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German Pages 141 Year 1998
Schriften zum Strafrecht Band 112
Der drohende Tod als Strafverfahrenshindernis Von
Benjamin Limbach
Duncker & Humblot · Berlin
BENJAMIN LIMBACH
Der drohende Tod als Strafverfahrenshindernis
Schriften zum Strafrecht Heft 112
Der drohende Tod als Strafverfahrenshindernis
Von
Dr. Benjamin Limbach
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Limbach, Benjamin: Der drohende Tod als Strafverfahrenshindernis / von Benjamin Limbach. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Schriften zum Strafrecht ; H. 112) Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-428-09455-7
Alle Rechte vorbehalten © 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorf! GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 3-428-09455-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ
Vorwort Diese Arbeit ist die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich in den Monaten Dezember 1995 bis Januar 1997 gefertigt und der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bonn im Wintersemester 1996/1997 vorgelegt habe. An erster Stelle habe ich meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. HansJoachim Rudolphi, zu danken, der sich bereitwillig von meinem Interesse an diesem Thema anstecken ließ, mich stets förderte, und bei dem ich während meiner Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter die notwendigen Freiheiten zur Erstellung dieser Arbeit genoß. Mein Dank gilt auch dem Ersteller des Zweitgutachtens, Herrn Prof. Dr. Gerald Grünwald, der früh mein Interesse an der Strafrechtswissenschaft weckte und förderte. Meiner Schwester Dr. Anna Caroline Limbach danke ich für die kritische Begutachtung des Manuskripts und ihre vielfaltigen und hilfreichen Anmerkungen und Anregungen. Ebenso danke ich meiner Kollegin Wibke Fleischer, die bereitwillig den Kampf gegen den Fehlerteufel führte. Schließlich möchte ich all denen danken, die mir in dieser Zeit Mut gemacht, mich gefördert und vor allem ertragen haben. Ihnen allen ist diese Arbeit gewidmet. Benjamin Limbach
Inhaltsverzeichnis Einleitung
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1. Kapitel: Das Ziel des Strafverfahrens 13 I. Strikte Trennung von materiellem Recht und Prozeßrecht - GoldSchmidt 14 II. Konkretisierung des materiellen Rechts durch das Urteil 1. Die Kreationstheorie von Sauer 23 2. Pawlowski 27 III. Verbindung von materiellem Recht und Prozeßrecht 1. Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs und Verwirklichung beziehungsweise Durchsetzung des materiellen Rechts 35 2. Wahrheit und Gerechtigkeit 39 a) Wahrheit 40 b) Gerechtigkeit 45 3. Rechtskraft und Rechtssicherheit 46 a) Rechtskraft als Einwand 47 b) Rechtssicherheit als Verfalirenszweck 49 4. Rechtsfrieden 53 a) Einwand der mangelnden Berücksichtigung der Gerechtigkeit 54 b) Einwände von Gaul und Schaper 56 c) Einwand von Paeftgen 59 d) Volks Definition des Rechtsfriedens 61 e) Weigends Definition des Rechtsfriedens 62 0 Exkurs: Luhmann und die Legitimation durch Verfahren 66 5. Ergebnis 68 6. Erreichbarkeit von Rechtsfrieden im Verfahren gegen Moribunde 69 2. Kapitel: Folgerungen aus der fehlenden Erreichbarkeit des Verfahrensziels I. Vorliegen eines einfachgesetzlichen Verfahrenshindernisses 1. Definition des Begriffs Verfahrenshindernis a) Zulässigkeitsbedingung des Verfahrens im ganzen b) Typisierte Voraussetzungen der Rechtsfriedenssicherung c) Verbindung beider Definitionen 2. Der drohende Tod als einfachgesetzliches Verfahrenshindernis a) "Der drohende Tod"
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Inhaltsverzeichnis
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b) Die Verhandlungsfahigkeit und der Tod des Beschuldigten als Vergleichsmaßstab c) Der drohende Tod als negative Zulässigkeitsbedingung des Verfahrens im ganzen aa) "Umstand" bb) "Zulässigkeit des Verfahrens im ganzen" cc) "Schwer wiegen" dd) Zwischenergebnis d) Der drohende Tod als negative typisierte Voraussetzung der Rechtsfriedenssicherung aa) Voraussetzung der Rechtsfriedenssicherung bb) "Einfache Struktur" und "wirkungssichere Evidenz" cc) Entscheidung des Konflikts dd) Zwischenergebnis 3. Bedenken gegen die Einstufung als Verfahrenshindernis a) Der bei Durchführung des Strafverfahrens drohende Tod - Β VerfGE 51, 324 b) Abwägung mit der Schwere der Tat c) Zusammenfassung 4. Ergebnis II. Verfahrenshindernis von Verfassungs wegen 1. Der Begriff Menschenwürde 2. Verletzung der Menschenwürde in Verfahren gegen Moribunde 3. Zusammenfassung III. Rechtsfolgen des Verfahrenshindeniisses 1. Vorläufige Einstellung nach § 205 StPO 2. Endgültige Einstellung nach § 206a StPO
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Zusammenfassung der Thesen
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Literaturverzeichnis
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Einleitung Der Zorn, selbst der gerechte, ist immer ungerecht. Gerecht ist nur die völlige Ruhe des Urteils. Carl J. Burckhardt
Von den vielen Entscheidungen deutscher Gerichte, die die strafrechtliche Aufarbeitung der Regierungskriminalität in der ehemaligen DDR betreffen, haben wenige eine solche Aufregung in der Öffentlichkeit hervorgerufen wie der Beschluß des Berliner Verfassungsgerichtshofs zum sogenannten "Honecker-Verfahren". 1 In diesem Beschluß ging der Berliner Verfassungsgerichtshof anhand der Feststellungen des Kammergerichts Berlin davon aus, daß der Beschuldigte aufgrund einer Krebserkrankung das Ende des Verfahrens mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht erleben werde. Auf der Grundlage dieses Sachverhalts vertrat das Gericht die Auffassung, das Strafverfahren könne seinen gesetzlichen Zweck nicht mehr erreichen, es habe seinen Sinn mithin verloren. Daher verletze eine Fortfuhrung desselben den Beschuldigten in seinem Recht auf Wahrung seiner Menschenwürde. Einer solchen Fortsetzung des Prozesses stünde demnach ein absolutes Verfahrenshindernis und der weiteren Untersuchungshaft ein absoluter Aufhebungsgrund entgegen.2 Die heftige Diskussion um diesen Beschluß verdeutlicht, auf welch schwieriges Gebiet sich der Berliner Verfassungsgerichtshof mit seiner Entscheidung begeben hat. 3 Kritisiert wurde nicht nur der Eingriff eines Landesverfassungsgerichts in das Bundesrechtsgebiet Strafrecht, sondern auch die Herleitung eines Verfahrenshindernisses aus der Verfassung. Die Schärfe der Diskussion mag sich einerseits mit der Person des Beschuldigten, der über einen Zeitraum
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BerlVerfGH NJW 1993, 515. Beri Ver fGH NJW 1993, 515 (517). Vgl. außerdem die Darstellung der öffentlichen Kontroverse bei Hénard , Geschichte vor Gericht, 63 ff, und bei Wesel, Der Honecker-Prozeß, 104 ff 3 Vgl. die Beiträge von Bartlsperger, DVB1. 1993, 333; Schoreit, NJW 1993, 881; Wilke, NJW 1993, 887; Meurer, JR 1993, 89; Berkemann, NVvvZ 1993, 409; Stark, JZ 1993, 231; Paeffgen, NJ 1993, 152; Koppeniock/Staechelin, StV 1993, 433. 2
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Einleitung
von achtzehn Jahren der höchste Repräsentant der untergegangenen DDR war, erklären lassen. Insbesondere die ihm zur Last gelegten Taten, nämlich die Tötung mehrerer Personen, die versucht hatten, die Grenze zur Bundesrepublik Deutschland zu überqueren, riefen eine verstärkte Aufmerksamkeit hervor. Andererseits birgt die Entscheidung auch ohne diesen historischen und politischen Hintergrund zahlreiche juristische Probleme sowohl verfassungsals auch strafverfahrensrechtlicher Art. Das Thema der Untersuchung beschränkt sich in dieser Arbeit jedoch auf die strafprozessuale Problematik der Entscheidung des Berliner Verfassungsgerichtshofs. So soll weder auf die Frage eingegangen werden, inwieweit ein Landesverfassungsgericht in die Arbeit der Strafgerichte eingreifen darf, noch auf die Herleitung der Garantie der Menschenwürde aus der Verfassung des Landes Berlin. Aber auch das strafprozessuale Problem, welche Auswirkungen es auf das Verfahren hat, daß der Beschuldigte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vor Ende des Verfahrens stirbt, läßt sich nicht gänzlich nüchtern betrachten. Denn eine solche Situation stellt nicht nur die Beteiligten "vor eine Nagelprobe auf die Menschlichkeit unseres Strafrechts". 4 Denn die staatlichen Autoritäten, die - sei es als Richter oder Staatsanwalt - am Verfahren beteiligt sind, treffen auf einen Beschuldigten, der um seinen nahe bevorstehenden Tod weiß. Und verstärkend kommt noch hinzu, daß der Tod nicht nur bevorsteht, sondern daß er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vor dem Ende des Verfahrens eintritt. Derartige Fälle mögen in der Praxis der Strafgerichte höchst selten sein. Es handelt sich - jedenfalls bisher - um Ausnahmesituationen.5 Doch berechtigt das nicht dazu, sie mit diesem Argument zu vernachlässigen und zu übergehen. Denn gerade in solchen Grenzfällen muß sich die Humanität unseres Rechtssystems zeigen, deren stärkster Ausdruck die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde in Art. 1 I GG ist, und muß sich ein rechtsstaatlich geprägtes Strafverfahrensrecht bewähren.
4 So Dencker, StV 1992, 125, zu ähnlichen Konstellationen bei Strafprozessen gegen Aids-Kranke, wo er weiter ausfülirt: "Das Verschweigen des Problems aber läßt objektive Grausamkeit des Strafrechts möglich werden, und es läßt auch die mit solchen Fällen konfrontierten Strafjuristen allein." 5 Im Hinblick auf die Ausbreitung von AIDS insbesondere auch unter Drogenabhängigen und in den Haftanstalten kann der drohende Tod im Strafverfahren jedoch bald an Bedeutung gewinnen; so Koppemock/Staechelin, StV 1993, 433 (439); Paeffgen in SK-StPO, Anhang zu § 206a Rn. 11.
Einleitung
Die Frage, ob gegen einen Moribunden ein Strafverfahren durchgeführt werden darf, soll aber nicht in erster Linie aus verfassungsrechtlicher Perspektive beantwortet werden, wie es der Berliner Verfassungsgerichtshof getan hat. Vielmehr ist es Anliegen der vorliegenden Untersuchung, auf das Problem des drohenden Todes des Beschuldigten eine Antwort aus dem einfachgesetzlichen Strafverfahrensrecht zu finden. Der Berliner Verfassungsgerichtshof mußte sich aufgrund seiner Aufgabe, staatliches Handeln nur anhand der Verfassung des Landes Berlin zu beurteilen, auf die verfassungsrechtliche Fragestellung beschränken. In einer vom konkreten Fall losgelösten Untersuchung erscheint es aber sinnvoll, primär das einfache Recht auf eine Lösung hin zu untersuchen. Erst dann, wenn diese Vorgehensweise keine befriedigende Antwort zu geben vermag, bietet es sich an. hilfsweise auf das Verfassungsrecht zu rekurrieren. Die Abstraktheit der Untersuchung trägt außerdem dazu bei, das Problem unabhängig von der Person eines bestimmten Beschuldigten mit einem gewissen Abstand und mit der im Sinne des einfuhrenden Zitates erforderlichen Ruhe zu behandeln.
Hinsichtlich der Problematik, welche Auswirkungen der drohende Tod des Beschuldigten auf das Strafverfahren haben soll, drängt sich zunächst die Frage nach dem Ziel des Strafverfahrens auf. Denn letztlich steht hinter der Überlegung, ob gegen einen Moribunden weiter verhandelt werden soll beziehungsweise darf, die grundsätzliche Frage, ob die weitere Durchführung eines solchen Strafverfahrens noch Sinn hat, ob der Prozeß mithin seinen Zweck überhaupt erfüllen kann. So hat denn auch der Berliner Verfassungsgerichtshof die Einstellung des Strafverfahrens damit begründet, daß das Verfahren sein Ziel nicht mehr erreichen könne.6 Aus diesem Grund setzt sich der erste Teil der Arbeit mit dem Ziel des Strafverfahrens auseinander. Schon die Fülle der hierzu erschienenen Literatur zeigt die Bedeutung einer Definition des Verfahrenszieles für das gesamte Strafverfahrensrecht. Eine solche Definition vermag dem Verständnis sowohl der Struktur dieses Rechtsgebietes als auch einzelner Probleme, die sich dem Juristen im Strafverfahrensrecht stellen, zu dienen. Daher steht diese Frage am Anfang der Untersuchung. Nach einer Auseinandersetzung mit den seit den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts vertretenen Ansichten kommt die Untersuchung zu dem Ergebnis, daß das Ziel des Strafverfahrens - kurz gefaßt - in der Schaffung von Rechtsfrieden besteht. Weiterhin wird dargelegt, daß die Fortführung eines 6
Beri Ver fGH NJW 1993, 515 (517).
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Einleitung
Strafverfahrens gegen einen Moribunden keinen Rechtsfrieden schaffen, das Verfahren folglich seinen Zweck nicht erfüllen kann. An dieses Ergebnis schließt sich dann die Frage an, welche Folgerungen sich aus der fehlenden Erreichbarkeit des Verfahrensziels ergeben. Dieser Frage wird im zweiten Teil der Arbeit nachgegangen. In Anbetracht dessen, daß sich die Untersuchung dem Problem des drohenden Todes vom einfachgesetzlichen Strafverfahrensrecht her nähert, steht zunächst die Überlegung im Vordergrund, ob der drohende Tod ein einfachgesetzliches Verfahrenshindernis darstellt. Ausgangspunkt sind dabei die Definitionen zum Begriff des Verfahrenshindernisses sowohl des Bundesgerichtshofs und der ihm folgenden Literatur als auch von Volk. Um Schwierigkeiten aufgrund der mangelnden Bestimmtheit beider Definitionen zu begegnen, wird auf anerkannte Verfahrenshindernisse und andere verfahrensbeendende Umstände rekurriert, denn der direkte Vergleich mit solchen Umständen kann eine Hilfestellung dabei sein, die Unschärfen beider Ansichten zu überwinden. Nach einer ausführlichen Subsumtion unter beide Definitionen und der Behandlung weiterer Bedenken gegen eine Klassifizierung des drohenden Todes als einfachgesetzliches Verfahrenshindernis, schließen sich kritische Überlegungen zum Problem eines Verfahrenshindernisses aus der Verfassung wegen Verletzung der Menschenwürde an. Schließlich wird noch die Frage nach den Rechtsfolgen, die sich aus einer Beurteilung des drohenden Todes als Strafverfahrenshindernis ergeben, behandelt. Am Ende der Arbeit werden dann die Ergebnisse der Untersuchung in kurzer Form zusammengestellt.
1. Kapitel: Das Ziel des Strafverfahrens In seinem Beschluß vom 12.01.1993 führt der Berliner Verfassungsgerichtshof aus, daß "das gegen den Beschwerdeführer anhängige Strafverfahren seinen gesetzlichen Zweck nicht mehr erreichen kann, der darin besteht, den legitimen Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der dem Beschwerdeführer in der Anklage zur Last gelegten Taten und gegebenenfalls auf Verurteilung und Bestrafung zu erfüllen" 1 . Dieser Satz bleibt im Verlaufe des Beschlusses die einzige Stelle, an der sich das Gericht mit dem Zweck des Strafverfahrens auseinandersetzt. Dieser Verzicht auf eine ausführliche Begründung hat in der auf den Beschluß folgenden Literatur teilweise zu deulicher Kritik geführt. 2 Und tatsächlich hätte es sich in einem der wenigen Urteile, die sich mit der Problematik Moribunder im Strafverfahren beschäftigen, angeboten, die Frage nach dem Prozeßzweck näher zu untersuchen, hätte die Antwort doch zu einer besseren Untermauerung des vom Berliner Verfassungsgerichtshof gefundenen Ergebnisses oder gar zu einer anderen Entscheidung führen können. Der Verweis auf das Bundesverfassungsgericht und die Kürze der Ausführung suggerieren, der vom Berliner Verfassungsgerichtshof angenommene Zweck des Strafverfahrens entspräche einheitlicher Ansicht in Literatur und Rechtsprechung. Und somit sei die Frage, ob das Strafverfahren seinen Zweck erreichen könne oder sinnlos geworden sei, eindeutig und unstrittig zu beantworten. Die nachfolgende kontroverse Diskussion, mag sie auch und gerade aufgrund der Person des Angeklagten in solcher Heftigkeit geführt worden sein, beweist das Gegenteil. Die Diskussion über den Zweck des Prozesses wird seit Anfang des Jahrhunderts immer wieder geführt, ohne daß sich eine Ansicht durchgesetzt hat. Einige Aufsätze beschäftigen sich ausschließlich damit. 3 Anderen Autoren dient die Definierung des Prozeßzweckes dazu, ihren zu anderen prozeßrechtlichen Themen unternommenen Untersuchungen eine Ausgangsbasis zu sein
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BerlVeriGH NJW 1993, 515 (517) unter Berufung auf BVerfGE 20, 45 (49). Vgl. Meurer, JR 1993, 89 (94); Stark, JZ 1993, 231 (233). Vgl. Schmidhausen Eb. Schmidt-FS, 511 ff.; Stock, Mezger-FS, 429 ff
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1. Kap.: Das Ziel des Strafverfahrens
oder aber als Hilfestellung bei der Antwortfindung für das von ihnen behandelte Problem. 4 Letzteren Zweck verfolgt das Kapitel über den Prozeßzweck auch in dieser Untersuchung. Das gewonnene Ergebnis soll helfen, eine Antwort auf die eingangs gestellte Frage, ob ein Strafverfahren gegen einen Moribunden zulässig ist, zu finden.
Eine Gliederung der zum Prozeßzweck vertretenen Ansichten fällt nicht schwer. Henkel 5 , und ihm folgend Volk 6 , haben eine einleuchtende Unterteilung in drei Gruppen vorgegeben. Danach gibt es zunächst zwei grundsätzlich gegensätzliche Ansichten, die jedoch auch durchaus Gemeinsamkeiten aufweisen. Die eine Ansicht, die von Goldschmidt vertreten wird 7 , fußt auf der strikten Trennung von materiellem Recht und Prozeßrecht. Die andere Ansicht, zu der - wenn sie auch nicht vollständig übereinstimmen - Sauer8 und Pawlowski9 zählen, vertritt den Standpunkt, materielles Recht und Prozeßrecht seien insofern miteinander verbunden, als das materielle Recht erst durch das Verfahren konkretisiert werde. Schließlich gibt es eine dritte Gruppe von Ansichten, die die selbständigen Materien materielles Recht und Prozeßrecht über den Prozeßzweck miteinander zu verbinden sucht.
I. Strikte Trennung von materiellem Recht und Prozeßrecht - Goldschmidt James Goldschmidt gehört zu einer Gruppe von Prozeßrechtlern, die eine spezifisch prozessuale Betrachtungsweise propagieren. 10 Er geht von der Selbständigkeit des Prozesses aus11 und tritt für eine strikte Trennung zwischen materiellem Recht und Prozeßrecht ein.
4 Vgl. dazu Volk, Prozeßvoraussetzungen, 169, dem der Prozeßzweck "geeignet erscheint, sowohl jene dogmatische Starre zu erklären als auch das bewegende Element zu liefern, dessen die Lehre von den Prozeßvoraussetzungen bedarf." 5 Henckel, Prozeßrecht und materielles Recht, 48 ff. 0 Volk, Prozeßvoraussetzungen, 173 ff 7 Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage, 151 ff, 211 ff. 8 Satter, Allgemeine Prozeßrechtslehre; ders., Grundlagen des Prozeßrechts. 9 Pawlowski, Aufgabe des Zivilprozesses, ZZP 80 (1967), 345 ff 10 Neben James Goldschmidt auch Eberhardt Schmidt, LK 1, Nr. 32 ff und 60 ff und H emer Niese, Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen. 11 Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage, 150.
I. Strikte Trennung von materiellem Recht und Prozeßrecht
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Nach Goldschmidt ist der Prozeß "das auf die Herbeiführung von Rechtskraft gerichtete Verfahren". 12 Unter Rechtskraft versteht er aber nicht die Fähigkeit zur abschließenden konkreten Gestaltung von objektivem Recht 13 , auch nicht die Kraft subjektiven Rechts. Vielmehr bedeutet Recht in diesem Zusammenhang für ihn das gleiche wie in "Rechtsweg", "rechtliches" Gehör und "von Rechts wegen", nämlich "Gericht". Deshalb ist Rechtskraft für ihn Gerichtskraft: "Rechtskraft ist die gerichtliche Geltung eines Anspruches als rechtlich begründet oder unbegründet". 14 Für ihn steht die Rechtsanwendung damit ebenso wie die Gesetzgebung außerhalb der Rechtsordnung, woraus folgt, daß der Richter die Macht ist, "die nicht dem Recht, sondern der das Recht unterworfen ist". 1 5 Letztendlich ist nach Goldschmidt die als "Gerichtskraft" zu verstehende Rechtskraft das Ziel und damit der Zweck des Prozesses. Durch die strikte Trennung der beiden Rechtsbereiche gelingt es Goldschmidt, für alle Verfahrensarten einen einheitlichen Zweck anzunehmen.
Um Goldschmidts Ansicht vom Prozeßzweck kritisch untersuchen zu können, muß man sich mit der von ihm vertretenen prozessualen Betrachtungsweise genauer auseinandersetzen. Sie unterscheidet sich für ihn von der materiellen Betrachtungsweise dadurch, daß diese statisch, die prozessuale aber dynamisch ist. 16 Die dynamische Betrachtungsweise soll danach für das Prozeßrecht gelten, keinesfalls aber für das materielle Recht. Durch die dynamische Sichtweise sieht er den Prozeß nicht wie Bülow 1 ' als Rechtsverhältnis, vielmehr als Rechtslage. Denn der Wert der dynamischen Rechtsbetrachtungsweise bestehe "in der Erkenntnis, daß die prozessualen Rechtsbeziehungen "unfertig", eben bloße Rechtslagen" seien.18 Das Gegensatzpaar statisch = materielle Betrachtungsweise und dynamisch = prozessuale Betrachtungsweise bietet den ersten Ansatzpunkt einer Kritik an Goldschmidts System. Zunächst ist daher zu klären, was Goldschmidt und die ihm folgenden Prozeßrechtler in diesem Zusammenhang unter statisch und was unter dynamisch verstehen. Der Prozeß sei ein "rechtlich geordneter Vorgang, der sich aus Handlungen zusammensetzt, die durch ihre Urteilsbezogenheit unter einem und demselben 12 13 14 15 16 17 18
Goldschmidt, 151. So aber Sauer, Grundlagen des Prozeßrechts, 235. Dazu und zum folgenden Goldschmidt, 211 - 213. Goldschmidt, 246. Goldschmidt, 228. Bülow, Die Lehre von den Prozeßeinreden und die Prozeß Voraussetzungen, 1. Goldschmidt, 265.
1. Kap. : Das Ziel des Strafverfahrens
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Gesichtspunkt vereinigt werden". 19 Diese "zielstrebige Bewegung" 20 soll also das Kennzeichnende des Prozesses sein, der sich durch die Handlungen der Prozeßbeteiligten auf das Urteil zu bewegt. Die Rechtslage ist nach Goldschmidt "der Stand der Angelegenheit einer Person, betrachtet unter dem Gesichtspunkt des nach Maßgabe des Rechts zu erwartenden richterlichen Urteils, kürzer: die rechtlich begründete Aussicht auf ein günstiges oder ungünstiges richterliches Urteil und folgeweise auf die gerichtliche Geltung des geltend gemachten Anspruches als rechtlich begründet oder unbegründet", sie ist demnach eine "Anwartschaft" auf ein Urteil. 21 Die einzelnen prozessualen Lagen, die durch die Prozeßhandlungen entstehen, sollen mithin nur einen "Durchgangspunkt auf dem Wege zum Urteil bilden und niemals eine selbständige Bedeutung haben". 22
Nach diesen Ausführungen drängt es sich geradezu auf, den Prozeß dynamisch zu betrachten, als etwas, das in Bewegung auf ein bestimmtes Ziel ist. Und so besteht für Goldschmidt, um es zur Verdeutlichung noch einmal zu wiederholen, der Wert der dynamischen Betrachtungsweise "in der Erkenntnis, daß die prozessualen Rechtsbeziehungen "unfertig", eben bloße Rechtslagen sind". 23 Das Unfertige, die mangelnde selbständige Bedeutung unterscheidet nach Goldschmidt, Niese und Eb. Schmidt also das prozessuale vom materiellen Recht. Denn die Normen des materiellen Rechts gäben vor, was einer tun oder verlangen dürfe und was einer unterlassen oder gewähren solle, woraus subjektive Rechte und Pflichten entstünden.24 Sie hätten danach Bewertungs- und Bestimmungsfunktion. 25 Aufgrund dieser rechtlichen Imperative entstehen dann nach Goldschmidt und Eb. Schmidt statische Rechtsverhältnisse mit subjektiven Rechten und Pflichten. 26 Dieser Statik der Rechtsverhältnisse, die das Wesen des materiellen Rechts ausmachen soll, könne demnach nur eine statische Betrachtungsweise gerecht werden. 27 19 20 21 22 23 24 25 20 27
Eb. Schmidt, LK I, Nr. 48. Niese, Prozeßhandlungen, 57. Goldschmidt, 255. Eb. Schmidt, LK I, Nr. 50; vgl. auch Niese, Prozeßhandlungen, 57 ff. Goldschmidt, 265. Eb. Schmidt, LK I, Nr. 64. Eb. Schmidt, LK I, Nr. 38. Eb. Schmidt, LK I, Nr. 64. Niese, Prozeßhandlungen, 57.
I. Strikte Trennung von materiellem Recht und Prozeßrecht
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Die Betrachtung des Prozesses als etwas, das in Bewegung ist 28 , mithin als etwas dynamisches, war für die folgende Kritik in der Lehre nicht der Ansatzpunkt. Vielmehr ging es um die Beurteilung des materiellen Rechts als statisch. Eb. Schmidt versucht, dieser Kritik vorzugreifen, indem er selber einen Vergleich mit Rechtsverhältnissen variablen Inhalts vornimmt. 29 Bei diesen Rechtsverhältnissen - Eb. Schmidt erwähnt beispielhaft das Kontokorrentverhältnis - soll "jede einzelne Station eine in sich selbst rechtlich bedeutsame Rechtsbeziehung zwischen den an dem Rechtsverhältnis beteiligten Geschäftspartnern" bedeuten, wobei jede Station die letzte sein könne und damit der letzte Status der beiderseitigen Rechtsbeziehung. Somit untermauert das Beispiel eines variablen Rechtsverhältnisses des materiellen Rechts, das noch am ehesten den aufeinanderfolgenden Prozeßlagen vergleichbar sei, die These der "zwingend" unterschiedlichen Betrachtungsweise der beiden Rechtsbereiche. Die nachfolgende Literatur hat diese These dennoch heftig kritisiert. Auch bei materiellen Rechtsverhältnissen sollen danach Elemente vorhanden sein, die "rechtlich unselbständig" sind in dem Sinne, wie Eb. Schmidt und Goldschmidt dies für die Rechtslagen im Prozeß vertreten. Als Beispiel dient dabei auf dem Gebiet des Zivilrechts der Kaufvertrag: 30 Werden die beiden Beteiligten Verkäufer und Käufer nach Abschluß des schuldrechtlichen Vertrages nicht aktiv in dem Sinne, daß sie nun die sachenrechtlichen Verfugungen vornehmen, sprich Bezahlung des Kaufpreises und Übergabe und Übereignung der Kaufsache, so ist der Kauf als gesamtes, das heißt als Einheit aus schuldrechtlichem und sachenrechtlichem Teil, ebenso unfertig wie ein Prozeß, der noch nicht an seinem Ziel, dem Urteil, angelangt ist. Somit kann man den Kauf einer Sache ebenso wie den Prozeß als etwas, das in Bewegung ist, ansehen. Denn er beginnt mit der Vertragsofferte, dem Angebot einer Partei wenn nicht sogar mit einer invitatio ad offerendum des Verkäufers, die schließlich noch kein bindendes Angebot darstellt, der also keine rechtlich bedeutsame Wirkung zukommt. Dieser Gesamtvorgang dauert an bis zum letzten dinglichen Erfüllungsgeschäft. Und selbst dann können noch nachvertragliche Verpflichtungen den Gesamtkauf als etwas Unfertiges erscheinen lassen. Dieser gesamte Vorgang ist mithin auch nichts anderes als ein procedere, ein Voranschreiten bis das "Sein" des endgültigen Rechtszustandes erreicht ist.
