mensch zum subiectum geworden ist, hat sein Er-Iebnis den Vorrang als Bezugsmitte für alles Seiende: "Das Seiende gilt erst als seiend, sofern es und soweit es in dieses Leben ein- und zurückbezogen, d. h. er-lebt und Er-Iebnis wird." (ZdW, S. 86) In dem zweiten Teil der Entscheidung bezüglich der Wahrheit steht dieser "Entartung" des griechischen Denkens die Möglichkeit gegenüber, daß "das anfänglich noch ungegründete Wesen der aletheia als die Lichtung des Sichverbergens auf einen Grund kommt" (GA 65, S.91). Ungegründet ist dieser Grund, weil mit dem hypokeimenon nicht die Unverborgenheit an ihr selbst, sondern der Anblick des unverborgen aufgehenden Seienden als physis mit der Wesensbestimmung nach allgemeinen Ideen gegründet wurde. Heidegger fragt hingegen mit der Frage nach dem Sein als solchen oder der Wahrheit des Seins nach dem Wesen der Unverborgenheit selbst und nicht nach dem unverborgenen Anblick der physis. Das Wesen der aletheia als der Unverborgenheit soll auf einen Grund kommen. Das Gründen heißt hier: hinsichtlich ihrer Herkunft und ihrem Geschehen die Unverborgenheit zu erfragen. Dieses Gründen wird sich später im Ab-grund des Zeit-Spiel-Raumes zeigen. Die Rede von Grund ist insofern nicht im Sinne eines Allgemeinen oder einer Ursache oder eines hinter oder unter dem Seienden Liegenden zu verstehen. Die "Lichtung des Sichverbergens" (ebd.) verweist in diesen Bereich. Die Lichtung ist die aletheia als das Unverborgene, die sich aber als Lichtung des Sichverbergens der Herkunft des Seins zeigt. Gemäß des im § 4 Aufgewiesenen zeigt sich Sein als die sichverbergende Ereignung, die in ihrem Sichverbergen die Lichtung als das "Daß" der Ereignung und die Offenheit des Seienden freigibt. Aus dieser Gegenüberstellung von Wahrheit als sicherbare Gewißheit und der Lichtung des Sichverbergens läßt sich die dritte Entscheidung in der Thematik von Sein, Seiendem und Wahrheit auslegen: "ob das Seiende als das Selbstverständlichste alles Mittlere und Kleine und Durchschnittliche zum Vernünftigen verfestigt oder ob das Fragwürdigste die Gediegenheit des Seyns ausmacht-" (ebd., S. 91)
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Im vorstellenden Denken ist das Seiende das Selbstverständlichste, weil es selbstverständlich vorgestellt werden kann. Da seine Wahrheit nach der sicherbaren Gewißheit bestimmt ist, wird es gemäß seiner Regelhaftigkeit vorgestellt, weil diese berechenbar und insofern gesichert ist. Mit der Frage nach der Regel wird das Seiende nach seinem Durchschnittlichen und Mittleren vorgestellt, d. h. nach dem, was es entgegen der Ausnahme in der Regel ist. Dieses Durchschnittliche ist das Kleine im Sinne des kleinsten Nenners, der zu einer Regel entgegen der Ausnahme gemacht werden kann, die gewiß im voraus berechenbar ist. Das Vernünftige, zu dem sich das Seiende so verfestigt, ist das Berechenbare. Die Verfestigung hat ihren zeithaften Sinn darin, daß das Seiende immer wieder nach der vorgestellten, berechenbaren Regel ausgelegt werden kann und insofern in dieser Regel sich verfestigt. Das Sein des Seienden ist hiernach der immer wieder feststellbare Bestand seiner Regelhaftigkeit. Wenn das Fragwürdigste hingegen "die Gediegenheit des Seyns ausmacht" (ebd.), entspringt der Fragwürdigkeit ein eigener Charakter der "Dauerhaftigkeit" des Seins. Die Gediegenheit entstammt der in der Fragwürdigkeit sich zeigenden eigenen Zeithaftigkeit des Seins. Das Sein ist nicht Bestand im Sinne einer zeitlosen und insofern dauerhaften Regelhaftigkeit, sondern die Gediegenheit des Seins bestimmt sich in dem immer erst zu erfragenden Geschehen von Wahrheit und Sein aus dem Grad der Herkunft aus dem Verborgenen. 52
e) Das Gotthafte und das Wagen des Seins Die Frage nach dem Gotthaften als weiteste Bahn des geschichtlich zur Entscheidung Stehenden wird in folgender Gegenüberstellung zur Sprache gebracht: "ob die Entgötterung des Seienden in der Verchristlichung der Kultur ihre Triumphe feiert oder ob die Not der Unentschiedenheit über die Nähe und Ferne der Götter einen Entscheidungsraum vorbereitet-" (GA 65, S. 91)
Die Verchristlichung der Kultur entspringt einerseits der neuzeitlichen Seinsauslegung des Seienden infolge der christlichen Überlieferung des Schöpfers und des Geschöpften. Andererseits entstammt sie der schon ausgeführten Übernahme der Wahrheitsbestimmung als Gewißheit aus der christlichen Heilsgewißheit. Der Gedanke des Schöpfers und Geschöpften ist im Heraufkommen des Machenschaftlichen aus dem Einsturz der aletheia für Heidegger zwar an-
52 Vgl. zur Wahrheitfrage im ersten Anfang als Frage nach der Seiendheit und der im folgenden noch ausführlicher entfalteten Frage des Denkens des anderen Anfangs als Frage nach der Wahrheit des Seins: Lleras, Fernando, Zu Heideggers Gedanken vom Ende der Metaphysik, Frankfurt a.M. 1986, bes. S. 255f.
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gelegt. Jedoch betont er, daß "in der Zeit des ersten Anfangs, da es zur Entmachtung der physis kommt, [... ] noch nicht die Machenschaft in ihrem vollen Wesen an den Tag [tritt]. Sie bleibt verhüllt in der beständigen Anwesenheit" (ebd., S. 126). Erst "durch das Hereinspielen des jüdisch-christlichen Schöpfungsgedankens und der entsprechenden Gottesvorstellung [wird] das ens zum ens creatum" (ebd.) und drängt sich das Machenschaftliche in der Auslegung des Seienden vor und läßt die Unverborgenheit ganz in Vergessenheit geraten. Heidegger sieht in diesem Übergang zum christlichen Schöpfergott die entscheidende Leitlinie für die daraufhin folgende "Kultur" der Machenschaft: "Auch wenn man ein grobes Ausdeuten der Schöpfungsidee sich versagt, so bleibt doch wesentlich das Verursachtsein des Seienden. Der Ursache-WirkungsZusammenhang wird zum all beherrschenden (Gott als causa sui). Das ist eine wesentliche Entfernung von der physis und zugleich der Übergang zum Hervorkommen der Machenschaft als Wesen der Seiendheit im neuzeitlichen Denken. Die mechanistische und die biologistische Denkweise sind immer nur Folgen der verborgenen machenschaftlichen Auslegung des Seienden." (ebd., S. 126f)
Entscheidend ist hier der Aspekt des Schöpfungsgedankens als ein Herstellen des Seienden durch ein anderes Seiendes, das als höchstes Seiendes selbst nicht hergestellt ist. Um den Aspekt des Herstellens zu verdeutlichen, ist erneut auf das griechische Denken zurückzugehen. Die griechische Bestimmung des Herstellens, die bislang zurückgestellt wurde, muß hierzu erläutert werden, weil das christliche Denken des Schöpfers und Geschöpften unter anderem ein Zusammengehen der ursprünglich griechischen Bestimmung des Herstellens und der christlichen Überlieferung der Schöpfungsidee darstellt. Das Wesen des einzelnen Seienden, das dieses einzelne Seiende zu dem einzelnen Seienden macht, das es ist, wird in der griechischen Bestimmung, wie ausgeführt, vorgängig in den Blick genommen. Der vorgängige Blick auf das Wesen als idea läßt aus ihm heraus erst das Seiende als so und so Seiendes aufgehen: "Das Wesen wird daher von Aristoteles auch als dasjenige Sein (einai) des einzelnen Seienden gefaßt, was es - das Einzelne - schon war (ti en), bevor es dieses Einzelne wurde. Der Ausdruck für das Wesen lautet demgemäß: to ti en einai." (GA 45, S. 59)
Aus diesem "to ti en einai (das was-es-war-Sein)" (ebd.) wird das einzelne Seiende in sein Was- und Wiesein her-gestellt. Das vorgängige Her-stellen ist ein Hervorbringen des Seienden in sein Was- und Wiesein aus dem vorgängigen Blick auf sein Wesen als Anblick, idea. Das Hervorbringen, poiesis, stellt das Seiende aus dem vorgängigen Wesensblick heraus. Damit ist die techne als das her-stellende Hervorbringen der poiesis ausgefaltet. Die poiesis selbst ist vom übermächtigen Andrang des Aufgehens der physis in ihrer Unverborgenheit gedrängt, diesem Andrang im Fassen seiner als unverborgener Anblick, idea, zu entsprechen und das Seiende aus dem Anblick her-stellend als Seiendes hervorzubringen.
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Durch die Helle der Unverborgenheit aber, die das Denken nötigt, das einzelne Seiende in das Unverborgene des Anblicks, idea, zu stellen, eröffnet sich die oben gezeigte Möglichkeit des Abfalls von dem Aufgehen der Unverborgenheit. Die poiesis kann infolgedessen das Seiende in sein Was- und Wiesein herstellen und so den Andrang der Unverborgenheit der physis vergessen. In diesem Herstellenkönnen liegt die Vorzeichnung des Herstellens des Schöpfers sowie des neuzeitlichen Vorstellenkönnens von etwas als Gegenstand. Zu diesem Sachverhalt ist außerdem die im Vorherigen ausgeführte Auslegung des Wesens als einem beständig Anwesenden und insofern Allgemeinen sowie die von Aristoteles im XII. Buch der »Metaphysik« entfalteten Bestimmungen des ersten unbewegten Bewegers als Ewiges und Unveränderliches hinzuzunehmen. Diese Bestimmungen zeichnen das christlich-metaphysische Denken eines Höchsten und Unwandelbaren als unveränderliche Ursache, wie bei Thomas v. Aquin, vor. Das höchste Seiende, das summum ens, als unveränderlicher Grund für alles werdende und vergehende Seiende ist der Gott im Sinne der causa prima. Er hat als höchste Ursache selbst keine Ursache und ist insofern als causa sui gedacht. So gefaßt ist er allgemein beständig anwesend und in diesem Sinne ewig. Die Wahrheitsauslegung der Unverborgenheit wandelt sich aus diesem Bestimmen eines höchsten Grundes. Heidegger verdeutlicht diesen Sachverhalt an der Thomistischen Fassung von verum: "Verum heißt nicht das Unverborgene, sondern: ornne ens est verum - jedes Seiende ist wahr -, weil es als Seiendes von Gott, christlich-alttestamentarisch gedacht vom »Schöpfer«, d. h. von diesem als dem irrtumsfreien absoluten Geist, im voraus notwendig richtig gedacht ist." (GA 45, S. 116/117)
Die Wahrheit wird infolgedessen allein nur noch zur Richtigkeit des Denkens über das im Vorhinein absolut richtig gedachte, weil aus Gott geschöpfte Seiende: "Das mittelalterliche und ebenso das neuzeitliche Denken bewegt sich ganz in der Auffassung der Wahrheit als Richtigkeit, d. h. als einer Bestimmung der Erkenntnis, auch dort, wo von der »ontologischen Wahrheit« die Rede ist. Dieses »ontologisch« Wahre ist nichts anderes als das dem in sich absolut richtigen Denken Gottes Entsprechende, nicht ein Unverborgenes im griechischen Sinne, sondern das absolut Richtige (intellectus divinus)." (ebd., S. 117)
Zu der Ausrichtung der Frage nach der Wahrheit an der absoluten Gewißheit, über die richtig ausgesagt werden kann, ist die christliche Bestimmung der Heilsgewißheit mitzubedenken. Im oben Zitierten sagt Heidegger, daß auch das nicht mehr theologische neuzeitliche Denken von der Wahrheit als Richtigkeit aus der absoluten Richtigkeit Gottes geprägt ist. Wie im Vorherigen ausgeführt, hat bei Descartes die Frage nach dem absolut gewissen Grund aus der Heilsgewißheit heraus zum Subjekt als dem absolut gewiß Zugrundeliegenden geführt. Gleichgeblieben ist dabei die Bestimmung der Wahrheit als absolute Richtig-
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keil. Aus dieser Wahrheitsauslegung entspringt das vorstellende sichernde Denken, das sich der Gewißheit durch die berechenbare Vorgestelltheit vergewissert. Insofern kann die "Verchristlichung der Kultur ihre Triumphe" (GA 65, S. 91) feiern, weil die Sicherheit des Rechnens sich aus der Gewißheit als Heilsgewißheit und aus dem Gott als absolut richtig denkende Ursache ableitet. Die Triumphe der in diesem Sinne verchristlichten Kultur sind die Erfolge der wachsenden Beherrschung des Seienden durch die berechnete moderne Technik einerseits sowie andererseits die umgreifende berechnete Organisation aller Lebensbezüge. Das Machenschaftliche im Denken des Gottes als absolut richtige Ursache ist so in das Gemächte des richtig vorstellen könnenden Menschen übergegangen. ;3 Die theologische Bestimmung der Heilsgewißheit als Gedanke der gesicherten Erlösung der Seele durch den Gottessohn verschließt in ihren Auswirkungen auf den neuzeitlichen Wahrheitsbegriff außerdem die Not der Unentschiedenheil. Diese Unentschiedenheit ist aber die erste notwendige Weise, die erfahren sein muß, um einen Entscheidungsraum für die Nähe oder Ferne des Gotthaften vorzubereiten. Das Seiende ist durch eine Gottes- und Heilsgewißheit und durch das Denken der gewissen VorsteIlbarkeit entgöttert, weil kein Entscheidungsraum geöffnet ist und geöffnet werden kann. Eine mögliche Wiederbringung des Seienden in ein Geschehen des Gotthaften öffnet sich erst, wenn das Seiende zum einen nicht selbstverständlich vorstellbar und zum anderen nicht von Gott als absolut richtig geschaffen und durch ihn in seinem Sohn im voraus als gewiß erlöst gedacht wird. Eine mögliche Einkehr des Menschen in ein Geschehen des Gotthaften öffnet sich erst, wenn er in eine Not der Unentschiedenheit versetzt ist. Die im voraus schon als sicher gesetzte Erlösung des Menschen durch den Gottessohn verstellt dementgegen den Entscheidungsraum über Nähe oder Ferne des Gotthaften. Die Not der Unentschiedenheit muß erst erfahren sein, damit in den Bereich eines Gotthaften hineingefragt werden kann. Die im § 4 aufgewiesene notwendige erste Erfahrung der Not der Unentschiedenheit für den Bereich des Gotthaften überhaupt verlangt aber zuvor die Öffnung des Seins als Ereignisses im Sinne des Zwischen zwischen dem Gotthaften und dem Menschen. Deshalb folgt auf die Entscheidung bezüglich des Gotthaften die Entscheidung: "ob der Mensch das Seyn wagt und damit den Untergang oder ob er sich mit dem Seienden begnügt" (GA 65, S. 91). Die Formulierung "ob er sich mit dem Seienden begnügt" faßt die im Vorherigen ausgelegten Weisen des Den-
53
Vgl. für diesen Übergang auch: GA 65, 52. Abschnitt, S. I 10-112.
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kens entlang des Seienden zusammen. Wenn der Mensch sich mit dem Denken der Seiendheit begnügt und dadurch beim sichernden Berechnen des Seienden stehen bleibt, ist der Bereich, aus dem allein eine Wandlung des Geschehens von Wahrheit und Sein nur kommen kann, verstellt. Dagegen steht die Entscheidung, "ob der Mensch das Seyn wagt und damit den Untergang" (ebd.). Der Untergang kann vorläufig so gefaßt werden, daß dem Menschen seine selbstverständliche Auslegung als Subjekt untergehen muß. Um das Sein zu wagen, muß er seine Selbstauslegung als in seiner Vorhandenheit absicherbares Subjekt aufgeben und zum Fragenden werden. Das Sein und den Untergang wagen, heißt: nach Wahrheit und Sein fragen, anstelle nach der Sicherheit des VorsteIlens gerichtet zu denken. Dafür ist es notwendig, daß "der Mensch überhaupt noch die Entscheidung wagt" (ebd.), entgegen der Bestimmung, daß "er sich der Entscheidungslosigkeit überläßt, die das Zeitalter als den Zustand »höchster« »Aktivität« nahelegt" (ebd.). Die Entscheidungslosigkeit bedeutet Fraglosigkeit hinsichtlich der Wahrheit und des Seins. Heidegger charakterisiert das Denken der heutigen Epoche als Denken der völligen Fraglosigkeit, weil es sich gänzlich von jeder Frage nach der Wahrheit gelöst hat. Fraglos ist die Wahrheit geworden, weil nur noch nach der Richtigkeit der Aussage gefragt wird. Dabei wird aber die grundsätzliche Auslegbarkeit des Seienden in seinem Sein selbstverständlich vorausgesetzt. Zur Entscheidung wird dabei nicht das Sein gestellt. In der Frage nach der Wahrheit des Seins hingegen steht dieses immer erst zur Entscheidung. Die Entscheidung wagen heißt wie im § 4 aufgewiesen: das Erfragen der Wahrheit des Seins in der Umkehr der denkerischen Blickrichtung vom Seienden weg, hin zur Erfahrung der Herkunft des Denkens.
§ 6. Die einzige Entscheidung im Übergang zum anderen Anfang
Nach dem Aufriß der verschiedenen geschichtlichen Entscheidungen im 44. Abschnitt nennt Heidegger diejenige Entscheidung, die alle anderen durchzieht und die wir deshalb als die einzige Entscheidung benennen können: "Alle diese Entscheidungen, die dem Schein nach viele sind und verschiedene, ziehen sich auf die eine und einzige zusammen: ob das Seyn sich endgültig entzieht oder ob dieser Entzug als die Verweigerung zur ersten Wahrheit und zum anderen Anfang der Geschichte wird." (GA 65, S. 91)54
54 In dem späteren Manuskript "Die Geschichte des Seyns" von 1938/40 in: Heidegger, Martin, Die Geschichte des Seyns. 1. Die Geschichte des Seyns (1938/40). 2. KOINON. Aus der Geschichte des Seyns (1939/40), Gesamtausgabe Bd. 69, Frankfurt a.M. 1998 (im folgenden zitiert als: GA 69), spricht Heidegger von der einzigen Ent-
§ 6. Die einzige Entscheidung im Übergang zum anderen Anfang
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Diese "eine und einzige" Entscheidung läßt sich in einem weiteren und einem engeren Sinn auslegen. Der weitere Sinn ist offenkundig. Alle vorherigen Entscheidungen sind nur dem Schein nach viele und verschiedene. Wesentlich in ihnen ist ein einziges Geschehen, aus dem sie alle nur Ausfaltungen in verschiedene Fragen dieses einen und einzigen Geschehens sind. Das im jeweils ersten Teil der vorherigen Entscheidungen Ausgeführte bleibt geschichtlich tragend, wenn "das Seyn sich endgültig entzieht" (ebd.). Das im zweiten Teil der vorherigen Entscheidungen Ausgeführte wird dann tragend, wenn "dieser Entzug als die Verweigerung zur ersten Wahrheit und zum anderen Anfang der Geschichte wird" (ebd.). Diese letzte, eine und einzige Entscheidung bestimmt demnach das "Ob das Eine oder das Andere" in den jeweiligen Entscheidungen. Beide Weisen sind entscheidungshaft offen gelassen, d. h. in Heideggers geschichtlicher Erfahrung stehen beide Weisen offen zur Entscheidung. Mit der Nennung des Entzugs als der Verweigerung wird aber auf einen engeren Sinn dieser Entscheidung verwiesen. Den Entzug als die Verweigerung erfahren heißt, das Sichlichten als Sichverbergendes erfahren. Hierin liegt das Wesen der Ent-scheidung: die erfahrene Scheidung von Zuwurf als Sichverbergendes und Entwurf als aus dem Verborgenen Gelichtetes. Diese Ent-scheidung ist der engere Sinn der einzigen Entscheidung. Die einzige Entscheidung, die alle anderen Entscheidungen auf sich zusammenzieht und sie so bestimmt, ist die Entscheidung, ob sich die Ent-scheidung öffnet. Ob sich die Ent-scheidung als das Sichzeigen der Scheidung von Zuwurf und Entwurf öffnet, ist die wesentliche Entscheidung, die alle anderen bestimmt. Im ersten Teil der Entscheidung heißt es, daß es zur Entscheidung steht, ob sich das Sein endgültig entzieht. Wie ist im Zusammenhang mit dem Sein das Endgültige zu denken? Das Sein west in der Weise der ereignenden Entscheidung. Es west als die Ent-scheidung von Zuwurf und Entwurf. Im § 4 wurde gezeigt, daß sowohl das vorstellungshafte Denken der Neuzeit als auch das andersanfanglich ereignete Denken aus der Herkunft des Denkens als der Ent-scheidung von Zuwurf und Entwurf geschehen. Wesenhaft unterschieden sind sie darin, daß das vorstellende Denken die Ereignung zu seinem Denken vergißt und nicht in den Blick bekommen kann. Insofern west hier die Ereignung als Ent-eignung, d. h. daß sich Sein als Ereignung so gibt, daß es sich in seinem Wesen als Ereignung ganz entzieht. Das ereignete Denken erfährt aber das »Daß« der Ereignung und zwar in zweifacher Weise. In einer ersten Hinsicht erfährt es, daß das vorstellende Denken in der Weise der Enteignung enteignet ist, d. h. in der Weise der Seinsverlassenheit denkt. In einem weiteren scheidung folgendermaßen: "55. Die einzige Entscheidung ist die zwischen der durch die Machenschaft in die Macht gesetzten Entscheidungslosigkeit und der Entscheidungsbereitschaft. Die Entscheidung geht auf das Ent-scheidende. Das ist das Seyn, ob dieses dem Ent-scheiden sich zu-kehrt." (GA 69, S. 61)
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Sinne aber erfährt es anfänglich den ereignenden Zuwurf und kann ihn in ersten Ausfaltungen zur Sprache bringen. Es ist zu fragen, wie hinsichtlich dieser beiden Weisen des Denkens das Endgültige auszulegen ist. Diese Frage stößt in den Bereich der Frage nach dem übergänglichen und dem anfänglichen Charakter des Denkens der Entscheidung und des anderen Anfangs. In der Vorlesung »Grundprobleme der Philosophie« heißt es hierzu: "Wir verstehen, oder vorsichtiger gesagt, wir ahnen unseren geschichtlichen Augenblick als den der Vorbereitung des anderen Anfangs. Dieser kann jedoch auch - weil jeder Anfang im höchsten Grade entscheidungshaft ist - das endgültige Ende sein. Bestünde diese Möglichkeit nicht, dann verlöre der Anfang und die Vorbereitung seiner jede Schärfe und Einzigkeit." (GA 45, S. 202)
Wenn Heidegger vom endgültigen Ende des anderen Anfangs spricht, so ist zunächst für eine Auslegung dieses Endgültigen ein die Zukunft vorstellendes Denken abzuweisen. Das endgültige Ende des anderen Anfangs kann nicht heißen, daß dieses Ende für alle Zukunft gedacht ist. Damit wäre aus dem Frageraum der Geschichtlichkeit herausgetreten und über die Zukunft als vorgestellte spekuliert. Genausowenig kann das endgültige Ende auf einen überblickbaren Zeitraum beschränkt und zugleich eine Möglichkeit eines Andersanfänglichen darüber hinaus offengelassen werden. Das Einräumen einer späteren Möglichkeit nimmt der Entscheidung ihre "Schärfe und Einzigkeit" und sinkt in ein Berechnen über ein Späteres zurück, auch wenn das Denken das Spätere offenläßt. Mit dem Endgültigen ist weder ein absolut Endgültiges für die Zukunft noch ein relativ Endgültiges für eine immer absolut offen zu haltende Zukunft gemeint. Das Endgültige ist nur dann aus dem Entscheidungshaften gedacht, wenn es heißt, daß es offen ist, ob in der Ent-scheidung nichts weiter eröffnet wird als die Erfahrung des Enteignisses. Wenn das Sein sich endgültig entzieht, heißt das, daß sich dem Denken nichts weiter zeigt, als daß es enteignet ist, vorstellend und d. h. seins verlassen zu denken. Diese Erfahrung ist zwar schon eine nicht mehr ungewußt seins verlassene, weil sie die Seinsverlassenheit selbst als Ereignung zum enteigneten Denken erfahrt. Dennoch aber reicht hier die Erfahrung des »Daß« der Ereignung nicht weiter als das »Daß« zu einem vorstellenden Denken. Endgültig heißt dann, daß sich nichts weiter zeigt, als der endgültige Entzug von Sein im Sinne der Enteignung, die nicht mehr freigibt, als vorstellend zu denken. Damit ist das endgültige Ende des anderen Anfangs gekennzeichnet, weil der andere Anfang nur das sich selbst nicht fragliche seinsvergessene Denken aus der SeiIisverlassenheit und das Erfahren dieser Seinsverlassenheit als enteignendes Ereignis gibt. Der Entzug ist hierin endgültig, weil er nicht mehr freigibt als den Entzug. Das Denken des anderen Anfangs gelangt so zu keiner weiteren Erfahrung als der des Endes des ersten Anfangs in der Seinsverlassenheit.
§ 6. Die einzige Entscheidung im Übergang zum anderen Anfang
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Dieses endgültige Ende ist aber nicht für sich gedacht, sondern als Gefahr und höchster Grad der Entscheidungsnot gegenüber der Erfahrung des Entzugs als der Verweigerung. Die Erfahrung des Entzugs als Verweigerung gibt mehr frei als die Erfahrung des »Daß« der Ereignung als Enteignis. Sie gibt Weisen eines andersanfänglichen Denkens frei. In ihr zeigt der Entzug sich nicht als Enteignis, sondern als sich verbergende Lichtung, d. h. als eigenes Wahrheitsgeschehen, das in seiner Bewegung erfahren und gedacht werden kann. Warum aber spricht Heidegger von der Vorbereitung des anderen Anfangs, wenn er Weisen des andersanfänglichen Denkens ausfalten kann und sie ihm somit vor den denkerischen Blick kommen? Warum steht in diesem Denken die Gefahr des endgültigen Endes des anderen Anfangs in Gestalt der zwar gewußten, aber sich nicht verwandelnden Seinsverlassenheit herein? Hierfür ist Geschichtlichkeit des Denkens Heideggers, die er als die übergängliche charakterisiert, zu entfalten. Was heißt in diesem Zusammenhang übergänglich? Das Denken des anderen Anfangs ist deshalb übergänglich und insofern vorbereitend, weil sich die Entscheidung, ob vorstellungshaft oder andersanfänglich gedacht werden kann, als Not andrängt. Das Übergängliche als Vorbereitung des anderen Anfangs meint nicht, daß noch kein andersanfängliches Denken erfahren und gedacht wird. Es meint nicht, daß zunächst nur das Ende des ersten Anfangs als die Seinsverlassenheit gedacht werden kann aus der ersten Erfahrung der Ereignung als Enteignis. So wäre zu kurz gedacht und die Weisen, die Heidegger als andersanfängliches Denken ausfalten kann, wären nicht ernst genommen, sondern übersehen. Das Übergängliche und die Vorbereitung des anderen Anfangs meint, daß das Denken den anderen Anfang nicht ohne den ersten Anfang denken kann. In der geschichtlichen denkerischen Erfahrung drängt sich die Entscheidung an, ob das Denken vorstellungshaft oder andersanfänglich denken kann. Das vorbereitend Übergängliche ist die in Heideggers geschichtlicher Erfahrung des Denkens sichzeigende Not dieser Entscheidung zwischen diesen Weisen des Denkens. Es ist dem Denken noch nicht gegeben, frei aus dem anderen Anfang zu denken, sondern zunächst nur immer in Abgrenzung und in der Entscheidung gegen das Denken des ersten Anfangs. Deshalb ist es ein Denken der Vorbereitung des anderen Anfangs, weil der andere Anfang sich in Weisen des Denkens zeigt, aber nicht ohne in der Entscheidung zu stehen und somit immer auch droht, sich wieder zu entziehen und nur das Ende des ersten Anfangs freizugeben. Der Charakter des Endgültigen ist damit hinsichtlich der übergänglichen Entscheidung zwischen vorstellendem und andersanfänglichem Denken ausgeführt. Das Endgültige ist aber in einer zweiten Hinsicht für das andersanfängliche Denken selbst auszulegen. Wenn Heidegger sagt, daß "jeder Anfang im höchsten Grade entscheidungshaft ist" (GA 65, S. 202), so ist das andersanfängliche Denken in sich von einem endgültigen Ende wesenhaft bedroht. Das Anfängliche wurde bei der Darstellung des ersten Anfangs als Andrang der Ungewöhn-
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B. I. I. Grundzüge des Denkens der Entscheidung
lichkeit der Unverborgenheit des Seienden als solchen benannt. Das Anfängliche ist sowohl im ersten Anfang als auch im anderen Anfang dadurch Anfängliches, daß es von einer Ungewöhnlichkeit in eine Not versetzt wird. Diese Not ist nur dann Not, wenn in ihr wesenhaft droht, daß das Nötigende nicht zu fassen ist und sich entzieht. Das Denken hält sich nur dann und solange im Anfänglichen, wie es diese Not aushält und sich in ihr hält. Insofern steht auch und gerade im andersanfänglichen Denken das Endgültige des Entzuges des Seins herein, wenn und solange das Denken sich in der Not des Ungewöhnlichen hält. Diese Not der Gefahr des endgültigen Entzuges im andersanfänglichen Denken ist die zweite Hinsicht des Endgültigen im Denken der Ent-scheidung.
Aufgrund dieses Sachverhaltes ist von einer andersanfänglichen Entscheidungsnot als Geschehen des eigentlich oder erfüllt Andersanfänglichen zu sprechen, die sich in der übergänglichen Entscheidungsnot zeigt. Diese kann von der übergänglichen Entscheidungsnot geschieden werden, auch wenn sie sich nur im Übergang in dessen Entscheidungsnot zeigt. Die Not des Übergangs besteht darin, daß jeweils zur Entscheidung steht, ob erstanfänglich oder andersanfänglich gedacht werden kann. Diese Entscheidung ist nicht verfügbar, sondern entspringt aus der Ereignung, in der zur Entscheidung steht, wie sie sich öffnet. Wenn sich aber die Ent-scheidung so öffnet, daß andersanfänglich gedacht werden kann, was heißt dies? Es heißt nicht, daß in dieser Öffnung nicht mehr die Gefahr droht, vorstellungshaft zu denken. Beim Versuch, im Übergang andersanfänglich im eigentlich erfüllten Sinne zu denken und zu sagen, herrscht wesenhaft die Gefahr, in einem vorstellungshaften Denken und Sagen zu verbleiben. Aber im engeren Geschehen dieser Öffnung herrscht eine andere Entscheidungsnot. Diese andere andersanfangliche Entscheidungsnot besteht darin, ob und in welchem Maße der Ereignung zum andersanfänglichen Denken entsprochen werden kann. Sie ist deshalb eine andere andersanfängliche Entscheidungsnot, weil die Ereignung in ihrem Grad zur Entscheidung steht. Das Sichhalten im "Daß" der Ereignung, die lnständlichkeit in ihr, steht in der gewandelten Entscheidungsnot, ob und wie tief aus dem "Daß" herkommend gedacht und gesagt wird. Die Tiefe bestimmt sich aus dem Grad der Durchstimmtheit, der im ereignenden Zuwurf herrscht, und in eins damit daraus, wie die Inständlichkeit diesem Grad entspricht. Der Grad der Durchstimmtheit steht in Zusammenhang mit dem Grad der Not, d. h. damit, wie diese sich andrängt und wie sich in ihr gehalten werden kann. Die Not ist gerade in der Gefahr des endgültigen Entzugs am größten und eröffnet die weiteste Entscheidung, ob und wie das Andersanfängliche geschieht. Dabei droht das andersanfangliche Denken als andersanfangliches Denken im Übergang in einem vorstellungshaften Denken und Sagen zu verbleiben, weil es im Übergang vom vorstellenden Denken zum andersanfanglichen Denken andersanfanglich ist. Dieses wesenhafte Drohen des Verbleibens ist die weitere übergängliche Entscheidungsnot in der engeren andersanfanglichen Entscheidungsnot.
§ 6. Die einzige Entscheidung im Übergang zum anderen Anfang
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Die übergängliche Entscheidungsnot zeigt sich als übergängliche nur aus der andersanfänglichen Entscheidungsnot. Denn wenn das Denken nur enteignet vorstellungshaft zu denken vermag, aber darum weiß, daß es enteignet ist, kommt es schon von der Erfahrung eines andersanfänglichen Denkens her. Es weiß, daß es nur dem Enteignis entspricht und somit das Ereignis nur als Fehl aufgeht. Dadurch, daß dieser Fehl aber als Fehl gewußt ist, liegt in ihm ein Wissen, das allein nur aus einem andersanfänglichen Denken kommen kann. Vorläufig ist festzuhalten, daß sich in der übergänglichen Entscheidungsnot eine andersanfängliche Entscheidungsnot zeigt, die die übergängliche durchzieht und allererst als übergängliche aufgehen läßt. Wie diese Scheidung und das wesenhafte Drohen, in einem vorstellungshaften Denken zu verbleiben, genauer verfaßt sind, verlangt eine Klärung des Entweder-Oders bezüglich des vorstellenden und des andersanfänglichen Denkens. Daß die Entscheidung zwischen andersanfänglichem und vorstellendem Denken schon angebrochen ist, faßt Heidegger zu Beginn des 44. Abschnitts folgendermaßen: "Die schon längst im Verborgenen und Verstellten angebrochene Entscheidung ist die zur Geschichte oder zum Geschichtsverlust." (GA 65, S. 96)
Geschichte oder Geschichtslosigkeit bestimmen sich aus der Entscheidung, ob andersanfänglich oder vorstellungshaft gedacht werden kann. Heidegger sagt somit, daß ein gewandeltes andersanfängliches Denken entscheidungshaft schon in die Geschichte hereinsteht, weil diese Entscheidung schon angebrochen ist. Die Einsicht in diese Entscheidung und das gewandelte andersanfangliehe Denken liegt in der Eröffnung des Seins als der Ent-scheidung begründet. Heidegger faßt diesen Sachverhalt im Anschluß an die Nennungen der geschichtlichen Entscheidungen: "Kommen die »Entscheidungen«, weil ein anderer Anfang sein muß? Und muß dieser sein, weil das Wesen des Seyns selbst Ent-scheidung ist und in dieser Wesensentfaltung seine Wahrheit erstmals in der Geschichte des Menschen verschenkt?" (ebd., S.92)
Was heißt es, daß das Sein "in dieser Wesensentfaltung seine Wahrheit erstmals in der Geschichte des Menschen verschenkt?" Zunächst heißt es, daß Heidegger die Einsicht in das Wesen des Seins als die Ent-scheidung für bisher unerfahren annimmt. Deshalb besteht für ihn die Vorsicht, diese Wesenseinsicht nicht zu verschütten, und zugleich die Not, diese. Einsicht zu denken. Die Frage, die er stellt, ist nicht rhetorisch zu verstehen. Seinem Denken hat sich die Entscheidung gezeigt, sie steht aber zur Entscheidung und muß deshalb in der Fragefonn gefaßt werden. Im Denken ist der andere Anfang angebrochen durch die Erfahrung des Wesens des Seins als Ent-scheidung, aber in der Gestalt, daß der andere Anfang im Übergang und als Anfang wesenhaft in der Gefahr seiner Verschüttung steht. Um die Frage nach dem Entweder-Oder des ersten Anfangs und des anderen Anfangs in den ausgewiesenen geschichtlichen Entscheidungen genauer zu be-
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B. 1. I. Grundzüge des Denkens der Entscheidung
stimmen und so das Entscheidungshafte im Übergang zum anderen Anfang in seiner Tiefe in den Blick zu bekommen, bedarf es einer Entfaltung des Geschehens des Entweder-Oders an ihm selbst sowie des Seins und des Nichts im Entweder-Oder der Ent-scheidung, weil damit erst das Andersanfängliche als eigentlich Andersanfangliches denkbar wird. Bisher haben wir die Grundzüge des Denkens der Entscheidung als das Fragen nach der Wahrheit des Seins als Ereignis hinsichtlich der Fragebahn der Entscheidung, ihrem Wesen als Ent-scheidung, den ihr entspringenden geschichtlichen Entscheidungen des In-Entscheidung-Stehenden und die alle Entscheidungen durchziehende einzige Entscheidung des Entzugs von Sein aufgewiesen. Damit zeigt sich die Fragerichtung des Denkens der Entscheidung des Ereignisses, die nun mit den genaueren Entfaltungen der Entscheidung in ihrem eigentlich Andersanfanglichen bedacht werden soll.
11. Entfaltungen der Entscheidung
§ 7. Die Entscheidung und das Entweder-Oder im Sein und Nichts
Den übergänglichen Charakter des Denkens des anderen Anfangs haben wir im § 6 in der Entscheidungsnot zwischen neuzeitlich-vorstellendem und andersanfänglichem Denken entfaltet. Das Entweder-Oder, vor das sich das Denken hierin gestellt sieht, ist das zur Entscheidung stehende Entweder des Denkens als Vorstellen oder als Denken des anderen Anfangs. In dieser weiteren Entscheidungsnot zeigte sich außerdem eine engere andersanfängliche Entscheidungsnot vorgezeichnet, in der das Entweder-Oder hinsichtlich des "Ob" und "Wie" des Grades der Durchstimmtheit aufgeht. Zur genaueren Ausfaltung dieser beiden Weisen des Entweder-Oders ist das Entweder-Oder für sich und in seinem Zusammenhang mit dem Geschehen von Sein und Nichts SS in den Blick zu nehmen.
a) Das Sein und das Nichts als Urgeschehen der Entscheidung und des Entweder-Oders Der 47. Abschnitt der »Beiträge« mit der Überschrift "Das Wesen der Entscheidung: Sein oder Nichtsein" gibt einen Einblick in das Geschehen von Sein und Nichts im Zusammenhang mit dem Entweder-Oder. Dort heißt es: "Die wesentliche Wesung der Entscheidung ist Zusprung zur Entscheidung oder die Gleichgültigkeit." (GA 65, S. 102)
In dieser Entscheidung zwischen Zu sprung' zur Entscheidung oder der Gleichgültigkeit liegt eine Entscheidung, die noch vor der übergänglichen Entscheidungs not zwischen Vorstellen und ereignetem Denken geschieht. Sie ist S5 Vgl. zum Bezug von Nichts und Sein im Denken Heideggers und dessen Entwicklung von der Thematisierung im Umkreis von »Sein und Zeit« in der Antrittsvorlesung "Was ist Metaphysik?" (in: WM, S. 103-121) zum Denken der Lichtung und des Sichverbergens vor dem Hintergrund der späteren Erläuterungen zu "Was ist Metaphysik?": WM, S. 301-310, 361-377, 379-420: He1771UJ1ln, Friedrich-Wilhelm v., Die Selbstinterpretation Martin Heideggers, Meisenheim am Olan 1964, S. 218-228.
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B. I. 11. Entfaltungen der Entscheidung
insofern die "wesentliche Wesung der Entscheidung" als erstes Aufgehen des Entweder-Oders, als durch sie allererst die genannten geschichtlichen Entscheidungen in der übergänglichen Entscheidungsnot in den Blick rücken. Das neuzeitliche Denken bewegt sich in der genannten Gleichgültigkeit, deren Ausformungen in den jeweils zu diesem Denken gehörenden Teil der übergänglichgeschichtlichen Entscheidungen im § 5 entfaltet wurden. Diese Gleichgültigkeit wird in dem auf das Zitat folgenden Satz "als das Nichtentscheiden" (ebd.) gefaßt. Anschließend heißt es: "Die Entscheidung geht ursprünglich darüber, ob Entscheidung oder Nichtentscheidung." (ebd.) Die hier benannte Entscheidung entgegen der Nichtentscheidung der Gleichgültigkeit ist mit dem Entweder-Oder in Zusammenhang zu bringen: "Entscheidung aber ist, sich vor das Entweder-Oder Bringen." (ebd.) Die erste Weise der Entscheidung ist demzufolge das Herausrücken aus der Gleichgültigkeit und das "sich vor das Entweder-Oder Bringen". Wodurch kommt es zu diesem Herausrücken und sich vor das Entweder-Oder Bringen? Es geschieht durch das Nichten der Gleichgültigkeit. Das Denken wird durch die Nichtung seines selbstverständlichen Vollzuges fragwürdig und rückt so aus diesem selbstverständlichen Vollzug heraus. Diese Nichtung ist die erste Weise, wie das Nichts geschieht. Das Nichts ist hier zunächst das Nicht-mehr des gleichgültigen, entscheidungslosen Denkvollzuges. Dieses erste Nichts läßt das übergängliche Entweder-Oder aufgehen. Woraus entspringt aber dieses Entweder-Oder selbst? Heidegger deutet in diesen Ursprung mit dem Zusammenhang von Nichts und Sein: Durch "die Einsicht in die Zugehörigkeit des Nichts zum Sein [... ] bekommt das Entweder-Oder seine Schärfe und seinen Ursprung" (ebd., S. 101). Das Entweder-Oder, ob neuzeitlich-vorstellungshaft oder andersanfanglich gedacht werden kann, hat die Schärfe seiner Ausschließlichkeit und seinen Ursprung im Zueinandergehören von Sein und Nichts. Wie zeigt sich dieses Zueinandergehören? Der 47. Abschnitt nennt das Zueinandergehören in seinem Titel: "Das Wesen der Entscheidung: Sein oder Nichtsein" (ebd.). Da Sein als Ereignung west, heißt Sein oder Nichtsein: Ereignung oder Nichtereignung. Damit ist das Entweder-Oder des übergänglichen Denkens gedacht. Entweder das Denken erfährt die Ereignung zu einem andersanfanglichen Denken oder die Ereignung bleibt Ereignung als Enteignung zum vorstellenden Denken. Dieses übergängliche Entweder-Oder zeigt sich aus dem Sein oder Nichtsein, d. h. jetzt aus der Entscheidung zwischen ereignender Ereignung und enteignender Enteignung. Das übergängliche Entweder-Oder hat seinen Ursprung, der es als Entweder-Oder aufgehen läßt, im Sein oder Nichtsein. Wie ist dieser Ursprung als Entspringenlassen des Entweder-Oders an ihm selbst verfaßt? In der Fügung "Der Sprung" ist der 144. Abschnitt mit einer Ausfaltung dieser Frage überschrieben: "Das Seyn und der ursprüngliche Streit (Seyn oder Nichtseyn im Wesen des Seyns selbst)" (ebd., S.264). Der Streit,
§ 7. Die Entscheidung und das Entweder-Oder im Sein und Nichts
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der im Entweder-Oder herrscht, zeigt sich dem Denken als Entscheidungsnot zwischen ereignender Ereignung und enteignender Enteignung. Streit ist hier, das Offene der sich ausschließenden Weisen denken zu können. Diesen Streit bestreiten das Sein und das Nichtsein, indem sie das Denken in diese Entscheidungsnot nötigen. Sein oder Nichtsein und ihr Streit herrschen aber "im Wesen des Seyns selbst" (ebd.). Hier ist zwischen Sein oder Nichtsein und Sein selbst zu scheiden. Das hier genannte Sein selbst ist die Ereignung überhaupt als Wesung des Seins selbst. Das Wesen des Seins selbst oder des Seins überhaupt ist die Wesung seiner als Ereignung. Die Wesung des Seins selbst als Ereignung ist Ereignung überhaupt, die sich in dem Streit von ereignender Ereignung als Sein und enteignender Ereignung als Nichtsein zeigt. Die Wesung des Seins selbst ist Ereignung überhaupt in der Wesung der Ereignung des Streites von entweder Sein oder Nichtsein. Worin hat dieser Streit seinen Ursprung? Dazu heißt es in dem auf den Titel des 144. Abschnitts folgenden Satz: "Der Ursprung des Streites aus der Innigkeit des Nicht im Seyn!" (ebd.) Das Sein selbst west in Innigkeit mit dem Nicht bzw. dem Nichts. Erst aus dieser Innigkeit als Zugehörigkeit des Nichts zum Sein selbst entspringt der Streit zwischen Sein oder Nichtsein. Er ist ursprünglicher Streit, weil er aus dem Ursprung der Zugehörigkeit des Nichts zum Sein selbst entspringt. Die Zugehörigkeit des Nichts zum Sein selbst ist das Ur-Geschehen als Ursprung im Sinne des Entspringenlassenden aller weiteren Ausfaltungen der Entscheidung. Wie geschieht diese Zugehörigkeit des Nichts zum Sein selbst? Im § 4 wurde das Sein selbst als die Ereignung der lichtenden Verbergung aufgewiesen. Die Ereignung geschieht durch den Zuwurf, aus dem für den Entwurf die lichtende Verbergung eröffnet ist. Die lichtende Verbergung geschieht im Zuwurf selbst, indem sich ein ))Daß« des Anstoßes aus dem Zuwurf dem Entwurf lichtet aus einer sich in diesem Geschehen verbergenden Herkunft. Das Verborgene ist die Herkunft dieses Geschehens. Die Herkunft ist notwendig verborgene, denn wenn sie nicht als verborgene sich zeigen würde, würde sich keine Scheidung von Zuwurf und Entwurf zeigen, und der Entwurf wäre sich selbstverständlich gegeben. Die Ent-scheidung von Entwurf und Zuwurf zeigt sich nur, wenn die Herkunft des Entwurfes sich als das Andere zu ihm zeigt in der Weise des Verborgenen. Insofern muß das Sein selbst zunächst als das Sich-Entziehende und die Verweigerung gefaßt werden, weil nur so das Sein sich überhaupt zeigt und die Scheidung von Zu- und Entwurf sich öffnet. Die Scheidung von Lichtung und Verbergung, die allererst den Entwurf vom Zuwurf scheidet, liegt aber selbst im Zuwurf des Seins als Ereignung. Im Sein selbst geschieht die lichtende Verbergung, aus der sich die Scheidung von Zuwurf und Entwurf zeigt, indem der Zuwurf sich dem Entwurf als Anderes zu ihm aus dem Verborgenen lichtet.
B. I. 11. Entfaltungen der Entscheidung
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Dieses Geschehen faßt Heidegger auch als das Gegenwendige von Sein und Nichts: "Das Gegenwendige muß in der Wesung des Seyns selbst liegen, und der Grund ist die Er-eignung als Verweigerung, die eine Zuweisung ist. Dann wäre sogar das Nicht [... ] das Ur-sprünglichere im Seyn." (ebd., S. 247)
Das Nicht bzw. das Nichts als das Verborgene wird als das Ur-sprünglichere im Sein benannt, weil es die Ereignung allererst zum Vorschein bringt. Dennoch bleibt diese Nennung im Konjunktiv, weil das Nichts nicht abgelöst vom Sein als dessen Ursprung ist, sondern im Sein dieses als Zuweisung entspringen läßt. Den Zuweisungscharakter des Nichts im Sein faßt Heidegger in folgenden Fragen: "Wie aber, wenn das Seyn selbst das Sichentziehende wäre und als die Verweigerung weste? Ist diese ein Nichtiges oder höchste Schenkung? Und ist gar erst kraft dieser Nichthaftigkeit des Seyns selbst das »Nichts« voll jener zuweisenden »Macht«, deren Beständnis alles »Schaffen« (Seienderwerden des Seienden) entspringt?" (ebd., S.246)
Das Nichts zeigt in der Ausfaltung des Urgeschehens von Sein selbst und dem ihm zugehörenden Nichts einen zuweisenden Charakter. Es zeigt sich damit einerseits nicht mehr nur als Nichtung des gleichgültigen Denkens. Dieses nichtende Nichts ist nur die erste Weise des Nichts und so die erste Weise des Aufgehens des Entweder-Oders. Darüber hinaus zeigt das zuweisende Nichts ebenfalls etwas anderes als das im übergänglichen Entweder-Oder zur Entscheidung stehende Nichtsein im Sinne der Enteignung entgegen dem Sein als Ereignung, das wir als zweite Weise des Nichts benennen können. Die Bestimmung des Nichts als zuweisende Macht hingegen, die wir als dritte Weise des Geschehens des Nichts denken können, erlaubt es, vom erfüllt oder eigentlich Andersanfanglichen zu sprechen und verweist weiter in den Raum des Verborgenen, der als Herkunft für das übergängliche Entweder-Oder in der Entscheidung zwischen Sein als Ereignung und Nichtsein als Enteignung aufgewiesen wurde. Das zuweisende Nichts ist als genauere Bestimmung dieses Verborgenen zu entfalten. Die Bestimmung der Herkunft als verborgene ist in sich noch unentfaltet. Mit der Macht der Zuweisung erst wird das Verborgene weiter entfaltet als im ersten "Daß" der Erfahrung der Herkunft aus dem Verborgenen. 56 Das Sichentziehende und die Verweigerung als das Nichthafte im Sein sind nicht nur erstes Aufgehen des Seins überhaupt, sondern bestimmen den Grad der Macht der Zuweisung. Um diesen Sachverhalt zu verdeutlichen, ist auf folgende weitere Bestimmung des Nichts zu verweisen: "Das Nichts ist weder negativ, noch ist es »Ziel«, sondern die wesentliche Erzinerung des Seyns selbst [... ]." (ebd., S. 266)
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Vgl. ebd., S. 240.
§ 7. Die Entscheidung und das Entweder-Oder im Sein und Nichts
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Die Erzitterung gibt mehr frei als das erste bloße Sichöffnen des Seins selbst im Sinne der Ereignung durch das Aufgehen der Herkunft des Entwurfes aus dem lichtend-verbergenden Zuwurf. Im Erzittern liegt eine Differenzierungsmöglichkeit hinsichtlich des Grades der Zuweisung von Sein. Das Erzittern ist nicht gleichförmig, sondern als Zittern gibt es ein Maß des Grades der Durchstimmtheit des Seins als Ereignung vom Nichts und in diesem Sinne ein Maß der Schenkung und Zuweisung, weshalb hiervon ausgehend vom erfüllt geschenkten oder zugewiesenen Geschehen des eigentlich Andersanfänglichen gesprochen werden kann. Dieses Maß der Erzitterung bestimmt sich aus einem Grad der Tiefe des Nichts im Sein. Zu dem Maß der Erzitterung heißt es im 202. Abschnitt: "Je ursprünglicher das Sein in seiner Wahrheit erfahren wird, um so tiefer ist das Nichts als der Abgrund am Rande des Grundes." (ebd., S. 325)
Die Thematik des Abgrundes und Grundes lassen wir vorläufig beiseite. Wichtig ist zunächst die Bestimmung der Tiefe des Nichts. Im Geschehen von Sein und Nichts herrschen Grade der Tiefe des Nichts und insofern Grade der Ursprünglichkeit der Erfahrung des Seins als Ereignung. Die Grade der Tiefe des Nichts machen seine Erzitterung im Sein aus. Je tiefer das Verborgene als das Nichts die Ereignung erzittern läßt und so durchstimmt, desto tiefer ist die Herkunft des Seins als Ereignung und die Macht der Zuweisung der Ereignung. 57 Das Nichts als das Verborgene ist so das Maß der Durchstimmtheit der Ereignung. Das Urgeschehen im Sein selbst als der Ereignung ist das Zusammengehören von Sein und Nichts, wobei der Grad der Tiefe der Herkunft und des Geschehens von Sein aus dem Grad der Tiefe des Nichts als des Verborgenen entspringt. Desto tiefer das Nichts als das Verborgene geschieht, desto stärker west das Sein als die Ereignung. Das Verhältnis von Sein und Nichts ist Ursprungsverhältnis im Sinne von Entspringenlassen und Grad des Entspringenlassens. Der Grad des Entspringenlassens und Durchstimmens ist dasjenige Phänomen, welches das zuweisende Nichts weiterreichend als die noch unbestimmte Verborgenheit sein läßt. Nach dem Grad der Durchstimmtheit bemißt sich der Grad der erfüllt andersanfänglichen Entscheidungsnot und insofern der Grad des erfüllt andersanfänglichen Denkens. Mit dem Nichts als Grad der Erzitterung ist derjenige Bereich entfaltet, der als andersanfangliche Entscheidungsnot im § 6 von der übergänglichen Entscheidungsnot nur vorzeichnend geschieden wurde. Wenn Grade der Erzitterung denkerisch erfahren werden, dann ist das Denken in einer
57 Vgl. zu den Graden des Nichts: "Je reicher das »Nichts«, umso einfacher das Seyn." (ebd., S. 245), und zur Durchstimmung von Sein durch das Nichts: "[ ... ] durch und durch durchstrahlt vom Nichts west das Sein" (ebd., S. 483).
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B. I. 11. Entfaltungen der Entscheidung
solchen Erfahrung andersanfänglich. Das Andersanfängliche steht in der Entscheidungsnot, ob und wie tief das Denken von der Erzitterung durchstimmt ist. Aus dieser Entscheidungsnot, die sich am Grad der Erzitterung bemißt, läßt sich erst eine übergängliche Entscheidungsnot aufweisen, weil jetzt erst nach einem Maß, das bestimmt, ob andersanfänglich oder vorstellend gedacht wird, differenziert werden kann. Insofern entspringt aus der andersanfänglichen Entscheidungsnot erst die übergängliche Entscheidungsnot, weil sich jetzt eine Unterscheidungsmöglichkeit im Grad der Erzitterung zeigt. Das Urgeschehen von Sein und dem Nichts als dessen Erzitterung ist das erfüllte andersanfängliche Geschehen des Seins als Ereignung. Ihm entspringt die andersanfängliche Entscheidungsnot, ob und wie tief die Ereignung vom Nichts durchstimmt ist. Aus diesem Geschehen eröffnet sich das übergängliche Geschehen des Streites von Sein oder Nichtsein, das sich dem Denken als übergängliche Entscheidungsnot des Entweder-Oders hinsichtlich des vorstellenden oder ereigneten Denkens zeigt. Bei diesem Aufweis der Zugehörigkeit des Nichts zum Sein und des Grades der Erzitterung des Nichts im Sein kann sich die Frage ergeben, ob hier nicht das Nichts im Sein aufgehoben wird und so das Entscheidungshafte verlassen wird. Sein und Nichts könnten als zusammenfallend verstanden werden. Die Erzitterung im Sein ist doch Erzitterung des Seins und insofern wäre das Nichts nur ein Charakter des Geschehens von Sein als Ereignung, der der Ereignung den besonderen Grad verleiht. Für diese Frage ist das Geschehen von Sein und Nichts hinsichtlich seines Ursprungscharakters für den Streit von Sein oder Nichtsein genauer zu entfalten. Sein selbst und Nichts als das Ursprungsgeschehen lassen den Streit von Sein oder Nichtsein entspringen. Sein selbst und Nichts geschehen nicht für sich, sondern nur in der Weise des durch sie entspringenden Streites von Sein oder Nichtsein. Weder läßt sich dieser Streit im Sein selbst als dem fundierenden Dritten der beiden auflösen, weil das Sein selbst nichthaft west. Aber genausowenig läßt sich das Nichthafte im Sein selbst einfach in dieses auflösen, weil erst durch das Nichthafte als die Erzitterung im Sein selbst der Streit zwischen Nichtsein oder Sein entspringt. Hier wird weder eine Dialektik in einem auflösenden Dritten noch eine Gleichsetzung in einem Begriff, in dem Sein und Nichts das Gleiche wären, erfahren und gedacht. Das hier gedachte Verhältnis von Nichts im Sein selbst und Sein oder Nichtsein ist keine Stufung zu einer Auflösung hin, sondern zeigt Ausfaltungen eines einzigen zusammengehörenden Geschehens. Das Sein selbst und das Nichts geschehen in ihrer Zusammengehörigkeit im Streit von Sein oder Nichtsein. Das Sein als ereignende Ereignung ist nichthaft, weil es dem Urgeschehen von Sein selbst und Nichts entspringt. Es entspringt aber nicht für sich, sondern im Streit mit dem Nichtsein als der enteignenden
*7. Die Entscheidung und das Entweder-Oder im Sein und Nichts
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Ereignung. Heidegger charakterisiert diesen Streit von Sein oder Nichtsein auch folgendermaßen: "Aber das Nichtseyn west und das Seyn west, das Nichtsein west im Unwesen, das Seyn west als nichthaft. Nur weil das Seyn nichthaft west, hat es zu seinem Anderen das Nichtsein. Denn dieses Andere ist das Andere seiner selbst. Als nichthaftes wesend ermöglicht und erzwingt es zugleich Andersheit." (ebd., S.267) Die zuvor vorgenommene Scheidung von Sein selbst und dem Streit von Sein oder Nichtsein wird hier zusammengesehen. Das Sein selbst west nichthaft und so wesend erzwingt es Andersheit aus seiner Nichthaftigkeit, indem es den Streit von Sein in nichthafter Durchstimmung und Nichtsein im Ausbleib dieser Durchstimmtheit entspringen läßt. Das Nichthafte im Sein selbst ermöglicht das Nichtsein, indem sich das Nichthafte als Nicht der Durchstimmtheit geben kann. Dieses Andere des Seins ist Anderes seiner selbst, weil es ihm selbst aus seiner Nichthaftigkeit entspringt. Der Streit von Sein oder Nichtsein zeigt sich dem Denken als Entweder-Oder. Dieses Entweder-Oder hat seine ausschließende Schärfe des Einen oder Anderen aus diesem Streit. Das Denken wird durch diesen Streit genötigt, entweder ereignet oder enteignet zu denken. Diese Fundierung des Entweder-Oders im Streit von Sein oder Nichtsein faßt Heidegger als ein Erzwingen des EntwederOders, das sich dem Denken zeigt: "Das Eine und das Andere [das Sein und das Nichts] erzwingen selbst sich das Entweder-Oder als erstes." (ebd., S. 267) Drei Ausfaltungen eines einzigen Geschehens lassen sich aus dem bisherigen zusammensehen: Das Urgeschehen von Sein überhaupt ist erstens das Zueinandergehören von Sein und Nichts als dessen Erzitterung. Dieses läßt zweitens den Streit von Sein oder Nichtsein entspringen, der das Denken drittens in ein Entweder-Oder nötigt oder, anders gesagt, sich vom Denken her als das Entweder-Oder zeigt.
b) Die Scheidungen hinsichtlich Un-wesen, Verstellung und Un-wahrheit Im Geschehen von Sein und Nichts zeigt sich die wesenhafte Zusammengehörigkeit der Scheidungen von Wesen und Un-wesen, von Verbergung und Verstellung sowie von Wahrheit und Un-wahrheit. Hiermit ist außerdem die Frage nach der Möglichkeit der Gleichgültigkeit angesprochen, die bisher nicht explizit ausgelegt wurde. Dafür sind die genannten Scheidungen gegenüberzustellen. Im Sein als Geschehen der Ereignung zeigt sich dessen Wesen als seine Wesung. Das Nichts west im Wesen des Seins als Wesung in der Weise der Ver-
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B. 1. 11. Entfaltungen der Entscheidung
bergung. Wenn es als Verbergung west, durchstimmt es die Ereignung als differenzierbarer Grad der Erzitterung. Das Nichts als Verbergung ist somit die Eröffnung und der Grad der Eröffnung der Herkunft des Entwurfes aus dem Zuwurf.
Im Nichtsein als Geschehen der Enteignung zeigt sich dessen Wesen als Unwesen in der Weise des Nicht der Wesung als Ereignung. Das Nichts west im Un-wesen des Seins als Nichtwesung in der Weise der Verstellung der Wesung. Wenn es als Verstellung west, bleibt die Durchstimmung als differenzierbarer Grad einer Erzitterung aus. Das Nichts als Verstellung ist somit die Verschließung der Herkunft des Entwurfes aus dem Zu wurf. 58 Wenn das Nichts als Verborgenes die Ereignung durchstimmt, läßt es so den Entwurf einen wahrenden Entwurf sein. Die Wahrheit als Wahren bestimmt sich aus der gewußten Rückgegründetheit des Entwurfes in den Zuwurf als Verborgenes. Wahrheit hat demnach seinen Wahrheitsgrad aus der Herkunft des Entwurfes. Der Grad des Nichts als Verborgenes, d. h. der Grad der Erzitterung, bestimmt die Tiefe der Herkunft der Wahrheit aus dem Zu wurf. Wahrheit ist demgemäß Grad der Bewahrung des Verborgenen als der Herkunft des Entwurfes. Wahrheit ist in solcher Hinsicht Wahrung. Etwas ist dementsprechend in dem Grade wahr, wie es das Nichts als Grad des Verborgenen wahrt. Die Wahrung der nichthaften Erzitterung bestimmt den Grad der Wahrheit von etwas. Deshalb ist von Wahrnis oder Wahrung zu sprechen, weil die Wahrheit Geschehen des Wahrens ist. Die Wahrheit des Seins ist Wahrung des Seins im Sinne der Wahrung der im Sein geschehenen Erzitterung des Nichts. Das Nichts ist somit das die Wahrheit bestimmende Moment. Als Grad der Erzitterung des Seins bestimmt das Nichts den Grad der Wahrheit des Seins und insofern den Grad, ob und wie etwas wahr ist, d. h. jetzt das Nichts wahrend gewahrt ist. Die Un-wahrheit des Entwurfes entspringt der Verstellung der Rückgegründetheit in den Zu wurf. Un-wahrheit ist in diesem Sinne Unwahrung des Verborgenen der Herkunft, weil diese sich in der Verstellung verschließt. Das Nichts zeigt sich in der Verstellung nur als Nicht des Zuwurfes qua Herkunft und läßt so den Entwurf nur unwahrend entwerfen. Die Un-wahrheit ist mit dieser Bestimmung ganz aus dem Raum der falschen Aussage oder dem falschen Schließen innerhalb der formalen Logik herausgenommen. Etwas ist unwahr, wenn nicht das Nichts als Grad der Erzitterung gewahrt ist. Dabei kann etwas durchaus richtig sein, wie z.B. eine richtige Aussa-
58
Vgl. ebd., S. 347.
§ 7. Die Entscheidung und das Entweder-Oder im Sein und Nichts
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ge oder das richtige Ergebnis einer Untersuchung. Dennoch bleibt etwas Richtiges unwahr, wenn es nichts wahrt, d. h. das Nichts nicht wahrt. 59 Da Sein und Nichtsein zueinandergehörig im Entweder-Oder sich zeigen, gehört wesenhaft zur Verbergung als Eröffnung der Herkunft aus dem Zuwurf die Verstellung als Verschluß dieser Herkunft. Zur Wahrheit als allererst zu entscheidende gehört wesenhaft die mögliche Unwahrheit. Heidegger nennt diese wesenhafte Gefahr und Möglichkeit zur Unwahrheit die Irre: "Jetzt erst [aus der Lichtung für die Verbergung] auch wird der Ursprung der Irre deutlicher und die Macht und Möglichkeit der Seinsverlassenheit, die Verbergung und die Ver-stellung; die Herrschaft des Ungrundes." (GA 65, S. 351)60
Der aus dem nichthaften Sein selbst entspringende Streit von Sein oder Nichtsein ist die wesenhafte Möglichkeit von sich lichtender Verbergung der Wahrheit des Seins als Ereignis oder sich verschließender Verstellung der Seinsverlassenheit als Enteignis. Das Nichts ist insofern in sich zwiefach. Es kann als Verbergung aufgehen oder in der Verstellung verschließen. Die Verstellung selbst muß jedoch in sich nochmals differenziert werden. Die Gleichgültigkeit als das Nichtentscheiden und somit nicht vor ein EntwederOder Sichbringen blieb bislang nicht ausdrücklich thematisiert. Sie hat ihre Herkunft aus der verschließenden Verstellung des Seins als Ereignung aus dem Nichtsein. Insofern geschieht auch sie aus dem Sein selbst in der Weise, daß sich das Nichtsein so vordrängt, daß es als verstellendes Nicht zur Gleichgültigkeit enteignet, die seinsvergessen bleibt, d. h. dieses Enteignis nicht als ein solches erfährt. Die Gleichgültigkeit als Seinsvergessenheit steht vor keinem Entweder-Oder des Streites. Durch die erste Weise des Nichts als der Nichtung der Gleichgültigkeit geht allererst das Entweder-Oder auf. Dieses Entweder-Oder zwischen
59 Aus diesem Sachverhalt des Nichts als bestimmendes Moment für die Wahrheit und die Un-wahrheit läßt sich Heideggers variierende Sprechweise von der Un-wahrheit auslegen. So ist z.B. der 228. Abschnitt überschrieben: "Das Wesen der Wahrheit ist die Un-Wahrheit" (GA 65, S. 356; vgl. auch im Kunstwerkaufsatz: "Die Wahrheit ist in ihrem Wesen Un-wahrheit." (HW, S. 43». Diese Redeweise will auf den zweifachen Charakter des Nichts bezüglich der Wahrheit verweisen. Un-wahrheit heißt hier einerseits, daß das "Un-", das Nichthafte, gewahrt wird und so Wahrheit erst Wahrung ist. Andererseits kann das Nichts auch nur als Nicht im Sinne der Verstellung sein und somit die Unwahrheit im Sinne des nicht gewahrten Nichts herrschen. 60 Vgl. zur wesenhaften Zugehörigkeit der Irre zur Wahrheit bzw. zur Irre selbst als Lichtung die Ausführungen im zeitlich direkt an die »Beiträge« anschließenden Manuskript »Besinnung« (Heidegger, Martin, Besinnung, Gesamtausgabe Bd. 66, Frankfurt a.M. 1997 (im folgenden zitiert als: GA 66» des 72. Abschnitts "Die Irre" (GA 66, S. 258), in dem weitergehend als in der oben zitierten, nur einmaligen Nennung der Irre in den »Beiträgen« auf den Zusammenhang von Irre und Wahrheit eingegangen wird, sowie den gleichlautenden Abschnitt 139 in: GA 69, S. 150.
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B. I. II. Entfaltungen der Entscheidung
Gleichgültigkeit oder dem Entweder-Oder erfährt allererst die Seinsvergessenheit als Seinsvergessenheit und sieht sich vor die Entscheidung des EntwederOders gebracht: aus dem Sein denken zu können oder dem Nichtsein entsprechen zu müssen. Diese Entscheidung läßt erst deutlich werden, daß die Gleichgültigkeit nicht abgelöst für sich ist, sondern dem Nichtsein im Sinne der Enteignung entspringt, die selbst eine Weise des Seins selbst ist. Wenn das Denken aber in der Gleichgültigkeit verbleibt, öffnet sich nicht der Streit von Sein oder Nichtsein, sondern es bleibt nur das sich selbstverständliche seinsvergessene Denken.
c) Die Entscheidung von Zuwurf und Entwurf im Sein und Nichts Die Darlegung des Geschehens von Sein als Ereignis hat verschiedene Ausfaltungen dieses einen Geschehens in den Blick gehoben. Diese Ausfaltungen sind nicht aufeinander aufgebaut oder auseinander abgeleitet zu denken, sondern als ein einziges Geschehen, das aber in verschiedenen Hinsichten, die an ihm unterscheidbar sind, gezeigt werden kann. Bisher wurde jedoch in diesem Geschehen von Sein und Nichts die Frage nach der Scheidung von Zuwurf und Entwurf nur mitthematisiert. Sein als Ereignis umfaßt aber immer das ganze Geschehen des ereignenden Zuwurfes und des ereigneten Entwurfes. Das Geschehen von Sein und Nichts herrscht nur im Zueinandergehören von Zuwurf und Entwurf. Der jeweilige denkerische Entwurf birgt nur aus dem Zuwurf das »Ob« und» Wie« der Tiefe der Erzitterung. Dennoch läßt sich der Blick auf das je Eigene im Zuwurf und im Entwurf zur Verdeutlichung dieser Scheidung und ihrer Zusammengehörigkeit lenken. In dieser Hinsicht sind die auf den das Geschehen von Sein und Nichts und des Entweder-Oders aufzeigenden 47. Abschnitt folgenden Ausführungen auszulegen: "48. In welchem Sinne die Entscheidung zum Seyn selbst gehört Die Entscheidung und die Not als Umtrieb der Geworfenheit des Werfers. Die Entscheidung und der Streit. Die Entscheidung und die Kehre." (ebd., S. 102)
Die Not, der Streit und die Kehre sind aus dem vorher entfalteten Geschehen von Sein und Nichts hinsichtlich des Zuwurfes und des Entwurfes zu bedenken. Die Entscheidung gehört in dem Sinne zum Sein selbst, insofern im Sein zwischen Sein und Nichts geschieden werden kann. Die Entscheidung kann aus dem vorher Ausgelegten nun als die Scheidung von Sein und Nichts im Sein selbst gedacht werden. Aus dieser Ent-scheidung als Ur-scheidung entspringt die Entscheidung ob Sein oder Nichtsein hinsichtlich Durchstimmung oder
§ 7. Die Entscheidung und das Entweder-Oder im Sein und Nichts
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Ausbleib der Durchstimmung. Die Urscheidung ist wesenhaft im Sein, d. h. jetzt mit Blick auf den Zu wurf, daß sie im ZuwurJ selbst geschieht. Die Urscheidung im Zuwurf von Sein zeigt sich im Entwurf in der "Not als Umtrieb der Geworfenheit des Werfers" (ebd.). Die Geworfenheit aus dem Zuwurf treibt den Werfer des Entwurfes in der Not um. Weil Sein im Zuwurf in der Zusammengehörigkeit mit dem Nichts sich gibt, bringt es den Werfer in die Not. Der Entwurf hält sich durch den Zuwurf im Geschehen von Sein und Nichts und somit wesenhaft in der Not, ob und wie tief das Sein nichthaft durchstimmt gedacht werden kann oder ob sich das Sein im Nichts als der Verstellung verschließt. Die Not aus dem Zuwurf ist wesenhafte Not und läßt den Entwurf allererst am Geschehen der Ereignung teilhaben. Insofern ist die Not, die sich aus der Nichthaftigkeit des Seins ergibt, Anzeige und Schenkung, weil aus ihr der Entwurf sich inständlich im Zuwurf weiß. Aus diesem Sachverhalt ist die zweite Bestimmung "Die Entscheidung und der Streit" (ebd.) auszulegen. Die Entscheidung als Urscheidung im Zuwurf eröffnet dem Entwurf erst den Streit von Sein oder Nichtsein aus der Urscheidung von Sein und Nichts. Der Entwurf ist aus diesem Streit im Sein selbst in ihn versetzt, indem es zur Entscheidung steht, ob er das Sein als Ereignung oder Enteignung erfährt. Die Entscheidung im Sein selbst zwischen Sein oder Nichtsein ist der Streit des Seins selbst. Dieser Streit als die wesenhafte Nichtigkeit des Seins ist die Kehre im Sein. Das Sein ist im Zuwurf kehrig zwischen Sein oder Nichtsein. Aus dieser Kehre im Zuwurf entspringt das Kehrige zwischen Zuwurf und Entwurf. "Die Entscheidung und die Kehre" (ebd.) besagt, daß aus der Kehre als der wesenhaften Nichtigkeit des Seins die Kehre als Scheidung von Zuwurf und Entwurf entspringt. Die Kehre als das Zueinander von Nichts und Sein ereignet den Entwurf als geschieden vom Zuwurf. Der Entwurf erfährt sich erst geschieden vom Zuwurf, indem er in den kehrigen Streit von Sein oder Nichtsein versetzt ist. Erst dadurch, daß der Entwurf vor das Entweder-Oder des Streites von Sein oder Nichtsein gebracht ist, geht er selbst als vom Zuwurf Geschiedenes auf, weil er in die Fragwürdigkeit des Einen oder Anderen versetzt ist und somit sich nicht mehr selbstverständlich gegeben ist. Diese Scheidung ist aber selbst keine abtrennende, sondern ist selbst die Kehre von Zuwurf für den Entwurf aus der Kehre im Zuwurf selbst als dem Streit von Sein oder Nichtsein. Der Zuwurf braucht in dieser Hinsicht den Entwurf für den Austrag des Streites von Sein oder Nichtsein, und der Entwurf ist in dieser Hinsicht dem Zuwurf zugehörig. In diesem Brauchen liegt der eigentliche Ursprung des Entweder-Oders, das sich dem Denken als Entweder-Oder zwischen Ereignung und Enteignung zeigt. Weil das Sein selbst im kehrigen Streit von Sein oder Nichtsein aus dem wesenhaften Zueinandergehören von Sein und Nichts west, gibt es sich in dem ereignenden Zuwurf so, daß es das Denken in das Entweder-Oder nötigt, d. h. das es sich das Denken ernötigt, weil es das Denken für den Austrag des Streites braucht: 7 MUller
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8. I. 11. Entfaltungen der Entscheidung "Aus der wesenhaften Nichtigkeit des Seins (Kehre) ergibt sich, daß es jenes verlangt und braucht, was vom Da-sein her als Entweder-Oder sich zeigt, das Eine oder das Andere, und nur sie." (ebd.)
Die weitere Ausfaltung der Kehre als Kehre von Zuwurf und Entwurf hat ihr engeres Geschehen im Zuwurf selbst, aus dem heraus der Entwurf als kehrig zugehörig und gebraucht entfaltet werden kann. Mit der Darstellung von Entscheidung, Not, Streit und Kehre sind so jeweils zu unterscheidende Momente des einen, einzigen Geschehens von Sein und Nichts abzuheben. Entscheidung, Not, Streit und Kehre geschehen jeweils im Zuwurf, so aber, daß sie aus diesem Geschehen den Entwurf ereignen. Die Ent-scheidung im Zuwurf des Seins ist die Ur-scheidung von Sein und Nichts, die die Ent-scheidung von Zuwurf und Entwurf aufgehen läßt, weil durch das Nichthafte im Sein das Denken aus seinem selbstverständlichen Vollzug herausrückt. Es rückt dadurch heraus, daß durch das Aufgehen der nichthaften verborgenen Herkunft von Sein sich der Entwurf als geschieden vom Zuwurf erfährt und der Zuwurf von Sein als fragwürdige Herkunft aufgeht. Das Fragwürdige entstammt der Not, die im Zuwurf des Seins herrscht. Sie herrscht als Not, weil durch das Nichthafte im Sein die Not gegeben ist, wie sich das Nichthafte gibt. Die Not im Zuwurf nötigt das Denken in den Umtrieb des Entweder-Oders, ob das Nichts als Erzitterung der Ereignung aufgeht oder als Nicht der Erzitterung, das die Ereignung verschließt. Diese Not aus der Ent-scheidung als Ur-scheidung von Sein und Nichts ist nicht statisch, sondern herrscht als Streit im Zuwurf von Sein. Dieser Streit im Zuwurf von Sein hinsichtlich Sein oder Nichtsein aus der Urscheidung von Sein und Nichts erstreitet sich den Entwurf, indem dieser in diesen Streit versetzt wird, der sich dem Denken als das Entweder-Oder zeigt. Der Streit als Streit von Sein oder Nichtsein ist in sich die Kehre im Zuwurf von Sein als gegenwendigem Geschehen. Diese engere Kehre als das Gegenwendige im Zuwurf von Sein bringt den Entwurf in die weitere Kehre von Entwurf und Zuwurf, indem sie das Denken in das kehrige Geschehen im Sein nötigt, dadurch, daß sie das Denken vor das Entweder-Oder bringt. Diese Sachverhalte können wir folgendermaßen zusammenfassen: Ent-scheidung ist zunächst das "Daß" der Scheidung von Sein und Nichts, aber aus dieser Scheidung entspringt immer zugleich das "Daß" der Scheidung von Zuwurf und Entwurf. Not ist zunächst die Gefahr im Sein durch das Nichts in ihm selbst, aber aus ihr entspringt immer zugleich die Nötigung des denkerischen Entwurfes. Streit ist zunächst die nähere Bestimmung der Not als Gefahr im Sein selbst hinsichtlich des Gegensatzes und der Ausschließlichkeit von Sein oder Nichtsein, aber somit immer zugleich die Erstreitung des Entwurfes, der in diesen Streit aus ihm versetzt ist.
§ 8. Die Entscheidung des Seins im Geschehen von Da-sein und Seiendem
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Kehre ist schließlich die genauere Bestimmung der Bewegtheit des ausschließenden Streites im Sein selbst, aber immer zugleich Bewegung für das entwerfende Denken, das sich aus der Kehre in dieser Bewegung bewegt ereignet erfährt.
§ 8. Die Entscheidung des Seins im Geschehen von Da-sein, Mensch und Seiendem
Ausgehend von der Entfaltung der Entscheidung zwischen Sein und Nichts in ihren Momenten des Zu- und Entwurfes, der Not, des Streites und der Kehre können wir jetzt die weitere Bahn des Denkens des Ereignisses hinsichtlich des Seins und des Da-seins sowie des Menschen und der Bergung der Wahrheit des Seins in das Seiende bedenken. Denn das Geschehen von Zuwurf und Entwurf wird von Heidegger nochmals eigens in der Scheidung von Sein, Da-sein und Mensch bedacht. Diese Scheidung erst verdeutlicht den EntwurfjUr das Seiende im Geschehen von Sein und Nichts als dem Ereignis.
a) Das Da-sein im Sein und die Gründung der Wesung der Wahrheit Vom Da-sein heißt es im 122. Abschnitt: "In der Eröffnung der Wesung des Seyns wird offenbar, daß das Da-sein nichts leistet, es sei denn den Gegenschwung der Er-eignung aufzufangen [... ]." (GA 65, S. 239)
Der Gegenschwung der Ereignung ist zunächst vom Auffangen seiner im Dasein zu scheiden. Der Gegenschwung ist zuerst das im Zuwurf gegenschwingende Geschehen von Sein und Nichts. Aus diesem Gegenschwung entspringt aber immer zugleich, daß er den Entwurf braucht. Diese Bewegung des Brauchens des Entwurfes geschieht aus dem Gegenschwung im Zuwurf selbst, indem er sich den Entwurf er-schwingt. Dieses Er-schwingen ist die Er-eignung für den Entwurf im Da-sein. 61 Die Ereignung wird vom Da-sein aufgefangen. Beides zusammengesehen macht erst die Wesung des Seins als Ereignis aus. Das Ereignis ist so das Zueinander von Ereignung und Auffangen. Das Sein als Ereignis ist der Zuwurf der Ereignung und das Auffangen der Ereignung im Dasein. Diesen Bezug von Da-sein und Sein im Ereignis entfaltet Heidegger genauer anhand des Begriffs der Gründung: 61
7·
Vgl. ebd., S. 262.
100
B. 1. 11. Entfaltungen der Entscheidung
"Das Seyn west als das Ereignis der Dagründung, in der Abkürzung: als Ereignis. [... ] Ereignis der Dagründung will gemeint sein als genitivus objectivus, das Da, Wesung der Wahrheit in seiner Gründung (das Ursprünglichere des Da-seins) wird er-eignet, und die Gründung selbst lichtet das Sichverbergen, das Ereignis." (ebd., S. 247)
Das Ereignis ist hier als Ereignis der Dagründung gefaßt. Die Dagründung umschließt sowohl die Ereignung als Zuwurf wie auch den im Da-sein vollzogenen Entwurf. Zur Klärung dieses Bezuges ist zunächst der Bereich des Zuwurfes zu entfalten. Die Ereignung als Zuwurf im Ereignis ist die Ereignung des Da. In der Ereignung des Da als Dagründung läßt sich zwischen Da und Zuwurf als Ereignung. scheiden. Die Ereignung ereignet so, daß sie das Da allererst gründet. Gründung ist hier Ereignung der Lichtung im Sinne des Aufgangs des Sichverbergens. Das Da ist die im Sichverbergen gegründete Lichtung. Sie ist nur dann Lichtung des Seins, wenn in ihr das sie gründende, das Sichverbergende, d. h. das Nichts im Sein, gelichtet ist. Die Gründung des Da gründet insofern abgründlich, weil das Nichts sich als der Abgrund im Gründen lichtet. Der Grund des Da ist deshalb seine abgründige Gründung, als die das Sein als Ereignung west. Grund meint Gründung als Geschehen, d. h. nicht als etwas Festes oder als ableitbare Ursache. Die abgründige Gründung des Da ist das Geschehen des Zuwurfes der Ereignung, die sich das Da als ihre Lichtung für das Sichverbergen gründet. Sie ist demzufolge "das Ursprünglichere des Da-seins" (ebd.), weil sie das Da der Lichtung allererst gründet. Das Da wird im Zitat weiter hinsichtlich der "Wesung der Wahrheit in seiner Gründung" (ebd.), d. h. in der Gründung des Da, entfaltet. Die Wahrheit, die zuvor nur in ihrem Bezug zum Sein und Nichts ausgelegt wurde, wird somit in das Geschehen von Sein als Ereignung des Da miteinbezogen. Die Wesung der Wahrheit nennt ihre Weise zu sein. Wahrheit ist nur, d. h. west, in der Gründung der Lichtung des Da. Was wird aber genauer mit den Worten Da und Lichtung sowie Wahrheit, Sein und Ereignung unterschieden? Die Wahrheit nennt Heidegger wiederholt die Lichtung des Sichverbergens. 62 Wahrheit ist in solchen Nennungen immer als Wesung der Wahrheit zu entfalten. Wahrheit ist nicht und west noch außerdem, sondern Wahrheit ist Geschehen ihrer als Wesung. Die Wesung der Wahrheit heißt Lichtung des Sichverbergenden, weil sie nur im Da geschieht. Wie ist jedoch zwischen der Wesung der Wahrheit als Lichtung und dem Da als Lichtung zu differenzieren? Das Da kann als die Lichtung selbst gedacht und hierin von der Wesung der Wahrheit als Lichtung des Sichverbergens unterschieden werden. Da und Lichtung sind in eins zu denken. Da ist geöffnete Offenheit. Das Da als Offenes hat die nähere Bestimmung des Lichtungseins. Das Da ist offen, aber nicht indifferent, sondern 62
Vgl. z.B. ebd., S. 347 oder S. 357.
§ 8. Die Entscheidung des Seins im Geschehen von Da-sein und Seiendem
101
als Lichtung. Im Da ist "etwas" gelichtet und in diesem Sinne ist das Offene des Da Lichtungjür ein Gelichtetes. In einem nicht gegenständlich gemeinten Sinn kann vom einem geöffneten Raum gesprochen werden, der Lichtung ist für etwas, das in ihm gelichtet ist, wobei auch dieses Gelichtete kein etwas als Gegenständliches ist. Das im Da Gelichtete ist die Wesung der Wahrheit. Sie ist das im Da gelichtet Geschehene. Die Wesung der Wahrheit gründet sich selbst das Da als ihren Geschehnisraum und ist in dieser Hinsicht selbst Lichtung als in der Lichtung Sichlichtendes. Die Wesung der Wahrheit ist aber Sichlichtendes für das Sichverbergende, d. h. sie west nur in der Lichtung, wenn sie als nichthaft durchstimmte west. Das Sichverbergen der Lichtung ist ihre verborgene Herkunft, die sich als verborgene nur zeigt, wenn sie als das Andere zur Lichtung in der Lichtung aufgeht. Insofern ist das Geschehen von Wahrheit Wesung des Sichlichtens der Lichtung des Sichverbergens, weil in dieser Wesung beides sich öffnet: die Lichtung des Da und das Gelichtete des Sichverbergens als Eröffnung der Lichtung. Inwiefern läßt sich aber demzufolge noch zwischen Wesung der Wahrheit als Lichtung des Sichverbergens und Sein als Ereignung unterscheiden? Sind Wahrheit als Wesung und Sein als Ereignung nicht ein und dasselbe? Hier zu unterscheiden, verlangt Sein als Ereignung in einem weiteren und einem engeren Sinn zu denken. Sein als Ereignung ist einerseits die Ereignung überhaupt als Ursprungsbewegung. Sein geschieht als Ereignung der Dagründung, d. h. als Gründen der Lichtung des Sichverbergens. Diese Ereignung geschieht nur, wenn Sein als Verborgenes die Lichtung seines Sichverbergens eröffnet und so als Sichverbergendes allererst aufgeht. In diesem weiteren Sinne liegt der engere Sinn, daß die Wesung der Wahrheit nur in der Wesung des Seins als Ereignung gelichtet ist. Sein als Ereignung ist immer Lichten der Wesung der Wahrheit, die nur dann Wahrheit ist, wenn sie ihre Ereignungsbewegung aufgehen läßt, d. h. wenn das Nichts als das Sichverbergende in der Wesung sich lichtet. Heidegger nennt dieses Ganze des Geschehens die Wesung der Wahrheit des Seins als Ereignung. Die Ursprungsbewegung ist demnach das Ereignen des Seins. Diese Bewegung geschieht aber als Wesung von Wahrheit. Sie geschieht so, daß sie sich das Da gründet als ihre Lichtung für ihr Sichverbergen und so diese Lichtung nichthaft durchstimmt. Die Ereignung der Lichtung des Sichverbergens ist Wesung des Seins überhaupt, und das in ihr sichverbergend Lichtende ist die Wesung der Wahrheit. Das Geschehen von Sein als Ereignis ist so bislang im Bereich des Zuwurfes entfaltet worden. Der Zuwurf von Sein zeigt sich als Ereignung der Wesung von Wahrheit, die sich das Da gründet als die gebrauchte Lichtung für ihr Sichverbergen. Das Da ist im Bereich des Reichens des Zuwurfes die eröffnete Lichtung von Wahrheit. Das Da ist aber nur Offenheit im Da-sein. Das Da-sein
102
B. I. 11. Entfaltungen der Entscheidung
umfaßt den Zuwurf und den Entwurf. Heidegger unterscheidet im Wort Da-sein den Zuwurf und den Entwurf in der Schreibweise Da-sein und Da-sein: "Auf Wahrheit als Offenheit des Sichverbergens ist das Da-sein bezogen, angesetzt durch Seinsverständnis. Entwerfend das Offene für das Sein. Da-sein als Entwerfung der Wahrheit des Seyns (»Da«)." (ebd., S. 295)
Das Da-sein mit der Betonung auf "Da" ist dergestalt auf "Wahrheit als Offenheit des Sichverbergens" bezogen, daß es die gegründete Lichtung aus der Wesung der Wahrheit des Seins im Zuwuifist. Da-sein als Lichtung ist aber nur dann Offenheit, wenn sie im Entwuif entwerfend offengehalten wird. Der Vollzug des Da-seins ist Da-sein als "Entwerfung der Wahrheit des Seyns", d. h. als Entwerfung des Da. Das Da ist zwar "zuerst" zugeworfen gegründete Lichtung, aber diese Lichtung wird erst "dann" zur Offenheit des Da in der Wesung der Wahrheit des Seins, wenn dieses Offene im Entwurf des Da-seins offengehalten wird. Das "Offene für das Sein entwerfen" sowie die "Entwerfung der Wahrheit des Seins" als Da geschehen nur aus dem Offenen als Da und aus der Wahrheit des Seins. Ein Offenes wird zwar für das Sein entworfen, d. h. für jenes, welches das Da als Offenes öffnet, aber nur aus der durch das Sein geöffneten Öffnung. Ein Widerspruch ergibt sich hier nur, solange das Denken zeitlich linear denkt. Aus einem zeitlich-linearen Denken entsteht notwendig der Widerspruch, wie denn für etwas, was sich als Offenes gibt, das Offene erst zu entwerfen ist. So gedacht, kann sich die Frage nach dem, was zuerst ist, das Öffnende des Zuwurfes oder das Entwerfen des Offenen für das Öffnende als Sein, ergeben. Wenn aber so gefragt wird, ist nach einem Kausalgeschehen gefragt. Heidegger denkt aber das Geschehen von Zuwurf und Entwurf in einer Gleichzeitigkeit, die nicht als lineares Vorher und Nachher und auch nicht als ein Gegenwartspunkt zu denken ist. Ebensowenig ist die Gleichzeitigkeit im Unterschied zur einseitigen Kausalität eine wechselseitige Kausalität so wie Kant zwischen der zweiten und dritten Relationskategorie unterscheidet. 63 Die Entwerfung des Offenen für das Sein als Entwurf der Wahrheit des Seins ist dementgegen nur als gleichzeitiges Offenhalten des eröffnend-geöffneten Offenen des Da zu entfalten. Diese Gleichzeitigkeit des Entwurfes als Da-sein und des Zuwurfes als Da-sein verweist in den später zu entfaltenden Zeit-Raum, der das Da-sein in der ihm eigenen Zeit aufzeigen wird. Das Entwerfen des Da-seins ist Vollzug des Da-seins, weil das im Zuwurf gegründete Da nur im Offenhalten dieses Da durch das Entwerfen des Offenen in der Wesung der Wahrheit des Seins ist. Dieser Wechselbezug im Da-sein ist
63 Vgl. KrV, A 80, B 106 sowie die Entfaltung in den Grundsätzen der Analogien der Erfahrung: A 189, B 232 - A 218, B 265.
§ 8. Die Entscheidung des Seins im Geschehen von Da-sein und Seiendem
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die weitere Kehre von Zu wurf und Entwurf, die in der Wesung der Wahrheit des Seins als Ereignis geschieht.
b) Die Wahrheit des Seins und das Seiende Das Geschehen der Wahrheit des Seins in der Kehre verdeutlicht folgende Passage des 140. Abschnitts, von der ausgehend zudem die Bergung der Wahrheit in das Seiende sich entfalten läßt: "Die Wahrheit des Seins und so dieses selbst west nur, wo und wann Da-sein. Da-sein »ist« nur, wo und wann das Sein der Wahrheit. Eine, ja die Kehre, die eben das Wesen des Seins selbst als das in sich gegenschwingende Ereignis anzeigt. Das Ereignis gründet in sich das Da-sein (I.). Das Da-sein gründet das Ereignis (11.). Gründen ist hier kehrig: I. tragend durchragend, 11. stiftend entwerfend [... ]." (GA 65, S. 261)
Die Wahrheit des Seins und das Sein selbst werden hier in dem Wechselbezug zum Sein der Wahrheit genannt. In dieser Umkehr spricht sich die Kehre im Geschehen von Sein und Da-sein aus. Wahrheit ist zunächst nur Wahrheit als Wahrheit des Seins, d. h. Wahrheit als Gelichtetes bzw. Lichtung geschieht nur in der Ereignung des Sichverbergens. Die Wahrheit des Seins ist so die Lichtung des Sichverbergenden. In diesem Sinne ist die Wesung von Wahrheit Lichtung des Sichverbergenden und für das Sichverbergen, weil das Sein als Ereignung so allererst aufgeht. Diese Wesung der Wahrheit des Seins west jedoch nur, wenn das Da-sein sich öffnet. Nur im Da-sein geschieht die Lichtung des Sichverbergens der Wahrheit des Seins. Das Da-sein "ist" jedoch nur, wenn das Sein der Wahrheit geschieht und in dieser Umkehr liegt die Kehre im Geschehen von Da-sein und Sein. Da-sein öffnet sich nur, wenn die Ereignung der Wahrheit als Lichtung geschieht. Das Sein der Wahrheit ist so die Ereignung der Lichtung von Wahrheit im Da-sein. Diese Kehre als Wesen des Seins selbst im Sinne des "in sich gegenschwingende[n] Ereignis[ses]" (ebd.) gescbieht in der Ereignung selbst, die als Wahrheit des Seins im Sinne der Lichtung der Ereignung nur geschieht, wenn das Da-sein eröffnet ist, das nur eröffnet ist, wenn das Sein der Wahrheit als Ereignen der Lichtung geschieht. Wenn es anschließend heißt, daß das Ereignis das Da-sein grundet und umgekehrt das Da-sein das Ereignis grundet, so ist hier Ereignis zunächst einerseits als Ereignung zu denken, andererseits aber nun in Bezug auf den bisher abgeblendeten Entwurf. Die Ereignung als Zuwurf grundet sich das Da-sein und das Da-sein als Entwurf grundet die Ereignung. Das Ereignis nennt so weitergehend
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den Zuwurf und den Entwurf. Heidegger differenziert hier die Ereignung als Zuwurf und den Entwurf in der Umkehrung des Gründens. Das Ereignis ist in seinem Gründen tragend durchragend, weil es das Da-sein in der Ereignung des Da als Lichtung trägt und diese Lichtung im Sichverbergen durchragt. Dieses tragend Durchragende wird im dem Gründen durch das Da-sein entwerfend offengehalten, indem das Nichts als das Durchragende offengehalten wird. Dieses Gründen des Ereignisses bleibt aber nicht leer, sondern das Da-sein gründet stiftend Wahrheit. Das Stiften von Wahrheit ist Entwerfen von Sein als Wahrheit, zu dem das Bergen der Wahrheit in das Seiende wesenhaft gehört. Kein stiftendes Entwerfen geschieht ohne Bergung in das Seiende. Damit erfährt der Entwurf seine nähere Bestimmung und das Geschehen von Wahrheit des Seins als Ereignis kann weiter in die Frage von Sein und Seiendem entfaltet werden. Das Wahrheitsgeschehen in Ereignis und Da-sein läßt den stiftenden Entwurf im Bergen der Wahrheit in das Seiende wahrend bergen. Diese "Gründung des Da-seins geschieht als Bergung der Wahrheit in das Wahre, das so erst wird. Das Wahre läßt das Seiende seiend sein" (ebd., S. 344). Zwischen der Wahrheit, dem Wahren und dem Seienden ist hierbei zu unterscheiden. Wenn das Ereignis das Da-sein gründet, gründet dieses im Entwurf Wahrheit, indem im Entwurf die Lichtung für das Sichverbergen offengehalten wird. Die Gründung von Wahrheit ist zumal Bergung ihrer in das Wahre. Der Entwurf vollzieht die Bergung von Wesung der Wahrheit, wenn in ihm das Wahre für das Seiende aus der Wesung der Wahrheit entborgen wird. Das Wahre ist hierbei die aus dem Zu wurf übernommene Wesung der Wahrheit. In dieser Übernahme des Entwurfes wird die Wesung der Wahrheit zum Wahren, das Wahres aus dem Zuwurf ist. Einerseits ist der Entwurf die Bergung der Wesung der Wahrheit in das Wahre. Andererseits wird dadurch das Wahre in den Zuwurf zurückgeborgen. Das Wahre wird so erst, weil es jeweils aus dem Zuwurf im Entwurf erst geschieht. Wahres läßt sich insofern von Wahrheit scheiden, als es die im Entwurf geborgene Wahrheit als die seiend werdende Wahrheit ist. Das im Entwurf geborgene Wahre wird nur im Seienden zur Bergung. Seiendes nennt Heidegger umfassend die verschiedenen Ausformungen der Bergung in Ding, Zeug, Machenschaft, Werk, Tat und Opfer (vgl. ebd., S. 70).64 Mit diesen Nennungen des unterschiedlich Seienden wird jeweils ein Bereich angeführt, in dem Wahrheit als Wahres oder Unwahres geschieht. Das Wahrheitsgeschehen ist demzufolge nicht für sich, sondern nur in der jeweiligen Bergung von Wahrheit als Wahres im Seienden. Das Wahre läßt das Seiende erst seiend
64 Vgl. außerdem die unterschiedlichen Nennungen der Weisen des Seienden: ebd., S. 256, 389, 391 und 413.
§ 8. Die Entscheidung des Seins im Geschehen von Da-sein und Seiendem
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sein, weil es so erst in seiner Offenheit geöffnet ist, bzw. das Wahre ist: "was in der Wahrheit steht und so seiend bezw. unseiend wird." (ebd., S. 345) Das Zweifache von "seiend bezw. unseiend" verweist erneut auf den entscheidungshaften Charakter im Wahrheitsgeschehen. Wahres steht nur dann in der Wahrheit und wird so seiend, wenn der Wahres entbergende Entwurf in diesem Wahrheitsgeschehen das Nichthafte im Sein als Sichverbergen der Lichtung offenhält. Nur aus einem solchen Offenhalten des Sichverbergens geschieht ein Bergen des Wahren im Seienden. Das Seiende ist demzufolge erst dann gewahrt und geborgen, wenn in seiner Offenheit das Sichverbergen des Seins diese Offenheit nichthaft durchstimmt. Entbergung des Wahren des Seienden im Entwurf ist insofern Bergung des Seienden in die und aus der Verbergung, die allein Seiendes in der Wesung der Wahrheit gewahrt sein läßt. In der Nichthaftigkeit des Seins und der Wahrheit liegt aber die wesenhafte Gefahr des Nicht der Durchstimmung. Dieses Nicht der Durchstimmung läßt den Entwurf nur aus der Unwahrheit Unwahres entwerfen und so das Seiende unseiend sein. Diese wesenhafte Möglichkeit des Unwahren und des unseiend Seienden entspringt selbst dem Geschehen von Wesung der Wahrheit, wenn die Wesung sich ganz entziehend gibt und den Entwurf seine Herkunft vergessen läßt. Aus dieser Vergessenheit, die selbst eine Weise der Wahrheit des Seins ist, kann der Entwurf nur Unwahres im Seienden eröffnen und so das Seiende nur unseiend sein lassen. Dieses Unseiendsein des Seienden ist dennoch eine Weise von Offenheit des Seienden. Die Offenheit von Seiendem ist zweifach zu entfalten. Seiendes kann selbstverständlich offen sein oder in dem lichtenden Sichverbergen des Geschehens von Wahrheit geborgen offen sein. Beide Offenheitsweisen sind Weisen, wie das aus dem Da-sein geschehene Wahre seiend wird. In diesem Zweifachen der Offenheit ist die Möglichkeit der Wahrheit als Richtigkeit angelegt: "Wenn das Seiende so in das Da hereinsteht, wird es vor-stellbar. Die Möglichkeit und Notwendigkeit des Richtigen ist gegründet. Die Richtigkeit ist ein unumgänglicher Ableger der Wahrheit. Wo die Richtigkeit daher die »Idee« von Wahrheit vorbestimmt, sind alle Wege zu ihrem Ursprung verschüttet." (ebd., S. 344)
Offenheit von Seiendem entspringt immer einem Hereinstehen in ein Da als Lichtung von Wahrheit. Insofern stammt selbst die Offenheit des vorgestellten Seienden ursprünglich aus der im Da sich öffnenden Wahrheit. Nur wird das Da als Lichtung von Wahrheit nicht eigens als Da-sein gegründet, sondern es entzieht sich dem Entwurf und läßt diesen deshalb die ursprünglich gelichtete Wahrheit nur als vorgestelltes Wahres auslegen und dabei seine Herkunft vergessen. Das Seiende wird aber auch für das Vorstellen nur aus seiner Offenheit, die aus dem der Lichtung des Da entspringenden Wahren entstammt, vorstellbar. Insofern ist die "Möglichkeit und Notwendigkeit des Richtigen" (ebd.) "gegründef', weil die Offenheit des Seienden, auf die das Richtige des VorsteIlens sich gründet, aus dem Wahren stammt, das der Wahrheit im Da entspringt.
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B. 1. 11. Entfaltungen der Entscheidung
Nur wird diese Herkunft im Entwurf des Seienden nicht offengehalten und gegrundet, sondern die Herkunft wird vergessen und die Offenheit selbst wird zum Maß für die Wahrheit als Richtigkeit. Diese Offenheit, die neuzeitlich zur berechenbaren Regelhaftigkeit des Vorstellbaren geworden ist, läßt keinen Weg zum Ursprung von Wahrem aus der Lichtung der Wahrheit im Da zu, weil die Offenheit selbst als Regelhaftigkeit zum Maßstab von Wahrheit als Richtigkeit geworden ist. Die Offenheit bleibt dabei hinsichtlich ihrer Herkunft unbefragt und von ihr selbstverständlich ausgehend unbefragbar. Die Möglichkeit des Unseienden umfaßt aber nicht nur den wissenschaftlichberechnenden Vollzug von Wahrheit als Richtigkeit, sondern auch den alltäglichen Umgang mit dem Seienden. Jegliches Verhalten zum Seienden vollzieht sich wahrend oder unwahrend und läßt so das Seiende seiend oder unseiend sein, je nachdem, ob im Vollzug das Wahre aus dem offengehaltenen Sichlichten des Verbergens im Da-sein geschieht oder die Herkunft des Wahren vergessen und dieses so scheinbar selbstverständlich offen steht. Das Verhältnis von Sein und Seiendem im Geschehen der Wesung der Wahrheit des Seins ist aus dem Bisherigen in einer zweifachen Hinsicht entscheidungshaft zu denken. Einerseits entscheidet es sich in dem jeweiligen Entwurf des Wahren, ob das Seiende ungewahrt unseiend und so selbstverständlich offen steht oder ob es in seiner Offenheit in das Sichverbergen der Lichtung dieser Offenheit geborgen gewahrt und so erst seiend wird. Dieses Entscheidungshafte entscheidet sich im übergänglichen Entweder-Oder des Streites von Sein oder Nichtsein, d. h. daraus, ob ereignet oder enteignet gedacht werden kann. In einer zweiten Hinsicht liegt in der Entscheidung, ob das Seiende gewahrt wird, die Ent-scheidung als Ur-scheidung von Sein und Nichts. Wenn das Seiende aus der Lichtung seiner Offenheit gewahrt ist, birgt das so Gewahrte das Nichts als die sichverbergende Herkunft der Lichtung der Offenheit. Damit entscheidet im Sinne von unter-scheidet sich allererst das Seiende in seiner Offenheit von Sein als der sichverbergenden Lichtung für diese Offenheit. Wie ist jedoch hier zwischen Offenheit des Seienden und Lichtung des Sichverbergens hinsichtlich des Urgeschehens von Sein und Nichts genauer zu differenzieren? Dafür ist das zum Da-sein Ausgeführte hinzuzunehmen. Das Da-sein nennt Heidegger auch "das Zwischen zwischen dem Seyn und dem Seienden" (ebd., S.343). Für das Geschehen von Sein, Da-sein und Seiendem im Urgeschehen von Sein und Nichts ist Sein zweifach zu entfalten. Sein ist einerseits, enger gefaßt, das im Da als Lichtung Gelichtete. Dieses Gelichtete ist im Zuwurf im Da gelichtet. Das so Gelichtete hält der Entwurf im Vollzug des Da-seins als stiftendes Eröffnen und eröffnendes Bergen offen, wenn im Entwurf das Gelichtete der Lichtung zlJm Wahren des Seienden in dessen Offenheit wird. Die Offenheit des Seienden ist gewahrte Offenheit, wenn in ihr die Scheidung zu dem sie öffnenden Gelichteten der Lichtung des Zuwurfes gewahrt ist. Von der Of-
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fenheit des Seienden ist demzufolge Sein im engeren Sinne als das im Zuwurf Gelichtete der Lichtungfiir die Offenheit zu unterscheiden. Darüber hinaus ist aber Sein nur dann Gelichtetes in der Lichtung des Zuwurfes, wenn in der Lichtung das Sichverbergende aufgeht. Sein ist nur Sein als Gelichtetes, wenn Sein nichthaft durchstimmt sich lichtet. Insofern umschließt Sein, weiter gefaßt, das Nichts als die sichverbergende Herkunft des im Zuwurf Gelichteten und das im Zuwurf in der Lichtung Gelichtete selbst. Diese Scheidung als Urscheidung von Sein und Nichts herrscht im Da des Zuwurfes. Sein als Ereignung im weiteren Sinne umfaßt das Nichts als das SichverbergendEntziehende und das Sein als das in der Lichtung des Zuwurfes zugewiesen Gelichtete. Diese Lichtung des Sichverbergens in ihrer Kehre von Sein und Nichts grundet sich das Da im Zuwurf, indem es den Entwurf brauchend nötigt, das Gelichtete im Da-sein in das Wahre des Seienden zu bergen. Die Lichtung des Sichverbergens im Da-sein des Zuwurfes wird nur dann im Da-sein des Entwurfes zum Wahren des Seienden, wenn sie als die geschiedene, aber eröffnende Lichtung des Sichverbergens in der Offenheit des Seienden gewahrt ist. Die Offenheit des Seienden birgt demnach, wenn sie wahrend wahre Offenheit ist, das Zweifache des Seins im Sinne der Kehre von Sein und Nichts als Lichtung des Sichverbergens. Die Lichtung und das Sichverbergen gehen so erst als Herkunft der Offenheit des Seienden auf. Es herrschen demzufolge in dem einen Geschehen von Sein, Da-sein und Seiendem vier zu scheidende Momente. Das Sein als Ereignung ist im Da des Zu wurfes geschieden in 1. Sein als in der Lichtung des Da Gelichtetem und 2. Nichts als die Herkunft dieser Lichtung im Sinne des nichthaften Sichverbergens. Aus dieser Kehre im Zuwurf selbst, die ihren Ursprung in der Urscheidung von Sein und Nichts hat, wird der Entwurf des Da-seins gebraucht. Daraus folgt, daß im Entwurf als Bergen der Lichtung des Seins in das Wahre des Seienden zwischen 3. dem Wahren als dem Geöffneten und 4. der sichverbergenden Herkunft des Geöffneten zu scheiden ist. Die sichverbergende Herkunft ist die in sich zweifache Lichtung des Gelichteten und des Sichverbergens des Zuwurfes, die in gewahrter Weise zweifach aufgeht, wenn im Entwurf ein Geöffnetes aus einer sichverbergenden Herkunft geborgen wird. Das Geöffnete als gewahrte Offenheit des Seienden ist so der Widerschein des in der Lichtung gelichteten Seins und die verborgen-geborgene Herkunft der Offenheit ist der Widerschein des Nichts als Sichverbergen der Lichtung im Zuwurf.
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c) Das Übennaß der Lichtung des Sichverbergens und die Unerschöpflichkeit des Seins Die Lichtung des Sichverbergens ist hinsichtlich des Entwurfes immer mehr als die im Entwurf aus dem Verborgenen geborgene Offenheit des Seienden. Heidegger nennt dieses "Mehr" im 131. Abschnitt das Übermaß im Wesen des Seins: "131. Das Übennaß im Wesen des Seyns (das Sichverbergen) Das Über-maß ist kein bloßes mengenhaftes Zuviel, sondern das Sichentziehen aller Schätzung und Ausmessung. Aber in diesem Sichentziehen (Sichverbergen) hat das Seyn seine nächste Nähe in der Lichtung des Da, indem es das Da-sein er-eignet. Das Über-maß der Ereignung gehört zu ihr selbst [... ]." (GA 65, S. 249)
Zunächst ist das Übennaß als Sichverbergen und somit als das Nichthafte benannt. Damit ist aber zunächst nur der sichverbergende Charakter des Nichts angezeigt. Wie im Vorherigen aufgezeigt wurde, geht erst durch den Aufgang des Nichts die verborgene Herkunft des Entwurfes aus dem Zuwurf auf. Das Nichts eröffnet hierin allererst die Scheidung von Zu wurf und Entwurf. Das Sichverbergen als Nichts wird nun in erster Hinsicht als Übennaß gefaßt, weil im "Über" das Mehr als Herkunft des Entwurfes aus dem Zuwurf aufgeht. In einem über den sichverbergend-entziehenden Charakter des Nichts hinausgehenden Schritt wurde zudem das Zuweisende im Sichentziehen aufgewiesen. Das Nichts als Übennaß hat in seinem sichverbergenden Entziehen einen zuweisenden Charakter, der in dem Grad der Erzitterung als Grad der Durchstimmtheit des Zuwurfes sich zeigt. In diesem Sinn gehört das "Über-maß der Ereignung [... ] zu ihr selbst" (ebd.). Die Erzitterung im Sinne des Nichthaften im Sein gehört zum Sein als Ereignung als dessen "Ob" und "Wie" der Ereignung. Mit dem Satz: "Aber in diesem Sichentziehen (Sichverbergen) hat das Seyn seine nächste Nähe in der Lichtung des Da, indem es das Da-sein er-eignet" (ebd.), wird aber nun etwas entfaltet, was noch über das Nichts als die zuweisende Erzitterung hinausgeht. Die nächste Nähe des Seins muß als Nähe gefaßt werden, um die Scheidung von Zuwurf und Entwurf zum Ausdruck zu bringen. Das Sein ist im Zuwurf in der nächsten Nähe zum im Entwurf geborgenen Wahren, weil nur aus dem Sein als in der Lichtung Gelichtetem die Offenheit des Seienden Offenheit ist. Sein bleibt aber dabei nur in der nächsten Nähe, weil es nicht mit der Offenheit des Seienden als Wahren zusammenfällt, sondern als Mehr des Zuwurfes vom Entwurf geschieden bleibt. Dennoch hat Sein seine nächste Nähe in der Lichtung des Da. Es ist das in der Lichtung Gelichtete, das
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aber nur so in der Lichtung Gelichtetes bleibt, wenn es zum Entwurf als nächste Nähe und insofern als Mehr des Zuwurfes bleibt. Es hat seine nächste Nähe 65 dadurch, daß "es das Da-sein er-eignet" (GA 65, S. 249), womit zum Ausdruck kommt, daß es in der Lichtung Gelichtetes ist als Mehr für den aus dieser Lichtung ereigneten Entwurf des Da-seins in das Seiende. Das Übermaß des Mehr im Zuwurf ist insofern einerseits das Nichts als das Sichverbergen, andererseits aber das Sein als das in der Lichtung des Da Gelichtete. Das Sein im Sinne des im Übermaß des Zuwurfes Gelichteten geht deshalb über das Nichts als die durchstimmende Erzitterung hinaus, weil jetzt deutlicher wird, daß Sein als Gelichtetes für die Offenheit des Seienden ereignet wird. Dieser Schritt ist deshalb zu betonen, weil aus der Auslegung des Geschehens der Lichtung des Sichverbergens der Eindruck entstehen kann, daß Heidegger im Geschehen von Sein das Sichentziehende und das Sichverbergen stärker betont. Diese Tendenz wird dadurch unterstützt, daß Heidegger von der Erfahrung der Seinsverlassenheit als erster Erfahrung und außerdem immer erst von der Vorbereitung des anderen Anfangs spricht. Insofern kann es sich aufdrängen, beim Geschehen von Sein zunächst nur an die erste Erfahrung des Sichentziehens der offenen Wesung von Sein zu denken. Schon mit dem Phänomen der Erzitterung aber wurde gezeigt, daß in Heideggers Denken Andersanfangliches gedacht wird und daß die Vorbereitung des anderen Anfangs trotz ihres vorbereitenden Charakters andersanfangliche Weisen zu denken entfalten kann. Mit dem Grad der Erzitterung zeigte sich eine Unterscheidungsmöglichkeit zwischen ereignetem und enteignetem Denken. Da sich Grade der Erzitterung dem Denken zeigen, kann ein "Ob" des Andersanfanglichen und ein "Wie" hinsichtlich der Tiefe dieses erfüllt Andersanfanglichen gezeigt werden. Mit dem Phänomen des Seins als in der Lichtung des Da Gelichteten wird nun dieses andersanfangliche Denken des Grades der Erzitterung zur offenen Wesung von Sein im Sinne des erfüllt und so eigentlich Andersanfanglichen erweitert. Sein als Gelichtetes wird in seiner offenen Wesung ereignet, wenn es im Entwurf aus der gewußten Rückgegründetheit in die Lichtung des Da als Wahres ins Seiende geborgen wird. Sein bleibt aber hierbei immer das Mehr als Übermaß, weil es in nächster Nähe in der Lichtung des Zuwurfes bleibt. Wenn das Denken es vermag, aus der gewußten RückgegfÜndetheit in das im Da als Lichtung Gelichtete das Seiende als Wahres zu entwerfen, denkt es andersanfanglich aus der offenen Wesung des Seins. Dafür ist mitzubedenken, daß das Nichts als das Sichverbergende und so erzitternd Durchstimmende das Mehr des Übermaßes und somit die offene We65 Vgl. zur weiteren Entfaltung des Begriffes der Nähe für Heideggers Denken überhaupt die Abhandlung von Emil Kettering: NÄHE, Das Denken Martin Heideggers, Pfullingen 1987, in der jedoch eine gewisse Verengung den Denkens Heideggers auf dieses Wort zu finden ist.
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B. I. II. Entfaltungen der Entscheidung
sung von Sein gleichennaßen wesenhaft ausmacht und der Entwurf erst wahrender Entwurf ist, wenn er ebenso gewußt aus dem Verborgenen herkommt. Das Übennaß ist demgemäß das Mehr des Sichverbergens und das Mehr des Gelichteten, die beide im Da die Ereignung der offenen Wesung des Seins ausmachen und den Entwurf des Da-seins dann einen wahrenden sein lassen, wenn dieser die Lichtung des Gelichteten und des Sichverbergens ins Wahre des Seienden wahrt. Die sichverbergende Lichtung des Gelichteten ist insofern der Zuwurf für die verborgen geöffnete Offenheit des Seienden im Entwurf. Heidegger denkt auch dieses Geschehen als Gleichzeitigkeit, jetzt von Sein und Seiendem, wobei nun das nicht zeitlich Vorgängige des Zuwurfes für den Entwurf als das Mehr des Übennaßes entfaltet werden kann. Das Mehr des Übennaßes in den beiden Momenten von Sein als Gelichtetem der Lichtung und Nichts als dem Sichverbergenden der Lichtung ist dergestalt vor dem Entwurf, daß beide diesen allererst ereignen, weil beide als Mehr ihn entspringen lassen. Das Mehr zeigt außerdem, daß es sich beim Geschehen von Sein um ein wesenhaft unerschöpfliches handelt und infolgedessen Wahrheit nie einmal gegründete und feste ist, sondern nur jeweilig geschieht.66 Heidegger spricht im Zusammenhang des Schaffens als des Stiftens vom "Seienderwerden des Seienden" (ebd., S.246). Im Seienderwerden kommt das Unerschöpfliche des Geschehens von Sein zur Sprache. Das Seiende ist nicht Offenes in einer festen Regel, die zeitlos Bestand beansprucht, sondern es kann seiender werden. In dem Komparativ von "seiend" kommt zum Ausdruck, daß es Grade des Seiendseins gibt. Das Seiendsein bestimmt sich aus dem Grad der Erzitterung des Nichts und dem Grad des Gelichtetseins des Seins. Insofern bleibt es entscheidungshaft offen, wie seiend das Seiende wird, je nachdem, wie stark die Erzitterung und wie gelichtet das Sein in der Lichtung des Da wesen, wobei sie nur wesen, wenn die Erzitterung und das Gelichtete im Entwurf bergend offengehalten werden und hieraus das Seiende Grade des Gewahrtseins empfangt. Das Unerschöpfliche aus dem Mehr des Sichverbergens und des Gelichteten ist aber nicht maßlos Unerschöpfliches, weil das Mehr das Über-maß für das Seienderwerden des Seienden ist. Als Übermaß geben das Sichverbergende und das Gelichtete das Maß für den jeweiligen Grad des Seiendseins aus ihrem jeweiligen Grad der Erzitterung und des Gelichtetseins. 67
66 Vgl. zur Fassung der Unerschöpflichkeit des Seins, die im weiteren Verlauf dieser Arbeit an entscheidenden Stellen in ihrer äußersten Wichtigkeit für das Denken des Seins verdeutlicht wird: GA 65, S. 244, 278 u. bes. S. 382. 67 Ekkehard Fräntzki sieht in Heideggers Denken von Lichtung und Verbergung keine Überwindung der Metaphysik, sondern ein Verhaftetbleiben in der Metaphysik als Denken der Unverborgenheit, weil die Lichtung das Verbergen aufheben bzw. eliminieren würde, auch wenn sie das Verbergen "wahrt", gerade weil sie Lichtung ist (vgl. Fräntzi. Ekkehard, Die Kehre. Heideggers Schrift "Vom Wesen der Wahrheit". Urfassung und Druckfassungen, Pfaffenweiler 21987, insbes. S. 1150. Die Lichtung hebt je-
§ 8. Die Entscheidung des Seins im Geschehen von Da-sein und Seiendem
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d) Das Da-sein und der Mensch In dem bislang aufgezeigten Geschehen von Sein und Nichts sowie von Dasein und Seiendem blieb der Mensch bisher unentfaltet. Heidegger fragt nach dem Menschen und seiner Bestimmung aus dem Geschehen von Sein im 195. Abschnitt: "Wer ist der Mensch? Jener, der gebraucht wird vom Seyn zum Ausstehen der Wesung der Wahrheit des Seyns. Als so gebrauchter »ist« aber der Mensch nur Mensch, sofern er in das Da-sein gegründet ist, d. h. selbst zum Gründer des Da-seins schaffend wird." (GA 65, S. 318)
Die entscheidende Bestimmung ist hierbei, daß der Mensch nur Mensch "ist", wenn er in das Da-sein gegründet ist und dieses gründet. Demzufolge ist der Mensch, insofern er nicht im Da-sein dieses gründet, nicht in dem ihm möglichen Sinne Mensch. In dieser Radikalität liegt, daß der Mensch weder a priorisch schon Mensch ist, noch daß er Mensch sein könnte ohne Vollzug des Daseins. Der Mensch ist noch gar nicht Mensch, solange er nichts von einer Rückgründung in das Da-sein weiß und vollzieht. Damit ist einerseits jegliche Bestimmung des Menschen, die ihn im vornhinein auf ein allgemeines Wesen bestimmt, das er immer schon ist, abgewiesen. Andererseits wird hiermit auf das Entscheidungshafte verwiesen, daß der Mensch erst Mensch wird, wenn und nur dann, wenn und solange er aus dem Da-sein das Da-sein gründet. Die Bestimmung des Menschen ist dementsprechend keine zeitlos bestimmte nach einem allgemeinen Sein des Menschen, aber auch keine des ewig Werdenden. Die Bestimmung des Menschen aus dem Da-sein ist die jeweilig geschehene Entscheidung, ob er in das Da-sein gegründet dieses gründet und so erst Mensch wird oder ob er in seinem gewöhnlichen Menschsein bleibt, wenn das Da-sein verschlossen und er ungründend ungegründet bleibt. Das Verhältnis von Da-sein und Mensch in der Entscheidung entfaltet folgende Passage: "Da-sein - was den Menschen zugleich unter-gründet und überhöht. Daher die Rede vom Da-sein im Menschen als Geschehnis jener Gründung. Man könnte aber auch sagen: der Mensch im Da-sein. Das Da-sein »des« Menschen." (ebd., S. 301)
doch gerade nicht das Sichverbergen auf, sondern geschieht nur im Sichverbergen. Sonst wäre Lichtung und Verbergen wie gegenseitig sich ausschließende Bereiche gedacht bzw. wie Anwesenheit und Abwesenheit vorgestellt, was hinter der denkerischen Erfahrung von der sichlichtenden Verbergung zurückbleibt und sie in ein metaphysisches Denken zurückliest. Mit dem Geschehen von Sein und Nichts im Zwiefachen der sichlichtenden Verbergung kann aber gerade das nicht mehr metaphysische und erfüllt Andersanfängliche aufgewiesen werden.
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Das Da-sein ist im Überhöhen und Untergründen jeweils mehr als der Mensch. Dieses "Mehr" in dem "Über" und "Unter" läßt sich einerseits aus dem Zuwurfsgeschehen entfalten. Das im Zuwurf als Lichtung ereignete Da des Daseins ist in dem zuvor ausgelegten zweifachen Sinn des Gelichteten und des Sichverbergens immer mehr als der aus dem Da geschehene Entwurf als Dasein. Der Mensch ist in diesem Geschehen der Vollzieher des Entwurfes und ist insofern vom Da-sein überhöht und untergründet, als das Da des Da-seins immer mehr ist als der Entwurf aus dem Da. Der Mensch ist jedoch nicht mit dem Entwurf und dem Da-sein gleichzusetzen. Der Entwurf als Da-sein ist die Bergung des Da in das Seiende als Wahres. Der Mensch als Entwerfer des Da-seins ist aber der vom Entwurf zu unterscheidende Vollzieher des Entwurfes, der durch diesen Vollzug selbst in das Da-sein gegründet wird. Insofern ist auch der Entwurf "mehr" als der Mensch, weil das in ihm entworfene Wahre vom Menschen zu scheiden ist. Das Zweifache des gründenden Zu wurfes im Da und des offenhaltenden und so gegründet gründenden Entwurfes des Da-seins läßt den Menschen im Vollzug des Da-seins als Gesamtgeschehen von Zu- und Entwurf gegründet Gründer sein. Er ist dann gegründet, wenn er durch den Zuwurf des Da ereignet gegründet ist, um dieses Da im Entwurf als Wahres für das Seiende zu gründen. Das Da-sein im Menschen ist Geschehnis der Gründung des Menschen, indem dieser aus dem Zuwurf des Da gegründet den Entwurf als Vollzug des Da-seins ins Seiende gründet. Diese Gründung des Da-seins im Menschen ist in einem weiteren Sinne eine Überhöhung und Untergründung für den Menschen, weil er durch dieses Geschehen über sein gewöhnliches Menschsein erhöht wird, indem er in dieses Geschehen untergründet wird. In diesem Sinne liegt in der Überhöhung und Untergründung nicht nur das Mehr des Da-seins, sondern auch das Mehr des Menschen. Das Da-sein überhöht und untergründet den Menschen, indem es einerseits mehr ist als er und andererseits ihn mehr sein läßt als in seinem gewöhnlichen Vollzug seines Menschseins. Den gewöhnlichen Vollzug des Menschseins nennt Heidegger auch das Wegsein, d. h. den das Da des Da-seins vergessenen Vollzug. Zum Da-sein als Geschehen von sichverbergender Lichtung des Da im Zuwurf und aus dem verborgenen die Offenheit des Seienden bergenden Entwurf gehört wesenhaft die Möglichkeit der Verschließung des Zuwurfes und des nicht bergenden Entwurfes. Der Vollzug des nicht bergenden Entwurfes als Weg-sein ist selbst jedoch aus dem Geschehen von Sein und Nichts im Da des Da-seins zu entfalten, d. h. er entsteht nicht aus sich selbst: "Das Da-sein: die Offenheit des Sichverbergens ausstehen. Das Weg-sein: die Verschlossenheit des Geheimnisses und des Seins betreiben, Seinsvergessenheit. [... ] Das Weg-sein in diesem Sinne erst, wo Da-sein. Weg: die Beseitigung, Abdrängung des Seyns, scheinbar nur des »Seienden« für sich." (ebd., S. 301)
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Das Weg ist zunächst aus dem Nichts als Nicht des Zuwurfes und so als Weg-sein im Sinne der "Abdrängung des Seyns" zu entfalten. Das Nichts kann sich so geben, daß es als Nicht den Aufgang der sichverbergenden Herkunft im Da und so dieses selbst verschließt. Das Weg-sein als Vollzug des Entwurfes betreibt dann aus diesem Weg im Da die Verschlossenheit des Seins. Das Nichts im Da kann aber auch als das wesenhafte Sichverbergen das Da allererst aufgehen lassen und so das Nichts im eröffnend-durchstimmenden Sinne sein. Dann gibt das Nichts das Weg im Da frei und läßt das Weg so den Aufgang des Sichverbergens sein. Im Weg des Da liegt insofern einerseits die Verschließung des Da, aus der der Mensch in seinem Entwurf das Da als Herkunft des Entwurfes vergißt. Andererseits aber kann das Weg als Hereinstehen der sichverbergenden Eröffnung des Da den Entwurf als aus dem Da herkommenden erst aufgehen lassen. Der Vollzug des Weg-seins im Entwurf des Da-seins durch den Menschen ist insofern auch entscheidungshaft zweifach zu entfalten. Aus dem Weg im Da kann der Mensch sein Menschsein als Weg-sein im Sinne der Vergessenheit des Da vollziehen. Andererseits ist der Vollzug des Da-seins nur Entwurf aus dem Da-sein, wenn das Weg aus dem Nichts das Sichverbergende im Da aufgehen läßt. In diesem Sinn ist der Vollzug des Da-seins nur dann in das Da aus diesem gegründet, wenn er zugleich Vollzug des eigentlichen Wegseins ist, d. h. das Weg im Da als das Sichverbergende mitentworfen offengehalten wird. Für die Bestimmung des Menschen folgt hieraus, daß der Vollzug der Vergessenheit des Da-seins, in dem der Mensch nicht eigentlich Mensch "ist", sondern sein gewöhnliches Menschsein vollzieht, wesenhaft aus dem Da als Möglichkeit entspringt. Das Weg-sein im Sinne der Vergessenheit entspringt ebenso wie das wesentliche Weg-sein im Vollzug des Da-seins aus dem Nichts als Weg im Da. 68
e) Die Inständigkeit für das Seiende als die eigentliche Vollzugsweise des Menschseins Die Gründung des Menschen in das Da-sein im Vollzug des Da- und des Weg-seins geschieht umwillen der Wesung der Wahrheit des Seins für das Seiende. Der Mensch ist in solcher Hinsicht, wie zuvor zitiert, "vom Seyn zum Ausstehen der Wesung der Wahrheit des Seyns" (ebd., S. 318) gebraucht. Er ist als Gründer des Da-seins vom Sein gebraucht. 69
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Vgl. zum Zweifachen des Weg-seins die Abschnitte 201 und 202 (ebd., S.323-
325). 69
Vgl. ebd., S. 251 und: "Das Seyn »braucht« [... ] das Da-sein, und dieses gründet
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B. 1. 11. Entfaltungen der Entscheidung
Das Brauchen des Seins ist hinsichtlich des Da-seins und des Menschen zu bedenken. Das Sein braucht einerseits das Da-sein in der Gründung des Da als Lichtung im Zu wurf. Diese Gründung des Gelichteten und des Sichverbergenden im Zuwurf geschieht aber nur im Entwurf als die "inständige Ertragsamkeit" (ebd., S. 298) des Da. Der Mensch ist dann inständig ertragsam, wenn er im Entwerfen das Sein als Gelichtetes und Sichverbergendes trägt und in dem Gelichteten und Sichverbergenden inständig ist. Das Da-sein gründet so das Menschsein, indem der Mensch das Da-sein dadurch gründet, daß er es inständIich aussteht und dadurch das Da-sein ihm Grund ist. Die Inständlichkeit oder Inständigkeit als Bereich des in das Da-sein gegründeten Menschseins benennt Heidegger als das eigentliche Verstehen, das "Vollzug und Übernahme der ausstehenden Inständigkeit [ist], Da-sein" (ebd., S.260). Das Ausstehen des Daseins durch den Menschen ist einerseits Ausstehen des Sichverbergens des Seins. Dieses Sichverbergen muß zunächst aufgehen und aushaltend ausgestanden werden, damit der Mensch sich inständlich weiß. Zugleich aber ist das inständliche Ausstehen Ausstehen des Sichverbergenden und des Gelichteten und insofern ist das Inständliche inständlich im Sein als des verbergend Sichlichtenden im Da. Diese Inständigkeit können wir als das Grundwort für die eigentliche Vollzugsweise des Menschen im Ereignisdenken, die in »Sein und Zeit« noch als eigentliche Existenz gedacht war, fassen. Das Sein braucht das Inständige des Menschen einerseits für seine Wesung, damit es gründend im Da-sein gegründet wird. Diese Wesung wird aber nur durch die Inständigkeit des Menschen gegründet, wenn sie als Wahres in das Seiende gegründet ist: "Das Da-sein führt nicht aus dem Seienden heraus und verdunstet nicht das Seiende in eine Geistigkeit, sondern umgekehrt, gemäß der Einzigkeit des Seyns eröffnet es erst die Unruhe des Seienden, dessen »Wahrheit« nur bestanden wird im wiederanfanglichen Kampf seiner Bergung in das durch den geschichtlichen Menschen Geschaffene.
Nur das, was wir, inständlich im Da-sein, gründen und schaffen und schaffend uns als Anstunn entgegentreten lassen, nur das kann ein Wahres, Offenbares sein und demzufolge erkannt und gewußt werden. Unser Wissen reicht nur so weit, als die Inständlichkeit im Da-sein ausgreift und d. h. die Kraft der Bergung der Wahrheit in das gestaltete Seiende." (ebd., S. 3140
Die "Unruhe des Seienden", die durch das Da-sein geschieht, entsteht dadurch, daß durch das Aufgehen einer Herkunft der Offenheit des Seienden, die entscheidungshaft fragwürdig ist, seine Offenheit allererst unsicher wird. Damit ist mit Blick auf das Seiende das Heraustreten aus dem selbstverständlichen, seinsvergessenen Vollzug des Entwurfes thematisiert. Die Offenheit des Seienden muß fragwürdig werden und so als Unruhe des Seienden gegeben sein, dadas Menschsein, ist ihm Grund, sofern der Mensch es ausstehend inständlich gründet." (ebd., S. 262)
§ 8. Die Entscheidung des Seins im Geschehen von Da-sein und Seiendem
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mit es zu einem inständlichen Entwurf seines Wahren kommen kann. Das Schaffen des Menschen ist hierfür ausschlaggebend. Das Wahre als Wahrheit des Seienden wird nur dann geborgen, wenn seine Wahrheit im "Kampf seiner Bergung in das durch den geschichtlichen Menschen Geschaffene" erst bestanden wird. Das Geschaffene ist hierbei nicht das Seiende. Das Schaffen und schaffend Gründen des Menschen ist primär das Gründen des Da-seins. Das durch den Menschen Geschaffene ist die Gründung des Da-seins als ein Offenhalten des Da als Lichtung des Sichverbergens im Vollzug des Entwurfes. In dieser durch den Menschen inständlich offengehalten geschaffenen Lichtung des Da-seins wird das Seiende zum Wahren und so geborgen. Die "Kraft der Bergung der Wahrheit" (ebd.) in das Seiende bestimmt sich aus der Weite des Ausgreifens der Inständlichkeit. Diese Weite hat das Ausmaß ihrer Weite aus dem Zweifachen von Zu- und Entwurf. Je tiefer das Nichts als das Sichverbergende west und so das Sein erzitternd nichthaft durchstimmt, desto gelichteter kann sich das Sein im Zuwurf in der Lichtung des Da geben. Dieses Entscheidungshafte ist jedoch nicht für sich, sondern geschieht nur je nachdem, wie tief der Mensch das Sichverbergende des Da im Vollzug des Daseins auszuhalten und offenzuhalten vermag und zugleich je nachdem, wie inständlich er das Gelichtete des Da in das Seiende als Wahres bergen kann. Die Kraft der Bergung der Wahrheit bestimmt sich aus diesem Zweifachen der Kraft der Ereignung und der Kraft des Ausstehens der Ereignung durch den Menschen, d. h. die Kraft seines inständlichen Ausgreifens im Da-sein. 70 Das Seiende wird so erst gestaltetes Seiendes, wenn seine Gestaltung aus dem Geschaffenen im Kampf um seine Bergung gegründet wird. Aus diesem Sachverhalt wird deutlich, daß auch das Seiende den Menschen braucht. Um gestaltetes Seiendes und so Wahres jeweils zu werden, braucht es den Menschen in seiner Inständlichkeit, aus der es sein Wahres empfangen kann. Um des Brauehens gewahr zu werden, ist es nötig, daß seine Unruhe allererst anstelle seiner scheinbar selbstverständlich gegeben Offenheit aufgeht. Diese Unruhe wird dann zum Ansturm, wenn der Mensch in das zweifache Brauchen gegründet wird: gebraucht vom Sein für dessen Wesung und gebraucht vom Seienden für dessen Wahres aus der Wesung der Wahrheit des Seins. Das zweifache Geschehen des Brauehens verdeutlicht die Bestimmung des Menschen zwischen Sein und Seiendem. Nur durch den Menschen, wenn er das Da-sein gründet, geschieht Wahrheit des Seins und Wahres des Seienden. Beides geschieht durch ihn, nicht im verursachenden Sinne, sondern im durch ihn hindurch geschehenden Sinn. Damit wird seine Bestimmung als Aufgabe deutlicher: "Die Wiederbringung des Seienden aus der Wahrheit des Seyns." (ebd., S. 11) Bisher konnte es den Anschein haben, als ob der Mensch nur ein Moment
70
8·
Vgl. zur Kraft des Ausstehens: ebd., S. 266-267.
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B. I. 11. EntfaItungen der Entscheidung
im Wahrheitsgeschehen zwischen Sein, Da-sein und Seienden einnimmt. Ein solcher Anschein kann sich dadurch ergeben, daß Heidegger für das Geschehen der Ent-scheidung das Sein besonders hervorhebt, um denjenigen Bereich anzudenken und ihn so allererst in den Blick zu rücken, in dem Wahrheit geschieht und aus dem die Ausfaltungen der Ent-scheidung ihren Ursprung haben. Dabei ist jedoch die auszeichnende Bestimmung des Menschen, die sich aus dem Geschehen von Sein als Ent-scheidung ergibt, hervorzuheben. Der Mensch steht in der wesentlichen Entscheidung, ob Sein sich als Ereignung gibt und das Seiende gewahrt werden kann oder ob die Seins verlassenheit herrscht und das Seiende ungewahrt bleibt. Er steht auf dem Gipfel dieser Entscheidung, weil nur durch ihn hindurch es sich entscheidet, ob Wahrheit oder Unwahrheit geschieht. Diese Verantwortung, die sich aus der Einsicht in das Geschehen der Ent-scheidung von Sein und Nichts ergibt, ist dem Menschen überantwortet. Der Mensch steht in dem sich öffnenden Abgrund des Nichts im Sein in der Entscheidung, wie sich dieses Nichts gibt. Und er ist gefragt, ob er sich in diesem Abgrund halten kann und so erst eine Entscheidung geschehen kann, ob sich Sein für das Seiende gibt oder sich entzieht. Der Mensch steht wesenhaft in diesem Abgrund, der im Da als Nichts herrscht, auch wenn er sein gewöhnliches Menschsein vollzieht und der Abgrund als das Nichthafte im Da sich nur als Weg des Da gibt und den Menschen das Da und den Abgrund vergessen läßt. Das gewußte Stehen in dem Abgrund als Aufgehen des Nichts verdeutlicht dem Menschen seine Bestimmung, daß er wesenhaft in ein Geschehen eingelassen ist, in dem es zur Entscheidung steht, ob Wahrheit des Seins geschieht oder nicht. Der Mensch ist dadurch erst in sein eigentliches Wesen eingesetzt, daß es durch ihn zur Entscheidung steht, ob Wahrheit oder Unwahrheit geschieht. Durch ihn hindurch geschieht die Entscheidung, ob er in das Da-sein versetzt ist und ob im jeweiligen Entwurf Wahrheit des Seins geschieht oder nicht. Heidegger betont diese Stellung, wenn er fragt: "Wer entscheidet? Jeder, auch durch die Nichtentscheidung und das Nichtwissenwollen von ihr, durch das Ausweichen vor der Vorbereitung. [... ] Weshalb aber diese Entscheidung? Weil nur noch aus dem tiefsten Grunde des Seyns selbst eine Rettung des Seienden; Rettung als rechtfertigende Bewahrung des Gesetzes und Auftrags des Abendlandes. Muß das sein? Inwiefern nur noch so eine Rettung?" (ebd., S. 100)
Um das Seiende zu retten, d. h. es zu wahren, bedarf es, daß die Wahrheit des Seins sich öffnet und öffnend das Da-sein und so den Menschen geschichtlich gründet, das Seiende zu wahren. Heidegger stellt diese Rettung in Frage, wenn er fragt, ob sie sein muß. Damit ist aber nicht die Verantwortung aufgehoben, sondern im Gegenteil die Rettung ist in die Entscheidung gehalten, d. h. daß sie weder notwendig geschehen muß noch nicht geschieht.
§ 8. Die Entscheidung des Seins im Geschehen von Da-sein und Seiendem
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Wenn es heißt, daß jeder entscheidet, auch durch ein Nichtentscheiden und so ein Betreiben des gewöhnlichen Menschseins ohne Entscheidung, wird damit die Inanspruchnahme des Menschen deutlich. Jeder Mensch entscheidet, ob Geschichte oder Geschichtslosigkeit geschieht, weil in jedem Vollzug des Menschseins es zur Entscheidung steht, ob er gewußt rückgegründet aus dem Da-sein oder seinsvergessen seinsverlassen vollzogen wird. Aus der Einsicht in das Geschehen des Vollzuges des Entwurfes ergibt sich, daß jeglicher Vollzug des Entwurfes von jeglichem Menschen aus der Ent-scheidung von Sein und Nichts herkommt und somit in der Entscheidung steht, ob er gewußt aus der Entscheidung das Sich verbergende und das Gelichtete birgt und so rückgegründet in das Da-sein ist oder ob Sein und Nichts sich so geben, daß das Nichts als Nicht das Sein als Ereignung verschließt und den Menschen aus dem ungewußten Weg im Da herkommend sein Menschsein vollziehen läßt. 71 Für die Frage nach Sein und Mensch folgt aus dem bisher Entfalteten, daß der Mensch nur aus dem Geschehen von Sein und Nichts und dem Da-sein in der Entscheidung steht, ob er wahrend oder unwahrend das Seiende im Entwurf entwerfen kann. Es steht nicht in seinem Gemächte, wie Sein sich gibt. Dennoch entscheidet es sich nicht allein im Sein, wie dieses sich gibt, sondern nur im Zwischen zwischen Sein und Mensch, weil das Sein nur im entworfenen Entwurf west. Das Sein west nicht ohne den Menschen und der Mensch vollzieht sein Menschsein nicht ohne das Sein. Insofern liegt aber die Entscheidung, ob Sein in das Seiende gewahrt wird oder nur das Nichtsein das Seiende ungewahrt sein läßt, sowohl im Geschehen von Sein als auch im Vollzug des Menschen. Um die je eigene Entscheidungshaftigkeit des Menschen und des Seins sowie des Zwischen von beiden genauer in den Blick zu rücken, ist einerseits nach der menschlichen Entschiedenheit und andererseits nach dem Möglichen des Seins zu fragen.
71 Wie die Verantwortung des Menschen mit dem Seinsdenken entfaltet werden kann, verdeutlicht Gerard Guest besonders anhand des Begriffes der Zusage in: L'Origine de la Responsabilite ou Oe la "Voix de la Conscience" a la Pensee de la "Promesse", in: Heidegger Studies 8, 1992, S. 29-62.
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B. 1. 11. Entfaltungen der Entscheidung
§ 9. Die Frage nach dem Freien und Möglichen der Entscheidung: Das System der Freiheit bei Schelling
Wenn wir nach dem Entscheidungshaften in der menschlichen Entschiedenheit einerseits und im Sein als dem Möglichen andererseits, d. h. immer zugleich und nur in ihrem Zwischen, fragen, berühren wir einen bislang nicht eigens thematisierten Bereich, den Bereich der Freiheit im weitesten Sinne. Denn um die Entschiedenheit des Menschen hinreichend zu thematisieren, müssen wir fragen, wie denn das Freie der Entschiedenheit zu denken ist. Da die Entschiedenheit von Heidegger aus dem Sein als dem Möglichen gedacht wird, stellt sich uns gleichermaßen die Frage, wie das Freie in der Entscheidung im Sein zu denken ist. Diese Frage nach dem Freien berührt außerdem die grundsätzliche Leitlinie für den Übergang von der Neuzeit in den anderen Anfang, der dann vollzogen wird, "wenn die »Entscheidung« gegen das »System« zu stehen kommt" (GA 65, S. 89). Erst durch eine Thematisierung des Freien können wir tiefer entfalten, inwiefern das Denken der Entscheidung in dem Urgeschehen von Sein und Nichts und allen daraus entspringenden Scheidungen gegen das System und damit das Denken der Einheit zu stehen kommt. Ohne diese Klärung besteht die Gefahr, das Denken von Sein und Nichts in ein Denken der Einheit eines Systems zurückzuversetzen, wenn wir z.B. alles bisher Aufgewiesene in und trotz seiner Geschiedenheiten in dem Wort Ereignis in einer alles urnfassenden Einheit vereinigt denken würden. In einer Einheit wäre alles Ereignis, weil alles Zu- und Entwurf ist. Damit würden wir aber das Entscheidungshafte verlassen und uns in einem Denken eines Systems beruhigen. Wir wenden uns für diese Fragestellungen zunächst dem neuzeitlichen Denken des Systems im deutschen Idealismus zu. Für den deutschen Idealismus wird die Entfaltung des Denkens in einem System notwendig, wie sich an Fichte, Hegel und Schelling sehen läßt. 72 Bei Schelling finden wir in dessen Freiheitsabhandlung73 das ausdrückliche Zusammengehen der Frage nach dem
72 Vgl. zu Fichte neben dessen sich durchhaltender Bestimmung der Wissenschaft und des Wissens als System in den verschiedenen Ausformungen der Wissenschaftslehre bes.: Über den Begriff der Wissenschaftslehre, § 4, in: Fichtes Werke, hg. v. I. H. Fichte, Bd. I, fotomechanischer Nachdruck von: J. G. Fichtes sämmtliche Werke, hg. v. I. H. Fichte, 8 Bände, Berlin 1845/1846, Berlin 1971, S. 57-62. Vgl. zu Hegels Fassung der Philosophie als System der Wissenschaft in der "Phänomenologie des Geistes": Heideg~er, Martin, Hegels Phänomenologie des Geistes, Gesamtausgabe Bd. 32, Frankfurt a.M. 1988, §§ 1-2, S. 1-24. Vgl. zu Schelling vor der Freiheitsabhandlung bes.: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, System des transzendentalen Idealismus, Tübingen 11800, Hamburg 1957, Vorrede, S. 1-6 und 1. Hauptabschnitt, 1. Abschnitt, S. 21-29. 73 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, in:
§ 9. Das System der Freiheit bei Schelling
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System mit der Frage nach der Freiheit. Im Ausgang von der kantischen Bestimmung der Tatsache der menschlichen Freiheit als Selbständigkeit im eigenen Grunde und Selbstbestimmung als Selbstgesetzgebung stellt sich für Schelling die Frage, wie denn das Denken der Freiheit und das Denken der Einheit eines Systems überhaupt möglich ist. Anhand Schellings Frage nach Freiheit, Möglichkeit und System können wir deshalb in ausgezeichneter Weise in Absetzung hierzu das Denken des Freien und des Möglichen als Übergang vom Denken der Neuzeit zum Denken des anderen Anfangs verdeutlichen. Wir folgen hiermit außerdem dem Hinweis Heideggers, "Schellings Freiheitsfrage [zu] durchfragen und dennoch die »Modalitäten«frage auf einen anderen Grund [zu] bringen" (GA 65, S. 176). Im 104. Abschnitt der »Beiträge« erwähnt Heidegger, daß in Schellings Freiheitsabhandlung innerhalb des deutschen Idealismus ein Vorstoß zu sehen ist, der allerdings bei Schelling selbst in der nach der Freiheitsabhandlung folgenden »positiven Philosophie« zu keiner Entscheidung führt. 74 Diese Nennung als Vorstoß ist mit den Ausführungen zu Beginn der zweiten Schellingvorlesung Heideggers75 zusamrnenzusehen.76 Dort nennt er Schellings Freiheitsabhandlung den Gipfel des deutschen Idealismus, der alle Bestimmungen der Metaphysik zum Austrag bringt. Deshalb kann der "Wesenskern aller Metaphysik des Abendlandes in der vollen Bestimmtheit" (GA 49, S.2) hier herausgehoben werden. 77 Diese doppelte Sicht des Vorstoßes einerseits sowie der Einschätzung
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Schriften von 1806-1813. Ausgewählte Werke Bd. VII, unveränd. reprograf. Nachdr. d. Ausg.: Stuttgart u. Augsburg, 1860 u. 1861, Darmstadt 1983, S. 331-416 (im folgenden zitiert als: FA, VII). 74 Vgl. zur Bestimmung der positiven Philosophie bei Schelling bes.: Andere Deduktion der Principien der positiven Philosophie, in: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Philosophie der Offenbarung, Bd. 2, unveränd. reprograf. Nachdr. d. aus d. handschriftl. Nachlaß hrsg. Ausg. von 1858, Darmstadt 1990, S. 335-356. 75 Vgl. Heidegger, Martin, Die Metaphysik des deutschen Idealismus. Zur erneuten Auslegung von Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und der damit zusammenhängenden Gegenstände (1809), Gesamtausgabe Bd. 49, Frankfurt a.M. 1991, S. 1-2 (im folgenden zitiert als: GA 49). 76 Vgl. zum grundSätzlichen Verhältnis Heideggers zu-Schelling auch: Pöggeler, Otto, Hölderlin, Schelling und Hegel bei Heidegger, in: Hegel Studien 28, 1993, S. 327-372, bes. S. 36lf. 77 WeIche Bedeutung Heidegger der Auseinandersetzung mit Schelling und dessen Scheitern an der Freiheitsfrage für sein eigenes .Denken zumißt, verdeutlicht er zu Anfang der ersten Schellingvorlesung: "Schelling aber mußte - wenn das gesagt werden darf - am Werk scheitern, weil die Fragestellung bei dem damaligen Standort der Philosophie keinen inneren Mittelpunkt zuließ. Auch der einzige wesentliche Denker nach Schelling, Nietzsche, ist an seinem eigentlichen Werk, dem »Willen zur Macht«, zerbrochen, und das aus dem gleichen Grunde. Aber dieses zweimalige große Scheitern größter Denker ist kein Versagen und nichts Negatives, im Gegenteil. Das ist das Anzeigen des Heraufkommens eines ganz Anderen, das Wetterleuchten eines neuen Anfangs. Wer den Grund dieses Scheiterns wahrhaft wüßte und wissend bewältigte, müßte zum Gründer des neuen
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B. 1. 11. EntfaItungen der Entscheidung
der Freiheitsabhandlung als Gipfel der Metaphysik andererseits wollen wir darstellen, um das Denken eines Systems vom Denken der Entscheidung im Freien und Möglichen fernzuhalten. In Schellings Frage nach der Freiheit und dem System wird das Böse zum Hauptthema der Abhandlung. Heidegger deutet dies in Hinblick auf den Systemgedanken folgendermaßen: "Daß in der Freiheitsabhandlung jedoch »das Böse« das Leitthema wird, deutet darauf hin, daß das Böse, so wie Schelling es begreift, die äußerste Entzweiung und Widerwärtigkeit gegen das Seiende im Ganzen und innerhalb des Seienden im Ganzen ausmacht. Hier ist der schärfste Riß, der ein »System«, d. h. die systasis des Seienden gefährdet. Und gerade dieser Riß muß als ein solcher metaphysisch entwickelt und als Fuge des Systems begriffen werden. Nicht etwa handelt es sich um eine Abschwächung dieser Entzweiung." (GA 49, S. 171)
Das Böse wird aber deshalb überhaupt Thema innerhalb der Frage nach der Freiheit, weil in "der Freiheit des Menschen [... ] die äußerste Zwietracht im Seienden eigentlich seiend [wird]" (ebd., S. 172). Um nachzuvollziehen, was für ein Vorstoß und Einbruch hier im Denken Schellings geschieht, müssen wir vorab den Gedanken des Systems und daraus die genannte Gefahr für das System entfalten.
a) Das Denken des Systems aus der ontotheologischen Verfassung der Metaphysik Das Systematische eines Systems überhaupt läßt sich vom griechischen Wort sunistemi, ich stelle zusammen, herleiten. Das Zusammenstellen fügt das Zusammenzustellende in ein System, gr. systasis, also in ein Zusammenstehen, das Heidegger ein Gefüge nennt. Für das philosophische Zusammenstellen in der metaphysischen Frage nach der Seiendheit des Seienden heißt dies, daß "[das] System [... ] die wissensmäßige Fügung des Gefüges und der Fuge des Seienden in seiner Seiendheit [ist]" (GA 42, S. 50). Seit dem ersten Anfang hat das Denken als systematisches Denken die Ausrichtung des Zusammenstellens des Seienden im Ganzen in das Gefüge eines Ersten und Einen. Diese Fragerichtung erfährt in der neuzeitlichen Philosophie seit Descartes eine Umwandlung in das
Anfangs der abendländischen Philosophie werden." (Heidegger, Martin, Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809), Gesamtausgabe Bd. 42, Frankfurt a.M. 1988, S. 5 (im folgenden zitiert als: GA 42), auch als Einzelausgabe: Heidegger, Martin, Schellings Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809), Tübingen 1971. Wir zitieren im folgenden nur nach der Gesamtausgabe, weil die Einzelausgabe teils eine andere Anordnung hat.)
§ 9. Das System der Freiheit bei Schelling
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System des sicher Wißbaren, die im deutschen Idealismus sich nochmals immanent in die Frage nach der absoluten Einheit des absolut Wißbaren wandelt. 78 Um diese erstanfangliche, metaphysische Grundausrichtung des Denkens hinsichtlich des Einen und des Systematischen nachzuvollziehen, wenden wir uns erneut den aristotelischen Bestimmungen der Philosophie zu. Heidegger spricht in diesem Zusammenhang von der onto-theo-logischen Veifassung der Metaphysik. Das Ontologische dieses Denkens richtet sich nach dem Seienden als solchen, das Theologische nach dem Seienden im Ganzen. Wie kommt es zu dieser Ausrichtung? Wenn die Philosophie von Aristoteles als prote philosophia, d. h. als erste Wissenschaft benannt wird, so deshalb, weil sie nach den ersten Prinzipien (arche) und den ersten Ursachen (aitia) des Seienden fragt. Sie unterscheidet sich somit von den vielfältigen Weisen, in denen über das Seiende ausgesagt werden kann, indem sie nach dem ersten und einen Prinzip des Seienden fragt, wenn sie das Seiende als Seiendes, also in seiner Seiendheit, sucht. Aus dieser Setzung entfalten sich die genannten zwei Fragerichtungen. Das Ontologische fragt nach der ousia als dem Wesen des Seienden als solchen. Das Theologische fragt nach dem ersten alles umfassenden unbewegten Beweger, dem theos. Aus welcher Notwendigkeit entfaltet sich dieses Zweifache? Wenn Aristoteles nach dem Seienden als Seienden, dem on he on, d. h. nach der Seiendheit des Seienden fragt, so geschieht dies aus der Not, in dem ungewöhnlichen Andrang des Aufgangs von so etwas wie Sein und damit des Denkens überhaupt einen Stand zu gewinnen. 79 Um die ungewöhnliche Seiendheit des Seienden zu fassen, wird sie als ousia, als Wesen bestimmt. Die ousia als idea im Sinne des Wesensanblicks bedarf der Fassung in beständiger Anwesenheit, die wir als die wichtigste Bestimmung der Seiendheit auslegten. Wir wollen diese Fassung näher betrachten, weil an ihr sich das Denken des Einen und Ersten entzündet, das als Bahn für alle Ausprägungen des folgenden metaphysischen Fragens leitend bleibt. Die beständige Anwesenheit nennt mehrere Hinsichten der Fassung des Wesensmäßigen der ousia, die notwendig für die metaphysische Ausrichtung des Denkens sind. Wenn wir fragen, wie das Wesensmäßige des Wesens von etwas verfaßt sein muß, damit es Wesens mäßiges ist, fragen wir aristotelisch nach der Verfassung des vorgängigen Wesensanblicks selbst. Wenn wir z.B. einen Tisch als Tisch benennen, so haben wir nach Aristoteles im voraus auf das Wesen des Tisches geblickt, um aus diesem Anblick des Wesens den einzelnen Tisch in seinem Tischsein ansprechen zu können. Fragen wir nun, wie dieser Wesensanblick an ihm selbst verfaßt sein muß, damit er das Wesen des Tisches als Anblick geben kann, dann ergibt sich, daß dieser Wesensanblick ein in sich ständi-
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Vgl. zur Geschichte der Systembildung: GA 42, § 3 b-d, § 4, S. 44-73. Vgl. § 5, S. 65f dieser Arbeit.