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Niese y Prozeßhandlungen, 57, verdeutlicht dies noch am lateinischen Ursprung des Wortes Prozeß, nämlich am Verb procedere, das übersetzt fortschreiten bedeutet. 29 Eb. Schmidt, LKI, Nr. 54. 30 Rödi g, Die Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, 25. 2 Limbach
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1. Kap.: Das Ziel des Strafverfahrens
Dagegen kann natürlich der Einwand erhoben werden, daß einzelne Stationen eben eine eigenständige Bedeutung haben, so der Abschluß des schuldrechtlichen Vertrages oder die Erfüllung einer der Leistungspflichten. Doch gilt das auch für einzelne Stationen des Prozesses. Volk hat einen Vergleich zwischen dem Eröffnungsbeschluß einerseits und dem Beschluß einer Aktionärsversammlung oder einer Erbengemeinschaft andererseits gezogen und beides gleich bewertet. 31 Dem ist zuzustimmen, denn der Eröffnungsbeschluß des Gerichts ist, obwohl er Bestandteil des procedere und somit auch eine Rechtslage ist, der statischen Betrachtungsweise zugänglich. Und so weist gerade das Gesellschaftsrecht in seiner praktischen Anwendung - insbesondere wenn es um Aktionärs- oder Gesellschafterversammlungen geht - mehrere Vergleichsmöglichkeiten mit dem Prozeß auf. 32 "Unübertrefflich" 33 ist immer noch der Hinweis von Hippels auf den alten Kindervers "Verliebt, verlobt, verheiratet" mit der Schlußfolgerung, dies deute eine "zielstrebige Bewegung" des "materiellen" Rechts an, "ein Werden, das im Sein der Ehe beharren will". 3 4 Aber nicht nur im materiellen Zivilrecht, auch im materiellen Strafrecht ist nicht nur das Statische, sondern auch das Dynamische vorhanden. Volk weist dies anhand der Begehung eines Subventionsbetruges nach: 35 Der Täter befindet sich bei Planung und Durchführung desselben in verschiedenen Situationen, die sich als Lagen beschreiben lassen. Auch diese Lagen haben etwas "Ungewisses" und "Unfertiges", denn ob der Richter dies später als Versuch oder als straflose Vorbereitung qualifiziert, kann zu diesem Zeitpunkt nicht mit Sicherheit vorhergesehen werden. Zudem ist mit Volk auch festzuhalten, daß die unterschiedlichen Stationen, wie die Täuschungshandlung, der Irrtum oder die Vermögensverfugung, keine eigene rechtliche Bedeutsamkeit haben, was für Goldschmidt schließlich ein wichtiges Unterscheidungskriterium des materiellen Rechts und des Prozeßrechts ist. Insbesondere die Figur des Versuchs beziehungsweise des Rücktritts ist ein treffendes Exempel, um die Ansicht von Goldschmidt, Niese und Eb. Schmidt auf ihre Schlüssigkeit hin zu untersuchen. Burkhardt konstatiert, daß die Betrachtung der Tat als eines statischen "Seins-Sachverhalts" die Beziehung zur Wirklichkeit durchtrennt, denn dadurch könnten die Tat und der Täter "weder
31 32
(449). 33 34 35
Volk, Prozeßvoraussetzungen, 180. So neben Volk, Prozeßvoraussetzungen, 180 auch F. von Hippel, ZZP 65, 424
Volk, Prozeßvorraussetzungen, 181 Fn. 67. F. von Hippel, 449. Volk, Prozeßvoraussetzungen, 181.
I. Strikte Trennung von materiellem Recht und Prozeßrecht
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genetisch noch in ihrer (problematischen) Weiterentwicklung begriffen werden". 36 Um eine solche Trennung von der Wirklichkeit zu vermeiden, soll sich nach dem Tatschuldurteil eine neue Diskussion des Lebenssachverhaltes im Hinblick auf die Strafzumessung anschließen; dann kann die Tat nach Burkhardt als "dynamischer Prozeß" angesehen werden, und somit "der Täter in seiner Gesamtpersönlichkeit und ihrer Entwicklung begriffen werden". 37 Burkhardt verwendet explizit die entscheidende Wendung "Tat als dynamischer Prozeß". Und schließlich bietet sich der Versuch eines Delikts mit anschließendem Rücktritt auch als einleuchtendes Beispiel aus dem Bereich des Strafrechts an, um die These, das materielle Recht sei nur der statischen Betrachtungsweise fähig, zu widerlegen. Zwar mag die Situation, in der das Stadium der straflosen Vorbereitung verlassen wird und der strafbare Versuch beginnt, als etwas Statisches betrachtet werden. In der weiteren Entwicklung des Versuchs aber, wenn der Täter noch weitere Tatbestandsmerkmale erfüllt, so zum Beispiel beim Raub nach dem Aussprechen der Drohung der Beginn des Bruchs fremden Gewahrsams, bis hin zu Rücktrittshandlungen ist der Deliktsverwirklichung auch etwas Dynamisches eigen. Oder, um es mit Goldschmidts Begriffen zu sagen: es gibt in diesem Gesamtverhalten Lagen, die rechtlich unselbständig sind. Sowohl die Beispiele aus dem Zivilrecht wie auch die aus dem Strafrecht zeigen, daß die Betrachtung des materiellen Rechts als etwas Statisches zu kurz greift. Die These Goldschmidts geht nicht ganz fehl, denn man kann nicht leugnen, daß sich vieles in diesem Bereich als etwas Statisches darstellt, doch gibt es genug Beispiele, die zeigen, daß die dynamische Betrachtungsweise nicht exklusiv für das Prozeßrecht Geltung beanspruchen kann. Damit ist aber auch der Grund für die unterschiedliche Beurteilung von materiellem Recht und Prozeßrecht fraglich geworden. Dieser Grund soll schließlich nach Goldschmidt darin liegen, daß der eine Rechtsbereich nur der statischen, der andere nur der dynamischen Betrachtungsweise zugänglich ist. Das Gegensatzpaar dynamisch - statisch ist mithin ein untaugliches Mittel zur Unterscheidung der beiden Rechtsbereiche. 38
Die Kritik wendet sich außerdem aber noch gegen seine Definition des Prozeßzieles, nämlich der Rechtskraft, oder, um Goldschmidts eigenes Wort zu gebrauchen, der Gerichtskraft. Henckel hat dagegen eingewandt, diese Definition von Rechtskraft setze die Trennung der beiden Rechtsgebiete voraus, die 36 37 38
2*
Burkhardt, Der "Rücktritt" als Rechtsfolgebestimmung, 193. Burkhardt, 194, siehe auch 197 und schon 158. Vgl. Volk, ProzeßVoraussetzungen, 181.
1. Kap.: Das Ziel des Strafverfahrens
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eigentlich aus der Definition erst erarbeitet werden solle. 39 So sieht sich die Definition selbst zwei Einwänden ausgesetzt. Zum einen kommt Goldschmidt, wie oben dargelegt, zu dem Ergebnis, der Richter sei schließlich nicht dem Recht unterworfen, sondern dieses ihm. Was er schaffe, nämlich die Rechtskraft beziehungsweise Gerichtskraft, stehe außerhalb der Rechtsordnung. So stehe dann der Richter über dem und daher außerhalb des Rechts, er könne weder Subjekt noch Gegenstand einer Rechtsbeziehung sein. 40 Dagegen ist mit Henckel einzuwenden, daß das unrichtige Urteil nach der prozessualen, sprich dynamischen, Betrachtungsweise niemals falsch sein kann, denn die Richtigkeit des Urteils bedarf der materiellen Betrachtungsweise. Daraufhin stellt sich die Frage, wie man die Geeignetheit des Prozeßrechts bezüglich des Ziels eines richtigen Urteils feststellen soll, wenn im Prozeßrecht diese Kategorie des richtigen oder falschen Urteils aufgrund der allein prozessualen Betrachtungsweise keine Bedeutung haben darf. 41 Letztlich ist das Ergebnis der Überlegungen Goldschmidts zur Stellung des Richters, daß dieser nicht Adressat von Imperativen sein kann. Jedoch kann man mit Rödig die tatsächliche Feststellung treffen, daß der Prozeß der Rechtsanwendung, den der Richter vornimmt, Gegenstand einiger Vorschriften, wie der des § 336 StGB, ist. 42 Goldschmidt macht geltend, daß der Richter, wenn er das Recht nicht oder nicht richtig anwendet, keine Amtspflicht oder staatliche Justizpflicht verletzt, daß es sich statt eines Willensfehlers um einen Verstandesfehler handelt. 43 Der Straftatbestand der Rechtsbeugung aber ist ein Nachweis dafür, daß der Richter nicht außerhalb der Rechtsordnung steht. Nur wenn solche Rechtssätze nicht dem objektiven Recht zugeordnet sind, kann die These Goldschmidts Bestand haben. Welchem Bereich sie aber zugeordnet sein können, ist nicht nur unerfindlich 44 , diese Frage wird von Goldschmidt auch nicht annähernd geklärt. Zudem setzt er sich dem Vorwurf aus, Prozeß und Richter würden von ihren staatsrechtlichen Grundlagen gelöst. 45 Doch ist dies nicht das einzige Resultat seiner Lehre, das er nicht ohne Friktionen erklären kann. Durch die absolute Trennung von materiellem und 39
Henckel, Prozeßrecht und materielles Recht, 49. Goldschmidt, 246. 41 Henckel, 50; vgl. auch Volk, Prozeßvoraussetzungen, 182. 42 Rödig, 29. 43 Goldschmidt, 247. "Rödig, 29. 45 Henckel, 50: "Aus dieser Sicht ist das Prozeßrecht kein Recht mehr und der Prozeß hat keine Funktion in der Rechtsordnung; er ist vielmehr ein Ereignis, ein Schicksal, das die Parteien überzieht wie ein Krieg." 40
I. Strikte Trennung von materiellem Recht und Prozeßrecht
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prozessualem Recht dürfen nach Goldschmidt materielle Wertungen natürlich keinen Einfluß auf die Beantwortung prozessualer Probleme haben. Dann aber kann Goldschmidt die Unterschiede zwischen den verschiedenen Prozeßarten nicht ohne inneren Widerspruch zu seinen Grundprämissen erklären. Dabei sind nicht nur die Unterschiede zwischen Zivil- und Strafprozeß gemeint, sondern auch die innerhalb des Zivilprozeßrechts, das mit streitiger und freiwilliger Gerichtsbarkeit auch unterschiedliche Verfahren kennt. Letztlich kann der Grund für die unterschiedliche Ausgestaltung von Prozeßrecht dann aber nur im materiellen Recht liegen, das den verschiedenen Prozeßarten zugrundeliegt. 46
Damit ist der Ausgangspunkt der Untersuchung des "Systems" Goldschmidts erreicht, nämlich die Frage, was seiner Ansicht nach der Zweck des Prozesses ist. Indem er als Ziel des Prozesses die Rechtskraft ansieht, die er als Gerichtskraft präzisiert, setzt er das Ende des Prozesses mit seinem Ziel gleich. 47 Da er die prozessuale Betrachtungsweise strikt anwendet, dürfen materielle Gesichtspunkte für die Definition des Prozeßzweckes keine Bedeutung haben. Ausschlaggebend kann demnach nur das Prozeßrecht selber sein, und mit dem Begriff der Gerichtskraft gelingt es Goldschmidt, den Zweck des Prozesses aus sich heraus zu bestimmen. Das kann - konsequent zu Ende gedacht - bedeuten, daß damit, wie Henckel behauptet, der Prozeß Selbstzweck ist 48 , wenn dies auch sicher nicht der Intention Goldschmidts entspricht. Der Vorwurf, daß das Ziel des Prozesses nicht im Prozeß selbst liegen kann 49 , bleibt jedoch bestehen: "Denn dann hätte der Prozeß sich selbst zum Ziele, und sein Sinn wäre völlig unerfindlich". 50 Wenn die Rechtskraft, also die endgültige Feststellung dessen, was rechtens ist, allein das Ziel ist, stellt sich zudem die berechtigte Frage, warum es für diese Feststellung ein "so minutiös und verklausuliert geregeltes Verfahren" gibt. 51 Diese Einwände zeigen schon, daß das Ziel des Verfahrens, sein Zweck, nicht allein im Prozeß selber liegen kann. Vielmehr muß das Ziel außerhalb des Prozeßrechts liegen, und zwar im materiellen Recht. 52 Nur dann setzt man sich nicht dem oben erwähnten Vorwurf Henckels aus, daß der Prozeß Selbst46 47 48 49 50 51 52
Henckel, 49. Sax, ZZP 67, 21 (26). Henckel, 48. Sax, 27; vgl. auch Volk, Prozeß Voraussetzungen, 179. Sax, 27. Sax, 27. Vgl. Volk, Prozeßvoraussetzungen, 179, 183; Sax, 27.
1. Kap.: Das Ziel des Strafverfahrens
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zweck ist. Zu diesem Ergebnis kann man nur kommen, wenn man erkennt, daß materielles Recht und Prozeßrecht nicht so unterschiedlich sind, daß Wertungen aus dem einen Bereich nicht in den anderen hineinwirken dürfen. 53 Mithin zeigt die Untersuchung von Goldschmidts Prozeßverständnis, daß eine zu strikte Trennung zwischen den beiden Rechtsbereichen nicht sinnvoll sein kann. Denn diese Sichtweise verschließt einem die Einsicht, daß insbesondere der Prozeßzweck eine Nahtstelle zwischen den beiden Rechtsbereichen darstellen kann, daß diese beiden Materien eben nicht beziehungslos nebeneinander existieren. 54 Schließlich muß man auch darauf hinweisen, daß diverse materiellrechtliche Vorschriften in ihrer Fassung auch auf der Rücksichtnahme des Gesetzgebers bezüglich prozessualer Probleme - wie zum Beispiel Beweisschwierigkeiten - beruhen. 55 Das System der strikten Trennung von materiellem und Prozeßrecht und die Ziel- und Zwecksetzung des Prozesses aus sich heraus kann daher sowohl aufgrund der Mängel bei den Grundvoraussetzungen des Systems als auch wegen der Konsequenzen, die es für die Beantwortung prozessualer Fragen hat, nicht überzeugen.
I L Konkretisierung des materiellen Rechts durch das Urteil Sauer 56 und Pawlowski 57 setzen der strikten Trennung von materiellem Recht und Prozeßrecht eine Betrachtung entgegen, wonach die beiden Rechtsbereiche durch den Prozeß in eine Einheit gebracht werden, so daß folglich erst durch das Urteil das materielle Recht konkretisiert wird. Diese Goldschmidt quasi diametral entgegengesetzte Ansicht führt aber jedenfalls bei Sauer insofern zu einem gleichen Ergebnis, als es auch diesem Autor gelingt, den Prozeßzweck für alle Verfahren gleich zu bestimmen. Sauers und Pawlowskis spezielle Betrachtungsweise des Verhältnisses von Prozeß und materiellem Recht kann als Vorgänger unter anderem auf Bülow verweisen, für den die Normen des Privatrechts unfertig, also nur ein Plan sind, "ein 53
Vgl. Henckel, 50. Goldschmidt will dieses Problem mit der Figur bzw. Kategorie des materiellen Justizrechts als Brücke zwischen den beiden Rechtsbereichen lösen, 264. 55 Rödig, 30 mit Beispielen. 56 Sauer, Allgemeine Prozeßrechtslehre. 57 Pawlowski, Aufgabe des Zivilprozesses, ZZP 80 (1967), 345 ff. 54
Π. Konkretisierung des materiellen Rechts durch das Urteil
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Entwurf einer zukünftigen erwünschten Rechtsordnung", und für den erst das Urteil des Richters die vollendete Rechtsnorm schafft. 58 Beide Autoren stimmen aber miteinander nicht gänzlich überein. Denn während Pawlowski vor allem unter juristischen Gesichtspunkten, insbesondere mit den Vorschriften über die Revision als Ausgangsbasis, an die Frage nach dem Zweck des Prozesses herangeht, bedient sich Sauer einer soziologischen Sichtweise des Prozesses. Daher werden beide, auch wenn sie teilweise übereinstimmen, getrennt dargestellt und auch teilweise getrennt kritisch untersucht.
1. Die Kreationstheorie von Sauer Nach Sauer ist der Prozeß nicht allein eine "formal-juristische Angelegenheit"; vielmehr ist er eine soziale Erscheinung und soll deswegen auch eine "sozialethische Aufgabe erfüllen". 59 Danach ist der Prozeß die "richterliche Gestaltung eines Einzelfalls des Rechtslebens [...] zu einem Gemeinschaftswert gemäß der Gerechtigkeit". Erreicht werde aber nicht Gerechtigkeit, sondern vielmehr Annäherung an die Gerechtigkeit, sonst würde dem Gericht Unmögliches zugemutet und die Gerechtigkeit herabgewürdigt (Seite 2). Wie Goldschmidt sieht er den Prozeß als etwas, das sich bewegt und vorwärtsschreitet. Jedoch meint er das nicht als dynamische Bewegung von Prozeßlage zu Prozeßlage mit dem Urteil als Endpunkt, sondern vielmehr als "Aufstieg aus einem gemeinschaftswidrigen, zum mindesten einem unklaren und verworrenen Zustand zum Recht" (2). Dabei soll dem Richter aber nicht die Aufgabe zukommen, das Recht "als etwas Bestehendes" zu finden, also einen Sachverhalt nur stur unter eine Norm zu subsumieren, vielmehr soll der Richter als Schöpfer handeln. Er soll das Recht gestalten, schaffen, schöpfen, wobei Sauer den Richter mit einem Forscher und einem Künstler vergleicht (2, 19). Um es mit Sauers Worten zu sagen: "Der Richter hebt die im sozialen Leben ruhenden Werte, indem er sie für den Einzelfall zur staatlichen konkreten Satzung ausprägt" (2). Das soll daran liegen, daß die Gesetze nur ein "genereller Niederschlag der Rechtsidee" seien, wenn sie verabschiedet würden; das Urteil durch den Richter aber die Konkretisierung beziehungsweise "Offenbarung, Klärung und Gestaltung der bisher verborgenen Rechtsidee" (3). Danach ist die Tätigkeit des Richters im Prozeß mehr als bloße Rechtsprechung, -anwendung und -findung, vielmehr 58 59
Bülow y Gesetz und Richteramt, 3, 7 und 45 ff. Sauer, Allgemeine Prozeßrechtslehre, 1 ff.
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Rechtsgestaltung, -Satzung und -Schöpfung (3, 19). Damit genügt man nach Sauer der "Forderung nach individueller Gerechtigkeit", wenn auch auf Kosten der Rechtssicherheit (10). Nach Sauers "organisch-soziologischer" Ansicht ist die abstrakte Ordnung nur der "äußere Rahmen", während sich das "lebende Recht" innerhalb dieses Rahmens im "Streben der Menschen nach Werten und Gütern" gestaltet und neue Formen und Gestalten annimmt (18). Dieses "lebende Recht", das der Richter gestaltet und schöpft, bedeutet, daß die abstrakten Regeln lebendig werden, "Fleisch und Blut annehmen, die Menschen beseelen und zur Rechtsgemeinschaft innerlich hinführen" (20). Somit erklärt sich auch, was Sauer unter Rechtskraft versteht. Diese bedeutet für ihn "Gestaltung einer neuen Rechtslage für das Gemeinschaftsleben durch das Prozeßgericht"; Rechtskraft soll "Rechtsgestaltungskraft, Sozialisierungskraft mit möglichster Erziehung zum Gemeinschaftssinn" sein (233 und schon 19). Erst mit der Rechtskraft des Urteils, das "Schluß- und Höhepunkt der Rechtsverwirklichung" sei, werde das abstrakte Recht zu lebendem Recht, werde es sozusagen verwirklicht (234). Das Urteil soll aber nicht nur das Recht schaffen beziehungsweise konkretisieren, es soll zudem feststellend zwischen den Parteien wirken (249). Das Ziel, der Zweck des Prozesses ist also nach Sauer die Schaffung konkreten lebendigen Rechts, indem der Richter durch das Urteil das abstrakte Recht lebendig werden läßt. Sauer ist aber mit Henckel entgegenzuhalten, daß das Recht nicht nur im Prozeß gestaltet wird, vielmehr auch im rechtsgeschäftlichen Verkehr durch die Parteien selber, wonach das Besondere des Prozesses darin zu sehen ist, daß hier das Recht durch den Richter und nicht durch die Parteien gestaltet wird. 6 0 Wenn zum Beispiel eine der an einem Vertrag beteiligten Parteien diesen Vertrag anficht oder eine der Parteien ihr vertraglich vereinbartes oder gesetzlich vorgesehenes Rücktrittsrecht wahrnimmt, gestaltet auch sie das materielle Recht, ähnlich wie es nach Sauer der Richter im Prozeß macht. Die Gestaltung des Rechts durch den Richter aber kann nicht das eigentliche Spezifikum des Prozesses sein, denn auch die Parteien wirken durch ihr Handeln an der Gestaltung mit, indem sie zum Beispiel bestimmte Anträge stellen oder die Klage zurücknehmen oder ein Teilanerkenntnis erklären. 61 Diese Schwäche seines Systems hat Sauer erkannt. Um die herausragende Funktion des Richters, die für ihn von großer Bedeutung ist, zu sichern, wehrt er sich gegen frühere Bestrebungen im Strafverfahrensrecht, das Privatklageverfahren durch 60
Henckel, 52. Henckel, 7, der weiter ausführt, daß mit Sauers Lehre das Wesen des Prozesses nicht hinreichend beschrieben würde. 61
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ein Schlichtungsverfahren vor einem Friedensrichter zu ersetzen: ~ Jede Schlichtung setze notwendig ein Richten voraus und in solcher Art Verfahren gehe es fur die Beteiligten um wichtige Interessen; 63 gütliche Einigung der Parteien und eine Befriedung seien ausgeschlossen, so daß das Richten durch den Richter die bessere Alternative sei als die Schlichtung. Sauer kann aber auch schon zu seiner Zeit bestehende Rechtsinstitute mit seinem System nicht vollkommen in Einklang bringen. Bezüglich des Prozeßvergleichs im Zivilverfahren könnte er noch vorbringen, daß der Richter als "Protokollant" wenigstens annähernd als Gestalter der Rechtslage in Erscheinung tritt. Jedoch verschwindet seine Rolle als Gestalter dort, wo die Parteien im Zivilverfahren aufgrund ihrer Dispositionsbefugnis ohne Mitwirkung des Richters entweder alleine, indem zum Beispiel eine Partei anerkennt oder die Klage zurücknimmt, oder gemeinsam aufgrund einer Vereinbarung den Streit beenden.
Die entscheidende Bedeutung innerhalb des Prozesses hat im System Sauers dem vorhergehenden zufolge der Richter, dem nicht nur die Aufgabe der Gesetzesanwendung beziehungsweise Rechtsfindung obliegt, sondern der auch eine "sozialethische Aufgabe" zu erfüllen hat, geradezu eine erzieherische: Er "hat das einzelne Willensstreben durch seine Rechtsgestaltung dem Gemeinschafitswillen anzupassen", der "Richterspruch soll" den Parteien "nicht nur eine verbindliche Norm für ihr künftiges Verhalten geben, sondern einen Anhalt zur Stärkung ihres Gemeinschaftssinns". 64 Das heißt aber in concreto, daß es im Prozeß, wie Sauer ihn sieht, um den Gemeinschaftswillen, die Gemeinschaftswerte, mithin das objektive Recht geht. Dieses wird gestaltet durch das Urteil des Richters. Dabei läßt Sauer die subjektiven Rechte desjenigen, der als Partei am Prozeß beteiligt ist, nahezu außer Acht. Es geht nicht vorrangig um den konkreten Klageantrag des Zivilklägers oder des mit der Verwaltung streitenden Bürgers oder um die konkrete Straftat des Angeklagten im Strafverfahren, vielmehr verschwinden diese im Hintergrund der Gestaltung des objektiven Rechts. Im Vordergrund steht nicht das Recht des Einzelnen, sondern der "Anhalt zur Stärkung" des "Gemeinschaftssinns", es "wird ein widerstrebendes, asoziales Willensstreben nach dem Gemeinschaftswillen gerichtet". 65 Durch diesen Gemeinschaftswil62
Sauer, Allgemeine Prozeßrechtslehre, 5. Das Privatklageverfahren, das in den §§ 374 ff. StPO geregelt wird, ist zum Beispiel für die Beleidigungsdelikte, den Hausfriedensbruch, die einfache und die gefahrliche Körperverletzung und Urheberrechtsdelikte vorgesehen, vgl. § 374 I StPO. 64 Sauer, Allgemeine Prozeßrechtslehre, 19. 65 Sauer, Allgemeine Prozeßrechtslehre, 19. 03
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1. Kap.: Das Ziel des Strafverfahrens
len und die Gemeinschaftswerte können demnach Wertungen, die außerhalb des einschlägigen materiellen Rechtsbereiches liegen, in den Prozeß hineingetragen werden. 66 Dies dient jedoch nicht der Rechtssicherheit. Denn wenn das abstrakte Recht nur der äußere Rahmen ist, dann steht es dem Richter offen, verschiedenste Wertungen in sein Urteil miteinfließen zu lassen. Man fragt sich, woran der Richter eigentlich noch gebunden ist, wenn er aus der Gesamtheit des abstrakt vorhandenen Rechts schöpft. Seine im Grundgesetz in Art. 20 III festgeschriebene Bindung an die Gesetze findet bei Sauer keinen Anhalt. Zu vergleichen ist er vielmehr mit dem Richter bei Goldschmidt, der nicht dem Recht, sondern dem das Recht unterworfen ist. 67 Dem Richter kommt folglich in Sauers System ein mächtige Rolle zu als Erzieher der Parteien. Und auch Sauers Beschreibung des Richters in der Einleitung seiner Schrift verstärkt diesen Eindruck: Zwar soll der Richter nicht über den Parteien thronen; "er steht in inniger Gemeinschaft mit ihnen, empfindet ihre Sorgen und Nöte, lebt mit ihnen und lebt für sie. Der Richter 'richtet' das Unrichtige als richtig ein, indem er es zu den regulativen Ideen der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls einlenkt. Der Richter will das Beste für die Rechtssuchenden ebenso, wie der Lehrer für die Schüler, der Vater für die Kinder, die Gottheit für die Menschen." 68 Der Richter im Vergleich zu einem Lehrer, einem Vater und einer Gottheit. Dieses Bild findet seinesgleichen am ehesten im alten Testament in der Figur Salomons als Richter über sein Volk. Ob es aber in unsere Zeit paßt, erscheint mehr als fraglich. Zwar mag der Richter als Lehrer empfunden werden, wenn er die Beteiligten des Prozesses belehrt und aufklärt, aber als Vater, der sich um seine Kinder kümmert, wohl kaum. Damit und insbesondere durch den Vergleich mit einer Gottheit nähert sich Sauer aber doch wieder dem, was er einige Sätze vorher ablehnt: daß nämlich der Richter über den Parteien thront. Die Beteiligten des Prozesses erscheinen bei ihm nicht als Subjekte des Verfahrens, sondern als Objekte, wenn es heißt, daß sie als "Volksgenossen" zur "staatlichen Rechtsgemeinschaft" zu erziehen sind, wenn sie die Urteilsnorm als Recht innerlich erleben, annehmen und gutheißen sollen. 69 Der Erziehungsgedanke scheint dem Strafrecht entlehnt zu sein, wenn das "Willensstreben" des Angeklagten dem "Gemeinschaftswillen angepaßt" wer66
Vgl. dazu Henckel, 52. Goldschmidt, 246. 68 Sauer, Allgemeine Prozeßrechtslehre, X. Weiter heißt es, der Richter sei "keine logische Subsumtionsmaschine, sondern ein lebendig schöpferischer Gestalter des Rechts im Einzelfall, wo Menschen seines Gleichen, in wirtschaftlicher, rechtlicher, seelischer Not, oft allerschwerster Not, suchend und bittend vor ihn treten." 69 Sauer, Allgemeine Prozeßrechtslehre, 19. 67
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den soll. Der Blick Sauers auf die am Verfahren beteiligten Parteien und seine Schlußfolgerungen bezüglich ihrer Gegensätzlichkeit sind eher dem Zivilverfahren verwandt; insbesondere wenn man sich vor Augen führt, der Richter solle die Staatsanwaltschaft im Strafverfahren oder den Träger der öffentlichen Gewalt im Verwaltungsverfahren zum Gemeinschaftswillen erziehen. Insgesamt hilft es also wenig, die Unterschiede der verschiedenen Verfahren zu verschweigen oder nicht zur Kenntnis zu nehmen, findet man in einem der drei Verfahrensarten doch immer ein Gegenargument zu einer der von Sauer vertretenen Thesen. 70
Bevor noch genauer auf die Gestaltung des Rechts und auf die abstrakte Rechtsordnung eingegangen wird, soll aber zunächst die Ansicht Pawlowskis dargestellt werden, um so eine Wiederholung der Argumentation zu vermeiden.
2. Pawlowski Nach Pawlowski dient der Prozeß "in allen Instanzen demselben Zweck und derselben Aufgabe - nämlich der Feststellung des hic et nunc zwischen den Parteien geltenden Rechts". 71 Bei seiner Untersuchung bezüglich des Zweckes des Prozesses geht er von der Prämisse aus, daß es das entscheidende Merkmal des Rechts sei, daß es unbestimmt beziehungsweise unklar sei, daß es nicht feststehe, da es sich fortlaufend ändere. 72 Daher sei der Prozeß "notwendig, um festzustellen, was heute - was in diesem Falle - konkret Recht" sei; es soll im Prozeß also nicht darum gehen, ein Recht durchzusetzen, das schon besteht, vielmehr soll durch den Prozeß sowohl das subjektive als auch das objektive Recht erst festgestellt, bestimmt werden: Der "Prozeß ist notwendig, wenn das Recht, das sich immer wandelt, für einen Zeitpunkt fixiert werden muß" (368). Daher stellt Pawlowski auch die These von der notwendigen Einheit von materiellem Recht und Prozeßrecht auf, da nach ihm nur das gerichtliche Verfahren klären kann, was Recht, was gerecht ist (369).
70 Vgl. Henckel, 52, der Sauer vorwirft, er verwische die Unterschiede der einzelnen Prozeßarten, anstatt sie hervorzuheben. 71 Pawlowski, Aufgabe des Zivilprozesses, ZZP 80 (1967), 345 (358 m.vv.N ). 72 Pawlowski, ZZP 80, 363, 365, siehe auch 367, wo er konstatiert, daß sich deswegen nie sicher vorhersagen lasse, ob ein Fall heute noch so entschieden würde wie früher, sondern daß man nur eine Wahrscheinlichkeitsprognose stellen könne.
1. Kap.: Das Ziel des Strafverfahrens
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Die Behauptung, daß das objektive Recht ohne den Prozeß unbestimmt sei, stützt Pawlowski unter anderem darauf, daß der Sachverhalt, der dem Prozeß, "der Feststellung des heutigen Rechts", zugrundeliegt, ein anderer ist, als der "Lebenssachverhalt", wie er sich den Parteien darstellt, weil er in einem Verfahren festgestellt wird, das bestimmten Regeln bezüglich der Beweisaufnahme unterworfen ist (368 Fn. 102). So beruhe das Urteil nicht auf dem Sachverhalt, also den Kenntnissen, Meinungen, eines einzelnen, sondern auf einem "gemeinsam geschaffenen" Sachverhalt. Diese Unterschiedlichkeit von Sachverhalt und Wirklichkeit kann zum einen darin begründet sein, daß ein Beweismittel an bestimmte Voraussetzungen gebunden ist oder ein Beweisverbot eingreift. Letztlich hat diese Ansicht zur Konsequenz, daß Pawlowski die Tatsache, daß der im Prozeß erarbeitete Sachverhalt aufgrund der Beweisregeln nicht immer mit der Wirklichkeit übereinstimmt, zu einer Grundlage seiner These bezüglich der Bestimmtheit und Feststellung des Rechts erst durch das Verfahren macht. Damit liegt seinem Prozeßzweck nicht eine Vorstellung vom Prozeß, wie er idealiter sein soll, zugrunde, sondern die Beobachtung, wie er sich in Wirklichkeit darstellt. Seiner Ansicht müßte dann aber folgerichtig die These zugrundeliegen, daß das gerichtliche Verfahren aufgrund der Beweisregeln, insbesondere aufgrund der Regeln über Beweisverbote, immer auf einem "fingiertem" Sachverhalt beruhe. Dem ist mit Henckel aber zu entgegnen, daß der Prozeß trotz der Beweisregeln grundsätzlich die Wahrheit erforschen will, und zwar nicht eine spezifisch prozessuale, wie sie vielleicht Pawlowski vorschwebt, sondern eine, die der Wirklichkeit entspricht. 73 Aufgrund der Beweisregeln sind der Wahrheitssuche im Prozeß lediglich Grenzen gesetzt, soweit diese Suche mit schutzwürdigen Rechten anderer in Kollision gerät. Soweit dies aber nicht der Fall ist, strebt der Prozeß die Feststellung des "richtigen", des "wahrhaftigen" Sachverhalts an. Es hilft also nicht, einen Teil des Prozeßrechts zur Bestimmung des Prozeßzwecks heranzuziehen, soll doch der Zweck dem Verständnis des gesamten Prozeßrechts, mithin auch des Beweisrechts dienen.
Der Unterschied zwischen Pawlowskis Ansicht und Sauer besteht darin, daß es nach Pawlowski im Prozeß nicht darum geht, das abstrakte Recht durch ein Urteil zu konkretisieren. Vielmehr stellt er nicht wie Sauer den Richter in 73
Vgl. Henckel, 53 f., der daraufhinweist, daß das Beweisrecht zur Bestimmung des Prozeßzwecks heranzuziehen ist, auch wenn der Zweck des Beweisrechts, die möglichst wahrheitsgetreue Reproduktion des Sachverhalts, nicht immer erreicht werden kann.
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den Mittelpunkt seines Prozeßbildes, sondern die Parteien, die im Zivilprozeß das Verfahren betreiben, denen somit auch die Rechtsfortbildung obliegen soll. 74 Das Recht ist nach ihm mithin nicht ein "Komplex abstrakter Normen" sondern "ein Verhältnis zwischen verschiedenen Menschen". Er vermeidet damit die Gefahr, den Richter zu überhöhen und die Parteien gleichsam zu Objekten des Prozesses herabzustufen. Andererseits verfällt er in das andere Extrem. Während Sauer das Richten der Schlichtung vorzieht, ist für Pawlowski die gegenseitige Verständigung das bessere Ergebnis, also der Vergleich. 75 Dieses Bild von den Parteien hat aber die Grundlage, "daß die einzelnen an sich das Richtige wollen, daß sie schon von sich aus Recht wollen, wenn sie sich auch im einzelnen darüber irren mögen". 76 Pawlowski meint, dies setze nicht das Bild, alle Menschen seien gut, voraus, sondern nur, daß jede der Parteien nicht die andere ihrem Urteil zu unterwerfen trachte. Der Ausgleich der widerstreitenden Interessen der Parteien im Prozeß soll durch eine Diskussion, durch das Rechtsgespräch erfolgen; indem die Parteien nicht nur ihre Argumente darlegen, sondern auch auf die des Gegners eingehen, um sie zu widerlegen, müßten sie die Argumente des Gegenparts als ein rechtliches Argument akzeptieren, als eines, das auch "Recht" sein kann. 77 Dieses Verständnis des Prozesses entspreche nicht nur der demokratischen Herrschaftsform, bei der es für die Begründung einer Entscheidung nicht auf die Person des Entscheidenden ankomme, sondern auf die Argumentation, also auch auf die Meinung aller "Rechtsgenossen".78 Pawlowski folgert daraus, daß der Richter, der die Entscheidung verkündet nicht "Vater", sondern "Vermittler" ist, also zwischen den Parteien und nicht über ihnen stehe.79 Damit wird auch klar, warum Pawlowski die Rechtsfortbil74
Pawlowski, ZZP 80, 369 Fn. 103. Er wendet sich ausdrücklich gegen Bülow, trifft aber in seiner Argumentation auch die Thesen Sauers, der, wie oben dargelegt wurde, im Urteil die Konkretisierung des abstrakten Rechts als Ergebnis des Prozesses ansieht, und nach dem eben diese Aufgabe allein dem Richter obliegt. 75 Pawlowski, ZZP 80, 371. In Fn. 111 stellt er aber klar, daß nicht immer der Vergleich das bessere Ende eine Prozesses ist, wenn nämlich die Parteien aus wirtschaftlichen Erwägungen gegenseitig nachgeben, sondern nur dann, wenn er feststellen soll, was "für beide Parteien (gemeinsam) verbindlich" sein soll. 76 Pawlowski, ZZP 80, 373. 77 Pawlowski, ZZP 80, 381. 78 Rödig, 56, stellt zu Recht die Frage, woher die Prozeßparteien ihre demokratische Legitimation für die Mitwirkung an der Rechtsfortbildung nehmen, und stellt dem die Antwort gegenüber, daß es Wesen des demokratischen Staates sei, daß seine Organe und Repräsentanten (mithin auch die Richter) ihre Legitimation vom Volk herleiten und diesem auch verantwortlich sind. Man bedarf also der Parteien nicht als QuasiLegitimierte, sondern vielmehr als Teil der Legitimierenden. 79 Pawlowski, ZZP 80, 383 f.
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dung den Parteien und nicht dem Richter zuweist, denn wenn der Richter nur Vermittler und quasi Gesprächsleiter des Rechtsgesprächs ist und es für die Entscheidung hauptsächlich auf den Diskurs zwischen den Parteien ankommt, können nur sie für die Rechtsfortbildung maßgeblich tätig sein. 80 Wie Sauer die Rolle des Richters durch seinen Vergleich mit einem Vater oder einem Lehrer idealisiert, so geht es Pawlowski mit der Rolle der Parteien in einem Verfahren. Er geht so weit, daß nach ihm der Richter keinen eigenen Willen haben darf, so daß nicht er, sondern das im Prozeß gefundene Recht die Parteien zwingt. 81 Henckel ist in der Kritik, dies sei ein idealistisches Bild des Prozesses und dieser sei mit den Thesen Pawlowskis überfordert 82, Recht zu geben. Und mit Henckel ist auch zu konstatieren, daß das Bild des Prozesses als eines Diskurses der Parteien, als eines Widerstreits der Argumente, bis das bessere den Sieg davonträgt, eine Utopie ist. Bis auf einen Vergleich, der beide Seiten zufrieden stellt, wird es immer eine Partei geben, die mit dem gefundenen Ergebnis unzufrieden ist, die die Entscheidung fur falsch erachtet, und die dem Urteil nur wegen der sonst drohenden Zwangsmittel Folge leistet; nicht aber weil sie eingesehen hat, daß die andere Partei die "rechten" Argumente hat. Letztendlich läuft Pawlowskis System wie auch Sauers auf eine Bevormundung der verlierenden Partei hinaus, denn der Richter hält ihr in seiner Entscheidung vor, auch sie müßte vernünftigerweise zu diesem Ergebnis kommen, sie müßte dieses Ergebnis mithin auch wollen. 83 Damit wird deutlich, daß weder eine Überhöhung der Stellung des Richters als Erzieher der Parteien noch eine Überhöhung der Stellung der Parteien zu befürworten sein kann, denn auch bei letzterer Ansicht, die vom Grundgedanken her einleuchten mag, wird wenigstens eine Partei, nämlich die, welche nicht obsiegt, durch das Urteil bevormundet. Mag nach Pawlowski der Richter zwar keinen eigenen Willen kommt man aber nicht umhin festzustellen, daß es schließlich doch scheidung ist, wenn die beiden Parteien auch nach einem Diskurs menten und Gegenargumenten letztlich auf ihren ursprünglichen
80
haben, so seine Entmit ArguAnsichten
Vgl. dazu auch Pawlowski, ZZP 80, 388, wo er konstatiert, daß "das richterliche Urteil durch die Anträge und die Rechtsauffassung der Parteien bestimmt ist". Das Ergebnis seiner Untersuchung kulminiert dann in der Aussage: "Das Recht und der Prozeß erweisen sich so als die angemessene Art, in der wir Menschen uns den in dieser Welt gestellten Aufgaben stellen können und sollen, nämlich in einer Art, die die verantwortliche Teilnahme jedes einzelnen Rechtsgenossen ermöglicht." (390 f.) 81 Pawlowski, Rechtsgeschäftliche Folgen nichtiger Willenserklärungen, 285. 82 Henckel, 55. 83 Vgl. Henckel, 55, der in diesem Zusammenhang von aufgezwungener Vernunft spricht.
Π. Konkretisierung des materiellen Rechts durch das Urteil
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beharren. Wenn der Richter die Entscheidung den Meinungen aller Rechtsgenossen, insbesondere der Parteien, entnimmt, so muß er doch eine Entscheidung zwischen den verschiedenen Ansichten treffen. 84 Insbesondere ist dies der Fall, wenn man wie Pawlowski annimmt, daß es für die Entscheidung keinen verbindlichen Maßstab gibt, da das Recht außerhalb des Verfahrens unbestimmt ist. Indem Pawlowski aber ein solches objektives Recht nicht anerkennt, bleibt als Maßstab für eine Entscheidung also nur das Verfahren. Aber das Verfahren kann sich nicht selbst legitimieren, es kann nicht aus sich und durch sich selbst Recht schaffen. 85 Schließlich kann die Konkretisierung des Rechts nicht allein deswegen, weil sie eine Konkretisierung ist, zugleich sicherstellen, daß dieses konkretisierte Recht auch richtig beziehungsweise vertretbare Konkretisierung ist. 86 Da Pawlowski aber das objektive Recht als Maßstab der Entscheidung nicht anerkennt, gerät er somit in einen Zirkel, aus dem er sich ohne Friktionen nicht lösen kann. 87 Sauer und Pawlowski ist zudem entgegenzuhalten, daß objektives Recht nicht allein dadurch geschaffen wird, daß ein Urteil eine Regelung enthält, und auch eine Vielzahl von Urteilen kein objektives Recht schafft, das eine solche Allgemeinheit beinhaltet, daß es als Maßstab für das Handeln des Einzelnen und der Gesellschaft dienen könnte. 88 Pawlowski stellt zudem die in § 137 GVG a.F. 89 als Grund zur Vorlage an den Großen Senat normierte Fortbildung des Rechts in den Vordergrund seiner Untersuchung. 90 Er macht sie nicht nur zur Aufgabe der Parteien, sondern auch zur Aufgabe aller Instanzen, nicht nur der Revision. 91 Da aber nach seiner Auffassung außerhalb des Prozesses kein objektives Recht, das als Maßstab dienen könnte, vorhanden ist, fragt sich, welches Recht überhaupt fortgebildet wird. Dieses Recht kann dann nur in früheren Urteilen bestehen, denn in Pawlowskis System sind nur sie konkretes, objektives Recht. 92 Wie aber sollen der Richter und die Parteien einen Vergleich zu einem früheren Urteil ziehen können, wenn es doch in ihrem Verfahren darum geht festzustellen, was heute, was in dieser Situation
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Vgl. dazu Henckel, 57. Henckel, 55; ebenso Volk, Prozeß Voraussetzungen, 176 f. 86 Vgl. die ausführliche Beweisführung von Rödig, 38 f. 87 Volk, Prozeßvoraussetzungen, 176; mit Verweis auf Rödig, 38 f. 88 Vgl. Rödig, 40. 89 § 137 GVG a.F. wurde durch das Gesetz vom 17.12.1990 (BGBl. I S.2847) aufgehoben. Die Regelung findet sich jetzt in § 132 IV GVG wieder. 90 Pawlowski, ZZP 80, 351 ff. 91 Pawlowski, ZZP 80, 357. 92 Vgl. Volk, Prozeßvoraussetzungen, 176. 85
1. Kap. : Das Ziel des Strafverfahrens
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"Recht" ist. 93 Denn schließlich ändert sich nach Pawlowski das Recht fortlaufend, und was gestern Recht war, soll nicht unbedingt auch heute Recht sein müssen. Der Begriff der Rechtsfortbildung ist für Pawlowski Ausgangspunkt seiner Untersuchung. Andererseits ist die Rechtsfortbildung mit den Ergebnissen, die er findet, nicht mehr in Einklang zu bringen. Denn wenn heute etwas anderes als objektives Recht festgestellt, konkretisiert wird als zu einem früheren Zeitpunkt, sagt das nur aus, daß sich das konkrete Recht geändert hat. Aber da man keinen direkten Vergleich vornehmen kann, weil sich das Recht zwischen dem heutigen Urteil, also der jetzigen Konkretisierung, und dem früheren Urteil, also der damaligen Konkretisierung, fortlaufend ändert, die jeweiligen Situationen mithin unterschiedlich sind, kann man nicht von einer Rechtsfortbildung, sondern nur von einer fortlaufenden Rechtsänderung sprechen. Zumal wird das Recht nach Pawlowski nicht fortgebildet, sondern es wird, da in der Zwischenzeit kein bestimmtes objektives Recht existierte, ein anderes, "eigenes" Recht gefunden, das mit dem alten Recht in keinem Zusammenhang steht. Pawlowskis Argument der Rechtsfortbildung wendet sich demzufolge im Gegenzug wider ihn selber. Verstärkt wird dies noch durch ein Argument, das schon gegen Sauer angeführt wurde und das Henckel expliziert hat: 94 Pawlowski führt selber die Verfassung an, wenn er seine Auffassung als der demokratischen Struktur unseres Grundgesetzes angemessen erachtet. Art. 20 III GG stellt die Bindung des Richters an Gesetz und Recht auf. Gebunden sein kann der Richter aber nur an etwas, das schon existiert, und zwar auch außerhalb des Prozesses. Henckel ist in seinen Ausführungen Recht zu geben, daß diese Grundgesetzbestimmung, die zu den elementaren Bestandteilen der Verfassung zählt, logisch voraussetzt, daß es auch außerhalb des Prozesses materielles Recht gibt. Und zwar handelt es sich dabei nicht um ein abstraktes Recht, das also keine konkreten Gebote oder Verbote für den einzelnen aufstellt, sondern um konkretes subjektives wie objektives Recht. Dann, und nur dann findet die Figur der Rechtsfortbildung durch die Großen Senate ihre Berechtigung. 95 Schließlich läßt sich auch ein Argument Goldschmidts gegen Bülow aufgrund der Ähnlichkeit seiner Theorie zu Sauer und Pawlowski gegen diese wenden: Wenn nämlich das Recht erst durch das Urteil konkretisiert wird, es vorher nur abstraktes, unbestimmtes Recht gibt, so kommt jedenfalls dem strafrechtlichen Urteil mithin eine rückwirkende Kraft zu. 96 Schließlich wird 93 94 95 96
Vgl. Rödig, 40. Henckel, 56 f. Vgl. im einzelnen die ausführliche Argumentation von Henckel, 57. Goldschmidt, 152 f.
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erst durch das Urteil geklärt, was heute Recht ist, der Angeklagte jedoch konnte das dann aber zum Zeitpunkt der Tat nicht wissen. Das widerspricht nicht nur § 1 StGB, sondern auch Art. 103 II GG. In seiner äußersten Konsequenz hätte dies die Abschaffung des Strafrechts zur Folge, denn wenn sich nicht mehr vorherbestimmen läßt, welches Verhalten strafbar ist, so verlieren die Normen des materiellen Strafrechts vollkommen ihre Funktion als Handlungsanweisungen an den Einzelnen. Wenn aber nicht mehr vorhergesagt werden kann, was in unserem Rechtssystem strafbar ist, entfallt auch die Legitimation, jemanden wegen seines Verhaltens zu bestrafen, besser gesagt, ihm den Vorwurf zu machen, er habe sich falsch verhalten. 97 Auch diesen Widerspruch können Sauer und Pawlowski nicht aufklären oder lösen. Somit ergeben sich aus der Verfassung, die Pawlowski selber als Stütze seiner Argumentation benutzt, Argumente gegen seine wie auch gegen Sauers Theorie. Beiden Prozeßzweckbestimmungen kann aus diesen verfassungsrechtlichen wie auch aus den anderen aufgeführten Gründen nicht gefolgt werden. Vielmehr ist davon auszugehen, daß auch außerhalb des Prozesses objektives Recht besteht, das nicht abstrakt beziehungsweise unbestimmt ist und an das der Richter bei seiner Entscheidung gebunden ist. Somit kreiert er nicht neues Recht, sondern er legt vielmehr bestehendes Recht aus und wendet es auf den zu entscheidenden Fall an, mag er strafrechtlicher oder zivilrechtlicher Natur sein. 98
I I I . Verbindung von materiellem Recht und Prozeßrecht Die Untersuchung hat sich bisher auf die beiden Extreme einer strikten Trennung zwischen materiellem Recht und Prozeßrecht einerseits sowie der notwendigen Verschmelzung der beiden Rechtsbereiche durch den Prozeß andererseits bezogen. Beide Positionen, so unterschiedlich sie auf den ersten Blick wirken, weisen in ihrer Idealisierung dessen, was im Prozeß geschieht, Parallelen auf. 99 Sauer wie Goldschmidt überhöhen den Richter: Goldschmidt, indem er ihm die Rechtskraft als Gerichtskraft zuweist und ihn für die Person, die nicht dem Recht, sondern der das Recht unterworfen ist, hält; Sauer, indem er ihn gleich97 Volk, Prozeßvoraussetzungen, 177 Fn. 40, wo er weiter ausführt, strafrechtliche Normen "müßten ihre Funktion einbüßen, Orientierungsdaten im sozialen Raum zu setzen". 98 Vgl. dazu Röiiig, 39. 99 Vgl. Röiiig, 40. 3 Limbach
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1. Kap.: Das Ziel des Strafverfahrens
sam zum Erzieher der Parteien zum Gemeinwohl erklärt. Aber auch eine zweite Parallele hat sich gezeigt: Bei Goldschmidt ist das materielle Recht, das objektive Recht aufgrund der dynamischen Betrachtungsweise für den Richter nur Maßstab, nicht Imperativ. Bei Sauer und Pawlowski gibt es außerhalb des Prozesses kein objektives Recht mehr. Für Sauer ist das Recht außerhalb des Prozesses nur eine abstrakte Ordnung, innerhalb derer sich das lebende Recht entwickelt; und auch für Pawlowski gibt es außerhalb des Verfahrens nur unbestimmtes, abstraktes Recht. Für alle drei Autoren büßt somit das Recht außerhalb des jeweiligen Verfahrens seine Verbindlichkeit für den Richter ein. Die oben angeführten Argumente machen deutlich, daß weder der einen noch der anderen Extremposition gefolgt werden kann. Weder die strikte Trennung zwischen Verfahrensrecht und materiellem Recht, wodurch der Prozeß zum Selbstzweck zu werden droht, noch die "Einswerdung" der beiden Rechtsgebiete durch das Urteil, die mit der Verfassung und auch mit dem einfachen Recht nicht ohne Friktionen in Einklang zu bringen ist, können durch die für sie ins Feld geführten Argumente überzeugen. Allen drei Autoren ist vielmehr eine Sichtweise entgegenzusetzen, die die Unterschiede der beiden Rechtsbereiche erkennt und eine Verbindung der beiden über den Prozeßzweck sucht. 100 Eine solche Prozeßzwecksdefinierung vermeidet sowohl die Nachteile des Trennungsprinzips von Goldschmidt als auch die Nachteile der Positionen Sauers und Pawlowskis.
Die Theorien, die eine Verbindung von materiellem Recht und Prozeßrecht über die Definition des Prozeßzwecks suchen, mögen sich auf den ersten Blick klar unterscheiden. Sie weisen jedoch, wie Volk dargelegt hat 1 0 1 , eine "Familienähnlichkeit" auf. Das bedeutet, daß zwischen den meisten zu diesem Thema vertretenen Ansichten keine grundsätzlichen Unterschiede bestehen, mögen manche Autoren dies auch propagieren. Die Abweichungen untereinander zeigen sich vielmehr in Nuancen, was im einzelnen im Verlauf der Diskussion der einzelnen Ansichten aufgezeigt werden soll. Diese unterschiedlichen Akzentuierungen haben ihren Grund unter anderem auch in den unterschiedlichen Ausgangspositionen der verschiedenen Abhandlungen zu diesem
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Vgl. Henckel, 7: "Der Prozeßzweck schlägt also die Brücke zum materiellen Recht."; Volk, Prozeßvoraussetzungen, 177 (wo er gegen Pawlowski die Idee eines außerhalb des Prozesses existierenden objektiven Rechts verficht) und 183 (wo er entgegen Goldschmidt für die Verbindung von materiellem Recht und Prozeßrecht durch die Einbeziehung des materiellen Rechts in die Prozeßzwecksdefmition eintritt). 101 Volk, Prozeßvoraussetzungen, 183.
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Thema. 102 Der Hinweis hierauf mag dem Verständnis einiger Ansichten dienen und soll daher im Folgenden berücksichtigt werden, auch wenn die betreffenden Autoren ihre Ansichten bezüglich des Prozeßzweckes als unabhängig vom Hauptthema ihrer Abhandlungen ansehen mögen. Doch zunächst soll auf eine Ansicht eingegangen werden, die sich innerhalb dieser Gruppe von den übrigen Ansichten wesentlich unterscheidet und daher auch auf nahezu einhellige Ablehnung von Seiten der anderen Autoren gestoßen ist.
1. Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs und Venvirklichung beziehungsweise Durchsetzung des materiellen Rechts Dieser Meinung zufolge liegt der Zweck des Strafverfahrens in der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs. 103 Im Gegensatz zum Privatrecht soll es sich dabei nicht um Ansprüche Einzelner handeln. Vielmehr erwächst dieser Ansicht zufolge der Anspruch dem Staat, den er zum Schutz des Einzelnen und der Gesamtheit der Bürger im Strafverfahren durchsetzen soll. Die Konstruktion eines staatlichen Strafanspruchs soll auf Parallelen zwischen Privat- und Strafrecht hindeuten. Ein solcher Anspruch des Staates, denkt man ihn konsequent durch, würde bedeuten, daß der Anspruch schon durch Begehung der Straftat entsteht, was im Hinblick auf das Strafantragserfordernis und das Privatklageverfahren zweifelhaft ist. 1 0 4 Zwar könnte man dagegen einwenden, in diesen Fällen verzichte der Staat auf sein Recht, wenn das Opfer der Straftat keine Strafverfolgung für nötig erachte, letztlich aber würde diese Meinung dann nur einen Teil der Strafverfahren legitimieren, nämlich die, bei denen das Legalitätsprinzip nicht vom Mitwirken des Deliktsopfers abhängig ist. Weiterhin ist mit einer solchen Konstruktion von Anspruchsinhaber und Anspruchsgegner eine Festlegung der Rollenverteilung verbunden: Der Angeklagte ist dann nämlich immer der Anspruchsgegner, der Staat, vertreten durch die Staatsanwaltschaft, immer der Anspruchsinhaber. 102 Volk zum Beispiel untersucht das Verhältnis von materiellem Recht und Prozeßrecht sowie die Prozeßvoraussetzungen; Weigern!, Deliktsopfer und Strafverfahren, beschäftigt sich mit der Stellung des Opfers einer Straftat im Strafverfahren, während Paeffgen, Vorüberlegungen, sich mit der Untersuchungshaft auseinandersetzt. 103 Für viele: Schäfer in Löwe/Rosenberg, Einl. Kap. 6 Rn. 7; Rosenfeld, ReichsStrafprozeß, 30; Pfeiffer in KK, Einl. Rn. 1; siehe auch BVertOE 51, 324 (343 f.); 57, 250,(275). 104 Weigend, 192 Fn. 65.