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B. I. 11. Entfaltungen der Entscheidung
ger sein muß. Er darf nicht, wie das einzelne Seiende, dem Wechsel ausgesetzt sein, wie wenn im Werden z.B. sich ein Same in einen Baum verwandelt, oder beim Scheinen von etwas z.B. ein Stein sich beim näheren Hinsehen als ein Ei herausstellt. Genausowenig darf der Wesensanblick dem Zerfall unterworfen sein, wie wenn ein Seiendes mit der Zeit zerfällt und so nicht mehr dieses Seiende ist, sondern verschwindet. Dagegen muß das Wesensmäßige des Wesens des Seienden in sich ständig sein, um Wesen für das einzelne wechselnde und zerfallen könnende Seiende sein zu können. Aus diesem in sich Ständigen ergibt sich die weiter ausgefaltete Bestimmung des Beständigen gegenüber dem Auftauchen und Verschwinden. Ein Seiendes kann auftauchen und verschwinden. Das Sein des Seienden muß hingegen beständig sein, damit das Seiende in seinem Wesen erblickt werden kann. Dafür muß dieser Wesensanblick an ihm selbst beständig anwesend verfaßt sein, damit er nicht wie das Seiende der Abwesenheit und dem Schwund verfällt. Die in sich ständig beständige Anwesenheit des Wesens von etwas gibt erst einen Anblick, in den das einzelne Seiende in seinem Wesen ausgelegt werden kann. so
Diese Ausrichtung des Wesens nach beständiger Anwesenheit ist notwendig, damit die ousia Grund für das Seiende im Sinne des hypokeimenon sein kann. Ist das Wesen beständig anwesend, so ist es hierin Grund für das Seiende. Das Seiende ist so gegründet in der ousia. Das ontologische Denken als Frage nach dem Seienden als solchen, d. h. nach der Verfassung der Seiendheit an ihr selbst, fordert die Fassung der ousia als Grund in der in sich ständig beständigen Anwesenheit. Damit ist aber zugleich die Frage nach der Ganzheit des Seienden im Ganzen gestellt, d. h. die Frage nach dem Theologischen. Denn wenn das Wesen an ihm selbst beständig anwesendes Wesen sein muß, dann ist es nur dann beständig anwesend, wenn in seiner Wesensverfassung liegt, daß sie für jegliche Wesensbestimmung von jeglichem Seienden Wesensbestimmung ist. Das Wesensmäßige des Wesens als ousia muß Wesensbestimmung für das Wesen des Seienden im Ganzen sein. Denn würde das Wesenhafte des Wesens nur für einen bestimmten Bereich des Seienden Wesensbestimmung sein können, dann wäre es nicht beständig anwesend, sondern würde dem Wechsel unterliegen und wäre insofern nicht mehr eine Wesensverfassung. Insofern ist die ontologische Frage nach dem Seienden als solchen in sich die theologische Frage nach dem Seienden im Ganzen, weil aus der Wesensbestimmung der Seiendheit für das Seiende zugleich die Notwendigkeit der Bestimmung für das Seiende im Ganzen entspringt.
80 Vgl. zur in sich ständig beständigen Anwesenheit: GA 45, § 17, b, S. 60-62, § 18, S. 67-71 und bes. § 32, S. 128-131.
§ 9. Das System der Freiheit bei Schelling
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Die gleiche Herleitung ergibt sich aus dem Gedanken des Grundes. Wenn das Seiende als solches als beständig anwesender Grund verfaßt sein muß, so muß dieser Grund selbst grundlos und unbewegt sein, wenn er Grund für das dem Wechsel und Zerfall ausgesetzte Seiende sein soll. Er muß grundlos und erster Grund sein, weil er sonst von etwas anderem abhinge als von sich selbst und insofern dem Wechsel und Zerfall unterliegen könnte. Diesen ersten grundlosen Grund faßt Aristoteles als unbewegten Beweger, als Gott, der allem Seienden 1. Grund ist und 2. alles Seiende als Grund umfaßt und 3. als unbewegter Beweger das bewegte Seiende im Ganzen begründet. Die ontologische Frage nach dem Wesen in beständiger Anwesenheit als Grund für das Seiende muß zugleich die Frage nach dem Seienden im Ganzen und den Grund für das Seiende im Ganzen stellen und diese mit dem ersten grundlosen Grund als unbewegten Beweger beantworten. Damit ist zugleich die Ausrichtung des Denkens nach der Einheit aufgewiesen. Der Grund für das Seiende als solches muß für das Seiende im Ganzen Grund sein und diese Allheit als Einheit umfassen, sonst wäre er nicht beständig anwesend. Die beständige Anwesenheit verlangt die Bestimmung der Allheit als Einheit in dem ersten grundlosen Grund. Das Denken der beständigen Anwesenheit und des Grundes entfaltet sich deshalb in die ontotheologische Verfassung der Seiendheit als Denken der Einheit der Ganzheit des Seienden im grundlosen ersten Grund des unbewegten Bewegers. 81 Mit Blick auf die beständige Anwesenheit erfährt die Verfassung der Seiendheit zudem zwei zeithafte Kennzeichnungen. Das Beständige ist in seinem Insich-Stehen und so Dauern notwendig ewig. Es ist damit beständig anwesend und das heißt weiter entfaltet, nicht dem Wechsel der Zeit unterworfen. Insofern können wir für die Einheit und Allheit des Grundes des Seienden im Ganzen und zugleich damit des Seienden als solchen drei Seinscharaktere herausstellen, die wir bei Schelling finden: 1. die Grundlosigkeit, 2. die Ewigkeit und 3. die Unabhängigkeit von der Zeit.
81 Vgl. zur ontotheologischen Verfassung: GA 42, § 6 a, S. 84-89, sowie: Die ontotheo-Iogische Verfassung der Metaphysik, in: Heidegger. Martin, Identität und Differenz, Pfullingen 91990 (im folgenden zitiert als: 10), bes.: S. 45f, S. 5Of, S. 63f.
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b) Schellings Ursein als Wille Schelling bestimmt aus dieser denkerischen Leitbahn das Sein folgenderrnaßen82 : "Es gibt in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Sein als Wollen. Wollen ist Ursein, und auf dieses allein passen alle Prädikate desselben: Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung. Die ganze Philosophie strebt nur dahin, diesen höchsten Ausdruck zu finden." (FA, VII, S. 350)
Heidegger verweist auf die Nähe des letzten Satzes dieser Bestimmung zu Aristoteles, Metaphysik Z 1, 1028b 2-4, zugleich aber damit auch darauf, daß die aristotelische Bestimmung des aiei aporoumenon bei Schelling fehlt. 83 Das ti to on, die Seiendheit, ist für Aristoteles demnach auch das immer Ausweglose oder, wie Heidegger es übersetzt, dasjenige, was bei der Suche nach ihr "immer wieder ins Ausweglose stellt" (GA 49, S. 145). Daß das Ausweglose bei Aristoteles mit dem Gesuchten der Seiendheit mitbenannt ist, zeigt Aristoteles' Nähe zum Aufgang des ersten Anfangs, dessen Ungewöhnlichkeit und Fragwürdigkeit bei ihm noch nicht verloren ist. Diese Benennung fehlt bei Schelling und dies nicht zufaIlig. Daß sie fehlt, ist das endgültige Ende des ersten Anfangs, weil die Fragwürdigkeit der Seiendheit gänzlich erloschen ist. An ihre Stelle ist die Selbstbejahung gerückt. Die Selbstbejahung meint den Willen als Ursein, der sich selbst will. Die Fragwürdigkeit des Seins ist dabei im Denken des absoluten Wissens in der Auslegung der Selbstbejahung aufgehoben. Wie kommt es zu dieser Bestimmung? Zwei Herleitungen wollen wir für diese Frage in den Blick nehmen. Erstens ist in der Bestimmung des grundlosen Grundes als ersten unbewegten Beweger für das bewegte Seiende im Ganzen die Bestimmung des Willens vorgezeichnet, weil er alles Seiende begründen, umfassen und bewegen muß. Wenn er bewegender Grund für alles Seiende ist, so muß er selbst als Wille in einer eigenen Bewegtheit gefaßt werden, weil nur so die Bewegtheit des Seienden aus einem Grund, der sie bewegt, gedacht werden kann. Weil das Ursein bewegt und das Seiende, das dem Wechsel der Bewegung ausgesetzt ist, zugleich als Einheit umfasst, muß das Ursein als Wille gefaßt werden, der zudem sich selbst will. Denn nur so ist das Bewegte als das Gewollte in der Einheit mit demjenigen Prinzip, das es bewegt, dem Willen.
VgJ. GA 49, 2. K. § 14, S. 83-89. VgJ. GA 49, S. 84. Heidegger übersetzt Aristoteles' Metaphysik Z I, 1028 b 2-4 "/cai de /cai to palai te /cai nun /cai aiei zetoumenon /cai aiei aporoumenon, ti to on," mit: "Und so ist denn also das, was von alters her sowohl als auch jetzt und vor allem immer wieder gesucht wird und was dabei immer wieder ins Ausweglose stellt, das, wonach wir fragen in der Frage: was ist das Seiende?" (GA 49, S. 145) 82
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§ 9. Das System der Freiheit bei Schelling
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Die Selbstbejahung entspringt andererseits dem Denken des Absoluten, das Schelling als Weiterführung der sicherbaren Gewißheit leitet. Das Absolute ist ebenfalls im Denken des Grundes vorgezeichnet. Wenn der erste und umfassende Grund selbst grundlos sein muß, leitet sich hieraus das Denken des Absoluten im Sinne des Abgelöstseins von jedem Grund ab. Um jedoch absolut als selbst grundlos und zudem absolut als Grund und Einheit für das Seiende im Ganzen zu sein, muß das Absolute notwendig seinen Grund in sich selbst haben. Es ist sich selbst Grund und weil es zugleich Grund und Einheit des Seienden im Ganzen ist, muß dieser Grund sich selbst in der Einheit wollen. So erst ist er Grund als Beweger für die Einheit und umspannt zugleich die Einheit. Insofern ist das Absolute Grund und Einheit seiner selbst in der Selbstbejahung seiner selbst. Damit ist der Leitfaden des Absoluten, der Schellings Denken bewegt, angezeigt. Vom Ursein des Willens ausgehend, denkt Schelling als erste Annäherung an das Absolute die Einheit von Grund und Existenz im Willen. Leitend für diese Ausprägung ist das Phänomen der Bewegtheit des Seienden im Ganzen, dies aber im Hinblick auf die Grundfrage nach der Möglichkeit der Widerwendigkeit gegen die Einheit im menschlichen Vermögen der Freiheit zum Bösen. Diese beiden Phänomene nötigen Schelling zur ihrer Ausfaltung in der Einheit des Willens.
c) Die Bewegtheit des Seienden aus der Einheit von Grund und Existenz im Willen Schelling denkt zunächst ohne den Menschen die Bewegtheit des Seienden im Ganzen aus zwei ewigen Anfängen, die als Grund und Existenz in Gott als Wille sind. Ihr Geschehen ist nicht in einem Nacheinander einer Zeitfolge zu verstehen, sondern immer nur in einer ewigen Gleichursprünglichkeit. Der Begriff "Grund" erfährt hierbei eine Umwandlung. Er ist nicht der absolute Grund, sondern Grund in der Einheit mit der Existenz im Willen. Der Grund in Gott ist der Wille als regelloses, dunkles Sichselbstwollen. Schelling nennt ihn die Sehnsucht. Ihr tritt gleichursprünglich die Existenz als Gott selbst im Sinne des eigentlichen Willens des Verstandes im Sichoffenbarenwollen in der Regel entgegen, das ein Aussichheraustreten bedeutet. Das Entgegentreten als Aussichheraustreten ist aber zugleich ein eigenes Zusichwollen. Wir müssen deshalb zwei Weisen des Zusichwollens scheiden. Gleichursprünglich will der Wille des Grundes zu sich selbst, aber im Sinne des Sichverschließens, sowie der eigentliche Wille zu sich will, weil er sich offenbaren will. Indem er sich im Grund als Wille erblickt, will er diesen Willen in seine Regel im Sinne des Ewigen, Beständigen und so Verständigen heben. Der eigentliche Wille will in den Verstand heben und der regellose Wille zieht in die Verschließung. Dadurch, daß
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der eigentliche Wille sich offenbaren will, erregt er den sich verschließenden Willen einerseits, zu sich zu kommen, indem er in die Regel des Verstandes eingeht, was seiner Sehnsucht entspricht. Andererseits aber, weil die Sehnsucht sich selbst in der Verschließung will, zieht es sie vom regelnden Willen weg, weil der regelnde Wille als Universalwille das Eigenwillige des regellosen Willens aufhebt. Die Anziehung und Abstoßung zwischen den Willen ist gegenseitig, aber in einem jeweils entgegengesetzten Sinne. Der regellose Wille will in die Regel des Verstandes in seiner Sehnsucht, zugleich aber will er den eigentlichen Willen in sich für sich verschließen. Er bewegt sich deshalb zwischen Angezogen sein und Abstoßung innerhalb seiner Tendenz, als Eigenwille für sich zu wollen. Der eigentliche Wille bewegt sich ebenfalls zwischen Anziehung und Abstoßung, aber aus der entgegengesetzten Tendenz des Sichwollens als Offenbaren- und damit Aussichheraustretenwollen. Da er sich im Sinne des Offenbarens will, muß er sich dem Grund als Sichselbstverschließenwollen zuwenden und ist somit aus seiner eigenen Tendenz des Offenbarens vom Grund angezogen. Er wendet sich aber nur in dem Maße dem Grundwillen zu, in dem er aus ihm ihn in den Willen zur Offenbarung lösen kann. Er stößt dabei zugleich dasjenige, was als Sichselbstverschließenwollen bleibt, ab, weil er selbst als das ewige Verstandesprinzip keinen Teil am ewigen Sehnsuchtsprinzip hat, wiewohl dieses nur das Andere seiner selbst ist. Aus dieser Bewegung der Scheidung entspringt das Lebendige als Zwischen des Willens zur Besonderung zu sich und des Willens zur Offenbarung in die Regel des Verstandes. Das Lebendige, das Schelling auch die Seele nennt, ist dasjenige, was der Wille zur Offenbarung jeweils aus dem Willen zur Besonderung herausheben kann und was so als Lebendiges zwischen dem ewigen Sichverschließen wollen und dem ewigen Sichselbstoffenbarenwollen lebt. Die Besonderung des Einzelnen in der Gestalt eines Geschöpfes und sein Leben entspringt an dieser Scheidung zwischen den Willen. Wäre nur der regellose Wille, wäre keine lebendige Offenbarung, weil der Wille in sich geblieben wäre. Wäre nur der Wille der Regel, wäre ebenfalls keine lebendige Offenbarung, weil die ewige Regel im ewigen Verstand allein in sich wäre. Erst aus ihrem Widerstreit entspringt das Lebendige. Der Grundwille bewirkt in seinem Zusichziehen die Besonderung in die einzelne Gestalt. Diese wäre aber leblos, wenn der Wille der Regel selbst nicht dieses Zusichziehen wiederum in die ewige Regel zieht. Aus diesem wechselweisen Zusichziehen entspringt das Band der Seele als das Lebendige zwischen der Gestalt und der Idee, wie Schelling es auch nennt. Diese Doppelbewegung geschieht im Sein als Gott in seiner Schöpfung der Natur. Es ist das ewige Werden des Seienden im Ganzen und damit des Gottes. In der Natur ist das Geschehen des Lebendigen zwischen den ewigen Anfangen des Sichselbstwollens und Sichselbstoffenbarenwollens in der Einheit des ewigen Werdens des Gottes einbehalten, weil der Gott selbst als Existenz sich selbst als Gott im Grunde beherrscht. Er beherrscht den Grund aber so, daß der
§ 9. Das System der Freiheit bei Schelling
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Grund nicht ganz in die Existenz aufgehoben wird, was das Ende der Bewegtheit der Schöpfung bedeuten würde. Er läßt den Grund Grund sein und erregt so die Bewegung des ewigen Zusichstrebens in die Verschlossenheit und des Sichoffenbarens als Leben in jedem Geschöpf. Das Sein als Einheit des Seienden im Ganzen ist hier das ewige Werden des Gottes in seiner Offenbarung in der Natur in dem in sich zwiefachen Willen des Urseins. Das ewige Werden denkt Schelling in einer Steigerung. Beide Willen steigern sich gegenseitig. Je stärker der Wille der Offenbarung wird, desto stärker wird der Wille zur Besonderung. Denn umso stärker der Wille zur Besonderung vom Willen der Offenbarung angezogen wird, desto stärker muß er sich zugleich besondern. Und umgekehrt, desto stärker sich der Grundwille besondert, desto stärker wiederum ist der Wille zur Offenbarung gedrängt, sich dem Grundwillen zuzuwenden. Aus dieser Steigerung ergeben sich die immer eigener und komplexer werdenden Schöpfungen in der Natur, weil das jeweils noch Unentfaltete und Ungeschiedene einer Stufe der Schöpfung in der nächsten entfaltet und geschieden wird. 84
d) Die Möglichkeit der menschlichen Freiheit zum Bösen als Zertrennlichkeit der Prinzipien Im Menschen ist die Bewegung der sich steigernden Scheidungen in das vorläufig Höchste gekommen, weil die Besonderung in ihm die Selbstheit des freien Eigenwillens ergeben hat. Der Mensch ist frei in seinem Eigenwillen, d. h. für Schelling, er ist frei, in der Besonderung als Einzelwille aufzugehen oder sich dem Universalwillen zuzuwenden. Hiermit entfaltet sich die Geschiedenheit von Grund und Existenz erst in ihren höchsten Austrag, weil der "Mensch [... ] auf jenen Gipfel gestellt [ist], wo er die Selbstbewegungsquelle zum Guten und Bösen gleicherweise in sich hat: das Band der Prinzipien in ihm ist kein notwendiges, sondern ein freies" (FA, VII, S. 374). Schelling nennt diese Freiheit des Vermögens zum Guten und Bösen den realen und lebendigen Begriff der Freiheit in Absetzung zum, wie er es nennt, nur formellen Begriff der Freiheit als eigenständiges Sichbestimmen aus dem eigenen Wesensgesetz. In dieser wesenhaften Verfassung liegt, daß das Gute nicht das Böse auslöscht oder umgekehrt, sondern daß das Gute und das Böse die wesenhafte Ausgesetztheit des Menschen ausmachen, in deren Zwischen er sich wesenhaft seinem
84 Vgl. zur Einheit von Grund und Existenz und der Bewegtheit: FA, VII, S. 357 "Die Naturphilosophie [... ]" bis S. 363 [... ] sich unterordnet.". Dazu: GA 42, § 17 b-e, S. 185205, § 18 b-f, S. 213-238.
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Vermögen nach befindet. In dieser Fassung des Vermögens sehen wir einen ersten Vorstoß in das Denken der Entscheidung. Im Menschen tritt hiermit die Einheit der sich widerstrebenden Prinzipien in Gott in der Zertrennlichkeit dieser Prinzipien auf. Wenn der Mensch als freies Wesen sich willentlich gegen den Universalwillen stellen kann, ist dieses Böse die Umkehrung der Prinzipien in Gott. Während in der Natur der Grund nur Grund der Existenz ist und von ihr als Regel beherrscht wird, kann sich im Menschen der Grund als Eigenwille über den Universalwillen erheben und so die Seinsfuge ins Ungefüge wenden. Dadurch nimmt er sich selbst als Grund für seine Bestimmung, was der Mensch in der Selbstbestimmung seiner selbst in der Freiheit tut. Das Selbst, das Besondere, was in der Natur nur Grund ist, in dem sich die Regel offenbart, kann der Mensch zur Regel für sich selbst und somit für die Einheit der Prinzipien machen und damit diese Einheit umkehren. 8S In dem Vermögen zur Umkehrung müssen wir ein zweifaches Geschehen beachten. Das Böse als Möglichkeit zum Einzelwillen für sich selbst ist zugleich hiermit die Ermöglichung der Freiheit des Einzelnen. Damit aber ist das Böse die Ermöglichung des Guten als freies Sichzuwenden zum Universalwillen. Aber das Gute löscht das Böse nicht aus, sondern setzt es allererst durch sein Erscheinen und kommt nur in ihm zum Erscheinen. Das Böse ist in diesem Sinne im Guten sowie das Gute im Bösen ist. Dieser Sachverhalt wird von Schelling in der dialektischen Wendung zum Ausdruck gebracht, daß das Gute das Böse und das Böse das Gute "ist".86 Wie schwer nur jedoch der Einzelwille sich zum Universalwillen wenden kann, beschreibt Schelling folgendermaßen: "Die Angst des Lebens selbst treibt den Menschen aus dem Zentrum, in das er erschaffen worden; denn dieses als das lauterste Wesen alles Willens ist für jeden besonderen Willen verzehrendes Feuer; um in ihm leben zu können, muß der Mensch aller Eigenheit absterben, weshalb es ein fast notwendiger Versuch ist, aus diesem in die Peripherie herauszutreten, um da eine Ruhe seiner Selbstheit zu suchen. Daher die allgemeine Notwendigkeit der Sünde und des Todes, als des wirklichen Absterbens der Eigenheit, durch welches aller menschlicher Wille als ein Feuer hindurchgehen muß, um geläutert zu werden." (FA, VII, S. 381)
85 Vgl. bes.: FA, VII, S. 363 "Wenn aber [... ]" bis S. 366 "[ ... ] noch fortbesteht.". Dazu: GA 42, § 20-§ 21 a, S. 240-250. 86 Vgl. FA, VII, S. 400. Dazu: GA 42, § 24-25, S. 271-277.
§ 9. Das System der Freiheit bei Schelling
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e) Die Freiheit zum Bösen in den Modalitäten von Notwendigkeit, Möglichkeit und Wirklichkeit Schelling denkt das Vermögen der menschlichen Freiheit in den Modalitäten von Möglichkeit und Wirklichkeit sowie in der Frage von Notwendigkeit und Freiheit. Um die menschliche Freiheit in die Einheit eines Systems zu denken, muß er sie in die Seinsfuge zurückbinden und in ihr zunächst die angelegte Möglichkeit aufweisen. Deshalb stellt Schelling die Bewegtheit der Natur der Betrachtung der menschlichen Freiheit voran. Die Möglichkeit der Freiheit der Prinzipien ist in dem Sichselbstwollen des Gottes in der Natur angelegt. Dadurch aber, daß der Gott ganz sich selbst wollen muß, muß er ein Ebenbild von sich selbst wollen, was in der geregelten Natur noch nicht erreicht ist. Um sich in diesem Ebenbild selbst zu erblicken, muß dieses Ebenbild wie er den Willen des Sichverschließens und den Willen der Regel des Universalwillens in sich tragen. Diese Möglichkeit muß aber frei und insofern zertrennlich sein, weil sonst das Ebenbild nur ein seiner Herrschaft unterstehendes Wesen wäre. Dieses Ebenbild muß in diesem Sinne ein freies Anderes seiner selbst sein. Als Anderes seiner selbst ist es zwar abhängig von ihm, d. h. in der Seinsfuge als Möglichkeit angelegt, aber als Anderes muß es zugleich in der Freiheit unabhängig von Gott sein. Diese Freiheit ist erst im freien und so zertrennlichen Zwischen von Eigenwille und Universal wille erreicht. Wenn diese Freiheit nicht erreicht wäre, käme der Gott nicht ganz in einem Anderen seiner selbst zu sich selbst. Genau betrachtet, ist Gott vor dem Menschen noch gar nicht er selbst, sondern erst auf dem Wege zu sich selbst. Erst im Menschen kann er zu sich selbst kommen, weil erst im Menschen die Selbstbewegungsquelle des Gottes ganz in ihrer Geschiedenheit hervorkommt und in ihn gelegt ist. In ihm ist erst der Gott er selbst geworden, weil nun erst nicht mehr, wie in der Natur, das notwendige Band der Prinzipien, sondern jetzt das freie Band herrscht. An dieser Stelle des Gedankengangs können wir eine eigentümliche Bestimmung des Gottes ausmachen. Der Gott ist nämlich selbst nicht frei im Sinne des menschlichen Vermögens. Er muß als der Sichselbstwollende in der Natur den Grund seiner selbst wollen, um sich zu offenbaren. Und auch auf der nächsthöheren Stufe des Menschen, auf der das dunkle Prinzip erst zum Bösen wird, was in der Natur nicht möglich ist, ist der Gott als er selbst nur der Geist der Liebe, der dem Geist des Bösen als dem Widergeistigen gegenübersteht. Der Geist der Liebe ist ebenfalls nicht frei, sondern muß aus seinem Wesensgesetz heraus den Geist des Bösen böse sein lassen und dennoch den Menschen auch im Bösen lieben. Frei im Sinne des Vermögens des Guten und des Bösen ist nur der Mensch. Damit ist jedoch zunächst primär die Möglichkeit der Freiheit in den Gott zurückgenommen. Die Möglichkeit der Freiheit zum Bösen verlangt noch eine weitere Herleitung. Dadurch, daß in der Seinsfuge in Gott das dunkle Prinzip 9 MUller
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des Zusichwollens im Sinne des Sichverschließens herrscht, ist in diesem Prinzip, wenn es im Menschen auftaucht, der Hang zum Bösen angelegt. Der Mensch trägt dieses dunkle Prinzip in sich in seinem Einzelwillen und hat deshalb wesensmäßig aus der Seinsfuge heraus den Hang zum Bösen im Sinne der Verschließung in den Einzelwillen. 87 Die Wirklichkeit der Freiheit und des Bösen ist damit jedoch noch nicht entfaltet. Wirklich wird die Freiheit und das Böse im Menschen in einem zweifachen Sinn des Übergangs von der Möglichkeit zur Wirklichkeit. Einerseits wird die Freiheit dann wirklich, wenn der Mensch Mensch wird, indem er seinen Einzelwillen ergreift, d. h. mit dem Eintritt in seine menschliche Einzelheit. Dies~s Eintreten in die Freiheit muß von Schelling jedoch mit der Notwendigkeit zusammengedacht werden. Das Ergreifen der Freiheit ist eigene Notwendigkeit, weil die Freiheit sonst nicht die eigene Freiheit wäre. Heidegger hebt diesen Sachverhalt folgendermaßen hervor: "Wenn der Mensch frei ist [... ], dann kann der einzelne Mensch nur frei sein, wenn er sich selbst anfanglich zur Notwendigkeit seines Wesens entschieden hat." (GA 42, S. 268) Eigene Freiheit des Menschen ist deshalb eigene Notwendigkeit. Freiheit ist Notwendigkeit, Notwendigkeit ist im Menschen Freiheit. Diese Notwendigkeit als Entschiedenheit zum eigenen Wesen liegt "vor" einem innerzeitlichen Geschehen. Sie ist notwendige Entschiedenheit im Geschehen des Urwillens vor dem Nacheinander einer Ursache und Wirkung in einer Zeitfolge. Im Urwillen als Sichselbstwollen hat der Mensch in Gott sich schon notwendig selbst gewählt, um dieses Wollen als Freiheit in der Tat der Vereinzelung zu ergreifen. Die Notwendigkeit ist insofern Notwendigkeit im Urwillen in Gott zur Freiheit, die Freiheit ist die Notwendigkeit zum eigenen Wesen. Die Entschiedenheit zu sich selbst, d. h. zur eigenen Freiheit, ist Notwendigkeit zur Tat der Vereinzelung. Sie muß deshalb notwendig vom Menschen ergriffen werden, weil er in der Offenbarung des Willens steht. Darin liegt der erste Übergang von der Möglichkeit der Freiheit in Gott zur Wirklichkeit der Freiheit im Menschen. Die Wirklichkeit der Freiheit ist die Tat der Vereinzelung, in der der Mensch seine Notwendigkeit zur Freiheit aus der Möglichkeit in Gott ergreift. Diese Möglichk~it ist Notwendigkeit, die in der Tat zur Wirklichkeit der Freiheit wird. Diese Vereinzelung im Menschen geschieht zugleich aber auch in jeder einzelnen menschlichen Tat. Hierin liegt der zweite Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit der Freiheit und des Bösen. In jeder menschlichen Tat ist der Mensch frei, ob er sich für seinen Einzelwillen entscheidet oder sich dem Universalwillen zuwendet. Diese Freiheit der Tat ist zwar vorab in der Wirklichkeit der Vereinzelung angelegt. Der Mensch entscheidet sich jedoch jeweils frei in
87
Vgl. FA, vn, S. 381. Dazu: GA 42, § 22, S. 254-264.
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seiner einzelnen Tat und muß sich entscheiden, weil er auch in jeder einzelnen Tat in der Offenbarung des Willens steht und so zur eigenen Tat genötigt ist. Dieses Genötigtsein ist seine eigene freie Notwendigkeit. Der Mensch ist zur Freiheit der eigenen Tat genötigt und ist darin notwendig frei. Er hat seinen Willen in sich als Einzelwillen und ist deshalb in jeder Tat notwendig frei. Das Gute und das Böse bleiben die freie notwendige Tat des Menschen aus seiner vorgängigen Entscheidung zu sich selbst und in seiner jeweiligen Entscheidung zu sich selbst oder zum Universalwillen. Wenn es zum Menschen gekommen ist, beginnt der offene, freie Kampf des Guten und des Bösen im Menschen, ob er seinen Einzelwillen nur Grund sein läßt und sich dem Universalwillen des Geistes der Liebe im Guten überläßt oder ob er den Eigenwillen zum Existenzbestimmenden macht und sich und die Einheit von ihm aus bestimmt. Dieser Kampf entscheidet sich in jeder einzelnen Tat als Übergang von der nötigenden Möglichkeit zur freien Tat in die Wirklichkeit der ergriffenen freien Tat. 88
t) Das Absolute des Ungrundes und des Endes
Schelling versucht diesen offenen Kampf in die absolute Einheit des Systems zu denken, indem er einerseits einen absoluten Ungrund ansetzt, der die beiden ewigen Prinzipien erst entspringen läßt. Im absoluten Ungrund kommt Schelling erst zur Frage nach dem Grund im Sinne des Absoluten selbst. Dieser absolute Ungrund ist noch höher als der Gott als Existenz im Sinne des Geistes der Liebe im Universalwillen: "Denn auch der Geist ist noch nicht das Höchste; er ist nur der Geist oder der Hauch der Liebe. Die Liebe aber ist das Höchste. Sie ist das, was da war, ehe denn der Grund und ehe das Existierende (als getrennte) waren, aber noch nicht war als Liebe, sondern - wie sollen wir es bezeichnen?" (FA, VII, S. 4050
Schelling verstummt in dem Augenblick, da er versucht, den absoluten Ungrund im Anfänglichen zu sagen. Dennoch beschreibt er das Einigen der Liebe, jedoch nachdem sie nicht mehr im Anfänglichen ist. Der Wille der Liebe ist erst die innerste Selbstbewegungsquelle des Urwillens. Der Wille der Liebe einigt, aber seinem Wesen nach so, daß er das, was er liebt, sein läßt und hiermit die Geschiedenen in ihrer Geschiednis hält und beläßt. Als tiefster eigentlicher Wille vereinigt die Liebe den Willen des Verstandes mit dem Sichselbstwollen des dunklen Willens, so daß die Liebe das Sichselbstwollen läßt, aber es beherrscht. Im Geist des Guten als Universalwille läßt die Liebe den Geist des Bösen als Eigenwille ebenfalls sein, aber so, daß sie im Kampf mit ihm steht, sich 88 Vgl. zur Möglichkeit und Wirklichkeit sowie zum Kampf: FA, VII, S. 373 "Wir haben [... ]" bis S. 394 "[ ... ] göttliche Schönheit.". Dazu: GA 42, §§ 22-24, S. 254-274.
9'
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ihr zuzuwenden. Wie die Liebe aber ist, bevor sie Liebe ist, bleibt von Schelling unbeantwortet. Schelling kann keine Antwort geben, weil die Liebe erst Liebe in ihrem Einigen des Widerwendigen ist. Sie war zwar vor Grund und Existenz als absoluter Ungrund, aber prädikatslos und indifferent und doch nicht ein bloßes Nichts. 89 Schelling muß aber trotz seines Verstummens auf den Ungrund verweisen, weil sein Denken entlang des Leitfadens der absoluten Einheit denkt. Diesem Denken entspricht es, auf der "anderen Seite" des Systems ebenfalls die absolute Einheit zu denken. Das Denken wird so zu einem teleologischen Denken bezüglich des Kampfes von Gut und Böse, um im Ende dieses Kampfes die absolute Einheit denken zu können. Der Kampf des Guten und des Bösen im Menschen endet in der ersten der letzten, endlichen Scheidungen, indem das Gute und das Böse sich ganz scheiden. 90 Hierin sehen wir die Weiterentwicklung der Steigerung der Scheidung, die die zwei Willen beim Übergang von der Natur zum Menschen zertrennlich gemacht hat. Das Gute wird das Böse in dieser ersten endlichen Scheidung ganz aus sich herausgestoßen haben, so daß der Grund im Menschen als Einzelwille ganz mit dem Geist des Universalwillens der Liebe eins wird. Der Grund als Einzelwille wird sich dann nicht mehr als Geist des Bösen gegen den Geist des Universalwillens der Liebe erheben, sondern ganz in diesem aufgehoben sein. Der Grund hat sich dann als Grund des Bösen aufgelöst. Deshalb ist dann das Böse im Grund nicht mehr Böses, sondern dieses Böse wird in dieser endlichen Scheidung ganz in ein Nicht-sein abgestoßen. Was im Grund noch Böses war, bleibt nun "als ewig dunkler Grund der Selbstheit" (FA, VII, S. 408) zurück. In dem Zustand des Nicht-seins ist das Böse nur noch potenz, die aber nicht mehr zum actus des Kampfes mit dem Guten sich erheben kann. Damit herrscht die absolute Identität zwischen dem Geist als Universalwille der Liebe und dem Grund als Einzelwille des Menschen.91 Der Tod des Menschen ist dann aufgehoben, weil der Tod vormals nur dazu diente, das Gute als Universalwillen von dem Bösen der Vereinzelung im Einzelwillen zu lösen. 92 Daß Schelling zu einem Denken der absoluten Identität im Menschen kommt, entspringt zwar dem Denken der sich steigernden Scheidungen und des Absoluten. Dieser Leitfaden erfahrt aber seine Konkretion in dem für den ganzen deutschen Idealismus bestimmenden christlichen Gedanken der Identität von Gott und Mensch in der Gestalt des Jesus Christus. In ihm kommen die Scheidungen der Offenbarung der Schöpfung, die vor ihm im Menschen noch eingeVgl. FA, W, S. 406. Vgl. FA, W, S. 404. 91 Vgl. zu diesem Ende und der Ausstoßung: FA, W, S.403 "Nach allem [... )" bis S.405 "[ ... ] Füße lege." und S. 409. 92 Vgl. FA, W, S. 405. 89
90
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schränkt offenbart waren, in die höchste Gestalt der Scheidung und Vereinigung, um den Menschen mit Gott wieder zu verbinden: "[ ... ] und zwar erscheint es [das höhere Licht des Geistes], um dem persönlichen und geistigen Bösen entgegenzutreten, ebenfalls in persönlicher, menschlicher Gestalt und als Mittler, um den Rapport der Schöpfung mit Gott auf der höchsten Stufe wiederherzustellen. Denn nur Persönliches kann Persönliches heilen, und Gott muß Mensch werden, damit der Mensch wieder zu Gott komme. Mit der hergestellten Beziehung des Grundes auf Gott ist erst die Möglichkeit der Heilung (des Heils) wiedergegeben." (FA, VII, S. 380) In Jesus Christus ist die von Schelling gedachte Identität des Einzelwillens der Persönlichkeit mit dem Universalwillen der Liebe einmal in der Menschheit erreicht und bestimmt seitdem die weitergehende Geschichte der Schöpfung auf das dargelegte Ende als ergreifbare Möglichkeit des Menschen, die im Ende erreicht sein wird. Der Mensch überhaupt wird im Ende wie Jesus Christus sein, wenn er in die absolute Identität nach der ersten, endlichen Scheidung eintritt. Insofern ist das von Schelling gedachte Ende des Kampfes von Gut und Böse zwar im Denken des Absoluten angelegt, tiefer begründet jedoch in der Konkretion der vollzogenen Identität von Gott und Mensch. Schelling scheidet in dem Ende zwischen der absoluten Identität des Geistes des Universalwillens mit dem Geist des Einzelwillens und der liebe selbst: "Aber über dem Geist ist der anfängliche Ungrund, der nicht mehr Indifferenz (Gleichgültigkeit) ist, und doch nicht Identität beider Prinzipien, sondern die allgemeine, gegen alles gleiche und doch von nichts ergriffene Einheit, das von allem freie und doch durchwirkende Wohltun, mit Einem Wort die Liebe, die Alles in Allem ist." (ebd., S. 408)
Die Liebe allein ist im Ende absolute Einheit, die die absolute Identität der Prinzipien noch umgreift und nun nicht mehr, wie am Anfang, absoluter Ungrund in der Indifferenz und Prädikatslosigkeit ist, sondern im Gegenteil nun "Alles in Allem" ist, weil sie Alles durchwirkt. Wenn der Mensch ganz im Geist des Universalwillens der Liebe ist, wird dieser Geist als Gott in ihm auch die Natur zu sich nehmen. Der göttliche Mensch wird so zum Erlöser der Natur, indem durch ihn der Geist der Liebe die Natur durchgeistigt und so in den Geist aufnehmen wi,rd. Damit wird in der zweiten endlichen Scheidung auch aus der Natur das dunkle Prinzip in den Geist der Liebe aufgelöst. 93 Was aber nach diesen beiden Scheidungen als Selbstheit und Dunkles bleibt, wird in dieses Dunkle als Nicht-sein ewig eingeschlossen und ausgestoßen.
93
Vgl. FA, VII, S. 400.
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g) Schellings Scheitern an der absoluten Einheit Schelling verlagert somit die absolute Einheit in die Liebe, die auch noch die absolute Identität von Eigenwille und Universalwille umspannt. Was sie aber nicht umspannt, ist das ausgestoßene Böse und Dunkle, dem am Ende der Schöpfung nur noch das Nicht-sein zukommt. Damit begibt sich das Denken Schellings aber in einen unauflöslichen Widerspruch, der seine Rückwirkungen auf alle anderen Scheidungen hat. Die Abstoßung in das Nicht-Sein läßt das System der absoluten Einheit zerbrechen, auch wenn Schelling glaubt, durch diese Ansetzung die absolute Einheit für das Sein erreicht zu haben, weil das Böse nur noch das Nicht-Sein ohne Actus und Wirkung ist. 94 Wenn wir nun Heideggers Aufweis der Widersprüchlichkeit Schellings in seiner ersten Schellingvorlesung betrachten, sehen wir, wie Heidegger an zwei Stellen Schelling innerhalb dessen Denken zu kurz denkt. Heidegger bleibt im § 27 im Bedenken der höchsten Einheit des Absoluten beim anfänglichen Ungrund stehen. Von diesem Ungrund vor den zwei ewigen Prinzipien kann er sagen, daß dieser als Einheit die absolute Indifferenz ist und prädikatslos bleibt. Er folgert daraus, daß für Schelling "das Seyn in Wahrheit vom Absoluten" (GA 42, S. 280) nicht gesagt werden kann und leitet hieraus ab, daß das Sein ganz anders gesagt werden muß. Diese Sicht auf das Absolute bei Schelling ist bezüglich der Nichtsagbarkeit jedoch unrichtig, weil das Absolute nur im Anfang nicht gesagt werden kann. Im Ende wandelt sich, wie wir sahen, die absolute Indifferenz und Prädikatslosigkeit in die absolute Umfassung aller Differenz und in den stärksten Begriff des Prädikats, daß die Liebe in ihrem Durchwirken Alles in Allem ist. 95 Diese fehlende Sicht auf das Ende hat ihre Rückwirkung auf eine weitere Stelle, an der Heidegger die Widersprüchlichkeit bei Schelling aufweist. Im § 26 zitiert er Schelling folgendermaßen: "In dem göttlichen Verstand ist ein System, aber Gott selbst ist kein System, sondern ein Leben" (FA, VII, S. 399). Hieraus leitet Heidegger ab, daß das System nun nur für einen Teil der Prinzipien, dem Gott als Existenz, genommen wird, der Gott selbst aber das Leben ist und deshalb ein System notwendig im Widerspruch zu Gott als Leben bleiben muß. Deshalb scheitert nach Heidegger das System oder das Leben muß aus ge-
Vgl. bes.: FA, VII, S. 409, Ende des ersten Abschnitts. Vgl. hierzu Schelling: "So haben wir den bestimmten Punkt des Systems [d. h. den Anfangspunkt] aufgezeigt, wo der Begriff der Indifferenz allerdings der einzige vom Absoluten mögliche ist. Wird er nun allgemein genommen, so wird das Ganze entstellt [... ]." (FA, VII, S. 411/412) In der zweiten Schellingvorlesung spricht Heidegger deutlicher vom Willen der Liebe als der absoluten Einheit, die "Alles in Allem" ist und benennt das Absolute nicht mehr nur als das Prädikatslose. Vgl.: GA 49, S. 113 Abschnitt c und S. 134, unter 2. 94
95
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schlossen bleiben. Damit läßt Heidegger aber unbedacht, daß Schelling faktisch am Ende das Leben aus dem System herausnimmt. Wenn Gott als Leben das Widerwendige im Menschen zwischen Gut und Böse und in der Natur zwischen Besonderung und Offenbarung ist, so wird dieses Leben nach den beiden letzten Scheidungen der Schöpfung nicht mehr sein. Wenn im Ende des Kampfes Gut und Böse sich ganz scheiden, hat der Mensch kein Leben mehr in dem Sinne dieses Kampfes, sondern der Tod ist für ihn aufgehoben. Genauso hat nach der zweiten Scheidung die Natur keine Widerwendigkeit mehr, wenn sie durch den Menschen ganz in den Geist der Liebe aufgenommen ist. Es herrscht dann kein Widerspruch mehr zwischen Gott als System und Gott als Leben, weil Gott als System das Leben ganz in sich aufgenommen hat. Die Schwierigkeit besteht hier, die Zwischenphänomene des Gottes als Leben von ihren von Schelling gedachten Enden her zu denken, für die diese Phänomene nur Durchgangsstadien des Absoluten selbst sind, die deshalb aber zunächst nicht im Widerspruch zum Ende stehen. Wir müssen außerdem beachten, daß auch die menschliche Freiheit im Ende aufgelöst ist. 96 Wenn der Mensch ganz in den Universalwillen aufgegangen ist, ist er so unfrei wie der Gott. Er kann dann nur noch die Natur lieben und sie erheben, aber er wird sich nicht mehr gegen den Universalwillen stellen. In diesem Sinne ist die Widersprüchlichkeit von Gott als Leben und Gott als System und die Freiheit im Ende aufgelöst. Damit ist jedoch ein Endzustand erreicht, indem keine Bewegtheit mehr herrscht und die Schöpfung faktisch zu Ende ist. Von diesem Ende her läßt sich Heideggers Aufweis der Widersprüchlichkeit wieder aufnehmen. Das Böse als Nicht-Sein kann nicht von der absoluten Einheit umspannt werden, sondern muß ausgestoßen werden. Dadurch ist sie jedoch keine absolute Einheit mehr. Und hieraus ergeben sich die Rückschlüsse für das Denken der Widerwendigkeit. Das Leben muß im Ende in das System eingeschlossen werden und damit aufhören. Hier denkt Schelling konsequent. Die Einheit des Systems ist aber primär zunächst nicht deshalb aufgehoben, weil das Leben nicht mehr herrscht, sondern weil auf dieser Stufe die Einheit den Grund und das Böse nicht mehr umfaßt und das Auflösen des Lebens die Einheit nicht rettet. Daraus folgt rückwirkend, daß mit der Ansetzung des Gefüges von Grund und Existenz und des Vermögens von Gut und Böse ein System in einer absoluten Einheit unmöglich wird, weil aus ihnen bei ihrer Auflösung das Böse unvereint übrig bleibt. In diesem Sinne scheitert letzthinnig an der Ansetzung der Seinsfuge in der Widerwendigkeit und der Freiheit die Ausformung eines Systems der absoluten Einheit.
96
Vgl. FA, VII, S.408: "Aber der Grund bleibt frei und unabhängig von dem Wort
bis zur endlichen gänzlichen Scheidung." (Herv. v. V.)
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h) Die Widersprüchlichkeit von Bewegtheit und Freiheit im Sein in beständiger Anwesenheit Wenn wir nun für die Frage nach dem System und der Freiheit den dargelegten Widerspruch tiefer begreifen wollen, müssen wir die Grundschwierigkeit in dem Ansatz des ewigen Werdens der Bewegtheit sehen. Die Bewegtheit des Seins ist bei Schelling aus der Bewegtheit des Seienden in das Sein zurückgedacht. Die Bewegtheit im Sein, so zurückgedacht, begründet die Bewegtheit des Seienden. Die Bewegtheit des Seienden jedoch ist selbst nur aus der Unbewegtheit des Seins in beständiger Anwesenheit sichtbar. Die Bewegtheit überhaupt bildet sich nur als Gegenbegriff zur Unbewegtheit. Wird diese Bewegtheit nun in die Unbewegtheit zurückgelegt, so führt sie notwendig zum Widerspruch, solange Sein zugleich in einem System der Einheit in beständiger Anwesenheit gedacht wird. Entweder muß die Bewegtheit in die Unbewegtheit aufgelöst werden, um eine solche Einheit zu denken, oder die Einheit zerbricht. Wenn aber die Einheit zerbricht, zerbricht das Denken des Seins in beständiger Anwesenheit. Die Grundschwierigkeit besteht demnach in dem Denken des Seins in beständiger Anwesenheit und dem daraus notwendigen Denken des Systems. Deshalb müssen wir hier die Frage nach der Bewegung ansetzen. Was sich in der geschichtlichen Erfahrung von Sein, wie sie Heidegger denkt, eigentlich "bewegt", ist der Streit im Zuwurf zwischen Sein und Nichts. Von diesem Streit klingt etwas in der jedoch eigens geschichtlichen griechischen Erfahrung des aiei aporoumenon bei Aristoteles an, der aber hier nötigt, Sein als beständige Anwesenheit zu denken. Hiervon ausgehend, wird die Bewegung nur scheinbar am Seienden abgelesen und von ihm her auf das Sein in notwendiger Unbewegtheit zurückgeschlossen. So gedacht, bleibt übersprungen, daß das Denken schon aus der Unbewegtheit herkommt, um die Bewegtheit zu denken. Hieraus folgt, daß das Werden des Seienden bei Schelling nur aus dem Ewigen zu denken ist. Wenn nun das Werden in das Sein zurückgedacht wird, kommt es zum Widerspruch zwischen der Einheit in unbewegt beständiger Anwesenheit und dem ewigen Werden. Nicht das Ewige und das Werdende widersprechen sich. Diese Widerwendigkeit in ihrem Zueinandergehören zu denken, bestimmt gerade das Ontologische bei Schelling im Vermögen dialektisch denken zu können. Nur der gewöhnliche Verstand muß hierin eine logische Widersprüchlichkeit sehen. Die tiefere Widersprüchlichkeit besteht darin, daß diese Geschiedenheit in eine Einheit in beständiger Anwesenheit gedacht werden muß. Daran scheitert diese Einheit oder das ewige Werden muß aufgelöst werden. Außerdem läßt schon der Ansatz des Ewigen und des Werdens die Bewegtheit nicht denken, weil sowohl das Ewige als auch das Werden anhand der Unbewegtheit gedacht sind. Das Denken der Bewegtheit bei Schelling können wir auf die aristotelische Bestimmung der Bewegung als phora und der metabole, dem Umschlag, zu-
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rückführen. Die metabole meint hier den Umschlag VOn An- und Abwesenheit aus dem Vorblick auf die beständige Anwesenheit. Heidegger fragt, warum das Denken nach einer metabole als Umschlag und Bewegung nötig ist und antwortet: "Weil für das vorgreifende Festhalten des Beständigen und Anwesenden die metabole, zumal als phora, die Gegen-erscheinung schlechthin ist und somit jenes, was erlaubt, VOn ihm her als einem Anderen deutend auf die ousia zurückzukommen." (GA 65, S.281)97 Die Bewegtheit und Unbewegtheit des Seins im ewigen Werden bei Schelling sind aus dem Denken des Vorblicks auf die beständig anwesende ousia und dem daraus folgenden Umschlag VOn Anund Abwesenheit zu verstehen. Das Umschlägige selbst jedoch macht ein Denken der absoluten Einheit des Umschlägigen im Sein unmöglich, weil es den Umschlag auslöschen muß, um unumschlägige Einheit zu sein. In diesen Zusammenhang gehören gleichermaßen die Modalitäten. Für die traditionellen Seinsmodalitäten der Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit hat die Wirklichkeit im Sinne einer beständig anwesenden Vorhandenheit die vorrangige Stellung. Aus dem Vorblick auf die Wirklichkeit als Vorhandenheit entspringt erst die Unterscheidung von Möglichkeit und Wirklichkeit, nun im Sinne des fertig Hergestelltseins oder Vorhandenseins VOn etwas. Diese Unterscheidung sowie der Umschlag VOn etwas Möglichem in etwas Wirkliches leiten sich aus dem Umschlag VOn An- und Abwesenheit ab. Die Seinsmodalität der Notwendigkeit meint hierbei eine Bestimmung des Seins von etwas, die es hinsichtlich seines Folgens oder Vorangehens bestimmt. Ist der Seinszustand VOn etwas notwendig, so folgt oder verursacht es beständig. Diese Beständigkeit des Umschlags selbst ermöglicht, VOn einer Wesensnotwendigkeit des Seins VOn etwas zu reden. Die Seinsmodalitäten des Notwendigseins sowie des wirklich Vorhandenseins haben innerhalb eines solchen Denkens eine "höhere" Seinsstufe als die Möglichkeit.98 Alle drei aber werden als Abwandlungen der Vorhandenheit als beständige Anwesenheit VOn Sein gedacht. Aus diesen Grundbestimmungen können wir verdeutlichen, warum Schelling nach dem Übergang VOn der Möglichkeit zur Wirklichkeit der Freiheit fragen und die Freiheit aus der Notwendigkeit denken muß. Wenn die Freiheit innerhalb eines Systems der Einheit gedacht werden soll, muß sie in einer Möglichkeit in dieser Einheit und damit im Sein angelegt sein. Um aber Freiheit zu sein, muß Schelling den Übergang VOn der Anlage in der Möglichkeit zur Wirklichkeit denken. Der Übergang erst ermöglicht und rettet die Freiheit. Gäbe es keinen Übergang, so gäbe es keine Freiheit. Denn würde die Wirklichkeit notwen-
97 Vgl. für den genaueren Zusammenhang von An- und Abwesenheit und dem Vorblick auf die ousia bei Aristoteles sowie den hieraus folgenden Modalitäten: Heidegger, Martin, Vom Wesen der menschlichen Freiheit, Gesamtausgabe Bd. 31, Frankfurt a.M. 21994, §§ 8,9, S. 55-109 (im folgenden zitiert als: GA 31). 98 Vgl. SuZ, S. 143.
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dig aus der Möglichkeit ohne Übergang folgen, wäre sie keine Freiheit. Umgekehrt jedoch muß die Wirklichkeit der Freiheit eigene Notwendigkeit sein. Denn wäre sie nicht eigene Notwendigkeit, hätte sie ihre Notwendigkeit von etwas anderem als von sich selbst und wäre keine eigene Freiheit. Die hier gedachte Notwendigkeit ist somit keine Bestimmung der Kausalität mehr, sondern eine notwendige Rückgründung der Freiheit in die Einheit der Eigenheit. Um aber Freiheit zu sein, muß auch diese Rückgründung wiederum in dem Ergreifen der Tat als Übergang von der Notwendigkeit zur Wirklichkeit gedacht werden. Jedoch ist sowohl der Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit als auch das Ergreifen der Notwendigkeit im Übergang zur Freiheit unerklärlich. Die Setzung des Übergangs läßt den Übergang selbst unerklärlich werden, weil der notwendige Ansatz dieser Kluft den Übergang uneinholbar sein läßt. Darin liegt das Ausweglose des Denkens der Freiheit entlang der Modalitäten. Wie der Übergang geschieht, bleibt unbeantwortet und unbeantwortbar. Schelling kommt damit nicht weiter, als die Tatsache der Freiheit unbegreiflich sein zu lassen. Das Denken der Einheit verhindert ein Denken der Freiheit. Denn sowohl die Rückbindung der Freiheit in die Möglichkeit innerhalb der Einheit des Seins als auch die Rückbindung der menschlichen Freiheit in die notwendige Einheit mit sich selbst können die Freiheit nicht erklären. Im Gegenteil muß Schelling notwendigerweise am Ende sowohl die Möglichkeit zur Freiheit in der Widerwendigkeit der Bewegtheit des Seins als auch die Wirklichkeit der Freiheit in dem Vermögen zum Eigenwillen entgegen dem Universalwillen in die absolute Einheit auflösen, um scheinbar die Einheit zu retten. Sowohl die Widerwendigkeit als Bewegtheit wie auch die menschliche Freiheit können in einem Denken der beständigen Anwesenheit nicht gedacht werden, weil sowohl die Bewegtheit als auch die Freiheit in einem Denken des Umschlags unerklärlich bleiben und mit einem Denken der Einheit unvereinbar sind. Deshalb mußte Schelling entweder die Freiheit und Bewegtheit auflösen oder die Einheit des Seins aufgeben. Der Versuch der Rettung der Einheit in dem Gegensatz von reinem Sein der Liebe und ausgestoßenem Nicht-Sein verdeutlicht die Unmöglichkeit, die Einheit der Bewegtheit zu denken. Sein und Nicht-Sein sind hier nur Gegenbegriffe aus dem Sein als beständige Anwesenheit, die sich in ihrem Zusammendenken in einer beständigen Einheit unauflöslich widersprechen. Wir können sagen, daß Schelling zwar vor der Tatsache der Freiheit stand und in dem Schrecken des in ihm angelegten Vermögens zum Bösen, das die Einheit bedroht. Dadurch, daß er aber nach dem System der Freiheit fragte, wich er vor ihr aus und hielt diesem Einbruch der Freiheit nicht stand. Denn die Frage nach dem System der Freiheit bedeutet ein Ausweichen vor der Abgründigkeit, die in der Freiheit liegt und die die Einheit des Systems zerbrechen läßt. Dieses Ausweichen jedoch ist kein denkerischer Fehler Schellings, sondern liegt in der grundSätzlichen Ausrichtung seines Denkens des Seins in beständi-
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ger Anwesenheit, die das Freie in den an der Vorhandenheit gebildeten Modalitäten nicht zu denken vermag. Wir sehen hieraus, daß Schelling im Denken des Vermögens zum Guten und Bösen sowie der Widerwendigkeit des Seins zwar etwas vor Augen hatte, das in den Bereich des Streites von Sein und Nichts und des Da-seins als wesenhaftes Da- und Weg-sein verweist. Hiermit dringt Schelling ansatzweise in das Denken der Ent-scheidung vor. Dadurch daß jedoch Sein in beständig anwesender Einheit die Leitlinie seines Denkens bestimmt, bekommen diese Phänomene eine Ausprägung, die sie in ihrer Tiefe und Tragweite verdecken. Denn in ihnen tut sich etwas kund, was ein Denken des Seins in beständiger Anwesenheit zerbrechen läßt. Schelling jedoch konnte dieses Zerbrechen weder sehen noch ergreifen. Darin liegt aber die Geschichtlichkeit dieses Denkens, an einem Übergang zu stehen, den es selbst aus sich heraus nicht bewältigen kann. In diesem Sinn ist Schelling der Gipfel des Denkens der neuzeitlichen Metaphysik, weil sich auf diesem Gipfel der Abgrund einer ganz anderen Frage auftut, der als Vorstoß zwar sich ankündigt, aber nicht zur Entscheidung zu einer anderen Frage nach dem Sein führt. Denn um diesen Abgrund in seiner Abgründigkeit zu denken, muß das Denken die Sicherheit des Seins in beständiger Anwesenheit verlassen, um aus dem Abgrund das Freie und das Mögliche neu zu denken. 99
i) Die Einzigkeit des Seins in seiner Widerwendigkeit Kehren wir nun zur Frage nach dem Geschehen von Sein und Nichts im Denken der Ent-scheidung zurück, so können wir folgendes abgrenzen. Da Sein von Heidegger nicht in beständiger Anwesenheit gedacht ist, ist das Denken von Sein und Nichts kein Denken einer Einheit. Sein und Nichts sind nicht wie bei Schelling Sein und Nicht-Sein im Sinne des actus und der letzthinnigen Nichtheit der potenz. Sie bringen dementgegen die "Bewegung" des Streites im Zuwurf zum Ausdruck. Dieser Streit ist je endlicher, d. h. abgründiger Streit, weil das Wesen des Seins nur in seiner Endlichkeit zu denken ist. Mit der Endlichkeit
99 Vgl. zur Unbegreiflichkeit der Freiheit: GA 42, S. 281. Heidegger verweist hier darauf, daß Schelling bezüglich der Begreitbarkeit der Freiheit nicht weiter als Kant kommt, der die Tatsache der Freiheit als unbegreiflich faßt. Vgl. zu Kant: GA 31, §§ 29, 30, S. 300-303, in denen Heidegger verdeutlicht, daß auch bei Kant das Seinsproblem bezüglich der Freiheit nicht gesehen wird. Des weiteren führt er hier aus, daß in der Offenbarkeit von Sein die Freiheit erst zu erfragen ist, d. h., daß die Frage nach dem Wesen der Freiheit in der Frage nach dem Sein liegt. Insofern verweist die Auseinandersetzung Heideggers mit Kant ebenfalls auf die nun folgende Frage nach dem Freien und dem Sein als dem Möglichen.
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denkt Heidegger die Einzigkeit des Seins zunächst noch im Gegensatz zur unendlichen Einheit des Seins in beständiger Anwesenheit. 100 Er wählt dabei den Begriff "Einzigkeit", um das Eine hierin ganz vom Denken der Allheit, Vielheit und Einheit fernzuhalten. Wir können vorblickend auf die im folgenden zu thematisierende Zeitlichkeit sagen, daß Sein in seiner Endlichkeit, die in den »Beiträgen« als Abgründigkeit nicht mehr gegen die Unendlichkeit gedacht wird, nur in einem einzigen jeweiligen Augenblick der eigentlichen Zeitlichkeit geschieht. In dieser jeweiligen abgründigen Einzigkeit von Sein bestimmen sich die jeweilig geschehenen Grade von Sein und Nichts als verschiedene Weisen der Durchstimmung des Da- und Weg-seins. Insofern herrscht eine ganz andere Not, von Sein und Nichts und von Da- und Weg-sein zu sprechen. Diese Widerwendigkeiten machen das eigentliche Wesen des Seins aus, weshalb sie nur in ihrer Zusammengehörigkeit zu denken sind, bei der weder das Eine noch das Andere das jeweils Andere auslöscht. Nur in einem Denken des Systems der unendlichen Einheit bedroht die Widerwendigkeit diese Einheit und muß deshalb innerhalb eines Systems entfaltet und wieder aufgelöst werden und so in der Widersprüchlichkeit enden. Sein und Nichts können nicht in einer unendlichen Einheit gedacht werden, weil diese ihr Zusammengehören auflösen muß. Sie lassen sich nur in der Einzigkeit ihrer Endlichkeit, d. h. Abgründigkeit denken. In dieser abgründigen Einzigkeit liegt, daß das Nichts zugleich das Nichts als Durchstimmung und das Nicht der Durchstimmung eröffnet. Das Nichts gibt sich gerade, wenn es als Herkunft des Denkens aufgeht, so, daß zugleich die Gefahr des Nicht der Durchstirnrnung mitgegeben ist. Diese Gefahr ist keine mitgegebene Möglichkeit, die im ereigneten Entwurf dann nicht zur Wirklichkeit wird, weil die durchstimmende Ereignung herrscht. Vielmehr ist diese Gefahr jeweils einzig mitgegeben und läßt das Da-sein zugleich im zwiefachen Weg-sein aus dem Zwiefachen des Nichts stehen. In diesem Zugleichsein sehen wir, wie sich die von Schelling behandelten Phänomene der Widerwendigkeit gewandelt denken lassen. Heidegger denkt im HumanismusbrieflOi das Vermögen zum Guten und Bösen aus dem Zugleich des Heilen und des Grimmigen in der Wesung des Seins. Weil das Sein selbst das Strittige von Sein und Nichts ist, west in seiner Wesung zugleich das Heile und Grimmige aus dem Zwiefachen des Nichts. Zugleich gibt sich das Nichts als Nichts der Durchstimmung, die das Heile anwesen läßt, und als Nicht der Durchstimmung, die das Grimmige anwesen läßt. Das Böse entspringt dem Bösartigen des Grimmes im Nicht der Durchstimmung sowie das Heile als das Gute dem Heilen im Nichts der Durchstimmung entspringt. Aus dem Möglichen
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Vgl. zur Endlichkeit des Seins in Absetzung zu Schelling: GA 42, S. 280. Vgl. BüH, WM, S. 355f.
§ 10. Das Freisein der Entschiedenheit und das Freie des Seins
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von Heil und Grimm im Sein hat der Mensch als Da-sein das Vermögen zum Guten und Bösen. Wenn es dem Menschen eröffnet ist, im Nichts zu stehen und so sein eigentliches Weg-sein im Da-sein zu vollziehen, vermag er das Heile als das Gute im Entwurf wesen zu lassen. Damit steht er aber zugleich im Nicht und im Grimm zum Bösen, der im Entwurf mitanwesend ist. Wenn es dem Menschen nur eröffnet ist, im Nicht zu stehen und nur das uneigentliche Wegsein zu vollziehen, steht er im Bösartigen des Grimmes und kann das Böse bzw. Unheile wesen lassen. Dabei ist das Heile des Nichts dennoch verborgen mitanwesend, weil der Vollzug des Nicht nur Vollzug aus dem Sein und Nichts ist, bei dem sich aber Sein und Nichts verbergend entziehen und nur als Entzug mitanwesend im Entwurf sind. Sowohl das Gute als das Heile aus dem Heilen wie auch das Böse als das Unheile aus dem Grimm werden zugleich von Sein und Nichts gewährt. 102 Um dieses Wesensgeschehen jedoch in seinem ihm eigenen Möglichen und Freien zu sehen, bedarf es der Thematisierung des gewandelten Möglichkeitsbegriffs und des Freien im Sein. Erst wenn wir das Freie und das Mögliche im Sein als die eigentliche Bestimmung seines Spiels von Zu- und Entwurf entfalten, können wir diese Scheidung in ihrem Charakter als entscheidungshaftes Geschehen in seiner Tiefe erfassen. Denn in dieser Scheidung liegt das Spiel des Möglichen und des Freien, deren Ab-grund Schelling nicht zu denken vermochte.
§ 10. Das Freisein der Entschiedenheit und das Freie und Mögliche des Seins
Für die nun folgende Entfaltung des Freien und Möglichen im Sein und in der menschlichen Entschiedenheit wollen wir uns zunächst von der Grundstimmung des anderen Anfangs leiten lassen, die Heidegger in einer Hinsicht mit dem Wort Erschrecken denkt. Das Erschrecken entspringt einerseits der wiederholt thematisierten Seinsverlassenheit des Seienden, wenn für das Denken das Seiende aus seiner Selbstverständlichkeit herausrückt und in diesem Herausrücken Sein primär als Entzug erfahren wird. 103 Dieses Erschrecken aus der und über die Seinsverlassenheit wollen wir aber nun andererseits eigens mit dem Freien zusarnmendenken. Hinsichtlich des Menschen können wir die Erfahrung der Seinsverlassenheit auch als Freigelassenheit seiner von einem ihm gewahr werdenden Seinsgeschick auslegen. Der Mensch ist aus der Seinsverlassenheit frei-
102 Vgl. zum Grimm und zum Bösen weiterführend: Heidegger, Martin, FeldwegGespräche (1944145), Gesamtausgabe Bd. 77, Frankfurt a.M. 1995 (im folgenden zitiert als: GA 77), S. 207-216. 103 Vgl. GA 65, S. 15.
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gelassen, jedoch ohne daß diese Freigelassenheit ihm aufgeht, solange er selbstverständlich seinsvergessen denkt. In der Seinsvergessenheit ist er in einem höchsten Maße freigelassen, weil sich ihm Sein entzieht, ohne daß ihm dieser Entzug eigens gewahr wird. Öffnet sich aber im Erschrecken die Seinsverlassenheit, so zeigt sich die Freigelassenheit des seinsvergessenen Menschen als eine solche. Wir wollen uns das Erschrecken über die Freigelassenheit zur Seinsvergessenheit zunächst auch in einem vorphilosophisch-phänomenalen Sinne der geschichtlichen Erfahrung unseres Jahrhunderts vergegenwärtigen. Wir fragen hierzu, was in den Schrecken unseres Zeitalters geschieht. Gedenken wir der durch die Technik in diesem Ausmaß möglich gewordenen Katastrophen der Weltkriege und der mit ihnen einhergehenden Leiden der Massenvernichtung und Massenvertreibung, die bis in unsere Tage sich an anderen Schauplätzen fortsetzen, sehen wir einen vorphilosophisch verstandenen, sehr konkret erschreckenden Abgrund menschlichen Lebens. Wer wollte nicht angesichts dieser Schrecken von einer Tiefe der menschlichen Freigelassenheit im Sinne einer Losgebundenheit sprechen, die den Rahmen des Denkbaren gesprengt hat und unfaßlich in unsere geschichtliche Erfahrung hereinsteht. Oder wenn wir ernsthaft der Möglichkeit der Selbstvernichtung unseres Lebens auf der Erde ansichtig werden sowie der fast unaufhaltsamen Zerstörung der natürlichen Umgebung durch die Kultur der Technik, welchem Schrecken haben wir uns hierin zu stellen. Aber auch im kleineren Rahmen des gesellschaftlichen Lebens können wir sehen, wie alle Konventionen und Ordnungen immer mehr wegbrechen, und die sogenannte individuelle Freiheit mit dem mit ihr einhergehenden Egoismus stark bestimmend wird. Auch wenn wir uns einer vorschnellen Bewertung dieser Phänomene enthalten, können wir zumindest in ihnen phänomenal eine bedrohliche Tiefe der Losgelassenheit sehen. Die Erfahrung, die sich in einem Schrecken hierüber weitergehend aufdrängen kann, ist das gänzliche Alleingelassensein des Menschen, dem sich, so betrachtet, kein Gott, keine an sich beständige Regel oder Ordnung und auch kein durchstimmendes Seinsgeschick mehr zeigt. Dasjenige, was in verschiedenen Wendungen heute als Nihilismus unserer Zeit benannt wird, läßt sich mit der Erfahrung dieses Alleingelassenseins des Menschen andeuten. Diesen zunächst vorphilosophisch verstandenen Abgrund des Schreckens und der Alleingelassenheit können wir als eine mögliche Grund-erfahrung unserer Zeit herausheben. Und er läßt sich, wenn er mit der Wucht seines Schreckens uns zur Erfahrung wird, mit keinem Glauben oder Hoffen oder einer Anleihe an überkommene Werte überspringen, wenn wir ihn nicht fliehen wollen. Es gilt ihn zunächst auch vorphilosophisch in den Blick zu rücken und auszustehen. Demgegenüber herrscht zwar ein Glaube an die Machbarkeit einer Rettung vor den Gefahren der Technik und der Freiheit durch ein besseres Regeln der Technik und des menschlichen Zusammenlebens. Ein solches Denken bleibt je-
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doch vor einer tieferen Erfahrung der Freigelassenheit stehen. Die eigentliche Freiheit, die es nun denkerisch zu entfalten gilt, und die Gefahr aus ihr sind hierbei nicht gesehen. Denn die Freigelassenheit ist denkerisch betrachtet kein primär menschliches Phänomen der nun aufbrechenden menschlichen Freiheit, die der Mensch im besseren Regeln in den Griff bekommen könnte. Die Freigelassenheit des Menschen ist wesenhaft Gefahr im Sein als Geschehen von Wahrheit. Sie entspringt dem nicht als solchen vernommenen Zuwurf von Sein, der sich entzieht und dessen Entzug den Menschen freiläßt. Gerade das technische Denken der Regel ist freigelassen, weil es sich selbstverständlich ist und nicht vernimmt, daß es dem sich entziehenden Zuwurf von Sein in der Weise des ungefügten, maßlosen Denkens des Bestandes entspricht. Das Ungefügte und Maßlose können wir hier aus dem Sein als sichentziehende Fügung verstehen, die den Entwurf ohne Maß aus dem Über-maß enteignet, dem Seinsgeschick des Ge-stells zu entsprechen. Das Denken des Bestandes ist in sich maßlos, weil es das Unmaß der Berechenbarkeit und Vorstellbarkeit von Allem ohne Rückgründung vollzieht. Insofern ist das Denken des Bestandes in seiner Freigelassenheit zugleich nicht frei, weil es ungewußt der Fügung des Ge-stells entspricht. Wenn wir aber das Erschrecken unseres Zeitalters in der Freigelassenheit im Sein erblicken und diese als solche bedenken, erfahren die genannten Phänomene eine andere Tiefe als der erste Schrecken. Zugespitzt können wir sagen, daß im für sich genommen bedrohlichen Freigelassensein des Menschen das erschreckend Großartige der Ankündigung eines möglichen geschichtlichen Wandels im Sein sich zeigt. Nicht daß der Schrecken an den genannten Phänomenen und das Leiden an ihnen damit geleugnet oder gemildert werden soll. Nicht daß das Freigelassensein in die individuelle Freiheit und die Bestandssicherung dieser Freiheit aus sich heraus diesen Raum des geschichtlichen Wandels betreten könnte. Denn solange die menschliche Freiheit als Selbstbestimmung aus dem eigenen Grund verstanden und vollzogen wird, muß der Mensch sich und seine Freiheit als Grund beständig vorstellend vergewissern und setzen und so jegliche Öffnung einer Erfahrung des Freigelassenseins verschließen. Deshalb ist auch das Denken der Freiheit aus dem eigenen Grund nicht frei, weil es dem Geschick des Bestandes, nun in der Weise des Sicherns seiner selbst und seiner Freiheit, ungewußt entspricht. Genausowenig kann das technische Denken aus sich selbst heraus etwas anderes vollziehen als "nur" die äußere Rettung der Erde und des Bestandes des menschlichen Lebens. Es gibt keinen Übergang vom Denken der individuellen Freiheit und der Technik zur denkerischen Erfahrung der Seinsverlassenheit. Im Gegenteil verschließt der Glaube an die abgelöste Freiheit sowie an die Regelbarkeit dieser Freiheit jeglichen Raum der Entscheidung. Aber im Bedenken der Freigelassenheit kann sich der Raum der Seinsverlassenheit öffnen und damit allererst der Raum eines möglichen geschichtlichen Wandels. Dieser Raum kann sich sogar nur öffnen, wenn der Mensch freigelassen ist und selbst dieses Freigelassensein erfährt. Insofern ist dem Einbrechen der Freiheit, das wir bei Schelling sahen, eine tiefgreifende
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seins geschichtliche Dimension zuzumessen. In dem hieraus untergründig folgenden Wegbrechen der religiösen oder denkerisch metaphysischen Eingebundenheit in einen Glauben oder ein System, das wir z.B. explizit bei Nietzsche finden und implizit in den verschiedensten Ausprägungen des Zweifels an Religion und Moral in unserer Zeit sehen können, ist deshalb eine Entscheidungseröffnung zu sehen. In diesem Sinne müssen wir diesseits von Pessimismus und Optimismus die Seinsverlassenheit und das Freigelassensein durchaus "positiv" für das nehmen, was sich hierin im Geschick von Sein zeigt. Denn dieses aus dem Enteignis kommende Freigelasssensein, wenn und nur wenn es als solches erfahren wird, ist die erste Öffnung des nun philosophisch verstandenen Abgrundes im Geschehen von Sein und somit die erste Eröffnung des Nichts.
a) Die menschliche Entschiedenheit aus der Freiheit des Abgrundes Mit der Erfahrung der Seinsverlassenheit beginnt allererst die Eröffnung der menschlichen Entschiedenheit, wenn der Mensch vom Abgrund als Geschehen des Freigelassenseins angegangen wird. Sie ist deshalb Ent-schieden-heit, weil sie je schon aus dem Abgrund herkommt und so je schon entschieden ist. Heidegger kennzeichnet die menschliche Entschiedenheit als "Einstieg in das Ungeschützte" (GA 65, S. 298). Das Ungeschützte ist das Sein, das sich entzieht und den Menschen in das Freigelassensein enteignet, darin aber allererst den Einstieg eröffnet. Der Mensch ist durch das Enteignis als der wesenhaft Freigelassene allererst in eine Entschiedenheit versetzt. Das Sein braucht aber die Entgegenkun.jtl04 des Menschen in der Entschiedenheit des Einstiegs in das Ungeschützte. Diese Entgegenkunft ist gerade das nicht Selbstverständliche. Selbstverständlich ist es für den Menschen, solange er sich selbst und seine Freiheit vorstellend versichert, das Angegangensein vom Abgrund zu fliehen, weil es ihm seine Selbstsicherheit und Selbstverständlichkeit nimmt. Insofern erwächst dem sichvorstellenden Denken aus dem Abgrund die wesenhafte Angst um sich selbst, die den Menschen das Angegangensein gewöhnlich fliehen oder übersehen läßt. Darin liegt aber gerade das Freigelassensein des Menschen, daß er den Abgrund fliehen kann, weil ihn aus dem Abgrund das Freigelassensein angeht, das ihn läßt, sich in seine Selbstsicherheit fliehend, zu beruhigen. Hier ist der eigentliche Ort der Freiheit: daß der Abgrund entweder den Menschen freiläßt zu glauben, er sei auf seinem eigenen Grund seines Sichselbstvorstellens und -setzens frei oder aber den Mensch freilassend entsetzt, den Einstieg in den Abgrund zu wagen, wenn er von ihm angegangen wird. Hierzu bedarf es aber des nicht selbstverständlichen "Mut[es] 104
Vgl. zur Entgegenkunft: ebd., S. 248.
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zum Ab-grund" (ebd., S.28) als Entgegenkunft des Menschen. Aus dem Erschrecken als dem ersten Moment der Grundstimmung entspringt und bestimmt sich der Mut als Aushaltenkönnen des Erschreckens. Dieser Mut macht die erste Gradbestimmung der Stärke der Entschiedenheit aus. Die Entschiedenheit ist zugleich die "Sicherheit des Zugehörens in das Er-eignis" (ebd., S. 298), d. h. die Sicherheit der Unsicherheit als das Angegangensein vom Abgrund als Enteignis. Die Unsicherheit entspringt der Freiheit als das Ungeschützte und so Befremdliche. Die Freiheit selbst ist hier das Sein als der abgründende Grund. 105 Im Enteignis als erstem Ereignis ist der Mensch in die Entschiedenheit des Freiseins aus der Freiheit des Abgrundes versetzt. Nun bleibt aber Heideggers Denken dabei nicht stehen. Nicht allein das Erschrecken als Versetztsein in die Freiheit des Abgrundes macht die Grundstimmung des anderen Anfang aus. Denn aus dem Erschrecken entfaltet sich der Kampf, ob und wie tief der Mensch sich in der Verhaltenheit als zweites Moment der Grundstimmung im Abgrund halten kann, und dieses Sichhalten im Abgrund zur Scheu, dem dritten Moment der Grundstimmung, als das Wesenlassen des Seins im Sinne des erfüllenden Ereignisses wird. 106 Für die Verdeutlichung dieses Sachverhaltes jedoch müssen wir einige der wesentlichen Bestimmungen des Ab- und Urgrundes aus dem 242. Abschnitt der »Beiträge« heranziehen. Der Abgrund wird im 242. Abschnitt als die "erstwesentliche [... ] Wesung der Wahrheit" (ebd., S. 380) und damit des Seins gekennzeichnet. Das Erstwesentliche nennt zwei Momente. Erstens ist das Abgründen des Abgrundes erstes Geschehen, weil es den Raum des Seins allererst eröffnet. Zweitens ist das Abgründen aber "nur" erstwesentliche Wesung, weil im Abgrund sich etwas Tieferes noch öffnen kann. Der Abgrund ist als die zögernde Versagung die erste Erfahrung der Seinsverlassenheit. Das Versagen ist in sich ein Zweifaches. Einerseits eröffnet das Versagen das "Ab-" des Ab-grundes. Das Nichts steht hier herein als Entzug von Sein. Dieser Entzug ist jedoch keine bloße, völlige Leere, sondern zeigt sich zögernd. Das Zögernde ist der Grund im Abgrund: "Sofern der Grund auch und gerade im Abgrund noch gründet und doch nicht eigentlich gründet, steht er in der Zögerung." (ebd.) Das "Nicht-eigentlich-Gründen" ist das zweite Moment der Versagung. Das eigentliche Gründen ist im Abgrund noch versagt. Die Bewegung des GfÜndens aber ist nicht gänzlich versagt, da der Abgrund zö-
Vgl. ebd., S. 470. Vgl. zum Sichhalten im Abgrund, das wir auch als Aushalten des Abgrundes bzw. als Weise, wie sich im Abgrund gehalten werden kann, fassen können, folgende verschiedene Wendungen in den »Beiträgen«, S.369: "Sichhalten in dieser Lichtung der Verbergung", "Sichhalten im Wesen" oder "Sich-in-der-Wahrheit-Halten". 105
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gernd versagt. Dadurch, daß der Abgrund zögernd versagt, läßt er die Erfahrung des Enteignisses zu, d. h. dem Denken wird die abgründige Gründung der Seinsverlassenheit gewahr. Der Abgrund gründet als die zögernde Versagung dem Denken die Erfahrung der Seins verlassenheit als zögernd gewährte, in der das Denken aber um die Ereignung als sich entziehende Enteignung weiß. In diesen Zusammenhang gehört die Wendung: "Der Ab-grund ist Ab-grund." (ebd., S. 379) Der Abgrund ist Ab-grund als Eröffnen des Entzuges im ersten Sinne des Versagens. Er ist aber Ab-grund im zögernden Sichversagen, weil er die Entzugsbewegung freigibt und nicht bloß leerer Entzug ist. Er bleibt aber Abgrund als erstwesentliche Gründung, weil er nicht eigentlich gründet, was dem zweiten Moment der Versagung gleichkommt.
In dieses Geschehen gehören die Grundstimmungen des Erschreckens und der Verhaltenheit. 107 Das Erschrecken entspringt dem "Ab" des Abgrundes als Entzugserfahrung. Die Verhaltenheit bestimmt sich aus dem Sichhaltenkönnen im Ab-grund des zögernden Sichversagens, das Heidegger das "Ansichhalten vor der zögernden Versagung" (GA 65, S. 382) nennt, wodurch der Ab-grund als Ab-grund gegründet wird, indem seine enteignende Bewegung denkerisch erfahren und gesagt werden kann. Wir müssen aber zu diesem Geschehen die zweite Bedeutung des Erstwesentlichen des Abgrundes und des Versagens weiter entfalten. Der bisher dargestellte Abgrund ist erst die Eröffnung der Seinsverlassenheit. Wenn sich aber der Abgrund weiter und tiefer öffnet, öffnet sich in ihm der Urgrund, und hiermit beginnt allererst das andersanfangliche Denken in seinem Andersanfänglichen. Zwar führt Heidegger aus: "Der Ur-grund öffnet sich als Sich verbergendes nur im Abgrund." (ebd., S.380, Herv. v. V.) Damit ist aber der Urgrund etwas Tieferes als die zögernde Versagung des Abgrundes, obwohl er nur im Abgrund geschieht, d. h. der Abgrund selbst den Urgrund eröffnet und mitbestimmt. Das Sichverbergende des Urgrundes ist das Nichts, das sich jetzt nicht mehr nur als Nicht der Durchstimmung im ersten Aufgang der zögernden Versagung des Enteignisses gibt. Dieses Nichts ist der tiefere Abgrund im Urgrund. Im Urgrund gibt sich dieses Nichts als das erfüllende durchstimmende Sichver107 VgI. zu den Grundstimmungen in den »Beiträgen«: Gander, Hans-Helmuth, Grund- und Leitstimmungen in Heideggers "Beiträge zur Philosophie", in: Heidegger Studies 10, 1994, S. 15-31, und zur Stimmung im besonderen Bezug zur Frage nach der Leiblichkeit: Haar, Michel, Le Primat de la Stimmung sur la corporeite du Dasein, in: Heidegger Studies 2,1986, S. 67-80. Mit der weitreichenden Bedeutung der Grundstimmung sowie der Leitstimmungen und der Eröffnung von Welt im gesamten Denken Heideggers mit ausdriicklicher Bezugnahme auf die »Beiträge« und das Spätwerk setzt sich besonders ausführlich und in einzelne Phänomenentfaltungen differenziert Peter Trawny in: Martin Heideggers Phänomenologie der Welt, FreiburgIMünchen 1997, auseinander, wobei er zudem die Frage nach Heimatlosigkeit und Heimat in der Blickbahn des Ereignisdenkens tiefgehend bedenkt.
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bergen und läßt den Entwurf erfüllt ereignet sein. Diesem erfüllenden Ereignis entspringt das dritte Moment der Grundstimmung, die Scheu, die aus der erschreckten Verhaltenheit heraus es vermag, sich im Abgrund zu halten und tiefer aus dem Abgrund den Urgrund wesen zu lassen. Die Scheu überwächst "sogar noch den »Willen« der Verhaltenheit" (ebd., S. 15) als Stärke des Sichhaltenkönnens im Abgrund: "[Sie] ist das alle Haltung inmitten des Seienden und Verhaltung zum Seienden durchstimmende Wesenlassen des Seyns als Ereignis." (ebd., S. 15/16) Die Scheu als menschliche Entgegenkunft behütet die aus dem Nichts wesende Durchstimmung und läßt so das Sein aus der Zugehörigkeit zum Ereignis wesen. Der Grad der Entschiedenheit und der Grad der Freiheit steigern sich mit dem Grad der Eröffnung des Abgrundes. Damit steigert sich zugleich der Grad des Ungeschützten im Sein. Desto tiefer und weiter sich der Abgrund öffnet, d. h. jetzt, sich im Abgrund mehr öffnet als die zögernde Versagung, weil sich der Urgrund öffnet, desto mehr Entschiedenheit und Freisein ist eröffnet. Desto mehr Stärke der Entgegenkunft bedarf es aber, aus dem Ab- und Urgrund das Sein als Ereignis wesen zu lassen, gleichwohl die Ereignung als Ereignung und nicht mehr als Enteignung west. Denn das Nichts und die entscheidungshafte Gefahr des Entzuges gehen nicht bei der wesenhaften Durchstimmung des Nichts als Ereignis verloren. Im Gegenteil droht das Nichts umso stärker sich zu entziehen, desto tiefer sich der Abgrund als Urgrund öffnet und durch diese Eröffnung die menschliche Entschiedenheit von der Inständigkeit im Sein und Nichts durchstimmt sein läßt. Im Urgrund selbst herrschen demgemäß Grade der Tiefe. Desto tiefer der Urgrund sich öffnet, desto stärker herrscht das Nichts als Durchstimmung des Seins und so das Sein als Ereignung. Desto stärker jedoch das Nichts herrscht, desto mehr herrscht die Gefahr des Entzuges und desto freigelassener ist der Mensch. Deshalb bedarf es umso mehr Stärke des Sichhaltenkönnens in der Freiheit und dem Nichts als Zugleich von Durchstimmung und Gefahr des Entzuges. Im Urgrund herrschen unerschöpfliche Grade der Tiefe der Durchstimmung und Gefahr, die zugleich aber im Grad ein Maß aus der jeweiligen Tiefe des Nichts im Urgrund und der jeweiligen Stärke der Entgegenkunft haben. Für die menschliche Entschiedenheit können wir hieraus folgern, daß sie sich einerseits aus der Stärke des Sichhaltenkönnens in der Freiheit als dem Ungeschützten des Ab- und Urgrundes bestimmt. Diese Stärke ist jedoch weder allein ihre Stärke, weil sie andererseits Entschiedenheit nur aus der Sicherheit des Zugehörens in das Ereignis ist, d. h. nur aus dem Ereignetsein aus dem Sein. Das Sein als Ereignung jedoch bestimmt wiederum nicht allein die Stärke der Entschiedenheit, weil das Ereignis als Sicherheit die Unsicherheit und somit das Freilassen ist, und der Mensch dieses Freigelassensein auffangend verhalten aushalten muß, um in der Scheu das Sein zu bergen. Wie tief sich der Abgrund öffnet, d. h. ob er sich als Urgrund öffnet und wie tief dieser Urgrund durchstimmt, ist weder allein aus dem Sein noch allein aus der Stärke der Entgegen-
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kunft des Menschen zu ermessen. Nur aus dem Spiel zwischen der Freiheit des Seins im Nichten des Abgrundes und der Stärke des Aushaltens des Freigelassenseins als Freisein des Menschen bestimmt sich die jeweilige Tiefe der Durchstimmung des Ab- und Urgrundes. Wir sehen hieraus, wie erst durch die Entfaltung der Freiheit und des Freiseins das Geschehen von Sein und Mensch in der Tiefe seiner Entscheidungshaftigkeit aufgeht. Wir können zusammenfassend sagen, daß das Erschrecken um die Freigelassenheit und der Aufgang des Abgrundes in der Seinsverlassenheit nur die erste Weise des Geschehens des Freiseins und des Abgrundes kennzeichnen. Blieben wir bei diesem Aufweis stehen, blieben wir erschreckend vor der Tiefe des Abgrundes stehen. Denn im tieferen Stehen und Sichhalten im Abgrund öffnet dieser mehr als nur die Seinsverlassenheit. Wenn der Abgrund sich weiter öffnet und wir in der menschlichen Entschiedenheit uns tiefer im Abgrund halten können als beim ersten Erschrecken, dann kann er sich entscheidungshaft in seiner Tiefe als Durchstimmung und hierin als anderanfängliches Geschehen öffnen. Dann durchstimmt der Urgrund das Denken, weil sich das Nichts als Durchstimmung gibt und damit die menschliche Entschiedenheit in der größeren Gefahr des Sichverschließens des Abgrundes durch die stärkerwerdende Entzugsbewegung des Nichts hält. Zugespitzt können wir sagen, daß das Erschrecken vor der Seinsverlassenheit und das Sichwissen in der Seinsverlassenheit noch gar nicht die Tiefe der Gefahr der bedrohten Inständigkeit erfährt, wenn es nur die zögernde Versagung der Seinsverlassenheit erfährt und so keine erfüllende Durchstimmung zu verlieren hat. Eine Auslegung des mit dem Abgrund von Heidegger Gedachten, die bei der Seinsverlassenheit im zögernden Versagen stehen bleibt, könnte schlechtestenfalls in die Ruhe eines Pessimismus zurückfallen, was aber der Tiefe des von Heidegger im Ab- und Urgrund Erfahrenen und Gedachten nicht gemäß ist. Denn erst wenn aus der Seinsverlassenheit dem Denken sich tiefer die Seinszugehörigkeit aus dem Urgrund im Abgrund öffnet, beginnt der tiefere Kampf des Sichhaltenkönnes im Nichts. Genausowenig aber können wir uns in einem Optimismus beruhigen, wenn wir mit dem Urgrund das Phänomen des Andersanfänglichen erfahren und aufweisen, weil es in seinem Wesen liegt, daß es jeweils strittig zu erkämpfen ist. Dieser Kampf mit dem durchstimmenden und zugleich sichentziehenden Nichts diesseits von Optimismus und Pessimismus geht darum, dem Ab- und Urgrund das Sein als Ereignung abzuringen. Als eigentlicher Kampf um das Sein beginnt er erst in dem unerrechenbaren entscheidungshaften Augenblick, da wir in die Tiefe des Abgrundes eingelassen und dem sich in dieser Tiefe durchstimmend gebenden Urgrund übereignet sind, seine Durchstimmung im Sinne des tieferen Nichts des Abgrundes im Entwurf bergen zu können. Diesen Kampf können wir als das ei-
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gen tl ich andersanfängliche Geschehen von Sein im Sinne der erfüllten und so offenen Wesung des Seins fassen. lOS
b) Das Mögliche des Seins in der Zerklüftung des Freien Heidegger denkt im 127. Abschnitt und den Abschnitten 156-159 der »Beiträge« die im Vorherigen aufgewiesenen Grade als das Mögliche im Sein mit den Worten Zerklüftung und Kluft.l09 Dieser Möglichkeitsbegriff entspringt einem ganz anderen Grund als der traditionelle Möglichkeitsbegriff innerhalb der Modalitäten von Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit. Diese nennt Heidegger Modalitäten des Seienden, die, wie wir sahen, am Leitfaden der Vorhandenheit gebildet sind. Die Zerklüftung nennt dagegen das Mögliche des Seins und ist deshalb von den traditionellen Unterscheidungen ganz fernzuhalten. llo Den "anderen Grund". auf den die Modalitätenfrage im Ereignisdenken zu bringen ist, finden wir im Abgrund als Geschehen der Freiheit des Seins. Dieses Abgrundsgeschehen der Freiheit gilt es nun anhand der Zerklüftung und der Kluft zu entfalten. Wir konzentrieren uns hierfür auf die kurzen Ausführungen, die Heidegger in den Abschnitten 157 und 159 gibt. Diese können wir zunächst im Zusammenhang von Zu- und Entwurf sehen. Die Zerklüftung nennt zuerst die Kluft als Auseinanderklaffen von Zu- und Entwurf. Ihr Wesen selbst "ist die innere, unerrechenbare Ausfälligkeit der Er-eignung" (ebd., S.279/280). Die Ausfalligkeit der Ereignung ist das Versetzen in die Kluft des Abgrundes, der dadurch als ein solcher allererst aufgeht und die Kluft des Zwischens von Zu- und Entwurf eröffnet. Diese Kluft springt in der Ereignung vor, wodurch sie sich erst als Ursprung des Denkens zeigt. Dieser vorspringende Ursprung zerspaltet in Zu- und Entwurf und ist "so einig klaffend als Herr-schaft" (ebd., S. 281). Die Herr108 Hiermit soll besonders einer Auslegung des Ereignisdenkens widersprochen werden, die erst nur den Aufgang der Seinsverlassenheit und Seinsvergessenheit darin sieht und somit in die Nähe eines Pessimismus ruckt, wie z.B. Costantino Esposito in: Heidegger: Storia e fenomenologia deI possibile, Bari 19,92. Daniela Neu bedenkt den Abgrund und Urgrund im 242. Abschnitt zwar als einen Versuch, die volle Wesung des Grundes aus dem Ereignis zu fassen, unterscheidet jedoch grundsätzlich nicht in dieser Deutlichkeit zwischen den verschiedenen Weisen der Seinsvergessenheit, des Übergänglichen und des erfüllt Andersanfänglichen, wie sie im Rahmen dieser Arbeit mit den »Beiträgen« entfaltet wurden (vgl. Neu, Daniela, Die Notwendigkeit der Grundung im Zeitalter der Dekonstruktion, S. 202-214). Deshalb bleibt die Frage nach dem ÜbergängIichem und dem erfüllt Andersanfänglichem in ihrer Untersuchung in einer gewissen Unentschiedenheit. 109 Vgl. außerdem: GA 65,267. Ab., S. 475. 110 Vgl. ebd., 157. Ab., S. 279.
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schaft geschieht als Herrschen des Ereignens von Sein im auseinanderklaffenden und darin geeinigten Zu- und Entwurf. Aus der Weite und Tiefe des Spiels ihres Auseinanderklaffens bestimmt sich die Herrschaft der möglichen Grade der Zerklüftung. Diese Herrschaft der Grade des Möglichen wird nun von Heidegger weiter in das Freie entfaltet und damit erst wird der eigentliche Begriff des Möglichen gedacht. Die Herrschaft entfaltet sich als "die Notwendigkeit des Freien zum Freien. Sie beherrscht und west als die Unbedingtheit im Bereich der Freiheit" (ebd., S. 282). Die Zerklüftung ist demnach in ihrem Wesen das Geschehen des Freien. Dieses Freie der Herrschaft des Seins in der Ereignung ist seine eigene Notwendigkeit. Notwendigkeit heißt hier, daß das Sein nicht anders west und wesen kann als in der Herrschaft des Freien, und zwar aus seinem eigenen Geschehen heraus. Den Grund hierfür finden wir darin, daß das Sein nur so west, daß das Nichts west und in diesem Nichts das Freie, weil Gefährdende und Entscheidungshafte des Seins liegt. Die Herrschaft der Ereignung west nur im Geschehen des Streites von Sein und Nichts und deshalb notwendig als Freies. 111 Die Herrschaft des Seins ist so zudem Unbedingtheit, weil sie notwendig nur als Freies herrscht. Insofern herrscht sie allein im Bereich der Freiheit. Die Notwendigkeit des Freien ist weitergehend notwendige Herrschaft zum Freien im Sinne des freien Entwurfes, weil das Sein den Entwurf braucht. Der Entwurf ist wesenhaft freier Entwurf, d. h. vom strittigen Freien des Zuwurfes frei-ereigneter Entwurf, der sich in diesem Freisein halten oder nicht halten kan.n. Der Bereich der Freiheit ist insofern der eigentliche Geschehensraum der Herrschaft von Sein und Nichts, der als das Zwischen des freien Notwendigen des Zuwurfes und des Freigesetzten des Entwurfes spielt. Wir sehen hieraus, wie erst der Begriff des Freien das Zwischen von Zu- und Entwurf in der Tiefe des entscheidungshaften Möglichen eröffnet, weil wir nun sagen können, daß das Mögliche das jeweils entscheidungshafte Freie ist. Das Freie ist dabei primär eine Bestimmung des Zuwurfes von Sein, aus dem erst der Entwurf in sein Freies versetzt ist. Das Freisein des Menschen ist deshalb nicht die menschliche Freiheit als Selbstbestimmung, die in ihrer Herkunft, so angesetzt, notwendig nur dunkel bleiben kann. Die Freiheit des Menschen ist vielmehr erst aus dem freien Möglichen des Seins zu entfalten, dem der Mensch in seiner Inständigkeit im Nicht und Nichts entscheidungshaft entspricht. Dabei geht nicht das Mögliche des Zuwurfes in das Wirkliche des Entwurfes über, sondern das ganze Geschehen von Zu- und Entwurf ist das freie Mögliche, bei
111 Heidegger nennt den Zusammenhang von Zerklüftung und Nichts auch die ZuTÜCkgebogenheit des Seins als eine wesentliche Kluft der Zerklüftung, womit die Einbehaltenheit des Seins in das Nichts zum Ausdruck kommt. Vgl. ebd., S. 281.
§ 10. Das Freisein der Entschiedenheit und das Freie des Seins
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dem das Mögliche des Seins immer das Mehr des Über-maßes im gekennzeichneten zweifachen Sinn von Sein und Nichts bleibt. 112 Das Freie des Möglichen können wir nun nach seiner grundsätzlichen Entfaltung in seinen zu unterscheidenden Graden denken. Der Grad der Zerklüftung als das freie Mögliche bestimmt sich aus der jeweiligen Tiefe und Weite des Aufklaffens des befreienden Abgrundes für den durch das Nichts befreiten und so immer vom Nichts zugleich als Entzug gefährdeten Entwurf. Diese Grade der Zerklüftung sind zugleich Grade des Freien und des Möglichen. Sie lassen den Un-, Ab- und Urgrund aufgehen. Im Ungrund verweigert sich die Zerklüftung. Es geht keine Kluft auf, d. h. kein Abgrund, sondern das Denken bleibt sich selbstverständlich und vergißt seine Herkunft. Der Grad des Freien ist hier das Freilassen des Ungrundes für den ungewußtfreigelassenen Entwurf. Diese Freigelassenheit entspringt selbst aber dem wesenhaft Freien des Abgrundes, aber im Sinne des Nicht. Aus dem Nichts des Abgrundes gibt er sich selbst als Nicht seines Aufgangs in der Weise des Ungrundes. Der Ungrund verstellt so den Abgrund aus diesem selbst. 113 Öffnet sich aber die Zerklüftung, indem der Abgrund als Abgrund sich auftut, dann kommt es zur ersten Weise der Zerklüftung des Abgrundes als zögerndes Sichversagen der Ereignung im Sinne der Enteignung. Hier ist das Freie das Freilassen in die erste Öffnung des Abgrundes, der den Entwurf zwar ebenfalls freiläßt, aber so, daß er diese Freigelassenheit als zögerndes Sichversagen erfährt. Öffnet sich jedoch der Abgrund tiefer, so zeigt sich der Urgrund, der die Ereignung als Ereignung freigibt. Damit herrscht erst das eigentlich Freie für den nun freidurchstimmten Entwurf, worin der höhere Grad des Freien und damit des Möglichen herrscht. Wir sehen in diesem gradweise zu unterscheidenden Geschehen das Mögliche und das Freie als die eigentlichen Bestimmungen der Zerklüftung von Sein und Mensch zwischen dem wesenhaft freien Möglichen des Seins für die wesenhaft freie menschliche Entschiedenheit. 114
Vgl. § 8, S. 108f dieser Arbeit. Vgl. GA 65, 242. Abschnitt, S. 380. 114 Vgl. zur Frage nach dem Grund auch: Vattimo, Gianni, An-denken, Denken und Grund, in: Nachdenken über Heidegger. Eine Bestandsaufnahme, hg. v. Guzzoni, Ute, Hildesheim 1980, S. 287-303, der dort den metaphysichen Begriff vom Grund und den andersanfanglich gedachten Abgrund besonders anhand »Der Satz vom Grunde« (Heidegger, Martin, Der Satz vom Grunde, Gesamtausgabe Bd. 10, Frankfurt a.M. 1997, Einzelausgabe, Pfullingen 61986) entfaltet und ebenso das Geschehen des Abgrundes als gründenden Grund betont. Zum Verhältnis von Grund und dem Geschehen von Sein vgl. auch: Caputo, lohn D., Being, Ground and Play, in: Man and World 3,1970, S. 26-48. 112
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c) Die tiefste Zerklüftung der Entscheidung und der Tod Wenn wir zum Denken der Entscheidung eigens zurückkehren, so wollen wir hierzu vorläufig abschließend zwei Fragen an das Bisherige stellen, die versuchen, das Tiefgreifendste der Entscheidung bezüglich der Zerklüftung und des Freien zu denken: 1. Wie entscheidet es sich, ob der Abgrund als zögerndes Versagen oder als Nichts des Urgrundes im Sinne des eigentlich Gründenden aufgeht? 115 und 2. Wie läßt sich das Tiefste der Zerklüftung des Urgrundes und damit der Entscheidung und sein Geschehen denken? Für diese Fragen müssen wir bedenken, wie wir nach einem "Wie" fragen können, wenn die Tiefe der Zerklüftung gerade das Freie, Entscheidungshafte und so Unberechenbare ist. Einige zusammenfassende Vorüberlegungen sind hierzu nötig. Wenn wir nach dem "Wie" der Entscheidung zwischen Abgrund im engeren Sinne und Urgrund fragen, denken wir hiermit nicht an einen Umschlag vom erstwesentlichen Abgrund zum Urgrund. Ein Denken eines Umschlags würde innerhalb einer vorgestellten Zeitfolge ein innerzeitliches "Vorher und Nachher" oder ein kausales "Wenn-Dann" denken. So gedacht, herrschte zuerst der Abgrund, in dem sich dann später der Urgrund öffnet. Die Grade der Tiefe der Zerklüftung geschehen jedoch weder in einem zeitlichen Nacheinander berechenbarer oder feststellbarer Punkte noch in einem kausalen Geschehen, sondern nur im jeweiligen Zwischen des freien Streites des Seins und des freigesetzten Kampfes um das Sein. Genauso müssen wir für die zweite Frage im Blick behalten, daß, auch wenn wir von einer Tiefe der Zerklüftung sprechen können, als die sich der Urgrund öffnen kann, diese Öffnung ebenfalls keine kausale Folge als Wenn-Dann von Urgrund und gesichert erfüllt ereignetem Entwurf bedeutet. Von den folgenden Überlegungen ist deshalb jegliches Denken einer Zeitreihe sowie einer kausalen Notwendigkeit femzuhalten. Für die beiden Fragen betrachten wir einige derjenigen Stellen in den »Beiträgen«, in denen Heidegger in verschiedenen Wendungen vom Weitesten, Höchsten oder Tiefsten, also im Superlativ spricht, wenn er das Äußerste der Zerklüftung, des Freien und somit letzthinnig des Urgrundes zu denken versucht. Im 267. Abschnitt nennt Heidegger die "tiefste Klüftung" (GA 65, S.475) des Seins zunächst undifferenziert das Mögliche. Wenn wir hieran anschließend fragen, was das äußerste Mögliche der tiefsten Zerklüftung ist, stoßen wir innerhalb der Abschnitte über die Zerklüftung auf folgende Bestimmung:
115 Heidegger nennt diese Entscheidung auch "das Ob oder Ob-nicht des Anfalls des Seyns" (GA 65, S. 384), die im Entscheidungsbereich des erstwesentlichen Abgrundes der zögernden Versagung geschieht, wobei hier Sein als durchstimrnendes, eigentlich gründendes auszulegen ist.
§ 10. Das Freisein der Entschiedenheit und das Freie des Seins
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"Die Zerklüftung hat ihre erste und weiteste Ausmessung im Bedürfen des Gottes in der einen und in der Zugehörigkeit (zum Seyn) des Menschen nach der anderen Richtung." (ebd., S. 279)
Wichtig ist für uns hierbei die Nennung einer weitesten Ausmessung der Zerklüftung. Sie herrscht als Zwischen des Seins zwischen dem Bedürfen des Gotthaften und der Zugehörigkeit des Menschen. Wir können hieraus das Weiteste der Zerklüftung als das äußerste Mögliche ihrer ansehen, das darin liegt, daß im Geschehen der Zerklüftung des Seins das Gotthafte dem Menschen über- und der Mensch dem Gotthaften zugeeignet werden kann. Auch wenn wir die eigentliche Thematisierung des Gotthaften weiterhin zurückstellen wollen, können wir das Zwischen von Gott und Mensch im Sinne der weitesten Zerklüftung und insofern des äußersten Möglichen als Leitlinie nehmen, anhand derer wir weitere Stellen zum Tiefsten der Zerklüftung zu suchen haben. Um nach diesen uns nun leitenden Anzeigen zu entfalten, wie das Tiefste der Zerklüftung geschieht, betrachten wir die entscheidende Nennung für die erste Frage nach dem Unterschied von zögernder Versagung und Urgrund innerhalb der Fügung "Der letzte Gott" im 256. Abschnitt: "Die größte Nähe des letzten Gottes ereignet sich dann, wenn das Ereignis als das zögernde Sichversagen zur Steigerung in die Verweigerung kommt. [... ] Die Verweigerung als die Nähe des Unab-wendbaren macht das Da-sein zum Überwundenen, das will sagen: schlägt es nicht nieder, sondern reißt es hinauf in die Gründung seiner Freiheit." (ebd., S. 411/412)
Diese Stelle verdeutlicht, wie Heidegger zwischen der zögernden Versagung und der Verweigerung unterscheidet. Die Verweigerung ist hier die Steigerung der zögernden Versagung. Diese Steigerung steht im Zusammenhang mit der größten Nähe des letzten Gottes, d. h. also mit der weitesten Zerklüftung zwischen Gott und Mensch. Diese weiteste Zerklüftung, die vorher in ihrem Grad undifferenziert nur als Anzeige mit dem Zwischen von Gott und Mensch benannt wurde, erfährt durch die Nennung eine Differenzierung. In ihr kann sich eine größte Nähe des Gotthaften ereignen. Diese größte Nähe herrscht dann, wenn die Nähe des Unabwendbaren als Verweigerung aufgeht. Die Nähe des Unabwendbaren läßt demnach die zögernde Versagung zur Verweigerung sich steigern. Wir haben deshalb in dem Unabwendbaren den entscheidenen Aspekt zu erblicken, der die zögernde Versagung in die Steigerung zur Verweigerung bringt und hiermit die größte Nähe des Gotthaften in der weitesten Zerklüftung sich ereignen läßt. Wie aber läßt sich diese Steigerung nicht in einem "Zuerst" der zögernden Versagung und einem "Dann" der Verweigerung denken? Dafür ist dem Hinaufreißen zur Gründung der Freiheit nachzugehen. Dieses Hinaufreißen bringt die unberechenbare, eine und deshalb nicht in punktuellen Abschnitten zu teilende Bewegung der Steigerung zum Ausdruck. Das Abgründen der zögernden Versagung eröffnet den Entscheidungsraum, in dem es zu diesem Hinaufreißen
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kommen kann, aber dieses Hinaufreißen auch verwehrt bleiben kann. Die hierin mögliche Steigerung geschieht in dem Maße, in dem der Abgrund ausgehalten werden kann und der Abgrund sich öffnet, so daß es zum Hinaufreißen kommt. Dieses "So daß" ist jedoch kein feststellbarer Punkt, sondern die gesamte Bewegung hat in sich "von Anfang an", also schon in der zögernden Versagung, den Zug zum Hinaufziehen, der sich steigern oder nicht steigern kann. Dennoch herrscht ein deutlich vernehmbarer Unterschied zwischen der zögernden Versagung und der Verweigerung. Dieser Unterschied liegt in der Bewegung des Hinaufreißens, die spürbar die zögernde Versagung als Entzugsbewegung in einen Sog eines Hinaufreißens wandelt, wie wir sagen können. Der Wandel in den Sog der hinaufziehenden Verweigerung geschieht aber in eins mit der zögernden Versagung als ihrem Sichhineinwandeln in die Verweigerung. Deshalb geschieht das Stärkerwerden der zögernden Versagung nicht nach der zögernden Versagung, sondern in ihr, indem sie in dem einen Entzugsgeschehen zur Verweigerung wird. Diese hinaufziehende Steigerung der Verweigerung entspringt dem vernehmbaren Sichnähern des Unabwendbaren, das wir als den Tod begreifen können, weil der Tod einerseits das wesenhaft Unabwendbare und andererseits als Grad des Andrangs der Verweigerung das Unabwendbarste ist. Wir können hier von einer Vernehmbarkeit des Sichnäherns des Todes sprechen, weil dessen Nähe kein statisches Moment ist, sondern dasjenige, was die zögernde Versagung in die Verweigerung bringt. Insofern liegt im Unabwendbaren selbst ein Grad der Nähe, der sich steigern kann. Wenn es dem Denken gegeben ist, die zögernde Versagung auszustehen, dann kann es ihm eröffnet sein, in eine vernehmbare Näherung des Todes zu gelangen, aus der damit zugleich die Steigerung in die Verweigerung entspringt, die das Dasein in die Nähe des Todes hinaufzieht. Wenn dieses Hinaufziehen der Verweigerung sich in sein Höchstes steigert, kommt es zum äußersten Hereinstehen des Todes, der damit das Dasein in die tiefste Verweigerung stellt. Der Hereinstand des Todes ist zugleich die Gründung der Freiheit des Daseins. In zweierlei Hinsicht können wir diese Freiheit auslegen. Seitens des Abgrundes ist der Tod die größte Freiheit, weil er das tiefste Nichts ist. In dieser Befreiung erfahrt andererseits der Mensch seine eigentliche Freiheit als wesenhaftes Vermögen der Inständigkeit in der tiefsten Abgründigkeit des Todes. Diese Befreiung ist weitergehend ein Hinaufreißen in die Gründung der Freiheit, weil dem Menschen in diesem Hinaufreißen in den Hereinstand des Todes der tiefste Abgrund als gründender Urgrund aufgehen kann. Gründung der Freiheit ist hieraus ereignetes Freigesetztsein in die tiefste Freiheit für das Wesenlassen des tiefsten Nichts der Durchstimmung.
§ 10. Das Freisein der Entschiedenheit und das Freie des Seins
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Das Hereinstehen des Todes ist demnach das entscheidende Moment für die Steigerung in die Verweigerung. Was ist aber hier die Verweigerung? Die Verweigerung nennt Heidegger auch im Zusammenhang mit der Umweigerung. \16 In der tiefsten Verweigerung geschieht das Zweifache des tiefsten Nichts, daß dieses Nichts als tiefster Entzug Verweigerung im Hereinstehen des Unabwendbaren ist, aber zugleich damit Umweigerung als tiefste Möglichkeit des Nichts als Durchstimmung. Die Verweigerung ist so zugleich Umweigerung. In der Umweigerung liegt, daß sie die Ereignung erfüllende Ereignung sein läßt, indem sie als "Um" die Ereignung mit dem tiefsten Nichts des Todes umhüllt, wie wir sagen können. Die Umhüllung des Nichts läßt den umhüllten Entwurf so durchstimmt erfüllten Entwurf sein. ll ? Um diese mögliche Umweigerung als Durchstimmung des erfüllten Entwurfes weiter zu entfalten, wenden wir uns nun der wichtigsten Stelle für die Frage nach dem Tiefsten der Zerklüftung zu, die ebenfalls im Zusammenhang mit dem Gotthaften steht. Im 279. Abschnitt heißt es zur Frage "Wie aber die Götter?" (ebd., S. 508): "Warum muß diese Entscheidung [die Frage nach den Göttern] gewagt werden? Weil damit die Notwendigkeit des Seyns in die höchste Fragwürdigkeit hinaufgehoben und die Freiheit des Menschen, daß er seines Wesens Erfüllung ins Tiefste legen kann, in die Ab-gründigkeit hinabgestoßen, weil so das Sein in die Wahrheit der einfachsten Innigkeit seiner Er-eignung gebracht wird. Und was »ist« dann? Dann erst ist diese Frage unmöglich, dann ist, für einen Augenblick, das Er-eignis Ereignis." (ebd.)
Wir sehen in dieser Entfaltung, wie sich für den Augenblick der weitesten Zerklüftung als Entscheidung der Frage nach den Göttern das Äußerste der menschlichen Freiheit auftut. Es besteht darin, daß der Mensch seines Wesens Erfüllung ins Tiefste legen kann. Nach unserer Auslegung des Tiefsten heißt dies, er kann in den tiefsten Abgrund des Todes hinabgestoßen sein. Und in diesem tiefsten Abgrund des Todes ist dann die Frage nach dem "Dann" unmöglich, weil das Er-eignis für einen Augenblick als Ereignis herrscht. In diesem tiefsten Abgrund herrscht die höchste menschliche Freiheit, weil der Mensch in den Abgrund des Todes hinabgestoßen ist. Das Hinabgestoßensein können wir als andere Wendung für das Hinaufgerissensein nehmen, da beide das Äußerste der Freiheit des Menschen benennen. Als äußerste Freiheit kann es dem Menschen gegeben sein, in die tiefste Tiefe des Todes seines We-
Vgl. zur Umweigerung: ebd., 127. Ab., S. 244 und 169. Ab., S. 293. Vgl. zu der hier neugebildeten Wendung "Umhüllung" die folgenden verschiedenen Wendungen Heideggers zum Nichts: "Die Einzigkeit des Seyns begründet seine Einsamkeit, gemäß der es einzig nur das Nichts um sich wirft" (GA 65, S. 471) und "Das Nichts als das Andere zum Seienden ist der Schleier der Seins." (WM, S. 310), sowie die Ausführungen zur umrandenden Wandung des Sichverbergens im 214. Abschnitt der »Beiträge«, S. 358/359. 116
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sens Erfüllung zu legen, d. h. die Erfüllung widerfährt ihm dort, wenn diese tiefste Tiefe erreicht ist, weil das Ereignis dann als Ereignis herrscht. Die erfüllende Ereignung im tiefsten Abgrund des Todes faßt Heidegger an anderer Stelle folgendermaßen: "Das Seyn als das Er-eignis ist der Sieg des Unumgänglichen in der Bezeugung des Gottes." (GA 65, S. 228, Herv v. V.) Anders formuliert heißt dies: Das Seyn als Ereignis ist der Sieg des Todes in der Bezeugung des Gottes, weil der Tod sowohl das wesenhaft Unumgängliche als auch das Unumgänglichste ist. Was ist aber der Sieg des Todes? Er ist einerseits der Sieg in dem Sinne, daß das Dasein zum Überwundenen wird, d. h. sich vom Tod überwinden läßt und so in die Gründung seiner Freiheit hinaufgerissen wird. Hierin liegt das Entscheidungshafte des Unumgänglichen, daß der Mensch sich der Gründung der Freiheit des Daseins und damit dem Sieg des Unumgänglichen auch verschließen kann. Andererseits ist dieser Sieg der Sieg im Tod, daß es dem Menschen gegeben sein kann, den Tod auszuhalten und nicht zu fliehen oder sich ihm zu verschließen, sondern das tiefste Nichts der Verweigerung als Sieg der Umweigerung des Unumgänglichen im Sinne der erfülltesten Durchstimmung wesen zu lassen. Diesen Sachverhalt können wir anhand des Denkens des Möglichen weitergehend entfalten. Im 160. Abschnitt spricht Heidegger im Zusammenhang von Sein und Sein zum Tode vom "Zusammenstoß von Notwendigkeit und Möglichkeit" (ebd., S.283). Das Unumgängliche ist dieser Zusammenstoß. In dem Zusammenstoß herrscht das höchste Notwendige, weil der Tod die unabwendbare Unumgänglichkeit ist. Diese so verstandene größte Notwendigkeit ist aber zugleich die größte Möglichkeit, weil sie die größte Freiheit eröffnet und deshalb im Unumgänglichen mit der Möglichkeit zusammenstößt. Wenn sich der Zusammenstoß von Möglichkeit und Notwendigkeit öffnet, ist das höchste Freie als die höchste Notwendigkeit die höchste Möglichkeit, und hierin bekundet sich der Sieg des Unumgänglichen. Dieser Sieg des Unumgänglichen ist die tiefste Öffnung des Abgrundes als Urgrund in der Zuspitzung der höchsten Freiheit und damit zugleich der höchsten Gefahr des Entzuges. Die Gefahr des Entzuges als höchste Gefahr bleibt im Sieg mitgegeben, weil in ihm das tiefste Nichts herrscht, das auch im Sieg das Zugleich von Durchstimmung und Gefahr des Entzuges birgt, auch wenn im Augenblick des Sieges der schärfste Entzug in der erfülltesten Durchstimmung sieghaft ausgestanden ist. Denn in diesem Augenblick öffnet sich der tiefste Abgrund des Todes und es herrscht der Sieg des Todes, indem er das Nichts in die stärkste Umhüllung des Seins rückt und so umhüllend das Sein von diesem tiefsten Nichts durchstimmt und insofern erfüllend sein läßt. Dieses Geschehen der äußersten Bergung der Wahrheit des Seins erläutert Heidegger an anderer Stelle folgendermaßen:
§ 10. Das Freisein der Entschiedenheit und das Freie des Seins
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"Dieses [Geschehen] aber ist immer im äußersten Verbergung, die Entrückung in das Un-errechenbare und Einzige, an den schärfsten und höchsten Grat, der das Entlang dem Ab-grund des Nichts ausmacht und selbst den Abgrund grundet." (ebd., S. 236)
Den schärfsten und höchsten Grad als äußerste Verbergung haben wir im Sinne des Todes als der Verweigerung und Umweigerung zu verstehen. Der Tod ist hier deutlich vom Abgrund und vom Nichts unterschieden, weil er das "Entlang dem Abgrund des Nichts" ausmacht. Wenn er den Abgrund selbst gründet, so können wir sagen, daß er den Abgrund zum Urgrund werden läßt. Er ist als äußerste Verbergung selbst zwar das tiefste Nichts, aber als Entlang selbst noch Umhüllung des Nichts, die das Nichts gründend und so zur Durchstimmung werden läßt. 118 Das tiefste Gründen des Nichts des Abgrundes als Urgrund geschieht demnach durch das äußerste Hereinstehen des Todes. Ob wir jedoch so in den Tod eingelassen sind, daß sich sein Sieg uns öffnet und wir diesen Sieg als erfülltestes Durchstimmen zu bergen vermögen, bleibt das Unerrechenbare und Einzige des Todes. Wir können nur sagen, daß, wenn der Tod uns gereicht wird und wir ihn erreichen, wir auch seinen Sieg als die tiefste Durchstimmung wesen lassen können. Wir können aus diesen Entfaltungen für unsere beiden Ausgangsfragen folgendes zusammenfassen. Die Entscheidung, ob sich der Abgrund als zögernde Versagung oder als durchstimmender Urgrund öffnet, fällt mit der Nähe des Todes. Je näher der Tod als Verweigerung sich nähert, desto stärker herrscht der Sog in die Verweigerung und das Hinaufgerissensein in die Gründung der Freiheit. Wenn der Tod sich nähert und dieses Sichnähern ausgehalten werden kann, dann öffnet sich der Abgrund als Urgrund, weil die zögernde Versagung in die Verweigerung und Umweigerung kommt. In den Graden der Näherung des Todes haben wir deshalb das bisher so noch nicht entfaltete eigentliche Geschehen der Grade des Urgrundes und der erfüllenden Durchstimmung zu sehen. Hierin liegt außerdem die Herleitung zur Entfaltung der zweiten Frage. Die tiefste Zerklüftung und damit die tiefste Entscheidung geschieht dann, wenn der äußerste Hereinstand des Todes herrscht und er so den tiefsten Abgrund als tiefsten Urgrund gründet und das Nichts des Abgrundes tiefstes Nichts der Durchstimmung sein läßt. Dieses tiefste Nichts entspringt dem Sieg des Unumgänglichen, der in dem Augenblick gereicht und erreicht wird, wenn der Tod in seinem äußersten Hereinstehen geschieht, und der Mensch ihn und seine schärfste Entzugsbewegung aushält und so aushaltend das tiefste Nichts als erfülltesten Sieg bergen kann. Das Denken der Entscheidung findet somit im äußersten Hereinstand des Todes seine tiefste Zerklüftung und hierin seine äußerste Entscheidung. Wir müs118 Vgl. zur Umhüllung des Nichts auch die spätere Wendung Heideggers: "Der Tod ist der Schrein des Nichts" (Das Ding, in: Heidegger, Martin, Vorträge und Aufsätze, Tübingen 51985 (im folgenden zitiert als: VA), S. 171).
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sen jedoch dabei bedenken, daß, was hier der Tod heißt und wie er, soweit wir ihn jetzt entfaltet haben, im Zusammenhang mit seiner gewöhnlichen Bedeutung als Ende des Lebens steht, noch unentfaltet und dunkel bleibt. Er kann zwar mit dem Denken der Entscheidung als tiefstes Nichts der Ver- und Umweigerung und als höchste Gründung des Freiseins des Menschen und insofern als tiefste Entscheidung des Zwischen von Zu- und Entwurf gedacht werden. Um aber ihn im Geschehen von Sein und Mensch hinreichend zu bedenken, bedarf es einer eigenen Thematisierung des Todes und außerdem des Gotthaften, da die wichtigsten oben zitierten Passagen zum Tod in einem Bezug zum Gotthaften stehen und zudem das Geschehen von Gott und Mensch die weiteste Entscheidung im Ereignis ausmacht.
Zweiter Abschnitt: Die Zeit der Entscheidung: der Tod und der letzte Gott
J. Das Denken des Todes "Gefühl in den Augenblicken totenähnlichen Seins: Alle Menschen sind der Liebe wert. Erwachend fühlst du die Bitternis der Welt; darin ist alle deine ungelöste Schuld; dein Gedicht eine unvollkommene Sühne."
Georg Trakl
§ 11. Das Phänomen des Todes im lebensweltlichen Umgang
Mit der nun explizit zu stellenden Frage nach dem Tod werden wir im besonderen Maße in ein Geschehen versetzt, das uns angeht und zwar im Äußersten angeht, weil sich damit unumgänglich das Geschehen unseres eigenen Todes verbindet. Wenn wir dem Tod denkerisch nachzugehen versuchen, so ist es hierbei in ausgezeichneter Weise unmöglich, dies abständig zu tun. Es ist zwar vordergründig möglich, sich über dieses Angegangensein hinwegzusetzen, indem man über den Tod denkt oder ein solches Denken überhaupt für unnütz oder gar unmöglich hält. Jedoch zeigt gerade diese mögliche Verhaltung des Man eine Fluchttendenz, die auf den Tod bezogen bleibt. Vor dem Tod kann man fliehen, aber nur vor dem Tod. Ich selbst kann nicht fliehen, weil der Tod mein Selbstseinkönnen in Frage stellt und bedroht. Insofern kann nur ich selbst mich letzthinnig zum Tod stellen. Wir haben deshalb bei der Frage nach dem Tod unseren je eigenen Tod mitzubedenken, um zu einem dem Phänomen gemäßen Denken zu gelangen. Bevor wir jedoch zur ausdrücklichen Thematisierung des Todes innerhalb der Seinsfrage kommen, wollen wir einen Vorblick anhand einiger Phänomene des Umgangs mit Tod und Lebensende und den sich darin zeigenden Fragen vollziehen. Da dem Tod in unserem gesamten Gedankengang eine besondere Stellung beigemessen ist, werden wir an dieser Stelle ausführlicher auf konkrete Begegnisweisen mit dem Tod eingehen, um für die denkerische Frage einen reicheren phänomenalen Boden zu gewinnen. Dabei schlagen wir einen anderen Weg ein, als ihn Heidegger in seiner Analyse des Seins zum Tode in »Sein und
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Zeit« begeht. Heidegger bedenkt dort das Sein zum Tode, um das Dasein hinsichtlich seiner möglichen Eigentlichkeit und Ganzheit zu befragen. 119 Für diese Fragerichtung wehrt er eine Betrachtung des Phänomens des Mitseins mit dem Tod eines Anderen ab, weil der Tod der je meine ist und insofern die Frage nach Eigentlichkeit und Ganzheit des Daseins nur an das Sein zum je eigenen Tod zu stellen ist. 120 Wenn wir uns aber der Frage nach dem Tod zuerst annähern wollen, stellen die Phänomene des Umgangs mit dem Tod eines Anderen einerseits konkret eine Zugangsmöglichkeit dar, weil der Tod zumeist im Sterben Anderer an uns herantritt. Andererseits wird zu zeigen sein, wie sowohl in der Frage nach dem heutigen Umgang mit dem Tod als auch im Mitsein mit der Frage nach Leben und Tod des Anderen sich Phänomene aufweisen lassen, die das Sein zum eigenen Tod und die Frage nach dem Tod überhaupt verdeutlichen können. Wir betrachten deshalb zuerst den heutigen Umgang mit dem Tod innerhalb der medizinischen Technik, um vorläufig aufzuweisen, auf welche unzulängliche Weise hier der Tod gedacht wird. Die Unzulänglichkeit des Denkens der modernen Technik bezüglich des Todes verdeutlichen wir ausdrücklich arn Beispiel des Patienten im Koma, um zudem an ihm die Frage nach dem Mitsein mit einer Entscheidung über Leben und Tod eines Anderen zu erörtern. Das hierbei sich zeigende Mitsein erweitern wir im zweiten Fall des Geleitens des Sterbens eines Anderen. Abschließend gelangen wir drittens zur Frage nach dem Sein zum eigenen Tod im Zusammenhang mit dem Phänomen des Opfers. Bei der Betrachtung dieser Phänomene bewegen wir uns zwischen einer phänomenalen Beschreibung einerseits, aber andererseits schon in einer phänomenologischen Hebung der hier zugrundeliegenden Fragen und Denkweisen, die jedoch bezüglich der Seinsfrage erst vordeutenden Charakter hat, bevor wir im Anschluß zur eigentlichen Thematisierung kommen.
a) Das Lebensende im Umgang der medizinischen Technik Der heute weitestgehend vorherrschende Umgang mit dem Tod ist ein Abdrängen des Todes in den Raum der medizinischen Technik, wenn nicht ein eigenständiger Wille oder die Umstände, wie z.B. ein schnell eintretendes Ende, dies verhindern. Heute wird in Krankenhäusern gestorben, in denen alles Machbare getan wird, um den drohenden Tod hinauszuzögern und zu verhindern. Der behandelnde Arzt ist hierbei verpflichtet, alles zu tun, um den Tod abzuwenden, wenn kein erklärter eigener Wille dem entgegensteht. Wenn der Mensch im Krankenhaus stirbt, so dann, wenn ihm medizinisch nicht mehr zu helfen ist. Ist
119
Vgl. SuZ, § 45, S. 231-235. SuZ, § 47, S. 237-241.
120 Vgl.
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er hierbei an Geräte angeschlossen, so bietet die Technik die Möglichkeit, den Tod relativ exakt abzulesen. Der Tod wird hierbei zu einem Umschlag von der Größe Leben zu der Abwesenheit dieser Größe. Beide, Leben und Tod, werden auf diesem Weg zu technisch bestimmbaren und ablesbaren Größen. Dem Leben ist hierbei unter allen Umständen der Vorrang eingeräumt, das Leben gilt es unter allen Umständen zu erhalten. Niemand würde diesem Satz zunächst ernsthaft widersprechen wollen. Welche Haltung zum Lebensende können wir jedoch hieraus entnehmen? Folgende Leitgedanken sollen diese Grundhaltung vorläufig charakterisieren: Das Bemühen der heutigen Technik zielt in seinem Grundcharakter darauf ab, das Leben endlos zu machen und so in einer Hinsicht den Tod zu überwinden und die Unsterblichkeit als nicht mehr bedrohte Anwesenheit des Lebens zu erlangen. Die Technik ist dabei vom Denken der beständigen Anwesenheit geleitet, für das dasjenige als richtig gilt, was in der Regel Bestand hat und so als Bestand bestellt werden kann im Sinne des Sichvorstellens der beständigen Regel für jegliches Seiende. Bestand ist in diesem Fall des technischen BestelIens das Seiende Leben als ablesbare, feststellbare Größe, die es unter allen Umständen zu erhalten gilt. Der Tod ist hierbei nur ein Nichtseiendes im Sinne der Abwesenheit dieser Größe, ein defizienter Modus der Anwesenheit von Leben. Als so Seiendes im Sinne des Nicht ist er nur nicht im Sinne der seienden Anwesenheit. Wenn es heute noch nicht gelingt, diese Abwesenheit zu verhindern und den Tod zu überwinden, so ist dies innerhalb des Denkens des Bestandes ein Nochnicht, das aber immer in Zukunft noch sein könnte. Heute ist der Tod, wenn er denn noch nicht verhindert werden kann, so doch wenigstens eine bestimmbare Größe, die es ermöglicht, ihn in die Berechenbarkeit und FeststeIlbarkeit einzuordnen. In welchem Sinne aber können wir beim technischen Denken des Bestandes von dem Versuch der Todesüberwindung und der Ausrichtung nach Unsterblichkeit sprechen, wenn doch die Todesüberwindung ein genuin religiöser Begriff ist und die Unsterblichkeit zur metaphysica specialis der traditionellen Metaphysik gehört, also diese Begriffe der Religion und der Metaphysik zuzuordnen sind, die das technische Denken gar nicht berührt, sondern gänzlich hinter sich gelassen zu haben scheint? Vorläufig wollen wir hierfür auf das Denken des Bestandes, so wie es Heidegger in seiner Nietzscheinterpretation in "Nietzsches Wort »Gott ist tot«,,121 auslegt, verweisen. Heidegger verdeutlicht hier, wie im Willen zur Macht der Gesichtspunkt des Wertes der Erhaltung und Steigerung des Lebens ausschlaggebend wird. 122 Dabei kommt der Sicherung des Bestandes eine besondere Rolle zu: "Beständigung der Beständigkeit des
121 In: HW, S. 193-247. 122 Vgl. bes.: ebd., S. 210-213.
11 MWler
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Bestandes ist eine notwendige, vom Willen zur Macht gesetzte Bedingung der Sicherung seiner selbst." (ebd., S. 238) Die Beständigung ist die Weise, wie das Denken des Willens zur Macht sich ständig seiner selbst versichern und sich so erhalten muß. Zur Erhaltung gehört aber zugleich die Steigerung des Willens zur Macht, d. h. das notwendig immer weiter Ausgreifende des Willens, der sich alles Seiende unter seinen Befehl bringen muß. Heidegger spricht mit Nietzsche in diesem Zusammenhang von der notwendig folgenden Übernahme der Erdherrschaft im Sinne der Herrschaft über das Seiende im Ganzen und des dafür geforderten Übermenschen. Herrschaft heißt hier unbedingte Ansprechbarkeit von jeglichem Seienden im Sinne der Vorstellbar- und so Bestellbarkeit des Seienden im Ganzen für den Willen zur Macht, d. h. für den diesen Willen wollenden Menschen, der sich so seiner selbst versichert und sich steigert. 123 Für das Phänomen des Lebensendes innerhalb der medizinischen Technik, die nur eine Folge des Denkens des Willens zur Macht darstellt, ist hierbei bedeutsam, daß die konkrete Erhaltung des Lebens einen unbedingten Wert haben muß. Da der Wille zur Macht jedoch in sich nicht bei der bloßen Erhaltung und Sicherung stehen bleiben kann, sondern zugleich immer schon den Wert der Steigerung des Lebens wollen muß, so muß das aus ihm entspringende Denken den drohenden Entzug der Erhaltung des Bestandes durch den Tod nicht nur immer weiter verhindern, sondern darüber hinaus wesensmäßig danach streben, den Tod letzten Endes zu überwinden. Die Erhaltung und Steigerung des Lebens kann kein Ende dulden, sondern muß dieses Ende als ein Nochnicht der Botmäßigkeit des Willens einordnen und vor sich her schieben und alle Kräfte daran setzen, den Tod letzthinnig doch unter den Befehl zu stellen und so die Unsterblichkeit zu erlangen. In diesem Sinn wollen wir vorläufig von der verdeckten Ausrichtung des technischen Denkens nach Todesüberwindung und Unsterblichkeit sprechen, weil das Denken des Willens zur Macht in der Beständigung und Steigerung des Bestandes dahin streben muß, den Tod zu überwinden und die Unsterblichkeit zu bestellen, auch wenn diese Begriff und die Bereiche, derer sie entstammen, dem technischen Denker. wesensfremd sind. Dabei ist für den Denkvollzug zunächst gleichgültig, ob er auf die Sicherung und endlose Steigerung eines Menschen oder des Bestandes der Gattung Mensch überhaupt ausgeht. An jeder Stelle des drohenden Einbruchs des Todes muß das Denken des Willens zur Macht diesen Einbruch sich zurechtstellen, ihn zu verhindern versuchen und danach streben, letzthinnig Herr über ihn zu werden. Ist jedoch ein solcher Gedankengang nicht zu abstrakt, wenn es schlichtweg darum geht, Leben zu erhalten? Können wir ein dem menschlichen Leben dienliches Bemühen auf eine philosophische Wahrheitsfrage reduzieren und diese
123
Vgl. zum Übermenschen und der Herrschaft bes.: ebd., S. 232-234.
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mit dem Vollzug der Medizin so einfach vermischen? Dem ist zu antworten, daß es bei diesem Vollzug der Medizin gerade nicht schlichtweg um das Leben geht, sondern primär um eine notwendige Fluchttendenz, die versuchen muß, die für das Denken des Bestandes bedrohliche Unberechenbarkeit des Todes zu fassen und sie dem Gemächte des Menschen zu unterstellen, um hierin unwissentlich dem Willen zur Macht zu entsprechen. Wir müssen hierbei zwischen der Auffassung einerseits, der jeder gewöhnlich Urteilende zustimmen würde, daß trotz aller Technik der Tod letztlich unberechenbar bleibt und sich weder Leben noch Tod auf eine technische Größe reduzieren lassen und andererseits dem Denken, daß die medizinische Technik in ihrem Vollzug leitet, unterscheiden. Auch wenn kein Arzt oder Forscher, der mit oder an der medizinischen Technik arbeitet, ernsthaft behaupten würde, daß der Tod im Laufe des technischen Fortschritts irgendwann mit ganzer Sicherheit exakt berechenbar, geschweige denn verhinderbar wird, bleibt derjenige, der persönlich den Tod als letztlich Unberechenbares akzeptieren mag, wenn und solange er technisch bestellend denkt, im Denken des Bestandes des Willens zur Macht. Und dieses Denken muß aufgrund seiner Wesensverfassung den Tod immer verhindern, einordnen und letzthinnig versuchen, ihn zu beherrschen. Der Wille zur Macht als Wille zur Bestellbarkeit alles Seienden kann den Tod in seiner Unbestellbarkeit nicht zulassen. 124
b) Die Fragwürdigkeit von Leben und Tod im Mitsein mit der Entscheidung über Leben und Tod eines Anderen Um diese Gedanken zu verdeutlichen, betrachten wir das Extrembeispieldes Komapatienten, das gerade aufgrund seines Extremcharakters zur Klärung dienen kann. Die künstliche Ernährung und Beatrnung bei Patienten im Koma zeigt konkret, wie unter allen Umständen das Leben erhalten werden soll. Dabei treten jedoch Fälle auf, bei denen es unabsehbar wird, ob der Patient jemals noch zum Leben ohne technische Erhaltung zurückkehrt oder ob er nur noch "endlos" allein durch die künstliche Lebenserhaltung am "Leben" bleibt. Durch diesen Zwischenzustand tritt aber auf merkwürdigem Umweg die Fragwürdigkeit, was denn das Lebensende sei, wieder auf. Während die medi-
124 Vgl. zum Willen zur Macht und dem Tod in: "Wozu Dichter?", HW, S. 279: "Das Sichdurchsetzen der technischen Vergegenständlichung ist die ständige Negation des Todes. Durch diese Negation wird der Tod selbst etwas Negatives, zum schlechthin Unständigen und Nichtigen." Das Sichdurchsetzen ist hier der Wesenszug des unbedingten Willens zur Macht, für den wesensmäßig der Tod nur als Negation und so als Nichtiges im Sinne des Nicht-Seienden sein kann.
11'
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zinische Technik alles versucht, den Tod möglichst zu verhindern oder zumindest ihn gen au feststellbar und bestimmbar zu machen, geraten durch den technischen Fortschritt selbst diese beiden Ausrichtungen völlig ins Wanken. Weder ist im skizzierten Fall eindeutig bestimmbar, daß es im Sinne des Patienten angemessen ist, ihn künstlich am Leben zu erhalten, noch ist das Lebensende eindeutig faßbar, weil allein die Maschine das Über-leben garantiert. Der medizinische Fortschritt bringt sich selbst damit vor diejenige Situation, die er gerade hat fliehen und vermeiden wollen: Daß nämlich nicht mehr exakt bestimmbar wird, was Leben und Tod und was hier Erhaltung des Lebens heißt. Gleichsam durch die Hintertür der Technik tritt die Fragwürdigkeit des Todes wieder an den Menschen heran. Wenn ein solcher Zwischenzustand eines allein durch die Technik aufrechterhaltenen Lebens ohne merkliche Veränderungen hin zu einem Wiedererwachen sich stabilisiert, sind Arzt und Angehörige gefragt, ob es nicht ratsam ist, die Maschinen abzuschalten und das nur künstlich erhaltene Leben zu beenden. Damit öffnet sich ein eigentümlicher "Freiraum", den man vorher versucht hat, zu vermeiden. Der "Freiraum" zu entscheiden, ob man die Maschinen abstellt und so den Patienten seinem Tod überläßt, kann die Beteiligten aus der sonst herrschenden Auchttendenz, diesen Punkt dem Ablesbaren zu überlassen, heraus in eine Entscheidungsnot bringen. Durch das Geschehen des aufbrechenden "Freiraums" einer Entscheidungsnot können die Beteiligten aus dem gewöhnlich herrschenden Umgang, den Tod wie ein Nichtseiendes anzusprechen und ihn irgend wie einordbar zu machen, herausgerissen werden. Denn die Ungewißheit des Todes läßt in dieser Situation ihre Verdeckung nicht mehr zu. Es bleibt unberechenbar, ob der Patient wieder aufwacht, auch wenn andere Fälle in der gleichen Situation bei gleicher Verfassung aufgewacht sind, weil sich genauso Fälle finden werden, in denen das Gegenteil eintrat. Sowohl der Weg die Chancen anhand der Statistik zu berechnen als auch der Versuch allgemein geltende ethische Normen und daraus Gesetze zu finden, die hier eine bestimmte Handlung vorschreiben, scheitern an der Unvergleichlichkeit und Unberechenbarkeit des je einzelnen Todes. Wir wollen in Anbetracht eines· solchen Extremfalls genauer fragen, was bezüglich des Phänomens des Todes und d. h. hier des Todes des Anderen geschieht und, wie wir als Anteilnehmende dabei zur Frage des In-den-TodLassens oder Weiterlebenlassens eines Anderen stehen. Diese äußerste Weise des Mitseins mit Leben und Tod des Anderen steht zur Frage. Grundvoraussetzung für eine Besinnung über die Frage nach Leben und Tod eines Anderen kann jedoch allein die Ausgangssituation sein, daß wir dem Anderen gemäß versuchen, uns zu besinnen und nicht einen wie auch immer gearteten Eigensinn dabei verfolgen. Dieser Eigensinn kann hierbei sowohl die Gestalt des Sichklammerns am Leben des Anderen nur um unsertwillen annehmen als auch die des schlichten Wunsches, diese Situation zu beenden, aus Furcht vor der unabsehbaren Länge des eigenen Leidens in einer solchen Situation. Wenn wir bei
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einem uns vertrauten Menschen an dem Geschehen seines Lebens oder Todes Anteil nehmen, so werden wir bemüht sein, eine aus unserer Zuwendung zu ihm und unserer Anteilnahme an seinem bisherigen Leben sowie an seinem jetzigen Zwischenzustand gemäße Entscheidung zu treffen. Da im Fall des Komas er keine Entscheidung mehr ausgesprochen treffen kann, versetzt uns dieses Geschehen in eine äußerste Verantwortung. Selbst wenn der Andere in seinem wachen Leben z.B. eine eindeutige Position gegen eine künstliche Lebensverlängerung ausgesprochen hat, bleibt eine Bezugnahme darauf in der konkreten Situation fraglich. Wir können nicht eindeutig wissen, ob er in der jetzigen Situation gewillt wäre, sich dem Tod zu überlassen oder nicht. Daraus folgt, daß wir den Anderen mit letzter Gewißheit nicht gegenüber seinem Tod vertreten können. Weiter gefaßt liegt hierin eine Vorzeichnung, daß der eigene Tod wesenhaft unvertretbar ist. 125 So gedacht, wären wir dazu geneigt, diese Entscheidung den Maschinen und seinem Lebenswillen zu überlassen. Warum sollen wir hier eine unbeantwortbare Frage bewegen, wenn wir doch warten können, ob nicht irgendwann die Funktion seines Körpers eindeutig erlischt oder sich wieder kräftigt? Ist jedoch das endlose Festhalten an dieser Offenheit nicht im gleichen Sinne eine Ungewißheit? Bedeutet nicht das Weiterlebenlassen für den Anderen eine unnötige Qual? Ist der Andere nicht schon in seinen Tod gegangen und wird nur künstlich von uns festgehalten? Jedoch merkt der Andere im regungslosen Koma denn etwas von seinem Zustand? Ist die genannte Qual nicht eine eingebildete von unserer Seite aus? Und können wir überhaupt von einem Gegangensein etwas wissen oder von einem Festhalten? Wir wissen es nicht. Insofern tritt das Ungewisse in zwei Gestalten an uns heran. Wir können weder gewiß wissen, daß der Andere jetzt wünschte, in den Tod zu gehen oder weiterzuleben, noch, ob er jetzt im Weiterleben leidet oder nicht leidet. Die Frage nach Tod und Leben des Anderen hat hier ihren sonst in Grenzen nachvollziehbaren, anteilnehmbaren Charakter gänzlich verloren. Können wir insofern überhaupt irgendeine Entscheidung für den Anderen treffen? Wir wollen für diese Frage die beiden konkreten Möglichkeiten einer Entscheidung des Weiterlebenlassens oder In-den-Tod-Lassens hinsichtlich unseres Vermögens zur Verantwortung und nicht in ihrem sich gegenseitig ausschließenden Charakter bedenken. Denn je nach SitUation kann es erforderlich sein, sowohl das eine als auch das andere zu bedenken, wenn wir uns nicht grundsätzlich einer bestimmten Meinung verschrieben haben und damit uns diesem Bedenken versperren, weil wir die jeweils andere Möglichkeit für gänzlich abwegig halten. Wir stellen deshalb folgende Fragen je für sich und wollen bei
125 Vgl. zur genaueren Ausführung der Unvertretbarkeit des Todes eines Anderen: SuZ, S. 240.
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den folgenden Ausführungen, auch wenn wir beide zusammennennen, das jeweils einzelne bedenken: I. Inwiefern können wir es verantworten, daß der Andere künstlich am Leben erhalten wird, ohne wissen zu können, ob dieser Zustand nicht gegen seinen Willen geschieht und für ihn unnötige Qualen bedeutet? Können wir sein So"Leben" verantworten? 2. Inwiefern können wir es verantworten, den Anderen in seinen Tod zu lassen, wissentlich, daß wir ihn vor seinem Tod nicht vertreten können? Können wir seinen Tod verantworten? Zwei einschränkende Vorüberlegungen sind hierzu nötig. Erstens ist unser Mitsein mit dem Anderen gerade im Fall einer Entscheidung über Leben und Tod immer ein begrenztes, da es das eigenste Geschehen des Anderen ist und in unserem Bedenken bleiben soll. Insofern sind wir nur Anteilnehmende, die nur versuchen können, für sein Leben und seinen Tod ihm das Eigenste zu bewahren und zu belassen. Daraus ergibt sich zweitens, daß die Frage nach dem Vermögen der Anteilnahme an Leben und Tod des Anderen nicht in der "Macht" liegt, durch die Technik ihn am Leben zu erhalten oder dieses Leben ihm zu entziehen. Dieses "Können" ist nur letzte Konkretion eines Vollzuges des Mitseins, das wir zu verantworten haben und welches wir befragen wollen. Für diese Frage müssen wir das Phänomen der Schuld und damit des eigenen Todes thematisieren. Was in einem so schwierigen Fall geschehen kann, ist die Verweigerung, Verantwortung und Schuld auf sich zu nehmen. Diese Verweigerung kann beide Fälle betreffen. Denn sowohl das Weiterlebenlassen kann ein Verschulden einer qualvollen, unsinnigen Lebensverlängerung bedeuten wie auch gerade das In-den-Tod-Lassen eine unwiderrufliche Schuld ist. Was kann einer Verweigerung der Verantwortung zugrunde liegen? Die genannte Situation versetzt diejenigen, die in ihr stehen, wenn sie sich ihr öffnen, nicht nur in die Frage nach dem Tod des Anderen, sondern immer auch in die Frage nach dem eigenen Tod. Inwiefern? Vordergründig bin ich allein dadurch, daß der Tod überhaupt in Frage steht, in ein Geschehen versetzt, das mich an meinen eigenen Tod denken lassen kann. Besonders durch das Ungewisse des Geschehens kann ich in die Ungewißheit bezüglich meines eigenen Todes versetzt sein. Andererseits kann mich die Frage nach Schuld an Leben und Tod eines Anderen in die Frage nach der Schuld in meinem Leben überhaupt und d. h. angesichts meines ganzen Lebens und so vor meinen Tod stellen. Der eigene Tod verweist aber in ausgezeichneter Weise auf die Notwendigkeit der eigenen Verantwortung. Denn vor meinem eigenen Tod kann ich nicht fliehen, ihm gehe ich ganz allein entgegen. Wenn er mir gewahr wird, versetzt er mich in mein eigentliches Selbstseinmüssen, weil er mich gemahnt, daß ihm gegenüber ich selbst nur mich verhalten kann. Meinen eigenen Tod kann nur ich selbst über-
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nehmen, kein Anderer. 126 Damit ist aber die Möglichkeit des eigentlichen Selbstseinkönnens überhaupt eröffnet. 127 Mein eigener Tod versetzt mich in die Möglichkeit eigentlich zu sein und d. h. in die Notwendigkeit, mein eigenes Sein 128 selbst zu übernehmen und zu verantworten. Ich werde durch meinen eigenen Tod darauf verwiesen, daß allein ich selbst mein eigenes Sein verantworten muß und kann. Ich selbst stehe so in der eigenen Schuld zu meinem Sein. Der eigene Tod verweist mich insofern auf meine Schuldigkeit. Ich selbst habe meine Schuld im Sinne meiner Verantwortung für mein Sein je selbst zu übernehmen, so wie ich und nur ich selbst den Tod zu übernehmen habe. 129 Darin liegt, daß ich auch meinen eigenen Fehl, meinen Irrtum und mein Versagen zu übernehmen habe. Denn das Gewahrwerden des Todes als Ende meines Lebens versetzt mich in die Unvollkommenheit, Abgebrochenheit und Fehlerhaftigkeit meiner Vollzüge. Aber dadurch, daß ich dieses Ende allein übernehmen muß und kann, ist die Möglichkeit eröffnet, diese Schuld eigens übernehmen zu können, weil sie mein eigenstes Sein ausmacht. Dieses eigenste Schuldigsein ist jedoch nicht auf mich beschränkt, da der Vollzug meines Seins immer schon auch mein Mitsein mit den Anderen bedeutet. Aber auch mein Mitsein mit Anderen muß allein ich eigens übernehmen und dafür schuldig sein. Deshalb müssen wir besonders in einer Frage nach Schuld an Leben und Tod eines Anderen nach uns und d. h. nach uns selbst fragen, weil Schuld wesensmäßig nur eigens zu übernehmen ist. Insofern können wir formulieren: Wenn ich in die Frage gestellt bin, ob ich es mitverantworten l3O kann, daß ein Mensch
126 Vgl. SuZ, S. 240: "Das Sterben muß jedes Dasein jeweilig selbst auf sich nehmen. Der Tod ist, sofern er »ist«, wesensmäßigje der meine." 127 Vgl. zur Bestimmung des Todes als eigenste Möglichkeit: SuZ, § 53, S. 262-263, bes.: "Der Tod ist eigenste Möglichkeit des Daseins. Das Sein zu ihr erschließt dem Dasein sein eigenstes Seinkönnen, darin es um das Sein des Daseins schlechthin geht." 128 Der Gebrauch der Wendung "mein eigenes Sein" ist hier der Sprechweise Heideggers in »Sein und Zeit« entlehnt. Um das Sein zum Tode hier erst vorzuzeichnen, ist es die bewußt verkürzte Nennung des Sachverhaltes, daß ich den Zuwurf von Sein als Geworfenheit im Entwurf zu übernehmen habe und eigens übernehmen kann und in dieser Hinsicht mein Sein vollziehe, indem ich dem Zuwurf von Sein entspreche. Mein Sein ist insofern der jeweilige eigene daseinsmäßige Vollzug von Sein überhaupt. 129 Vgl. zum Phänomen der Schuld: SuZ, § 58. Anrufverstehen und Schuld, S. 280289. Schuld und Verantwortung sind hier ontologisch zu verstehen als Grundverfassung des Antwortenmüssens auf die Geworfenheit, d. h. der Ver-antwortung im Sinne der entwerfenden Antwort aus dem Zuwurf von Sein. Schuld und Verantwortung nennen insofern denselben Sachverhalt, aus dem heraus sich erst die Fragen nach persönlicher oder juristischer Schuld oder Verantwortung ergeben (Vgl. SuZ, S.286: "Seiendes, dessen Sein Sorge ist, kann sich nicht nur mit faktischer Schuld beladen, sondern ist im Grunde seines Seins schuldig, welches Schuldigsein allererst die ontologische Bedingung dafür gibt, daß das Dasein faktisch existierend schuldig werden kann."). 130 Mitverantworten ist hier in dem doppelten Sinne gemeint, daß ich erstens mit Anderen eine Entscheidung mitverantworte und zweitens im Mitsein mit dem Anderen nur
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am Leben gehalten oder in den Tod gelassen wird, bin ich im besonderen Maße in meine eigene Schuld gestellt. Gerade durch die etwagige Verantwortung für das unwiderrufliche Ende eines Menschen bin ich selbst aufs Äußerste auf mein eigenes Schuldig sein und somit auf meinen eigenen Tod verwiesen, weil die Schuld, einen Menschen in den Tod zu lassen, im äußersten Sinne unwiderrufbar ist. Deshalb setzt gerade an dieser Stelle die größte Fluchttendenz ein. Ihr liegt aber zugrunde, daß ich mein eigenes Schuldigsein fliehe, d. h. letzthinnig meinen eigenen Tod, weil ich vor dem Tod meine Schuld ganz allein auf mich zu nehmen habe. Infolgedessen tritt bei der Begegnung mit der Entscheidung über Leben und Tod eines Anderen in äußerster Weise die Konfrontation mit dem eigenen Vermögen schuldig zu sein auf und damit auch die Furcht vor der Schuld. Was hier den Zugang zum eigentlichen Selbstseinkönnen und so Schuldigseinkönnen verhindert, ist der Schuldbegriff des Manselbst, der die Schuld nach allgemeinen gesellschaftlichen, ethischen bzw. juristischen Regeln ausrichtet. Diese können beurteilt werden und damit kann der Mensch in einem beurteilund verurteilbaren Manselbst gefaßt werden und sich danach ausrichten. Die Furcht, die hieraus erwächst, ist die Furcht vor dem Nichterfüllen des Man. Sie ist letztlich Furcht vor dem eigenen Tod, in der Gestalt der Furcht fehlerhaft und gerichtet zu sterben. Dabei entsteht das Paradox, daß gerade dasjenige Phänomen, das mir das Eigentlichseinkönnen eröffnet und mich insofern von der Furcht im Manselbst befreien kann, von mir verdeckt werden kann. Wenn ich mich dem eigenen Tod versperre, werde ich in die Furcht vor der Schuld versetzt. Mit einer Versperrung des eigenen Todes und des eigenen Fehls verdecke ich aber das Phänomen, daß ichje schon schuldig bin. Der Mensch hat schuldig zu sein. Aber diese eigene Schuld bemißt sich gerade nicht am Man, sondern ist je eigene Verantwortung, der nur ich selbst mich stellen kann und von der nur ich selbst erfahren kann, ob und wo ich gefehlt habe. Das Ausweichen vor der Schuld hat die Schuld in ihrem Wesen nicht begriffen. Die eigentliche Schuld ist frei von Moral, Man oder Allgemeinheit. Sie ist nur im eigentlichen Selbstseinkönnen zu erfahren und auszuhalten. Wenn ich nun in eine Entscheidung gestellt bin, die über Leben und Tod geht, so bin ich im Äußersten angerufen, schuldig zu sein. Denn auch wenn ich die Schuld fliehe, bleibe ich schuldig. Die Flucht hieraus kann so aussehen, daß ich es der Maschine, den Gesetzen oder den ethischen Regeln überlasse, diese Situation zu entscheiden. Beide Entscheidungsmöglichkeiten sind hiervon betroffen. Wenn ich eine Entscheidung mittrage, die allein aufgrund eines Regelwerkes in den möglichen Gestalten von technischer Berechnung, juristischen Gesetzen oder ethischen, allgemeingültigen Normen ein Weiterlebenlassen ver-
mit-verantworte, weil der Tod das Eigenste des Anderen bleibt.