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1. Kap.: Das Ziel des Strafverfahrens
Diese Situation findet aber im Zivilverfahren keine eindeutige Parallele, schließlich kann der Beklagte im Zivilprozeß auch eigene Ansprüche geltend machen. Weigend hat auch daraufhingewiesen, daß der Angeklagte nicht freiwillig leisten könne, wie es dem Beklagten im Zivilprozeß offensteht. Auch sei nicht klar, welchen Vorteil der Staat bei Durchsetzung dieses Anspruchs erhalte. 105 Gegen eine Gleichsetzung des Strafprozesses mit dem Parteiprozeß spricht schließlich auch, daß man den Staatsanwalt nicht mit dem Kläger im Zivilprozeß vergleichen kann. Der Angeklagte vertritt einseitig seine eigenen Interessen, er ist an Objektivität nicht unbedingt interessiert, mag also dem Beklagten vergleichbar sein. Die Staatsanwaltschaft ist jedoch gemäß § 160 II StPO zur Objektivität verpflichtet: Sie hat nicht nur belastende, sondern auch entlastende Umstände zu ermitteln. 106 Hierbei handelt es sich um eine Verpflichtung, die vernünftigerweise niemand dem Kläger im Zivilverfahren auferlegen will. Im Gegensatz zu Gerland ist zwar ein Widerstreit der Interessen im Strafverfahren nicht kategorisch abzulehnen, hingegen ist ihm Recht zu geben, daß von einer Waffengleichheit im Hinblick auf die in der StPO vorgesehenen Eingriffsrechte in die Rechte des Beschuldigten keine Rede sein kann. Diese Waffengleichheit ist aber ein entscheidendes Merkmal des zivilrechtlichen Verfahrens. Trotz aller Reformbemühungen im Strafverfahren kann von einer Gleichstellung jedoch immer noch nicht die Rede sein, insbesondere wenn man die schon in Kraft getretenen StPO-Änderungen und die neueren Gesetzesvorschläge näher betrachtet, die eine Verfahrensbeschleunigung bezwecken sollen, tatsächlich aber eine Verschlechterung der Stellung des Angeklagten und der Möglichkeiten des Verteidigers zur Folge haben.10 Straf- und Zivilverfahren sind bezüglich der Beteiligten, hier Staatsanwaltschaft und Angeklagter, dort Kläger und Beklagter, und der ihnen zustehenden Rechte unterschiedlich ausgestaltet. Aufgrund dieser Andersartigkeit ist die Herstellung einer Parallele zwischen beiden Verfahren durch die Konstruktion eines Strafanspruchs des Staates als quasi subjektives Recht ähnlich dem des Klägers nicht begründbar und daher abzulehnen.108 105
Weigend, 192 Fn. 65. Worauf Gerland, Strafprozeß, 40 zu Recht hingewiesen hat. Als weiteres Beispiel führt er in Fn. 3 auch § 296 Π StPO auf, wonach die Staatsanwaltschaft Rechtsmittel auch zugunsten des Angeklagten einlegen kann. 107 Auf dieses Problemfeld soll hier nicht näher eingegangen werden, hinzuweisen ist aber auf Schejfler, Strafprozeßrecht, quo vadis?, GA 1995, 449 ff., der dies anhand der Gesetzesänderungen der letzten zwanzig Jahre und der neueren Gesetzesvorschläge überzeugend darlegt. 108 Vgl. Paejfgen, Vorüberlegungen, 15, insb. Fn. 14, Volk, Prozeßvoraussetzungen, 183 ff ; Paulus in KMR, Vor § 296 Rn. 55; ausführlich bezüglich der Lehre des staatlichen Strafanspruchs Hilde Kaufmann, Strafanspruch, 97 ff. 106
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Der Lehre vom staatlichen Strafanspruch nicht fern ist die Ansicht, das Strafverfahren diene der Verwirklichung beziehungsweise Durchsetzung des materiellen Strafrechts. 109 Richtig an dieser These ist deren Ausgangspunkt, nämlich daß das Strafrecht zu seiner Durchsetzung des Strafverfahrens bedarf, wenn man - wie es die Ausführungen der Autoren nahelegen - unter Durchsetzung die Verurteilung des Straftäters versteht. 110 Dies unterscheidet es vom Zivilrecht, wo zum Beispiel der Gläubiger den Anspruch des Schuldners erfüllen kann, auch ohne daß dieser einen Prozeß anstrengen muß. Der Straftäter jedoch kann nur aufgrund eines nach einem Prozeß ergangenen Urteils bestraft werden. Insofern bedarf es zur Durchsetzung der Strafnormen des materiellen Rechts des Strafverfahrens. Zu berücksichtigen ist jedoch der Umstand, daß Strafverfahren nicht nur mit der Verhängung von Strafe oder gegebenenfalls einer Maßregel enden müssen. Vielmehr kann am Ende eines Strafverfahrens auch ein Freispruch oder eine Einstellung aus den unterschiedlichsten Gründen stehen. Die Begriffe Verwirklichung und Durchsetzung des Strafrechts implizieren aber die Verurteilung eines durch das Strafverfahren überführten Straftäters. Mit Paeffgen ist daher zu konstatieren, daß dieser Zweck ein Strafverfahren allenfalls rechtfertigen kann, wenn am Ende des Verfahrens der Angeklagte verurteilt wird. 1 1 1 Hierin zeigt sich die Ähnlichkeit zwischen den beiden Verfahrenszwecken Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs und Verwirklichung des materiellen Strafrechts. Beide Verfahrenszwecke haben nur Sinn, wenn es zu einer Verurteilung kommt. Dies kann aber nicht die inhaltliche Legitimierung des Strafverfahrens ausmachen, in dem es außer zu einer Verurteilung auch zu einem Freispruch, einer Einstellung oder einer Nichteröffnung mangels hinreichenden Tatverdachts kommen kann. Gerade die unterschiedlichen Einstellungsmöglichkeiten machen einen großen Teil der Beendigungen von Strafverfahren aus, worauf auch Paeffgen hingewiesen hat. Weigend hält dem entgegen, das materielle Strafrecht bewähre sich auch dann, wenn der Angeklagte freigesprochen werde, wobei er bei seinen Ausfüh-
109 R. von Hippel, Strafprozeß; 3; Kern, Strafverfahrensrecht, 8. Aufl., 41; Schreiber in AK-StPO, Einl. I Rn. 2; Eb. Schmidt, LK I, Rn. 24. 110 Vgl. R. von Hippel, Strafprozeß, 3: "Strafprozeß ist das rechtlich geregelte Verfahren zur Durchführung des Strafrechts mittels Ermittlung und Aburteilung des einer strafbaren Handlung Beschuldigten." 111 Paeffgen, Vorüberlegungen, 15.
1. Kap.: Das Ziel des Strafverfahrens
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rungen die generalpräventive Funktion der Strafe in den Vordergrund stellt. 112 Anders als die oben angeführten Autoren verwendet Weigend den Begriff Bewährung des materiellen Rechts, meint aber damit das gleiche, wenn er dann im weiteren von Verwirklichung beziehungsweise Durchsetzung spricht. Er fuhrt aus, der Begriff der Verwirklichung des Strafrechts müsse weiter ausgelegt werden und die Verwirklichung liege auch dann vor, wenn die dem Strafrecht zugrunde liegenden Ge- und Verbote beachtet würden. 113 Nach ihm wird also nicht nur durch das Strafverfahren das materielle Recht verwirklicht. Dann fragt sich aber, welchen Zweck speziell das Verfahren hat. Offensichtlich ist schließlich, daß es gegenüber dem Normalfall der Normtreue, bei dem es keines Strafverfahrens bedarf, einen eigenen Zweck hat, steht er auch in Verbindung mit dem materiellen Recht. Seine weite Definition von Verwirklichung beziehungsweise Durchsetzung materiellen Rechts verliert so ihre spezifische Bestimmungsfunktion für den Verfahrenszweck. Weigends Versuch, der gegen diese Auffassung bisher entgegengebrachten Kritik den Boden zu entziehen, indem nicht nur das bestrafende Urteil Verwirklichung materiellen Rechts darstellen soll, kann auch im Hinblick auf die in den Vordergrund gestellte Generalprävention nicht überzeugen. Die Strafzwecke beschäftigen sich mit dem Sinn der Strafe beziehungsweise der Frage, welche Wirkung Strafe haben soll. Strafzwecke, und das gilt auch für die Generalprävention, können Verfahren aber dann auch nur insoweit legitimieren, als am Ende des Verfahrens eine Verurteilung, also eine Bestrafung steht 114 . Denn eine Strafe kann nur eine Wirkung auf das Rechtsbewußtsein der Bevölkerung haben, wenn sie denn ausgesprochen wird. Die Strafandrohung als solche hat noch nicht die erwünschte Wirkung, diese tritt zumeist erst ein, wenn durch Verurteilung von Straftätern deutlich wird, welche Folge konkret eintritt, wenn eine bestimmte verbotene Handlung begangen wird. Eine Geltung des Strafrechts wird nicht schon dadurch bekräftigt, daß überhaupt ein Verfahren durch- und zu seinem Ende gefuhrt wird. 1 1 5 Die Einleitung und Durchführung von Strafverfahren vermitteln, daß die dazu berufenen Instanzen Staatsanwaltschaft und Gericht ihre Aufgabe, Straftaten zu verfolgen, ernstnehmen. Durch den von Weigend angeführten Öffentlichkeitsgrundsatz wird das Vertrauen der Bevölkerung in die Justizförmigkeit des Verfahrens gestärkt; dadurch und durch die anderen Verfahrensgrundsätze wird ein faires 112
Weigend, 191 ff. Weigend, 193. 114 Der Begriff Bestrafung ist in diesem Zusammenhang weit zu verstehen. Dazu zählen auch die Verwarnung mit Strafvorbehalt nach §§ 59 ff. StGB sowie die Einstellungen zum Beispiel nach § 153a StPO oder § 154 StPO. 115 So aber anscheinend Weigend, 194. 113
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Verfahren gewährleistet. Diese Wirkung der Verfahrensgrundsätze allein sagt aber noch nichts über die Durchsetzung oder Bewährung des materiellen Rechts aus. Erst durch die Verhängung von Strafe im Einzelfall wird dem Einzelnen und der Bevölkerung deutlich, daß das materielle Strafrecht als ultima ratio Geltung zu beanspruchen hat, dann erst wird materielles Recht bewährt und durchgesetzt. Insofern kann der Versuch Weigends, dem Prozeßzweck der Verwirklichung des Strafrechts durch Erweiterung des Begriffes Verwirklichung und der Einbeziehung der Generalprävention 116 Geltung zu verschaffen, sein Ziel nicht erreichen. Den Einwand Paeffgens, ein Strafanspruch des Staates oder die Verwirklichung des materiellen Rechts als Verfolgung von Vergeltung oder Prävention müsse als Verfahrenszweck ausscheiden, da so Verfahren nur bei Verurteilungen gerechtfertigt würden 117 , kann er auch mit seiner Neuformulierung des Begriffs der Verwirklichung des Strafrechts als Verfahrenszweck nicht entkräften. Zwar wird eine Norm auch durch einen Freispruch bestätigt und stabilisiert, jedoch tritt dies auch bei normgemäßen Verhalten ein, wenn kein Strafverfahren durchgeführt wird. Entweder man versteht also unter Durchsetzung und Verwirklichung des Strafrechts die Verurteilung des Beschuldigten, dann ist diese Zielsetzung zu eng; oder man versteht darunter wie Weigend die Bewährung der Norm, dann ist diese Zielsetzung zu weit, denn es wird nicht deutlich, worin das Ziel speziell des Verfahrens liegen soll. Weigend nimmt letztlich die so verstandene Verwirklichung von Strafrecht auch nicht als alleinigen Verfahrenszweck, vielmehr verbindet er mehrere von ihm als richtig erachtete Zwecke zu einem Verfahrenszweck, worauf später noch einzugehen sein wird.
2. Wahrheit und Gerechtigkeit Nach dem Vorhergehenden bleibt festzuhalten, daß das Strafverfahren die Möglichkeit der Durchsetzung und Verwirklichung des materiellen Strafrechts eröffnen und fordern soll. Indem aber auch Freispruch oder Einstellung aus verschiedensten Gründen als weitere Möglichkeiten der Beendigung eines Strafverfahrens in Betracht kommen, wird hinreichend deutlich, daß in ersterer Möglichkeit nicht der alleinige Zweck eines Strafverfahrens gesehen werden kann. Vielmehr muß eine Definition des Verfahrenszwecks, soll sie Ver116 Weigend, 195, spricht am Ende dieses Abschnitts von der Durchsetzung des Strafrechtszwecks (für ihn also die Generalprävention) als Ziel des Strafverfahrens. 117 Paejfgen, Vorüberlegungen, 15, wo er ausdrücklich auch auf die Generalprävention hinweist.
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1. Kap.: Das Ziel des Strafverfahrens
fahren generell legitimieren, alle Möglichkeiten des Verfahrensausganges berücksichtigen 118 , ohne jedoch das materielle Recht aus dem Verfahrenszweck vollständig auszuklammern. Das Prozeßziel "Wahrheit und Gerechtigkeit" soll hierbei als erstes behandelt werden, ist es doch auch für die weiteren Definitionen Ausgangs- und oftmals Angelpunkt. Wahrheit und Gerechtigkeit werden in der Literatur fast immer zusammen als Ziel des Strafverfahrens aufgeführt. 119 Dabei sind sich aber die Vertreter dieser Ansicht einig, daß nicht "absolute" Wahrheit und "absolute" Gerechtigkeit das Ziel sind, sondern die "Erforschung" der Wahrheit, das Streben beziehungsweise die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit. 120 Jedoch besteht keine Einigkeit darüber, ob beide Begriffe gleichrangiges Verfahrensziel sind oder zueinander in einem Stufenverhältnis in dem Sinne stehen, als das eine dem anderen vorgelagert, dessen notwendige Voraussetzung ist. Die Schwierigkeiten, die mit der kritischen Betrachtung dieses Verfahrenzweckes verbunden sind, bestehen nicht nur in der inhaltlichen "Ausfüllung" dieser Begriffe, sondern auch darin, daß viele Autoren ihre Ansicht, daß dieses Paar den Zweck des Strafverfahrens ausmachen soll, nicht mit Argumenten, warum dies so sein soll, untermauern. Zum näheren Verständnis der mit diesem Begriffspaar auftretenden Probleme und der dadurch hervorgerufenen Kritik aus dem Schrifttum, sollen beide Begriffe zunächst getrennt behandelt und untersucht werden. a) Wahrheit Im Gegensatz zum Zivilprozeß ist im Strafverfahren nicht die These vertreten worden, Ziel des Verfahrens sei eine "formelle" Wahrheit. 121 Soweit
118 Vgl. hierzu Paeffgen, Vorüberlegungen, 16. Nach ihm "muß die Legitimation an einen beiden Möglichkeiten (die Verurteilung als Durchsetzung materiellen Strafrechts sowie die aus welchen Gründen auch immer nicht erfolgte Durchsetzung, d. Verf.) vorgelagerten eigenständigen Aspekt anknüpfen." 119 Eb. Schmidt, LK I, Rn. 20 ff.; ders. JZ 1968, 681; Niese, Prozeßhandlungen, 16; Beling, Dt. Reichstrafprozeßrecht, 268 f.; Henkel, Strafverfahrensrecht, 84 ff.; Stock, Mezger-FS, 429, 433 ff.; Paeffgen, Vorüberlegungen, 16 ff.; Schaper, Studien, 137 ff.; Kramer, Grundbegriffe, Rn. 13 ff; siehe auch Hartung/Niethammer, Neues Strafverfahrensrecht, 324; Riiping, Strafverfahren, 8 f.; Krey, Strafverfahrensrecht I, 16; ders., JA 1983, 356; Schliichter, Strafverfahren, Rn.2; dies., Kernwissen, 1 f., die alle neben der Gerechtigkeit die Rechtssicherheit als gleichwertigen Verfahrenszweck aufführen, worauf unten näher eingegangen wird. 120 Eb. Schmidt, LK I, Rn. 20; Henkel, 84; Krey, Strafverfahrensrecht I, Rn. 35. 121 Vgl. zum Problem der formellen Wahrheit Schaper, Studien, 160 ff.
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Wahrheit als Zweck des Strafverfahrens aufgeführt wird, ist damit materielle Wahrheit gemeint. Diese Untersuchung, soll sie im angemessenen Rahmen zu einem Ergebnis führen, läßt keinen Raum, sich in die wissenschaftlichen Tiefen des Begriffes Wahrheit zu begeben. Wahrheit, und das mag für den begrenzten Rahmen, in dem der Begriff hier von Interesse ist, genügen, steht in Verbindung mit der Überprüfung empirischer Daten, mit Übereinstimmung zwischen Hypothese und Wirklichkeit. 1 2 2 Niemand vertritt die Ansicht, die Wahrheit beziehungsweise das Streben nach Wahrheit sei alleiniges Ziel des Strafverfahrens, schließlich ist das Strafverfahren kein "historisches Forschungsvorhaben". 123 Das Strafverfahren ist keine Enquête-Kommission und kein historisches Seminar und daher ist es auch in keinem Falle ein Mittel zur Aufarbeitung von Geschichte. Es mag dieser vielleicht förderlich sein, indem es einen Anstoß zu tiefergehender Beschäftigung mit derselben gibt, zum Ziel allein kann sie jedoch nicht taugen.
Damit ist aber noch nicht die Frage geklärt, ob denn die Wahrheit ein mit der Gerechtigkeit gleichrangiges Verfahrensziel sein soll, oder ob es dieser gleichsam nur vorgeschaltet ist. Letzterer Ansicht ist Schmidhäuser, wenn er ausführt, die Wahrheit sei neben der "der Rechtsordnung gemäßen Bewertung des festgestellten Tatgeschehens" eine bloße Voraussetzung der Gerechtigkeit, so daß diese allein Ziel des Strafverfahrens wäre. 124 Gegen diese Ansicht hat sich Paeffgen geäußert, für den die Suche nach Wahrheit und die nach Gerechtigkeit wechselseitig voneinander abhängig sind: 1 2 5 Schmidhäusers Betrachtung sei rein statisch und dem Prozeß als "dynamischem Vorgang" nicht angemessen. Er gibt ihm insoweit Recht, als sich Wahrheit auf "eine Behauptung über empirische Daten, nämlich auf die Übereinstimmung zwischen Hypothese und Wirklichkeit" beziehe, der normativen Bewertung, ob etwas gerecht sei, also vorgelagert sei. Das Streben nach Gerechtigkeit aber habe die Wahrheit nicht nur als Voraussetzung, sondern sei auch von der Wahrheit abhängig. Die Wahrheitssuche gewinne dadurch eine "eigenständige Dimension". Die Suche nach der Wahrheit sei von der Frage abhängig, was der Suchende, derjenige also, der zu urteilen hat, wissen will, eine Frage, die wiederum vom Recht abhängig sei. Somit sei die Wahrheitssu-
122 Paeffgen, Vorüberlegungen, 18 f. m.vv.N.; siehe auch die Ausführungen bei Volk, Prozeßvoraussetzungen, 193 f. 123 Volk, Prozeßvoraussetzungen, 193 m.w.N.; Weigend, 178. 124 Schmidhäuser, Eb. Schmidt-FS, 511 (512). 125 Paeffgen, Vorüberlegungen, 18 f.
1. Kap.: Das Ziel des Strafverfahrens
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che von der Gerechtigkeit abhängig. Dies habe zum Ergebnis, daß beide wechselseitig voneinander abhängig seien. An der Ansicht Paeffgens ist richtig, daß die Frage nach der Wahrheit einer Hypothese davon abhängig ist, welche Hypothese überprüft werden soll. Praktisch ausgedrückt ist in einem Strafverfahren die Frage nach der Wahrheit davon abhängig, welchen Tatbestand des materiellen Strafrechts der Richter dahingehend überprüfen will, ob der Täter ihn erfüllt hat. Der Straftatbestand gibt mithin die Richtung der Wahrheitssuche vor. Daraus jedoch eine Gleichrangigkeit beider zu schließen, erscheint als zu weit gegriffen. Dies mag auch der Blick auf das Ende des Prozesses zeigen: Am Ende des Verfahrens steht eine Entscheidung; diese soll, so wird es von allen, die Wahrheit und Gerechtigkeit als Prozeßziel ansehen, möglichst gerecht sein. Darauf ist der ganze Prozeß hin ausgerichtet. Für diese Entscheidung ist die Suche nach Wahrheit unabdingbare Voraussetzung und insoweit ist sie der Gerechtigkeit vorgelagert und eine Bedingung für dieselbe, sie ist somit "Zwischenzier. 126 Genauso übertrieben wie die These einer Gleichrangigkeit ist es aber, die Wahrheit ganz auszuklammern, nur weil sie eine Voraussetzung für Gerechtigkeit ist. Die Wahrheitssuche ist für ein gerechtes Urteil eine Bedingung von entscheidender Bedeutung, so daß sie aus der Prozeßzweckdefinierung nicht ausgeklammert werden sollte 127 , sondern explizit mit aufgeführt werden sollte. Eigenständiges Verfahrensziel, sollte Paeffgen Wahrheitssuche so verstehen, ist sie jedoch nicht. Zu beachten ist dabei der inzwischen Allgemeingut gewordene Einwand, Wahrheit dürfe nicht um jeden Preis erforscht werden. 128 Die Wahrheitssuche ist demnach nicht Selbstzweck oder eigenständiger Zweck, sie ist Bedingung für die Gewinnung von Gerechtigkeit. 129
Aber Wahrheit als Teil einer Prozeßzweckdefinierung sieht sich noch einem weiteren Einwand ausgesetzt. Krauß ist zwar der Ansicht, das Strafverfahren solle materielle Wahrheit als Ziel haben 130 , in Wirklichkeit habe es aber in der Ausprägung, die es bis heute gefunden habe, Wahrheit nicht zum
126
Volk, Prozeßvoraussetzungen, 195 m.w.N. ' Das entspricht auch nicht Schmidhäusers Anliegen. Auch wenn er im weiteren Verlauf seiner Untersuchung (512 ff.) nur noch von Gerechtigkeit spricht, so impliziert sie für ihn als unabdingbare Voraussetzung auch das Streben nach Wahrheit. 128 BGHSt 14, 358 (365); Stock, 446; Rüping, 9; Krey, Strafverfahren I, Rn. 35; Kramer, Rn. 13a. 129 Schaper, 160; Volk, Prozeßvoraussetzungen, 195; Weigend, 179 sowie die in der vorhergehenden Fußnote aufgeführten Autoren. 130 Krauß, Schaffstein-FS, 411 (431 ). 12
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Ziel. 1 3 1 Als Grundlage seiner Ausführungen bedient er sich der Ausführungen der Soziologen Opp und Luhmann. 132 Das Verfahren betreibe eine "Reduktion von Komplexität", eine "systematische Verkürzung von Problemen", und die "Dogmatik des Strafund des Verfahrensrechts" sei "unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten darauf angelegt, in gleichförmiger Weise gleichartige Entscheidungen zu provozieren". 1 3 3 Dem Strafverfahren liege der Vergeltungsgedanke zugrunde, der Straftäter werde deswegen als freier, selbstbestimmter und selbstverantwortlicher Mensch angesehen; und durch diese Prämissen sei das Strafverfahren schon auf eine bestimmte Wahrheit hin orientiert, "Art und Umfang der Wahrheitsfindung" seien damit "prinzipiell festgelegt". 134 Krauß ist insoweit Recht zu geben, als im Prozeß keine Suche nach der "absoluten" Wahrheit betrieben wird. Dies kann und soll das Strafverfahren auch gar nicht leisten. Wie schon oben ausgeführt wurde, vertritt auch niemand diesen Standpunkt. Ebenso soll der Prozeß auch nach keiner Ansicht die "ganze" Wahrheit erforschen, auch damit wäre er überlastet. Die Vorgaben für die Wahrheitssuche werden durch das materielle Strafrecht aufgestellt. Insoweit ist die Suche begrenzt auf die Frage, ob der einer Straftat Verdächtigte durch sein Verhalten einen Straftatbestand rechtswidrig und schuldhaft erfüllt hat. 1 3 5 Krauß leugnet auch nicht, daß insofern der Prozeß auch der Wahrheitssuche dient. Vielmehr verfolgt er mit seiner Kritik an der Art der im Prozeß zu ermittelnden Wahrheit das Ziel, seine Forderung nach einer Zweiteilung des Hauptverfahrens zu untermauern. 136 Den ersten Teil, das bisherige Strafverfahren, will er auch gar nicht ändern, nur soll das Verfahren nicht damit enden. Letztlich widerspricht er nicht der These, daß das gegenwärtige Strafverfahren unter anderem die Wahrheitserforschung zum Ziel hat, er kritisiert vielmehr die Begrenztheit der Wahrheitserforschung, wie sie durch die geltende Ausgestaltung des Verfahrens vorgegeben wird. Die Frage, wie weit die Wahrheitserforschung getrieben werden soll oder kann, ist aber für die Frage, ob die Suche nach Wahrheit für das Strafverfahren sinngebend ist, nicht we-
131
Krauß, 417 ff. Opp, KJ 1970, 383 ff. und Luhmann, Legitimation durch Verfahren. 133 Krauß, 4\%. 134 Krauß, 424 ff. 135 Vgl. Paeffgen, Vorüberlegungen, 23, insbesondere sein treffendes Beispiel in Fn. 57.; vgl. auch Weigend, 183; vgl. zur Beschränkung der Wahrheitserforschung im Strafprozeß Volk, Wahrheit, 9 ff. 136 Krauß, 430 f. Zur Zweiteilung des Hauptverfahrens siehe auch die überzeugende Kritik von Volk, Wahrheit, 21 ff. 132
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1. Kap.: Das Ziel des Strafverfahrens
sentlich. 137 Die Begrenzungen werden von niemandem übersehen und daher in die Ausführungen zur Wahrheit als Prozeßziel mit aufgenommen. Krauß verdeutlicht somit indirekt, was oben schon als Ergebnis zu Paeffgens Kritik an Schmidhäuser festgehalten wurde, daß nämlich die Wahrheit nicht alleiniges aber auch nicht eigenständiges Ziel des Strafverfahrens ist, sondern Mittel, wenn auch ein entscheidendes, zum Zweck. Die Wahrheitssuche erfahrt mithin in der geltenden Strafverfahrensordnung eine Funktionalisierung, was jedoch nichts daran ändert, daß sie für die Bestimmung des Prozeßzwecks unentbehrlich ist. 1 3 8 Aber auch zu einem anderen Aspekt in den Ausführungen von Krauß ist Kritik angebracht, nämlich wenn er von Vergeltung als Prozeßzweck spricht. Damit ist für ihn der Strafzweck gleich dem Verfahrenszweck. Wie aber schon oben in Bezug auf den Verfahrenszweck "Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs" aufgezeigt wurde, handelt es sich dabei um eine eingeschränkte Sichtweise, eingeschränkt nämlich auf die Verurteilung als Ende des Strafverfahrens. Strafzwecke aber können in Anbetracht der vielfältigen Möglichkeiten der Beendigung eines Strafverfahrens keine generelle inhaltliche Legitimation sein. 139 Der Gedanke der Vergeltung muß daher als Zweck des Strafverfahrens ausscheiden.