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anlaßt, bleibe ich dafür schuldig, auch wenn ich vermeine, mich hinter diesem Regelwerk verstecken zu können. Genauso bleibe ich schuldig, wenn ich eine Entscheidung allein anhand eines Regelwerkes mittrage, die den Anderen in den Tod entläßt, auch wenn ich glaube, diese Schuld auf die Richtigkeit des Regelwerkes in diesem Fall abwälzen zu können. So habe ich in beiden Fällen die Schuld nicht eigens übernommen, sondern sie der Regel überlassen. Ich bleibe aber trotz dieses Versuches, die eigene Schuld zu verdecken, für mein Mitsein mit dem Anderen schuldig, da ich dieses Mitsein in dieser Weise vollzogen habe. Wenn ich mich jedoch darauf einlasse, die mir sich gebende Schuld im Mitsein mit dem Anderen eigens zu übernehmen und allein zu verantworten, so kann es mir gegeben sein, sowohl die Schuld für ein Weiterlebenlassen als auch die Schuld für ein In-den-Tod-Lassen eigens zu übernehmen trotz und in ihrer jeweiligen ungewissen Offenheit des Fehls. Eine solche Schuld eigens tragen zu können entspringt dem Vermögen, vor seinem eigenen Tod stehen zu können. Dieses Können als Vermögen ist jedoch keine Macht des freien Selbstentscheidenkönnens eines nun todes- und lebensverachtenden, autonomen, losgebundenen Selbstes in der Verfügungsgewalt über Leben und Tod. Der in dieser Situation entstandene "Freiraum" eröffnet nur vordergründig scheinbar die Macht der freien Entscheidung über Leben und Tod durch die Möglichkeit, die Maschinen abzuschalten oder anzulassen. Denn wenn wir uns dieser Schuld stellen, versetzt sie uns in das Ungewisse und Unberechenbare und so nicht mehr Mächtige über Leben und Tod. Aus diesem Ungewissen und Unberechenbaren des Todes entspringt der eigentliche "Freiraum", d. h., daß wir vom Geschehen um Leben und Tod freigesetzt werden und uns dieser Befreiung stellen müssen. Die Frage nach Leben und Tod eines Anderen kann uns in die Befreiung vor dem Tod überhaupt und d. h. auch immer vor dem eigenen Tod versetzen und so in das Vermögen, aus dieser Befreiung Schuld eigens zu übernehmen anstelle sie uneigens abzuschieben, weil wir gewahr werden, daß wir schuldig zu sein haben. Vermögen heißt hier insofern das wesenhaft Mögliche einer Ausgesetztheit in das äußerste Ungewisse und Eigenste des Todes, das dem Menschen eröffnet, seine Schuld im Mitsein eigens zu übernehmen. Der Mensch vermag es, in eine solche ungewisse Schuld versetzt zu sein und sie eigens zu übernehmen, wenn er zu seinem Tod und so zu seiner Schuld eigens zum Stehen kommt. Ob wir jedoch dieses Vermögen aushalten und unsere eigene Schuld eigens übernehmen, bleibt ein jeweiliges, entscheidungshaftes Geschehen, das nicht berechenbar ist, sondern geschieht und errungen werden muß. Daraus folgt, daß das Vermögen der eigensten Übernahme der eigenen Schuld gegenüber dem Tod zwar wesenhaft dem Menschen möglich ist. Da dieses Vermögen jedoch gerade dem unberechenbaren Ungewissen des Todes entspringt, bleibt es jeweilig entscheidungshaft zu erringen im Geschehen zwischen dem unberechenbaren Ungewissen und meinem Vermögen, mich auf das Ungewisse einzulassen. Deshalb läßt sich aus dem Bedenken der Frage nach dem Mitsein mit
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Leben und Tod eines Anderen keine feste Regel für alle zukünftigen Fälle ableiten, sondern diese Schuld bleibt eine jeweils Auszuhaltende. Insofern können wir folgern: Da ich sowohl wesenhaft als auch, wenn ich an einem Geschehen über Leben und Tod eines Anderen teilhabe, konkret schuldig bin und zu sein habe, stellt sich die Frage nach dem Wie der Übernahme von Schuld. Nicht das Was der Entscheidung ist hierbei für die Übernahme primär ausschlaggebend, sondern das Wie der Übernahme des wesenhaft Schuldigseinmüssens. Wir müssen infolgedessen an dieser Stelle das Fragwürdige sowohl der Technik als auch der Regel des Gesetzes oder der ethischen, allgemeingültigen Norm erneut bedenken. Das Gefährliche des hierin sich gestaltenden Denkens des Bestandes besteht nicht in der konkreten Technik, dem Gesetz oder der ethischen Norm. Betrachten wir zunächst die Technik, so ist zu betonen, daß sie weder zu verfluchen noch blind zu bejahen ist. Sie mag sowohl an gewissen Stellen nützlich sein, als sie an anderen Stellen auch fragwürdig ist. In unserem konkreten Fall liegt das Gefährliche der Technik darin, daß wir selbstverständlich vermeinen können, es ihr zu überlassen, was mit Leben und Tod geschieht, obwohl wir faktisch damit schon schuldig werden. In gleicher Hinsicht verhält es sich mit den Gesetzen und den ethischen Normen in einem solchen Fall. Sie können zur Regelung zunächst dienlich sein, aber sie bergen die Gefahr, sie selbstverständlich anzuwenden, ohne dabei zu sehen, daß wir dennoch konkret schuldig bleiben. Denn die Schuld am Leben und Tod eines Anderen, wie in unserem Fall, ist im ausgezeichneten Maße nicht abwälzbar, sondern bleibt unser Verschulden. Betrachten wir das Denken des Bestandes überhaupt, so können wir folgern, daß das eigentlich Gefährliche dieses Denkens darin besteht, uns das Angebot zu machen, die eigene Schuld abzugeben. Dieses Denken hat in sich aufgrund seiner Ausrichtung nach einer allgemeinen Regel die Tendenz, den Menschen in die Illusion der Verantwortungslosigkeit, Schuldlosigkeit und Entscheidungslosigkeit zu drängen, die einer genaueren Betrachtung nicht standhält. Weil dieses Denken in sich die Ausrichtung nach einer allgemeinen Regel trägt, kann es jedoch weder das je Eigene des Lebens und Todes des je einzelnen Anderen noch die nur je eigen zu übernehmende und übernehmbare Schuld erfassen. Eine Frage über Leben und Tod und eine Schuld an Leben und Tod kann deshalb dem Wesen dieser Phänomene nach keine Maschine und kein Regelwerk abnehmen. Infolgedessen müssen alle ethischen und juristischen Diskussionen über diese Frage solange fruchtlos bleiben, solange sie nach einer Regel für die Hantierbarkeit von Leben und Tod suchen. Sie vermögen zwar richtige Leitlinien zu erstellen, die ihren begrenzten Nutzen haben, aber letztlich und d. h. in unserem Fall am entscheidenden Ende, können sie die Anteilnehmenden nur wieder in ihre eigene Verantwortung stellen. Wie sich dieser eigenen Verantwortung zu stellen ist, vermag erst ein Denken zu eröffnen, das den Tod in
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seinem wesensmäßigen Charakter der Ungewißheit und Unberechenbarkeit zu denken bereit ist. Deshalb wollen wir, nicht aus Geringschätzung der Bemühungen und der Notwendigkeiten, ein Regelwerk zu suchen, hervorheben, daß diese Bemühungen letztlich fruchtlos bleiben, solange sie sich im Denken des Bestandes bewegen. Denn dieses Denken vermag es nicht nur nicht, den Tod zu denken, weil dieser sich durch seine Unberechenbarkeit diesem Denken entzieht, sondern muß wesensmäßig den Tod als Unberechenbares fliehen und ihn zu beherrschen versuchen. Er aber reißt das Denken des Bestandes des Willens zur Macht ein. Und diesen Riß muß das Denken des Willens zur Macht fliehen und einzuordnen versuchen, weil der Tod nicht irgendeine Stelle dieses Denkens, sondern seine tiefste Wurzel, d. h. die wesenhafte Ansprechbarkeit und so Bestellbarkeit von jeglichem Seienden bedroht und es dort zum stürzen bringt, wenn der Tod nicht geflohen wird. Denn keiner genaueren Betrachtung des Phänomens des Todes hält ein Versuch seiner Ansprechbarkeit und so Einordbarkeit stand, gleichgültig welches Regelwerk dieses versucht. Der Tod entreißt sich dem Versuch seiner Hantierbarkeit, weil er sich nicht wie Seiendes ansprechen läßt. Der Tod ist nicht ein Nicht-Seiendes, sein Nicht und Nichts wird erst befragbar, wenn wir uns auf seine Unberechenbarkeit und Ungewißheit einlassen. Dann aber kann die Befreiung durch den Tod geschehen, die uns in das wesenhafte Vermögen versetzt, zum Tod und d. h. zur Schuld an Leben und Tod eigens zum Stehen zu kommen. 131
c) Das Mitsein mit dem Sterben eines Anderen Der Fall der Entscheidung über Leben und Tod eines Anderen hat das Geschehen des Mitseins mit dem konkreten Sterben eines Anderen nur implizit berührt. Wir wollen deshalb als zweite Begegnisweise des Todes nun explizit das Mitsein als Geleit des Sterbens eines Anderen bedenken. Wenn ich einen Menschen, der mir nahesteht, in den Tod begleite, werde ich durch die Unabänderlichkeit dieses Geschehens in einem äußersten Ausmaß in die Frage nach Flucht, Aushalten und Mitsein gestellt. Bei einem alten Menschen mag dies zu-
131 Der Einwand, daß ein Bedenken der Schuld am Tod eines Anderen im Falle einer Entscheidung ihn in den Tod zu lassen, eine Gefahr hinsichtlich eines möglichen moralischen Freibriefes für ein Nachdenken über Euthanasie und minderwertiges Leben, das getötet werden kann, beinhaltet, ist angesichts der ausgeführten wesenhaften Ungewißheit gegenüber dem Tod eines Anderen und der wesenhaften Unmöglichkeit, aus einer Entscheidung eine allgemeine Regel zu machen, weil der je einzelne Tod unvergleichbar ist, völlig abwegig. Dementgegen stellt vielmehr der Versuch, im Dienste des menschlichen Lebens allgemeine Leitlinien zu finden, die ein Anlassen oder Abschalten von lebenserhaltenden Maschinen erlauben, ein Wertdenken dar, dessen Kehrseite das Denken des unwerten Lebens ist.
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nächst leichter erscheinen, bei einem jungen Menschen entsetzt die Unfaßlichkeit und Unbegreiflichkeit dieses Geschehens in einem außergewöhnlichen Maße. Der Tod in seiner Unwiderruflichkeit, der ein junges Leben bricht, hinterläßt zunächst tiefste Trauer und Bestürzung. Auf dem Weg eines Geleites bis zum Tod und danach mag man sich zwar zu Erklärungen und Beruhigungen geflüchtet haben. Es bleibt aber mit dem Eintritt des Todes der unhintergehbare Umstand des abgebrochenen Lebens, des Unvollendeten und der Trauer um den unersetzbaren Verlust. Wenn wir eine solche Trauer nach dem Tod ohne Ausweichen vor der Unerklärlichkeit durchleiden, können folgende Momente uns bewegen. Mit dem Dahingehen eines jungen Lebens, das noch voller Absichten für die Zukunft war, kann sich die Frage nach dem Sinn dieses frühen Todes stellen, und selbst wenn ich die Suche nach einem Sinn hinter mir lasse, bleibt das Mitleiden mit dem Anderen an dieser Abgebrochenheit in dem mir gegebenen Rahmen. Die Unwiderruflichkeit des Todes kann zudem die Frage nach eigenen Fehlern, die diesen Tod mitverantworten, aufbringen, wie auch die Frage nach dem eigenen Fehl überhaupt, der sich im Leben mit dem Verstorbenen ergeben hat und der nun nicht mehr gut zu machen ist. In ähnlicher Weise mögen sich auch Fragen nach dem Fehl des Verstorbenen an mir stellen. Diese Phänomene stehen alle in dem Faktum des unhintergehbaren Verlustes und der Unersetzbarkeit des Anderen. Die Momente des Mitleidens mit dem Anderen, des gegenseitigen und so zweifachen Fehls und des Verlustes stehen durch die Unwiderruflichkeit des Todes notwendig als zu tragende da. Da der Tod den Anderen entzogen hat, müssen sie in ihrer Abgebrochenheit, Ungelöstheit und Fehlerhaftigkeit ertragen werden. Wenn ich den genannten Phänomenen nachgehe, ziehen sie mich zurück zur Besinnung über den Toten. Da der Tod unwiderruflich ist, ruft er, wenn ich ihn nicht fliehe, zu den Fragen nach Fehl, Leid und Verlust. Der Ruf des Unwiderruflichen ruft in die Besinnung, so wie die Fragen nach Verlust, Leid und Fehl zum Unwiderruflichen hinziehen. Diese Besinnung läßt deutlich werden, inwiefern ich in den genannten Momenten nur meinen Frieden mit dem Geschehen suche oder inwiefern ich wahrhaftig in dem Geschehen des Geleites zum Stehen komme. Denn wenn ich dem Ruf folge und ihm nicht auszuweichen versuche, stellt er mich vor das Unwiderrufliche. Wenn jedoch diese Besinnung getragen und das Unwiderrufliche ohne Ausflüchte in seiner ganzen Schwere so ausgehalten wird, daß Leid, Trauer und Fehl ganz in mir aufgehen und mir aufgehen, wandelt sich der Ruf des Unwiderruflichen. Dann spricht aus dem unwiderruflichen Ende nicht mehr allein der Aufruf, das Unfaßliche zu tragen, sondern aus diesem Ganzsein und Zuendesein des Lebens des Toten spricht Heilvolles. Dieser heilvolle, weil ganze Friede kann in dem Augenblick eintreten, da ich meinem Fehl am Verstorbenen sowie meiner ganzen Trauer um ihn, als auch seinem Fehl an mir sowie der Abgebrochenheit seines Lebens in dem mir gegebenen Rahmen unverstellt ins Angesicht blicke und damit um die nun erreichte Ganzheit seiner und unseres Miteinanderseins weiß. In dem Augenblick, in dem
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ich in dieser Weise ganz zum Stehen gegenüber dem Tod des Anderen gekommen bin, spricht aus der zwar unerbittlichen, nicht zu beschönigenden Ganzheit des Toten der heilvolle Friede. Dieser Augenblick ist weder errechenbar noch erzwingbar, aber ebensowenig unmöglich, sondern gerade durch das faktische Ganzsein des Lebens des Toten als Möglichkeit eröffnet. Wer einen solchen Augenblick erfährt, weiß, wann er erreicht ist, weil dieser Augenblick keine Selbsttäuschung und keinen eingebildeten Frieden erduldet. Vor der Unwiderruflichkeit des Todes eines Anderen kann kein eingebildeter Friede herrschen, weil die Unwiderruflichkeit mich in sie zurückruft, wenn ich sie nicht überhören will und sie fliehe. Wenn jedoch für einen Augenblick der heilvolle Friede geschieht, geschieht er als Geschenk des Toten an mich, wenn ich es vermag, mich seinem Tod in der heil vollen Unvollkommenkeit bzw. vollendeten Abgebrochenheit hinzugeben. Das Vermögen zur Hingabe an das unfaßliche Ende sowie die Gabe der heil vollen Ganzheit des Lebens des Toten, bleiben dabei ein zu erringendes und zugleich unerzwingbares Geschehen als ein letztes Geschenk unseres Miteinanderseins. Das Geschenk des Heiles des Toten verweist auf eine Weise des Geleites des Todes eines Anderen, die das Vermögen zu einem heilvollen Ganzseinkönnen des Menschen eröffnet. In dieser Eröffnung liegt die Möglichkeit eines eigentlichen Mitseinkönnens mit dem Toten sowie einer Erfahrung des heilvollen Ganzseinkönnens überhaupt, einerseits des Ganzseins und so Heilseins des Anderen und andererseits des Heilseins meiner, da mir dieses Heilvolle gegeben sein kann.
d) Der Tod im Opfer des eigenen Lebens Nachdem wir uns zwei Bereiche des Mitseins hinsichtlich des Todes vor Augen geführt haben, wollen wir als abschließenden Bereich unseres Vorblicks auf Phänomene des Todes uns dem Sein zum eigenen Tod anhand des sehr fragwürdigen Feldes des Opfers im Sinne des Opfems des eigenen Lebens zuwenden. Heidegger erwähnt in den »Beiträgen« das Opfer nur jeweils kurz als eine Weise der Bergung, ohne diese weiter auszuführen. 132 Im "Nachwort zu »Was ist Metaphysik?«" aus dem Jahre 1943 gibt er aber eine ausführlichere Kennzeichnung des Wesens des Opfers. \33 Wir greifen aus ihr folgende Charakterisierung heraus:
132 \33
Vgl. GA 65, S. 70, 391. WM, S. 301-310, zum Opfer: S. 307-309.
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"Das Opfer ist heimisch im Wesen des Ereignisses, als welches das Sein den Menschen für die Wahrheit des Seins in den Anspruch nimmt. Deshalb duldet das Opfer keine Berechnung, durch die es jedesmal nur auf einen Nutzen oder eine Nutzlosigkeit verrechnet wird, mögen die Zwecke niedrig gesetzt oder hoch gestellt sein. Solches Verrechnen verunstaltet das Wesen des Opfers. Die Sucht nach Zwecken verwirrt die Klarheit der angstbereiten Scheu des Opfermutes [... ]." (WM, S. 308)
Da Heidegger vom Opfer überhaupt spricht, können wir diese Ausführungen auch in der für unsere Thematik relevanten weitesten Ausformung des Opfers des eigenen Lebens nehmen. Drei aus der Geschichte geläufige Fälle wollen wir hierzu heranziehen: das Opfer im Krieg, das Opfer im Kampf des Widerstandes sowie das Opfer für eine religiöse Haltung. Alle drei Fälle sind verfanglich. Wir wollen deshalb durch eine kurze Vorüberlegung den Boden für eine möglichst vorurteilsfreie Betrachtung gewinnen. In allen drei Fällen kann das Ziel des Sichopferns fragwürdig sein. Sowohl gibt es Kriegsopfer in einem durch einen Tyrannen aufgezwungenen Angriffskrieg als auch in der Abwehr genau dieses Angriffes. In gleicher Hinsicht lassen sich Beispiele für ein fanatisches Märtyrertum für eine angestrebte Gewaltherrschaft einer politischen Strömung finden sowie für ein Seinlebenlassen gegen diese Gewaltherrschaft. Und auch im dritten Fall des Opfers für eine religiöse Haltung können wir Beispiele für Verblendung und Mißbrauch, aber auch für ein ehrenhaftes Einstehen aufsuchen. Letzthinnig ist hier auch an den Opfertod Christi zu denken. Diese Überlegung macht deutlich, daß die Frage nach dem Opfer weder eine kategorische Verneinung dieser Möglichkeit noch eine kategorische Bejahung ihrer im Sinne einer Pflicht erlaubt. Soweit hätten wir das Bedenken der Möglichkeit eines Sichopferns zwar eröffnet. Jedoch verbleibt eine solche Gegenüberstellung in einem zielgerichteten Denken, das aufgrund einer bestimmten Ausrichtung nach einem ethischen Wert das eine Opfer für verblendet und das Andere für ehrenhaft halten mag. Heidegger wehrt jedoch genau diese Ausrichtung nach einem Ziel der Berechnung für das Opfer ab, auch weil eine ethische Frage nicht in den Bereich des wesenhaften Vermögens reicht, sondern in einem Wertdenken stekkenbleibt, ohne die Frage nach dem Vermögen eines solchen Vollzuges zu stellen. Wir wollen deshalb beim Bedenken des Opfers uns eindeutiger moralischer Urteile enthalten und die politische und ethische Frage offen lassen. Was wir mit Heidegger versuchen zu charakterisieren, ist denn auch zunächst nichts mehr und nichts weniger als die Möglichkeit des Selbstopfers im Sinne des wesenhaften Vermögens des Menschen. Diese gilt es im Blick zu behalten. Die hier gedachte Möglichkeit leitet sich jedoch ebenfalls nicht aus der vordergründigen Fähigkeit ab, daß es der Mensch konkret vermag, sein Leben für etwas hinzugeben. Gerade dieses "für etwas" wird von Heidegger kritisch bedacht, woraus wir entnehmen müssen, daß es für die Frage nach dem Wesen des Opfers nicht primär relevant ist, ob dieses "für etwas" des Opfers das Vaterland, die Demokratie, die Ehre Deutschlands gegen Hitler, die Menschlichkeit oder ein sonstiges Ziel ist.
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Heidegger spricht dementgegen vorn Opfer, das keine Berechnung duldet. Dieses Nichtdulden heißt, daß bei einern Opfer, bei dem das "für etwas" allein leitend ist, das Wesen des Opfers nicht gesehen wird. Deshalb kann auch niemand jemanden zum Opfer zwingen, wie im Fall einer wie auch immer ausgerichteten Pflicht oder Moral, da so das Wesen des Opfers verkehrt wird. Das Opfer bleibt je eigenes und muß je eigenes freies Opfer als Gabe bleiben. Das Wesen des Opfers gründet in der "angstbereiten Scheu" (ebd.). Angstbereitschaft heißt hier, wie Heidegger in ))Sein und Zeit« ausführt l34 , zunächst nur die Bereitschaft, des eigenen Todes gewahr werden zu wollen. Wir sind dann angstbereit, wenn wir uns einlassen auf das Sichängstigen um das eigene Selbstseinkönnen. Im Vermögen, seines eigenen Todes gewahr zu werden, und dem darin liegenden Selbstseinmüssen, da nur ich meinen Tod allein übernehmen kann und zu übernehmen habe, liegt für das Opfer, daß kein Zweck meinen Tod übernehmen kann, wenn ich ihn eigens übernehme. Deshalb verwirrt die Sucht nach Zwecken "die Klarheit der angstbereiten Scheu des Opfermutes" (WM, S. 311), weil sie das wesenhafte Vermögen verdeckt, daß ich meinen Tod nur allein zu übernehmen habe. Und nur in diesem Vermögen liegt die Möglichkeit zur eigentlichen Vollzugsweise des Opfers. Heidegger nennt das Opfer auch folgendermaßen: "Das Opfer ist die allem Zwang enthobene, weil aus dem Abgrund der Freiheit erstehende Verschwendung des Menschenwesens in die Wahrung der Wahrheit des Seins für das Seiende." (ebd., S. 307)
Verschwendung heißt hier nicht Vernutzung eines Menschenmaterials für Zwecke eines Kampfes oder einer Ideologie. Wir müssen Verschwendung als Sich-Verschwenden-können denken. Insofern kann es dem Menschen gegeben sein, sich über sein bloßes Weiterleben als vorhandenes Menschending mit seinem Leben für die ihm in seinem Alleinsein vor dem Tod gewährte Wahrung zu verschwenden, d. h. für die Wahrung, die sich allein ihm in seinem Gewahrwerden des eigenen Todes zuspricht. Verschwendung heißt so, reicher zu sein als das bloße Weiterleben und diesen Reichtum verschwenden zu können, auch in Abgrenzung von der Seinsweise des Tieres, dem diese Verschwendung wesensmäßig nicht möglich ist. Das Opfer ist weitergehend "allem Zwang" enthoben, weil es im Gewahrwerden des eigenen Todes als des tiefsten Abgrundes der Freiheit aus dieser Freiheit befreit ist. Allein aus dieser Befreiung der Freiheit des tiefsten Abgrundes des Todes vermag der Mensch zwanglos seinen eigenen Tod zu übernehmen. Durch diese Befreiung ist der Mensch jedoch nicht mächtig über seinen
134 Vgl. zur Angst in »Sein und Zeit«: § 40, S. 184-191 sowie S. 251 und 265f, zur Angstbereitschaft: S. 297.
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Tod, den er in vermeintlicher Verachtung nun für ein Ziel einzusetzen vermag. Vielmehr ist er freigesetzt, dadurch daß er allein seinen Tod zu übernehmen hat. Dabei gibt mir gerade der Tod keine Anleihe an eine Regel oder eine klare Bestimmung aus einer Pflicht oder Moral, sondern er als der tiefste Abgrund des Ungewissen versetzt mich in die zu übernehmende ungewisse Freiheit des Abgrundes, die es mir unmöglich macht, diesen Abgrund zu berechnen und mein Ende rechnerisch einzusetzen. Erst insofern "kann" der Mensch sich "für etwas" opfern, wenn er es vermag, seinen Tod eigens zu übernehmen. Nur opfert er sich dann nicht primär "für etwas", sondern geht den allein ihm überantworteten Weg in seinen Tod. Deshalb ist ein Urteil über das Opfer eines Anderen wesensmäßig in letzter Hinsicht unmöglich, weil ich seinen Tod nicht vertreten kann. Er bleibt der seine. Was Heidegger hier Opfermut nennt, ist infolgedessen in keiner Weise mit einer furchtlosen Todes- und Lebensverachtung gleichzusetzen. Gerade die angstbereite Scheu des Opfermutes nennt eine ganz andere Weise des Mutes. Die Angstbereitschaft als Bereitschaft zum Gewahrwerden des eigenen Todes ist so zugleich das Schuldigseinwollen im Sinne der Bereitschaft, das eigene Sein und so Sein überhaupt eigens zu übernehmen. Die Scheu der Angstbereitschaft verstehen wir aus dem dritten Moment der Grundstimmung in den »Beiträgen«. Sie ist hier die Wahrung, die das Nichts wahrt, d. h. in unserem Fall den eigenen Tod als das tiefste Nichts wahrt, darin aber immer zugleich das so geschehene Sein wahrt und seiner Wahrheit zu entsprechen sucht. Deshalb ist die angstbereite Scheu des Opfermutes keinesfalls das eigenmächtige Sichtöten, weil die Scheu dem tiefsten Nichts des eigenen Todes zu entsprechen versucht und sich von dieser Verbergung durchstimmen läßt. Insofern wahrt die Scheu des Opfermutes die aus dem Nichts des Todes sich zuwerfende Wahrung der Wahrheit des Seins. Das Verborgene und so Geheimnisvolle, weil allein mir gewahr Werdende des eigenen Todes zu wahren, darin liegt die angstbereite Scheu des Opfermutes. Durch eine solche Durchstimmung kann demnach zunächst nur die Bereitschaft des Sichopfernwollens eröffnet sein. Aus dieser eröffneten Bereitschaft kann im konkreten Moment eine Entscheidung für das konkrete Opfer, aber auch dagegen fallen oder die Situation kann das Opfer nicht zulassen. Denn dem Zuspruch des eigenen Todes zu folgen eröffnet allererst das wesenhafte Vermögen der Gabe. Daß aber aus dem Gewahrwerden des eigenen Todes auch eine Gabe des eigenen Lebens konkret geschehen kann, eröffnet dem Menschen eine Weise unter anderen, seinen Tod eigentlich zu vermögen, in der er seinem Tod und darin seinem eigensten Sein, das er zu sein hat, in eigenster Übernahme entspricht, indem er in dieser Weise seinem Tod in den konkreten Tod folgt. Bedenken wir nun, was sich in den drei Phänomenen des Mitseins in der Frage nach Leben und Tod eines Anderen, des Mitseins mit dem Sterben eines Anderen sowie im Sein zum eigenen Tod im Sinne des Sichopferns gezeigt hat, so können wir folgendes zusammenfassen: Alle drei Fälle stellen deshalb Extrem-
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situationen dar, weil der Tod in ihnen in einem äußersten Maße uns aus der Alltäglichkeit herausreißen kann und uns vor das unberechenbare Ungewisse, Unwiderrufliche und Unvergleichbare des Todes stellt. Damit erfährt der Tod an sich selbst eine erste Kennzeichnung hinsichtlich dieser Momente. Zugleich zeigte sich im Phänomen des Gewahrwerdens des eigenen Todes das wesenhafte Vermögen des Menschen, vor seinem eigenen Tod zu stehen, und das hieraus entspringende Vermögen des Schuldig- und Selbstseinmüssens und so könnens. Damit erfährt das Sein zum Tode eine erste Kennzeichung als die eigenste und unvertretbare Möglichkeit des Menschen. Das Mitsein mit dem Sterbenden nach seinem Tod verwies jedoch weitergehend auf das Phänomen des Heiles aus dem Tod sowie des Heilwerdens im Sein zum Verstorbenen. Damit zeigte sich eine Weise des Ganzseinkönnens im Mitsein mit dem Anderen, die Heidegger in »Sein und Zeit« für die Analyse der Ganzheit des Daseins ablehnt, um allein das Sein zum eigenen Tod und hierin das Ganzseinkönnen zu befragen. Wir werden auf diese Weise des heilvollen Ganzseinkönnens und seine Auswirkung für die Frage nach dem Sein zum Tode in der kritischen Entfaltung der Wandlung des Seins zum Tode von der Blickbahn aus »Sein und Zeit« zu den »Beiträgen« zurückkommen. Alle drei Phänomene haben zudem gezeigt, wie sich aus einem phänomenologischen Entfalten der Frage nach dem Tod keine ethischen, allgemeingültigen Handlungsanweisungen ableiten lassen, gerade weil das Phänomen des Todes an ihm selbst sich solcher Bemühungen entzieht. Deshalb mußten wir, um beim Phänomen zu bleiben, es offen lassen, ob in der konkreten Situation es richtig ist, abzuschalten oder nicht, den eigenen Tod zu suchen oder nicht, aber auch, ob sich das Heilvolle öffnet oder nicht. So wichtig diese Fragen in ihrer Konkretion sind, zeigen sie alle bei genauerer Betrachtung, daß sie allein schon in ihrer Phänomenalität auf eine Not, das Ungewisse und Unberechenbare zu bedenken, verweisen. Diesem nachzugehen kann allein Aufgabe des phänomenologischen Denkens sein, wenn es bemüht ist, dem Phänomen selbst nachzudenken. Darin liegt jedoch keine Flucht in die scheinbar abstrakten Fragen nach wesenhaftem Vermögen und dem Phänomen an sich, sondern das Phänomen selbst verlangt zu einem Denken zu gelangen, das den Anspruch auf ethische Allgemeinheit und Richtigkeit preisgibt, ohne jedoch die Frage nach dem Wesen dieser Phänomene aufzugeben. Heidegger verweist im "Brief über den Humanismus" darauf, daß das griechische Wort ethos, an das die heutige "Ethik" sich anlehnt, als Aufenthalt zu denken ist. 13S Insofern stellt sich die Frage, welcher Aufenthalt des Menschen mit dem Tod zu bedenken ist, wenn wir denn die 135 BüH, WM, S. 349ff. Vgl. zur Auslegung des Wortes ethos als Aufenthalt im Humanismusbrief und den hierin sich stellenden "ethischen" Fragen im weitergehenden Bezug zur physis und "Natur": Riedel, Manfred, Naturhermeneutik und Ethik im Denken Martin Heideggers, in: Heidegger Studies 5, 1989, S. 153-172.
12 Millier
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"ethische" Frage nach dem Tod stellen wollten. Der Aufenthalt beim Tod gemäß eines moralischen, ethischen oder juristischen Gesetzes ist wesens mäßig ein abständiger, der das Phänomen an ihm selbst in seiner Unberechenbarkeit übersehen muß, geschweige denn, daß dieser Aufenthalt sich dem je Einzelnen des Todes eines Menschen auch nur annähern könnte. Einen dem Phänomen gemäßen Aufenthalt zu bedenken ist erst möglich, wenn der Aufenthalt den Tod aushalten will, anstatt ihn zu fliehen, wie es jedes Regelwerk vollzieht. Den Aufenthalt aus dem Aushalten des Todes zu vollziehen, verlangt ein Aufgeben der Flucht in eine Sicherung vor ihm. Einen neuen Aufenthalt zu eröffnen, ist erst möglich, wenn das Denken bereit ist, den Tod, so wie er sich an ihm selbst zeigt, zuzulassen. Das bisher Bedachte ist insofern als ein erster Vorblick auf die Eröffnung des Vermögens eines eigentlichen Aufenthalts beim Tode, wie ihn Heidegger denkt, zu verstehen.
§ 12. Der Tod im Sein und das Sein zum Tode
a) Die Aufgabe der Frage nach dem Tod und dem Sein zum Tode in den »Beiträgen« Wenn wir nun das ausdrückliche Denken zum Tod und zum Sein zum Tode in den »Beiträgen« befragen, so wollen wir zunächst Heideggers Abgrenzungen gegenüber gegenläufigen Auslegungen seines Bedenkens des Todes nachgehen. Das Denken von Tod und Sein zum Tode ist keine "»Philosophie des Todes«" (GA 65, S. 283), weil es weder weltanschaulich noch anthropologisch ist. Die Frage nach dem Tod ist innerhalb der Grundfrage nach dem Sein überhaupt zu bedenken und nicht etwa, wie Heidegger sich etwas drastisch ausdrückt, "um den Tod »verständlich« zu machen für Zeitungsschreiber und Spießbürger" (ebd., S. 286). Diese Grundfrage unterläuft gerade jegliches Denken einer Weltanschauung und die darin angestrebte Verständlichkeit. Auch bedeutet ein Fragen nach dem Sein zum Tode des Menschen keine weltanschauliche Bestimmung seiner aus dem Tod, weil es nicht darum geht, "das Menschsein in den Tod aufzulösen und zur bloßen Nichtigkeit zu erklären" (ebd., S. 285). Gleiches gilt für die Frage nach dem Sein, wenn Heidegger formuliert, "daß daher hier [im Denken der Wahrheit des Seins] nicht und niemals der Tod als die Verneinung des Seyns oder gar der Tod als »Nichts« für das Wesen des Seyns genomIilen wird" (ebd., S.284). Auch wenn im Gesamten dieser Arbeit der Schwerpunkt auf die Frage nach dem Tod gelegt wird, so ist dies nur innerhalb der Frage, wie Sein geschieht, zu verstehen, ohne dabei die Seinsfrage auf das Phänomen des Todes verengen zu wollen. Welche tiefgreifende Bedeutung jedoch die Frage nach Tod und Sein zum Tode ·für das Denken der Seinsfrage und des anderen Anfangs hat, deutet fol-
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gende Stelle an: "Der Vollzug des Seins zum Tode ist nur den Denkern des anderen Anfangs eine Pflicht, aber jeder wesentliche Mensch unter den künftig Schaffenden kann davon wissen." (ebd., S. 285, Herv. v. V.) Pflicht ist hier im Sinne von Aufgabe auszulegen, die sich aus der Frage nach dem Sein selbst ergibt. Da, wie wir am Ende des § 10 aufgewiesen haben, der Tod die äußerste Verbergung und das Aushalten dieser Verbergung als Sein zum Tode die äußerste Ausgesetztheit und zugleich äußerste Möglichkeit der Wahrung bedeutet, ist die Aufgabe des Seins zum Tode nicht irgendeine unter anderen Aufgaben innerhalb der Frage nach dem Sein, sondern ist diejenige Aufgabe, die sowohl das Sein als auch den Menschen im Grundlegendsten, Äußersten bedenkt. Deshalb bildet das Bedenken des Todes und des Seins zum Tode die Mitte und den Schwerpunkt des gesamten Gedankengangs, nicht um neben der Frage nach Sein, Ereignis und Mensch nun ein anderes Thema im Denken Heideggers hervorzuheben oder gar als das eigentliche zu benennen, sondern um das Ereignisund Seinsdenken der »Beiträge« hinsichtlich seines tiefsten Grundes zu befragen und von dort aus auszulegen. Die Frage nach dem Tod eröffnet allererst den tiefsten Grund der Frage nach dem Sein und insofern die tiefste Wandlung vom Denken des ersten Anfangs zum Denken des anderen Anfangs, weshalb unter anderem diese Überlegungen unter dem Titel "Der Tod als Wandlungsmitte" stehen. Für die Aufgabe der genaueren Auslegung des Todes und des Seins zum Tode in den »Beiträgen« fassen wir die Leitlinie dieser grundsätzlichen Frage folgendermaßen zusammen: 1. Leitend ist die Unterscheidung von Sein im engeren Sinne des Zuwurfes und dem Vollzug des Daseins durch den Menschen im Sinne des Entwurfes, die jedoch immer nur im Geschehen ihres Zwischens zu denken ist. Hieraus ist zwischem dem Tod, der seitens des Zuwurfes von Sein geschieht, und dem Sein zum Tod im Sinne des Vollzuges des Entwurfes zu unterscheiden. 2. Für die Frage nach dem Sein kommt der Tod deshalb "in den Bereich der grund-legenden Besinnung" (ebd., S.286), "um die Seinsfrage erst auf ihren Grund zu bringen" (ebd.) und so "den Grund der Möglichkeit der Wahrheit des Seyns voll auszumessen" (ebd., S. 285, Herv. v. V.). Der Tod bringt deshalb die Seinsfrage erst auf ihren Grund, weil er das Äußerste der Verbergung im Sinne des Abgründigsten ist. Der Tod als das Abgrundigste bringt erst den Grund auf seinen tiefsten Abgrund. Daraus folgt, daß so erst die Möglichkeit von Sein voll ausgemessen werden kann, weil mit dem abgründigsten Abgrund die "ganze" Möglichkeit von Sein bedacht werden kann. 3. Für die Frage nach dem Vollzug von Dasein gilt ebenso, daß erst durch eine Bestimmung des Vollzuges des Seins zum Tode das Dasein und sein Vollzug als "volles, ab-grundiges Da-sein" (ebd., S. 285, Herv. v. V.) in den Blick rückt und so der Vollzug des Daseins "in seiner abgründigen Weite" (ebd.) für ein Menschsein bedacht werden kann. Insofern wird ebenso erst durch die Frage 12*
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nach dem Sein zum Tode das Dasein in seiner vollen "Gänze" und Abgründigkeit erfaßbar. Der tiefste Abgrund des Seins und der Vollzug des so abgründigsten Daseins steht zur Aufgabe für eine volle und grundlegendste Grundlegung der Frage nach Sein und Mensch. 136 Wenn wir bisher vom Sein zum Tode vorläufig als äußerste Möglichkeit gesprochen haben, kann sich die Frage ergeben, in welchem Verhältnis denn ein für das alltägliche Dasein so außergewöhnlicher Vollzug zu diesem alltäglichen Dasein steht und inwiefern eine Bestimmung aus dem Äußersten denn grundlegend auch für das Alltäglichste sein kann. Schon in »Sein und Zeit« beschreibt Heidegger, daß das Dasein sich zunächst und zumeist uneigentlich zu seinem Sein und Sein überhaupt verhält, wobei uneigentlich nicht moralisch urteilend zu verstehen ist, sondern als eine Weise des Vollzuges von Sein. Da im gewöhnlichen Vollzug der Mensch aus seiner Geworfenheit beim Seienden ist, vergißt er den Zuwurf von Sein, der ihn gerade so enteignend ereignet das Seiende zu entbergen. Auch der Vollzug der äußersten Möglichkeit des Seins zum Tode ist zunächst und zumeist ein uneigentlicher, der den Tod flieht und sich von ihm abwendet, weil die Geworfenheit den Menschen in den Seins vollzug zum Seienden hin ereignet und zunächst und zumeist nicht zu einem Vollzug des Nichtmehrseins. Die Eröffnung der Möglichkeit eines eigentlichen Vollzuges des Daseins überhaupt geschieht, wie wir sahen, erst, wenn der Mensch aus der Selbstverständlichkeit herausgerückt ist und je nach Grad der sichlichtenden Verbergung und seiner Inständigkeit in ihr eigentlich Sein aus dem Nichts zu bergen vermag. Die äußerste Eröffnung der Möglichkeit zur Eigentlichkeit und so zur Rückgegründetheit in das Verborgene geschieht durch das Gewahrwerden des Todes als der tiefsten Verbergung. Deshalb bildet schon in »Sein und Zeit« die Analyse des Seins zum Tode das Herzstück für die Frage nach dem Vermögen der Eigentlichkeit. Heidegger gibt im Anhang zum Kantbuch, also im Umfeld von »Sein und Zeit«, eine Einschätzung des äußersten eigentlichen Vollzuges,
136 Mit dem Gedanken des vollen Daseins und der vollen Ausmessung der Möglichkeit von Sein knüpft Heidegger an die Frage nach der Ganzheit des Daseins aus »Sein und Zeit« (vgl. bes. SUZ, § 45) an, weshalb wir hier von der vollen Gänze sprechen, um diese Anknüpfung zu verdeutlichen. Jedoch ist hervorzuheben, daß Heidegger in den »Beiträgen« nicht mehr von der Ganzheit, sondern nur noch vom Vollen spricht. Da das Ganze ein Horizontbegriff ist und insofern die Gefahr einer ungeschichtlichen Ganzheits- und Grenzvorstellung in sich trägt, ist anzunehmen, daß Heidegger deswegen in der Ereignisblickbahn diese Redeweise zugunsten des Vollen fallen ließ. Welche denkerische Schwierigkeit sich mit dem Übergang von der Ganzheit zum Sprechen vom Vollen für den Gedanken des Ganzen und der Grenze ergibt, wird in der Absetzung der »Beiträge« von »Sein und Zeit« bezüglich des Denkens von Tod und Sein zum Tode im § 17 zu thematisieren sein.
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wenn er sagt, "daß die höchste Form der Existenz des Daseins sich nur zurückführen läßt auf ganz wenige und seltene Augenblicke der Dauer des Daseins zwischen Leben und Tod, daß der Mensch nur in ganz wenigen Augenblicken auf der Spitze seiner eigenen Möglichkeit existiert".137 Wir wollen eine solche Einschätzung zunächst auch in einem vorphilosophischen Sinn auslegen, weil sie gleichsam wie von außen das Ganze eines Lebens betrachtet und zählend nur wenige, seltene Augenblicke als höchste und so eigentlichste Form des Existenzvollzuges ansieht. Darin können wir eine Aufforderung zu einem behutsamen, lange nachgehenden Fragen nach dem Phänomen des Todes und des Seins zum Tode entnehmen, das sich gerade nicht dem selbstverständlichen Verstehen öffnet. Inwieweit aber gerade diese wenigen, seltenen Augenblicke für die Frage nach Sein und Mensch entscheidend sind, verdeutlicht eine andere Stelle aus der ersten Schellingvorlesung, in der Heidegger vom Sichselbstwissen spricht: "An diesen tiefsten Punkt der höchsten Weite des Sichselbstwissens in der Entschiedenheit des eigensten Wesens, an diesen Punkt gelangen nur wenige und diese selten. Und wenn, dann nur, so »oft« dieser Augen-blick des innersten Wesensblickes eben Augenblick, schärfste Geschichtlichkeit ist. [... ] Nur diese Augenblicke sind mögliche Maßstäbe für die Bestimmung des Wesens des Menschen, aber niemals eine irgendwoher zusammengerechnete Vorstellung von einem Normalmenschen, in der sich jedermann ohne weiteres - dies »ohne weiteres« ganz scharf und wörtlich genommen befriedigt wiedererkennt." (GA 42, S. 269)
Wir entnehmen hieraus den tiefsten Punkt des Sichselbstwissens als die Möglichkeit des eigentlichsten Vollzuges des Daseins. Heidegger spricht hier ebenfalls von seltenen Augenblicken. Hinzu kommt aber die Nennung der Wenigen. Wenn wir das Seltene und die Wenigen nun nicht zählend als vorgestellte Größen der Anzahl der Augenblicke sowie der Anzahl derer, die diese erfahren, nehmen, was einen Rückfall in ein berechnendes Denken bedeuten würde und zudem eine zweifelhafte, elitäre Auslegung ergeben würde, die dem nicht mehr an Werten ausgerichteten Seinsdenken widerspräche, müssen wir das Seltene und die Wenigen als Begriffe der Vollzugsweise des eigentlichsten Selbstseinkönnens auslegen. Das Seltene besagt dann das Unverhoffte und Unberechbare, dessen Eintreffen sowie die "Häufigkeit" dieses Eintreffens, d. h. die Weise, wie dieses zeithaft geschieht, unverfügbar und unberechenbar ist, was Heidegger verdeutlicht, indem er von der Weise, wie dieser "Punkt" geschieht, mit Anführungszeichen als von einem "so »oft«" sprießt. In gleicher Weise sind die Wenigen nicht zahlenmäßig Wenige, sondern die Weise des Vollzuges eines solchen Augenblickes läßt den Menschen zu einem
131 Heidegger, Martin, Kant und das Problem der Metaphysik, Gesamtausgabe Bd. 3, Frankfurt a.M. 1991, Einzelausgabe: Heidegger, Martin, Kant und das Problem der Metaphysik. Vierte, erweiterte Auflage, Frankfurt a.M. 1973 (im folgenden nach der Einzelausgabe zitiert als: KaM), KaM, S. 263.
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der Wenigen werden. Damit ist die Weise des Sichselbstwissens gemeint. Diese ist nicht mehr der Vollzug einer uneigentlichen Selbstauslegung, die man ist, wie alle anderen es auch sind, die ihren Niederschlag in der philosophischen Auslegung des allgemeinen Menschseins als individuelles Exemplar der Gattung Mensch findet. Demgegenüber ist die Weise der Wenigen als eigentlichste Weise des Selbstseinkönnens der Vollzug der wesenhaften Einsamkeit des Alleinseins vor dem eigenen Tod. Diese Einsamkeit wird mit Wenigen geteilt, d. h. nur mit den Anderen, inwiefern sie ihr wesenhaftes Alleinsein vor dem Tod ebenfalls in eigentlichster Einsamkeit vollziehen, was selten geschieht, weshalb es nur wenige und nicht alle sind, die diese Weise eigentlich vollziehen. Diese Wenigen sind deshalb nicht alle Menschen, weil diese Wesensbestimmung keine allgemeine Wesens bestimmung des Menschen ist, sondern eine seltene Aufenhaltsweise des Menschen nennt, die zwar wesensmäßig allen Menschen offen steht, da alle Menschen vor dem Tod stehen, die aber nur selten eigentlich vollzogen wird und insofern nur von Wenigen. Das seltene Sein in der Einsamkeit der Wenigen grenzt sich deshalb einerseits gegen ein uneigentliches Mitsein mit der allgemeinen Individualität als Manselbst, das alle sind, sowie andererseits gegenüber der abgeschlossenen Einzelnheit, die jeder einzelne als allgemeine Individualität ist, ab. Die Wenigen und das Seltene sind dementgegen Bestimmungen der eigentlichsten Vollzugsweise des Selbst- und Mitseins. 138 Außerdem können wir diesem Zitat entnehmen, warum gerade das Geschehen der tiefsten Eigentlichkeit des Seins zum Tode grundlegendste Bedeutung für die Frage der Bestimmung des Menschen hat. Wenn Heidegger sagt, daß nur "diese Augenblicke [... ] mögliche Maßstäbe für die Bestimmung des Wesens des Menschen" (GA 42, S. 269) sind, so deshalb, weil erstens erst durch das Aufgehen eines Eigentlichseinkönnens überhaupt aus der gewußten Rückgegründetheit in den lichtend-verbergenden Zuwurf von Sein das Wesen des Menschen in seinem Vollzug des Daseins in den Weisen von Da- und Wegsein, d. h. Eigentlich- und Uneigentlichsein, als solches in den Blick rückt. 139 Und zweitens wird erst durch die Auslegung des äußersten Eigentlichseinkönnens das Eigentlichsein überhaupt aus seinem tiefsten Grund und so das Wesen des Men138 Vgl. zum Mitsein: Michalski, Mark, Fremdwahrnehmung und Mitsein. Zur Grundlegung der Sozialphilosophie im Denken Max Schelers und Martin Heideggers, Bonn 1997. Michalski entfaltet, wie aus der Möglichkeit des Seins zum Tode als eigentlicher Vollzug des Menschen allererst ein eigentliches Mitsein eröffnet ist und entwickelt anhand der "Stimme des Freundes" sehr sorgfältig ein solches Mitsein im mitgehenden Hören auf den Anderen und Wahren seines Eigenen (S. 221ft). 139 Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit werden aus »Sein und Zeit« gewandelt in den »Beiträgen« tiefer ausgelegt als Dasein und Wegsein. Wegsein heißt dann Seinsvergessensein und Dasein meint hier, das Da gewußt zu bestehen. (Vgl. zum Wegsein und der Uneigentlichkeit: GA 65, 201. Abschnitt, S. 323, 324, zum Dasein und der Eigentlichkeit: ebd., 177. Abschnitt, S. 302).
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sehen aus seinem weitesten Vermögen bestimmbar. Eine solche Wesensbestimmung erlaubt es erst, die Weite des menschlichen Vermögens zu entfalten und so eine umfassendere Wesensentfaltung zu geben, die sowohl das Eigentlichsein als auch das Uneigentlichsein zu denken in der Lage ist, anstatt beim Engsten, Selbstverständlichsten stehen zu bleiben.
b) Das Sein zum Tode des Menschen als Entschiedenheit zur kürzesten Bahn Vom Menschen heißt es im 117. Abschnitt, daß nur er die Auszeichnung hat "vor dem Tod zu stehen" (GA 65, S. 230). Diese Auszeichnung ist zunächst eine Abgrenzung gegenüber der Seinsweise des Tieres. Das Tier kann zwar sein Ende wittern und davor fliehen. Es kann aber nicht sich eigens zu seinem Ende als Ende verhalten, indem es z.B. über seinen Tod ohne Bedrohung nachdenkt oder spricht, soweit wir dies aus unserem begrenzten Mitgehen mit der Seinsweise des Tieres erfassen können. 14O Der Mensch hingegen hat einen Bezug zu seinem Ende, der ihm nicht erst in der konkreten Furcht vor dem Ende in einer Bedrohung seines Lebens oder im Zugehen auf ein geahntes Ende gegeben ist, sondern ihn jederzeit auf die eine oder andere Weise gegeben sein kann. Er hat in seinem "Leben" einen Bezug zu seinem Tod, nicht erst im Herannahen von ihm. So verstanden, bedeutet das Vermögen vor dem Tod zu stehen aber erst das Geläufigste, daß jeder Mensch weiß, daß er stirbt und darüber nachdenken kann. Insofern wäre das Stehen vor dem Tod auch das Sichvorstellen des Endes des Lebens und das Nachdenken darüber. Jedoch kann ich mir den Tod nicht vorstellen. Denn solange ich vorstelle, begleitet, kantisch gedacht, das "Ich denke" als die ursprünglich synthetische Einheit des Selbstbewußtseins meine Vorstellungen, indem es als die vorgehaltene ursprüngliche Einheit sie ermöglicht. 141 Eine empirische Vorstellung einer Nichtexistenz meines empirischen Ich bleibt meine Vorstellung, weil auch in ihr die ursprünglich synthetische Einheit des Selbstbewußtseins diese Vorstellung konstituiert. Insofern ist sie gar keine Vorstellung meiner Nichtexistenz, sondern eine Vorstellung eines bloßen Nicht einer reinen Negation von Existenz, bei der ich aber als existent gedacht bleibe, da ich mir die ursprünglich synthetische Einheit meines Selbstbewußtseins für sie ermöglichend vorhalte und vorhalten muß, um überhaupt unter die Kategorie des Nichtseins mein empirisches Ich zu einigen. Dann jedoch hat die140 Vgl. in "Das Ding", in: VA, S. 157-175, S. 171: "Nur der Mensch stirbt. Das Tier verendet. Es hat den Tod als Tod weder vor sich noch hinter sich." 141 Vgl. KrV, § 16, B 13lf.
B. 2. I. Das Denken des Todes
184
se Vorstellung mit meinem Nichtmehrsein nichts zu tun, da in ihr meine Existenz im Sinne des im vorhinein als in der Einheit mit mir selbst geeinigten Vorstellenden notwendig ermöglichend und begleitend gegeben ist. Die transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins kann kein Nicht meines VorsteIlens ursprünglich einigen, weil sie dann selbst nichtig wäre und weil es in dieser Vorstellung kein Selbst vorgängig zu einigen gibt. Zwar ist die ursprüngliche Einheit des Selbstbewußtseins unabhängig vom empirischen Vorstellen meines empirischen Ich und insofern auch von der empirischen Vorstellung der Existenz meines empirischen Ich, weil sie diese Vorstellung allererst ermöglicht. Insofern ist das transzendentale Selbstbewußtsein nicht an das empirische Selbstbewußtsein gebunden, jedoch konstituiert es meine Vorstellungen insofern und solange, als ich vorstelle und so bin, und nicht, wenn ich nicht vorstelle und so nicht bin. Eine Vorstellung, daß ich nicht mehr bin und nicht mehr vorstelle, ist eine leere Vorstellung eines bloßen Nicht, die von diesem Nicht nichts denkerisch erfahren kann, weil sie zugleich als Vorstellung mich im Sinne der transzendentalen Einheit mit mir selbst mit vorstellt. Eine Vorstellung von einem Nichtmehrvorstellen und so Nichtmehrsein ist keine Erfahrung eines Nichtmehrseins, sondern eine Vorstellung eines Nichtseins aufgrund und so in einem Selbstsein als Sichvorstellen. Ich kann von einem Nichtsein meiner nichts denkerisch erfahren, solange ich vorstelle, weil immer, wenn ich vorstelle, ich auch mitvorgestellt bin. Jegliches Vorstellen verstellt deshalb eine denkerische Erfahrung des Nichtseins, weil jegliches Vorstellen von einem Sichselbstvorstellen ursprünglich geeint ist, das ein Nicht seines Sichselbst nicht eröffnen kann, sondern wesensmäßig vorstellend verstellt. Deshalb kann ich mir meinen Tod nicht vorstellen, wohl aber kann ich von ihm wissen. Wir entnehmen diesem Gedanken, daß das Stehen vor dem Tod keine Auszeichnung in dem Sinne ist, daß jeder Mensch sich zu jeder Zeit seinen Tod vorstellen kann aufgrund der Tatsache, daß jeder Mensch stirbt, weil der eigene Tod nicht vorstellbar ist. Wohl aber ist er verstellbar, dadurch, daß ich ihn vorstelle. Das Stehenkönnen vor dem Tod als Sein zum Ende und so Sein zum Tode nennt einen anderen Bezug als das Vorstellen, das Vor-laufen zum Tode. 142 Damit wird nicht "das bloße »Nichts« erreicht" (GA 65, S. 283), wie beim Vorstellen des Todes, sondern der Tod wird in das Dasein hereingezogen. 143 Dieses Hereinziehen geschieht durch das Vorlaufen zum Tod. Das Vorlaufen ist jedoch gerade kein Akt des Vorstellens, den ich jederzeit vollziehen kann, weil ich weiß, daß ich sicher irgendwann sterbe. Das Vorlaufenkönnen wird erst dadurch eröffnet, daß mir mein selbstverständlicher vorstellender Vollzug von Sein ent-
142 143
Vgl. GA 65, S. 283. Vgl. ebd.
§ 12. Der Tod im Sein und das Sein zum Tode
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zogen wird und ich diesen Entzug aushalte. In diesem Aushalten erst kann sich der tiefste Entzug öffnen, daß der Tod in den sichentziehenden Zuwurf hereinsteht und ich so erst zu ihm vorlaufen kann, indem ich ihn als tiefsten Entzug aushalte. Erst in diesem Aushalten des Hereinstehens des Nichtmehrseinkönnens weiß ich um den Tod und vollziehe so die eigentliche Möglichkeit des Stehens vor dem Tod. Dadurch wird der Tod nicht von mir in meinen Vollzug hereingezogen, sondern ich lasse ihn aus dem Angegangensein von ihm in meinen Vollzug einziehen. Dieses Gewahrwerden des eigenen Todes ist ein Gewährtes, das mir im Aushalten des Hereinstehens des Nichtmehrseinkönnens als Vorlaufen zum Tod gegeben sein kann. Ein solches Gewahrwerden des äußersten Abgrundes des Daseins geschieht als denkerische Erfahrung des Hereinstandes der tiefsten Verbergung, die sich nur einem Denken öffnet und die nur von einem Denken ausgehalten werden kann, das nicht mehr im Vollzug die transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins sich vorhält und sich aus ihr selbst vorstellt und so diese Erfahrung verschließt. Hierzu bedarf es dementgegen eines Sichselbstloslassenkönnes, das zugleich ein Sicheinlassen auf die tiefste Verbergung ist und diese aushalten kann. Das Aushalten ist so einerseits das Aufgeben des Sichselbstvorstellens und so Sichsicherns, andererseits aber nicht die Selbstaufgabe, sondern das Sichzuhalten auf die tiefste Verbergung im Vorlaufen, um aus ihr die äußerste Wahrung des tiefsten Nichts geschehen zu lassen und darin so auch sich zu wissen. Diese Entschiedenheit als Sein zum Tode entfaltet Heidegger folgendermaßen: "In den verhülltesten Gestalten ist es [das Sein zum Tode] der Stachel höchster Geschichtlichkeit und der geheime Grund der Entschiedenheit zur kürzesten Bahn." (ebd., S. 282)
Das Sein zum Tode erfährt hier eine erweiternde Kennzeichnung als geheimer Grund. Geheim heißt zunächst nicht offenkundig und selbstverständlich, sondern verborgen und insofern aus dem Verborgenen kommend. Weiter liegt darin das Geheime im Sinne des nur mir in der wesenhaften Einsamkeit vor dem Tod Offenen. Das Sein zum Tode ist insofern geheim, als dieser Seinsvollzug in ausgezeichneter Weise nur von mir allein vollzogen werden kann und insofern nur mir allein gewahr ist. Der geheime Grund der Entschiedenheit zur kürzesten Bahn nennt zum Eigensein dieser Bahn zudem das Äußerste dieser Entscheidenheit. Die kürzeste Bahn ist die Bahn des Vorlaufens zum äußersten Ende des Todes. Das Kürzeste heißt dabei nicht, daß die vorgestellte Strecke als Zeitlinie zum Tod nun am kürzesten sei. Dann hieße dies der kürzeste Zeitpunkt vor dem faktischen Tod, indem allein diese Entschiedenheit herrschte. l44 Die kürzeste Bahn heißt dem-
144 Erst aus dem wesenhaften Vermögen zur kürzesten Bahn ließe sich die Frage bedenken, was geschieht, wenn der Mensch konkret sich seinem Tod nähert und in man-
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B. 2. I. Das Denken des Todes
entgegen, daß der Tod in nächster Nähe hereinsteht und in diese nächste Nähe vorgelaufen wird, indem auf sie zu sie ausgehalten wird. Diese kürzeste Bahn kann sowohl vor dem faktischen Tod geschehen als auch nicht und sie kann sowohl im "Leben" geschehen als auch nicht. Das Kürzeste bestimmt sich nicht aus der vorgestellten Zeitpunktnähe des faktischen Todes, sondern aus der jeweiligen Stärke des Aushaltenkönnens der jeweilig geschehenkönnenden tiefsten Verbergung des Todes als sein Hereinstehen in den Vollzug von Sein. Die Entschiedenheit zur kürzesten Bahn ist nur in diesem Geschehen auszulegen als äußerste Stärke des Sichzuhaltens auf den Abgrund im Sinne des Mutes zum Abgrund, um aus der nächsten Nähe des Hereinstehens des Todes die tiefste Wahrung des Nichts aushaltend zu erringen und geschehen zu lassen. Das Sein zum Tode nennt insofern die äußerste Möglichkeit der höchsten Entschiedenheit als kürzeste Bahn zum Tode im Sinne des Vollzuges von Dasein. 145
c) Der Tod als höchstes Zeugnis des Seins Nach der Entfaltung des Seins zum Tode "seitens" des Entwurfes ist es nun notwendig, den Tod "seitens" des Zuwurfes noch schärfer herauszuarbeiten, als er jetzt immer schon mitthematisiert war. Das Zitat zum Stehen vor dem Tod lautet im Gesarntzusammenhang folgendermaßen: "Nur der Mensch »hat« die Auszeichnung, vor dem Tod zu stehen, weil der Mensch inständig ist im Seyn: Der Tod das höchste Zeugnis des Seyns." (GA 65, S. 230) Der Gedanke, daß der Mensch deshalb die Auszeichnung hat, vor dem Tod zu stehen, weil er im Sein inständig ist, bedarf einer genaueren Entfaltung, weil Heidegger hier sehr verkürzt spricht. Zuvor hat das Sein zum Tode gezeigt, daß ehen Fällen gerade kurz vor dem faktischen Tod zu Handlungen in der Lage ist, die er sonst im Leben gescheut hätte. Auch das Phänomen, daß bei einem z.B. durch eine eindeutige Diagnose als definitiv angesehenen Tod in einer gewissen Zeitspanne manche Menschen eine von außen betrachtet rapide Beschleunigung der Entwicklung ihrer Möglichkeiten durchlaufen, ließe sich aus dem Vorlaufen in der kürzesten Bahn bedenken. Daß jedoch auch das Gegenteil eintreten kann, zeigt, daß der Vollzug des wesenhaften Vermögens nicht aufgrund der konkreten Nähe des faktischen Todes sich öffnet, sondern allein aus dem Vermögen des Sicheinlassens auf den Tod überhaupt, das nicht an die konkrete Nähe oder Feme des Zeitpunktes des faktischen Todes gebunden ist. 145 Heidegger vermeidet in den »Beiträgen« die Verwendung des Wortes "Leben" für den Daseinsvollzug und die Redeweise von Leben und Tod als Nichtmehrleben, weil Leben und Tod solange fragwürdig bleiben, als die Seinsweise des Vollzuges von Leben ungeklärt ist, zumal mit Leben gewöhnlich eine Substanzvorstellung einhergeht. Zudem birgt die Redeweise von Leben und Tod die Gefahr einer vorgestellten An- und Abwesenheit in sich, die den Daseinsvollzug zum Ende überspringt. Das Sein zum Tode ist deshalb nur insofern ein Daseinsvollzug im "Leben", als es als Sein zum Ende und nur so vor dem Ende vollzogen wird.
§ 12. Der Tod im Sein und das Sein zum Tode
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der Mensch einen Bezug zu seinem Ende haben kann. In dem Vollzug von Dasein steht der Tod als Entzug und Verbergung dieses Vollzuges herein. Dieser Hereinstand kann gewußt und nicht nur vorgestellt werden, wenn der Vollzug in den Entzug entrückt ist. Dann öffnet sich für den Daseinsvollzug, daß in ihn die Verbergung überhaupt hereinsteht dadurch, daß der Tod als Nichtmehrsein der Daseinsunmöglichkeit gegeben sein kann. Insofern ist der Tod in seinem möglichen Hereinstehen Zeugnis für das Hereinstehen der Verbergung überhaupt in den Vollzug von Dasein. Inwiefern aber ist er so Zeugnis des Seins und sogar höchstes Zeugnis? Hierzu heißt es im 161. Abschnitt: "In der Ungewöhnlichkeit und Einzigkeit des Todes eröffnet sich das Ungewöhnlichste in allem Seienden, das Seyn selbst, das als Befremdung west." (ebd., S. 283)
Insofern öffnet sich aus der tiefsten Verbergung des Todes das Ungewöhnlichste, das Sein selbst, gerade weil es nur als Befremdung west. Der Tod ist zwar selbst das Ungewöhnlichste, aber in seiner Ungewöhnlichkeit öffnet sich Sein. Und zwar deshalb, weil der Tod nicht das bloße Nichts ist, sondern als tiefstes Nichts den Zuwurf als Zuruf von Sein im äußersten, befremdendsten Entziehen als Zuweisung vernehmbar werden läßt. Seine Entzugsbewegung als äußerste Entzugsbewegung eröffnet das vernehmbarste Zugleich von Entzug und Zuweisung, weil diese Bewegung am stärksten den Streit von Nichts und Sein vernehmbar werden läßt. Insofern ist er das höchste Zeugnis des Seins, weil sein äußerster Entzug zugleich die äußerste Zuweisung eröffnet. Inwiefern jedoch hat der Mensch die Auszeichnung, vor dem Tod zu stehen, weil er inständig im Sein ist? Weil der Mensch je schon ereignet ist, Sein zu entbergen, wird ihm durch den entrückenden Entzug dieser Entzug als Entzug allererst gewahr. Der äußerste Entzug öffnet sich dann, wenn der Tod aufgeht. Dieser geht jedoch nur dadurch als Verbergung des Vollzuges von Sein auf, sofern Sein je schon entborgen wird, sonst würde er nicht als solche aufgehen. Die ungewußte Inständigkeit im Sein ist deshalb ausschlaggebend für das Vermögen, der äußersten Verbergung der Inständigkeit gewahr zu werden, so wie durch das Gewahrwerden der äußersten Verbergung das höchste Zeugnis als tiefste gewußte Inständigkeit im Sein ermöglicht ist. Diesen möglichen Wandel vom enteignend seinsvergessenen Daseinsvollzug zur gewußten Inständigkeit im Sein und Nichts eröffnet in der höchsten Möglichkeit einerseits der Tod als höchstes Zeugnis des Seins sowie andererseits das Sein zum Tode als kürzeste Bahn der Entschiedenheit. Diese Wandlungsmöglichkeit faßt Heidegger auch folgendermaßen: "Der Tod ist als das Äußerste des Da zugleich das Innerste seiner möglichen völligen Verwandlung." (ebd., S. 325)
Hiervon ausgehend, können wir vom Tod als Wandlungsmitte sprechen, weil der Tod in seinem Hereinstehen aus dem Zuwurf den Entwurf vor den tiefsten Abgrund der Verbergung stellt und so dem Entwurf die kürzeste Bahn der Entschiedenheit nehmen läßt, wenn er diesen Abgrund auszuhalten vermag. Er "ist"
188
B. 2. I. Das Denken des Todes
insofern die tiefste Mitte der Wandlung, weil er den tiefsten Abgrund des Zwischen von Zu- und Entwurf eröffnet und so dieses "ist,,146. Als tiefste Mitte der Wandlung eröffnet er somit die höchste Möglichkeit, Sein aus dem tiefsten Nichts zu wahren und insofern die äußerste Möglichkeit, Sein gewandelt wesen zu lassen. In diesem Geschehen ist der Tod als Wandlungsmitte die Möglichkeit der völligen Verwandlung, weil das Äußerste und so Ganze des Da gereicht und erreicht ist.
d) Die Sterblichen und der Tod als das Gebirg des Seins Die Thematik von Tod, Sein und Mensch erfahrt im Spätdenken Heideggers im Anschluß an die »Beiträge« eine Entfaltung in das Denken des Gevierts der vier Weltgegenden, die wir exemplarisch an den Ausführungen im Aufsatz "Das Ding"147 zur Erweiterung des Bisherigen entfalten wollen. 148 Heidegger denkt hier das Wesen des Menschen aus seinem Bezug zum Tod in der Nennung seiner als den Sterblichen, eine Wendung, die er im ganzen Spätdenken beibehält149; "Die Sterblichen sind die Menschen. Sie heißen die Sterblichen, weil sie sterben können. Sterben heißt: den Tod als Tod vermögen. [... ] Die Sterblichen nennen wir jetzt die Sterblichen - nicht, weil ihr irdisches Leben endet, sondern weil sie den Tod als Tod vermögen." (VA, S. 171)
146 Vgl. zur Bildung des Begriffes "Wandlungsmitte" auch: "Da-sein ist das Geschehnis der Erklüftung der Wendungsmitte der Kehre des Ereignisses." (ebd., S. 311) Erklüftung ist hier der Aufgang der Zerklüftung, deren tiefste Kluft zwischen Zu- und Entwurf der Tod eröffnet und in diesem Sinne die tiefste Mitte ihrer "ist". 147 Siehe "Das Ding" in: VA, S. 157-175. 148 Vgl. für die Entfaltung des Denkens des Todes an den verschiedenen Stationen des Heideggerischen Denkweges von »Sein und Zeit« über »Einführung in die Metaphysik« (Heidegger, Martin, Einführung in die Metaphysik, Gesamtausgabe Bd. 40, Frankfurt a.M. 1983» als mittlere Phase bis hin zum Geviertsdenken des Spätwerkes jedoch noch ohne die »Beiträge« besonders: Demske, James M., Sein, Mensch und Tod. Die Todesproblematik bei Martin Heidegger, FreiburglMünchen 1963. Der Versuch aus der Seltenheit der Nennungen des Todes im Denken Heideggers nach »Sein und Zeit« ein Rückgang der Wichtigkeit dieser Thematik für Heidegger abzuleiten, wie es Guido Knöner in: Tod ist Sein? Eine Studie zu Genese und Struktur des Begriffs ''Tod'' im Frühwerk Martin Heideggers, Frankfurt a.M. 1990, entwickelt, ist ansichts der zuvor gezeigten Bedeutung des Todes als Verbergung abwegig. 149 Vgl. die teilweise fast gleichlautenden Nennungen zum Menschen als den Sterblichen in "Bauen Wohnen Denken", VA, S. 144, 145, in " ... Dichterisch wohnet der Mensch... ", VA, S. 190, in "Das Wesen der Sprache" in: Heidegger, Martin, Unterwegs zur Sprache, Einzelausgabe, Pfullingen 8 1986, Gesamtausgabe Bd. 12, Frankfurt a.M. 1985, (in Folgenden zitiert nach der Einzelausgabe als UzSpr), UzSpr, S. 215.
§ 12. Der Tod im Sein und das Sein zum Tode
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Der Tod selbst erfährt hier folgende erweiternde Kennzeichnung: "Der Tod ist der Schrein des Nichts, dessen nämlich, was in aller Hinsicht niemals etwas bloß Seiendes ist, was aber gleichwohl west, sogar als das Geheimnis des Seins selbst. Der Tod birgt als der Schrein des Nichts das Wesende des Seins in sich. Der Tod ist als der Schrein des Nichts das Gebirg des Seins." (ebd.)
Der Tod ist hier als Schrein des Nichts, wie wir im § 10 ausgelegt haben, selbst noch Umhüllung des tiefsten Nichts. Er ist insofern das Gebirg des Seins, weil er das Wesende des Seins birgt, d. h. das tiefste Geschehen von Sein durch den Tod 1. allererst aufgeht und so aus ihm eröffnet ist und 2. in ihm geschieht und so in diesem zweifachen Sinne in ihm geborgen ist. Der Mensch erfährt aus diesem Geschehen des Todes als dem Gebirg des Seins und aus seinem Vermögen, den Tod zu wissen, erst seine eigentliche Bestimmung, was Heidegger zusammenfassend folgendermaßen zur Sprache bringt: "Die Sterblichen sind, die sie sind, als die Sterblichen, wesend im Gebirg des Seins. Sie sind das wesende Verhältnis zum Sein als Sein." (ebd., Herv. v. V.)
Somit haben wir sowohl die grundlegendste Frage nach dem Sein als auch die grundlegendste Bestimmung des Menschen aus dem Tod entfaltet, der als abgründigster Abgrund und so tiefster Grund sowohl das Sein birgt als auch den Menschen aus dem Vermögen, diesen Abgrund als Abgrund zu erfahren, den Sterblichen sein läßt. 150 Aus dem soweit zum Tode Ausgeführten kann sich die Frage ergeben, inwiefern das Denken hiermit nicht zumindest in die Nähe eines Denkens der Todesüberwindung rückt. Zwar ist deutlich geworden, daß das Sein zum Tode den äußersten möglichen Daseinsvollzug vor dem Tod bedenkt, jedoch bleibt dabei die Frage nach dem faktischen Ende zunächst offen, gerade weil das Sein zum Ende bedacht wird. Im 202. Abschnitt der »Beiträge« spricht Heidegger eigens vom "Ende" im Denken des Daseins, jedoch zunächst nur so, wie es nicht zu denken ist: "Wo aber das Da-sein erstmals begriffen werden soll, muß der Tod bestimmt sein als die äußerste Möglichkeit des Da. Wenn hier von »Ende« gesprochen wird und zuvor in aller Schärfe Da-sein gegen jegliche Art von Vorhandensein abgegrenzt ist, dann kann »Ende« hier niemals meinen das bloße Aufhören und Verschwinden eines Vorhandenen." (GA 65, S. 324)
Im selben Abschnitt geht er jedoch noch einen Schritt weiter: "Es ist allerdings bequem, von den ungeprüften Alltagsvorstellungen vom »Ende« und »Nichts« her das über den Tod Gesagte sich zurecht zu legen, statt umgekehrt ahnen 150 Vgl. zum Denken der Sterblichen im Spätwerk: Marx, Wemer, Die Sterblichen, in: Guzzoni, Ute (Hg.), Nachdenken über Heidegger. Eine Bestandsaufnahme, Hildesheim 1980, S. 160-175, und: Sallis, lohn, "Mortality and Imagination. The proper Name of Man", in: Sallis, lohn, Echoes. After Heidegger, Indiana Univ. Press 1990, S. 118-138.