Als Zwischenergebnis bleibt folgendes festzuhalten: Das Strafverfahren dient der Wahrheitserforschung. Damit ist keine "absolute" oder "ganze" Wahrheit gemeint. Die Wahrheitssuche erfährt zudem aus den verschiedensten Gründen Grenzen. Sie ist daher nicht alleiniger Zweck des Verfahrens. Sie dient dem Streben nach Gerechtigkeit, ist dafür unabdingbare Voraussetzung. Zwar sind auch gerechte Urteile denkbar, die auf unwahren Tatsachen beruhen, was zu der Überlegung verleiten könnte, Wahrheit sei als Bedingung für Gerechtigkeit und damit für die Definierung des Prozeßzweckes entbehrlich. Gerecht ist die Entscheidung, wenn sie auf unwahren Tatsachen beruht, nur dann, wenn die Norm, die zur Grundlage der Entscheidung herangezogen wird, ungerecht ist. 1 4 0 Auf das Problem der ungerechten Norm und der gerech137
Paeffgen, Vorüberlegungen, 24. Vgl. auch Luhmann, Legitimation, 24, wo er unter anderem ausführt: "Kein Verfahren kann Wahrheiten in dieser spezifischen Funktion missen". 139 Paeffgen, Vorüberlegungen, 23; vgl. auch Weigend, 180, Fn. 26, für den das Strafverfahren mit den Strafzwecken als Legitimation überfordert wäre. 140 Ausfuhrlich und überzeugend Schaper, 156 f. mit Brechts "Kauskasischem Kreidekreis" als Beispiel. Schaper kommt zu dem Ergebnis, daß nicht die Norm angewandt wird, auf die sich das Urteil vordergründig bezieht, sondern eine andere Norm, die sich "aus dem wahren Sachverhalt und der Entscheidung ermitteln" läßt. 138
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ten Entscheidung soll in dieser Untersuchung nicht näher eingegangen werden, führt es doch vom eigentlichen Thema weg. Auszugehen ist vielmehr bei der Diskussion des Prozeßzweckes von gerechten Normen als Grundlage einer richterlichen Entscheidung. b) Gerechtigkeit Jeder spricht von Gerechtigkeit als Prozeßzweck, kaum aber jemand klärt näher, was unter diesem Begriff zu verstehen ist. Dieses Phänomen führt in Einzelfällen zu Mißverständnissen zwischen einzelnen Ansichten, die - näher betrachtet - kaum eine Grundlage haben. Denn die verschiedenen Standpunkte sind gar nicht so weit voneinander entfernt, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. Doch darauf wird näher bei der Diskussion der verschiedenen Ansichten einzugehen sein. Der Versuch, eine Definition des Begriffes Gerechtigkeit herauszuarbeiten, ist angesichts der Begrenztheit dieser Untersuchung nahezu unmöglich. Der Begriff sprengt die Grenzen der Rechtswissenschaft und beschäftigt Disziplinen wie die Philosophie und die Theologie seit Jahrhunderten. Für eine Annäherung an diesen Begriff, eine "Präzisierung für die praktische Handhabung" ist auf Schapers Ausführungen zu verweisen: 141 Gerechtigkeit als Zweck des Verfahrens ist nach ihm dahingehend zu verstehen, daß es Zweck des Prozesses ist, "eine an Gesetz und Recht orientierte, gerechte Entscheidung zu finden." Vorausgesetzt wird dabei, daß die Normen, die den gerichtlichen Entscheidungen zugrundeliegen, selber gerecht sind, da sonst der Prozeß "zwecklos" wird. Weiterhin ist nicht eine absolute, immer geltende Gerechtigkeit gemeint, sondern eine auf die "jeweilige Gesellschaft bezogene". Deren Konkretisierung findet sich in Recht und Gesetz eben dieser Gesellschaft. Diese Präzisierung des Gerechtigkeitsbegriffes beinhaltet auch, daß es sich bei der richtenden Tätigkeit nicht um bloßen Gesetzesvollzug handelt, schließlich sind Gesetze "notwendigerweise unvollkommen". Das Recht ist "an Hand des konkreten Falles fortzuentwickeln", was im Ergebnis wieder der Gerechtigkeit dient. Den Gefahren dieser "offenen Gesetzesbindung" des Richters, das heißt der Macht, die ihm durch die Unvollkommenheit der Gesetze erwächst, wird durch die "soziale Kontrolle", die von der Gesellschaft ausgeübt wird, begeg-
141 Schaper, 141 - 151. "Praktische Handhabung" ist so zu verstehen, daß es nicht um eine alles berücksichtigende Theorie, eine endgültige These gehen soll, sondern daß die entwickelte Präzisierung für die Klärung anderer Fragen, hier die nach dem Zweck des Prozesses, hilfreich ist. Die Klärung des Begriffes Gerechtigkeit soll nicht Verwirrung schaffen, sie soll eine Hilfe sein, um andere Probleme einer Lösung zuzuführen.
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1. Kap.: Das Ziel des Strafverfahrens
net. Gerechtigkeit ist nach Schaper also auf Akzeptanz durch die anderen, d.h. die Gesellschaft, ausgerichtet. Diese kurzen Ausführungen zum Begriff der Gerechtigkeit sollen für den weiteren Verlauf der Untersuchung genügen. Auf dieser Grundlage erscheinen Wahrheit und Gerechtigkeit als einleuchtende Zwecksetzung für das Strafverfahren und sie haben, wie die Nachweise am Anfang des Abschnittes zeigen 142 , in der Prozeßrechtslehre große Zustimmung gefunden. Diese Prozeßzweckdefinierung vermeidet die Nachteile der bisher angesprochenen Ansichten. Sie verkennt auf der einen Seite nicht die Eigenständigkeit des Prozeßrechts, auf der anderen Seite setzt sie es aber auch mit dem materiellen Recht in Beziehung. Durch diese Definition wird der Blick nicht nur auf die Verurteilung als Endpunkt eines Strafverfahrens gerichtet, sie bezieht sich ebenso auf die Möglichkeiten eines Freispruchs oder einer Einstellung des Strafverfahrens.
3. Rechtskraft und Rechtssicherheit Wahrheit und Gerechtigkeit sind als Definition des Prozeßzweckes nicht unumstritten geblieben. Das Problemfeld, an dem sich die Auseinandersetzung entzündet hat, ist das Institut der Rechtskraft. Diese wird als Argument für die These angeführt, Wahrheit und Gerechtigkeit könnten nicht alleiniger Zweck des Strafverfahrens sein, oder sogar, die Rechtskraft sei der eigentliche Verfahrenszweck. Die Rechtskraft setzt dem gerichtlichen Verfahren ein Ende, mag die Entscheidung auch ungerecht sein. Dabei ist es für die Wirkung der Rechtskraft unerheblich, ob die Entscheidung auf falschen Tatsachen beruht oder aus anderen Gründen ungerecht ist. Insofern ist die Rechtskraft wertneutral, sie fragt nicht nach Wahrheit oder Gerechtigkeit, sie fragt nur, ob alle Rechtsmittel erschöpft sind. Daher stellt sich die Frage, inwieweit die Rechtskraft im Gegensatz zu dem Verfahrenszweck Wahrheit und Gerechtigkeit steht, zieht sie doch dem Streben nach beidem eine Grenze. Sieht man den Prozeßzweck allein in dem Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit, so stellt sich dennoch die Frage, welche Bedeutung man der Rechtskraft beimißt. Daß dieses Problemfeld von Vertretern des oben dargelegten Verfahrenszweckes nicht übersehen, vielmehr sehr ernst genommen wird, zeigen ihre Ausführungen zum Einwand der Rechtskraft. 143 142 143
Vgl. die Nachweise bei Fn. 116. Siehe insbesondere Stock, Mezger-FS, 446 ff.
I.
e r n u n g von materiellem Recht und Prozeßrecht
a) Rechtskraft
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als Einwand
Gegen den Prozeßzweck Wahrheit und Gerechtigkeit wird eingewandt, daß - diese Zweckdefinition unterstellt - im Hinblick auf ein ungerechtes Urteil die Einlegung von Rechtsmitteln ohne zeitliche oder zahlenmäßige Beschränkung beziehungsweise die Wiederaufnahme ohne Beschränkungen möglich sein müsse. 144 Natürlich handelt es sich bei diesem Einwand um eine Überspitzung. Niemand vertritt ernsthaft die Ansicht, Rechtsmittel und Wiederaufnahme müßten ohne Beschränkungen gewährt werden. Dennoch bleibt der Vorwurf bestehen, daß das Strafjprozeßrecht dem Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit Grenzen setzt. Stock, der von Wahrheit und Gerechtigkeit als Zweck des Strafverfahrens ausgeht, liefert selber die Gründe, die für die Anerkennung der Rechtskraft sprechen, wenn er ausführt, daß es "praktisch unerträglich wäre, dieselbe Strafsache immer wieder von neuem aufzurollen", nur so könne die "Autorität des Urteils" aufrechterhalten werden. 145 Dennoch soll sich nach ihm deswegen nichts an der Definierung des Prozeßzweckes ändern. Die Mehrzahl der Fälle werde gerecht entschieden, nur eine Minderzahl ungerecht und nur das gerechte Urteil verdiene es, rechtskräftig zu werden; der Gesetzgeber gehe davon aus, daß "die Rechtskraft eine Vermutung für die sachliche Gerechtigkeit des Urteils begründe". 146 Letztlich hat diese Ansicht zur Folge, daß das ungerechte, aber rechtskräftige Urteil aus der Definition des Prozeßzweckes ausgeklammert wird, als eine gleichsam bedauerliche, aber unvermeidliche Ausnahme. Das unrichtige, ungerechte Urteil als Betriebsunfall, das am eigentlichen Zweck beziehungsweise Sinn nichts ändern kann? Dagegen hat Sax Einwände erhoben: 147 "Angesichts seiner Häufigkeit (der des unrichtigen Urteils, d. Verf.) und NichtVermeidbarkeit hat sich an ihm jede Urteilskonzeption und jede prozeßrechtliche Begriffsbildung auszurichten. Erst die Feststellung eines solchen Prozeßzieles, das auch das unrichtige Urteil 144
Schmidhäuser, Eb. Schmidt-FS, 513. Mit dem Argument der Rechtskraft gegen Wahrheit und Gerechtigkeit als alleinigem Prozeßzweck auch Rudolphi, GA 1969, 129, 139 und Volk, Prozeßvoraussetzungen, 196 if. 145 Stock, 449; Vgl. zur Rechtskraft Beling, Deutsches Reichsstrafprozeßrecht, 268 f.: "Die tiefgreifenden Wirkungen der Rechtskraft erscheinen unzweifelhaft anstößig: durch sie werden Entscheidungsinhalte zu endgültigen, auch wenn sich die Entscheidung nachher als in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht fehlgehend oder den Prozeßgegenstand nicht erschöpfend erweist. Aber eine ständige Prozeßemeuening oline Ende, wie sie ohne die materielle Rechtskraft zulässig wäre, verträgt das Rechtsleben nicht. Die irdische Rechtsordnung nimmt die endgültige Sperrwirkung der res judicata als das kleinere Übel in den Kauf'. 146 Stock, 451 f. 147 Sax, ZZP 67,29.
1. Kap.: Das Ziel des Strafverfahrens
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als Prozeßzielverwirklichung erscheinen läßt [...] verspricht die Möglichkeit einer sicher gegründeten prozessualen Betrachtungsweise und damit prozeßrechtlichen Methode. Das unrichtige (Sach-) Urteil erweist sich somit als das Zentralproblem der allgemeinen Prozeßtheorie." Beide Positionen, einmal diejenige, die das unrichtige Urteil aus ihren Überlegungen zum Prozeßzweck ausklammert, als auch diejenige, die es zum Zentralproblem der Prozeßzweckdefinierung erhebt, erscheinen als Extreme. So hat Volk zu Recht darauf hingewiesen, daß das unrichtige Urteil zwar der "Kristallisationspunkt" des hier zu behandelnden Problems ist, ihm aber in diesem Kontext zu große Bedeutung beigemessen wird. 1 4 8 Bei seinen Ausführungen verweist er auf die Untersuchungen Grünwalds zur materiellen Rechtskraft. 1 4 9 Dieser hat darauf hingewiesen, daß die Beurteilung der Richtigkeit eines Urteils nur den Gerichten in den dazu vorgesehenen Verfahren zugewiesen sei und es ein Prüfungsrecht durch andere, zum Beispiel durch die Vollstreckungsbehörden, nicht geben könne, schließlich sei auch bei diesen nicht gewährleistet, daß ihre Beurteilung gerechter sei. 150 Damit tritt das eigentliche Problem nur auf, wenn durch die Rechtskraft eine erneute Überprüfung ausgeschlossen ist, obwohl Bedingungen vorliegen, "die ein richtigeres Ergebnis erwarten lassen". 151 Soweit dieser Fall zugunsten des Angeklagten vorliegt, gibt es im Strafprozeß das Institut der Wiederaufnahme. Zuungunsten des Angeklagten ist eine Wiederaufnahme bei Vorliegen neuer Tatsachen oder Beweismittel ausgeschlossen, so daß, wie Grünwald deutlich macht, nur hier ein Interessengegensatz zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit auftreten kann, wobei die letztere vielmehr das Interesse des einzelnen ist, nicht noch einmal einem Verfahren ausgesetzt zu werden. Grünwald kommt zu dem Schluß, daß sich daher die "angebliche Problematik der Rechtskraft bei näherem Zusehen auf ein Teil der Konstellationen reduziert." 152 Gaul zieht aus dem ganzen die Schlußfolgerung, bei der Frage nach dem Zweck des Prozesses dürfe dieser nicht so weit gefaßt werden, daß er auch das
148
Volk, Prozeßvoraussetzungen, 196 ff., Gaul, AcP 168, 58, nennt die These von Sax sogar eine "methodische Verirrung". Letztlich folgt er Stock und verwirft die Beachtlichkeit des unrichtigen Urteils, indem er es als ein Problem der Urteilsvollstrekkung ansieht (60 f.). 149 Gtiinwald, Materielle Rechtskraft, 104 i f , 123 ff.; ders., ZStW 76, 250 ff. 150 Grünwald, ZStW 76, 258; Volk, Prozeßvoraussetzungen, 197 m.w.N., der das tür das entscheidende Argument gegen die Überbewertung des unrichtigen Urteils hält und nicht wie Gaul, 58, der das Argument des "pathologischen Falles" benutzt. 151 Dazu und zum folgenden Gtiinwald, Materielle Rechtskraft, 104 ff 152 Gtiinwald, Materielle Rechtskraft, 106; siehe auch ders, ZStW 76, 257 f.; zustimmend Volk, Prozeßvoraussetzungen, 198.
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unrichtige Urteil mitumfasse, es handele sich hierbei vielmehr um ein Problem der Urteilsvollstreckung. 153 Es stellt sich aber die Frage, ob man aus Grünwalds Ausführungen wirklich diesen Schluß ziehen kann. In einer anderen, nach Gauls Aufsatz erschienenen Untersuchung zur materiellen Rechtskraft kommt er nämlich zu dem Ergebnis, daß diese Beschränkung des Problems auf wenige Fälle keineswegs beruhigend sei: 154 "Damit, daß das Phänomen des unrichtigen Urteils üblicherweise dem Problembereich der Rechtskraft zugeschoben wird, wird es verharmlost. Es berührt in Wahrheit die Fundamente des gesamten Gebäudes von materiellem und formellen Strafrecht." Nicht nur die Rechtskraft, sondern schon das Instrument des Strafrechts eröffne die Möglichkeit, daß auch Unschuldige bestraft werden. Daraus läßt sich schließen, daß das unrichtige, also ungerechte Urteil schon im gesamten System des Strafrechts als Möglichkeit angelegt ist. Das Streben nach Gerechtigkeit impliziert notwendig die Möglichkeit des Scheiterns, mithin die Ungerechtigkeit. Dieser logische Schluß muß aber auch für den Prozeß gelten. Auch wenn hier vom Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit ausgegangen wird, muß das Fehlgehen dieser Bemühungen mitbedacht werden. Eine Definition des Prozeßzweckes darf an diesem Problem nicht vorbeigehen, will sie nicht inhaltsleer oder bloße Bekundung guten Willens sein. b) Rechtssicherheit als Verfahrenszweck Da die Rechtskraft sowohl für das gerechte als auch das ungerechte Urteil gilt, beide also bei ihrem Eintritt unabänderbar werden, siçht man zunächst vom Institut der Wiederaufnahme ab, stellt sich die Frage, ob sie die Zweckbestimmung des Strafverfahrens ausmacht. Die Rechtskraft stellt das reale Ende des Strafverfahrens dar, sie wird immer erreicht. Damit kann sie aber nicht "ideales" Ziel des Strafverfahrens sein, vielmehr muß sich die Überlegung anschließen, welchem idealen Ziel sie wiederum dient.
153 Gaul, 60 f.: "Nein, mit guten Gründen ist es deshalb so, daß solange die Rechtskraft des Urteils besteht, die Frage nach der Richtigkeit und Rechtmäßigkeit des Urteils mit rechtlicher Relevanz überhaupt nicht mehr gestellt werden kann [...]. Die Rechtsverbindlichkeit des Richterspruchs läßt also normalerweise die Frage nach der Rechünäßigkeit oder Rechtswidrigkeit seiner Vollstreckung nicht mehr aufkommen." Dabei verweist er auf Ghinwald, ZStW 76, 250 ff. 154 Grünwald, Materielle Rechtskraft, 106; siehe auch ausführlich Volk, Prozeßvoraussetzungen, 198 f.: "Die perfektere Fassung der Gerechtigkeit verschärft zugleich die Negation - die Ungerechtigkeit." 4 Limbach
1. Kap.: Das Ziel des Strafverfahrens
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Schmidhäuser nennt an dieser Stelle die Rechtssicherheit. 155 Die Rechtssicherheit wurde schon oben bei Grünwalds Ausführungen als Gegenbegriff zur Gerechtigkeit genannt. Sie könnte, da sie sowohl die Möglichkeit des unrichtigen wie des gerechten Urteils beinhaltet, alleiniger Zweck des Strafverfahrens sein. Lampe vertritt diese Ansicht. Für ihn ist die Rechtssicherheit die einzige aus der Prozeßordnung heraus zu begründende Zweckbestimmung des Strafverfahrens: 156 Es handle sich dabei um ein "absolutes" Ziel, das "um jeden Preis" anzustreben sei. Würde Unsicherheit bezüglich der Frage herrschen, ob eine Entscheidung gerecht sei, käme der Prozeß zum Stillstand, die Rechtskraft, die erst das Verfahren beende, könne nicht erreicht werden. Die "Wahrung" der Gerechtigkeit könne sich gegenüber diesem Prozeßziel nicht durchsetzen. Die Aufgabe, Gerechtigkeit zu wahren, obliege nicht den Strafgerichten, sondern dem Bundesverfassungsgericht. Dieses habe der Rechtsstaatlichkeit, dem Rechtsfrieden, zum Durchbruch zu verhelfen. Die Rechtsstaatlichkeit und der Rechtsfriede als Zweckbestimmung beinhalte schließlich sowohl Rechtssicherheit als auch Gerechtigkeit. Indem er auf Goldschmidt Bezug nimmt, läßt sich ein Argument, das auch schon gegen diesen verwandt wurde, noch einmal wiederholen: Wenn also Rechtssicherheit alleiniges Ziel des Strafverfahrens ist, warum dann so ein kompliziertes Verfahren? Wieso sieht die Strafprozeßordnung ein Verfahren vor, in dem so viele Regelungen zu beachten sind, bis es letztendlich in einem rechtskräftigen Urteil sein Ende findet? Wäre die Schaffung von Rechtssicherheit allein der Zweck des Verfahrens, so würde sich doch ein stark vereinfachtes Verfahren anbieten. Rechtssicherheit als Verfahrensziel könnte die vielen Regelungen bezüglich der Beweisaufnahme, insbesondere der Antragsrechte des Beschuldigten und seines Verteidigers, nicht rechtfertigen, führen sie doch in manchen Fällen dazu, daß sich ein Prozeß über lange Zeit erstreckt, ja schließlich sogar mehrere Monate, in Ausnahmefallen auch Jahre dauern kann. So stellt sich die Frage, ob der Prozeß im Hinblick darauf nicht etwas anderem dient als der Rechtssicherheit. Zudem stellt sich weiter die Frage, ob dann noch von Rechtssicherheit gesprochen werden kann, wenn der Prozeß keinem anderen oder weiteren idealen Ziel zu dienen bestimmt ist, oder ob
155
Schmidhausen 515. Lampe, GA 1968, 33 (48 f.), in Fn. 75 beruft er sich dabei auf Goldschmidt, Prozeß als Rechtslage, 151 ff. In seinem Buch, Grundlagen des Prozeßrechts, klingt auch bei Sauer die These an, die Rechtskraft sei Ziel des Strafverfahrens (235). Jedoch spricht er an dieser Stelle davon, daß "Rechtskraft die Fähigkeit zur abschließenden konkreten Gestaltung von objektivem Recht", also "Rechtsgestaltungskraft" ist. Hier klingt also schon an, was er in seinem späteren Buch, Allgemeine Prozeßrechtslehre, als Kreationtheorie genauer ausführte. Vgl. die kritische Untersuchung oben unter Π. 1. 156
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dann nicht "Unrechtssicherheit" das eigentliche Ziel des Verfahrens ist. 1 5 7 Rechtssicherheit alleine könnte auch eine Entscheidung einer Exekutivbehörde vermitteln. Dafür bräuchte es jedenfalls nicht eines ausführlich geregelten Gerichtsverfahrens. Rechtssicherheit als alleiniger Prozeßzweck würde mithin das gesamte System des Strafverfahrensrechts in Frage stellen. Dieser Zweck rechtfertigt kein Verfahren mit zwei bis drei Instanzen, keine Besetzung der Richterbank mit bis zu fünf Berufsrichtern und auch keine Schöffen als Laienrichter. Aber noch ein weiterer Gesichtspunkt spricht gegen Lampes These von der Rechtssicherheit als alleinigem Zweck des Strafverfahrens. "Grob ungerechte" Entscheidungen sollen nach ihm vom Bundesverfassungsgericht korrigiert werden, wobei er als einschlägige Grundrechte, deren Verletzung eine Verfassungsbeschwerde nach § 90 BVerfGG begründen könnten, neben den Justizgrundrechten der Art. 101 und 103 GG die Art. 2 und 3 GG nennt. 158 Das Bundesverfassungsgericht soll mithin eine Art Kontrollinstanz für die Strafgerichtsbarkeit sein. Wenn beim Streben nach Rechtssicherheit die Gerechtigkeit außer Acht bleibt, soll ihr auf diesem Weg zum Durchbruch verholfen werden. Heute jedoch ist allgemein anerkannt, daß das Bundesverfassungsgericht keine Superrevisionsinstanz ist. 1 5 9 Das Bundesverfassungsgericht wäre überfordert, müßte es auf eine Rüge des Angeklagten hin, alle möglichen Strafurteile daraufhin prüfen, ob sie gerecht sind. Wäre dies so, würde ein Automatismus dahingehend entstehen, daß alle Verfahren, bei denen der Angeklagte mit dem Urteil nicht einverstanden ist, und das dürften nicht wenige sein, nach der Revision vor dem Bundesverfassungsgericht weitergeführt werden. Dafür ist das Gericht jedoch nicht geschaffen worden. Das Bundesverfassungsgericht hat nicht die Aufgabe einer allgemeinen Kontrolle der übrigen Gerichtsbarkeiten, es soll nur dann eine Kontrollfunktion ausüben, wenn durch andere Gerichte Grundrechte des Einzelnen verletzt worden sind. Dagegen könnte man einwenden, daß Lampe diese Verstöße mit seinem Verweis auf Art. 2, 3, 101 und 103 GG aufgezeigt hat. Aber er spricht nur von "grober Ungerechtigkeit". Das heißt dann jedoch, daß unrichtige Entscheidungen, deren Ungerechtigkeitsgrad noch nicht das Adjektiv "grob" verdient, gar nicht mehr erfolgreich
157
Stock, 451 Fn. 1; siehe auch Schmidhäuser, 515. Lampe, 40 ff. Dabei sieht er durch Art. 3 I GG insbesondere jegliche Willkür durch hoheitliche Entscheidungen als verboten an. "Sachfremde Erwägungen" und "grob ungerechte" Entscheidungen würden demnach eine Verfassungsbeschwerde begründen (41). Ebenso Art. 2 GG, der die Freiheit des Einzelnen schütze, werde durch eine "grobe Ungerechtigkeit" verletzt (42). 159 Meyer in von Münch, Art. 94 Rn. 28; Surm in Sachs, Art. 93 Rn. 16; Simon in Handbuch des Verfassungsrechts, § 34 Rn. 22. 158
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1. Kap.: Das Ziel des Strafverfahrens
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angegriffen werden können, da ja Berufung und Revision ihrerseits auch nur die Rechtssicherheit erstreben. Durch die Verweisung des Gerechtigkeitsstrebens an das Bundesverfassungsgericht zeigt Lampe, daß er sich der Einsicht, letztendlich müßte auch die Gerechtigkeit ein Ziel des Verfahrens sein, nicht entzieht. Doch muß er sich den Einwand gefallen lassen, warum erst das höchste Gericht, die letzte Instanz diesem Ziel verpflichtet sein soll und warum es, wenn es doch der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen soll, nur "grobe Ungerechtigkeiten" ausräumen darf. Lampes Verweis auf das Bundesverfassungsgericht als gleichsam alleinigem Hüter der Gerechtigkeit, hat mithin zum einen zur Konsequenz, daß das Gericht droht, mit Verfahren überlastet zu werden, andererseits, daß ungerechte Urteile, die eine bestimmte Schwelle nicht überschreiten, auf ihre Richtigkeit, ihre Gerechtigkeit nicht mehr überprüft werden können. Diese beiden gegensätzlich anmutenden Konsequenzen dieser Auffassung erleichtern die Einsicht, daß Gerechtigkeit - wenn auch nicht unbedingt ausschließlich - Ziel der Strafverfahren vor den dazu eingerichteten Strafgerichten ist. Schließlich übersieht auch Lampe nicht das Institut der Wiederaufnahme. Zwar vertritt er den Standpunkt, die Wiederaufnahme des Verfahrens widerspreche nicht seiner Ansicht. 1 6 0 Jedoch kann er nicht überzeugend begründen, wozu es den Wiederaufnahmegrund der neuen Tatsachen und Beweismittel nach § 359 Nr. 5 StPO gibt, schließlich wird dadurch die Rechtskraft durchbrochen, und zwar durch die Strafgerichtsbarkeit selber, nicht durch das Verfassungsgericht. Nach ihm dient die Wiederaufnahme nach § 359 Nr. 5 StPO der Rechtssicherheit, da zu dieser "die Feststellung dessen, was rechtlich gesichert werden soll, mithin die Feststellung der Tatsache, auf die das Recht angewandt" wird, gehört. 161 Dies stellt aber eine Verkürzung der Wirkung des § 359 Nr. 5 StPO dar. Denn schon dem Wortlaut ist zu entnehmen, daß es nicht allein darum gehen kann, daß das Urteil auf den richtigen Tatsachen beruht, sondern darum, daß die neuen Tatsachen oder Beweismittel eine andere Bewertung der Tat zu begründen geeignet sind. Und dabei handelt es sich um eine Frage der Gerechtigkeit. Da die Wiederaufnahme folglich der Durchbrechung der Rechtskraft zugunsten der Gerechtigkeit dient 1 6 2 , läßt sich nicht leugnen, daß mithin auch die Verfahren vor den Strafgerichten dem Streben nach Gerechtigkeit dienen.
160
Lampe, 46 ff. Als problematisch sieht er §§ 359 Nr. 3, 362 Nr. 3 StPO und § 79 I BVerfGG an. 161 Lampe, 48. 162 Schmidhäuser, 515, der dies ebenso als Argument gegen die Rechtssicherheit als alleiniges Verfahrensziel ansieht.