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B. 2. I. Das Denken des Todes
zu lernen, wie mit dem inständlichen entrückungs mäßigen Einbezug des Todes in das Da das Wesen von »Ende« und »Nichts« sich wandeln muß." (ebd., S. 325)
Wie das Wesen von "Nichts" sich wandelt, haben wir aufgewiesen. Wie sich jedoch das Wesen von "Ende" im Sinne des Endes des Daseinsvollzuges wandelt, bleibt zu bedenken, wenn wir nicht allein bei dem aufgewiesenen Vermögen des Seins zum Ende bleiben wollen, sondern aus beiden Zitaten einen Hinweis entnehmen, daß, wenn das Ende kein bloßes Aufhören und Verschwinden eines Vorhandenen ist und zudem das Wesen des Endes gewandelt gedacht werden muß, auch das faktische "Lebensende" als Ende des Daseinsvollzuges gewandelt zu bedenken ist. Eine weitere Überlegung hierzu ergibt sich aus der Auslegung des Aushaltens des Hereinstandes des Todes, auch wenn hier nicht das faktische Lebensende bedacht ist, sondern der äußerste Vollzug des Daseins. Was heißt es jedoch, daß die Vorstellung des Todes als bloßes Nichts nichts vom Tod wissen kann, geschweige denn eine Vorstellung eines absoluten Endes oder eines absoluten Grenzbegriffes einer absolut vorgestellten Zeitspanne zwischen Geburt und Tod, aber demgegenüber wir vom Tod nicht nur wissen können, sondern sogar er die tiefste Durchstimmungsmöglichkeit eröffnet und wir sie aushalten können? Was heißt in Anbetracht dessen, daß der Tod das tiefste Nichts ausmacht, zudem die wesenhafte Unerschöpflichkeit der Grade der Erziuerung des Nichts? Was heißt hier Aushalten, besonders angesichts des Sieges des Todes und so des Sieges im Tod? Diese Fragen zeigen, daß es einer Klärung bedarf, inwieweit die "Grenze" des Todes "berührbar" ist und inwiefern hier von Grenze und Maß zu sprechen ist. Insofern gilt es erneut zu fragen, inwiefern 1. das Ende des Daseinsvollzuges gewandelt zu denken ist und 2. der Daseinsvollzug selbst den "Tod" "berührt". Dafür ist es jedoch notwendig, die Tradition hinsichtlich des Denkens der Unsterblichkeit (Platon und Aristoteles) und der Todesüberwindung (Meister Eckhart) sowie der Kritik des theoretischen Denkens der Unsterblichkeit (Kant) zu befr'lgen, um das hier Gedachte davon unterscheidend zu vertiefen.
§ 13. Das Denken der Unsterblichkeit bei Platon
Die philosophische Frage nach der Unsterblichkeit verlangt aufgrund der Nähe dieses Begriffes zu einem religiösen Verständnis ihrer im weitesten Sinne zuerst eine ausgesprochene Absetzung gegenüber jeglichem Glauben oder Unglauben bezüglich der Unsterblichkeit des Menschen, sei es bezüglich eines unsterblichen Seelenteils, eines unsterblichen menschlichen Geistes oder eines ewigen Kerns im Menschen. Wir fragen dementgegen nach dem Denken der Unsterblichkeit, d. h. aus welcher denkerischen Notwendigkeit heraus das Denken des ersten Anfangs zu ihrer Thematisierung gelangt. Hierzu gehen wir zu-
§ 13. Das Denken der Unsterblichkeit bei Platon
191
erst auf das von Heidegger so genannte erste Ende des ersten Anfangs, auf Platon und Aristoteles zurück, weil ihre Ausgestaltung dieser Frage leitend für das spätere Denken diesbezüglich wurde, um anschließend diese Frage bei Meister Eckhart und Kant zu behandeln. Auch wenn gewichtige Unterschiede in der Behandlung dieser Frage bei Platon und Aristoteles aufweisbar sind, können wir in Anlehung an die in § 5 vollzogene Auslegung der platonisch-aristotelischen Wahrheitsfrage zusammenschauend von einem platonisch-aristotelischen Denken der Unsterblichkeit sprechen. Wir knüpfen hierbei außerdem an die in § 9 im Zusammenhang mit der Frage nach der Einheit erörterte ontotheologische Ausrichtung des griechischen Denkens im Sinne des platonisch-aristotelischen Fragens an. Insofern steht auch die Frage nach der Unsterblichkeit im Zusammenhang mit der gedoppelten Frage nach dem Sein im Sinne von Seiendheit. Leitend ist hierbei die Fassung von Sein als ousia in beständiger Anwesenheit und die hieraus entspringende doppelte Denkrichtung hinsichtlich des Seienden als solchen und des Seienden im Ganzen. In dieser ontotheologischen Fragebahn ergibt sich die Notwendigkeit der Frage nach der Unsterblichkeit zum einen in Richtung des Menschen und zum anderen im Hinblick auf die Ganzheit des Seienden im Ganzen. Hiermit wird im griechischen Denken bezüglich des Menschen nach seiner höchsten Möglichkeit gefragt, deren Höchstes darin besteht, nicht zu Ende zu gehen, d. h. eine Weise von Existenz in beständiger Anwesenheit zu vollziehen. Die Notwendigkeit der Fassung der Frage nach der Möglichkeit dieses Höchsten entspringt gerade der grundlegenden Auslegung von Sein, was Heidegger in seiner Sophistes-Vorlesung am Ende der Erörterung der Nikomachischen Ethik von Aristoteles folgendermaßen faßt: "Für die Griechen ist die Betrachtung der menschlichen Existenz rein orientiert am Sinn des Seins selbst, d. h. daran, inwieweit das menschliche Dasein die Möglichkeit hat, immer zu sein.,,151
Dadurch ist "die äußerste Position, auf die das menschliche Dasein durch die Griechen getragen wurde" (GA 19, S. 178), in den Blick genommen. Die Frage nach der Unsterblichkeit bei Platon und Aristoteles verdeutlicht infolgedessen einerseits die äußerste Gestalt des Seinsdenkens im ersten Ende des ersten Anfangs, wodurch wir in die Lage versetzt sind, von diesem Äußersten her das Denken des Seins im anderen Anfang vertieft zu scheiden. Andererseits zeigt gerade diese Aristotelesauslegung Heideggers, daß es zur Verdeutlichung seines Denkens von Tod und Sein zum Tode als ebenfalls äußerste Weise des
151 Heidegger, Martin, Platon: Sophistes, Gesamtausgabe Bd. 19, Frankfurt a.M. 1992, S. 178 (im folgenden zitiert als: GA 19).
192
B. 2. I. Das Denken des Todes
Geschehens von Sein und Dasein notwendig ist, das hier gedachte Äußerste vom griechischen Fragen nach der höchsten Seinsart des Menschen abzuheben.
a) Platons Denken der unsterblichen menschlichen Seele Das Denken der Unsterblichkeit bei Platon erfährt seine ausführlichste Darstellung im Dialog Phaidon l52 , der die Abschiedsreden Sokrates' über die Unsterblichkeit der Seele und die Schilderung seines Todes beinhaltet. Im Laufe der ersten Erörterung der Frage, welche Haltung der Philosoph, d. h. hier Sokrates, und weitergehend der Vollzug VOn Philosophie überhaupt zum Tod hat, sagt Sokrates angesichts seines nun konkret bevorstehenden Todes, daß es lächerlich sei, "wenn ein Mann, der sich in seinem ganzen Leben darauf eingerichtet hätte, so nahe als möglich am Gestorbensein (tethnanai) zu leben, hernach, wenn eben dieses kommt, sich ungebärdig stellen wollte" (67 d 12 - e 2). Wie ist diese Ausrichtung nach dem Gestorbensein auszulegen? Das Gestorbensein nennt die Denkrichtung hinsichtlich der höchsten Weise des Menschen zu sein, d. h. hinsichtlich des nun zu befragenden Unsterblichseins. Wir greifen aus den hierauf folgenden verschiedenen Wegen des Aufweises dieses Unsterblichseins die Leitgedanken aus der Darlegung in 78 b 4 - 80 b 7 heraus. Platon entwickelt dort die Frage nach der Unsterblichkeit anhand der Überlegung, welches Seiende den Tod in Gestalt seiner Auflösung zu fürchten hätte und welches nicht. Er kommt dabei zur Gegenüberstellung VOn Zusammengesetztem (ta suntheta) und Unzusammengesetztem (ta asuntheta) und faßt hieraus die Bestimmung des Wesens selbst (aute he ousia), d. h. als solchen, dem das Sein (einai) zuzusprechen ist als dasjenige, was keine Veränderung (metabole) annimmt bzw. sich nicht ändert, das Gleiche selbst (auto to ison), das nicht zusammengesetzt, sondern ein eingestaltiges Sein an und für sich selbst (monoeides on auto kat' hauto) ist. 153 Damit ist die Frage nach der Unsterblichkeit irl die grundsätzliche Blickbahn der ontologischen Frage nach dem Seienden als solchem eingerückt. Das Wesen als solches, dem Sein zuzusprechen ist, muß, wie wir in § 9 ausgeführt haben 154, unveränderlich und so eingestaltig sein, damit es überhaupt Wesen als solches ist entgegen dem Veränderli152 Platon, Phaidon, in: Platon, Sämtliche Werke 3, in der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung, hg. v. OUo, Walter F., Grossi, Emesto, Plamböck, Gert, Hamburg 1959, S. 7-66 und griechisch: Platonis Opera, Tomus I, TetraIogia I, Phaedo, Recognovit brevique adnotatione critica instruxit loannes Bumet, Oxonii 9 1953, pp. 57-118 (im folgenden zitiert nach der Numerierung im griechischen Text). 153 Vgl. 78 d 1 - 6. 154 Vgl. § 9, S. 120f dieser Arbeit.
§ 13. Das Denken der Unsterblichkeit bei Platon
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ehen. Zu dieser Bestimmung von Wesen bzw. Sein als Unveränderliches und Eingestaltiges treten im folgenden (80 a f) unter anderem die Bestimmungen des Unauflöslichen und des Unsterblichen (athanatos) hinzu. Aus dem notwendig Unveränderlichen und so Beständigen ergibt sich das Unauflösliche und so Unsterbliche in Absetzung zum Sichändernden, Auflöslichen und Sterblichen. In dieser Blickbahn stellt sich die Frage, wie die menschliche Seele sei. Dafür wird die Gegenüberstellung von Seele und Leib eingebracht, die sich leicht in die eben genannte grundsätzliche Gegenüberstellung einbringen läßt, dergestalt daß der Leib als vergänglich und veränderlich, die Seele aber als unveränderlich gedacht werden kann. Warum aber die Seele unveränderlich und so unsterblich sein soll, ist damit noch unbeantwortet. Die Scheidung in Leib und Seele bleibt dann unzugänglich, wenn wir ihr als Primäres die Deutung beider als Vorhandenes unterlegen, deren Unterschied aus den Bestimmungen veränderlich oder unveränderlich zu sein entspringt. Was hier Seele heißt, ist vielmehr primär auf die Weise oder Haltung bezogen, in der sich der Vollzug des Menschseins vollzieht. Seele ist zunächst Vollzug, aus dem sich die Frage nach der Weise ihrer Vorhandenheit ergibt und nicht umgekehrt wird die als solche gesetzte Vorhandenheit ihrer primär angenommen, um hieraus nach der Unsterblichkeit dieses Vorhandenen zu fragen. Denn gefragt wird nach der Seele, inwiefern sie das unveränderliche Sein betrachten (skopein, 79 d 1) kann, vermittelst des Leibes oder ihrer selbst, d. h. die Frage ist von der Vollzugsweise des Betrachtens von Sein in beständiger Anwesenheit geleitet. Und erst in dieser Fragerichtung kommt es zur Unterscheidung von Leib und Seele. Was die Seele, d. h. jetzt ihr Vollzug, mittels des Leibes und seiner Sinne betrachten kann, ist nur das Veränderliche, dessen Betrachtung deshalb Sein als solches nicht zugesprochen werden kann. Der so gedachte Vollzug der Betrachtung durch den Leib ist insofern von vornherein fundiert und geleitet von der Ausrichtung nach Sein überhaupt, aufgrund derer dieser Vollzug als Veränderliches betrachtender allererst aufgeht. Die Seele aber vermag es, im Zustand der Vernünftigkeit (to pathema phronesis, 79 d 67), d. h. im Denken, das Unveränderliche zu betrachten. Denn durch das Denken ist sowohl das Sein eines einzelnen Seienden vorgängig angeschaut, so daß aus diesem vorgängigen Anblick das Seiende als dasjenige, das es ist, offensteht, als auch das Sein an ihm selbst, wenn das Denken die Frage nach Sein an ihm selbst zu stellen und sie in der beständigen Anwesenheit zu beantworten vermag. Um jedoch das Unveränderliche des Seins denken zu können, muß die Seele selbst daran teilhaben, denn sonst könnte sie es nicht denken. Platon verdeutlicht die Teilhabe der Seele am Unveränderlichen an späterer Stelle (100 b f) anhand des Schönen. Ausgehend davon, daß es notwendig das Schöne an sich gibt, weil nur durch ein an sich Schönes Schönes als Schönes gesehen werden kann, ist das einzelne Schöne dadurch schön, daß es teilhat am Schönen an sich. Und nur durch das vorgängige Erblicken des Schönen an sich erscheint das ein13 MWler
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zeine Schöne als Schönes. Gleiches gilt für die Seele hinsichtlich des Unveränderlichen und so Unsterblichen, nur nun im von der Frage nach dem einzelnen Seienden herausgehobenen Denkvollzug der expliziten Frage nach dem Sein an ihm selbst. Wenn sie selbst nicht am Unveränderlichen teilhätte, könnte sie das Unveränderliche nicht denkend betrachten und insofern ist sie selbst notwendig unveränderlich und so unsterblich. Infolgedessen kann Platon ausführen: "Wenn sie [die Seele] aber durch sich selbst betrachtet (aute kat' hauten skope), dann geht sie zu dem reinen, immer seienden Unsterblichen (athanaton) und stets sich Gleichen, und als diesem verwandt hält sie sich stets zu ihm, wenn sie für sich selbst ist und [... ] ist auch in Beziehung auf jenes immer sich selbst gleich, weil sie eben solches berührt (ephaptomene)." (79 d 1-6)
Hieraus wird der Unterschied der Haltung und so des Vollzuges der Seele deutlich. Sie kann vermittelst des Leibes sich an das Veränderliche halten, sie kann aber auch sich an das Unveränderliche halten und dieses berühren, indem sie durch sich selbst, d. h. nun durch ihre eigene Unveränderlichkeit das Unveränderliche betrachtet, das begründend dafür ist, daß sie selbst unveränderlich ist. Aufgrund der Möglichkeit des Denkens der Seele, das Unveränderliche des Seins zu denken und zu berühren, kommen ihr in dieser denkerischen Haltung die Bestimmungen des Seins zu, das sie betrachtet, weil anders sie dieses nicht denken könnte. Insofern ist die Seele in dieser Haltung an ihr selbst ebenfalls unveränderlich, eingestaltig, unauflöslich und so unsterblich. Hieraus wird ersichtlich, inwiefern die für den ersten Anfang notwendige Leitlinie des Denkens von Sein in beständiger Anwesenheit zum Denken der Unsterblichkeit der Seele führt, weil allein durch ihre Unsterblichkeit ermöglicht ist, daß sie Sein in beständiger Anwesenheit zu denken vermag. Aus dem Bisherigen ergibt sich weitergehend, warum die philosophische Haltung darin besteht, so nahe als möglich am Gestorbensein zu leben. Die Nähe zum Gestorbensein nennt die Weise zu sein, in der die Seele so für sich selbst ist, daß sie sich an das Unveränderliche hält und so zu dem immer seienden Unsterblichen geht. Der Zustand nach dem Tod als konkretes Gestorbensein ist infolgedessen nicht zu fürchten, sondern gemäß dem philosophischen Streben nach dem Unveränderlichen im Leben nur positiv anzunehmen, weil nach dem Tod die Seele als Unsterbliches nun rein im Unveränderlichen ist, da sie abgetrennt von dem Leiblichen ist. Daraus folgt für die Seele im Leben, daß ihr höchstes Sein als Vollzug das Sein in ihr selbst in Betrachtung des Unveränderlichen ist, was im Leben nur in der explizit philosophischen Haltung des Denkens des Seins geschieht. Die äußerste Position des Vollzuges des griechischen Daseins stellt demnach in der platonischen Ausgestaltung das Immer-sein in der Gestalt der philosophischen, Ausrichtung nach dem Sein als immer seiender, unsterblicher Unveränderlichkeit dar. das ein Denken dieses Seins und so die denkenke Seele selbst
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unsterblich sein läßt. Wir sehen hierbei, wie sich aus der Ausrichtung des Denkens von Sein in beständiger Anwesenheit bei Platon die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele notwendigerweise stellt und diese Frage mit der Bejahung der Unsterblichkeit der Seele beantwortet werden muß, was seine Auswirkungen auf das ganze Dasein des Menschen sowohl im Leben in der Ausrichtung auf das Immersein als auch in der konkreten Haltung zum Tod als Übergang zum Gestorbensein und so reinen Unsterblichsein hat, dem aus einer philosophischen Haltung nur bejahend zu begegnen ist. Soweit ist verdeutlicht, inwiefern aus dem Denken des Seins in beständiger Anwesenheit notwendig für die Frage nach dem Menschsein die Seele als unsterblich gedacht sein muß. Damit ist aus der Fragerichtung des Seienden als solchen, also in ontologischer Hinsicht, der Mensch betreffs seiner höchsten Weise zu sein in der Gestalt der Unsterblichkeit seiner Seele ausgelegt.
b) Die Unsterblichkeit im Denken der Ganzheit des sich selbst Bewegenden Im Dialog Phaidros 155 geht Platon im kurzen Abschnitt 245 c 5 - 246 a 2 einen anderen als den bisher ausgelegten Weg in der Frage nach der Unsterblichkeit. Dort wird sie im Zusammenhang mit der Erörterung der Ganzheit des Seienden im Ganzen in der Frage nach dem Einen und Ersten entfaltet, d. h. in theologischer Hinsicht. Erst mit der Auslegung dieses Abschnittes ist es möglich, die Frage nach der Unsterblichkeit in dem umfassenderen Zusammenhang der ontotheologischen Fragebahn nachzuvollziehen. Hierfür gehen wir vorab auf eine weitere Ausführung aus dem PhaidonDialog ein. Am Ende der letzten gedanklichen Erwiderung Sokrates' auf Simmias und Kebes (l05 b 4 - 107 b 9), bevor der Dialog zu der mehr mythologischen Darstellung der Unterwelt übergeht, kommt es zu einem eigentümlichen Beweis der Unsterblichkeit der Seele, der scheinbar dem Vorangehenden entgegenläuft. Dort heißt es, daß die Seele das Leben (zoe) zum Leib mitbringt und, weil Entgegengesetztes niemals das Sichentgegengesetzte annimmt, das Leben niemals den Tod annimmt und insofern die Leben mitbringende Seele niemals den Tod annimmt und deshalb unsterblich ist. Die Schwierigkeit dieses letzten
ISS Platon, Phaidros, in: Platon, Sämtliche Werke 4, nach der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung, hg. von Dtto, Walter F., Grassi, Emesto, Plamböck, Gert, Hamburg 1958, S. 7-60 und griechisch: Platonis Opera, Tomus 11, Tetralogia III, Phaedrus, Recognovit et adnotatione critica instruxit loannes Bumet, Oxonii 9 1953, pp. 227-279 (im folgenden zitiert nach der Numerierung im griechischen Text).
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Beweises der Unsterblichkeit besteht in dem Begriff des Lebens und der Gegenüberstellung zum Tod. Wenn Leben hier das Veränderliche wäre, so wie wir gewöhnlich Leben als verschiedendlichste Bewegung, sei es als Orts- bzw. Zustandsveränderung oder als Werden bzw. Entwicklung oder als Entstehen und Vergehen verstehen, so äußerte dieser Gedanke das Gegenteil des zuvor Ausgeführten. Denn das Veränderliche und so die Bewegung ist doch das Vergängliche, aber das Leben, das die Seele mitbringt, soll gerade nicht den Tod annehmen. Der Tod ist hier nicht das Gestorbensein selbst und so das Unveränderliche, sondern dasjenige, was den Leib in seiner Vergänglichkeit zeigt, indem er ihn auslöscht. Insofern ist hier der Tod ein Geschehen der Veränderung und qeshalb selbst Veränderung. Das hier genannte Leben jedoch ist nicht das Veränderliche, sondern ist nur in der Bestimmung des Unveränderlichen, Unsterblichen und Unvergänglichen zu verstehen. Nur so ist es dem Tod als Veränderung entgegengesetzt und nimmt ihn nicht an, weil es selbst unveränderlich ist. Damit aber heißt hier Leben etwas ganz anderes als der gewöhnliche Begriff von Bewegung im Sinne von Veränderung. Das hier genannte unvergängliche Leben wird erst im Zusammenhang mit dem Denken des sich selbst ewig Bewegenden im oben genannten Abschnitt des Phaidros deutlicher. Dieser Abschnitt beginnt mit der Eröffnung der Blickbahn hinsichtlich der Ganzheit des Seienden im Ganzen, in der hier die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele entfaltet wird. Diese Eröffnung lautet: "Seele insgesamt ist unsterblich (Psyche pasa athanatos)." (245 c 5) Das pasa, dt. insgesamt, ganz, gibt die hier eingenommene Denkrichtung für die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele an. Sie ist im Ganzen unsterblich, d. h. weiter entfaltet: sie ist in gewisser Hinsicht die Ganzheit des Ganzen und ist diese als das Unsterbliche. Damit ist der Begriff der Seele erweitert auf das Sein des Seienden im Ganzen. Die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele wird somit zur Frage nach der Unsterblichkeit der Ganzheit, d. h. wie die Unsterblichkeit im Zusammenhang mit dem Denken des Seins als Erstes und Eines steht. Diese Ausrichtung ergibt sich notwendig, wenn die Unsterblichkeit hinreichend in ontotheologischer Hinsicht gedacht werden soll. In dem auf diesen Satz folgenden wird von Platon das Sich-selbst-bewegende (to hauto kinoun) entfaltet, womit er die theologische Frage nach dem Sein des Seienden im Ganzen, hier in der Gestalt des ersten und so einen Prinzips als Anfang, arche, beantwortet, die sich notwendig aus der Frage nach dem Sein ergibt. Der Anfang muß das Sich-selbst-bewegende sein, weil er sonst nicht Anfang von allem ist und so Anfang aller Bewegung ist, der er sein muß, weil er sonst nicht das Sein des Seienden im Ganzen ausmacht. Er muß sich selbst bewegend sein, weil er nur so Anfang alles Bewegten ist und sonst aus etwas anderem entstanden wäre als aus sich selbst. Er ist somit unentstanden (ageneton), d. h. aus nichts entstanden. Als Unentstandenes ist er zugleich notwendig unvergänglich (adiaphthoron), weil er sonst nicht Anfang aller Bewegung ist. Denn wenn er vergänglich wäre und irgendwann aufhören würde, es aber weiter
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Bewegung gäbe, wäre er nicht Anfang aller Bewegung oder alle Bewegung müßte aufhören, wenn er verginge. Da es aber Bewegung gibt, hat sie notwendig einen unentstandenen, unvergänglichen und allem anderen Anfang seienden Anfang. Dessen eigene Bewegung muß eine solche sein, die sich nie verläßt und darin das sich selbst Bewegende ist. Denn nur, wenn der Anfang sich selbst nicht verläßt, hört er nie auf, Bewegung zu sein und ist so erst die sich selbst bewegende, ewige und deshalb unsterbliche Bewegung. Die ewige, sich selbst und alles andere Seiende bewegende Bewegung ist das erste und so alles umfassende, ewige Sein des Seienden im Ganzen, das gedacht sein muß, um die Frage nach dem Sein in theologischer Hinsicht hinreichend zu beantworten. Dieser Gedanke der ewigen Bewegung entspringt der Notwendigkeit, aus dem Anblick des Veränderlichen und so bewegten Seienden das Sein als unverän.derlich zu denken, um es als Sein bestimmen zu können. Damit geschieht aber ein vorgängiger Vorgriff auf das Sein in Unveränderlichkeit, aus dem sich das Veränderliche und Bewegte des Seienden ergibt, das seinerseits wiederum in das Sein zurückgegründet sein muß, damit das Sein Sein für das Seiende sein kann. Deshalb muß aber das Sein selbst bewegt gedacht sein, damit es Sein für das bewegte, veränderliche Seiende ist, da sonst keine Bewegung wäre. Diese Bewegtheit des Seins selbst aber muß ewig und nur aus sich selbst sein, weil das Sein sonst nicht Sein in beständiger Anwesenheit für das Seiende sein kann. Die sich selbst bewegende Bewegung ist jedoch eine gänzlich andere als die Bewegung im Sinne des Veränderlichen und Vergänglichen. Der Widerspruch zwischen Bewegung und Unveränderlichem besteht nur solange, wie die Bewegung im Anfang als Veränderliches und so Vergängliches gedacht ist. Sie ist jedoch unveränderlich und unvergänglich, weil sie Bewegung im Sein ist und nicht im veränderlichen Seienden. Ebenso besteht nur ein scheinbarer, rein logischer Widerspruch zwischen dem Unveränderlichen und der Bewegung im Sein als Anfang, weil das Unveränderliche der Bewegung ihre Unvergänglichkeit und so das Ewige ist. Sie ist als Bewegung ewige Bewegung sowie das Ewige und Unveränderliche bewegt-bewegendes Ewiges und Unveränderliches ist, was der Not, das Sein für das bewegte Seiende zu denken entspricht und nur aus dieser Not nachdenkbar, nicht aber mit einem nur an ,der reinen logischen Widerspruchsfreiheit orientierten Denken nachvollziehbar ist. Das unveränderliche Ewige löst die Bewegung als Bewegung nicht auf, sowenig wie die Bewegung das unveränderliche Ewige unmöglich sein läßt, sondern nur in ihrem Zusammengehen kann Sein für das bewegte Seiende gedacht werden. Diese ewige Bewegung ist das Leben, was im Phaidon als unvergänglich gedacht wurde. Nur ist hier Leben nicht durch ein neuzeitliches Vorstellen von Veränderung, Wechsel, Entwicklung oder Entstehen und Vergehen zu begreifen, sondern nur als die in sich ewige und so ruhende Bewegung, die in ihrer Bewegung keiner Veränderung und keinem Vergehen ausgesetzt ist.
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Die ewige Bewegung als unsterbliche Bewegung wird von Platon als das Wesen, ousia, und als physis, "Natur", der Seele benannt (245 e 2-6), womit der Gedankengang von der Seele insgesamt und dem Sein des Seienden im Ganzen nun zur Seele des einzelnen Menschen übergeht. Die Seele des Menschen ist gemäß des nun Erläuterten deshalb unsterblich, weil sie die sich selbst bewegende Seele ist, die den Leib bewegt, aber so, daß sie das ewige Leben mitbringt. Der Leib als das Veränderliche muß von der Seele bewegt sein, weil er seine Bewegung nicht von sich her hat. Er entsteht und vergeht und als so Veränderlicher und Bewegter muß er einen Anfang seines Entstehens und Vergehens haben. Dieser Anfang aber kann nicht er selbst sein, gerade weil er entsteht und vergeht, sondern der Anfang muß ein selbst Unvergängliches sein. Deshalb ist es notwendig ein anderes in ihm, was sein Anfang ist und dieses andere ist die Seele, die als Seele selbst für sich ewige Bewegung ist. Deshalb ist die Seele des Menschen unsterblich, weil sie das Veränderliche bewegt, selbst aber notwendig unvergänglich bewegend sein muß, um Anfang des Veränderlichen sein zu können, das dieses unvergänglich Bewegende als Anfang haben muß, um vergänglich zu entstehen und zu vergehen. Wenn es kein Denken der unsterblichen Seele gäbe, gäbe es kein Denken des sterblichen Leibes. Hierin liegt der nun aus dem Denken des Einen und Ersten des Seins des Seienden im Ganzen entspringende Grund zur Scheidung von Leib und Seele. Weil der Leib veränderlich ist, muß er von etwas Unveränderlichem bewegt sein, das ihn bewegt, das selbst aber als ewig Bewegendes ist, weil es sonst nicht der Anfang des Entstehens und Vergehens sein könnte und so dieses nicht wäre. Aus der Scheidung von veränderlichem Seienden und unsterblichem, unveränderlichem Sein als sich selbst ewig Bewegendes und so alles Seiende Bewegende entspringt allererst die Scheidung von Seele und Leib. Mit diesem Abschluß des Gedankenganges im Phaidros in der Zuwendung zur Frage nach Seele und Leib erfahrt die Frage nach der Unsterblichkeit der menschlichen Seele ihre Einbeuung in die Frage nach dem Sein des Seienden im Ganzen und darin der Unsterblichkeit von Seele insgesamt. Damit schließt sich der Weg von der Seele als Bestimmung des Seins des Seienden im Ganzen zur Seele als Bestimmung des Menschen. Wir sehen hieraus, wie sich sowohl aus der Blickbahn der Frage nach dem Seienden als solchen als auch aus der Blickbahn der Frage nach dem Seienden im Ganzen die Notwendigkeit ergibt, die Seele als unsterblich zu denken, d. h. sowohl die Seele insgesamt als auch die Seele des einzelnen Seienden Mensch muß als unsterblich gedacht sein. Mit der Bestimmung der Unsterblichkeit der Seele erfahrt das platonische Denken die äußerste Ausgestaltung der Frage nach dem Sein des Menschen und dem Sein des Seienden im Ganzen. Das Sein des Seienden im Ganzen muß als ewig bewegend und so unsterblich gedacht sein, um Sein für das bewegte Seiende im Ganzen zu sein, und gleichennaßen muß der Mensch in seinem Höchsten als unsterblich gedacht sein, da die Seele den
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Leib bewegt und sie selbst im Denken des Seins am Unsterblichen teilhat und so sie selbst unsterblich ist.
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a) Die Unsterblichkeit im Denken des unbewegt Bewegenden Befragen wir nun Aristoteles' Denken der Unsterblichkeit, so ist zuerst sein gegenüber Platon gewandeltes Denken der Unsterblichkeit innerhalb des Ersten und Einen Prinzips im Buch XII der Metaphysik l56 zu entfalten, um hiervon ausgehend seine Fassung der Unsterblichkeit der Seele in "De Anima", Buch mJS7 nachzuvollziehen und die Frage nach der menschlichen Seele 1. hinsichtlich ihres wesenhaften Unsterblichseins und 2. hinsichtlich ihres Vollzuges des Unsterblichen zu entfalten. Im 6. Kapitel des XII. Buches der Metaphysik kritisiert Aristoteles Platons Fassung des ersten Prinzips als das sich selbst bewegend Bewegende hinsichtlich seines Grundes (aitia). Er merkt an, daß Platon nicht sagen kann, warum immer Bewegung sei (1071 b 33 f), d. h., daß er keinen Grund für die erste Bewegung des sich selbst Bewegenden angeben kann, sondern dieses nur als aus dem Nichts entstanden zu denken vermag. Für Platon mußte das sich selbst Bewegende aus nichts entstehen, damit es Erstes sei und nicht aus etwas anderem entstanden sei als aus sich selbst. Aristoteles fragt nun aber nach dem Ursprung der ewigen Bewegung, d. h. nach demjenigen, was im Ersten der "Ursprung des Wechselnkönnens (arche metaballein)" (Met. 1071 b 15-16, Gadamer) ist. So beläßt er es somit nicht beim ursprungs losen, aus dem Nichts sich selbst Bewegenden, sondern faßt das erste Prinzip im Kapitel 8 folgendermaßen: "Der Ursprung (arche) nämlich und das Erste (proton), was ist, ist unbewegt (aldneton), sowohl an sich als auch mittelbar, und verursacht die erste Bewegung, die ewig und eine einzige ist. Nun wissen wir: was bewegt wird, wird notwendig von etwas bewegt und das erste Bewegende ist notwendig an ihm selbst unbewegt (aldneton
156 Aristoteles, Metaphysik, Bd. I, Bücher I (A) - VI (E) und Bd. ß, Bücher Vß (Z) XIV (N), gr.ldt. Neubearbeitung der Übers. v. Bonitz. Hermann, hg. v. Seidl, Horst, Text in d. Ed. von Christ, Wilhelm, Hamburg 31989 und Aristoteles, Metaphysik XII, gr.ldt., Übersetzung und Kommentar von Gadamer, Hans-Georg, Frankfurt a.M. 31976 (im folgenden meistenteils in der Übersetzung Gadamers (zitiert als: Met., Gadamer), sonst in der Überarbeitung Seidls (im folgenden zitiert als: Met., Seidi); Numerierung und Zitate des griechischen Textes im folgenden nach Seid/). 157 Aristoteles, Über die Seele, gr.ldt., Nach der Übers. von Theiler, W., hg. v. Seidl, Horst, Text in d. Ed. v. Biehl, Wilhelm u. Apelt, Ouo, Hamburg 1995.
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einai kat' hauto), und die ewige Bewegung wird von etwas Ewigem bewegt, und zwar diese eine von dem einen Ewigen." (Met. 1073 a 24-29, Gadamer)
Aristoteles unterscheidet demnach das Erste Prinzip als das ewige, eine, unbewegt Bewegende von der ewigen, einen Bewegung. Die ewige Bewegung wird als Zweites genommen, die den Ursprung ihrer Bewegung im unbewegt Bewegenden hat. Diese Unterscheidung fehlt bei Platon, weil das sich selbst bewegend Bewegende selbst die ewige Bewegung ist, jedoch offen bleibt, woraus das Sich-selbst-Bewegende das ist, was es ist. Die Schwierigkeit des Ausbleibens des Ursprungs des Bewegenden verdeutlicht Aristoteles an der Frage nach der energeia. IS8 Wenn der Ursprung der sich selbst bewegenden ewigen Bewegung nicht befragt wird und nicht als unbewegt Bewegendes in reiner energeia gefaßt wird, so könnte dieser Ursprung auch nur dynamis, Vermögen sein, d. h. dem Vermögen nach bewegen, damit aber auch nicht bewegen. Es bedarf demzufolge 1. eines Ursprungs des sich selbst ewig bewegend Bewegenden, der über das grundlose "Sich selbst" hinaus dieses gründet. Denn wenn dieser Grund unbestimmt bleibt, könnte auch nur dem Vermögen nach Bewegung und damit auch keine ewige Bewegung sein. Also muß 2. der Grund bzw. der Ursprung nicht nur bestimmt und erfragt sein, sondern zudem in immerwährender Tätigkeit, energeia, gefaßt sein und somit keine nur mögliche Bestimmung in sich haben, weil er nur so Ursprung der ewigen Bewegung ist. ls9 Aufgrund dieser Überlegungen kommt Aristoteles im 7. Kapitel zur folgenden Bestimmung des ersten und einen Prinzipes: "[W]as bewegend ist, ohne zugleich selbst bewegt zu sein, was ewig, Sein und tätige Wirklichkeit ist (esti ti IS8 Heidegger übersetzt in seiner Aristotelesvorlesung aus dem Jahre 1931 (Heidegger, Martin, Aristoteles, Metaphysik S, 1-3. Von Wesen und Wirklichkeit der Kraft, Gesamtausgabe Bd. 33, Frankfurt a.M. 1981, 2 1990, (im folgenden zitiert als: GA 33» energeia mit Verwirklichung im Unterschied zur dynamis, die er mit Wirklichkeit der Möglichkeit im Sinne des Vermögens übersetzt. So gedacht, ist die energeia Verwirklichung im Sinne von Vollzug der Wirklichkeit des Vermögens, dynamis. Beiden eignet insofern eine eigene Wirklichkeit, ein eigenes Wiesein, d. h. sie sind beide anhand der Blickbahn von Wirklichkeit im Sinne von Vorhandenheit, d. h. Anwesenheit, gebildet und stehen somit in der Denkungsrichtung des Seins in beständiger Anwesenheit als ousia in den Weisen der parousia, Anwesenheit und apousia, Abwesenheit (vgl.: GA 33,3. Abschnitt, §§ 18, 19 und 22 sowie in GA 31, § 8). Wenn im folgenden nun von energeia und dynamis die Rede ist, so werden wir uns auf die Benennungen von energeia als Tätigkeit beschränken, womit das Am- bzw. Im-Werk-sein (en-ergeia, von en, in und ergon, Werk) als Wirklichkeit der Verwirklichung der Wirklichkeit des Vermögens gedacht sein soll, und von dynamis als Vennögen beschränken, womit die Wirklichkeit des Vermögens zur Wirklichkeit ihrer Verwirklichung gedacht sein soll, bzw. es allein bei den griechischen Nennungen belassen. 159 Die aristotelische Frage nach dem Grund der ewigen Bewegung, d. h. nach der aitia und die Fassung eines Ursprungs, arche, nennt keine erste Ursache eines Kausal- oder Schöpfungszusammenhangs. Vielmehr fragt Aristoteles nach der arche als dem ersten Prinzip, das gegeben sein muß, um Sein und Bewegung in theologischer Hinsicht hinreichend im Ersten zu denken.
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ho ou kinoumenon kinei, aidion kai ousia kai energeia ousa)." (Met. 1072 a 2526, Gadamer) Es ist ewig im Sinne von ewig unbewegt, weil es so nur Erstes und Unveränderliches sein kann für das Bewegte. Und es ist zugleich unbewegt ewig Bewegendes in höchster und reinster Tätigkeit, energeia, die nicht auch oder nur dynamis, Vermögen ist, weil so allein die ihr entspringende ewige Bewegung ewig bewegt sein kann. Das platonische göttliche Sein als Unveränderliches und so Beständiges des sich selbst ewig Bewegenden hat sich somit in das unbewegt Bewegende herausentfaltet, um so erst den vollen Begriff des Ewigen als des Unveränderlichen und so Beständigen und darin Unsterblichen des Ersten bilden zu können, das so allein ewig, unsterblich und beständig bewegen kann. 160 Im Verlauf des 7. Kapitels wandelt sich die Fassung des Ersten und Einen als des unbewegten Bewegenden zum nous, der Vernunft, um abschließend im 9. Kapitel zur noesis, der Tätigkeit der Vemunft l61 sich zu entfalten, die wir im folgenden verdeutlichen wollen. Wenn der nous dasjenige ist, dem das höchste oder vollkommenste Sein (he ariste ousia, Met. 1074 b 20) zukommt, dann bedarf es zu seiner Bestimmung einer genaueren Entfaltung seiner energeia. Diese liegt im noein, im "Denken". Dieses "Denken" muß jedoch etwas denken und nicht nichts, sonst wäre der nous keine energeia. Wenn er aber etwas denkt und dieses etwas wäre etwas anderes als er selbst, so wäre er einerseits nur bloße dynamis zu einer energeia und somit nicht vollkommene energeia, andererseits wäre in ihm ein Wechsel oder Umschlag zu etwas anderem und insofern Bewegung und somit wäre er nicht das Beständige und Unbewegte. Da er nur ohne zu wechseln allein das Göttlichste und Allerwürdigste denkt (Met. 1074 b 26), d. h. nur so das Beständige und reinste energeia ist, so kann er dies nur, wenn er 1. immer und 2. nur sich selbst denkt: "Folglich denkt er sich selbst, wenn anders er das Oberste ist und im Grunde ist dann Denken Denken des Denkens (hauton ara noei, eiper esti to kratiston, kai estin he noesis noeseos noesis)." (Met. 1074 b 33-35, Gadamer)162
160 Vgl. zur Zusammennennung des theos als des Ersten, der energeia und der Unsterblichkeit: "theou d' energeia athanasia: touto d' esti zoe aidios" (Aristotelis, De Caelo libri quattuor, Recognovit brevique adnotatione instruxit D. J. Allan, Oxonii 1936, 286 a 9, "Gottes Werktätigkeit aber ist Unsterblichkeit, dies aber ist immerwährendes Leben." (Aristoteles, Vier Bücher über das Himmelsgebäude und Zwei Bücher über Entstehen und Vergehen, gr./dt., hg. v. Prankl, Carl, Leipzig 1857) 161 Mit der Wandlung des nous zur noesis rückt Aristoteles die Tätigkeit des nous als seine eigentliche Bestimmung in den Vordergrund, indem das substantivierte Verb von noein, die noesis, als Tätigkeitssubstantiv nun zum Grundwort für das Erste wird. 162 Auf diesen Satz läuft die gesamte Erörterung der Theologie in der Metaphysik zusammen und er stellt insofern ihren Gipfel dar. Die Frage der Übersetzung und Auslegung ist dementsprechend sehr umstritten. So übersetzt Seidl: "Sich selbst also erkennt die Vernunft, wenn anders sie das Beste ist, und die Vernunfterkenntnis (bzw. -tätigkeit)
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Das Denken als Denken des Denkens bzw. die Erkenntnistätigkeit als Erkenntnis ihrer Erkenntnistätigkeit ist zwar notwendig energeia ohne dynamis und ohne Umschlag und Bewegung, jedoch ist es bzw. sie in sich nicht einfältig. In der Entfaltung des Denkens des Denkens bzw. der noesis noeseos liegt eine Ausgespanntheit der noesis von ihr aus zu ihr selbst im Denken ihrer selbst. Diese Ausgespanntheit hat kein Vorher oder Nachher und auch kein Subjekt und Objekt und dennoch liegt in dieser Zwiefalt eine "innere" Gespanntheit der höchsten energeia. So ist die energeia des nous als noesis noeseos nicht in sich einerlei, sondern sie ist sie selbst, indem sie sich selbst denkt, d. h. ihre eigene Tätigkeit denkt und so einig zwiefältig ist. Die Zwiefalt zwischen dem noein, das denkt, und dem noein, das gedacht wird, ist einige Zwiefalt, weil das noein, das gedacht wird, nichts anderes ist als das Denken selbst und insofern nichts anderes ist als das noein, das das gedachte noein denkt. Die Zwiefalt von denkendem noein und gedacht-denkendem noein allein läßt die noesis Tätigkeit sein, weil anders sie nur einfältig wäre, weil sie nichts dächte und so aber keine energeia wäre. Der nous hat so sein Ziel rein in sich selbst, ist demgemäß selbst seine entelecheia (Entelechie, Inziel). Darin liegt das Beständige und so Unsterbliche des Seins als göttliches Sein, daß es beständig und so ewig denkt als eigene Tätigkeit, d. h. nicht anderes denkt, denn sich selbst als die Tätigkeit seines Denkens. 163
ist Erkenntnis ihrer Erkenntnis (-tätigkeit)." (Met. 1074 b 33-35, Seidl) Er wehrt in seinem Kommentar (vgl. Met., Seidl, S. 579) die gängige Übersetzung der noesis noeseos als Denken des Denkens ab, weil er darin einen diskursiven Denkvollzug sieht, bei dem es ein Subjekt und Objekt gibt, hingegen hier ein vernunftmäßiges Schauen als intuitiver Akt gemeint sei. Daß das noein hier kein dianoein ist, kein Durchdenken von etwas als etwas im Sinne eines "Erkenntnisobjektes" , das etwas anderes ist als das "Erkenntnissubjekt" , ergibt sich aus dem Gesamtzusammenhang. Jedoch muß mit "Denken" nicht unbedingt ein diskursives Denken gemeint sein, weswegen wir im folgenden es bei der Übersetzung "Denken" belassen, aber im Sinne des geistigen Schauens, das die eigene Tätigkeit schaut, insofern es sie selbst ist bzw. vorn geistigen Schauen oder Anschauen in diesem Sinne sprechen oder bei den griechischen Worten bleiben. 163 Heidegger verweist in seiner Vorlesung "Grundbegriffe der antiken Philosophie" (Heidegger, Martin, Grundbegriffe der antiken Philosophie, Gesamtausgabe Bd. 22, Frankfurt a.M. 1993 (im folgenden zitiert als: GA 22» darauf, daß die noesis noeseos des unbewegten Bewegenden ein reines Seinsprinzip ist, das der Notwendigkeit entspringt, die ewige Seinsbewegung zu denken und ihr letztes telos zu fassen (GA 22, S. 179). Vgl. auch: "Bei dieser Fassung der noesis noeseos hat Aristoteles nicht gedacht an Geist, an Person, an Persönlichkeit Gottes u. dergI., sondern er hat lediglich im Auge, ein Seiendes zu finden und zu bestimmen, das dem höchsten Sinn von Sein genügt; kein Sich-selbstdenken des Geistes im Sinne des Personalen." (GA 22, S. 329) Weiter heißt es, daß Aristoteles "weit davon entfernt ist, etwas darüber zu sagen, wie die Welt durch dieses höchste Seiende geschaffen wäre. Aristoteles und die Griechen überhaupt kennen nicht die Idee der Schöpfung oder der Erhaltung. [... ] Die Welt braucht nicht geschaffen zu werden, weil sie nach Aristoteles ewig ist, ohne Anfang und Ende" (ebd.). Deshalb ist von dieser Ausgestaltung des Grundcharakters des ersten Bewegers als noesis noeseos jegliche spätere christliche Umdeutung in ein erstes Schöpferprinzip femzuhalten (vgl.
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b) Der menschliche nous in seiner Göttlichkeit und Unsterblichkeit Nachdem wir nun den theologischen Horizont des Denkens der noesis und der in ihr zu denkenden Unsterblichkeit veranschaulicht haben, stellt sich die Frage, wie für Aristoteles das Denken der Unsterblichkeit der menschlichen Seele sich entfaltet. Aristoteles spricht an einer einzigen Stelle explizit von dem Unsterblichsein der Seele l64 hinsichtlich ihres nous, am Ende des 5. Kapitels des III. Buches von "De Anima", von welchem Kapitel Theiler in seinem Kommentar sagt: "Es gibt kein Stück der antiken Philosophie, das wie diese halbe Seite dieses Kapitels eine solche Masse der Erklärungen hervorgerufen hat.,,165 Dort heißt es: "Abgetrennt (choristheis) nur ist sie [die Vernunft, der nous] das, was sie (ihrem Wesen nach) ist, und nur dieses (Prinzip) ist unsterblich (athanaton) und ewig. Wir haben (dann) aber keine Erinnerung, weil dieses leidensunfähig (apathes) ist, die leidensfähige Vernunft (pathetikos nous) hingegen vergänglich (phthartos) ist, und ohne diese jenes nichts (von dem Erinnerbaren) erkennt." (De An. 430 a 22-25) Für die Auslegung dieser Stelle, deren Fülle an Schwierigkeiten und Zusammhängen mit dem Ganzen der aristotelischen Seelenlehre sowie an verschiedensten Auslegungen hier nicht nachgegangen werden soll, beschränken wir uns auf zwei Grundfragen, die wir teils entlang der "De Anima" Interpretation von Pichtl66 entfalten wollen: 1. Inwiefern muß die Seele ihrem Wesen nach unsterblich verfaßt sein und hat insofern teil am göttlichen nous? Und eng damit zusammenhängend: Läßt sich 2. von einem Vollzug des Unsterblichseins und somit des göttlichen nous im menschlichen nous sprechen? Picht zeigt in seiner Auslegung des 5. Kapitels des dritten Buches (Picht, S. 389-395), daß die Frage nach der Seele mit dem 5. Kapitel in die Blickbahn der Theologie einmündet und nur im Zusammenhang mit Met. XII, 7-9 das hier Gesagte durchsichtig werden kann. Nur aus der theologischen Blickbahn kann verdeutlicht werden, inwiefern die menschliche Seele unsterblich ist. Für die hierzu zusätzlich heranzuziehenden Stellen ist es dabei wichtig, so weit es mög-
GA 22, S. 330-331). 164 Von einem ausführlicheren Beweis der Unsterblichkeit der Seele im nicht überlieferten Werk "Eudemos oder Über die Seele" von Aristoteles berichten mehrere spätere Autoren, u.a. Plutarch und Themistius (vgl. Fragmente zu "Eudemos oder Über die Seele", deutsch in: Aristoteles, Die Lehrschriften, Bd. 1, hg. v. Goehlke, Paul, Paderborn 1952, S. 41-51). .. 165 Aristoteles, Über die Seele, Aristoteles Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 13, Ubers. und hg. von Theiler, Willy, Berlin 21966, S. 142. 166 Picht, Georg, Aristoteles "De Anima", Vorlesungen und Schriften, Bd. 3, Stuttgart 1987,bes. S. 349-395.
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lich ist, zu scheiden, wann Aristoteles vom göttlichen und wann vom menschlichen nous spricht. Zunächst ist hierfür vorläufig zu klären, was den nous der Seele ausmacht. Aristoteles leitet die Untersuchung zum nous der Seele im 4. Kapitel des III. Buches damit ein, daß ein Teil der Seele erkennt und verständig ist und dieser Teil hinsichtlich seines noein zu befragen ist (De An. 429 a 1O-13). Picht verweist daraufl67 , daß "Teil" nicht als ein Bestandteil eines Zusammengesetzten zu verstehen ist, sondern der nous der Seele ist vielmehr ein Vermögen der Seele bzw. eine Weise oder Haltung im Ganzen des Vermögens der Seele. Von diesem nous hieß es im oben zitierten Abschnitt aus III, 5, daß nur das Leidensunfähige, apathes, von ihm unsterblich ist. Jedoch ist er seinem Wesen nach nur das, was er ist, d. h. rein das, was er ist, wenn er abgetrennt ist und zwar abgetrennt von dem Leidensfähigen, pathetikos, und Vergänglichen des nous. Die Bestimmung des nous in Hinsicht auf sein unsterbliches Wesen wird kurz zuvor in 111, 5 erweitert dargelegt als nous, der abtrennbar, choristos, leidensunfähig, apathes, und unvermischt, amiges, ist und dieses sein Wesen in der energeia iSt. 168 Diese Bestimmungen des nous gleichen aber denjenigen des göttlichen nous. Insofern läßt sich sagen, daß das Abtrennbare, Leidensunfähige, Unvermischte und in energeia sich Befindende des nous der göttliche nous ist, d. h. der nous der menschlichen Seele immer schon in diesen Hinsichten göttlich ist. Jedoch erkennt dieser nous als leidensunfähiger nous nicht ohne den leidensfähigen nous. Deshalb kommt es zu Anfang des 5. Kapitels (De An. 430 a 14-15) zur Unterscheidung in der Seele zwischen dem nous, der alles wird (panta ginesthai), und dem nous, der alles hervorbringt (panta poiein) als nous poietikos, die gleichzusetzen ist mit der Unterscheidung von nous pathetikos und nous apathes. Wir betrachten für diese Unterscheidung zunächst die Bestimmungen des nous poietikos. Das Abtrennbare entspringt der Bestimmung des göttlichen nous aus Met. XII, 7 1073 a 3-5 (Seidi): "Daß es also ein ewiges, unbewegtes, von dem Sinnlichen getrennt selbständig existierendes Wesen gibt (hoti men oun estin ousia tis aidios kai akinetos kai kechorismene ton aistheton)[ ... ]." Die ousia ist vom Sinnlichen bzw. Wahrnehmbaren (aistheton) getrennt, weil dieses das Veränderliche ist, das Sein als der göttliche nous aber rein unveränderlich und ewig ist. Dieses Getrennte bzw. Abgetrennte kommt in der Form des Abtrennbaren ebenso dem nous poietikos zu, weil er nicht auf das Veränderliche, Sinnliche geht, sondern er das Unveränderliche des Anblicks, eidos, denkt und so selbst unveränderlich und deshalb ebenso abtrennbar sein muß. Das Leidensunfähige heißt einerseits ebenfalls das Unveränderlichsein, andererseits aber
167 168
Vgl. Picht, S. 357-358. Vgl. De An. 430 a 17-18.
§ 14. Das Unsterbliche des nous bei Aristoteles
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steht es im Zusammenhang mit dem poiein und der energeia. So weist Picht diese deutsche Übersetzung als unzulänglich ab l69 und sagt, daß mit dem apathes das Nichtpassive gemeint ist, was der nous poietikos ist, weil er in der energeia und so nicht erleidet bzw. passiv, sondern tätig ist. Das poiein entspringt der energeia als Tätigkeit, das aber nach Picht (S. 392) nicht als Machen bzw. Erschaffen, sondern als Her-vor-bringen zu verstehen ist. Wenn wir somit auf die Wesensbestimmungen des nous poietikos erst vorgeblickt haben, so stellt sich die Frage, wie diese Bestimmungen im Vollzug des noein sich entfalten und wie sie im Verhältnis zum nous pathetikos stehen, mit dem allein zusammen der nous menschlicher nous ist. Im 4. Kapitel des III. Buches beschreibt Aristoteles, inwiefern dem nous die genannten Bestimmungen im Vollzug zukommen müssen, inwiefern er aber zugleich auch nous pathetikos ist. Der nous richtet sich in seinem noein auf den Wesensanblick, eidos, als das Zudenkende bzw. Gedachte (to noeton) eines Seienden, um aus diesem eidos das Seiende als dasjenige, was es ist, zu bestimmen. Um jedoch dieses eidos zu denken, muß der nous aufnahmefähig (dektikos, De An. 429 a 15) für das Zudenkende sein. In diesem dektikos liegt das Leidensfähige des nous, daß er das Vermögen hat, das eidos zu werden, aber nicht das eidos selbst, sondern ihm ähnlich (homoios, De An. 429 a 16) zu werden. Insofern liegt im nous ein Vermögen, sich dem jeweiligen eidos als der zu denkenden Sache anzugleichen, um dieses eidos zu denken. Diese Aufnahmefähigkeit und Fähigkeit der Angleichung ist die dynamis des nous als nous pathetikos. Nun muß aber der nous in dieser dynamis zugleich leidensunfähig, apathes, und unvermischt, amiges, sein, weil er das Vermögen hat, alles, d. h. jedweden verschiedenen Wesens anblick des jeweils Zudenkenden, zu fassen. Wäre er nicht unvermischt, dann würde etwas das Vermögen zum eidos hindern. 170 Gleichermaßen ist der nous zugleich "leidensunfähig", weil er jeweils das leere Vermögen ist, alles zu fassen, was Aristoteles mit dem berühmten Beispiel der leeren Schreibtafel verdeutlicht. 171 Somit ergibt sich aus dem Vermögen, der dynamis des nous, warum er, da er das Vermögen hat, das eidos zu schauen, zunächst dem Vermögen nach einerseits leidensfähig sein muß, weil er alles wird und sich insofern dem eidos angleicht und deshalb leidensfähig sein muß. Andererseits muß er aber schon im Vermögen zugleich leidensunfähig und unvermischt sein, gerade weil er alles wird. Jedoch ist der nous erst in der energeia, wenn er das eidos denkt (De An. 429 b 31). Dieser Übergang von der dynamis zur energeia im noein des noeton läßt erst den nous poietikos bzw. nous apathes in energeia sein, was er zuvor in dy-
169 170 171
Vgl. Picht, S. 362-363. Vgl. De An. 429 a 18-21. Vgl. Oe An. 429 b 31 - 430 a 2.
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B. 2. I. Das Denken des Todes
namis war. Nun ist er in der energeia leidensunfahig, unveränderlich und unvermischt, weil er 1. das Unveränderliche des eidos selbst in Ähnlichkeit wird und somit selbst unveränderlich ist und 2. in dieser Tätigkeit das Unveränderliche her-vor-bringt und in diesem Hervorbringen als Tätigkeit der energeia selbst unveränderlich ist. Aus diesen beiden Bestimmungen ergibt sich, daß er außerdem abtrennbar ist, weil er im Vollzug unveränderlich ist und deshalb wie das Unveränderliche vom Veränderlichen geschieden und so davon abtrennbar ist. Schon in der dynamis zwar ist der nous unveränderlich leidensunfahig und unvermischt, aber erst in der energeia ist er dieses schon in der dynamis Angelegte in Tätigkeit, womit er in sein Wesen in der energeia gelangt.
Infolgedessen ist der nous sowohl nous pathetikos, weil er sich VOn der dynamis zur energeia verändert, indem er sich an das eidos angleicht. Dieser "Teil" des nous ist deshalb auch vergänglich. Zugleich aber ist er nous apathes, weil 1. in der dynamis der nous alles werden kann und weitergehend 2. im Vollzug nichts anderes wird als das Unveränderliche und so selbst unveränderlich ist und 3. in diesem Vollzug seine Tätigkeit als energeia selbst unveränderlich ist. Das Unveränderliche des nous entspricht somit dem Unveränderlichen des eidos, dem er ähnlich wird, sowie der Tätigkeit, dieses Ähnliche in der energeia hervorzubringen. In dreifacher Hinsicht ist deshalb der menschliche nous schon der göttliche nous: Er ist 1. schon in der dynamis wie der göttliche nous, weil er schon in ihr leidensunfahig und unvermischt ist, und ist 2. im Vollzug des noein wie der göttliche nous, weil er selbst das Unveränderliche und so Göttliche wird, und ist 3. in der Tätigkeit des noein selbst energeia und insofern göttlicher nous.
c) Die Scheidung von göttlichem und menschlichem nous Es läßt sich nUn fragen, wie das noein der Anblicke als menschliche noesis, die dabei schon göttlich ist, vom göttlichen nous selbst zu scheiden ist. Dazu betrachten wir eine Stelle aus der Metaphysik, XII, 7, die, in großer Nähe zu III, 4 stehend, diese Frage erhellen kann: "Nun kann sich der Geist (nous) selber denken (heauton de noei), insofern er am Gedachten (tou noetou) teilbekommt. Er wird (gignetai) nämlich selbst Gedachter (noetos), wenn er an die Sache riihrt und denkt, so daß denkender Geist und Gedachtes dasselbe sind (tauton nous /cai noeton). Denn das, was das Gedachte und das Sein erst aufzunehmen vermag (dektikon), ist zwar auch Geist, aber er ist erst wirklich tätig, wenn er es schon hat; [... ]. Wenn nun so wohl, wie wir uns zuweilen, der Gott sich immer befindet, ist das etwas Wunderbares [... ]." (Met. 1072 b 20-26, Gadamer)
An dieser Stelle sehen wir, daß sehr wohl Unterschiedliches zwischen dem menschlichen nous und dem göttlichen bestehen bleibt. Der erste Unterschied besteht in der ausgeführten dynamis des menschlichen Denkens. Der nous, der
§ 14. Das Unsterbliche des nous bei Aristote1es
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hier beschrieben wird, wird (gignetai) erst in der Tätigkeit des noein. In ihm liegt das Vermögen aufzunehmen, d. h. aufnahmefähig, dektikos, zu sein, d. h. eine dynamis, die erst energeia werden muß im Denken des Zudenkenden, noeton. In diesem Zunächst-nur-vermögend-sein sowie im Werden des Gedachten liegt die erste Einschränkung der menschlichen noesis. Die zweite liegt im Sichselbstdenken bzw. Denken der eigenen Tätigkeit. Dieses geschieht dadurch, daß der nous im Teilbekommen am Gedachten selbst Gedachtes wird bzw. sich selbst denkt, d. h. selbst noeton wird. In dieser Hinsicht sind dann nous und noeton dasselbe. Wir wollen diesen Sachverhalt folgendermaßen auslegen: Sie sind zwar dasselbe, jedoch nicht einerlei. Es bleibt eine Zwiefalt in der Einheit von Zudenkendem und Denken. Denn dieses Sichselbstdenken geschieht beim Denken des noeton, d. h. eines eidos. Das Denken der eigenen Tätigkeit des Denkens und so das Sichdenken des Denkens läßt das Denken zwar zu einem noeton werden. Es ist dann aber kein reines Sichselbstdenken, sondern ist nur ein Dabeidenken eines Dabeigedachten als Sichdenken in der eigenen Tätigkeit im Denken eines eidos. Da die menschliche noesis noch ein noeton hat, das sie denkt, das sie aber nicht selber ist, obschon sie dasselbe mit ihm ist, da sie sich mit ihm in ihrer Tätigkeit denkt, d. h. weil das noeton als eidos hierin immer ein eidos als zu denkender Wesensanblick für ein Seiendes ist, ist das hierbei sich vollziehende Sichdenken eingeschränkt. Es ist noch gebunden an das Denken eines noeton, auch wenn es im Sichdenken als Denken der eigenen Tätigkeit beschränkt, d. h. dieses für sich genommen, so göttlich ist, wie der göttliche nous. Der göttliche nous bleibt in zweierlei Hinsichten vom menschlichen nous geschieden. Erstens befindet sich der göttliche nous immer in der energeia, d. h. er hat keine dynamis in sich, weil er immerwährende energeia ist. Der menschliche nous hingegen ist nur dann energeia, wenn er denkt und im Denken auf das eidos geht. Deshalb ist der Mensch nur zuweilen in der energeia, er ist es z.B. nicht, wenn er schläft, aber auch nicht, wenn er nicht eigens denkt. Darin liegt die erste Scheidung. Die zweite ist mit dem noeton besprochen. Nur der göttliche nous ist noesis noeseos ohne noeton, da er nichts Anderes denkt als sich selbst, hingegen der menschliche nous nur sich mitdenkt, wenn er ein noeton denkt, indem er seine eigene Tätigkeit mitdenkt und diese selbst zum noeton wird. So ist der menschliche nous zwar göttlich im Sichdenken in der Tätigkeit des Denkens, nicht aber uneingeschränkt und insofern immer menschlich, weil er 1. nur zuweilen und 2. nur zugleich im Denken von etwas anderem als er selbst ist, in der energeia sich befindet. Wir verdeutlichen diese Unterscheidung anhand des Endes der Ausführungen von Picht zur Frage nach dem menschlichen und göttlichen nous, die mit einer Auslegung zweier Stellen aus dem 4. Kapitel, die das menschliche noein mit dem Sichselbstdenken in Zusammenhang bringen, abschließt. In De An. 429 b 9 heißt es in der Übersetzung Pichts (Picht, S.394): "und auch er selbst kann dann sich selbst schauen (kai autos de hauton tote dynatai noein)", d. h. dann,
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B. 2. I. Das Denken des Todes
wenn der menschliche nous in dem Modus der energeia im noein eines noeton sich bewegt. An späterer Stelle heißt es: "und auch er selbst ist anschaubar wie das Angeschaute (kai autos de noetos estin hoster ta noeta)" (De An. 430 a 2-3, Picht, S. 394). Picht schließt hieraus: "Der Satz sagt also aus, daß im Vollzug der noesis das noein, indem es die Ideen anschaut, sich selbst anschaut. Die Ideen sind nichts anderes als die Anschauungsbilder des göttlichen nous. Der nous kann das, was er anschaut, gar nicht anschauen, ohne dabei seines eigenen Anschauens gewahr zu werden." (Picht, S.394) Aus diesem Sachverhalt und im Zusammenhang mit der schon erwähnten Stelle in Met. 1072 b 19f endet Picht seine Ausführungen zum menschlichen nous folgendennaßen: "Er [der Mensch] kann mit jeder Wahrheit, die er erkennt, zugleich das Licht des nous poietikos erkennen, in dem sie sichtbar wird. Im Augenblick eines solchen Erkennes ist auch das Denken des Menschen noesis noeseos - das ist die höchste Fonn des Lebens überhaupt." (Picht, S. 395) Aus dem zuvor Ausgeführten wollen wir eine andere Auslegung dieser Stellen und dieser Frage vornehmen. Da, wie Picht darlegt, der nous nicht das anschauen kann, was er anschaut, ohne dabei seines eigenen Anschauens gewahr zu werden, ist dieses Anschauen gleichennaßen nie ohne Anschauen eines Angeschauten, nämlich des eidos, der Ideen. Das Gewahrwerden des eigenen Anschauens ist so zwar dasselbe, wie das Angeschaute, aber nicht einerlei mit dem Angeschauten, sondern dabei zwar Notwendiges aber doch nur Mitangeschautes. Gleiches betrifft die letzte Auslegung Pichts. Wenn es heißt, daß der Mensch mit jeder Wahrheit, die er erkennt, zugleich seine Tätigkeit des nous poietikos erkennt, so nur mit jeder Wahrheit. Die Schlußfolgerung, daß ein solches Gewahrwerden mit jeder Wahrheit, d. h. mit jedem Anschauens eines eidos, dabei Denken der eigenen Tätigkeit des nous ist, ist nachvollziehbar. Aber dieses noein der eigenen noesis ist nicht die göttliche noesis noeseos, wie es Picht gleichsetzt, wenn er sagt, daß in solchen Augenblicken das Denken des Menschen selbst noesis noeseos ist. Das noein der noesis im menschlichen Denken ist zwar für sich genommen eine noesis noeseos und für diesen Teil gleich der göttlichen noesis. Weil sie jedoch nicht allein und nur ihre Tätigkeit erkennt, sondern immer nur diese im Anschauen eines Angeschautes, ist sie beschränkte noesis noeseos. Der göttliche nous hingegen ist nur noesis noeseos ohne noeton, weil er in seiner noesis nur sich selbst und nicht sich selbst nur im Denken eines Angeschauten anschaut. Er allein ist immer und nur allein Anschauen seines Anschauens. Insofern kommt dem menschlichen nous eine begrenzte noesis noeseos zu, die an ihr selbst für sich selbst genommen der göttlichen noesis entspricht, aber nicht, wie die göttliche noesis, reine noesis noeseos ist, weil sie immer auch das noein eines noeton und nicht ohne dieses noesis noeseos ist.
§ 14. Das Unsterbliche des nous bei Aristoteles
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d) Der Vollzug der reinen noesis noeseos und das Unsterblichsein des Menschen Wenn wir somit den Aufweis einer reinen noesis noeseos für den menschlichen nous im Denken eines eidos abweisen, können wir dennoch weiterfragen, inwiefern es eine reine noesis noeseos im menschlichen noein gibt, die dem göttlichen nous nicht begrenzt durch ein noeton entspricht. Eine hierüber hinausgehende Weise ergibt sich nämlich dann, wenn der Mensch die ontotheologische Frage nach dem Seienden als solchen, d. h. nach dem Sein des Seienden an ihm selbst in Hinsicht des göttlichen Seins stellt. Es geschieht dann etwas anderes, weil darin nur nach dem Unveränderlichen und so Göttlichen an ihm selbst gefragt wird. Und in dieser Frage, wenn der Mensch den nous in seiner reinen Tätigkeit denkt, wie dieser an ihm selbst ist und diesen nous damit rein anschaut, schaut er selbst nichts anderes mehr an als seine eigene Tätigkeit des noein und ist dann selbst reine noesis noeseos. Denn im Denken der Frage nach dem nous an ihm selbst denkt das noein selbst nichts anderes als die noesis der noesis. Nur in dieser Frage richtet sich der nous nicht mehr auf ein noeton, sondern nur auf seine eigene Tätigkeit, so daß er nichts denkt außer seine Tätigkeit. Und in diesem Denken als Frage nach der noesis an ihr selbst wird das Denken selbst zur reinen noesis noeseos, weil sie nicht mehr nach dem Sein eines Seienden fragt, sondern nach dem Sein an ihm selbst. In dieser Frage als der reinen Seinsfrage denkt der menschliche nous im reinen Vollzug die noesis noeseos, indem er selbst nichts denkt als seine eigene Tätigkeit. Diese denkerisch-philosophische Haltung allein voilzieht eine reine göttliche noesis noeseos und ist in diesem Vollzug unsterblich, weil sie nichts anderes denkt als die eigene Tätigkeit, die in der reinen energeia unveränderlich nicht wechselt und so rein unsterblich ist. Allein von diesem Denken als Schauen des eigenen Schauens läßt sich sagen, daß in ihm der menschliche nous rein göttlicher nous ist. Allein in dieser Schau liegt die Beschränkung und Unterscheidung des menschlichen nous vom göttlichen nous nicht mehr im Vollzug, weil ein noeton mitangeschaut ist, sondern in der Dauer des Vollzuges, weil dieser beim Menschen sich nur in den Augenblicken der philosophischen Frage nach dem göttlichen Sein und der Schau der Tätigkeit des Schauens als noesis noeseos vollzieht. Der Unterschied des göttlichen nous besteht dann darin, daß dieser immer und nur die Schau seines eigenen Schauens vollzieht, der menschliche nous aber nur zuweilen in der philosophischen Frage und Haltung die Tätigkeit der reinen noesis noeseos vollzieht. Hieran bemißt sich aber die grundsätzliche Ausrichtung der philosophischen Tätigkeit als höchste menschliche Tätigkeit, die Aristoteles in der »Nikomachischen Ethik« folgendermaßen f{)rmuliert:
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"Man darf aber nieht jener Mahnung Gehör geben, die uns anweist, unser Streben als Menschen auf Menschliches und als Sterbliche auf Sterbliches zu beschränken, sondern wir sollen, soweit es möglich ist, uns bemühen, unsterblich (athanatizein) zu sein, und alles zu dem Zweck tun, dem Besten, was in uns ist, nachzuleben." (Eth. Nie.ll77b31-34)172
Zusammenfassend können wir Aristoteles' mehrfältiges Denken der Unsterblichkeit folgendermaßen beschreiben. Die Unsterblichkeit der Seele zeigt sich in viererlei Hinsichten: Erstens ist die Seele zunächst schon wesensmäßig unsterblich als Vermögen, dynamis, dadurch, daß sie es vermag, das Unveränderliche zu werden. Zweitens ist sie im Vollzug unsterblich, insofern sie in der Angleichung an das eidos selbst dieses wird in Ähnlichkeit und so selbst unveränderlich wird und dabei drittens zugleich in energeia sich befindet und sich denkt und hierin unsterblich ist im Mitanschauen ihrer eigenen Tätigkeit als einer beschränkten noesis noeseos. Viertens jedoch ist sie rein im höchsten Vollzug unsterblich, wenn sie nicht mehr auf ein eidos eines Seienden geht, sondern in der Frage nach dem Sein selbst den göttlichen nous in der noesis noeseos denkt und so nichts anderes denkt als sich selbst im Denken ihrer Tätigkeit, d. h. die eigene reine noesis noeseos denkerisch schauend erfährt. Dieses vierfältige Wesenhafte der Seele in ihrem Sein als Unsterbliches macht dasjenige aus, von dem Aristoteles sagen kann, daß es abgetrennt, d. h. abgetrennt vom Veränderlichen und insofern nach dem Tod, rein dasjenige ist, was es im Zusammenspiel mit dem Veränderlichen vor dem Tod immer schon, wenn auch auf die verschiedenen Weisen im Vollzug und in der Dauer eingeschränkt und nicht ohne das Veränderliche war, nämlich ewig und unsterblich. Durch diese Durchsprache des aristotelischen Denkens der Unsterblichkeit können wir den umfassenderen Begriff der Unsterblichkeit im platonischaristotelischen Denken fassen. Aus der ontotheologischen Blickbahn ergibt sich die Notwendigkeit, Sein als Unveränderliches und so Unsterbliches zu denken, damit es Sein für das veränderliche Seiende sein kann. Da Sein erst dann als Wesensmäßiges gedacht sein kann, wenn es den vollen Begriff des Seins für das Seiende im Ganzen umgreift, muß das Sein als göttliches Sein darin unsterblich sein, daß es als Erstes das unbewegt Bewegende ist und dieses nur ist als noesis noeseos. Aus dieser ontotheologischen Blickbahn ergibt sich für die Seele des
112 Aristoteles, Nikomachische Ethik, dt., auf der Grundlage der Übersetzung von Rolfs, Eugen, hg. von Bien, Günther, Hamburg 1972 und gr.: Aristotelis, Ethica Nicomachea, Recognovit brevique adnotatione instruxit J. Bywater, Oxonii. 111954.
§ 15. Meister Eckharts Denken des Todes und des unsterblichen Ich
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Menschen, da sie selbst das Sein des Seienden zu schauen vennag, daß sie selbst unsterblich ist, weil anders sie keinen Teil am Sein hätte, so aber nichts vom Seienden in seinem Wesen erkennen könnte. Da aber die Seele das Wesenhafte erkennt und zudem in der philosopischen Frage nach dem Wesensmäßigen des Wesens das Göttliche zu denken vennag, ist sie selbst wesensmäßig und vollzugs mäßig unsterblich. Hieraus wird deutlich, wie notwendigerweise aus dem Denken von Sein in beständiger Anwesenheit, d. h. jetzt in der höchsten Weise aus dem Denken der energeia der noesis noeseos, das Unsterbliche des Seins, aber auch das Unsterbliche des Menschen gedacht sein muß, ohne diese Bestimmung Sein und Denken des Seins nicht zu denken wären. Deshalb ist das Unsterbliche des Menschen nicht eine unter anderen Bestimmungen, sondern die höchste Fonn des griechischen Daseins, einerseits im Vollzug sowie andererseits als Bedingung der Möglichkeit und so ontologische Grundlage jeglicher griechischen Bestimmung des Menschen, die aus der Not, Sein in beständiger Anwesenheit zu denken, notwendigerweise entspringt. Ohne das Unsterblichseinkönnen und Unsterblichsein gäbe es keine Möglichkeit, das Sein als Wesenhaftes zu denken. Ohne das Unsterblichsein des Menschen gibt es kein Denken des Seins in beständiger Anwesenheit.
§ J5. Meister Eckharts Denken des Todes und des unsterblichen Ich
Wenn wir nun für das Denken von Tod und Unsterblichkeit nach der griechischen Fassung dieser Frage uns dem mittelalterlichen Denker Meister Eckhart zuwenden, so bedarf es vorab einer einleitenden Begründung dieser Auswahl. Wir wählen Meister Eckhart, weil bei ihm eine Thematisierung der Unsterblichkeit stattfindet, die zum einen weitaus deutlicher das Erlangen der Unsterblichkeit im Vollzug beschreibt, als dies in dem platonisch-aristotelischen Denken der Unsterblichkeit der Fall ist, auch wenn Meister Eckhart in der Ausgestaltung dieser Frage durchaus noch in der griechischen Denkungsart von Veränderlichem und Unveränderlichem im Hinblick auf die ousia steht. Außerdem finden wir bei ihm eine Thematisierung des Todes in seiner besonderen Stellung in der Frage nach der Unsterblichkeit, die so bei den Griechen nicht zu finden ist. Und des weiteren deutet seine Fassung des Unsterblichen des Menschen als Ich gegenüber dem nous der Seele auf eine tiefgreifende Wandlung dieser Frage. Eine Notwendigkeit der Behandlung Eckharts ergibt sich in anderer Hinsicht aus der großen Nähe zwischen Heideggers "positivem" Denken von Nichts und Tod, so wie wir es für die »Beiträge« zuvor entfaltet haben, und der Bedeutung, die das Nichts und der Tod als "positive" Phänomene im Denken der Unsterblichkeit für Eckhart haben. Daß Eckhart für Heidegger eine große Bedeutung hatte und Heidegger ihn sehr hochachtete, zeigt sich explizit z.B. im Spätdenken der Gelassenheit, deren Struktur Heidegger sogar ausdrücklich von Eckhart 14*
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B. 2. I. Das Denken des Todes
entlehnt, auch wenn er damit etwas über Eckhart Hinausgehendes zur Sprache bringt. 113 Für unsere Thematik des Todes wird sich zeigen, inwiefern Eckhart in seiner Fassung von Nichts und Tod dem Geschehen nach in einen Bereich vorweist, der sich in Heideggers Denken von Nichts und Tod im Abgrund, wenn auch aus einer gänzlich gewandelten Blickbahn und aus einem tieferen Eindringen in das Geschehen selbst, wiederfinden läßt. Und zudem kann gerade diese Nähe dazu verhelfen, das ganz Andere im Denken des Todes bei Heidegger in Absetzung zu Eckhart zu verdeutlichen.
a) Die Todesdurchbrechung zum Einssein von Ich und Gott Um Eckharts Denken von Tod und Unsterblichkeit nachgehen zu können, bedarf es zuerst einer vorläufigen Klärung, in welchem Zusammenhang Eckhart den Tod denkt. In der 12. Predigt heißt es hierzu: "Der Mensch, der so [im Einssein mit Gott] in Gottes Liebe steht, der soll sich selbst und allen geschaffenen Dingen tot sein [... ]."174 Das hier genannte Totsein bezieht sich also auf einen Zustand im Leben vor dem faktischen Tod, in dem der Mensch in Gottes Liebe steht, was zuvor in verschiedenen Gestalten des Einsseins mit Gott erläutert wird. Damit erfährt der Tod des Menschen in der Gestalt des Totseins für sich selbst und für alles Geschaffene eine besondere Stellung im Verhältnis zu einem anderen Leben, dem Leben in Gott und damit zu Gott selbs.t. Dieses Verhältnis von Tod, Gott und Leben in Gott gilt es als Blickbahn Eckharts für die Frage nach der Unsterblichkeit zu entfalten. Dafür ist es notwendig, das Geschehen des Totseins, d. h. des Werdens dieses Totseins auszulegen. Wenn der Mensch sich selbst tot sein soll, so muß er sich selbst gelassen haben. Eckhart bringt dieses Lassen in den "Reden der Unterweisung" mit dem Willen als Eigenwillen in Verbindung. Dort heißt es:
173 Vgl. GL, S. 32-34. Für die Anknüpfung an Meister Eckhan im Gelassenheitsdenken Heideggers sowie für dieses Gelassenheitsdenken selbst vgl: Herrmann, FriedrichWilhelm v., ''Gelassenheit und Ereignis. Zum Verhältnis vom Heidegger zu Meister Eckhart", in: Wege ins Ereignis, ebd., S. 371-386 und für das Verhältnis von Meister Eckhan und Heidegger überhaupt: Caputo, lohn D., The Mystical Element in Heidegger's Thought, Athen 1978, sowie zum Denken der Gelassenheit auch: Guzzoni, Ute, "Das Denken der Gelassenheit und der Bezug des Seins zum Menschen", in: Wege im Denken. Versuche mit und ohne Heidegger, Freiburg 1990, S. 201-229. 174 Meister Eckhan, Die deutschen und lateinischen Werke, Herausg. v. d. Deutschen Forschungsgemeinschaft, Die deutschen Werke, hg. u. übers. v. Quint, lose!. Predigten, Erster Band, Stuttgart 1958, S.478 (im folgenden zitiert als: ME I, Zählung der Predigten nach der jeweiligen Bänden dieser "Stuttgarter Ausgabe").