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Nach den Ausführungen zu Rechtskraft und Rechtssicherheit bleibt als Ergebnis folgendes festzuhalten: Wahrheit und Gerechtigkeit als Verfahrensziel sind dem Einwand ausgesetzt, daß jedes Verfahren mit einer rechtskräftigen Entscheidung endet, mag sie nun gerecht oder ungerecht sein. Diese Regelung sieht sich keinen Einwänden ausgesetzt, will doch vernünftigerweise niemand einem Prozessieren "in alle Ewigkeit" das Wort reden. Das Argument des unrichtigen Urteils mag überbewertet werden, das Problem an sich kann nicht geleugnet werden. Jedenfalls läßt es sich nicht allein als "pathologische" Ausnahmeerscheinung verharmlosen. Eine Definition des Prozeßzweckes hat dem Rechnung zu tragen. Die Alternative Rechtssicherheit als alleiniger Verfahrenszweck kann aber noch weniger überzeugen, setzt sie sich doch zu vielen Regelungen der Strafprozeßordnung in Widerspruch. Das Prinzip vom Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit ist also legitim. Es kann in hohem Maße für das Verfahren sinngebend sein. Aber auch die Rechtskraft, dem Prinzip der Rechtssicherheit dienend, hat ihre Rechtfertigung.
4. Rechtsfrieden Somit stellt sich für die weitere Untersuchung die Frage, ob es denn eine Definition des Prozeßzweckes gibt, die beides, Gerechtigkeit wie Rechtssicherheit, in einen Ausgleich zueinander bringt oder beides jedenfalls berücksichtigt. Einige Autoren haben das Problemfeld - der Prozeß zwischen Streben nach Gerechtigkeit und Streben nach Rechtssicherheit - dahingehend gelöst, daß sie beides zusammen als Zweck des Verfahrens ansehen, wobei einmal jenes, ein anderes Mal dieses Vorrang haben solle. 163 Auf diese Weise werden beide Prinzipien in die Definierung mit einbezogen und der mögliche Konflikt sogleich aufgezeigt.
163 Hartung/Niethammer, Neues Strafverfahrensrecht, 324, bei ihren Ausführungen zur 1940 eingeführten, bis 1945 geltenden Nichtigkeitsbeschwerde (vgl. dazu die rechtshistorischen Ausführungen, bei Lampe, GA 1968, 33 ff ); Henkel, Strafverfahrensrecht, 84 ff., insb. 89 f.; Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 2, dies., Kernwissen, 1 f., die neben diesen beiden "widerstreitenden" Zielen noch die Wahrung der Menschenwürde als drittes Ziel aufführt, Krey, Strafverfahrensrecht I, Rn. 35, 46; Rüping, Strafverfahren, 8, der die drei Elemente Wahrheitserforschung, Justizförmigkeit (als Begrenzung der Wahrheitserforschung) und Rechtssicherheit nennt; Kramer, Grundbegriffe, Rn. 13 ff.
1. Kap.: Das Ziel des Strafverfahrens
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Schmidhäuser ist einen Schritt weitergegangen: 164 Gerechtigkeit und Rechtssicherheit sieht er als zwei Prinzipien, die nebeneinander aber auch wie These und Antithese im Gegensatz zueinander stehen können. Diese mögliche "Antinomie" soll "überhöht" werden durch ein Ziel, das über beidem steht, nämlich durch den Rechtsfrieden. Diese "Synthese" soll "als das Ergebnis der Abwägung beider auf der höheren Stufe als Teil der Rechtsordnung" erscheinen. Der Rechtsfrieden soll ein Zustand sein, "bei dem von der Gemeinschaft vernünftigerweise erwartet werden kann, daß sie sich über den Verdacht einer Straftat beruhige". Schmidhäuser sieht also Rechtsfrieden als einen normativen und nicht "faktisch allgemeinen Zustand". Die Störung des Rechtsfriedens durch die Straftat sieht er darin, daß "der aufkommende Verdacht, ein einzelner habe sich in seiner Straftat gegen den Gemeinschaftswillen aufgelehnt, auf die Vielzahl der möglichen Fälle gesehen zu einer Beunruhigung der Gemeinschaft fuhren" muß. 1 6 5 Diese Beunruhigung zu beseitigen, sei dann die Aufgabe des Prozesses. Diese Definition des Zwecks des Strafverfahrens scheint alles zu berücksichtigen, was in den vorherigen Abschnitten herausgearbeitet wurde. Einerseits findet die Forderung nach Gerechtigkeit Berücksichtigung, andererseits wird das Institut der Rechtskraft, ein Ausfluß des Strebens nach Rechtssicherheit, berücksichtigt und in den Prozeßzweck gleichsam integriert. Dennoch ist diese Definition vielfaltiger Kritik unterzogen worden. a) Einwand der mangelnden Berücksichtigung der Gerechtigkeit So hat Eb. Schmidt gegen Schmidhäuser eingewandt, dieser lehne das Streben nach Gerechtigkeit als inhaltliche Legitimation ab, wenn er den Rechtsfrieden als Zweck des Prozesses ansehe. 166 Daß das Streben nach Wahrheit
164
Schmidhäuser, 521 ff.; für Rechtsfrieden als Ziel des Strafverfahrens auch Volk, Prozeßvoraussetzungen, 198 ff.; Dencker, Willensfehler, 39 f.; Rudolphi, GA 1969, 139 f., der besonders die rechtsstaatlichen Grenzen der Wahrheitserforschung im Strafverfahren, so zum Beispiel den Schutz der persönlichen Geheim- und Vertrauenssphäre und die Interessen der Verfahrensbeteiligten und anderer, zur Untermauerung seiner Ansicht aufführt; ders., SK-StGB, Vor § 78 Rn. 10, mit besonderer Betonung auf das Institut der Veijährung, ohne das ein Verfahren längere Zeit nach der Straftat nicht Rechtsfrieden schaffe, sondern seinerseits wieder zu einer Beunruhigung der Rechtsgemeinschaft führe; Rieß, Schäfer-FS, 168 ff., der besonderen Wert auf "materielle Fundierung" legt. 165 Schmidhäuser, 516. 166 Eb. Schmidt, LK I, Rn. 20 Fn. 44: "Aber die leidige Möglichkeit von Fehlurteilen darf nicht dazu führen, Wahrheit und Gerechtigkeit als Ziel richterlicher Rechtsfindung aufzugeben."
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und Gerechtigkeit eigentliches Ziel des Prozesses sei, sehe man auch daran, daß die Rechtskraft dann nicht von Bestand sei, wenn neue Tatsachen auftauchten, die eine für den Angeklagten günstigere Entscheidung erwarten ließen, mithin, wenn an "die Wahrspruchqualität des Urteils" nicht mehr zu glauben sei. Diese Kritik verkennt jedoch die Intention von Schmidhäusers Ausführungen. Dieser betont selber, Rechtsfriede dürfe nicht mit Rechtssicherheit gleichgesetzt werden. 167 Vielmehr definiert Schmidhäuser, wie oben aufgezeigt wurde, Rechtsfrieden als Synthese von Gerechtigkeitsstreben und Rechtssicherheit. Der Vorwurf, er gebe die Gerechtigkeit als Ziel des Verfahrens auf, weckt somit den Gegenvorwurf, seine Definition nicht genau untersucht zu haben, sondern Rechtsfrieden in Schmidhäusers Sinn fälschlich mit Rechtssicherheit, die zugegebenermaßen als alleiniger Prozeßzweck die Gerechtigkeit verdrängen würde, gleichzusetzen. Schmidhäuser verkennt aber nicht die Bedeutung des Gerechtigkeitsstrebens für die inhaltliche Legitimierung des Strafverfahrens, wenn er von der "Synthese als dem Ergebnis der Abwägung beider" spricht. 168 Was er aber deutlich machen will, ist, daß der Prozeßzweck auch dann erreicht werden kann, wenn sich später ergibt, daß die Entscheidung falsch war, solange gewissenhaft nach Gerechtigkeit gestrebt wurde. 169 Die am Verfahren Beteiligten sollen ihre Aufgabe auch dann noch als erfüllt ansehen, wenn sie einmal feststellen müssen, Gerechtigkeit nicht erreicht zu haben. Dies sei auch deswegen nötig, um eine "Verabsolutierung" der Wahrheits- und Gerechtigkeitssuche zu vermeiden. Ihm ist darin Recht zu geben, daß auf diese Weise die Einsicht in die Notwendigkeit rechtsstaatlicher Grenzen für die Wahrheitsermittlung gefördert wird, um so dem Mißbrauch staatlicher Befugnisse vorzubeugen. Eine "Verabsolutierung" von Wahrheit und Gerechtigkeit als sittlichen Werten birgt vielfaltige Gefahren, worauf Schmidhäuser mit dem Bezug auf das geflügelte Wort, der Zweck heilige die Mittel, richtig hinweist. Schmidhäuser verneint also nicht die Gerechtigkeit als Ziel des Strafverfahrens, für ihn ist sie nur nicht alleiniges Ziel. Dieses ist der Rechtsfriede, die 167
Schmidhäuser, 517 ff., 521. Schmidhäuser, 521; vgl. auch 515 zur Rechtssicherheit als alleinigem Verfahrensziel: "Außerdem ließe sich das Vertrauen in eine richterliche Entscheidung ja nicht schlechthin erstreben nur durch die Festsetzung ihrer Endgültigkeit, die darüber hinaus keiner idealen Forderung mehr zu entsprechen versucht". Mißverständlich ist der Halbsatz: "Ziel des Prozesses ist zwar der Rechtsfriede und nicht die Gerechtigkeit", was aber durch den folgenden Halbsatz sofort klargestellt wird: "der Weg zum Rechtsfrieden führt jedoch immer nur über das gewissenhafte Streben nach Gerechtigkeit" (523). 169 Vgl. hierzu und zum folgenden Schmidhäuser, 523 f. 168
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Synthese von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit. Deutlich zeigt sich das für ihn im "Widerspiel" von Rechtskraft und Wiederaufnahme, das "deutlicher Ausdruck des Strebens nach Rechtsfrieden über Gerechtigkeit und Rechtsicherheit als Einzelwerte hinaus" ist. 1 7 0 b) Einwände von Gaul und Schaper Einen weiteren Einwand gegen Rechtsfrieden als Prozeßziel hat Gaul vorgebracht, dem sich Schaper angeschlossen hat: 171 Ein Verfahren erreiche Sicherheit und Gewißheit und damit auch "Befriedung" immer, wenn am Ende eine gerechte Entscheidung stehe, wodurch der Hinweis auf den Rechtsfrieden überflüssig sei: "Wer also im Prozeß nur eine Einrichtung zur Friedenswahrung sieht, der mutet dem Prozeß nicht mehr zu, als was letztlich auch ein administrativer Machtspruch vermöchte." Dieser Vorwurf beinhaltet aber das gleiche wie der obige Einwand von Eb. Schmidt, daß nämlich Rechtsfrieden letztlich Rechtssicherheit bedeute. Bei der Prüfung der Rechtssicherheit als alleinigem Verfahrenszweck wurde als Ergebnis festgestellt, daß es dann eines gerichtlichen Verfahrens nicht bedürfe und daß die Entscheidung auch von einer Exekutivbehörde getroffen werden könnte, wenn es nur auf eine "Befriedung" im Sinne einer "Friedhofsruhe" ankomme. Das aber ist, wie oben unter 4.a) dargelegt wurde, nicht die Intention Schmidhäusers bei seiner Definition von Rechtsfrieden. 172 Noch ein weiterer Einwand wird von beiden Autoren gegen die These vom Rechtsfrieden als Prozeßziel angeführt. Sie halten es für verfehlt, von der Existenz ungerechter Urteile darauf zu schließen, eine Definition des Prozesses müsse auch das fehlerhafte Urteil mit einbeziehen, vielmehr sei unabhängig von jeder Statistik vom "Normalfall", von der "Regel" auszugehen, nämlich dem gerechten Urteil. 1 7 3 Was Schmidhäuser beschreibe, sei der Zweck der Rechtskraft; und mache das unrichtige Urteil den Prozeßzweck aus, so erstrebe der Prozeß final eben dieses unrichtige Urteil. Der Prozeßzweck würde gleichgesetzt mit dem Zweck des Urteils und der Vollstreckung.
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Schmidhäuser, 524, wo es weiter heißt: "mag auch die gesetzliche Regelung im einzelnen hier immer nur der Versuch sein können, dem letzten idealen Ziel näherzukommen." 171 Gaul, AcP 168, 58 f.; Schaper, Studien, 162 ff. 172 Vgl. oben a); Schaper führt auch aus, Schmidhäuser habe sich "weitgehend der Auffassung angenähert, Prozeßzweck sei Erzielung eines gerechten Urteils." (163). In diesem Punkt schließt er sich also nicht Gauls Vorwurf an. 173 Gaul, 58 f.; Schaper, 163 f.
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Dagegen ist wieder das einzuwenden, was auch schon oben unter 3.a) angeführt wurde: Indem man durch Aufstellung von Normen Recht setzt, wird genauso die Möglichkeit von Unrecht eröffnet. Indem man im Verfahren Gerechtigkeit erstrebt, ist die Möglichkeit eines ungerechten Ergebnisses mitbedingt. 1 7 4 Richtig ist, daß Schmidhäuser seine Ansicht im Hinblick auf die Vollstreckung des ungerechten Urteils entwickelt hat. Das ungerechte Ergebnis, von dessen Möglichkeit man ausgehen muß, wenn man ein Verfahren zur Verfügung stellt, das der Wahrheitserforschung und damit auch dem Gerechtigkeitsstreben so vielfaltige Schranken zieht, aus der Definition auszuklammern, stellt eine übertriebene Idealisierung dessen dar, was der Prozeß zu leisten in der Lage ist. Man mag sich in diesem Zusammenhang streiten, ob die Vollstreckung aus einem rechtskräftigen, aber ungerechten Urteil rechtmäßig ist oder rechtswidrig 175 , der Verurteilte sie aber dennoch zu dulden hat. Ohne darauf näher einzugehen, mag es ein Kompromiß sein, von einer "Verbindlichkeit" des ungerechten Urteils zu reden. 176
Dennoch kann nicht immer, wenn das Urteil ein ungerechtes Ergebnis enthält, das Ziel des Prozesses verfehlt worden sein. Man denke nur eben wieder an die Grenzen, die der Wahrheitserforschung gezogen werden. Natürlich kann man ein Ergebnis als gerecht ansehen, auch wenn die Wahrheit - zum Beispiel aufgrund eines Beweisverwertungsverbotes - nicht vollständig erforscht wurde, weil es eben auch gerecht sein mag, die Wahrheitssuche "nicht um jeden Preis" zu betreiben. Es gibt aber auch andere Konstellationen, bei denen das Gerechtigkeitsstreben selber begrenzt wird. Die Verjährung nach den §§ 78 ff. StGB setzt der Strafverfolgung je nach Schwere des Deliktes eine zeitliche Grenze. Dennoch mag man es als ungerecht ansehen, unabhängig davon, welcher Strafzwecktheorie man den Vorzug gibt, wenn eine bestimmte Straftat aufgrund dieser Vorschriften nicht mehr verfolgt wird. Ein befriedigendes Ergebnis ist eine Einstellung des Verfahrens wegen Verjährung dennoch. Und dies ist auch eine Leistung des Prozesses, nicht nur allein des staat-
174 Ausführlich Volk, ProzeßVoraussetzungen, 198 f.; vgl. auch Dencker, Willensfehler, 39 f. Fn. 121: "Von einem Strafurteil hingegen zu sagen, es sei gerecht und wahr, ist Menschen prinzipiell nicht möglich." 175 So zum Beispiel Niese, Prozeßhandlungen, 123 f., der von der Rechtskraft als "zweckmäßigkeitsbedingter Notmaßnahme" spricht, und für den die Rechtswidrigkeit des Urteils als "ungelöster Rest" bestehen bleibt. Schmidhäuser zieht daraus den Schluß, daß das "Festhalten an der ungerechten Entscheidung", da man keine ständige Fortführung des Verfahrens wolle, "selbst wieder rechtmäßig innerhalb der Rechtsordnung im ganzen" sei. 176 Stratenwerth, Verantwortung und Gehorsam, 133 f.; siehe auch Gaul, 61.
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liehen Gewaltmonopols. 177 Nicht jeder Prozeß, der der Gerechtigkeit, der Rechtsbewährung dient, dient der Befriedung, dem Rechtsfrieden. Ein Prozeß, der absolute Gerechtigkeit um jeden Preis erstrebt, kann im Gegenteil den Rechtsfrieden stören, zu einer Beunruhigung fuhren, die er eigentlich gerade beseitigen soll. Die Verjährung ist nur ein Beispiel für eine solche Konstellation. Ebenso kann auch ein ungerechtes Ergebnis, das gleichwohl in Rechtskraft erwächst, folglich Rechtssicherheit gewährt, zu einer Beunruhigung führen. Damit gleichwohl das Ziel des Rechtsfriedens erreicht wird, gibt es das Verfahren der Wiederaufnahme, die die Rechtskraft durchbricht, um der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen, damit letztendlich Rechtsfrieden entsteht. 178 Ein ungerechtes Ergebnis eines Prozesses kann mithin durchaus auch als sinnvoll angesehen werden, kann also dem Rechtsfrieden dienen. Es ist das Kennzeichen auch dieser Kritik, daß sie hinter dem Begriff des Rechtsfriedens nahezu allein das Streben nach Rechtssicherheit, deren Ausdruck die Rechtskraft ist, vermutet, und dabei außer Acht läßt, daß sich der Rechtsfrieden als Prozeßziel nach Schmidhäuser aus beidem zusammensetzt. Diese Kritik kann im Ergebnis nicht überzeugen, auch wenn sie den Vorteil hat, die Gefahren der hier behandelten Definition aufzuzeigen, nämlich, daß bei jedem Prozeß, der mit einem ungerechten Ergebnis endet, mit Hinweis auf die Rechtssicherheit die Ansicht vertreten werden könnte, er habe seinen Zweck erreicht. Dazu mag der Umstand verleiten, daß Rechtssicherheit aufgrund der Rechtskraft immer erreicht wird, läßt man die wenigen Fälle eines begründeten Wiederaufnahmeantrags außer Acht. Daß diese Interpretation nicht der Intention dieser Prozeßzweckdefinition entspricht, ihr sogar entgegenläuft, braucht nach dem Vorhergehenden nicht mehr näher ausgeführt zu werden. Vielmehr ist erneut zu betonen, daß der Rechtsfrieden, so wie Schmidhäuser ihn versteht, das Streben nach Gerechtigkeit mitumfaßt, als eines von zwei Bestandteilen des Prozeßzwecks.
177 So aber Schaper, 163, der die befriedigende Wirkung nur darin sieht, "daß sich die Betroffenen nach dem Urteil richten, weil sie den drohenden Einsatz staatlicher Machtmittel fürchten." Zur Verjährung und ihrem Zweck der Wahrung des Rechtsfriedens vgl. auch Rudolphi in SK-StGB, Vor § 78 Rn. 10. 178 Auch Henkel, Strafverfahrensrecht, stützt dieses Ergebnis, wenn er das Verhältnis Gerechtigkeit - Rechtssicherheit als Spannungsverhältnis bezeichnet (89 f.). Er fuhrt aus, daß die Rechtsordnung das unrichtige Urteil "grundsätzlich in Kauf nimmt (386), und nur in "außergewöhnlichen Fällen" eine Durchbrechung der Rechtskraft in Kauf nimmt, wenn die Aufrechterhaltung des Urteils "unter Ausschluß weiterer Prüfungen für das Gerechtigkeitsstreben untragbar wäre." (394). Damit zeigt er, daß Gerechtigkeit und Rechtssicherheit zusammengehören, daß also Gerechtigkeit nicht alleine Ziel des Verfahrens sein kann.
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c) Einwand von Paeffgen Einen anderen Einwand gegen Schmidhäusers These des Rechtsfriedens als Zweck des Strafverfahrens hat Paeffgen vorgebracht: 179 Er fragt zunächst, aus welcher Perspektive überhaupt zu bestimmen sei, ob ein Urteil gerecht oder ungerecht sei. Er zeigt auf, daß ex-ante betrachtet ein Urteil immer gerecht sei, wenn es "lege artis und bona voluntate" gefällt sei. Dieses dictum hinsichtlich der Richtigkeit stehe aber unter dem Vorbehalt, daß zu einem anderen Zeitpunkt eine andere Beurteilung möglich sei. Daher befürwortet auch Paeffgen, daß nach einem "angemessenen Zeitaufwand" ein Verfahren enden, also Rechtskraft eintreten müsse. Aber dieser "Zwang zur Endlichkeit des Verfahrens" lasse sich in eine "Gerechtigkeitsfunktion durchaus einbauen". Dann aber hätte man eine andere Definition von Gerechtigkeit, als sie bisher den Überlegungen zum Prozeßzweck zugrunde lag. Würde man Gerechtigkeit so definieren, daß der Begriff auch die Notwendigkeit der Beendigung umfaßt, könnte man in der Tat davon sprechen, daß die Gerechtigkeit Ziel des Verfahrens sei. Letztlich würde sich diese Zielsetzung nicht von der Schmidhäusers unterscheiden, der die Rechtskraft von der Gerechtigkeit trennt, aber beide zusammen im Begriff des Rechtsfriedens zusammenführt. Es wäre das gleiche Ergebnis, die gleiche Konstruktion, nur unter anderem Namen. Aber diesen Gedanken verfolgt Paeffgen in seinen Ausführungen auch nicht weiter. Vielmehr ist er der Ansicht, Gerechtigkeit und Rechtsfrieden könnten sich "gegenseitig funktionalisieren", denn Rechtsfrieden könne auch ohne Gerechtigkeit herrschen. 180 Letzter Legitimationsgrund hinter dem Rechtsfrieden wäre das "Gemeinwohl". Dieser Begriff sei aber aufgrund seiner Abstraktheit noch vager als der Rechtsfrieden. Paeffgen bestreitet nicht, daß auch der Rechtsfrieden das Verfahren legitimieren könne. Dieser sei aber nur einer von mehreren Aspekten. Ein anderer sei die Gerechtigkeit, welche als Begriff genauso abstrakt und vage sei wie der Rechtsfrieden. Beides seien gleichberechtigte "Legitimatoren". Um aber einen handhabbaren Legitimationsaspekt zu bekommen, müsse man einen konkreten finden. Dies ist für ihn als "Komplementäraspekt" zur Wahrheitssuche die Rechtssuche.181 Unter Rechts-
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Paeffgen, Vorüberlegungen, 26 f. Dazu und zum folgenden Paeffgen, Vorüberlegungen, 28 ff. 181 Paeffgen, Vorüberlegungen, 34, wo er weiter ausführt: "Man kömite sich jene Norm daher auch so vorstellen: "Wer einen Menschen tötet, was (Justizförmig) festzustellen ist, wird [...] bestraft, wie (justizformig) festzulegen ist!" Mit dieser formalisierenden Argumentation bleibt der Durchgriff auf die dahinterliegenden Legitimationskomponenten bis hin zum "Gemeinwohl" offen." 180
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suche ist nach Paeffgen die Suche nach den einschlägigen Normen zu verstehen. 182 Eindeutiger Vorzug dieser Ansicht ist der Umstand, daß man nun ein sehr konkretes Prozeßziel erhält und kein ausfüllungsbedürftiges. Aber es stellt sich die Frage, ob das Ziel des Prozesses hinreichend damit umschrieben wird, daß der Sachverhalt aufzuklären und die entsprechend einschlägige Norm aufzufinden und anzuwenden ist. Dies sollte auf jeden Fall das praktische Ergebnis sein, das Mindestziel sozusagen. Dagegen ist aber die Ansicht, der Prozeß müsse ein ideales Ziel haben, vorzugswürdig. Es reicht nicht aus, das, was der Richter im Prozeß tatsächlich unternimmt, schon als Ziel des Verfahrens zu beschreiben. Der Prozeß sollte mehr zu leisten in der Lage sein, als nur das entsprechende Recht anzuwenden. Paeffgen sieht auch in seiner Darstellung der Wahrheits- und Rechtssuche nicht das alleinige Ziel des Verfahrens, wenn er ausführt, daß mit "dieser formalisierenden Argumentation [...] der Durchgriff auf die dahinter liegenden Legitimationskomponenten bis hin zum 'Gemeinwohr offen" bleibe. 183 Der Unterschied zu Schmidhäusers Ansicht liegt also vor allem darin, daß Paeffgen einen handhabbaren Begriff für seine weitergehende Untersuchung braucht, ohne aber weiter gefaßte Prozeßziele abzulehnen. Es zeigt sich auch hier wieder, wie gering zum Teil die Unterschiede zwischen den einzelnen Meinungen sind. Häufig beruhen die Mißverständnisse, wie etwa die Gleichsetzung von Rechtsfrieden mit Rechtssicherheit und die darauf fußende Kritik an Schmidhäuser. nur auf unterschiedlichen Begriffsdefinitionen. Die Ähnlichkeit zeigt sich unter anderem auch darin, daß Paeffgen Gerechtigkeit und Rechtsfrieden "zwei prinzipiell gleichrangige Legitimatoren" nennt. 184 Das zeigt aber, daß er unter Rechtsfrieden etwas anderes versteht als Schmidhäuser, also nicht die Synthese aus Gerechtigkeit und Rechtssicherheit. Insofern ist seine Schlußfolgerung, beide - Gerechtigkeit und Rechtsfrieden - seien gleichrangig noch kein Widerspruch zu Schmidhäuser. Die Frage nach dem Rangverhältnis zwischen beiden Prinzipien erinnert an die oben unter 2.a. erörterte Frage nach dem Rangverhältnis von Wahrheit und Gerechtigkeit. Letztlich kommt es darauf an. wie man die einzelnen Begriffe definiert und wie man die einzelnen Prinzipien zueinander gewichtet. Einig sind sich beide Autoren jedoch, daß Wahrheit, Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und Rechts182 Daß dies nur auf den ersten Blick einfach sein mag, nicht aber bei näherem Hinsehen, führt Paeffgen, Vorüberlegungen, 35 Fn. 99 näher aus. 183 Paeffgen, Vorüberlegungen, 34. 184 Paeffgen, Vorüberlegungen, 31. Sie sind für ihn auch nicht "die letzten denkbaren Legitmationsaspekte, sondern lediglich Emanationen des "richtigen Rechts", der "Rechtsidee"."
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frieden Legitimatoren des Verfahrens sind, mag man im einzelnen unterschiedlicher Auffassung sein, ob die Wahrheit der Gerechtigkeit untergeordnet ist oder diese mitunter fünktionalisiert, indem sie die Ausgangsfrage bei der Suche nach Gerechtigkeit mit vorgibt. Da Paeffgen nicht genau ausführt, was er nun unter Rechtsfrieden versteht und wo die Unterschiede zu Schmidhäusers Ansicht liegen, sondern diesen nur neben die Gerechtigkeit als gleichrangig setzt, und nicht klärt, wo die Unterschiede zu dem Gemeinwohl als letztem Legitimatoren zu finden sind, ist Schmidhäuser ob seiner klaren Definition der Begriffe und ihrer Abgrenzung zueinander der Vorzug zu geben. d) Volks Definition des Rechtsfriedens Eine in Teilen etwas andere Definition des Rechtsfriedens als Zweck des Strafverfahrens gibt Volk: 1 8 5 Zwar geht auch er wie Schmidhäuser davon aus, daß Rechtsfrieden nicht als "sozialpsychologisches Phänomen" zu verstehen ist, sondern normativ. Er modifiziert diese Ansicht aber dahingehend, daß zum Rechtsfrieden noch die "Bewährung des Rechts" als Zielbestimmung hinzukommen muß, worin schließlich die "Leistung" des Verfahrens bestehe. Dieses Element hebe "den instrumentalen Charakter des Strafverfahrens" hervor. Dadurch würde die "Einheit der Regelungsmaterie Kriminalrecht" bewahrt. Die Zwecke des materiellen Rechts lassen sich nach Volk "als vereint im Rechtsfrieden als normativem Leitbild der Regelung gesellschaftlicher Konflikte denken". 186 Bewährung des Strafrechts dürfe dabei nicht gleichgesetzt werden mit Durchsetzung und dürfe auch nicht vom Rechtsfrieden getrennt werden. In dieser modifizierten Ansicht liegt eine Gefahr: Indem zum Rechtsfrieden die Bewährung des Strafrechts hinzutritt, droht die Konkretisierung, die jener Begriff durch Schmidhäuser erfahren hat, wieder verloren zu gehen. Es liegt dann nicht mehr fern, Rechtsfrieden als Bewährung des Rechts anzusehen, beide Begriffe also gleichzusetzen, auch wenn diese mögliche Konsequenz sicher nicht Volks Intention entspricht. 187 Zudem wurde schon oben unter 1. dargelegt, daß sich die Bewährung des materiellen Rechts nicht für eine Prozeßzweckdefinition eignet. Entweder ist diese Zweckdefinition zu eng, wenn man unter Verwirklichung nur die Verurteilung des Beschuldigten versteht. Oder aber die Definition eignet sich nicht dazu, speziell das Strafverfahren zu legitimieren, wenn man nämlich auch den Freispruch und folglich auch jedes 185 186 187
Volk, Prozeßvoraussetzungen, 200 ff. Volk, Prozeßvoraussetzungen, 202. So versteht ihn aber Weigend, 210.
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normtreue Verhalten als Bewährung des Strafrechts ansieht. Wird der Bewährung des materiellen Rechts aber entscheidende Bedeutung beigemessen, so wird übersehen, daß das Strafverfahren eigenständige, vom materiellen Recht unabhängige Mittel zur Herbeiführung von Rechtsfrieden hat. 188 Recht zu geben ist Volk aber darin, daß auch das materielle Recht Rechtsfrieden schaffen soll, daß es als "Regelungsprogramm jener Streitbeendigung [...] Bedingungen für den Rechtsfrieden" angibt. 189 Rechtsfrieden als Zweckdefinierung des Strafverfahrens wird aber nicht allein durch die Bewährung des Rechts ausgefüllt. Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, geht der Begriff des Rechtsfriedens weiter, er impliziert die besonderen Möglichkeiten und Institute des Strafverfahrens in seiner Definition. Somit droht der Rechtsfrieden nach Volks Modifikation einerseits entkonkretisiert zu werden, andererseits aber auch zu sehr eingeengt zu werden. Sicher wollte Volk diese Konsequenzen mit seinen Ausführungen nicht bezwecken, denn er führt aus, damit dem Einwand zu entgehen, eine "Leerformel" aufzustellen. 190 Er will mithin die Gefahren, die soeben aufgeführt worden sind, vermeiden. DocH die Einwände zeigen, daß er diese eher noch verstärkt hat. Die Gefahr eines Mißverständnisses läßt sich wenigstens teilweise vermeiden, wenn man darauf hinweist, daß eines der Elemente des Rechtsfriedens, nämlich die Gerechtigkeit, das beinhaltet, was Volk unter Bewährung des Rechts versteht. Denn Gerechtigkeit bedeutet auch, daß das materielle Recht "richtig" angewandt wird. Es bedarf also nicht einer besonderen Erwähnung des materiellen Rechts, wenn der Rechtsfrieden als Zweck des Strafverfahrens angegeben wird, denn es ist schon in einer der beiden Säulen, die diesen Begriff tragen, mitenthalten. e) Weigend s Definition des Rechtsfriedens Auch Weigend sieht den Rechtsfrieden als Ziel des Strafverfahrens an. Jedoch kritisiert er die Normativierung des Begriffes, wie sie Schmidhäuser vorgenommen hat: 1 9 1 Er wirft die Frage auf, warum man ein Verfahren durchfüh-
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So zutreffend Weigend, 210 Fn. 125, wo er als Beispiel die Sachverhaltsaufklärung und das "Rechtsgespräch auf Grundlage "waffengleicher" Kommunikation" sowie die "Symbolkraft des zeremoniellen Schuldspruchs" erwähnt. 189 Volk, Prozeßvoraussetzungen, 203. 190 Volk, Prozeßvoraussetzungen, 202, denn es ließen "sich letztlich alle Normen auf die Sicherung des "sozialen" Friedens beziehen". 191 Weigend, 210 ff. Er bezieht sich dabei auf die Formulierung Schmidhäusers, 522: "Rechtsfriede zeigt sich als ein Zustand, bei dem von der Gemeinschaft vernünftigerweise erwartet werden kann, daß sie sich über den Verdacht einer Straftat beruhige·"
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ren müsse, um die soziale Ordnung zu stabilisieren, wenn diese real durch die Tat gar nicht destabilisiert sei. Es sei nämlich die Konsequenz dieser Ansicht, "daß jeder regulär durchgeführte Prozeß per definitionem sein Ziel erreicht". Prozeßende und Prozeßziel würden auf diese Weise wieder gleichgestellt, so daß dem so verstandenen Rechtsfrieden kein "Kriterium für das Gelingen oder Mißlingen von Verfahren entnommen werden" könne. Diese Kritik wäre berechtigt, wenn es tatsächlich Konsequenz von Schmidhäusers Ansicht wäre, daß jeder Prozeß, der zu einem Ende geführt worden ist, auch sein Ziel erreicht hat. Das aber, und darauf muß anscheinend wieder hingewiesen werden, kann nur der Fall sein, wenn das Ende des Verfahrens, die rechtskräftige Entscheidung als Ziel des Strafverfahrens angesehen wird, und gerade diese Beschränkung entspricht eben nicht Schmidhäusers Intention. Rechtsfriede wird nach ihm nicht schon durch den Verfahrensabschluß, der unangreifbar geworden ist, erreicht. Rechtsfriede, wie er ihn versteht, meint mehr: Neben dem Streben nach Verfahrensbeendigung muß immer das Streben nach Gerechtigkeit beachtet werden. Ein Verfahren, in dem die Beteiligten nicht die Gerechtigkeit, die richtige Entscheidung suchen, sondern nur das Ende des Prozesses, kann sein Ziel nicht erreichen. In einem solchen Fall kann gerade nicht "von der Gemeinschaft vernünftigerweise erwartet werden..., daß sie sich über den Verdacht einer Straftat beruhige." 192 Nicht "jeder regulär durchgeführte Prozeß" erreicht daher sein Ziel. Dieses Mißverständnis mag auch darin mit begründet sein, daß Schmidhäuser seinerseits von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit aus den Begriff des Rechtsfriedens bestimmt, während bei Weigend die Gerechtigkeit als Bestandteil des Verfahrenszieles eher beiläufig Beachtung findet. 193 Zudem ist Weigends Kritik noch etwas entgegenzusetzen: Wie am Anfang dieses Abschnitts aufgezeigt, sieht er als eine Konsequenz von Schmidhäusers Definition des Rechtsfriedens, daß Verfahren auch dann durchgeführt werden, wenn die soziale Ordnung nicht destabilisiert worden sei, etwa weil "das Opfer niemandem von ihr (der Straftat, d. Verf.) Mitteilung gemacht hat oder weil der Vorgang durch den Verletzten und dessen Bezugspersonen nicht als Straftat definiert wurde." 194 Eine solche Konsequenz ist Schmidhäuser jedoch nicht zu unterstellen, denn er weist selber darauf hin, daß gerade sein Begriff 192 Schmidhäuser, 522. Vgl. insb. 523: "Ziel des Strafverfahrens ist zwar Rechtsfriede und nicht die Gerechtigkeit; der Weg zum Rechtsfrieden führt jedoch immer nur über das gewissenhafte Streben nach Gerechtigkeit. Ist jedoch dieser Weg beschritten worden, dami vermag das Verfahren dem Rechtsfrieden auch daim noch zu dienen, wenn sich hernach herausstellen sollte, daß falsch entschieden worden ist." 193 So zum Beispiel 196. 194 Weigend. 210.
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des Rechtsfriedens erklären kann, warum zum Beispiel bestimmte Straftaten nicht verfolgt werden, wenn nicht der Verletzte einen Antrag diesbezüglich stellt. 195 Denn durch solche Delikte wird die Rechtsgemeinschaft vielleicht beunruhigt, aber nicht in so großem Maße, daß schon von einer Störung des Rechtsfriedens durch den Verdacht einer Straftat auszugehen ist. Daher ist auch eine Strafverfolgung von Amts wegen nicht nötig, um Rechtsfrieden wieder herzustellen. Es ist also nur vom Verletzten abhängig, ob der Verdacht einer Straftat in einem Strafverfahren geklärt werden soll. Definiert er den Vorgang nicht als Straftat, um Weigends Formulierung zu übernehmen, so wird auch ein Verfahren, soweit nicht ausnahmsweise doch ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht, der Rechtsfrieden also doch gestört ist, nicht durchgeführt. Weigends Kritik wird vielleicht verständlicher, wenn man sieht, daß er in seinen Überlegungen immer voraussetzt, daß eine Straftat stattgefunden hat, daß es einen Verletzten und auch einen Täter gibt. Diese Annahme wird bedingt durch das Thema seiner Untersuchung, die sich auf das Opfer der Straftat bezieht. 196 Seine Untersuchung setzt also voraus, daß es einen individuell durch die Straftat Verletzten gibt. Damit befinden sich nicht nur Delikte, die Rechtsgüter der Allgemeinheit schützen, bei deren Verwirklichung es mithin keinen individuell Verletzten gibt, außerhalb seines Blickfeldes, sondern auch die Konstellationen, in denen gar keine Straftat vorliegt, also ein ungerechtfertigter Verdacht gegeben ist, der erst durch das Strafverfahren geklärt werden kann beziehungsweise soll. Die Beschränkung seines Untersuchungsthemas soll nicht als Nachteil beziehungsweise Negativum gesehen werden, sie macht seine Einwände nur erklärlicher. Schmidhäuser jedoch setzt nur den Verdacht einer Straftat in dem Sinne voraus, daß überhaupt zu klären ist, ob eine Straftat tatsächlich stattgefunden hat, folglich auch nicht feststeht, ob es tatsächlich ein Opfer gibt. Schließlich gibt es noch einen Aspekt, der einen normativen Begriff des Rechtsfriedens zu begründen mag: Es ist äußerst fraglich, ob ein Verfahren wirklich nur dann Rechtsfrieden geschaffen hat, wenn sich die Rechtsgemeinschaft über den Verdacht einer Straftat beruhigt hat. Diese Forderung birgt nämlich die Gefahr in sich, daß "plebiszitäre" Interessen zum Durchschlag kommen. 197 Und eben gerade dazu darf es nicht kommen. Natürlich wäre es 195
Schmidhäuser, 524. Weigend, Deliktsopfer und Strafverfahren. 197 Volk, Prozeßvoraussetzungen, 201 Fn. 146 mit Verweis auf Bockelmann, NJW 1960, 217 ff., der vor diesen Gefahren warnt: "Sie (die Problematik, d. Verf.) rührt daher, daß die [...] öffentliche Meinung immer mehr daraufdringt, die Entscheidung von Rechtssachen zum Gegenstand von Plebisziten zu machen [...] namentlich so, daß sie 190
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der Idealfall, wenn die Ansicht der Gemeinschaft und das, was vernünftigerweise von ihr erwartet werden kann, übereinstimmen. Aber es dürfen die Gefahren nicht übersehen werden, die entstehen, wenn man versucht, in einem Verfahren zu einem solchen Ergebnis zu gelangen, das alle zufriedenstellt. Es kann soweit gehen, daß man dem "Druck der Straße" weicht und Entscheidungen fallt, die der Gerechtigkeit deutlich zuwiderlaufen, die Gemeinschaft aber beruhigen. Ziel des Strafverfahrens kann es nicht sein, es allen Recht zu machen. Denn es ist fraglich, ob das, was "Volkes Stimme" fordert, wirklich auf Dauer dem Rechtsfrieden dient, der als eine Voraussetzung die Gerechtigkeit hat. Die Erregung der Öffentlichkeit darf, um ein Beispiel zu nennen, kein Haftgrund sein, so daß die Änderung des § 112 StPO durch die Nationalsozialisten, die dies zusammen mit der Schwere der Tat als Haftgrund normierten, zu Recht nach dem Ende der national-sozialistischen Herrschaft rückgängig gemacht worden ist. Daher rührt also die Einschränkung "vernünftigerweise erwartet werden kann". Denn Ziel ist nicht ein Frieden als solcher, sondern, und auch das muß betont werden, Rechtsfrieden. Wenn also ernsthaft Gerechtigkeit erstrebt und das Verfahren zu einem "endgültigen" Schluß gebracht wurde, dann kann vernünftigerweise erwartet werden, daß sich die Rechtsgemeinschaft beruhigt über die Rechtsverletzung und den Verdacht einer Straftat, und dann ist das Verfahrensziel erreicht, nämlich der Rechtsfrieden. Dadurch macht man sich beziehungsweise die am Verfahren Beteiligten unabhängig vom demos, von der Augenblicksmeinung, von der - mag dies auch ein seltener Extremfall sein - aufgeputschten, seriösen Argumenten unzugänglichen "Menge". Durch die obigen Ausführungen mag der Eindruck entstanden sein, die Ansichten Weigends und Schmidhäusers seien sehr unterschiedlich oder sogar entgegengesetzt. Doch darf man über die Differenzen in der Ausformulierung des Rechtsfriedens nicht die Übereinstimmungen übersehen. Insofern zeigt sich, was auch schon bei Paeffgens Kritik an Schmidhäuser betont wurde, nämlich daß zwischen den verschiedenen Ansichten eine "Familienähnlichkeit" 198 besteht. Manche Unterschiede, und das hat die Untersuchung aufzuzeigen versucht, mögen sich durch die Unterschiedlichkeit der Motivation, dieses Thema zu behandeln, erklären lassen, manche durch eine unterschiedliche Definition von Begriffen wie Rechtsfrieden oder Gerechtigkeit, manche auch durch Mißverständnisse, die soweit als möglich ausgeräumt worden sind. Wie nahe sich Schmidhäuser und Weigend sind, mag
danach strebt, die einzelnen im Verfahren zu treffenden Entschließungen an das Resultat plebiszitärer Vorentscheidungen zu binden." (220). 198 So Volk, Prozeßvoraussetzungen, 183. 5 Limbach
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auch eine Formulierung, die am Ende von Weigends Untersuchung zum Prozeßziel steht, zeigen, die sich kaum von der zuvor attackierten Formulierung Schmidhäusers unterscheidet, wenn er nämlich von einem Verfahrensergebnis spricht, "von dem - eben aufgrund der Korrektheit des Prozedierens - erwartet werden kann, daß die Rechtsgemeinschaft mit ihm leben kann." 1 9 9 f) Exkurs: Luhmann und die Legitimation durch Verfahren Bis in die jüngste Zeit hat Luhmanns Schrift "Legitimation durch Verfahren" in der Prozeßrechtswissenschaft und auch in der Diskussion um das Ziel des Strafverfahrens starke Beachtung gefunden. 200 Luhmanns Untersuchung beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit das Verfahren an sich Entscheidungen legitimieren kann. Eines der untersuchten Felder ist das gerichtliche Verfahren. Dabei kommt es ihm darauf an, nicht Wahrheit und Richtigkeit der Entscheidung in den Vordergrund einer Theorie des Verfahrens zu stellen sondern die Legitimation (13). Ziel des Verfahrens, unabhängig davon, ob es sich um ein Gerichtsverfahren handelt, sei es "Reduktion von Komplexität intersubjektiv übertragbar zu machen" (26). Legitimität bedeutet nach Luhmann "Anerkennung von Entscheidungen als verbindlich" (31), wobei unter anerkennen beziehungsweise akzeptieren "gemeint ist, daß Betroffene aus welchen Gründen immer die Entscheidung als Prämisse ihres eigenen Verhaltens übernehmen und ihre Erwartungen entsprechend umstrukturieren" (33). Speziell zum gerichtlichen Verfahren fuhrt er aus, seine Funktion sei die Spezifizierung der Unzufriedenheit und die Zersplitterung und Absorbtion von Protesten (116). Das Verfahren ist also ein Rollenspiel; wer sich ihm aussetzt oder ausgesetzt wird, wird in dieses Rollenspiel mit einbezogen, dessen ungewisser Ausgang "Motor des Verfahrens" ist, und nach dessen Ende der "Entscheidungsempfänger" sich selbst mit seinem Protest isoliert hat (114 ff.). 2 0 1 Besondere Kritik haben Luhmanns Ausführungen zu Wahrheit und Gerechtigkeit hervorgerufen. Er führt nämlich aus, der Behauptung, daß stets Wahrheit und richtige Entscheidungen gefunden würden, stände die Notwendigkeit 199
Weigend, 218. Luhmann, Legitimation durch Verfahren; siehe zur Diskussion um Luhmanns Untersuchung beispielhaft Schreiber, ZStW 88, 117 (139 ff.); Zippelius, Larenz-FS, 293 ff ; Paeffgen, Vorüberlegungen, 34 ff 201 Der Raum dieser Untersuchung ist zu eng, um Luhmanns Untersuchung der legitimierenden Funktion ausfuhrlicher darzustellen. Siehe insb. 11 ff, 82 ff, 107 ff; sowie die kurze Darstellung bei Paeffgen, Vorüberlegungen, 34 ff. 200
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zu entscheiden entgegen, so daß mithin die Frage zu stellen sei, "ob der Gewinn von Wahrheit überhaupt die tragende Funktion rechtlich geregelter Verfahren" sei. 2 0 2 Dem wird entgegengehalten, die Gerechtigkeit lasse sich nicht vom Gerichtsverfahren trennen. 203 Seine deskriptive Betrachtungsweise des Verfahrens lasse dessen "Sinndimension" außer Acht, soziale Systeme ließen sich aber nicht "rein aufgabendeskriptiv" darstellen. 204 Die an Luhmanns Thesen geübte Kritik trifft aber seine Ausführungen nicht direkt. Ihm geht es nicht darum, inhaltliche Aussagen über den Zweck des Strafverfahrens zu machen. Wie er selber ausführt, "können funktionale Analysen ihren Gegenstand nicht rechtfertigen." 205 Seine Darstellung der Funktion des Verfahrens sei keine "Kryptonormierung". Die Institution des Verfahrens solle nicht gerechtfertigt, also inhaltlich legitimiert werden, indem er dessen Funktion aufzeige. Er definiert also nur das "unvermeidliche Resultat jedes rechtlich geordneten Verfahrens", unabhängig davon, nach welchen Regeln dieses geführt wird und ob sein Ergebnis in irgendeiner Weise gerecht ist. 2 0 6 Luhmann will also nicht, wie es das Anliegen dieser Untersuchung und der dabei behandelten Literatur ist, die Frage nach dem Sinn, dem Ziel des Strafverfahrens oder allgemein des gerichtlichen Verfahrens beantworten. Er untersucht allein die Funktion, die ein Verfahren hat. Diese beiden Ausgangspunkte beziehungsweise Fragestellungen dürfen aber nicht verwechselt werden. Wer Luhmann also das Fehlen eines inhaltlichen Bezuges vorwirft, mißversteht sein Anliegen. Seine Untersuchung will vielmehr die Augen öffnen für das konkrete Geschehen in einem Verfahren, ohne auf den tieferen Zweck, der mit einzelnen Verfahrensarten verfolgt wird, einzugehen. Insofern sind seine Aussagen und Ergebnisse höchst interessant, wenn man die Frage stellt, ob das, was man mit Verfahren erreichen will, auch tatsächlich durch das Verfahren erreicht wird. An dieser Stelle jedoch helfen seine Ausführungen nicht weiter, denn hier soll eben gerade die Frage, die er nicht stellt, behandelt werden, nämlich die nach dem Zweck des Strafverfahrens.
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Luhmann, Legitimation, 20 t i Zippelius, Larenz-FS, 298 ff. 204 Paeffgen, Vorüberlegungen, 37, der weiter ausführt, es müsse "bei dem Bemühen, die Richtigkeit der Hypothese zu überprüfen, ein inhaltlicher Beweis geführt werden." 205 Siehe hierzu und zum folgenden Luhmann, Legitimation, 6 f. 206 So zutreffend Weigend, 204. 203
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1. Kap.: Das Ziel des Strafverfahrens
5. Ergebnis Als Ergebnis der Untersuchung zum Rechtsfrieden als Verfahrensziel bleibt folgendes festzuhalten: Ziel des Verfahrens ist zum einen Wahrheit und Gerechtigkeit, wobei beide Elemente zueinander derart in einem Stufenverhältnis stehen, daß die Wahrheit Vorbedingung für die Gerechtigkeit ist. Beide sind aber nicht als verabsolutierte Werte Ziel des Verfahrens, gemeint ist vielmehr das Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Hinzu tritt die Rechtssicherheit als weiteres Ziel des Strafverfahrens, deren praktische Ausformung das Institut der Rechtskraft ist. Beide Ziele sind vereint beziehungsweise ihre mögliche Antinomie ist überhöht im Rechtsfrieden als dem eigentlichen Ziel und Zweck des Strafverfahrens. Dabei ist der durch das Verfahren zu erreichende Rechtsfrieden als der Zustand zu kennzeichnen, "bei dem von der Gemeinschaft vernünftigerweise erwartet werden kann, daß sie sich über den Verdacht einer Straftat beruhige". 2 0 7 Rechtsfrieden wird also als normativer Begriff verstanden, um plebiszitären Gefahren vorzubeugen. Rechtsfrieden wird aber nicht allein durch ein ordnungsgemäß verlaufenes Verfahren erreicht, indem etwa nach einer endgültigen Entscheidung schon automatisch auf ein Erreichen des Prozeßzweckes geschlossen wird; ohne das ernsthafte Streben nach materieller Gerechtigkeit ist Rechtsfrieden im hier verstandenen Sinne nicht denkbar. Durch diese Definition des Rechtsfriedens wird erst das "Widerspiel" von Wahrheitsund Gerechtigkeitssuche, Rechtskraft sowie Wiederaufnahme des Verfahrens erklärbar und mit Sinn ausgestattet.208 Diese Prozeßzweckdefinierung ermöglicht das Verständnis so unterschiedlicher Regelungen wie zum Beispiel des Strafantragserfordernisses, der Verjährung und der unterschiedlichen Einstellungsmöglichkeiten. In diesem Zusammenhang sei aber auch davor gewarnt, aus dem Prozeßzweck zuviel "herauslesen" zu wollen. Nicht jede Regelung des Strafverfahrensrechts kann durch die Prozeßzweckdefinierung erklärt werden. 2 0 9
Ziel des Strafverfahrens ist also die Schaffung von Rechtsfrieden, bestimmt durch das Streben nach Gerechtigkeit und Rechtssicherheit, so daß eine Wiederherstellung des durch den Verdacht einer Straftat gestörten Gemeinschaftsfriedens erwartet werden kann.
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Schmidhäuser, 522. Vgl. hierzu und zu folgendem Schmidhäuser, 524. So auch Gaul, AcP 168, 62.
ΠΙ. Verbindung von materiellem Recht und Prozeßrecht
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6. Erreichbarkeit von Rechtsfrieden im Verfahren gegen Moribunde Nachdem in den vorhergehenden Abschnitten der Zweck des Strafverfahrens näher bestimmt worden ist, kann nun die eingangs gestellte Frage, ob ein Verfahren gegen eine Person, die "den Abschluß des Verfahrens [...] mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr erleben wird" 2 1 0 , seinen Sinn verloren hat, also seinen Zweck nicht mehr erreichen kann, beantwortet werden. In diesem Zusammenhang wird zum Beispiel die Ansicht vertreten, der Sinn des Strafverfahrens, der in der "Wahrheitsermittlung, der Verwirklichung materiellen Strafrechts und in der Durchsetzung der Strafdrohung im Einzelfall" liege, verwirkliche "sich im Verlauf des Strafverfahrens nach und nach", denn das Urteil sei nicht das alleinige Ziel. 2 1 1 Verwirklichung des materiellen Strafrechts und Durchsetzung der Strafdrohung aber können nur im Urteil geschehen, so denn diese beide als Ziel des Strafverfahrens angesehen werden. 212 Materielles Recht, also die Straftatbestände des Strafgesetzbuches oder der strafrechtlichen Nebengesetze, kann also nicht durch das bloße Verfahren verwirklicht werden. Wahrheit hingegen wird zugegebenermaßen Teil für Teil in der Hauptverhandlung in der Beweisaufnahme gleichsam erarbeitet. Die Wahrheitsermittlung allein aber ist kein hinreichend legitimierender Zweck des Strafverfahrens, wie oben dargelegt wurde. Sie gehört sicher zu den Einzelbestandteilen. Das Verfahren ist jedoch kein "historisches Seminar" 213 , die Wahrheitssuche steht immer im Bezug zur Gerechtigkeit. Wo aber eine gerechte Entscheidung nicht mehr möglich ist, weil eben mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, daß der Angeklagte das Ende des Verfahrens nicht mehr erleben wird, verliert auch die Wahrheitssuche ihren Zweck. Denn es stellt sich dann die Frage, wozu die Wahrheitsfindung noch dienen mag. Und selbst wenn der Angeklagte erst kurz vor dem Urteil verhandlungsunfahig wird oder stirbt, bleibt die Frage unbeantwortet, ob er sich denn einer 210 BerlVerfGH NJW 1993, 515 (517); zur doppelten Wahrscheinlichkeitsprognose vergleiche die Ausführungen im 2. Kapitel unter I.2.c)aa) 211 Meurer, JR 1993, 89 (94). Bezüglich des Sinn des Strafverfahrens verweist er auf Schäfer in Löwe/Rosenberg, Einl. Kap. 6 Rn. 1. 212 Durch eine Einstellung, des Strafverfahrens kann das materielle Strafrecht nicht verwirklicht werden beziehungsweise sich bewähren. Anderes gilt nur in den Fällen der §§ 153 ff. StPO. 213 Vgl. dazu Koppernock/Staechelin, StV 1993, 433 (440) Fn. 113: "Das bedeutet keineswegs, daß nicht als Ergebnis der Beweisaufnahme in einem rechtsstaatlich durchgeführten Strafverfahren eminent bedeutsame, historische Erkemitnisse zu Tage gebracht werden können."
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1. Kap.: Das Ziel des Strafverfahrens
Straftat schuldig gemacht hat und wie das Gericht die vorgebrachten Beweismittel würdigt, was es also für wahr erachtet. Somit läßt sich eine Fortführung des Strafverfahrens nicht mit dem Streben nach Wahrheit rechtfertigen, denn dieser Zweck steht nicht für sich allein. Aber der zweiten Komponente des Prozeßzwecks Rechtsfrieden, der Rechtssicherheit kann ein solches Verfahren auch nicht dienen. Denn wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, daß vor einem rechtskräftigen Urteil das Verfahren ohnehin wegen eines in der Person des Beschuldigten liegenden Grundes eingestellt werden muß, so kann auch Rechtssicherheit nicht mehr erreicht werden, es sei denn, man sieht die spätere Einstellung wegen Verhandlungsunfahigkeit oder Tod des Beschuldigten als Verwirklichung des Zweckes Rechtssicherheit oder vielmehr seiner praktischen Ausprägung, der Rechtskraft, an. Rechtskraft allein kann aber auch kein das Verfahren legitimierender Zweck sein. Ist ein Verfahren einmal in Gang gesetzt worden, so wird - wann auch immer und durch welche Art von Entscheidung auch immer - schließlich in jedem Fall Rechtskraft erreicht. Rechtssicherheit in dem Sinne, daß endgültig feststeht, ob sich eine Person einer Straftat schuldig gemacht hat oder nicht, kann jedoch nicht mehr erzielt werden. Damit entfallen die beiden Säulen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit, die den eigentlichen Prozeßzweck Rechtsfrieden bilden, als Legitimation des Verfahrens. Dennoch könnte man die Ansicht vertreten, dem Rechtsfrieden werde schon durch das Ingangsetzen des Strafverfahrens Genüge getan beziehungsweise gedient. Darauf fußend müßte man logischerweise einen Schritt weiter gehen und vertreten, daß es dann auch unerheblich sei, ob es überhaupt zu einem Schuldspruch geschweige denn einer Strafvollstreckung komme. In dieser Richtung ist wohl auch die Äußerung eines an dem die Entscheidung des Berliner Verfassungsgerichtshofs betreffenden Strafverfahren Beteiligten zu verstehen: "Jeder Tag, den Herr Honecker (der Angeklagte, d. Verf.) länger in Haft ist, ist ein Gewinn für den Rechtsstaat."214 Diese Äußerung zeigt, daß der Verfahrensbeteiligte die Untersuchungshaft als eine Art Vorwegvollzug der Strafe ansieht, gleichsam als Verdachtsstrafe. Dieser Standpunkt widerspricht rechtsstaatlichem Gedankengut derart, daß weiteres Eingehen hierauf entbehrlich ist. Man könnte diesen Satz aber auch so verstehen, daß bereits das Ingangsetzen des Strafverfahrens der Beruhigung der Gemeinschaft dienen kann. Auf den ersten Blick mag diese Ansicht sogar 214 Zitiert nach Hénard , Geschichte vor Gericht, 78. Die Äußerung soll von einem Vertreter der Nebenklage stammen und ist vor diesem Hintergrund vielleicht auch etwas verständlicher.