§ 15. Meister Eckharts Denken des Todes und des unsterblichen Ich
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"Denn wer seinen Willen und sich selbst läßt, der hat alle Dinge so wirklich gelassen, als wenn sie sein freies Eigentum gewesen wären und er sie besessen hätte mit voller Verfügungsgewalt. Denn was du nicht begehren willst, das hast du alles hingegeben und gelassen um Gottes willen.,,175
Dieses Lassen des eigenen Willens allein eröffnet nach Eckhart ein Verhältnis zu Gott und zum rechten Willen als Gottes Willen, wie es an späterer Stelle heißt: "Dann ist der Wille vollkommen und recht, wenn er ohne jede IchBindung (äne alle eigenschaft, ME V, S. 218 176) ist und wo er sich selbst entäußert hat und in den Willen Gottes hineingebildet und -geformt ist." (ME V, S. 514) Nur wer seinen Willen ganz gelassen hat und sich Gottes Willen überlassen hat, ist eins mit Gott, indem er eins mit Gottes Willen ist. Hieraus zeigt sich das Geschehen des Eintritts in ein Gottesverhältnis 1. durch das Ablassen vom Eigenwillen und 2. durch das Sieheinlassen auf Gottes Willen und so 3. als das dem Willen Gottes Siehüberlassen. Hiermit ist jedoch nur erst die Struktur angezeigt, in der Eckhart vom Verhältnis zu Gott spricht, ohne daß damit das Sicheinlassen und der Gott sowie sein Wille selbst näher entfaltet und der Bezug zur Unsterblichkeit verdeutlicht wären. Das Ablassen vom Eigenwillen und das Sicheinlassen können wir nun näher bestimmen als Sicheinlassen auf das Nichts und den Tod. Damit es zu einem Verhältnis zu Gott kommt, so sagt Eckhart, "mußt du vorher zu nichts geworden sein" (ME 11, S. 684, Pr. 39). Dieses Nichtswerden ist das erste Vollzugsmoment als Sicheinlassen auf das Nichts und so das Werden des Totseins. Eckhart nennt es auch das Absterben. 177 Im Sicheinlassen auf das Nichts geschieht eine Niehtung des Selbstseins und des Seins für die geschaffenen Dinge. Damit ist die eine Richtung dieses Vollzuges gekennzeichnet. Wenn nun aber der Mensch sich ganz gelassen hat und so "ertötet und völlig tot" (ME 11, S. 655, Pr. 29) ist, geschieht ein zweites Moment dieses Vollzuges. Dann vollzieht sich nicht nur das Absterben und Totwerden durch die Nichtung in bezug
17S Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, Herausg. v. d. Deutschen Forschungsgemeinschaft, Die deutschen Werke, hg. u. übers. v. Quint, losej, Fünfter Band, Traktate, Stuttgart 1963, S. 507 (im folgenden zitiert als: ME V). 176 Wir fügen hier den mittelhochdeutschen Text Eckharts hinzu, weil das Wort "IchBindung" nur im übertragenen Sinne das mittelhochdeutsche "eigenschaft" wiedergeben kann und eine sehr freie Ubersetzung Quints darstellt. Im Mittelhochdeutschen heißt "eigenschaft" nicht Merkmal oder Akzidenz· einer Sache, sondern ist mit "Eigentum" oder "Besitz" zu übersetzen. Quint verweist jedoch auf die auch davon noch unterschiedliche, eigentümliche und schwer zu übersetzende Verwendung Eckharts von "eigenschaft" mit den beiden Präpositionen "mif' und "tine", die dem Sinn nach in die Richtung von Fürsieh-als-Eigentum-Ansehen übertragbar ist. (Vgl.: Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate, hg. u. übers. von Quint, losej, München 61985, S. 470). 177 Vgl.: Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, Herausg. v. d. Deutschen Forschungsgemeinschaft, Die deutschen Werke, hg. u. übers. v. Quint, losej, Predigten, Zweiter Band, Stuttgart 1971 (im folgenden zitiert als: ME 11), S. 654, Pr. 29.
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auf das Selbstsein, sondern im nun ganz erreichten Totsein ereignet sich, so können wir vorblickend sagen, das Durchbrechen. In welchem Bereich geschieht dieses Erreichen des völligen Totseins und darin des Durchbrechens? Das Sicheinlassen auf das Nichts und den Tod wollen wir als denkerische Haltung auslegen, d. h. aber als Haltung des Menschen überhaupt. Das Vermögen, sich so zu lassen, daß der Mensch sich selbst stirbt, verweist auf eine Tiefe der denkerischen Erfahrung und Haltung, die es vermag, so bis an den eigenen Tod heranzureichen und ihn sich entgegnen zu lassen, daß er ganz den Menschen tötet und der Mensch hierin ganz seinen eigenen Tod stirbt und ihn so ganz erfährt. In dieser Tiefe der Eingelassenheit in den Tod stirbt der Mensch seinen eigenen Tod, aber so, daß er, wenn er ganz der eigene Tod "ist", d. h. nichts mehr ist, er den Tod durchbricht. In dieser nicht denkerisch spekulativ entworfenen, sondern erfahrenen Möglichkeit des eigenen Sterbens bis zum und in den eigenen Tod wird, wenn dieser ganz erreicht ist, der Tod durchbrochen. 178 Was geschieht in diesem Durchbrechen, das wir als Grundwort 179 für die Todesüberwindung bei Eckhart nehmen können? Eckhart spricht von ihm folgendermaßen: "In dem Durchbrechen aber, wo ich ledig stehe meines eigenen Willens und des Willens Gottes und aller seiner Werke und Gottes selber, da bin ich über allen Kreaturen und bin weder "Gott" noch Kreatur, bin vielmehr, was ich war und was ich bleiben werde jetzt und immerfort. Da empfange ich einen Aufschwung, der mich bringen soll über alle Engel. In diesem Aufschwung empfange ich so großen Reichtum, daß Gott mir nicht genug sein kann mit allem dem, was er als "Gott" ist, und mit allen seinen göttlichen Werken; denn mir wird in diesem Durchbrechen zuteil, daß ich und Gott eins sind." (ME 11, S. 73Of, Pr. 52)
Wir betrachten für diese Stelle zunächst das Verhältnis von Selbstsein für sich selbst und Ich. Es ist notwendig, hier zu scheiden zwischen Selbst und Ich, was Eckhart der Sache nach in seinem Denken konsequent, jedoch nicht terminologisch durchhält. In dem Moment, indem ich für mich selbst ganz sterbe, d. h. "ledig stehe meines eigenen Willens" und so selbst nichts und tot bin, wird aus dem Nichts das Ich, durchbreche ich im Tod zu mir als Ich, das ich bin in
178 Die Verwendung des Terminus der "denkerischen Erfahrung" soll unsere Auslegung des hier geschilderten Phänomens einerseits von einer gefühlsmäßigen, subjektiven, mystisch-religiösen Erfahrung ohne Nachvollziehbarkeit abgrenzen, weshalb wir das Denkerische hierbei betonen. Zugleich aber ist damit keine abstrahierende, reflexive denkerische Haltung gemeint, die spekulativ über den Tod denkt, weshalb wir von denkerischer Erfahrung sprechen, die im Bereich des Denkens erfährt und in ihm das Erfahrene denkerisch zum Ausdruck bringt. 179 Vgl. für das Durchbrechen auch: ME 11, S. 652, Pr. 29.
§ 15. Meister Eckharts Denken des Todes und des unsterblichen Ich
215
eins mit Gott. Ich und Gott sind darin eins, d. h. das Ich, das ich bin, ist im Durchbrechen Gott. 180 Eckhart scheidet hierbei zwischen dem Gott der göttlichen Werke und dem Gott in dem Einssein mit dem Ich. Hierzu heißt es zuvor: "Darum bitte ich Gott, daß er mich "Gottes" quitt mache; denn mein wesentliches Sein ist oberhalb von Gott, sofern wir Gott als Beginn der Kreaturen fassen." (ME 11, S. 730, Pr. 52). Von diesem Gott als Beginn der Kreaturen sagt Eckhart, daß er "mir nicht genug sein kann mit allem dem, was er als "Gott" ist". Diesen Gott als Willen Gottes der Schöpfung wird das Ich gerade ledig, sowie es den eigenen Willen ledig wird. Deshalb sagt Eckhart zuvor: "Ein großer Meister sagt, daß sein Durchbrechen edler sei als sein Ausfließen, und das ist wahr. Als ich aus Gott floß, da sprachen alle Dinge: Gott ist. Dies aber kann mich nicht selig machen, denn hierbei erkenne ich mich als Kreatur." (ebd.) Wir finden also bei Eckhart den Gott der Schöpfung, der den Menschen lediglich als sein Geschöpf sich erkennen läßt. Dieser Gott ist Gott als höchstes Seiendes des Seienden im Ganzen, das dieses schöpft und erhält. In dieser Blickbahn ist der Mensch nur ens creatum im Gegensatz zum ens increatum als summ um ens der Schöpfung. Eckhart verläßt diesen Menschenbegriff als geschöpftes Wesen, der sich aus dem Denken des christlichen Schöpfergottes ergibt. Zudem verläßt er damit ein Denken einer Einheit mit Gott im Sinne eines aus Gott Ausgefloßenseins, wie es einem kosmologischen Denken und Erfahren einer Einheit mit Gott als Einheit mit der Schöpfung entsprechen würde, weil darin kein unvermitteltes Einssein mit Gott gegeben ist. Damit stellt er den Menschen als Ich außerhalb der Schöpfung und somit auch außerhalb des Seienden im Ganzen. Das Ich ist selbst ens increatum, das als Ich vor der Schöpfung war l8l und sich selbst geschaffen hat: "In jenem Sein Gottes nämlich, wo Gott über allem Sein und über aller Unterschiedenheit ist, dort war ich selber, da wollte ich mich selber und erkannte mich selber , diesen Menschen zu schaffen." (ME 11, S.730, Pr. 52) Deshalb ist der höhere Wille Gottes nicht der Wille in der Schöpfung, die diese 180
Aus dem Sachverhalt des Sterbens des eigenen Willens und des Lassens von sich
selbst ergibt sich, daß Eckhart z.B. im Satz "daß ich und Gott eins sind" mit dem Wort "ich" nicht sich selbst meint. Dieser Unterschied ist bei allen Stellen zu beachten, in denen Eckhart von sich in dem Einssein mit Gott spricht. Da Eckhart bei diesen Stellen sowohl das "ich" als auch das "wir" verwendet oder- einfach vom Menschen spricht, können wir terminologisch von dem "Ich" sprechen, daß der Mensch überhaupt sein kann (vgl. auch: "[ ... ] Gott muß schlechthin ich werden und ich schlechthin Gott, so völlig eins, daß dieses "Er" und dieses "Ich" ein "Ist" werden und sind. [... ] ein einziges Hier oder ein einziges Nun : schon könnte dieses "Ich" mit dem "Er" niemals wirken noch einswerden." (Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, Herausg. v. d. Deutschen Forschungsgemeinschaft, Die deutschen Werke, hg. u. übers. v. Quint. JoseJ, Predigten, Dritter Band, Stuttgart 1976 (im folgenden zitiert als: ME ill), S. 586, Pr. 83) 181 Vgl. auch: "Die Schrift sagt: 'Vor der geschaffenen Welt bin ich' . Es heißt: 'Vor' 'bin ich'" (ME 11, S. 685, Pr. 39).
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B. 2. I. Das Denken des Todes
ständig schöpft und erhält, sondern der im Vorherigen genannte Wille Gottes, in den in der Gelassenheit vom eigenen Willen sich eingelassen wird, ist der Wille des Ich in eins mit Gott und so "mein" Wille. Wir können insofern bei Eckhart eine Scheidung zwischen Selbst- und Menschsein als Kreatur einerseits und Ich- und Gottsein als das eigentliche Sein des Menschen andererseits vornehmen. In dieser Scheidung vollzieht sich das Eckhartsche Denken der Unsterblichkeit des Ich im Gegensatz zum Sterblichen des Menschen, das er mit der Unterscheidung von Geborenheit und Ungeborenheit folgendermaßen auslegt: "Darum bin ich Ursache meiner selbst meinem Sein nach, das ewig ist, nicht aber meinem Werden nach, das zeitlich ist. Und darum bin ich ungeboren, und nach der Weise meiner Ungeborenheit kann ich niemals sterben. Nach der Weise meiner Ungeborenheit bin ich ewig gewesen und bin ich jetzt und werde ich ewig bleiben. Was ich meiner Geborenheit nach bin, das wird sterben und zunichte werden, denn es ist sterblich; [... ]." (ebd.)
Diese Fassung des Ich als Ursache meines Selbstes in der Scheidung von Ungeborenheit und so Unsterblichkeit sowie Geborenheit und so Sterblichkeit wird zudem mit dem unbewegt Bewegenden in Zusammenhang gebracht: "Da [im Einssein mit Gott] bin ich, was ich war, und da nehme ich weder ab noch zu, denn ich bin da eine unbewegliche Ursache, die alle Dinge bewegt." (ME 11, S. 731, Pr. 52) Damit zeigt sich Eckharts Denken von Tod und Unsterblichkeit in folgenden Zügen: Der Tod ist für Eckhart die Eröffnung oder gewissermaßen das Tor zum Unsterblichen dergestalt, daß, wenn der Mensch allem Selbstsein und Sein für das Vergängliche stirbt und seinen eigenen Tod erfährt, er durch ihn durchbricht und sich als Ich ewig, ungeboren und unsterblich erfährt. Dieses Ich ist eins mit Gott und ist so die Ursache und das unbewegt Bewegende für das Selbst- und Menschsein, daß das Vergängliche und so Sterbliche des Menschen ist. Insofern denkt Eckhart zwar in der griechischen Blickbahn von unveränderlichem Unsterblichen und veränderlichem Sterblichen den Menschen, jedoch so, daß der Mensch als Ich derjenige ist, der das unbewegt Bewegende ist und so Gott ist in dem Einssein von Ich und Gott, worin trotz der ausgesprochenen Anknüpfung an AristoteIes der gewichtige Unterschied zu ihm liegt. Dieses Ich als denkerische Erfahrung des eigenen Ungeborenseins ist außerdem insbesondere deshalb das Unsterbliche des Menschen, weil zu seiner Erfahrung der Mensch schon gestorben sein muß und in der Todesdurchbrechung seinen Tod schon erfahren hat, damit zugleich aber sich als unsterblich vor dem faktischen Tod erfahren hat, gerade weil er den Tod im Leben durchbrochen hat. Folglich ist hierin für das Denken Eckharts der faktische Tod schon im Leben überwunden. Wenn er als faktischer Tod geschieht, berührt er nicht das unsterbliche Ich des Menschen und der Mensch, der sich im unsterblichen Ich erfährt, überwindet den faktischen Tod ins Unsterbliche.
§ 15. Meister Eckharts Denken des Todes und des unsterblichen Ich
217
Wenn wir soweit das Denken Eckharts bezüglich des Todes entfaltet haben, können wir fragen, inwiefern denn nicht das Sterben und Totsein für sich selbst und die Welt eine Lebens- und WeItabgewandtheit bedeutet, die den Vollzug von Leben meidet. Daß bei Eckhart jedoch gerade das Umgekehrte gedacht wird, verdeutlicht sein Denken vom Werk, d. h. vom Handeln im weitesten Sinne aller Lebensvollzüge. Bezüglich des Lebens der Werke heißt es bei ihm: "Und darum, willst du leben und willst, daß deine Werke leben, so mußt du für alle Dinge tot und zunichte geworden sein." (ME 11, S. 684, Pr. 39) Das Totsein ist insofern gerade die Eröffnung des eigentlichen Lebens und des Lebens der Werke des Menschen. Was hier Leben heißt, ist das ewige Leben, in dem nur dann gelebt wird, wenn das vergängliche Leben ganz abgestorben ist. Das vergängliche Leben und seine Werke, d. h. sein Handeln, richtet sich einerseits auf das Vergängliche des Menschen, wenn er für sich selbst handelt und sich selbst denkt, sowie andererseits auf das Vergängliche der Welt, wenn der Mensch in ihr Vergängliches schafft bzw. sie in ihrem Vergänglichen denkt. Das heißt aber im umfassenden Sinne, jegliches Denken und Handeln, das seine Ausrichtung nach dem Vergänglichen vollzieht, ist selbst vergänglich. Dieses Denken und Handeln ist nicht nur vergänglich, es ist nach Eckhart zudem tot, weil es auf das Tote im Sinne des Sterblichen geht. Die diesem Denken und Handeln entspringenden Werke sind deshalb tote Werke. Das eigentliche Leben hingegen ist das Leben aus dem todesdurchbrochenen Unsterblichen des Einsseins von Ich und Gott, dessen Werke allein leben, weil sie nicht sterben, sondern im ewigen Leben geschehen. Diese Werke wirkt der Mensch im Ich mit Gott und diese allein sind lebendig, weil ewig. Wir haben es hierbei mit einer völligen Umkehrung der uns gewöhnlichen Begriffe von Leben und Tod zu tun. Was uns gewöhnlich als Leben und Wirken erscheint, ist für Eckhart nur Totes, da es nur tote, d. h. vergängliche Werke bewirkt. Was uns jedoch Ende des Lebens ist, der Tod, ist für Eckhart allererst die Eröffnung des eigentlichen Lebens, das für ihn jedoch nicht nach dem faktischen Tod geschieht, sondern im "Leben" durch die Todesdurchbrechung, aus der im Sein im unsterblichen Leben allein das eigentliche Leben entspringt und aus der nur die Werke, die aus diesem Leben gewirkt sind, lebendige Werke sind, die in eins mit Gott gewirkt werden. 182
182 Vgl. ME 11; S. 685, Pr. 39: "Wenn der Mensch erhoben ist über die Zeit in die Ewigkeit, so wirkt dort der Mensch ein Werk mit Gott."
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B. 2. I. Das Denken des Todes b) Das Ich und der Tod im christlichen Denken Eckharts
Betrachten wir das Denken Eckharts im Verhältnis zum griechischen Denken der Unsterblichkeit, so hebt sich neben der gleichen Blickbahn von Unveränderlichem und Veränderlichem das Denken des Ich sowie das Denken des Todes als Eröffnung des Unsterblichen im Leben heraus. Die Quelle dieses gewandelten Denkens von Tod und Unsterblichkeit haben wir in Eckharts Auseinandersetzung zwischen seiner denkerischen Erfahrung und dem religiösen Hintergrund des Christlichen zu suchen. Deshalb ist es notwendig, diesen Hintergrund insoweit zu veranschaulichen, als er mit dem Denken Eckharts einhergeht und Eckhart seinem Denken in dieser religiösen Gestalt Ausdruck verleiht. Dabei soll jedoch sein Denken nicht aus religiösen, glaubensmäßigen Grundsätzen abgeleitet werden, sondern wir wollen aufzeigen, wie durch den Einschlag des Christlichen sich das Denken der Unsterblichkeit wandelt. Dazu ist Eckharts eigenes Denken des Christlichen, das sich, neben anderen Quellen, besonders am Johannesevangelium entzündet, aufzuzeigen. Denn das christliche Denken Eckharts beiseite zu lassen, hieße, sein denkerisches Ringen um seine Mitte zu bringen. Der Gedanke des Einsseins von Gott und Ich findet sich bei Eckhart weit häufiger als in dieser philosophischen Fassung in der Form des Einsseins von Vater und Ich bzw. Sohn. Damit nimmt Eckhart die Sprache des Johannesevangeliums auf, wie z.B. das Sprechen von Jesus Christus in Joh. 10, 30, "Ich und der Vater sind eins."183 oder in Joh. 17,21, "auf daß sie alle eins seien, gleichwie du, Vater, in mir und ich in dir", oder die durchgängige Redeweise Jesu Christi vom Sohn, der er ist vom Vater. Diese Aufnahme vollzieht sich jedoch so, daß dieses Einssein von Vater und Ich oder Vater und Sohn nicht auf Jesus Christus beschränkt ausgelegt wird, sondern gerade vielmehr Eckhart von "sich" als Sohn des Vaters und somit vom Menschen überhaupt als Sohn des Vaters spricht, d. h. Eckhart sich und den Menschen in dieser Hinsicht in eins setzt mit Jesus Christus in der wesenhaften Möglichkeit des Einsseins von Ich und Vater bzw. Sohn und Vater. Nur in dieser Blickbahn ist nachvollziehbar, wie Eckhart den Sohn, das Ich und den Vater denkt. Diese Auslegung des Christlichen von Eckhart stößt jedoch unumgänglich in eine Diskussion der Theologie um das Verständnis von Jesus Christus und das Verhältnis des Menschen zu ihm. Da wir aber bei unserer Auslegung den Schwerpunkt auf die gedankliche Relevanz des Christlichen für Eckhart legen, 183 In: Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments, nach der deutschen Übersetzung Martin Luthers, neu durchgesehen nach dem vom Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß genehmigten Text (Textfassung 1912), Stuttgart 1968 oder gleichlautend in: Novum Testamentum Graece et Germanice, Das Neue Testament griechisch und deutsch, hg. v. Nestle, Eberlwrd, Stuttgart 111921.
§ 15. Meister Eckharts Denken des Todes und des unsterblichen Ich
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wollen wir diese nur, soweit es für das weitere Verständnis notwendig ist, erörtern. Eckhart spricht zwar von einem Abstand zwischen Jesus Christus und dem Menschen, zugleich aber davon, daß der Mensch selbst Sohn wird und d. h., wie Jesus Christus Sohn des Vaters wird: "Alles denn, was Gott je seinem eingeborenen Sohn gab, das hat er mir ebenso vollkommen gegeben wie ihm und nicht weniger, ja, er hat es mir in höherem Maße gegeben: er gab meiner Menschheit in Christus mehr als ihm , denn ihm gab er's nicht, mir hat er's gegeben und nicht ihm; denn er gab's ihm nicht, besaß er's doch von Ewigkeit her im Vater." (ME 11, S. 641, Pr. 25).
Jesus Christus muß hiernach in seiner Menschheit nichts an Gott mehr gegeben werden, er besaß dies "von Ewigkeit her im Vater". Insofern ist Jesus Christus nach Eckhart als Mensch ganz Gott. Der Unterschied zum Menschen überhaupt besteht nun darin, daß Jesus Christus ganz je schon der Sohn war und ist, hingegen der Mensch dies erst werden muß und nur ist im zu erlangenden Einssein des Ich mit dem Vater. Daß darin jedoch der Mensch Sohn ist wie Jesus Christus, ergibt sich aus dem Denken des Einsseins: "Der Vater hat nur einen einzigen Sohn [... ] und insoweit wird der Sohn in uns geboren und werden wir im Sohn geboren und werden ein Sohn." (ME 11, S. 692, Pr. 41) Wir können demgemäß im Eckhartschen Sinn von Jesus als Menschen und Christus als Gott im Menschen Jesus sprechen, wobei der Christus das Ich ist, daß in dem Einssein mit dem Vater (vgl. oben Joh. 10, 30) im Menschen Jesus diesen zum vollkommenen Gottmenschen macht. Diese Scheidung von Jesus als Mensch, Christus als Ich oder Sohn und dem Vater hat seine Entsprechung im Menschen überhaupt, wenn der Mensch "sein" Ich im Einssein mit dem Vater erfährt, d. h. wenn er zum Ich bzw. zum Sohn bzw. zu Christus in dem Vater wird. Eckhart unterscheidet in diesem Zusammenhang auch zwischen Mensch im Sinne des Selbstseins und der menschlichen Natur als Sein des Menschen im Ich. Gott nahm in Jesus Christus menschliche Natur an (vgl. ME I, S. 525, Pr. 24) und dem Menschen ist es deshalb möglich, die menschliche Natur zu werden, die dieselbe ist, die in Jesus Christus ist: "Willst du derselbe Christus sein und Gott sein, so entäußere dich alles dessen, was das ewige Wort nicht annahm. Das ewige Wort nahm keinen Menschen an; darum entäußere dich dessen, was von einem Menschen an dir sei und was du seist, so bist du dasselbe im ewigen Wort, was die menschliche Natur in ihm ist. Denn deine menschliche Natur und die seine haben keinen Unterschied: es ist eine ; denn, was sie in Christus ist, das ist sie in dir. [... ] Das ist 'Fülle der Zeit', und so [in der Ewigkeit] steht es mit mir, und so bin ich wahrhaft der einige Sohn und Christus." (ME I, S. 525/526, Pr. 24)
Die Sohnschaft des Menschen überhaupt ist hieraus das Erlangen des Ich und so des Christus im Vater, was bei Jesus Christus von Ewigkeit her gegeben war und dem Menschen nur im Einsseins des Ich in Gott bzw. dem Vater gegeben ist. Hierin liegt nach Eckhart der Unterschied zwischen Jesus Christus und dem Menschen bei dennoch gleichem Einssein im Vater im Sein als Sohn, das bei
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B. 2. I. Das Denken des Todes
Jesus Christus und beim Menschen gemäß dem Gedanken des Einsseins nur gleich sein kann, weil es sonst nicht eins wäre und nicht nur ein Sohn wäre. Eckhart spricht vom Sohn auch folgendermaßen: "Der Vater gebiert seinen Sohn ohne Unterlaß, und ich sage noch mehr: Er gebiert mich als seinen Sohn und als denselben Sohn. Ich sage noch mehr: Er gebiert mich nicht allein als seinen Sohn; er gebiert mich als sich und sich als mich [... ] Darum ist der himmlische Vater in Wahrheit mein Vater, denn ich bin sein Sohn und habe alles von ihm, was ich habe, und ich bin derselbe Sohn und nicht ein anderer. Weil der Vater ein Werk wirkt, darum wirkt er mich als seinen eingeborenen Sohn ohne jeden Unterschied." (ME I, S. 454, Pr.7) Hiermit verdeutlicht sich das Denken des Einsseins von Gott und Ich. Für Eckhart sind der Vater und das Ich als der eingeborene Sohn ohne Unterschied und insofern eines, aber nicht einerlei, sondern in der Zwiefalt des Geschehens der Geburt zwischen Vater und Sohn. Das Geschehen der Geburt des Sohnes des Vaters im Menschen ist eine gewandelte Wendung für das Geschehen der Todesdurchbrechung zum Einssein. Eckhart spricht auch von der zweiten Geburt, nach der ersten als derjenigen in die Welt, als Geburt "geistig in Gott hinein" (ME III, S. 564, Pr. 76). Damit knüpft er ausdrücklich an das Nikodemusgespräch in Joh. 3 an, in dem es heißt: "Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen." (Joh. 3, 3) Wie jedoch ist dieses Geborenwerden mit der Ungeborenheit durch die Erfahrung des Einsseins durch die Todesdurchbrechung zu denken? Eckhart differenziert hierzu folgendermaßen: "Damit ist uns zu verstehen gegeben, daß wir ein einiger Sohn sind, den der Vater ewiglich geboren hat aus dem verborgenen Dunkel ewiger Verborgenheit innebleibend im ersten Beginn der ersten Lauterkeit, die da eine Fülle aller Lauterkeit ist. Hier habe ich ewiglich geruht und geschlafen in der verborgenen Erkenntnis des ewigen Vaters, innebleibend unausgesprochen. Aus dieser Lauterkeit hat er mich ewiglich geboren als seinen eingeborenen Sohn in das Ebenbild seiner ewigen Vaterschaft, auf daß ich Vater sei und den gebäre, von dem ich geboren bin. [... ] Im gleichen Zuge, da er seinen eingeborenen Sohn in mich gebiert, gebäre ich ihn zurück in den Vater." (ME I, S. 518f, Pr. 22) Wir können hieraus entnehmen, daß das Ich bzw. der Sohn je schon vom Vater ewig geboren war, weil das Ich und der Vater ewig ungeboren sind, dies jedoch unausgesprochen, d. h. verborgen. Die Geburt dieses verborgenen Jeschon-Geborenseins geschieht erst im wechselseitigen Gebären. Dieses vollzieht sich so, daß der Mensch in der Todesdurchbrechung sich selbst ganz stirbt, darin aber der Vater den Sohn bzw. das Ich "in mich gebiert", worin zugleich, da ich den Tod durchbreche und das Ich erlange, ich den Vater in ihn zurückgebäre, d. h. ich in das Einssein so mit Gott bzw. dem Vater eintrete, daß ich ihn als Vater im Einssein mit mir gebäre und darin ich "Vater" bin. Insofern gebiert in der Todesdurchbrechung der Vater sich seinen Sohn, indem er den Menschen zum Ich werden läßt, sowie der Mensch den Vater gebiert, indem er ihn Vater sein läßt, d. h. sich als Sohn des Vaters gebären läßt. In diesem Geschehen der
§ 15. Meister Eckharts Denken des Todes und des unsterblichen Ich
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Todesdurchbrechung bzw. des Geborenwerdens in die Ungeborenheit wird von Eckhart der Mensch als Sohn des Vaters gedacht, der, wie wir zuvor entfaltet haben, als Ich, der er als Sohn ist, wie Jesus Christus und darin Gott ist. Eckhart faßt diesen Sachverhalt auch folgendermaßen: "Warum ist Gott Mensch geworden? Darum, daß ich als derselbe Gott geboren würde." (ME 11, S. 654, Pr. 29)
c) Der Tod und die Auferstehung als Eröffnung des Gottmenschenturns Fragen wir nun, was der eigenen denkerischen Auslegung des Christlichen von Eckhart den äußersten Grund gibt, so können wir dies an der Frage nach Tod und Auferstehung veranschaulichen. Wir betrachten hierzu die zuletzt genannte Stelle in ihrem weiteren Zusammenhang: "Warum ist Gott Mensch geworden? Darum, daß ich als derselbe Gott geboren würde. Darum ist Gott gestorben, damit ich der ganzen Welt und allen geschaffenen Dingen absterbe." (ebd.) Für Eckhart ist letztlich deshalb die Möglichkeit eröffnet, als Mensch Gott zu werden, d. h. sich als Ich im Einssein mit dem Vater zu erfahren, weil der Gott in Jesus Christus ganz Mensch geworden ist. Damit ist diese Möglichkeit für den Menschen überhaupt eröffnet. Diese grundSätzliche Eröffnung erfährt jedoch hier eine umfassende äußerste Entfaltung. Diese finden wir im zweiten Teil des Zitates: Der Gott ist gestorben, d. h. im Zusammenhang damit, daß der Gott Mensch geworden ist, daß einerseits der Gott als Mensch gestorben ist. Dadurch hat aber, wie wir erweiternd entfalten können, andererseits der Gott den Tod ganz erfahren und in dieser Erfahrung den Tod ganz in sich aufgenommen. Jedoch ist es, gemäß der christlichen Überlieferung in der Eckhart steht, dabei allein nicht geblieben, sondern Jesus Christus ist auferstanden und hat so den Tod als Gott im Menschen oder Mensch in Gott ganz in sich aufgenommen und über- bzw. verwunden. Ohne das Denken der Auferstehung würde dieser Satz keinen Sinn im Gesamtzusammenhang ergeben. Denn wenn es heißt, daß darum der Gott gestorben ist, damit "ich der ganzen Welt und allen geschaffenen Dingen absterbe", dieses Absterben aber gerade zur Todesdurchbrechung und zur Unsterblichkeit führt, wenn ich ganz gestorben bin, so eröffnet der Gott als Mensch durch seinen Tod und seine Auferstehung im äußersten Ausmaß die Möglichkeit, daß der Mensch nicht nur abstirbt, sondern darin den Tod zum Unsterblichen durchbricht. Deshalb können wir diesen Sachverhalt folgendermaßen auslegen, daß, weil der Gott als Mensch ganz gestorben ist und den Tod ganz aufgenommen hat, aber auferstanden ist, ich es als Mensch vermag, ganz abzusterben und meinen Tod ganz zu sterben und darin den Tod zu durchbrechen, aufzuerstehen und zur Unsterblichkeit zu gelangen, sowohl im "Leben" als auch im faktischen Tod. Mit dem Sterben des Gottes ist der Weg gewiesen, auf dem der Mensch zu gehen vermag, indem er in den Tod wie Jesus Christus geht und wie er den Tod zu überwinden vermag, da in dem Augenblick, da er ganz gestorben ist, er den Tod durchbricht und sich als Ich im Eins-
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B. 2. I. Das Denken des Todes
sein mit dem Vater erfährt in der Auferstehung in die unsterbliche Geborenheit. Deshalb ist für Eckhart der Tod einerseits im "Leben" und andererseits im faktischen Tod das Tor zur Auferstehung und zum unsterblichen Ich, was er sowohl denkerisch als auch durch seine Auslegung der christlichen Überlieferung ausgestaltet. 184 Auf der Grundlage des nun Veranschaulichten wollen wir abschließend folgende Deutung des Verhältnisses von Denken und Christlichem bei Eckhart vornehmen, die gemäß dem Ineinandergehen beider nur der Versuch einer Ausdeutung sein kann. Wenn Eckhart von den Phänomenen des völligen Totseins, der Durchbrechung und darin des Einsseins von Gott und Ich spricht, so wollen wir dieses als Eckharts denkerische Erfahrung deuten, der er im Denken des unsterblichen Ich und des sterblichen Menschseins Gestalt verleiht. Hiervon ausgehend bindet Eckhart dieses Denken in seine Ausdeutung des Christlichen zurück, leitet es aber nicht aus den Glaubenssätzen zur Auferstehung und dem menschgewordenen Gott ab. Aus der eigenen denkerischen Erfahrung von Tod und Auferstehung zum Unsterblichen und der denkerischen Fassung dieser sieht er den Grund der Eröffnung dieser Möglichkeit im überlieferten Geschehen des Christlichen, das er gleichsam dadurch wieder-holt in dem eigenen Erfahren und Denken und es so zur geschichtlichen Eröffnung und Menschenmöglichkeit werden läßt. Ohne das eigene Erfahren und Denken hätte sich Eckhart nicht der Bereich des Ich und der Auferstehung geöffnet, jedoch daß er sich ihm so öffnete, sieht er als dem Geschehen in Jesus Christus entsprungen an. Denn die Erfahrung und Fassung des Ich als des Unsterblichen im Einssein mit Gott entstammt für Eckhart der eröffneten Möglichkeit des Christlichen, dadurch daß ein Mensch als Gott sich und so sein Ich und den Vater als den Gott als Eines angesprochen hat und dieses Einssein war.
184 Als ein weiterer Versuch innerhalb eines christlichen Denkens und Dichtens den Zusammenhang von Tod, ewigem Leben und dem Christlichen in ähnlicher Gestalt wie Eckhart zu fassen, sei die Dichtung "Hymnen an die Nacht" von Novalis (Friedrich v. Hardenberg (1772-1801» genannt, in ihr besonders innerhalb der 5. Hymne das Lied des griechischen Sängers an Jesus Christus: "Der Jüngling bist du, der seit langer Zeit' Auf unsern Gräbern steht in tiefen Sinnen; , Ein tröstlich Zeichen in der Dunkelheit - , Der höhern Menschheit freudiges Beginnen. , Was uns gesenkt in tiefe Traurigkeit, , Zieht uns mit süßer Sehnsucht nun von hinnen. 'Im Tode ward das ew'ge Leben kund,' Du bist der Tod und machst uns erst gesund." (Novalis, Schriften, Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hg.: Kluckhohn, Paul u. Samuei, Richard, Vier Bände u. ein Begleitband, Erster Band, Das dichterische Werk, hg. v. Kluckhohn. Paul u. Samuel. Richard, revidiert v. Samuei. Richard, Stuttgart 3 1977, S. 147)
§ 15. Meister Eckharts Denken des Todes und des unsterblichen Ich
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d) Die Unsterblichkeit bei Eckhart in Absetzung von Platon und Aristoteles Mit dem christlichen Denken Eckharts läßt sich der Unterschied seines Denkens zum griechischen Denken verdeutlichen. Platon und Aristoteles sprechen nicht vom Ich im Einssein mit Gott, selbst wenn die Seele oder der nous apathes göttlich und unsterblich ist. Die Fassung des Unsterblichen des Menschen als Ich eröffnet sich nach Eckhart erst dadurch, daß der Gott einmal ganz Mensch war und so dieser Mensch von sich als Ich im Einssein mit Gott sprechen kann. Erst das Geschehen des Christlichen ermöglicht ein Denken des Unsterblichen als Ich. Gleiches gilt für das Geschehen des Todes. Im Denken Platons und Aristoteles' wäre es widersinnig, das Sterben und den Tod eines oder des Gottes zu denken. Der Gott ist bei ihnen die denkerische Notwendigkeit aus der Frage nach dem Sein das Erste und Eine zu fassen, dem aus dieser denkerischen Notwendigkeit nur die Bestimmungen des Unsterblichen und Unveränderlichen zukommen können. Das Sterben des Gottes zu denken, ist ebenfalls erst dadurch für Eckhart möglich, daß der Gott ganz Mensch wurde und so dem Tod ausgesetzt war und ihn erlitt, etwas für die Griechen so Undenkbares. Dem entspricht, daß der Tod als Eröffnung des Unsterblichen im "Leben" in dieser Tiefe ebenso von Platon und Aristoteles nicht gedacht wird, auch wenn für Aristoteles das faktische Sterben am Ende des Lebens der Übergang zum reinen Wesen des nous apathes ist oder für Platon zum Eigentlichen, nach dem hin das ganze Leben als philosophisches orientiert war. Diese Wendung jedoch, in diesem Ausmaß das Unsterbliche im Leben durch das völlige Totsein und das Durchbrechen zum Ewigen zu denken, entstammt erst dem Christlichen bei Eckhart, der diese Möglichkeit in dem Geschehen von Tod und Auferstehung des Gottmenschen erblickt. Platon und Aristoteles hingegen tragen, wie wir sagen können, in ihrem Denken einen "Hang" zum Zustand nach dem faktischen Tod, weil sich ihr Denken an der beständigen Anwesenheit von Sein orientiert, die rein aber nur ganz im Unveränderlichen, d. h. nur abgetrennt vom Veränderlichen und so nach dem faktischen Tod gegeben ist. Deshalb ist für Sokrates bei Platon der Zustand nach dem faktischen Tod im Unveränderlichen erstrebenswert l85 und 185 Vgl. Platon, Phaidon, 64 a: "Nämlich diejenigen, die sich auf rechte Art mit der Philosophie befassen, mögen wohl, ohne daß es freilich die andern merken, nach gar nichts anderrn streben als nur zu sterben und tot zu sein. Ist nun dieses wahr: so wäre es ja wohl wunderlich, wenn sie zwar ihr ganzes Leben hindurch sich um nichts anderes bemühten als um dieses, wenn es nun aber selbst käme, dann unwillig sein wollten über das, wonach sie lange gestrebt und sich bemüht haben." (vgl. ebenso 67 e) Auch wenn Sokrates bei Platon die Selbsttötung aus Achtung vor den Göttern als Hüter der Menschen (62 a - 63 b) ablehnt, wird der Zustand nach dem Tod höhergeschätzt als der Zustand der Verbindung von Leib und Seele. Die Seele ist für Platon nach dem Tod vom Leib abgesondert und damit nicht mehr dem Veränderlichen als Quelle des Unwahren und Unbeständigen ausgesetzt, sondern lebt rein in demjenigen, was sie als Unveränder-
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B. 2. I. Das Denken des Todes
für Aristoteles der nous apathes nur rein das, was er ist, wenn er abgetrennt vom nous pathetikosl 86 ist. Auch wenn ebenfalls für Eckhart das Leben vor dem Tod nicht das eigentliche Leben, sondern das tote, weil vergängliche Leben ist und das eigentliche, d. h. ewige Leben erst durch das völlige Totsein eintritt, hierin also eine große Nähe zu den Griechen besteht, geht sein Denken des todesdurchbrochenen, ewigen Lebens im "Leben", das im Leben lebendige, weil ewige Werke wirkt, in dieser Ausprägung über das griechische Denken hinaus. Für Eckhart ist der Zustand nach dem Tod nur eigentlicher oder reiner als der Zustand vor dem Tod insofern, als der Tod noch nicht im Leben gestorben ist. Wenn jedoch der Tod im Leben durchbrochen ist, ist dieses Leben aus dem todesdurchbrochenen Unsterblichen das eigentliche Leben und unterscheidet sich in der Reinheit nicht von dem Sein nach dem faktischen Tod. Auch wenn für Platon und Aristoteles in der philosophischen Frage nach dem Sein an ihm selbst im Vollzug des Denkens das Unsterbliche weil Unveränderliche berührt wird bzw. im Denken der reinen noesis noeseos vollzogen wird und hierin eine Nähe zum Leben aus dem Ewigen bei Eckhart besteht, denken sie dennoch zugleich das reine Wesen nach dem faktischen Tod bzw. nach der Abtrennung des Veränderlichen vom Unveränderlichen, was bei Eckhart nicht zu finden ist. Dem Christlichen als Geschehen des Gottmenschen im Leben entspringt insofern ein Denken des Unsterblichen im Leben, das die griechische Fassung des Unveränderlichen im Denken des Seins verwandelt. So zu denken ist für Eckhart erst möglich, da das Christliche geschichtlich geworden ist. Wir sehen hieraus, wie das Denken des Unsterblichen von Platon und Aristoteles trotz gleicher Blickbahn hinsichtlich des Ewigen und Veränderlichen bei Eckhart sich 1. in liches und so Beständiges für sich an sich selbst ist. 186 Vgl. De An., III, 5, 430 a 23-25. Bei Plutarch findet sich zur Haltung Aristoteles' zum Zustand nach dem Tod ein Zitat aus dem nicht überlieferten Dialog "Eudemos oder Über die Seele", in dem Aristoteles die Sage des Königs Midas und des Seilenos erzählt und kommentiert, das, obschon nur sekundäre Quelle und insofern anzweifelbar, dennoch ein Licht auf das Denken Aristoteles' diesbezüglich werfen kann: "Daß es das Allerbeste sei, nie geboren zu sein, und daß Totsein besser sei als Leben. Vielen schon ist dies von der Gottheit bestätigt worden. Dies habe dem König Midas nach der Jagd, auf der er den Seilenos fing, als er ihn fragte, was für die Menschen das Beste und Erstrebenswerteste sei, jener Seilenos gar nicht sagen wollen, er habe lange unverbrüchlich geschwiegen. Als er ihn aber schließlich mit allen erdenklichen Mitteln zum Reden gebracht habe, da habe er mit einem Seufzer gesagt: Du Eintagskind mit Deinem unglücklichen Stern und schweren Geschick, was zwingt Ihr mich zu sagen, was Ihr besser nie erfahren hättet? Denn das beste Leben ist das, das von eigenem Unheil nichts weiß. Für alle, Männer wie Frauen, ist es bei weitem das Beste, nicht geboren zu sein und im wertvollsten Zustande zu verharren. Das Zweitbeste aber, das erste, was der Mensch in seiner Gewalt hat, ist möglichst bald zu sterben. Daraus folgt doch, daß der Zustand im Tod dem im Leben überlegen ist, sonst hätte er nicht so gesprochen." (in: Aristoteles, Die Lehrschriften, Bd. 1, hg. v. Goehlke. Paul, Paderborn 1952, S. 45-46)
§ 16. Kants kritisches Denken der Idee der Unsterblichkeit
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das Denken des unsterblichen Ich, 2. in das Denken des Sterbens des Gottes und 3. in das radikalere Denken des Todes als Eröffnung des Unsterblichen im Leben durch das Geschehen von Tod und Auferstehung des Gottmenschen Jesus Christus gewandelt hat. So zu denken wäre für Eckhart ohne Rückbindung an das Christliche nicht möglich und ohne eine Auslegung des christlichen Denkens Eckharts wäre schwer nachvollziehbar, warum das Ich und der Tod eine derartig zentrale Bedeutung erfahren. Allein aus der Frage nach dem Sein und einer Deutung Eckharts in der Blickbahn von Sein als beständige Anwesenheit, d. h. allein aus seiner nachweislichen Abhängigkeit vom griechischen Denken, bliebe ungeklärt, wie Eckhart zur Fassung des Unsterblichen als Ich und zum Tod als Eröffnung und Geschehen der Durchbrechung zum Unsterblichen gelangt, weshalb es notwendig war, das Christliche im Denken Eckharts zu entfalten.
§ 16. Kants kritisches Denken der Idee der Unsterblichkeit
Für die Durchsprache des Denkens der Unsterblichkeit ist es unumgänglich, abschließend hierauthin das Denken Kants in seiner »Kritik der reinen Vernunft« und seiner »Kritik der praktischen Vernunft«187 zu untersuchen, weil bei Kant eine Wendung dieser Frage eintritt, die das platonisch-aristotelische Denken diesbezüglich in seinen Grundfesten erschüttert und das Denken überhaupt wandelt, auch wenn Kant nicht die Leitfrage der Metaphysik als Frage nach dem Sein in beständiger Anwesenheit in der Gestalt des Denkens des Allgemeinen verläßt und auch nicht das Denken der Unsterblichkeit verabschiedet. Der Schwerpunkt unserer Auslegung liegt deshalb nicht allein bei seiner Darlegung, daß eine Erkenntnis der Unsterblichkeit innerhalb der reinen theoretischen Vernunft abzuweisen ist. Denn wie Kant in der »Kritik der praktischen Vernunft« zeigt, ist die Idee der Unsterblichkeit für die reine praktische Vernunft eine notwendige Bedingung ihres Objektes und ohne sie wäre die praktische Vernunft nicht in ihrer allgemeinen Gesetzmäßigkeit zu denken. Insofern können wir vorblickend sagen, daß Kant keineswegs das Denken der Unsterblichkeit als gänzlich abwegiges Denken verläßt, sondern vielmehr die reine theoretische Vernunft kritisch in ihrem Erkenntnisvermögen in ihre Schranken verweist, um jedoch umso deutlicher an der Idee der Unsterblichkeit im Sinne des Glaubens als Vemunftglaube festzuhalten, der sich dem Denken der praktischen Vernunft notwendig ergibt. Wenn Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« bezüglich der Unsterblichkeit davon spricht, daß er "das
187 Kant, Jmmanuel, Kritik der praktischen Vernunft, hg. v. Vorländer, Karl, Hamburg 1°1990 (im folgenden zitiert als: KpV).
IS MUller
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Wissen [ihrer] aufueben [mußte], um zum Glauben Platz zu bekommen, [... ]" (B XXX), so heißt dies für die Idee der Unsterblichkeit, daß er ihre Wissensmöglichkeit kritisch zurückweisen mußte, um aber für den Vernunftglauben in der praktischen Vernunft diese Idee als notwendig nachweisen zu können, und nicht um einem allein möglichen, unbegründbaren, einfachen Glauben das Wort zu reden.
a) Die Idee der Unsterblichkeit im Ganzen der »Kritik der reinen Vernunft« Wenden wir uns der »Kritik der reinen Vernunft« und innerhalb ihrer der Frage nach der Unsterblichkeit zu, so können wir zuerst aus dem Titel die Leitbahn hierfür entnehmen. Wenn Kant von der "Kritik" spricht, so heißt hier "Kritik" nicht ein in unserem heutigen Sprachgebrauch denkbares, rein negatives Aufweisen von der Falschheit einer Sache. Kritik versteht Kant vom griechischen krinein, dt. unterscheiden, sondern, her als Untersuchung, die unterscheidet bzw. differenziert für die reine theoretische Vernunft, was ihr an Erkenntnis möglich ist und was ihr Vermögen überschreitet. In dieser Fragestellung der Unterscheidung im Vermögen der Vernunft steht die Frage nach der Unsterblichkeit. Als Frage nach der Möglichkeit der Vernunft geht die Kritik sowohl einer dogmatischen als auch einer skeptischen Philosophie voraus. Sie steht vor beiden, d. h. bezüglich der Frage nach der Unsterblichkeit, sowohl vor einem dogmatischen Setzen als auch vor einem dem Wesen nach ebenfalls dogmatischen, skeptischen Ablehnen der Idee der Unsterblichkeit. Betrachten wir den Aufbau der »Kritik der reinen Vernunft« und die Stellung der Frage nach der Unsterblichkeit in ihr, so finden wir eine Einteilung, die in gewandelter Weise der traditionellen, vorkantischen Unterscheidung in metaphysica generalis und metaphysica specialis entspricht. Diese meint mit metaphysica generalis die ontologia, d. h. die Frage nach dem Seienden im Allgemeinen, sowie mit metaphysica specialis die Frage nach den drei Hauptthemen der Metaphysik: "cosmolog;a, psychologia et theologia naturalis"188, d. h. Welt, Mensch und Gott. Diese Einteilung steht in einer Abhängigkeit von der uns aus dem Bisherigen geläufigen griechischen Fassung der prote philosophia als zweifältige Frage nach dem Seienden als solchem und dem Seienden im Ganzen bzw. Ersten oder Höchsten}89
188 Baumgarten, Alexander Gottlieb, Metaphysica, Editio vrr, Halle 1779, reprogr. Nachdruck, Hildesheim 1963, § 1, S. 2. 189 Vgl. zum Zusammenhang mit der Tradition: KaM, §§ 1,2, S. 5-13 und: Heidegger, Martin, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, Gesamtausgabe Bd. 25, Frankfurt aM. 21987, § 1, S. 11-17 (im folgenden zitiert als:
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Für Kant ergibt sich hieraus für seine kritische, erneuernde Grundlegung der Metaphysik eine Einteilung in die transzendentale Ästhetik und transzendentale Analytik einerseits sowie in die transzendentale Dialektik andererseits. In ersteren beiden fragt Kant nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnissen überhaupt, d. h. zunächst der reinen Erkenntnis vor aller Erfahrung, aber immer im Blick auf die durch sie ermöglichte empirische Erkenntnis. In der transzendentalen Dialektik behandelt Kant die drei Grundthemen der metaphysica specialis in den Ausformungen der Unsterblichkeit der Seele, der Ganzheit der Welt und darin der Freiheit in dieser Ganzheit und des Daseins Gottes. Innerhalb ihrer behandelt Kant die Idee der Unsterblichkeit der Seele und ihrer Fortdauer nach dem Tod als Paralogismus der Vernunft, d. h. als falscher logischer Vernunftschluß der Form nach, in vier einzelnen Paralogismen. Diese vier lauten: "1. Die Seele ist Substanz. 2. Ihrer Qualität nach einfach. 3. Den verschiedenen Zeiten nach, in welchen sie da ist, numerisch-identisch, d. i. Einheit (nicht Vielheit). 4. Im Verhältnisse zu möglichen Gegenständen im Raume." (A 344, B 402) Diese Einteilung, die gemäß den vier Klassen der Kategorien gebildet ist, erläutert Kant folgendermaßen: "Diese Sustanz, bloß als Gegenstand des inneren Sinnes, gibt den Begriff der Immaterialität; als einfache Substanz, der Inkorruptibilität; die Identität derselben, als intellektueller Substanz, gibt die Personalität; alle diese drei Stücke zusammen die Spiritualiät; das Verhältnis zu den Gegenständen im Raume gibt das Kommerzium mit Körpern; mithin stellt sie die denkende Substanz, als das Prinzipium des Lebens in der Materie, d.i. sie als Seele (anima) und als den Grund der Animalität vor; diese durch die Spiritualität eingeschränkt, Immortalität." (A 345, B 403)
Hiervon ausgehend, entfaltet Kant seine Deutung dieser Schlüsse als Paralogismen, weil dasjenige, was hier als Seele benannt und mit Prädikaten belegt ist, nach Kant nichts anderes ist als die einfache Vorstellung des "Ich" als "Ich denke", die jedoch für Kant eine "gänzlich leere Vorstellung" (B 404, A 346) ist, "von der man nicht einmal sagen kann, daß sie ein Begriff sei, sondern ein bloßes Bewußtsein, das alle Begriffe begleitet" (ebd.). Seine kritische Zurückweisung obiger Schlüsse bezieht sich auf den Objektcharakter, der für das "Ich denke" nicht gegeben sein kann, und deshalb insbesondere kein Urteil der Beharrlichkeit der Substanz dieses Ich zulässig ist. Um diese Zurückweisung nachzuvollziehen, ist es notwendig, nur soweit es die Frage nach dem "Ich denke" und der Beharrlichkeit seiner betrifft, das Ergebnis der transzendentalen Analytik bezüglich Anschauung, Kategorie und dem "Ich denke" zusarnmengefaßt zu vergegenwärtigen. Wenn Kant fragt, was die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt ist, so fragt er nach der transzendentalen, vor aller Erfahrung, d. h. apriori notwendigen Bedingung dafür, daß etwas uns als dasjenige, was es ist, erscheint und von uns erkannt GA 25).
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wird. Die beiden Stämme der Erkenntnis sind nach Kant: 1. das Mannigfaltige der Anschauungen, die uns durch die Sinne gegeben sind, und 2. die Verstandesbegriffe, die einheitgebend fungieren. Die Anschauungen sind jedoch immer schon Anschauungen in Raum und Zeit, die als die reinen Anschauungen das reine Mannigfaltige sind. Durch sie als die subjektiven Bedingungen der Anschauung können Anschauungen allererst gegeben sein. Zum Erkenntnisstamm des Verstandes gehören die einheitgebenden Verstandesbegriffe und nach der B-Fassung auch die Einbildungskraft. l90 In ihm liegt das Vermögen zur Verbindung, d. h. zur Synthesis. Die Einbildungskraft synthetisiert das Mannigfaltige von Raum und Zeit im Horizont der einheitgebenden Verstandesbegriffe bzw. der Kategorien. Durch diese vorgängige Synthesis von Anschauung und reinem Begriff bzw. der Kategorie erscheinen uns die Gegenstände in Raum und Zeit gemäß der vorgängigen Gegenstandsstruktur der Kategorien in den vier Klassen von Quantität, Qualität, Relation und Modalität. Die Einbildungskraft synthetisiert hierbei die reine Anschauung von Raum und Zeit gemäß den reinen Verstandesbegriffen als Kategorien. Sie verbindet die Zeit- und Raumteile einerseits gemäß der Einheit des Verstandesbegriff, aber andererseits zugleich schematisiert sie den reinen Verstandesbegriff zum Schema in Raum und Zeit, so daß dadurch die Gegenstandsstruktur für das Erscheinen und Erkennen des Gegenstandes gegeben ist. Diese Synthesis ist die a priorische Gegenständlichkeit, die wir uns vorstellend vorhalten, um den Gegenstand als diejenige Erscheinung, die er in seinem Was- und Wiesein ist, uns entgegenstehen zu lassen und so zu erkennen. Da wir die Gegenständlichkeit vorstellend vorhalten, liegt in im zugleich ein Bewußtsein der Identität unserer selbst. In diesem Selbstbewußtsein erblickt Kant den letzten Grund der Erkenntnis der Gegenstände, in dem noch die Kategorien selbst gründen. Es ist dies die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption, d. h. die transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins, deren Einheit als Identität des "Ich denke" mit sich selbst für Kant die oberste Einheit bzw. den obersten Grundsatz der Möglichkeit von Anschauung und Erkenntnis darstellt, was Kant folgendermaßen zusammenfaßt: "Folglich ist die Einheit des Bewußseins dasjenige, was allein die Beziehung der Vorstellungen auf einen Gegenstand, mithin ihre objektive Gültigkeit, folglich, daß sie Erkenntnisse werden, ausmacht, und worauf folglich selbst die Möglichkeit des Verstandes 190 In der A-Fassung wird die Einbildungskraft noch als eigenes, drittes Grundvermögen gedacht und erst in der B-Fassung dem Verstand zu- bzw. untergeordnet. Heidegger geht in seiner Deutung der Einbildungskraft im Kantbuch und der Kantvorlesung (GA 25), der wir hierin folgen, soweit, diese als die Wurzel der beiden Stämme der Anschauung und der Verstandesbegriffe zu sehen und faßt Kants Zurückdrängen der Einbildungskraft in der B-Fassung als ein Zurückweichen vor ihr trotz des zu ihr Gedachten (vgl. zur Einbildungskraft: KaM, 3. Abschnitt, bes. §§ 27-31, S. 133-165 und GA 25, § 21, S. 276-281).
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beruht." (B 137) Hierin liegt jedoch eine doppelte Struktur. Zwar ist erst durch die ursprünglich-synthetische Einheit des Selbstbewußtseins die oberste Bedingung jeglicher Synthesis und somit Erkenntnis überhaupt gegeben. Jedoch konstituiert sich diese Einheit des Selbstbewußtseins nur in dem Einigen des Mannigfaltigen der Anschauung in den Kategorien. Insofern bin ich mir meiner selbst erst als das selbe Bewußtsein bewußt, wenn ich das Mannigfaltige der Anschauung mit den Kategorien verbinde: "Also nur dadurch, daß ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewußtsein verbinden kann, ist es möglich, daß ich mir die Identität des Bewußtseins in diesen Vorstellungen selbst vorstelle [00']'" (B 133) Dieses Selbstbewußtsein ist immer Bewußtsein der Identität mit sich selbst im Vorstellen, weil das "Ich denke" alle meine Vorstellungen begleitet und nur so diese meine Vorstellungen sind, und ist damit immer geknüpft an das vorstellende Einigen von Raum und Zeit und den Kategorien. Zusammengenommen erst bilden das Selbstbewußtsein und die Einigung in den Kategorien die vorgehaltene Gegenständlichkeit als Horizont, der ermöglichend dafür ist, daß der Gegenstand uns als Gegenstand entgegensteht und erkannt wird. Insofern gibt es kein ursprüngliches Selbstbewußtsein ohne Vorstellung der Gegenständlichkeit, sowie es keine Gegenständlichkeit gibt ohne Einheit des Selbstbewußtseins.
b) Die vier Paralogismen zum "Ich denke" Fragen wir nun, wie Kant in der transzendentalen Dialektik die Schlüsse über das Ich hinsichtlich seiner Unsterblichkeit als unberechtigte Fehlschlüsse abwehrt, so ist die sehr genau zu differenziernde Bestimmung des "Ich denke" hierfür ausschlaggebend. Kant leitet seine Zurückweisung der vier Paralogismen mit folgender erneuten Besinnung auf das Selbstbewußtsein ein: "Also erkenne ich mich nicht selbst dadurch, daß ich mich meiner als denkend bewußt bin, sondern wenn ich mir die Anschauung meiner selbst, als in Ansehung der Funktion des Denkens bestimmt, bewußt bin. Alle modi des Selbstbewußtseins im Denken an sich, sind daher noch keine Verstandesbegriffe von Objekten, (Kategorien) sondern bloße Funktionen, die dem Denken gar keinen Gegenstand, mithin mich selbst auch nicht als Gegenstand, zu erkennen geben." (8 406/407)
Das Selbstbewußtsein ist hiernach bloße Funktion des Denkens und daraus folgt, daß ich mir meiner bewußt bin in Ansehung der Einheit des transzendentalen Selbstbewußtseins, die das Denken zu meinem Denken macht, aber nicht dadurch, daß ich selbst zu einem Objekt beim Denken werde, das ich erkenne und so ich mich erkenne als Denkenden. Ich werde im Vorstellen selbst nicht zum Gegenstand der Erkenntnis, sondern indem ich vorstelle, werde ich der Identität mit mir selbst als transzendentaler Einheit bewußt, die alle Vorstellungen als meine Vorstellungen begleitet. Das transzendentale Selbstbewußtsein ist bloße Funktion, und deshalb kann es mich selbst nicht als Gegenstand zu erken-
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B. 2. I. Das Denken des Todes
nen geben. Wohl kann ich mich empirisch als Vorhandenes mit den und den Eigenschaften vorstellen, aber auch diese Vorstellung bleibt begleitet und begründet von der transzendentalen Einheit des Selbstbewußtseins, das hierbei selbst kein Gegenstand der Erkenntnis ist. Kant beschreibt die Unmöglichkeit einer Erkenntnis des transzendentalen Subjektes als des denkenden zuvor folgendermaßen: "Durch dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denkt, wird nun nichts weiter, als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = x, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können; um welches wir uns daher in einem beständigen Zirkel herumdrehen, indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um irgend etwas von ihm zu urteilen; [... ]." (A 346, B 404)
Jede Vorstellung ist immer schon vom transzendentalen Subjekt begleitet, weshalb es selbst nicht selbst Gegenstand einer Vorstellung werden kann. Deshalb haben wir "von einem denkenden Wesen durch keine äußere Erfahrung, sondern bloß durch das Selbstbewußtsein die mindeste Vorstellung" (A 347, B 406). Diese jedoch gänzlich leere Vorstellung ist das transzendentale Subjekt als Funktion der letztbegründenden und ersten Einheit der Identität mit sich selbst, die kein Gegenstand der Erfahrung werden kann, sondern jedes Urteil über einen Gegenstand der Erfahrung je schon begründet und begleitet. Wenn wir hieraufhin die Kritik der vier Paralogismen von Kant betrachten, sehen wir, wie sie sich auf folgenden einen wesentlichen Gedankengang konzentrieren. Das "Ich" des "Ich denke" als transzendentales Subjekt kann nicht in der sinnlichen Anschauung gegeben sein. Es ist in der inneren Anschauung seiner Funktion gegeben. Hierbei jedoch ist nur der bloße Begriff der transzendentalen Einheit des Selbsbewußtseins gegeben, der mit der Einheit der Kategorien den Horizont als Gegenständlichkeit allererst bildet, indem ein Gegenstand der Erfahrung gegeben sein kann. Insofern kann das "Ich" selbst kein Gegenstand der Erfahrung werden, weil es je schon die Gegenständlichkeit konstituiert, in der ein Gegenstand der Erfahrung gegeben sein kann. Die Beharrlichkeit kann aber nur von einem Gegenstand der Erfahrung ausgesagt werden. Da das "Ich" jedoch kein Gegenstand der Erfahrung werden kann, kann folglich bezüglich des "Ich" keine Erkenntnis seiner Beharrlichkeit gegeben sein. Das Beharrlichsein betrifft aber alle vier Schlüsse des "Ich" als Substanz, Einfaches, Identisches in einer Person sowie als vom Körperlichen unterschiedenes Immerwährendes und so Unsterbliches, weshalb diese von Kant als Fehlschlüsse zurückgewiesen werden. Im einzelnen läßt sich diese Zurückweisung folgendennaßen entfalten: Wenn ich im ersten Paralogismus über das "Ich" urteile, daß es Substanz sei, so bediene ich mich des Grundsatzes der Beharrlichkeit der Substanz, den Kant als erste Analogie der Erfahrung in der Einteilung der Grundsätze des reinen Verstandes
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ausführt. 191 Damit ich jedoch zu einem Urteil der Beharrlichkeit der Substanz komme, muß etwas mir als Erscheinung in der Zeit gegeben sein, von dem ich urteilen kann, was an ihr Substanz ist und was als Akzidenz in der Zeit wechselt. Das Beharrliche der Erscheinung ist so sein Reales, d. h. sein Was-sein, was bei aller Veränderung gleichbleibt. Dieses Beharrliche kann ich demgemäß nur auf einen Gegenstand bzw. ein Objekt der Erfahrung in der Zeit anwenden. Da mir jedoch weder durch die äußeren Sinne das "Ich" Objekt werden kann, noch im Denken das "Ich" zum Objekt wird, da es alle Vorstellungen je schon als Subjekt begleitet, kann ich über das "Ich" kein Urteil der Substanz fällen. Diese Widerlegung des ersten Paralogismus trifft nun alle weiteren, wenn auch in jeweils leicht abgewandelter Form. Wenn ich, den ersten Paralogismus erweiternd, im zweiten urteile, daß das "Ich" einfache Substanz sei, ergibt sich dieselbe Problematik. Die Einfachheit der Substanz verlangt, daß mir überhaupt ein Gegenstand für diese Aussage gegeben ist. Das "Ich" ist jedoch nicht als Gegenstand gegeben, weshalb ebenfalls kein Schluß über die Einfachheit der Substanz möglich ist. Der Satz der Identität als dritter Paralogismus, der besagt, das "Ich" sei mit sich identisch und insofern numerisch identisch in einer Person, verlangt ebenso einen Gegenstand für diesen Schluß, der beim Ich nicht gegeben ist. Um zu einem Schluß zu kommen, daß das Ich als Person beharrlich identisch ist, muß ich das Urteil der Beharrlichkeit auf das "Ich" anwenden, was aber aus den oben genannten Gründen unzulässig ist. Die Kritik am vierten Paralogismus wollen wir eingehender betrachten, weil sich an ihm besonders zeigen läßt, in welcher Weise das bei Platon und Aristoteies dargelegte Denken der Unsterblichkeit von Kant als Fehlschluß zurückgewiesen wird. Der vierte Paralogismus leitet aus der Unterschiedlichkeit zwischen den Körpern, d. h. auch dem eigenen Körper, und dem Ich als denkendes Wesen dessen Beharrlichkeit ab. Diese Unterschiedlichkeit wird darin soweit gedacht, daß aus ihr auch die Beharrlichkeit ohne die körperliche Welt abgeleitet wird, d. h. die Seele als Beharrliches nach dem Tod fortdauert. Zunächst wehrt Kant den Schluß der Beharrlichkeit der Seele aus dem Gedankengang des zuvor Dargelegten ab. Zwar kann ich mich als denkendes Wesen unterschieden von den körperlichen Dingen denken, jedoch läßt die Anschauung des Selbstbewußtseins, das meine Vorstellungen konstituiert, gar keinen Rückschluß zu, ob "ich also bloß als denkend Wesen (ohne Mensch zu sein) existieren könne" (B 409), d. h. nach meinem Tod bzw. ohne die körperliche Welt. Denn der Schluß der beharrlichen Existenz meiner verlangt, daß ich mir selbst als denkendes Ich zum Gegenstand werde, um über mich diese Aussage treffen zu können. Dies ist jedoch im Denken des Selbstbewußtseins nicht der Fall, weil das "Ich denke" bloße Funktion des Denkens ist und nicht Objekt werden kann: "Die logische Erörterung des Denkens überhaupt wird falschlieh für eine metaphysische Bestimmung des Objekts gehalten." (ebd.)
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Vgl. A 182f, B 224f.
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B. 2. I. Das Denken des Todes
Damit ist dieser Rückschluß ebenso wie die vorherigen aufgrund des für das Ich fehlenden Gegenstandes der Erfahrung abgewiesen. Um jedoch diese Kritik deutlicher in ihrem Zusammenhang mit dem platonisch-aristotelischen Denken nachzuvollziehen, bedarf es einer Ausweitung dieses Gedankengangs. Hierzu vergegenwärtigen wir uns den wichtigsten Gedanken innerhalb der griechischen Bestimmung der Unsterblichkeit. Da das Körperliche das Veränderliche ist, kann die Seele vermittelst des Leibes nur das Veränderliche sehen. Um jedoch das Wesen von etwas zu sehen und so etwas als etwas zu bestimmen, muß die Seele das Unveränderliche denken. Um aber das Unveränderliche denken zu können, muß sie selbst unveränderlich sein und ist insofern als denkende Seele vom Körper dadurch geschieden. Dieses Vermögen hat sie nur dadurch, daß sie als auf den unveränderlichen Anblick, eidos, Vorblickende selbst unveränderlich ist. Dadurch aber, daß sie selbst unveränderlich ist und sein muß, ist sie unsterblich, weil die Veränderung des Todes nur das Veränderliche des Leibes, nicht aber das Unveränderliche der Seele betrifft. Worin liegt hier der Fehlschluß? In erster Hinsicht liegt er darin, daß die Seele selbst unveränderlich ist, weil sie das Unveränderliche im Denken anzublicken vermag. Mit Kant gedacht, trifft die Aussage des Unveränderlichen als Beharrliches jedoch nur auf einen Gegenstand der Erfahrung zu, über den allein die Beharrlichkeit ausgesagt werden kann. Der Rückschluß, daß die Seele selbst beharrlich sei, weil sie die Beharrlichkeit eines Seienden denken kann, ist der entscheidende Fehlschluß, weil die Seele bei dieser Aussage nicht selbst Objekt wird. In zweiter Hinsicht ist die kantische Kritik am Schluß der Beharrlichkeit der Seele auf die Kritik am Denken des eidos als Wesensanblick zurückzuführen. Denn aus der Notwendigkeit den Wesensanblick als das Unveränderliche zu denken leitet sich das Unveränderliche der Seele allererst ab, weil nur durch das Gleichsein der Seele mit dem Unveränderlichen in der Angleichung an das Unveränderliche sie dieses zu denken vermag. So aber muß sie selbst deshalb unveränderlich sein, weil der Wesensanblick unveränderlich sein muß. Für. Kant jedoch ist das Unveränderliche im Sinne des Beharrlichen eine transzendentale Einheit als reiner Verstandesbegriff, der die Gegenstandsstruktur konstituiert, die einen bestimmten empirischen allgemeinen Begriff von etwas, z.B. einen Artbegriff, bedingt, der als Regel einen Gegenstand als dasjenige, was er ist, erkennen läßt. Demzufolge ist die vorgängige Gegenstandsstruktur zwar durch die Einheit der Beharrlichkeit transzendental bedingt, jedoch wird weder in der transzendentalen Einheit des Begriffes der Beharrlichkeit noch im allgemeinen empirischen Begriff etwas an sich Beharrliches angeschaut, sondern es wird nur die Regel für das Beharrlichsein des Gegenstandes vorgestellt, so daß der Gegenstand als so und so in seinem Wassein bestimmter erkannt werden kann. In diesem Sinne ist der Wesensanblick von etwas, d. h. die Allgemeinheit als Art oder Gattungsbegriff im Sinne des empirischen Begriffes selbst an sich nie beharrlich, sondern sie ist die bestimmte Beharrlichkeitsstruktur als Regel für das Beharrlichsein des Gegenstandes, der allein beharrlich sein kann. Folglich
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kann dem Allgemeinen als Beharrlichkeitsstruktur an sich selbst keine Beharrlichkeit zukommen, weil es die Regel für das Beharrlichsein selbst ist. Um jedoch selbst Objekt zu werden, dem Beharrlichkeit zugesprochen werden könnte, müßte das Allgemeine als Beharrliches durch die Objektstruktur des Allgemeinen als Beharrlichen vorgängig vorgestellt werden, womit es jedoch sich seiner selbst schon bedienen müßte. Es entsteht deshalb derselbe Zirkelschluß wie beim "Ich denke". Ich kann das Allgemeine und Beharrliche nicht als Objekt im Denken anschauen, weil jedes Objekt nur durch die vorgängige Objektstruktur als Objekt gedacht werden kann, die Objektstrukutur jedoch durch das Allgemeine und Beharrliche je schon gebildet ist, und folglich ich mich dessen schon bedienen muß, was ich allererst anschauen wollte. Insofern verliert der Wesensanblick jeglichen Charakter, der ihn selbst als Beharrliches erkennen lassen könnte, weil er der bloße allgemeine Begriff ist, dafür daß ein Gegenstand als so und so Beharrliches erscheinen kann. Der Regel für die Beharrlichkeit von etwas kann selbst kein Beharrlichsein zugesprochen werden. Der reine Verstandesbegriff der Einheit der Beharrlichkeit, der die Allgemeinheit transzendental konstituiert, um die je verschiedene Allgemeinheit eines empirischen allgemeinen Begriffs von etwas bilden zu können, kann ebensowenig wie der allgemeine Begriff selbst Objekt des Denkens werden, weil er jede Objektstruktur je schon bildet. Weder im Denken des beharrlichen Allgemeinen eines empirischen Begriffes für das Erkennen eines empirischen Gegenstandes noch in dem philosophischen, rein theoretischen Denken der Beharrlichkeit als transzendental-kategorialer Begriff der Einheit, der das Allgemeine bzw. Wesenhafte an ihm selbst konstituiert, wird etwas an sich Beharrliches und so Unveränderliches angeschaut, sondern nur die Struktur transzendental bzw. empirisch gebildet, die einen Gegenstand in seinem Beharrlichen erkennbar werden läßt. Wenn jedoch der Wesensanblick nicht an ihm selbst unveränderlich ist, sondern nur die Regel des Unveränderlichseins vorgibt, und wenn der Begriff der Beharrlichkeit nur transzendental die Funktion dieser Einheit vorgibt, so kann weder dem empirischen Denken der Regel noch dem transzendentalen Denken der Funktion selbst ein Charakter des Unveränderlichseins zugesprochen werden. Folglich kann aber ebensowenig der Seele selbst ein Unveränderlichsein zugesprochen werden, weil sie in ihrem Denken nur die Gegenstandsstruktur für das Erscheinen eines Gegenstandes in seiner Beharrlichkeit sich vorhält, ohne dabei selbst Objekt des Denkens zu werden. Dadurch daß sich das Denken des Unveränderlichen des Wesensanblicks bei Kant in das Vorstellen der Gegenstandsstruktur wandelt, der sowohl im empirischen als auch im transzendentalen Denken nur Regel- bzw. Funktionscharakter zukommt, wandelt sich ebenso das Denken der Seele, der selbst so kein Schluß über ihre Beharrlichkeit zukommen kann, sondern nur eine innere Ansehung ihrer Funktion des Denkens.
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B. 2. I. Das Denken des Todes c) Die Zeit und das stehende und bleibende Ich
Um nun die Kritik Kants am theoretischen Denken der Unsterblichkeit zusammenzufassen, bedarf es zu dem bisher Erläuterten einer Thematisierung der Zeit, um den Grund der Zurückweisung der Paralogismen tiefer nachvollziehen zu können. Kant faßt diese Zurückweisung folgendermaßen zusammen: "Das Subjekt der Kategorien kann also dadurch, daß es diese denkt, nicht von sich selbst als einem Objekte der Kategorien einen Begriff bekommen; denn, um diese zu denken, muß es sein reines Selbstbewußtsein, welches doch hat erklärt werden sollen, zum Grunde legen. Ebenso kann das Subjekt, in weIchem die Vorstellung der Zeit ursprünglich ihren Grund hat, ihr eigen Dasein in der Zeit dadurch nicht bestimmen, und wenn das letztere nicht sein kann, so kann auch das erstere als Bestimmung seiner selbst (als denkenden Wesens überhaupt) durch Kategorien nicht stattfinden." (B 422) Der entscheidende Aspekt hierbei ist die Zeit im Zusammenhang mit der Kategorie der Beharrlichkeit, die über das "Ich denke" nicht ausgesagt werden kann. Die Beharrlichkeit besagt das Beharrlichsein in der Zeit entgegen dem in der Zeit Wechselnden. Da nun aber über das Dasein des Subjektes in der Zeit nichts ausgesagt werden kann, weil die Vorstellung der Zeit ihren Grund im Subjekt hat, d. h. das Subjekt Grund der Zeit ist, entfällt jegliche Aussage über die Beharrlichkeit des "Ich denke". Was heißt jedoch dieses Grundsein der Zeit und so die zeithafte Unbestimmbarkeit, d. h. das Zeitlossein des Subjektes, wenn damit weder eine Aussage über etwas Beharrliches ausgesagt ist und sein kann, noch eine Bestimmung als Ewiges und Unsterbliches gegeben ist, sondern das Subjekt als transzendentale Einheit zeitlos ist? Das Zeitlossein des Subjektes als Grund der Zeit bezieht sich darauf, daß es nicht in der Zeit zu einem Objekt wird, sondern selbst zeitbildend ist. Es ist insofern zeitbildend, als es vermittelst der transzendentalen Einbildungskraft in den Weisen der Synthesis der Apprehension, Reproduktion und Rekognition das Jetzt, Nicht-mehr-jetzt und Noch-nicht-jetzt so zusammenhält, daß es Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft verknüpft und als Horizont der reinen Zeit als Jetztfolge bildet, auf dessen Grund mit ihr die Kategorien und unter ihnen die der Beharrlichkeit die Gegenstandsstruktur bzw. Gegenständlichkeit konstituieren, die einen Gegenstand als einen solchen erkennen lassen. Dadurch aber, daß das "Ich denke" in dieser Weise zeitbildend ist, kann über es selbst kein Schluß der Beharrlichkeit gefällt werden, weil es den Horizont der Zeit allererst bildet, in dem die Kategorie der Beharrlichkeit die Gegenständlichkeit mitkonstituiert, folglich diese aber nicht auf es selbst angewandt werden kann. Weil das transzendentale Subjekt in sich immer schon zeitbildend ist und insofern die reine Jetztfolge entspringen läßt bzw. entläßt, ist über es selbst als Objekt in dieser Jetztfolge kein Schluß möglich, da es diese allererst bildet. Insofern ist aber überhaupt kein Schluß über seine Beharrlichkeit möglich, folglich auch nicht über ein Sein über den Tod hinaus.
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Der zeitbildende Charakter des transzendentalen Subjektes verdeutlicht aber, was für eine eigene Ständigkeit im Subjekt liegt, die aber keine Beharrlichkeit bedeutet. Kant spricht vom transzendentalen Subjekt in der "Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe" (Fassung A) folgendermaßen: "Denn das stehende und bleibende Ich (der reinen Apperzeption) macht das Korrelaturn aller unserer Vorstellungen aus, [... ]." (A 123) Das transzendentale "Ich denke" ist stehend und bleibend entgegen dem empirischen Bewußtsein unserer selbst, von dem es zuvor heißt: "es kann kein stehendes oder bleibendes Selbst in diesem Flusse innerer Erscheinungen geben" (A 107), weil die innere Anschauung unseres Zustandes jederzeit wandelbar ist, da sie in der Form der Zeit als fließende Jetztfolge gegeben ist. Das transzendentale Subjekt jedoch bildet diese Form der inneren Anschauung im Horizont der reinen Zeit allererst und ist so selbst nicht in der Zeit jederzeit wandelbar. Darin kommt ihm eine Ständigkeit und ein Bleiben zu, das nicht in der Zeit der Jetztfolge liegt, sondern im Sichselbsta/fizieren durch das Sichentgegenhalten des Horizontes der reinen Zeit. Was hierbei ständig ist, ist die Identität des transzendentalen Subjekts mit sich selbst, das den Horizont der Zeit dergestalt einigt, daß es ihn als seinen Horizont weiß, den es sich vorhält und auf sich zu hält und in diesem Aufsichzuhalten sich selbst affiziert, d. h. in der Selbstaffektion sich identisch weiß mit seinem Sichselbstaffizieren. Diese Ureinheit als ursprünglich-transzendentale Einheit der Apperzeption ist das "Ich denke", das so alle meine Vorstellungen begleitet. Das Ständige dieser Einheit ist die Ständigkeit der Selbstaffektion, die gegeben ist, wenn und solange ich vorstelle. Über diese Ständigkeit läßt sich jedoch nichts weiter aussagen, als daß sie ständig ist, wenn ich mir den Horizont der Zeit vorhalte, und so das Subjekt selbst ständig ist dergestalt, daß es nur ist, indem es sich Zeit vorhält und sich ständig selbst affiziert. Hieraus folgt, daß das transzendentale Subjekt weder in der Zeit beharrlich ist, weil es selbst diese Zeit allererst bildet und sich vorhält, noch, daß es zeitlos im Sinne eines Seins außerhalb der Zeit ist. Es ist deshalb nie außerhalb der Zeit, weil es nur ist, wenn und indem es sich den Horizont von Zeit vorhält. Als zeitlos im Sinne der Jetztzeit aber zeitbildend ist es nur transzendental als Bedingung der Möglichkeit der Gegenständlichkeit und so der Erkenntnis eines Gegenstandes überhaupt. Als so transzendentales aber kommt ihm weder ein Charakter der Beharrlichkeit in der Zeit noch ein Unveränderlichsein oder Unsterblichsein außerhalb der Zeit zu, Es ist nur die transzendentale Urstruktur des Denkens überhaupt, über die außerhalb seines zeitbildenden Charakters nichts im Sinne einer außerhalb der Zeit seienden Unveränderlichkeit ausgesagt werden kann. Die Ständigkeit des transzendentalen Subjektes besteht infolgedessen nur darin, daß es sich das Jetzt, Nicht-mehr-jetzt und Noch-nicht-jetzt vorhält und in diesem Vorhalten die reine Zeit sich entgegenstehen läßt und sich damit selbst affiziert und sich einig weiß als Einheit des Sichvorhaltens und Aufsichzuhaltens. Dabei ist jedoch die Ständigkeit des Subjektes aus dem Gegenhalt der Ständigkeit des Jetzt in der Jetztfolge der Verknüpfung des Jetzt mit dem Nichtmehr-jetzt und Noch-nicht-jetzt gebildet. Der Ständigkeit des Jetzt als Gegen-
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wart kommt hierbei die leitende Funktion zu. Und darin liegt die kantische Orientierung an der beständigen Anwesenheit, die sich ergibt aus der Ständigkeit des Jetzt und der daraus sich aus diesem Gegenhalt durch die Selbstaffektion bildenden Ständigkeit des Selbstes. Das Selbst ist insofern beständig anwesend, als es sich die Ständigkeit des Jetzt vorhält und aus dieser Ständigkeit als Gegenhalt sich selbst ständig affiziert und so sich als ständig weiß. Die Identität des Selbstes ist für Kant infolgedessen an der ständigen Gegenwart und insofern an das ständige Jetzt geknüpft, weil das Ich sich als dasselbe in jedem Jetzt mit sich identisch weiß. Über diese beständige Anwesenheit des Subjektes im Denken hinaus ist zwar kein Schluß möglich über die Beharrlichkeit des Selbstes oder über seine Unsterblichkeit als Subjekt außerhalb der Zeit und des Jetzt, weil es sich nur im Gegenhalt zum Jetzt ständig weiß. Dennoch bleibt hierin eine Übernahme des Denkens der beständigen Anwesenheit als Vorhandenheit, die nun in das Zeithafte hineingewandelt sich in der Ständigkeit des Jetzt in der Folge und der Ständigkeit des Selbstes aus diesem Gegenhalt zeigt. 192 Für das Denken der Unsterblichkeit ergibt sich hieraus, daß dem Denken in der inneren Ansehung der Funktion nicht mehr gegeben ist als die Identität mit sich selbst im Bilden des Horizontes der reinen Zeit. Von der Ansehung der Funktion dieser transzendentalen Einheit des Subjektes ergibt sich keinerlei Erkenntnis eines substantiellen Beharrlichen, Unveränderlichen und so Unsterblichen, weil das Denken nichts anderes in der inneren Ansehung besitzt als seine ständige Identität mit sich selbst im Zeitbilden. Weder die Bestimmung der Beharrlichkeit in der Zeit noch irgendeine Erkenntnis über ein Sein außerhalb der Zeitbildung liegt im Vermögen der reinen Vernunft. Folglich vollzieht jeder
192 Vgl. zu dieser Auslegung des zeitbildenden Charakters des Subjektes: KaM, §§ 32-34, S. 167-189 u. GA 25, §§ 24, 25, S. 326-403. Wir folgen hierbei Heideggers Auslegung bezüglich des Zeitbildens und der Selbstaffektion, jedoch nicht darin, daß das Subjekt selbst zeitlich bzw. die Zeit ist (vgl. KaM, S. 185/186 sowie GA 25, S. 393/394). Die Schwierigkeit bei beiden Texten besteht darin, daß Heidegger die in »Sein und Zeit« aufgewiesene Zeitlichkeit bei Kant zumindest angelegt sieht und versucht, mit Kant in diese Richtung zu deuten, obschon er selbst in den oben genannten Stellen betont, daß Kant nicht das Subjekt und die Zeit in eins denkt. Das Subjekt bleibt bei Kant zeitlos gedacht, auch wenn seine Selbstaffektion zeitbildend ist. Der Grund hierfür besteht darin, daß die Zeit bei Kant am beständigen Jetzt orientiert bleibt und folglich die Ständigkeit des Subjektes zwar durch die Zeitbildung geschieht, aber dabei aus dem ständigen Jetzt seine Ständigkeit erhält, die deshalb nur zeitlos sein kann, weil das Jetzt als ständiges, d. h. die Zeit als unwandelbare Jetztfolge selbst zeitlos ist (vgl. auch GA 25, S. 395/396). Die in »Sein und Zeit« aufgewiesene Zeitlichkeit aber unterläuft die Ausrichtung der Zeit an der Ständigkeit, weil sie die Ausrichtung am Sein in beständiger Anwesenheit verläBt. Folglich ist es aber unmöglich, bei Kant diese Zeitlichkeit aufzuweisen bzw. von Kant aus mit Kant zu entwickeln. Heidegger unterscheidet infolgedessen schon im Kantbuch zwischen seinem eigenen Denken der Zeitlichkeit und dem zeitlosen Subjekt bei Kant. In seinem letzten Vorwort zum Kantbuch (vgl. KaM, S. XIV) spricht Heidegger von einer Überdeutung sowohl im Kantbuch als auch in der Vorlesung (GA 25), die als solche aber, wie aus der Abgrenzung zu Kant hervorgeht, gewußt war.
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Rückschluß von der Ständigkeit der Identität des "Ich denke" im Denken zu einem außerhalb der Zeit Seienden als Seele, die aufgrund dieser Ständigkeit unveränderlich und unsterblich sein soll, einen Paralogismus, der über das Vermögen der reinen Vernunft hinausgeht und kein Objekt der Erkenntnis hat, sondern einer in der Vernunft innewohnenden Tendenz zur Überschreitung ihrer Grenzen folgt, indem er die Ansehung des Ständigen des "Ich denke" für ein Erkennen eines Objektes hält, das jedoch im Denken nur Ansehung der Urfunktion ist. Damit ist das Denken der Erkenntnis der Unsterblichkeit durch Kant als hypostasierendes Denken aufgewiesen, das die bloße Funktion der Identität des "Ich denke" in eine Hypostase verwandelt, indem es aus der bloßen Funktion des Denkens ein Unveränderliches als außerhalb der Zeit liegendes Unsterblichsein macht.
d) Die Idee in ihrem regulativen Charakter für die reine theoretische Vernunft Betrachten wir nun, wie sich das Denken der Unsterblichkeit von der »Kritik der reinen Vernunft« zur »Kritik der praktischen Vernunft« entfaltet, so ist hierfür die Ausgangssituation zum Ende des Nachweises des Paralogismus zu vergegenwärtigen. Für Kant ist die Erkenntnis der Unsterblichkeit der Seele innerhalb des Denkens der reinen Vernunft als Schein zwar erwiesen. Mit der Zurückweisung der Erkenntnis der Unsterblichkeit innerhalb der reinen Vernunft geht aber zugleich einher, daß ebenso eine Erkenntnis der Vergänglichkeit und so Nichtunsterblichkeit nicht möglich ist. Denn da das "Ich denke" nie Objekt des Denkens wird, kann weder über es als Beharrliches ausgesagt werden, das so über den Tod hinaus unsterblich ist, noch als Nichtbeharrliches, Vergängliches, das mit dem Tod endet. Da kein Schluß über die Beharrlichkeit des "Ich denke" möglich ist, ist auch kein Schluß über die Nichtbeharrlichkeit möglich. Die innere Ansehung des transzendentalen Subjektes als bloße Funktion des Denkens steht diesseits von Unsterblichsein oder Vergänglichsein der Seele nur als transzendentale Bestimmung. Darüber hinaus wird aber für Kant durch die Zurückweisung der Erkenntnismöglichkeit der Unsterblichkeit innerhalb der reinen theoretischen Vernunft "für die Befugnis, ja gar die Notwendigkeit, der Annehmung eines künftigen Lebens, nach Grundsätzen des mit dem spekulativen verbundenen praktischen Vernunftsgebrauchs, hierbei nicht das mindeste verloren" (B 424). Nur für die Erkenntnismöglichkeit der reinen Vernunft ist die Unsterblichkeit abzuweisen. Als Idee der Vernunft, die spekulativ gegeben in der praktischen Vernunft Gebrauch findet, ist sie sogar notwendig. Was heißt nun aber die Idee der Unsterblichkeit in Absetzung zur Unerfahrbarkeit und Unerkennbarkeit? Wenn Kant innerhalb der transzendentalen Dia-
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lektik sowohl für die Idee der Unsterblichkeit als auch für die Ideen von Gott und Weltganzheit nachweist, daß ihnen innerhalb der reinen Vernunft keine Erfahrungs- und Erkenntnismöglichkeit zukommt, weil in ihnen kein Objekt des Denkens gegeben ist, so spricht er ihnen als Ideen der reinen, aber spekulativen Vernunft dennoch Leitfunktionen für das Ganze der Verstandeserkenntnisse zu. Dabei ist jedoch auffallig, daß Kant nicht eigens fragt, woher die Ideen der reinen Vernunft stammen, sondern sagt, "sie sind uns durch die Natur unserer Vernunft aufgegeben" (A 669, B 697). Die Ideen liegen also in der Natur der Vernunft, d. h. die Vernunft ist in sich so verfaßt, daß sie diese Ideen denkt. Die Idee hat hierbei jedoch keinerlei Bedeutung einer idea, die als eidos, Aussehen, angeblickt werden kann. Ihr kommt als Idee der reinen Vernunft gar kein Charakter einer Erfahrung oder einer Erkenntnis zu. Weder ist sie selbst jemals Angeschautes, wie ein Gegenstand, noch ist sie konstitutiv als Gegenstandsstruktur für die Anschauung des Gegenstandes, wie die Verstandesbegriffe. In Abhebung zum bildenden, konstitutiven Charakter der reinen Verstandesbegriffe sind die Ideen der reinen Vernunft rein regulative Prinzipien, die das Ganze der Verstandeserkenntnisse ordnen. 193 Sie sind und bilden keine Begriffe von Gegenständen und stellen insofern keine Erweiterung der Gegenstände der Erkenntnis dar, sondern ordnen und leiten das Mannigfaltige der durch die Verstandesbegriffe ermöglichten empirischen Erkenntnisse. Insofern geben sie rein regulativ und nicht konstitutiv transzendentale Einheiten als Ganzheiten vor, innerhalb derer die reinen Verstandes begriffe Einheiten der Gegenstandsstruktur bilden. Die Ideen als regulative Prinzipien sind so das Schema der größten, weitesten VerilUnftseinheit, das die Regel für den empirischen Gebrauch der Vernunft vorgibt. Jede der drei transzendentalen Ideen der reinen, spekulativen Vernunft wird so zu einer bloß regulativen Idee, die Einheit vorgibt, ohne damit jedoch die Gegenstände der Erkenntnis zu vermehren. Insofern sie rein spekulativen, aber dennoch regulativen Charakter haben, spricht Kant von ihnen als Regeln des "Als ob". In ihnen wird die Einheit der Person als Unwandelbares, die Einheit der Weltganzheit und die Einheit und Vollkommenkeit der Ganzheit in der höchsten und ersten Ursache in Gott so angenommen, als ob sie gegeben wären. Dieses "Als ob" heißt, daß die Ideen keine Gegenstände der Erkenntnis sind und insofern nur angenommen werden. Da sie jedoch in der Vernunft auffindbar sind, kommt ihnen die regulative Funktion für die einzelnen Erkenntnisse des Verstandes zu. Sie geben so die jeweilige systematische Einheit der Vernunft, die die einzelnen Erkenntnisse verknüpft. Die Idee der Einheit der denkenden Seele gibt die transzendentale Einheit dafür vor, die verschiedenen inneren Erfahrungen insgesamt so anzusehen, als ob
193 Vgl. zum regulativen Charakter der Ideen: "Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft", A 642, B 670 - A 668, B 696 und "Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft", A 669, B 697 - A 704, B 732.
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sie geeint in einem denkenden Wesen, das als einfache Substanz beharrlich existiert, seien. Genauso gibt die Idee der Einheit der Weltganzheit diejenige systematische Einheit vor, die es erlaubt, das Ganze der Naturerkenntnisse so anzusehen, als ob sie in einem Zusammenhang stehen. Gleichermaßen gibt für diesen Zusammenhang erst die Einheit des Gottes diejenige systematische Einheit vor, die diese Ganzheit so ansieht, als ob sie aus einer obersten Ursache und nach Absicht einer höchsten Intelligenz entspringe. Dieser bloß regulative Gebrauch der Ideen der spekulativen reinen Vernunft ist ein notwendiger, auch wenn in ihm keine Erweiterung der Erkenntnisse stattfindet, weil nur so die Verstandeserkenntnisse selbst in systematische Einheiten gebracht werden können, was sowohl dem Grundcharakter der Ausrichtung des Denkens des Verstandes nach dem Allgemeinen als auch der von der Natur der Vernunft in diesen Ideen gegebenen Vorgabe für das Denken entspricht. Bei der Entfaltung des rein regulativen Charakters der Ideen der reinen, aber spekulativen Vernunft ist für die Idee der Unsterblichkeit auffaIlig, daß Kant von ihr nur in zurückgenommener Weise spricht. So heißt es bezüglich der Beharrlichkeit, die durch das Prinzip der regulativen Idee angenommen wird, daß die denkende Seele "beharrlich (wenigstens im Leben) existiert" (A 672, B 7(0). Auch in der genaueren Darlegung dieser ersten regulativen Idee in A 682/B 710 ist zwar von der "einfachen Substanz, die an sich selbst unwandelbar (persönlich identisch), mit anderen wirklichen Dingen außer ihr in Gemeinschaft stehe", die Rede, jedoch nicht von ihrem über den Tod hinausgehenden Charakter. Damit spricht Kant zwar über die vier Paralogismen, wie sie zusammengefaßt in der spekulativen Idee der systematischen Einheit der denkenden Seele rein regulativ einigend fungieren. Er läßt jedoch den entscheidenden Scheinschluß in allen vieren, der aus ihnen jeweils die Unsterblichkeit der Seele ableitet, heraus. Die Idee der Unsterblichkeit verlangt eine andere Fragestellung als den Aufweis der vier regulativen Momente der Idee der systematischen Einheit für das Ganze der inneren Erscheinungen der denkenden Seele. Diese wird erst in der praktischen Vernunft eingeholt. Der Übergang zur praktischen Vernunft geschieht über die Idee der Freiheit und erst innerhalb ihrer wird die Frage nach der Unsterblichkeit relevant, weil sie hier im Sinne eines künftigen, immerwährenden Lebens Horizontcharakter für den Willen bekommt, hingegen innerhalb der reinen theoretischen Vernunft nur nach der systematischen Einheit der Verstandeserkenntnisse in der denkenden Seele gefragt ist ohne Bezug zur Frage nach dem Handeln.
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e) Die Idee der Freiheit als Übergang zur Idee der Unsterblichkeit in der praktischen Vernunft Während innerhalb der »Kritik der reinen Vernunft« die Idee der Freiheit im dritten· Antinomienproblem 194 der Ideen der Weltganzheit nur als transzendentale Möglichkeit der Kausalität durch Freiheit in Widerspruchs/reiheit zur Kausalität durch Natur, d. h. zum Denken einer bedingten Folge von Ursache und Wirkung, innerhalb der Einheit der Weltganzheit aufgewiesen wird l9S, erfährt sie erst in der »Kritik der praktischen Vernunft« ihre Ausgestaltung als Wirklichkeit der Freiheit und innerhalb ihrer kommt es zur Notwendigkeit des Denkens der Idee der Unsterblichkeit. Freiheit ist als transzendentale Idee das Vermögen, "einen Zustand von selbst anzufangen" (A 533, B 561), d. h. ohne unter einer anderen Ursache in der Zeit zu stehen und folglich ohne Anlehnung aus der Erfahrung und Gegebenheit in der Erfahrung, weil alle Erfahrung in der Zeit und mithin kausal geschieht. Diese Freiheit finden wir zunächst in der ursprünglich-transzendentalen Apperzeption. 196 Da das transzendentale Subjekt von sich aus sich den Horizont der Gegenständlichkeit für das Erscheinen der Gegenstände in der Zeit vorhält, ist dieser Akt des "Ich denke" das Vermögen, "einen Zustand von selbst anzufangen". Das "Ich denke" hat so Handlungscharakter. Es ist als Denken ein "Ich handle", weil es von sich aus im Vorhalten eine transzendentale Handlung vollzieht. Darin kommt der willentliche Charakter des Denkens zum Ausdruck, daß es als Handlung des "Ich denke" sich so in sich selbst setzt, daß es sich den Horizont vorhält, so aber in diesem Vorhalten sich selbst als Einheit mit sich selbst vorhält und so darin sich affiziert als Sich-in-sich-setzen. Dieses "Ich handle" als "Ich denke" ist der Akt der Spontaneität als transzendentales Urgeschehen, indem das transzendentale Subjekt frei sich selbst bindet, dadurch daß es von sich aus sich die Regel der Gegenständlichkeit vorhält und so sich an die Regel und an sich als ursprüngliche Einheit jeder Regel bindet. Dieses freie, weil von sich aus durch Spontaneität gebildete Sich-binden im doppelten Sinne des Sichan-sich- und Sich-an-den-Horizont-der-Gegenständlichkeit-bindens macht das intelligible Vermögen des transzendentalen Subjektes aus, weil es so nicht in der Zeit ist, folglich nicht kausal, sondern, wie im Vorherigen aufgewiesen, zeitbildend ist und so allererst den Horizont der Zeit bildet, in dem etwas als kausal erscheinen kann. 197
194
19S
Vgl. A 444, B 472 - A 451, B 479 und A 532, B 560 - A 558, B 587. Vgl. zur transzendentalen Möglichkeit der Freiheit auch: GA 31, §§ 20-25, S. 189-
259. Vgl. A 546, B 574. Vgl. zu dieser Auslegung der transzendentalen Freiheit in der bloßen Apperzeption: GA 31, S. 255-259 und GA 25, § 24 f, S. 372-383. 196
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Das freie Sichbinden zeigt sich in Hinblick auf die praktische Vernunft anhand des Sollens. Der Mensch vermag es, sein praktisches Handeln unter ein Sollen zu stellen, d. h. sich frei von sich aus das Sollen als Regel seines Handelns vorzuhalten und sich an sie als sein Sollen zu binden. Dieses Sollen kann nicht aus Naturgründen und insofern kausal abgeleitet werden, weil zwar die Sinnlichkeit dem Wollen Anreize zu geben vermag, jedoch nie das Sollen hervorbringen kann. Die Willkür bzw. der Wille zum Sollen ist frei von Natur, er ist allein aus Freiheit möglich als das willentlich freie Sichbinden an die Allgemeinheit eines Sollens. Mit dem Aufweis des Sollens und darin der Freiheit kommt der Idee der Freiheit eine besondere Stellung innerhalb der Ideen der reinen Vernunft zu. Sie allein verschafft "eine Erweiterung im Felde des Übersinnlichen, wenngleich nur in Ansehung der praktischen Erkenntnis" (KpV, S. 120). Während die Ideen innerhalb der reinen theoretischen Vernunft rein regulativen Charakter haben und keine Erweiterung der Gegenstände der Erkenntnis bedeuten, kommt der Idee der Freiheit ein eigener Charakter der Erkenntnis zu. Auch wenn Kant sagt, die Freiheit sei kein Erfahrungsbegriff, weil ein solcher immer nur an das Gesetz der Erscheinung geknüpft ist, folglich aber an das Gesetz der Kausalität l98 , so heißt es aber in der »Kritik der Urteilskraft« von ihr, daß sie eine Tatsächlichkeit habe und sich in der Erfahrung dartun lasse l99 , wobei Erfahrung hier nicht Erfahrung eines Gegenstandes heißen kann. Diese Tatsächlichkeit, die sich in der Erfahrung dartun läßt, ist die eigene Wirklichkeit der Idee der Freiheit, d. h. ihre objektive Realität als erfahrbares, allgemeines Wassein ihrer. Ihre Wirklichkeit ist zwar nur in Ansehung der praktischen Erkenntnis gegeben, dennoch kommt ihr damit als einziger Idee eine Erkenntnismöglichkeit zu. 2OO Die Wirklichkeit der Idee der Freiheit erblickt Kant in der Auffindbarkeit des Sollens. Jede Handlung des Menschen, die sich bemüht, den Grund für eine Handlung selbst zu bestimmen, orientiert sich damit an einem reinen Willen, der sich selbst als Wille vorstellt und so sich selbst zum Bestimmungsgrund des Willens macht. Nur wenn und dadurch, daß der Mensch sich den Willen als reinen Willen, der sich selbst will, vorstellt, kann der Mensch eine Handlung als
Vgl. KpV, S. 34. "Was aber sehr merkwürdig ist, so findet sich sogar eine Vernunftidee [... ] unter den Tatsachen; und das ist die Idee der Freiheit, deren Realität, als einer besonderen Art von Kausalität [... ], sich durch praktische Gesetze der reinen Vernunft und diesen gemäß in wirklichen Handlungen, mithin in der Erfahrung dartun läßt. - Die einzige unter allen Ideen der reinen Vernunft, deren Gegenstand Tatsache ist und unter die scibilia mit gerechnet werden muß." (Kant. Immanuel, Kritik der Urteilskraft, hg. v. Vorländer. Karl, unveränd. Nachdruck der sechsten Auflage v. 1924, Hamburg 1974, S. 342 (im folgenden zitiert als: KdU» 200 Vgl. zur Problematik der gewandelten Begriffe der Erfahrung und der Tatsächlichkeit bezüglich der Idee der Freiheit: GA 31, § 27 a, S. 265-273. 198
199
16 Milli..
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Handlung aus sich selbst heraus wissen, bei der der Wille frei selbst der Bestimmungs grund der Handlung ist. Nur so ist eine Handlung meine Handlung, die ich selbst verantworte, worin der Freiheitscharakter des Menschen in der praktischen Vernunft zum Vorschein kommt, daß er selbst aus Autonomie handelt, d. h. selbständig und in Selbstverantwortlichkeit. Nun ist der reine Wille, der nur sich selbst in seinem Wesen will und deshalb notwendige Allgemeingültigkeit hat, weil er immer und so notwendig sein eigenes Wollen bestimmt, dem Menschen rein nicht gegeben, weil der Mensch auch der Kausalität der Natur, d. h. der Sinnlichkeit unterworfen ist, die ihn Handlungen nicht von sich aus vollziehen läßt. Deshalb tritt an den Menschen der reine Wille als ein Sollen heran, d. h. als eine Pflicht in dem Sinne, daß er sich ihr unterordnen kann, sich aber auch von ihr abwenden kann. Infolgedessen kommt es für die reine praktische Vernunft des Menschen zu einem kategorischen Imperativ, der die allgemeingültige Form angibt, in der dem Menschen der reine Wille gegeben ist. Er lautet: "Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." (KpV, S. 36) Damit ist die formale Bedingung der Möglichkeit der praktischen Vernunft gedacht, d. h. die Bedingung, unter der der menschliche Wille freier Wille ist. Diese kann nur der Form nach angegeben werden und nicht der Materie nach, worin deutlich wird, daß kein Wert die Allgemeinheit eines Sollens bestimmen kann, sondern nur die Form die Allgemeinheit des Willens als reinen Willen zum Ausdruck bringen kann. Der reine Wille kommt in diesem kategorischen Imperativ so zum Ausdruck, wie er dem Menschel) gegeben ist, weil dann der Mensch frei will, wenn der Bestimmungsgrund seines Willens Prinzip eines allgemeinen Gesetzes ist. Er ist aber nur dann Prinzip eines allgemeinen Gesetzes, wenn er will, wie der reine Wille will, d. h. das Allgemeine und Gesetzmäßige liegt gerade darin so zu wollen, daß der Wille sich selbst vorstellt und sich zum Bestimmungsgrund des Handeins macht und so erst dieses selbstverantwortlich übernimmt. Die allgemeine Gesetzgebung ist so das Gesetz des reinen Willens, denn nur so kann die Maxime des HandeIns jederzeit Prinzip sein, d. h. in jedem Willen zu jeder Handlung, wenn sie das Gesetz des reinen Willens vorgibt. Er allein ist allgemeingültig, weil jedes Wollen, das frei ist, sich so vollzieht, daß es sich als Wille vorstellt und sich unter das Sollen dieses Willens stellt. Deshalb kann der kategorische Imperativ auch nur der Form nach gedacht sein, weil jeder Inhalt die Allgemeingültigkeit des Gesetzes des Willens einschränken würde. Dadurch daß dem Menschen in dem Moment, da er seinen Willen frei verantworten will, d. h. sich selbst frei an ihn als die Regel seines Sollens binden will, der kategorische Imperativ notwendig aufgehen muß, weil der Mensch nur dann seinen Willen frei übernimmt, wenn er sich die Regel des Sollens des Wollens vorstellt, ist in diesem Moment die Wirklichkeit der Freiheit tatsächlich und damit das moralische Grundgesetz als Gesetz des reinen Willens aufgefunden. Freiheit des Willens und Gesetz der praktischen Vernunft bedingen sich so
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gegenseitig. Denn nur wenn der Mensch sich an die Allgemeinheit des Sollens des Wollens bindet, ist er frei, will er den Bestimmungsgrund seiner Handlung selbständig übernehmen, da die Allgemeinheit des Sollens nichts anderes bedeutet als das Gesetz des reinen Wollens, das darin besteht, daß in jeder Handlung sich der Wille sich selbst vorstellt und so sich unter das Sollen des eigenen Wollens stellt. Das moralische Gesetz als praktisches Gesetz des Sollens besagt insofern das Wollen des eigenen Willens aus Freiheit, d. h. das sich wissentliche Binden an die Vorstellung des Willens als Sollen des eigenen Wollens. Da sich diese Tatsächlichkeit nur im Vollzug des Willens zeigt, d. h. nur wenn der Wille als Sollen des Wollens gewollt ist, kommt der Erkenntnis der Idee der Freiheit nur in praktischer Hinsicht Erkenntnischarakter zu. Die Tatsächlichkeit der Idee der Freiheit läßt sich in der Erfahrung nur dartun im jeweiligen Wollen des reinen Willens. Das Prinzip des Willens als Maxime des HandeIns läßt aus dem kategorischen Imperativ noch eine andere Auslegung der Allgemeinheit zu. Wenn es heißt, daß die Maxime des HandeIns jederzeit als Prinizp einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne, so bedeutet das nicht nur, daß der Wille als das moralische Gesetz sich selbst will und so zum Bestimmungsgrund des HandeIns wird. Es heißt zugleich, daß dieser Wille nur das Allgemeine wollen kann, d. h. nichts aus subjektiver Willkür oder durch die Sinnlichkeit Verursachtes, sondern rein nur dasjenige, was allgemeine Gesetzgebung sein könnte. Für das Handeln bedeutet dieses, was in dieser oder jener Handlung für alle Menschen als vernünftige Wesen gelten könne. Dabei ist innerhalb des Denkens der reinen praktischen Vernunft die Grundhaltung ausschlaggebend, d. h. die Ausrichtung nach einem Allgemeinen als Gesetz für eine Handlung, die jedoch ebenfalls nur der Form nach bedenkbar ist, weil jeder Inhalt das Gesetz des Allgemeinen einschränken würde. Eine solche Möglichkeit ist beim Menschen darin auffindbar, daß er sich andere Maximen seines HandeIns vorstellen und sich an sich binden kann, als diejenigen, die ihm seine subjektive Willkür geben oder seine Sinnlichkeit verursachen. Durch das Auffinden dieses Vermögens des HandeIns nach Vernunftgründen, die Allgemeinheitscharakter haben, ist für die praktische Vernunft das Objekt des reinen Willens denkbar. In jedem Handeln, das der Mensch hinsichtlich des Bestimmungsgrundes befragt und diesen nach einem Allgemeinen auszurichten versucht, stößt er unumgänglich auf den reinen Willen und sein Objekt des Allgemeinen. Wir haben insofern zu scheiden zwischen dem allgemeinen Gesetz des reinen Willens, was das moralische Gesetz ist dergestalt, daß der reine Wille sich will, indem er sich an sich bindet und so zum Bestimmungsgrund des HandeIns wird, und der Allgemeinheit des Objektes des reinen Willens, was nichts anderes ist als die Allgemeinheit der Maxime entgegen dem Subjektiven oder Sinnlichen?O\
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16·
Vgl. zur Allgemeinheit des reinen Willens: GA 31, § 27 b-d, S. 273-287 und § 28
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f) Die Idee der Unsterblichkeit als Postulat der reinen praktischen Vernunft
Wenn mit dem reinen Willen nur die formale Bedingung der Möglichkeit des moralischen Gesetzes gedacht ist, d. h. eines allgemeingültigen Gesetzes für die praktische Vernunft, so fragt Kant hieran anschließend nach den Bedingungen der Möglichkeit des notwendigen Objektes des reinen Willlens. Das notwendige Objekt eines durch das moralische Gesetz bestimmbaren Willens, d. h. des reinen Willens, nennt Kant das höchste Gut als unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft. Die Allgemeinheit als Totalität ist das höchste Gut als notwendiges Objekt eines moralisch bestimmbaren Willens. Die erste· Bedingung der Möglichkeit des höchsten Gutes als Objekt des reinen Willens kommt in der Benennung des höchsten Gutes als der Tugend zum Ausdruck, d. h. das Vermögen zu keiner subjektiven Willkür und zu keiner Maxime eines Handeins fähig zu sein, die nicht allgemeines Gesetz sein könnte. Damit ist hinsichtlich des Menschen die Bedingung der Möglichkeit des Objektes des reinen Willens gedacht. Ein solcher Wille als reiner Wille verlangt die Heiligkeit der Gesinnung und des Willens und so die Vollkommenheit seiner. Er ist die Uridee als praktische Idee, der sich der Mensch nur ins Unendliche angleichen kann, weil er zwar Anteil am reinen Willen haben kann, zugleich aber der Sinnlichkeit und seiner subjektiven Willkür wesensmäßig unterworfen ist: "Die völlige Angemessenheit des Willens aber zum moralischen Gesetze ist Heiligkeit, eine Vollkommenheit, deren kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt in keinem Zeitpunkte seines Daseins fähig ist." (KpV, S. 140) Da jedoch die Heiligkeit des reinen Willen praktisch notwendig gefordert ist, so kann er für den Menschen nur in einem unendlichen Fortschritt "zu jener völligen Angemessenheit angetroffen werden" (ebd.). Einen Fortschritt bis ins Unendliche zur Annäherung an den reinen Willen ist aber nur möglich "unter Voraussetzung einer ins Unendliche fortdauernden Existenz und Persönlichkeit desselben vernünftigen Wesens" (KpV, S. 141). Folglich muß ich die Unsterblichkeit der Seele annehmen, weil das höchste Gut nur unter dieser Voraussetzung möglich ist. So ergibt sich die Unsterblichkeit der Seele als Postulat der praktischen Vernunft, die unzertrennlich mit dem moralischen Gesetz gegeben sein muß. Dabei gilt jedoch, daß der Mensch zwar "niemals hier und in irgend einem abS. 287-297. Heidegger nimmt hier eine etwas einengende Auslegung des Prinzips einer allgemeinen Gesetzgebung des kategorischen Imperatives vor, indem er diese allgemeine Gesetzgebung nur als das Sollen des reinen Willens darlegt, um dessen Grundstruktur zu verdeutlichen. Jedoch enthält der kategorische Imperativ schon das Objekt des reinen Willens, d. h. die Allgemeingültigkeit, so daß das Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung nicht allein das Gesetz des reinen Willens an ihm selbst ist. Der reine Wille ist nie reiner Wille für sich selbst, sondern als reiner Wille in der Allgemeingültigkeit seines Willens als Wollen des reinen Willens ist er immer schon das Wollen des Allgemeinen, weshalb das Prinzip der allgemeinen Gesetzgebung auch als das Objekt des reinen Willens auszulegen ist.
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sehlichen künftigen Zeitpunkte seines Daseins, sondern nur in der (Gott allein übersehbaren) Unendlichkeit seiner Fortdauer dem Willen desselben [... ] völlig adäquat" (KpV, S. 142) ist. Die Erlangung des vollkommenen reinen Willens ist zwar dem Menschen nicht möglich, dennoch aber das stetige Bemühen, da er im Vermögen der praktischen Vernunft einen Anteil an ihm hat, der nur dadurch gedacht werden kann, wenn die Seele des Menschen als unsterblich gedacht wird. Ohne ein Denken der Unsterblichkeit der Seele wäre das moralische Gesetz in seiner Heiligkeit herabgewürdigt und es wäre dem Menschen einerseits möglich, sich mit dem Unerreichbaren abzufinden und der "Behaglichkeit" nachzugehen, oder aber andererseits zu glauben, den völligen Erwerb der Heiligkeit des Willens hier erlangen zu können, "durch weIches beides das unaufhörliche Streben zur pünktlichen und durchgängigen Befolgung eines [... ] wahren Vernunfts gebots nur verhindert wird. Einem vernünftigen, aber endlichen Wesen ist nur der Progressus ins Unendliche, von niederen zu den höheren Stufen der moralischen Vollkommenheit möglich" (KpV, S. 141). Die Idee der Unsterblichkeit wird so zu einem Postulat der reinen praktischen Vernunft, weil ohne sie weder der reine Wille zu denken wäre, noch der Mensch in sich die Notwendigkeit denken könnte, sich wahrhaft um den reinen Willen zu bemühen. Die Idee der Unsterblichkeit ist deshalb die notwendige Bedingung des Objektes des reinen Willens, weil ohne sie kein reiner Wille und kein höchstes Gut gedacht werden kann. Sie ist so notwendig Bedingung der Anwendung des moralisch bestimmten Willens auf sein ihm apriori gegebenes Objekt des höchsten Gutes. Ohne die Annahme der Unsterblichkeit der Seele wäre kein reiner Wille und kein moralisches Gesetz denkbar, da dieses aber praktisch auffindbar ist im Sollen des Wollens, ist auch die Idee der Unsterblichkeit notwendig als Postulat der reinen praktischen Vernunft. Ihr kommt hierin eine objektive Realität zu als Erweiterung der Erkenntnis in praktischer Hinsicht. Zwar ist die Idee der Unsterblichkeit der Seele keine Erkenntnis an ihr selbst, d. h. keine Erweiterung der Erkenntnis der reinen theoretischen Vernunft, weil nur der Begriff von ihr in praktischer Hinsicht in Bezug auf das höchste Gut auffindbar ist. Dennoch hat sie so aber objektive Realität, weil sie objektiv notwendig, d. h. nicht subjektiv willkürlich ist dafür, daß das höchste Gut Objekt des reinen Willens als moralisches Gesetz sein kann. Damit hat sie nicht mehr einen nur hypothetischen Charakter, wie innerhalb der spekulativen Vernunft, sondern objektive Realität als Postulat der praktischen Vernunft. Denn für das Gebot des höchsten Gutes, das objektiv in der praktischen Vernunft vermittelst des kategorischen Imperativs gegeben ist, ist das Fürwahrhalten der Idee der Unsterblichkeit der Seele objektiv notwendig. In diesem Fürwahrhalten liegt der Charakter des Vemunftglaubens der reinen praktischen Vernunft. 202 Als Vernunftglaube kommt dem Fürwahrhalten der Idee der Un-
202
Vgl. zum FürwahrhaIten und dem Vernunftglauben auch: KdU, §§ 90, 91, S. 334-
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sterblichkeit keine Anschauung ihrer und keine Erkenntnis der reinen theoretischen Vernunft zu. Dennoch ist dieses Fürwahrhalten kein einfacher, leerer Glaube ohne denkerische Notwendigkeit. Denn das Fürwahrhalten der Unsterblichkeit der Seele ist objektiv notwendig für das Gebot des höchsten Gutes. Da dieses im moralischen Gesetz auffindbar ist, ist das Fürwahrhalten der Idee der Unsterblichkeit notwendig und nicht willkürlich. Ohne das Fürwahrhalten der Idee der Unsterblichkeit gäbe es keine Notwendigkeit und keine Möglichkeit, das höchste Gut und den reinen Willen zu denken, folglich aber auch keine Denkbarkeit der Möglichkeit des Sollens des Menschen und der Ausrichtung der Handlung nach einem Allgemeinen. Diese Notwendigkeit läßt Kant sagen: "[I]ch will, [... ] daß meine Dauer endlos sei, ich beharre darauf und lasse mir diesen Glauben nicht nehmen; denn dieses ist das einzige, wo mein Interesse, weil ich von demselben nichts nachlassen darf, mein Urteil unvermeidlich bestimmt [... ]." (KpV, S. 164)
g) Die Idee der Unsterblichkeit innerhalb der ontotheologischen Blickbahn Wenn wir nun die kantische Fassung der Idee der Unsterblichkeit der Seele in der Notwendigkeit ihrer Setzung als Postulat der reinen praktischen Vernunft betrachten, so können wir zeigen, wie Kant hiermit innerhalb der ontotheologisehen Blickbahn des Denkens der Metaphysik verbleibt, wenn auch schon in einer gegenüber den Griechen sehr gewandelten Form. Denn mit der Idee der Unsterblichkeit geht einher die Idee der Existenz Gottes als zweites Postulat der reinen praktischen Vernunft. Wenn die Idee der Unsterblichkeit notwendig zu denken ist, um eine Angleichung an das höchste Gut des reinen Willens zu denken, so ist es ebenso notwendig, die Existenz des reinen Willens selbst als Gottes Willen zu denken. Damit wird nun nicht nur die Bedingung der Möglichkeit des höchsten Gutes als des reinen Willens gedacht, wie sie in der Weise der Unsterblichkeit notwendig für den Menschen gedacht sein muß, sondern was Bedingung der Möglichkeit ist, damit das höchste Gut selbst gedacht sein kann. Die Existenz Gottes wird notwendig gedacht als reiner Wille, aus dessen Willen als seine Wirkung alles allgemeingültig und so der Gott als die oberste Ursache der Natur und die oberste Einheit der Weltganzheit in höchster Allgemeinheit ist. Denn das höchste Gut als allgemeiner reiner Wille ist nur zu denken, wenn der Gott als dieser reine Wille als existent gedacht ist. Er ist so das höchste selbständige Gut als höchste Ursache bzw. Urheber der Natur und Zweck der Weltganzheit. Als dieses Postulat der reinen praktischen Vernunft ist das Dasein Gottes ebenso ein Vernunftglaube im Sinne des notwendigen Fürwahrhaltens
349.
§ 16. Kants kritisches Denken der Idee der Unsterblichkeit
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des obersten Willens als allgemeingültigen Willen. Sowohl der Idee der Unsterblichkeit als auch der Idee des Daseins Gottes kommen somit in praktischer Absicht eine Erweiterung der Erkenntnis zu, jedoch nur als notwendig zu denkende Begriffe der Bedingung der Möglichkeit des höchsten Gutes der praktischen Vernunft und d. h. keine Erkenntnis, wie die Seele oder der Gott an sich selbst sind. 203 Fragen wir nun, warum das Denken Kants auf die Ideen der Unsterblichkeit und des Gottes notwendig stößt, so ist zunächst zu vergegenwärtigen, daß Kant sie selbst nicht radikal in Frage stellt, sondern sagt, daß die Natur der Vernunft sie aufgibt. Was heißt jedoch hier die Natur der Vernunft? Kant sagt zur Vernunft auch, daß sie das Vermögen sei, "das Besondere aus dem Allgemeinen abzuleiten" (A 646, B 674). Sie ist das Vermögen des Allgemeinen für das jeweilige Besondere. Damit ist jedoch die Grundrichtung des kantischen Denkens überhaupt ausgesagt: Das Vernünftige ist das Allgemeine und die Vernunft ist das Vermögen, dieses Allgemeine zu denken. Das Allgemeine ist aber das Wahre, das Objektive. Wahrheit ist für Kant Allgemeinheit und in dieser Leitbahn entfaltet sich das Denken. Wenn nun Kant die Begriffe des reinen Verstandes als Regelbegriffe, d. h. als objektive Bedingung der Möglichkeit für das Erscheinen der Gegenstände denkt, so kann er bei dieser Allgemeinheit nicht stehen bleiben. Zwar sagt Kant: "Die Naturforschung geht ihren Gang ganz allein an der Kette der Naturursachen nach allgemeinen Gesetzen derselben" (A 694, B 722), um aber zu erweitern: "zwar nach der Idee eines Urhebers, aber nicht um die Zweckmäßigkeit, der sie allerwärts nachgeht, von demselben abzuleiten, sondern sein Dasein aus dieser Zweckmäßigkeit [... ] mithin als schlechthin notwendig zu erkennen" (ebd.). Dieser Zusammenhang bedeutet, daß zwar die empirische Erkenntnis für sich allein Wahrheit aus allgemeinen Gesetzen ableitet, ohne diese aus dem Dasein Gottes als Urheber und seiner höchsten Zweckmäßigkeit abzuleiten. Aber sein Dasein entspringt notwendig aus der Ansetzung von Zweckmäßigkeiten, d. h. Allgemeinem. Zwar ist diese höchste Allgemeinheit nur regulativ, der an ihr selbst keine Erkenntnis zukommt, dennoch aber ist sie als systematische Einheit notwendig zu denken. Diesen Zusammenhang verdeutlicht besonders folgende Stelle: "Denn das Gesetz der Vernunft, sie [das Prinzip der systematischen Einheit der Natur] zu suchen, ist notwendig, weil wir ohne dasselbe gar keine Vernunft, ohne diese aber keinen zusammenhängenden Verstandesgebrauch, und in dessen Ermanglung kein zureichendes Merkmal empirischer Wahrheit haben würden, und wir also in Ansehung des letzteren die systematische Einheit der Natur durchaus objektiv gültig und als notwendig voraussetzen müssen." (A 651, B 679)
Die systematische Einheit der Natur als Weltganzheit aber ist ihrerseits fundiert in der Einheit der Idee des Gottes als Urheber dieser. Ohne die Idee des 203
Vgl. zum zweiten Postulat des Daseins Gottes: KpV, S. 142-151.
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B. 2. I. Das Denken des Todes
Gottes als höchster, umfassendster und so allgemeinster Ursache und Zweckmäßigkeit der Weltganzheit hätten wir gar keine Vernunft, weil diese jene Einheit als Ganzheit denkt. Ohne Vernunft jedoch gäbe es keinen zusammenhängenden Verstandesgebrauch und ohne diesen haben wir kein Merkmal einer empirischen Wahrheit. Denn ohne den zusammenhängenden Verstandesgebrauch läßt sich überhaupt keine Allgemeinheit eines einzelnen empirischen Gegenstandes denken, d. h. keine objektive Wahrheit für ihn. Folglich durchzieht das Denken des Allgemeinen alle Stufungen der Vernunft und darin liegt begründet, warum die Vernunft, wenn sie nur die kleinste allgemeine Erkenntnis eines Gegenstandes denken will, nicht umhinkommt, wenn sie die hierfür nötigen Bedingungen bedenkt, auch die Idee des Gottes als regulatives Prinzip denken muß. Dasselbe zeigt sich in der praktischen Vernunft. Wenn für die Handlung des Menschen gefragt ist, wie er sie frei nach einem Allgemeinen vollziehen kann, d. h. nicht nur nach seiner subjektiven Willkür oder der Sinnlichkeit, so ist auch hier die Ausrichtung nach der Allgemeinheit ausschlaggebend. Der Mensch kann den Grund seines Handeln frei einem Sollen eines Allgemeinen unterstellen. Folglich muß ein reiner Wille gedacht sein, der aber nur dann sinnvoll gedacht sein kann, wenn der Mensch als unsterblich und Gott im Sinne. des allgemeinsten Willens als existent gedacht wird. Ohne das Denken der Allgemeinheit als Wille Gottes sowie das Denken der Unsterblichkeit des Menschen gäbe es keine allgemeine Bedingung der Möglichkeit für ein Handeln und so aber keine Möglichkeit, irgendeine Handlung des Menschen aus einer Allgemeingültigkeit zu denken. Auch wenn Kant eine Erkenntnis der Idee der Unsterblichkeit und des Gottes an ihnen selbst als Fehlschluß der reinen Vernunft aufweist, ist es zugleich notwendig, Gott und Unsterblichkeit zu denken, um die Allgemeinheit des Willens zu denken. Und gleichermaßen ist es für die reine theoretische Vernunft ebenso notwendig, die Idee Gottes als zwar nur regulatives Prinzip zu denken, um überhaupt Allgemeinheit denken zu können. Ohne das Denken der allgemeinsten Allgemeinheit des Gottes bräche das Ganze des Denkens der reinen praktischen aber auch der reinen theoretischen Vernunft zusammen. Keine einzige empirische Wahrheit als Allgemeinheit sowie keine einzige Handlung in einer Allgemeingültigkeit über die subjektive Willkür und die Sinnlichkeit hinaus wäre in ihren Bedingungen bedenkbar ohne das Denken des Gottes als höchster Allgemeinheit. Ebenso wäre keine Bedingung der Allgemeinheit des empirischen Erkennens sowie des praktischen Handeins nach Allgemeingültigkeit denkbar, ohne daß der Mensch als Einheit bzw. unsterblich gedacht sein würde. Denn wenn keine Möglichkeit der Angleichung an das allgemeinste Allgemeine denkbar ist, was nur möglich ist, wenn der Mensch als unsterblich gedacht wird, ist jede denkbare Allgemeingültigkeit einer Handlung hinfällig. Gleichermaßen ist jede einzelne allgemeine Erkenntnis hinfällig, wenn nicht die Einheit in einer Person gedacht würde, weil es sonst keinerlei Verknüpfung der einzelnen Erkenntnisse gäbe.
§ 16. Kants kritisches Denken der Idee der Unsterblichkeit
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Betrachten wir nun die Idee der Unsterblichkeit und die Idee des Gottes insgesamt in ihrem Zusammenhang mit der Vernunft, so zeigt sich die "kantische" Wandlung der ontotheologischen Blickbahn folgendermaßen: Im Hinblick auf das Ontologische wandelt sich die Allgemeinheit VOn ihrer griechisch gedachten Anschaubarkeit in das Regelhafte der reinen Verstandesbegriffe im Horizont der Zeit. Das aus der Anschaubarkeit des Wesenhaften sich entfaltende Denken der Erkenntnis der Unsterblichkeit der Seele an ihr selbst weist er als Fehlschluß nach, wie ebenso die Idee des Gottes in ihrer Erkenntnismöglichkeit an ihr selbst. Dennoch denkt Kant die Idee der Unsterblichkeit und des Gottes als notwendige Begriffe des Vernunftglaubens, die gegeben sein müssen, um die Allgemeinheit des Willens zu denken. Und er muß die Ideen zugleich als regulative Funktionen des Denkens für die reine theoretische Vernunft denken, um ihre Allgemeingültigkeit denken zu können. Der entscheidende Schritt liegt dabei in dem Aufweis des rein regulativen Charakters der Vernunftideen für die theoretische Vernunft und der als notwendiger Vemunftglaube gegebenen Weise der Ideen VOn Gott und Unsterblichkeit für die praktische Vernunft. Daß Kant jedoch diese Ideen nicht in Frage stellt, liegt daran, daß er nicht nach der Herkunft der Ideen der Vernunft fragt. Er fragt nicht nach ihnen, weil er nicht nach der Herkunft des Denkens des Allgemeinen fragt. Nicht nach der Herkunft des Allgemeinen zu fragen, heißt aber nicht nach dem Sein zu fragen, sondern Wahrheit als Allgemeinheit weiterhin traditionell zu denken. Kant sieht zwar, wie sich aus dem Denken der reinen Vernunft als Denken nach der Allgemeinheit die Scheinschlüsse hinsichtlich Gott, Weltganzheit und Unsterblichkeit entfalten, weil ein natürlicher Hang die reine Vernunft spekulativ werden läßt. In der Abwehr des spekulativen Überschwangs, aus der Denkbarkeit der Ideen der reinen Vernunft eine Erkenntnis an ihnen selbst abzuleiten, gelangt Kant aber nicht zur weiterreichenden Frage nach der Herkunft dieser Ideen, weil Kant nicht tiefergehend vor Augen hat, wie aus der Frage nach dem Sein als Wesenhaftes, Allgemeines sich die Frage nach dem Sein im Ganzen und so das Denken des Gottes als Allgemeinstes und der Unsterblichkeit der Seele notwendig bildet. Kant unterläuft nicht nur nicht den Zusammenhang von Sein als Allgemeines und Gott und Unsterblichkeit, sondern sein Denken ist vielmehr bemüht, gerade das Allgemeine sowie den Gott und die Unsterblichkeit denken zu kjjnnen. Heidegger spricht in seinem späten Vortrag "Kants These über das Sein" aus dem Jahre 1961 von dieser Ausrichtung folgendermaßen: "Nun wird aber und bleibt für Kant die Frage, ob und wie und in welchen Grenzen der Satz »Gott ist« als absolute Position möglich sei, der geheime Stachel, der alles Denken der »Kritik der reinen Vernunft« antreibt und die nachfolgenden Hauptwerke bewegt." (WM, S. 449)
Dieser geheime Stachel liegt ebenso darin, wie die Idee der Unsterblichkeit in ihrer Denkbarkeit möglich ist, ohne die Grenzen der Erkenntnis der theoretischen Vernunft zu überschreiten. Der ganze Nachweis des Nichterkennbaren der Idee der Unsterblichkeit dient dazu, zwar einerseits die Grenze der reinen
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theoretischen Vernunft aufzuweisen, um aber andererseits die Berechtigung dieser Idee im Bereich des Vernunftglaubens zeigen zu können. Mit diesem Hintergrund bekommt der Satz aus der Einleitung zur »Kritik der reinen Vernunft«, "Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen" (B XXX), einen tieferen Sinn. Für Kant ermöglichte es sich durch die Abwehr der Wißbarkeit von Gott und Unsterblichkeit, dennoch ein Denken von Gott und Unsterblichkeit neben dem Denken der Naturkausalität zu vollziehen. Um Gott und Unsterblichkeit zu retten, war es für Kant vonnöten, sie in ihrer Denkbarkeit und darin Notwendigkeit als Ideen des Vernunftglauben gegenüber einem alleinigen Denken der Naturkausalität abgrenzen zu können.
§ 17. Vom Denken der Unsterblichkeit zum Denken der Sterblichen
Nachdem wir das Denken der Unsterblichkeit in den verschiedenen Stationen der Tradition aufgewiesen haben, kehren wir zur Ausgangsfrage zurück, die zu einer Thematisierung der metaphysischen Denkweisen geführt hat. Wir fragten am Ende von § 12, inwiefern erstens das Ende des Daseinsvollzuges gewandelt zu denken ist und zweitens der Daseinsvollzug selbst den Tod "berührt". Da wir im Laufe der Auslegung des Denkens des Todes in den »Beiträgen« auf den Tod als Eröffnung der tiefsten Durchstimmungsmöglichkeit gestoßen sind und das Aushalten des tiefsten Entzuges als Sieg im Tod aufweisen konnten, ergab sich für eine Beantwortung dieser Fragen die Notwendigkeit einer Thematisierung der Tradition, weil mit diesem Aufweis des Äußersten von Sein und Mensch bzw. Daseinsvollzug ein Verständnis dieses Denkens nahe liegt, das in den Bereich der Frage nach Todesüberwindung und Unsterblichkeit stößt. Wir können jetzt im Horizont der Frage, wie tief oder weit der Tod sowohl im Daseins vollzug als auch am Ende des Daseinsvollzuges zu denken ist, eine Kritik und eine Abgrenzung von der Tradition vornehmen.
a) Die Kritik am metaphysischen Denken von Tod und Unsterblichkeit Wenn wir vergegenwärtigen, wie sich innerhalb des platonisch-aristotelischen Denkens die Notwendigkeit ergab, die Seele als unsterblich zu denken, so bildete das Denken des Seins als beständig anwesenden Wesen den Leitfaden. Dieses Denken entwickelt sich aus der Not im Gegenhalt zum Drohen des Sichentziehens, d. h. des aiei aporoumenon, als diejenige Bestimmung der Seiendheit, die besagt, daß die Frage nach der Seiendheit immer wieder ins Aus-
§ 17. Vom Denken der Unsterblichkeit zum Denken der Sterblichen
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weglose stellt. 204 Aus dieser Not wird Sein im Sinne von Seiendheit als Beständiges gefaßt, um es überhaupt zu fassen. In dieser Ausrichtung jedoch wird das Verborgene bzw. das immer wieder sich Verbergende in die Vergessenheit gedrängt. Und weitergehend erlaubt das Denken des Beständigen nicht, dasjenige zu bedenken, gegen das es den Gegenhalt bildet, gerade weil es diesen Gegenhalt bildet. Ist Sein aber einmal als das Beständige gefaßt, wird es unmöglich, den Tod als das tiefste Verbergen zu denken. Denn wenn der Mensch deshalb als unsterblich gedacht sein muß, weil er das Sein als Unveränderliches, Beständiges zu denken vermag, ist in dieser Blickbahn der Tod nur die Veränderung, die das Veränderliche des Leibes betrifft, nicht aber das Unveränderliche der denkenden Seele. Nur in dieser Unterscheidung von Veränderlichem und Unveränderlichem, die sich aus der Orientierung an Sein in beständiger Anwesenheit und den Weisen der Anwesenheit und Abwesenheit ergibt, wird jetzt der Tod bedenkbar als Scheidung des Veränderlichen des Menschen von seinem Unveränderlichen. Damit wird jedoch der Tod einfach übergangen und eine denkerische Erfahrung des Todes als Verbergung unmöglich, weil er nur Veränderung des Veränderlichen bedeutet bzw. Auslöschung des Veränderlichen als Übergang von der Anwesenheit zur Abwesenheit. Daraus folgt aber, daß der Mensch nur denkbar wird in der Scheidung von Veränderlichsein und Unveränderlichsein. Sein Unveränderlichsein entspricht innerhalb der sich notwendig ergebenden ontotheologischen Blickbahn dem Unveränderbaren des Gottes, und folglich ist der Mensch in seiner Unveränderlichkeit göttlich und so unsterblich. Das Verhältnis des Menschen zum Tod als tiefster Verbergung wird so aus einer denkerischen Notwendigkeit übergangen. Innerhalb des platonisch-aristotelischen Denkens der Unsterblichkeit kann der Tod als Verbergendes nicht bedacht werden, weil Sein nicht eigens aus der Verborgenheit gedacht wird. Und Sein kann solange nicht in seinem Zusammenhang mit der Verbergung des Todes bedacht werden, solange der Tod nur als Veränderung des Veränderlichen und Übergang zu einem Unveränderlichen gedacht wird. Denken des Seins und Denken des Todes stehen hier in einem sich gegenseitig bedingenden Verhältnis. 205
Vgl. § 9, S. 124 dieser Arbeit. Heidegger entfaltet in seinem "Abendgespräch in einem Kriegsgefangenenlager", daß in der griechischen Philosophie vor dem platonisch-aristotelischen Denken des Menschen als zoon logon echon, das - als Wesensbestimmung des Menschen hinsichtlich seines Vermögens das Allgemeine zu denken - keinen Bezug zum Verborgenen des Todes aufweist, der Mensch einmal als der Sterbliche, ho thnetos, in seinem Wesen anders gedacht wurde (vgl. GA 77, S. 221-225). Der Sterbliche, ho thnetos, ist eine Anspielung auf die ältere Bestimmung des Wesens des Menschen bei Heraklit im Frag. 62: "athanatoi thnetoi, thnetoi athanatoi, zontes ton ekeinon thanaton, ton de ekeinon bion tethneotes." (in der Übersetzung von Diels: "Unsterbliche: Sterbliche, Sterbliche: Unsterbliche, denn das Leben dieser ist der Tod jener und das Leben jener der Tod dieser." (in: Die Fragmente der Vorsokratiker, griechisch und deutsch von Diels, Hermann, hg. von 204
205
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Die Auswirkungen dieses Denkens der Unsterblichkeit, das den Tod als Verbergung nicht zu denken vermag, sehen wir ebenfalls, wenn auch in gewandelter Form, bei Meister Eckhart. Zwar faßt Eckhart die denkerische Erfahrung des Nichts und des Todes. Wenn der Tod jedoch ganz erfahren ist, wird er nach Eckhart zu dem unsterblichen Ich durchbrochen. Damit reicht Eckharts denkerische Erfahrung zwar in den Bereich des Verborgenen und des Todes. Jedoch wird diese Erfahrung an der entscheidenden Stelle, wenn es um die Erreichung des ganzen Todes geht, in eine Ausformung gebracht, die zurückfällt in ein Denken, das den Tod gerade nicht zu denken vermag. Wenn im ganzen Tod der Tod zu dem unsterblichen Ich hin durchbrochen wird, so steht dieses Ich wiederum außerhalb des Geschehens des Todes, weil es davon nicht berührt wird, sondern, wie im griechischen Denken, das Unveränderliche im Gegensatz zum veränderlichen sterblichen Selbst ist. Die Fassung der denkerischen Todeserfahrung als Aufgehen des unsterblichen Ich im Gegensatz zum Vergänglichen des Selbstes und des Leibes ist kein Aushalten des Todes, sondern überspringt seine Verborgenheit zu einem Denken des Unsterblichen, das die Verborgenheit des Todes auslöscht. Der Tod, obschon zwar zunächst gedacht als tiefstes Nichts, wird so wiederum nur Übergang zum Unveränderlichen, an dem der Tod keinen Anteil hat, weil er, so gedacht, nur das Veränderliche trifft, das Sterbliche, was mit ihm stirbt entgegen dem Unsterblichen. Durch diesen Rückgang auf das griechische Denken von Unvergänglichem und Vergänglichem wird, wenn auch in der gewandelten Gestalt der Todesdurchbrechung im Leben, das Geschehen des Verborgenen des Todes wieder zurückgenommen. Der Geschehnischarakter selbst tritt hinter der Ausformung des Unsterblichen und Ewigen zurück, d. h. aber des Zeitlosen. Damit geht aber die Denkbarkeit des Todes als ein in einem besonderen Sinne zeitliches Geschehen verloren. Wir sehen hieraus, wie durch die Übernahme des griechischen Denkens von Unvergänglichem und Vergänglichem und der Ewigkeit das bei Eckhart angelegte Denken von Nichts und Tod zurückgenommen wird in ein Denken des Todes als Übergang bzw. Durchbrechungsmoment zum Unsterblichen und Ewigen. Dadurch wird die Todesdurchbrechung zur Todesüberwindung, d. h. zu einem einmal erlangten Zustand, infolgedessen sich der Mensch als unsterblich Kranz. Walther, 3 Bde., Erster Band, Berlin 1° 1961, S. 164» Heidegger merkt an, daß hier im Anfang der griechischen Philosophie das Wesen des Menschen in Beziehung zum Tod gedacht wurde: "ho thnetos ist dasjenige Wesen, das sterben kann." (GA 77, S. 224) Diese Beziehung zum Tod als Sterbenkönnen tritt in dem späteren griechischen Denken des Wesens des Menschen als notwendig unsterbliches Wesen zurück bzw. wird als Eröffnung des Verborgenen in die Vergessenheit gedrängt. Jedoch bleibt auch das Denken Heraklits trotz der Benennung des Bezuges des Wesens des Menschen zum Tod ein Denken der Sterblichen aus dem Gegenbezug zu den Unsterblichen, weshalb Heideggers Denken des Todes nicht auf Heraklit zurückzulesen ist (vgl. zu Heideggers Auslegung von Frag. 62 auch: Heidegger, Martin, Seminare, Gesamtausgabe Bd. 15, S. 139-196).
§ 17. Vom Denken der Unsterblichkeit zum Denken der Sterblichen
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weiß und der faktische Tod ihn nicht mehr berührt. Diese Fassung jedoch fällt hinter das Geschehen des Todes als Verbergung zurück, weil es mit der Erfahrung der einmal erlangten Unsterblichkeit bezüglich des Ich des Menschen nur noch von einem Ewigen und Unsterblichen sprechen kann. Ein solches Denken der Todesüberwindung verschließt den Geschehnischarakter der denkerischen Erfahrung des Todes, weil es zeitlos das Ewige und rein das einmal erlangte Unsterbliche denkt. Damit wird jedoch der Tod als Verbergendes wieder aufgehoben und ebenso übergangen. Betrachten wir in diesem Zusammenhang das Kantische Denken, so zeigt sich, daß mit der Fassung des transzendentalen Subjekts als ursprünglichsynthetische Apperzeption das Denken der Metaphysik zu einem Stand gekommen ist, der jegliche Denkbarkeit des Todes als Verborgenes gänzlich verschließt. Zwar kommt der Ständigkeit des transzendentalen Subjekts kein Urteil über seine Beharrlichkeit und so seine Fortdauer über den Tod hinaus zu. Auch die Idee der Unsterblichkeit zeigte sich nur als notwendig zu denkende Idee des Vernunftglaubens für die praktische Vernunft, der in dieser Hinsicht eine praktische Erkenntnis als notwendiger Begriff zukommt. Der Tod jedoch wird von Kant überhaupt nicht bedacht und da kein Schluß über die Beharrlichkeit der Seele als das denkende Ich möglich ist, wird er auch nicht als Übergang zum reinen Unveränderlichen gedacht, weil nach Kant über die Beharrlichkeit des denkenden Ich weder vor noch nach dem Tod etwas ausgesagt werden kann. Nur die Fortdauer als Idee der Unsterblichkeit ist für Kant notwendig zu denken, jedoch allein als Horizontbegriff für die praktische Vernunft, ohne den sie in ihrer Allgemeingültigkeit nicht zu denken wäre. Kant trifft insofern überhaupt keine Aussage daüber, wie der Tod als Ende in ein Denken hereinsteht und er kann dies notwendigerweise innerhalb seines Denken nicht. 206 Denn in seinem Denken vollzieht sich ein Verschluß gegenüber der Denkbarkeit des Todes und des Verborgenen, wie er abschließender nicht sein könnte. Wie wir schon im Zusammenhang mit dem Vorlaufen in den Tod thematisiert haben 207 , läßt sich der Tod nicht vorstellen. Jede Vorstellung verstellt den Bezug zum Tod. Dieses Verstellen hat seinen Grund in der Stän-
206 Der von Kant verwendete Begriff der "Endlichkeit" besagt nichts über ein Sein zum Ende bzw. zum Tode, sondern faßt nur die spezifisch menschliche Erkenntnisweise, die von der Gegebenheit des Gegenstandes der Erkenntnis in der Anschauung abhängig ist. Endlichkeit heißt hier Bedingtheit, Abhängigkeit, weil für das menschliche Erkennen der Gegenstand der Erkenntnis gegeben sein muß und diese somit hinnehmend ist. Dieser Begriff der Abhängigkeit von der Gegebenheit des Gegenstandes der Erkenntnis steht im Gegensatz zum Begriff der unendlichen Anschauung des Gottes, der als absoluter Anschauung kein Gegenstand in seiner Vorhandenheit vorausgehen kann, sondern die ihn im Anschauen entstehen läßt, weil sie nur so unendlich, d. h. unabhängig ist (vgl. auch: KaM, § 4, 5, S. 20-33). 207 Vgl. § 12, S. 183 dieser Arbeit.
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B. 2. I. Das Denken des Todes
digkeit des "Ich denke". Dadurch, daß jedes Vorstellen vom "Ich denke" notwendig begleitet wird, ist keine Vorstellung des Nichts meiner selbst denkbar, ohne daß diese wiederum vom "Ich denke" begleitet würde. In das Ständige des "Ich denke" kann kein Verborgenes und kein Nichts als der Tod einbrechen, weil es jede Vorstellung je schon begleitet und deshalb in keiner Vorstellung nicht sein könnte. Im Gegenteil: dadurch, daß ich mich selbst in jeder Vorstellung als Identität mit mir einige, habe ich diese Identität immer schon gesetzt. Diese Selbstaffektion aber, die sich selbst als Einheit vorhält und auf sich zu hält und so sich selbst affiziert, verschließt jegliche denkerische Erfahrung des Nichts und des Nichts meiner selbst. Die Ständigkeit des transzendentalen Subjekts ist derart zeitlos, daß sie nie nicht sein könnte, solange ich vorstelle. Folglich ist sie selbst zwar kein ewig Beharrliches, aber sie ist ständig notwendig gegeben. Der Verschluß zum Denken des Verborgenen ist deshalb gänzlich, weil er jegliches Herkommen aus einem Verborgenen dadurch verschließt, daß der Willenscharakter dieses Denkens jedes Vorstellen aus der Selbstsetzung herkommen läßt. Dieses Sich-in-sich-selbst-setzen ist das abgelöste Denken aus sich selbst als absolute Spontaneität, auch wenn es bezüglich des Zudenkenden endlich ist, d. h. abhängig von der Gegebenheit des Gegenstandes. Als Grund im Sinne der obersten Einheit aller Verstandesfunktionen und somit aller Vorstellungen ist es selbst aber abgelöst als ursprüngliche Identität mit sich selbst, die jegliche Herkunft eines Denkens aus einem Verborgenen verschließt. Hiermit ist aber die Denkbarkeit des Todes absolut verschlossen. Der Tod wird so überhaupt nicht denkbar, weil das transzendentale Subjekt sich immer bei jeder Vorstellung in sich selbst setzt und so sich je schon dem Tod verschließt, weil es seine Identität notwendig setzt. Es ist so nie vom Tode berührt, weil es zeitlos, d. h. immer, wenn ich vorstelle, ist. Das Denken ist so zu seinem absolut abgelösten Stand in sich selbst gekommen. Diese kopernikanische Wende, die darin besteht, daß der Mensch sich selbst und darin die Gegenständlichkeit für das Erscheinen des Gegenstandes sich vorhält, der so erst Gegenstand für unser Erkennen wird, ist insofern der letzte Schritt zu einem gänzlich herkunftslosen, d. h. verborgenheits- und so todeslosen Denken. Zugespitzt läßt sich sagen, daß ein Denken als Vorstellen, dessen letzter Grund der Vollzug der Ständigkeit des transzendentalen Subjekts ist, in diesem ständigen Sich-in-sich-selbst-setzen eine ständige Tötung als Abschließung des Bereiches des Verborgenen vornimmt. Dieses Töten läßt den Tod nicht zu, sondern tötet seine Denkbarkeit. Es bleibt in ihm nur das zeitlose transzendentale Subjekt, dessen Ständigkeit durch nichts innerhalb dieses Denkens nicht zu denken wäre.
§ 17. Vom Denken der Unsterblichkeit zum Denken der Sterblichen
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b) Der Tod im transzendental-horizontalen Denken von »Sein und Zeit« Bevor wir zur abschließenden Diskussion der Frage kommen, wie weit bzw. tief der Tod und das Sein zum Tode zu denken ist, bedarf es als letzten Schritt einer Thematisierung des Denkens des Todes in »Sein und Zeit«, weil in »Sein und Zeit« die Analyse des Seins zum Tode ausführlich entfaltet wird, hingegen in den »Beiträgen« nur in Andeutungen vom Tod und vom Sein zum Tode gesprochen wird. Wenn wir bisher aufgewiesen haben, inwiefern die Tradition der Metaphysik nicht vermag, den Tod zu denken, weil sie nach dem Sein als Allgemeinstes fragt bzw. vorstellend-verstellend denkt, so zeigt sich »Sein und Zeit« demgegenüber als ein fundamentaler Wandel der Seinsfrage und des Denkens des Todes. Jedoch bleibt »Sein und Zeit« sowohl im Ansatz der Blickbahn des Denkens als auch in der Sprache der Metaphysik verbunden, weshalb »Sein und Zeit« nur einen Übergang von der Tradition zum Ereignisdenken darstellt. 208 Der Wandel der fundamental-ontologischen Blickbahn des Denkens des Seins hin zum Ereignisdenken der »Beiträge« muß ebenso für die Bestimmungen des Todes und des Seins zum Tode vollzogen werden. Obwohl »Sein und Zeit« den Tod unverstellt zu denken versucht, wird wegen der Ansetzung der transzendental-horizontalen Blickbahn dieser Weg für Heidegger für das Zudenkende ungenügend, weil sowohl der Ansatz der Transzendenz als Daseinsvollzug des Transzendierens wie auch der Ansatz des Horizontes als Wohin des Transzendierens noch nicht hinreichend das Geschehen der Verbergung und Lichtung zu fassen vermag. Da beide als apriorische Bedingungen der Möglichkeit des Seinsverständnisses, d. h. ontologisch im Sinne des Fundierenden für den ontischen Vollzug des Daseins in Lebenswelt und Wissenschaft gedacht sind, liegt in dieser Fassung eine Anknüpfung an die Tradition und besonders an Kane09 , die den Tod noch nicht deutlich genug in sei208 Vgl. die verschiedenen Nennungen zum Übergangscharakter von »Sein und Zeit« in den »Beiträgen«: S.48, 76, 84-87, 182-183,205,223,228-229,234,305. Wie deutlich Heidegger zugleich ein Denken eines Übergangs als fortlaufende Entwicklung von »Sein und Zeit« zu den »Beiträgen« ablehnt und in dem Denken des Ereignisses einen Wandel von Grund auf sieht, verdeutlicht folgende Stelle aus dem 42. Abschnitt: "Von »Sein und Zeit« zum »Ereignis