. Verbindung von materiellem Recht und Prozeßrecht
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einleuchten. Durch das Ingangsetzen eines Strafverfahrens zeigt der Staat, daß er seine Pflicht zur Strafverfolgung ernst nimmt. Aber dieser Meinung liegt ein Trugschluß zugrunde: Wie sieht es mit dieser Beruhigung aus, wenn, was abzusehen ist, das Strafverfahren eingestellt werden muß? Ein Ergebnis steht dann nämlich fest: Daß eben nicht feststeht, ob der Verdächtige wirklich eine Straftat begangen hat, ob überhaupt eine Straftat vorliegt. Und damit wäre die "beruhigende" Wirkung der Ingangsetzung des Strafverfahrens wieder beseitigt. Diese Äußerung läßt zudem eine gefährliche Tendenz erkennen: Daß nämlich schon die Ingangsetzung des Verfahrens und die zu seiner Sicherung angeordnete Untersuchungshaft Strafe sein sollen, wenn man weiß, daß eine etwaige Strafvollstreckung aufgrund der Todesnähe nicht mehr möglich sein wird. Dieser Standpunkt aber "findet im geltenden Strafprozeß und erst recht im Grundgesetz keine Grundlage." 215 Die Ingangsetzung eines Strafverfahrens als Übelszufügung setzt außerdem eine Vorverurteilung voraus, denn man kann ein Strafverfahren nur dann schon als Strafe beziehungsweise deren Vorwegnahme ansehen, wenn man den Verdächtigen für schuldig erachtet. Nach den Grundsätzen unserer Rechtsordnung ist ein Verdächtiger aber bis zu einem Schuldspruch als unschuldig anzusehen.216 Eine Durchbrechung des Prinzips der Unschuldsvermutung mag zwar kurzfristig fur Genugtuung in der Gesellschaft sorgen, dem Rechtsfrieden jedoch wird dadurch nicht gedient. Die Unmöglichkeit, Rechtsfrieden dauerhaft zu erreichen, ist ein weiteres Argument für einen normativen Begriff des Rechtsfriedens, denn niemand wird um einer tatsächlichen Beruhigung der Gesellschaft willen ernsthaft einer Relativierung der Unschuldsvermutung das Wort reden.
215 So Lüderssen, Ein Staat geht unter, 99 f. Er verweist in diesem Zusammenhang auf Michalke, ZRP 1988, 273 ff., die sich gegen die Tendenz einiger Staatsanwaltschaften wendet, im Bereich der Umweltdelikte das staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren als Mittel des Umweltschutzes einzusetzen: "Daß das Ermittlungsverfahren einen über die Erforschung strafrechtlichen Unrechts hinausgehenden besonderen Zweck hätte, ist unserem Strafprozeß fremd/ [...] der Strafprozeß sollte jedoch keine andere, über sich selbst hinausgehende - etwa politische - Zielrichtung (Umweltschutz!) erhalten." (274). Vgl. auch Paeffgen, NJ 1993, 155, und ders. in SK-StPO, § 205 Rn. 8: "Eine in der Praxis immer wieder zu beobachtende Meinung betrachtet ihn (den Prozeß, d. Verf.) latent als erste [...] Forni der Abstrafung. Das ist er unter keinen Umständen! Der Prozeß dient vielmehr ausschließlich der - justizförmigen - Feststellung eines strafrechtserheblichen Sachverhaltes in Relation zu einem Zurechnungssubjekt und, bei dessen Bejahung, der Festlegung einer strafrechtlichen Reaktion". 216 Vgl. auch Berkemann, NVwZ 1993, 409 (417) m.w.N. zur Unschuldsvermutung.
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1. Kap.: Das Ziel des Strafverfahrens
Somit ist als Fazit festzustellen, daß der Rechtsfriede so, wie er hier verstanden wird, nicht ein Verfahren gegen Moribunde legitimieren kann. Weder Gerechtigkeit noch Rechtssicherheit und auch nicht einer normativ zu betrachtenden Beruhigung der Gemeinschaft ist damit gedient, einen Prozeß fortzusetzen, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wegen Verhandlungsunfahigkeit oder Tod des Verdächtigten vorzeitig eingestellt werden muß. Als quasi Mindestanforderung für ein Strafverfahren, das seinen Zweck erreichen soll, stellt Paeffgen richtig fest, daß "jedenfalls einem Menschen prozeßordnungs- und verfassungskonform Kriminal-Unrecht zugeordnet und [...] auch eine Schuldzuweisung möglich werden können" muß. 217 Ist die Erfüllung dieser Forderung jedoch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen, so kann das konkrete Strafverfahren unter keinen Umständen mehr seinen Zweck erreichen. Erfüllt werden können nur noch ein allgemeines, diffuses Genugtuungsbedürfnis oder andere außerhalb des durch das Grundgesetz geprägten Strafverfahrensrechts stehende Zwecke. Aus der Zweckbestimmung des Strafverfahrens selber jedoch läßt sich ein Weiterprozessieren nicht legitimieren. 218 Insofern ist im Ergebnis, wenn auch nicht in der Begründung, dem Berliner Verfassungsgerichtshof zuzustimmen, nämlich daß ein solches "Strafverfahren seinen gesetzlichen Zweck nicht mehr erreichen kann". 2 1 9
217
Paeffgen, NJ 1993, 152 (153). Zudem ist auch an den unnötigen Kostenaufwand gerade von Großverfahren zu denken, der durch ein solches "zweckloses" Weiterprozessieren entsteht, sowie an den Zeitaufwand, der sich dadurch für die Verfahrensbeteiligten ergibt. Gerade in einer Zeit, in der von einer Überlastung der Justiz die Rede ist, zeigt sich die Sinnlosigkeit eines solchen Prozessierens, könnten die "Ressourcen" doch besser eingesetzt werden. 219 BeriVeriGH NJW 1993, 517. Der Berliner Verfassungsgerichtshof sieht anders als die hier vertretene Ansicht den Zweck des Strafverfahrens in der "Erfüllung des legitimen Anspruchs der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der dem Bf. in der Anklage zur Last gelegten Taten und gegebenenfalls auf Verurteilung und Bestrafung." (unter Berufung auf BVerfGE 20,45, 49). 218
2. Kapitel: Folgerungen aus der fehlenden Erreichbarkeit des Verfahrensziels In dem in der Einleitung zum ersten Kapitel erwähnten Beschluß des Berliner Verfassungsgerichtshofs vom 12. 1. 19931 kommt das Gericht zu dem Schluß, das Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer sei wegen Verstoßes gegen die Menschenwürde einzustellen. Das Gericht konstruiert gleichsam ein Prozeßhindernis der begrenzten Lebenserwartung 2, das sich unmittelbar aus der Verfassung ergeben soll. Auch die zu diesem Beschluß veröffentlichten Stellungnahmen der Literatur setzen sich in erster Linie mit einem solchen, nicht unumstrittenen "Verfahrenshindernis von Verfassungs wegen" auseinander. 3 Nur bei wenigen Autoren wird die Frage angesprochen, inwieweit nicht ein einfachgesetzliches Verfahrenshindernis in solcherart gelagerten Fällen in Betracht käme.4 Das jedoch wäre die zuerst sich stellende Frage gewesen, bevor man sich auf das unsichere Terrain eines unmittelbar aus der Verfassung ableitbaren Verfahrenshindernisses begibt, bei dem das "Ob" und das "Wie" in allen in Betracht kommenden Fallkonstellationen noch heftigst umstritten ist. 5 So soll es Ziel des ersten Abschnitts dieses Kapitels sein, die Frage zu untersuchen, ob nicht ein einfachgesetzliches Verfahrenshindernis in den Fällen besteht, in denen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, daß der Beschuldigte das Ende des Strafverfahrens nicht lebend beziehungsweise nicht in verhandlungsfahigem Zustand erleben wird. Denn ließe sich dies bejahen, so würde sich die Frage nach einem unmittelbar aus der Verfassung ableitbaren Verfahrenshindernis nicht mehr stellen.
1
BerlVerfGH NJW 1993, 515 ff. So die Formulierung bei Beulke, Strafprozeßrecht, Rn. 289. 3 Koppernock/Staechelin, StV 1993, 433 (440 f.); Paeffgen, NJ 1993, 152 (153 ff); Bartlsperger, DVB1 1993, 333 (340 f.); Schovelt, NJW 1993, 881 (885 f.); Wilke, NJW 1993, 887 (888); Meurer, JR 1993, 89 (93 f.); Berkemann, NVwZ 1993, 409 (417); Stark, JZ 1993, 231 (233 f.). 4 So zum Beispiel Paeffgen, NJ 1993, 157; ders. in SK-StPO, Anhang zu § 206a Rn. 9 ff ; Wilke, NJW 1993, 888; Schon vor dem oben angeführten Beschluß wurde dies von Lüderssen, Der Staat geht unter - Das Unrecht bleibt, 102 f. angesprochen. 5 Siehe zum Problemfeld "Verfahrenshindernis von Verfassungs wegen" Punkt ΙΠ. dieses Kapitels. 2
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2. Kap.: F o l g e n g e n aus der fehlenden Erreichbarkeit des Verfahrensziels
I· Vorliegen eines einfachgesetzlichen Verfahrenshindernisses Dazu ist zunächst zu untersuchen, was ein Prozeß- respektive Verfahrenshindernis ist, um anschließend zu klären, ob ein solches in dem hier zur Untersuchung stehenden Fall vorliegt. Damit ist eine Zweiteilung dieses Abschnitts gleichsam vorgegeben. Sie stellt zudem sicher, daß sich die Untersuchung auch an den in Literatur und Rechtsprechung entwickelten Lehren und Grundsätzen des Strafverfahrens orientiert und nicht unabhängig in einem quasi "luftleeren" Raum rein kriminal- beziehungsweise rechtspolitischer Erwägungen schwebt.
1. Definition des Begriffs Verfahrenshindernis Der Begriff "Prozeßvoraussetzungen" geht auf die grundlegende Untersuchung von Bülow im letzten Jahrhundert zurück, der sich dabei aber auf den Zivilprozeß bezog.6 Im Strafrecht wurde der Begriff durch von Kries eingeführt und in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts maßgeblich von Goldschmidt, Sauer und Niese geprägt. 7 Die StPO verwendet ausdrücklich nur den Begriff des Verfahrenshindernisses (§§ 206a I, 260 III StPO). Eine Definition des Begriffes Prozeßvoraussetzung sucht man in ihr auch vergeblich, denn die diesbezügliche Lehre hat sich erst einige Zeit nach Erlaß der StPO entwickelt.8 Es blieb also Aufgabe der Rechtsprechung und der Wissenschaft, eine Definition dieser Begriffe zu entwickeln. Einigkeit besteht heute jedenfalls dahingehend, daß die Begriffe Verfahrens-/Prozeßvoraussetzung und Verfahrens/Prozeßhindernis das Gleiche bedeuten.9 Das heißt, wenn eine Prozeßvoraussetzung fehlt, besteht ein Verfahrenshindernis. Das eine drückt mithin das negativ aus, was das andere positiv bedeutet. 6
Bülow, Die Lehre von den Prozeßeinreden und die Prozeßvoraussetzungen, 5 ff. Von Kries, ZStW 5 (1885), 1 ff; Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage; Sauer, Grundlagen und Allgemeine Prozeßlehre; Niese, Doppelfunktionale Prozeßhandlungen. Zur Geschichte vgl. Alberts , Doppelt relevante Tatsachen, 117 ff.; Eb. Schmidt, LK I, Rn. 113 ff.; Schäfer in Löwe/Rosenberg, Einl. Kap. 11 Rn. 1 ff.; Nachweise zur älteren Literatur finden sich außer bei Schäfer in Löwe/Rosenberg, auch bei Baxhenrich, Verhandlungsfahigkeit, 84 f. 8 Vgl. BGHSt 26, 84 (88). 9 Vgl. für viele: Rieß in Löwe/Rosenberg, § 206a Rn. 22; Eb. Schmidt, LK I, Rn. 193; Loos in AK-StPO, Anhang zu § 206a Ri). 1; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Einl. Rn. 142 f., Henkel, Strafprozeßrecht, 230; a. A. OGH in NJW 1949, 556 mit ablehnender Anmerkung Niese, DRechtsZ 1949, 505. 7
I. Vorliegen eines einfachgesetzlichen Verfahrenshindernisses
a) Zalässigkeitsbedingung
des Verfahrens
75
im ganzen
Die Rechtsprechung und die Mehrheit des Schrifttums definieren Verfahrenshindernisse nach Niethammer als Umstände, die nach dem ausdrücklich erklärten oder aus dem Zusammenhang ersichtlichen Willen des Gesetzes für das Strafverfahren so schwer wiegen, daß von ihrem Vorhandensein die Zulässigkeit des Verfahrens im ganzen abhängig gemacht werden muß. 10 Aus dieser Begriffsbestimmung läßt sich dreierlei herausfiltern: Zum einen muß es sich um bestimmte Tatsachen handeln, das heißt Umstände, die einer wertenden Beurteilung bedürfen, sollen keine Verfahrenshindernisse darstellen, wobei nicht übersehen werden darf, daß bei manchen Prozeßvoraussetzungen die Notwendigkeit einer wertenden Beurteilung tatsächlicher Gegebenheiten besteht.11 Zum anderen muß es sich um Umstände handeln, die Voraussetzung für das "gesamte" Verfahren sind, was den Zweck hat, die Prozeßvoraussetzungen scharf von Prozeßhandlungsvoraussetzungen zu trennen. Zum letzten muß es sich um Umstände handeln, die "schwer wiegen". Damit soll erreicht werden, daß nicht jedweder Umstand dazu führen kann, daß der Prozeß nicht fortgesetzt werden kann. Bestimmte Umstände sollen also nicht die sofortige Einstellung zur Folge haben, sondern nur auf Rüge hin beachtlich sein. Diese drei Merkmale der Definition sollen also der Abgrenzung und Einschränkung des Begriffes Prozeßvoraussetzung dienen. Dieser "inhaltliche Maßstab" ist jedoch einiger Kritik unterzogen worden. So wird gegen ihn vorgebracht, er sei von "geringer Aussagekraft". 12 Die Beanstandungen, die Volk und Alberts gegen die oben angeführte Definition vorbringen, richten ihr Augenmerk auf drei Elemente: In bezug auf den "ausdrücklich erklärten oder aus dem Zusammenhang ersichtlichen Willen des Gesetzes" wird ausgeführt, daß Bestimmungen, die den Begriff "Verfahrenshindernis" verwenden und die Einstellung des Verfahrens
10
Niethammer in Löwe/Rosenberg (20.), 35. Aus der Rspr.: BGHSt 15, 287 (290); 32, 345 (350); 33, 183 (186); 36, 294 (295); vgl. auch 10, 74 (75) und RGSt 67, 53 (54 f.). Aus der Lit.: Rieß in Löwe/Rosenberg, § 206a Rn. 22; Schäfer in Löwe/Rosenberg, Einl. Kap. 11 Rn. 7; Kleinbiecht/Meyer-Goßner, Einl. Rn. 142 f.; Pfeiffer in KK, Einl. Rn. 131; ders. in Pfeiffer/Fischer, Einl. Rn. 15; Paeffgen in SKStPO, Anhang zu § 206a Rn. 1; C. Roxi η, Strafverfahrensrecht, § 21 Rn. 1; Loos in AK-StPO, Anhang zu § 206a Rn. 1 ff.; Henkel, Strafprozeßrecht, 230, Zipf Strafprozeßrecht, 99 f., Baxhenrich, Verhandlungsfähigkeit, 84 f. m.w.N. zur älteren Prozeßrechtsliteratur; ähnlich^. Schmidt, LK I Rn. 119; Kühne, Strafprozeßlehre, Rn. 354. 11 Vgl. Schäfer in Löwe/Rosenberg, Einl. Kap. 11 Rn. 9. 12 Rieß, JR 1995, 47; Alberts , Doppelt relevante Tatsachen, 123; vgl. auch Herrmann, NStZ 1985, 565.
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2. Kap.: F o l g e n g e n aus der fehlenden Erreichbarkeit des Verfahrensziels
als Rechtsfolge vorsehen, diesen Begriff nicht näher erläutern, und die Bestimmungen, deren inhaltliche Ausformulierung der herkömmlichen Definition von Prozeßvoraussetzungen in etwa entspricht, entweder keine Rechtsfolge festlegen oder nicht die Rechtsfolge "Einstellung". 13 Auch "aus dem Zusammenhang" sei in Anbetracht der Entstehungsgeschichte der Prozeßvoraussetzungen nichts ersichtlich, was der Klärung der Frage dienlich sei. Die Schwierigkeiten der Definierung der Prozeßvoraussetzungen liegen eben gerade darin, daß der Gesetzgeber in diesem Punkt bis heute untätig geblieben ist und die Entwicklung in diesem Bereich vollständig der Lehre und der Rechtsprechung überlassen hat. Daher kann ein Rekurs auf den Willen des Gesetzes eben gerade nicht weiterhelfen. Einziges Ergebnis ist, daß das Gesetz den Begriff des Verfahrenshindernisses verwendet und bei dessen Vorliegen die Einstellung des Vefahrens anordnet. Zur inhaltlichen Abgrenzung des Begriffes ist dem Gesetz jedoch nichts entscheidendes zu entnehmen. Der nächste Kritikpunkt ist die Formulierung "Zulässigkeit des Verfahrens im ganzen". Volk fuhrt aus, daß dieser Begriff auf der Sicht eines zweigeteilten Verfahrens beruht, wie sie Bülow für den Zivilprozeß vertreten hat. Im Strafprozeß aber könne nicht erklärt werden, wie sich von der Zulässigkeit die Begründetheit unterscheide, wenn man richtigerweise davon ausgehe, daß die Prüfung der Prozeßvoraussetzungen nicht dem eigentlichen Vefahren vorgeschaltet sei, sondern daß diese selbst Gegenstand des Verfahrens seien.14 Niese, gegen den sich Volk insbesondere wendet, hat, um den Begriff der Zulässigkeit genauer eingrenzen zu können, den Begriff der Justizförmigkeit in diesem Zusammenhang in den Vordergrund gestellt.15 Dieser Begriff ist nach Volks Ansicht aber nicht zu einer klareren Abgrenzung der Prozeßvoraussetzungen von anderen Normen in der Lage, da das gesamte Verfahrensrecht, also nicht nur die Prozeßvoraussetzungen, den Zweck habe, daß das Strafverfahren justizförmig ablaufe. 16 Wenn aber die Justizförmigkeit des Strafverfahrens 13
Dazu und zum folgenden Alberts, 122; Volk, Prozeßvoraussetzungen, 205 bringt es mit der knappen Formulierung, "daß so gut wie nichts 'ausdrücklich erklärt' [...] ist", auf den Punkt. 14 Volk, Prozeßvoraussetzungen, 207, wo er sich gegen Niese, Prozeßhandlungen, 95 ff. wendet, der von den Prozeßvoraussetzungen als "Zulässigkeitsbedingungen der Klage" spricht, ohne näher zu klären, was die Begründeüieit der Klage ausmacht. 15 Niese, Prozeßhandlungen, 97: "Die scharfe Trennung nach Form und Inhalt, die in den Kategorien der Zulässigkeit und Begründeüieit besonders sinnfällig in die Erscheinung tritt, ist ein Erfordernis, das dem gesamten Prozeß sein Gepräge gibt und das sich vielleicht in dem allgemeinen Begriff der Justizförmigkeit ausdrücken läßt." Vgl. auch 40 f. 16 Volk, Prozeßvoraussetzungen, 208 f. Er weist ferner darauf hin, daß diese Kritik erst recht gelte, wemi man wie Sulanke, Diefentscheidung bei Zweifeln über das Vorhandensein von Prozeßvoraussetzungen und Prozeßhindeniissen im Strafverfahren,
I. Vorliegen eines einfachgesetzlichen Verfahrenshindernisses
77
durch nahezu alle Vorschriften der StPO gewährleistet werden soll, so ist tatsächlich fraglich, inwiefern dieser Begriff das Merkmal "Zulässigkeit" näher konkretisieren soll. Eine solche Konkretisierung würde nämlich nur dann vorliegen, wenn dieses Merkmal Anwendung nur auf die Prozeßvoraussetzungen fände, wenn es ihnen gleichsam eigentümlich wäre. Ein Bezug der Justizförmigkeit nur auf die Prozeßvoraussetzungen liegt aber, wie Volk deutlich gemacht hat, nicht vor. Im Ergebnis sagt das Merkmal "Zulässigkeit des Verfahren im ganzen" nichts anderes, als daß es unzulässig ist, das Verfahren fortzuführen, wenn eine Prozeßvoraussetzung fehlt oder ein Prozeßhindernis besteht. Eine inhaltliche Aussage ist dem Merkmal jedoch nicht zu entnehmen. Das dritte Element der Definition, das "Gewicht" der in Frage kommenden Normen, ist ähnlicher Kritik ausgesetzt. Der Bundesgerichtshof hat versucht, dieses Merkmal durch Formulierungen wie "übergeordnete Belange der Allgemeinheit", "sonstige öffentliche Interessen", "erhöhte rechtspolitische Interessen" oder "allgemeine Belange der Rechtspflege" näher zu bestimmen.17 Dagegen hat Volk eingewandt, daß auch diese Formeln das Unspezifische des Merkmals "Gewicht" nicht näher bestimmen können, es fehlten die "Höhenmarken". 18 Hinter diesem Versuch der inhaltlichen Ausgestaltung der Definition stehe wieder der Gedanke der Justizförmigkeit als einschränkendem Merkmal, welches aber, wie schon gezeigt wurde, nicht von großem Nutzen ist. Die Methode, auf einen "quantitativen" Maßstab zu verweisen, bringt daher im Ergebnis die Frage nach einer genauen Definition, die der Abgrenzung und Klarheit des Begriffes dient, nicht weiter, solange wiederum das Maß nicht näher ermittelt werden kann, das dazu fuhrt, daß ein Umstand genug "Gewicht" hat, um als Prozeßvoraussetzung beziehungsweise Prozeßhindernis anerkannt zu werden. Der Bundesgerichtshof ersetzt den einen unspezifischen Begriff gewissermaßen durch eine Reihe nahezu genauso unspezifischer Formulierungen. Der kurze Überblick über die Kritik an der von der Rechtsprechung und weiten Teilen der Literatur verwendeten Definition der Prozeßvoraussetzungen zeigt, daß es bisher nicht überzeugend gelungen ist, die Konturen dieser Normengruppe näher herauszuarbeiten. Somit liegt es nahe, den Versuch zu un-
86 ff., die Zulässigkeitsbedingungen, also die Prozeßvoraussetzungen, als Ausfluß des Prinzips der Menschenwürde ansieht, daß also insofern eine "Selbstbeschränkung der staatlichen Macht" aufgrund der Anerkennung der menschlichen Würde des einzelnen vorliege. Vgl. außerdem Alberts , 124 f. und ausführlich Rimmelspacher, Zur Prüfung von Amts wegen im Zivilprozeß, 116 f. 17 BGHSt, 7, 26(28); 10, 74 (77); 13, 157 (161); 18, 79 (84); 26, 84 (91). 18 Dazu und zum folgenden Volk, Prozeßvoraussetzungen, 214 f.; sowie Alberts , 124 f.
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2. Kap.: F o l g e n g e n aus der fehlenden Erreichbarkeit des Verfahrensziels
ternehmen, die Prozeßvoraussetzungen auf eine neue dogmatische Grundlage zu stellen, um so zu einer klareren Konturierung dieses Begriffes zu gelangen. b) Typisierte
Voraussetzungen der Rechtsfriedenssicherung
Rimmelspacher 19 hat auf dem Gebiet des Zivilprozeßrechts zum Zwecke einer solchen Neuorientierung den Prozeßzweck herangezogen, den er im "Schutz materieller Rechte im Rahmen der Rechtsfriedenssicherung" sieht (52 f.). Weiter folgert er, daß der Staat "durch seine Rechtspflegeorgane materielle Rechte nur" schützt, "soweit anderenfalls der Rechtsfriede gefährdet würde" (134). Seiner Ansicht nach "formuliert" das Gesetz "in besonderen Tatbeständen abstrakte Fallgestaltungen, die [...] den staatlichen Schutz für die Rechtslage rechtfertigen." Die Prozeßvoraussetzungen seien danach "vertypte Fälle der Rechtsschutzwürdigkeit" (135). Diesen Ansatz hat Volk aufgegriffen: 20 "Bezogen auf den Prozeßzweck sind die Prozeßvoraussetzungen typisierte Voraussetzungen der Sicherung des Rechtsfriedens. Anders gewendet: Bei ihrem Fehlen besteht von Rechts wegen kein Anlaß zur Bewährung der Strafrechtsordnung." Er will aber nicht den Begriff Prozeßvoraussetzung aus dem Begriff des Rechtsfriedens "herleiten", vielmehr dient ihm seine Definition der "teleologischen Kontrolle" (204). Dabei sieht er selber die Gefahr, daß auch seine Definition nicht dazu dienen kann, die Prozeßvoraussetzungen klar und deutlich von anderen Normgruppen sowohl des materiellen als auch des formellen Strafrechts zu trennen; der Prozeßzweck der Sicherung des Rechtsfriedens beziehe sich nämlich auf alle Normen des Verfahrensrechts und stelle zudem die Brücke zwischen den beiden Rechtsmaterien dar (205).
Genau an diesem Punkt setzt auch die Kritik an Volks Definition der Prozeßvoraussetzungen an. 21 So wird ausgeführt, daß der Zweck der Rechtsfriedenssicherung nicht nur für das formelle, sondern auch für das materielle
19
Rimmelspacher, Zur Prüfung von Amts wegen im Zivilprozeß. Volk, Prozeßvoraussetzungen, 204 f. 21 So Alberts , 127; Schäfer in Löwe/Rosenberg, Einl. Kap. 11 Rn. 12; Rieß in Löwe/Rosenberg, § 206a Rn. 25; ders., JR 1985, 47; Paeffgen in SK-StPO, Anhang zu § 206a Rn. 2; Zielinski, H. Kaufmann-GS, 877 ff; M.-K. Meyer, Zur Rechtsnatur des Strafantrags, 35 ff.; vgl. auch Scheffler, Die überlange Dauer von Strafverfahren, 156 f., der beide Definitionen kritisiert; Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 367 f. und Hermann, ZStW 95 (1983), 130; C. Roxi η, Strafverfahrensrecht, § 21 Rn. 1 findet den Ansatz jedoch "interessant"; Sax in KMR, Einl. EX Vor Rn. 1 findet ihn "beachtlich". 20
I. Vorliegen eines einfachgesetzlichen Verfahrenshindernisses
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Strafrecht gelte; somit könne aus dem Sinn einer Norm als Instrumentarium der Sicherung des Rechtsfriedens nicht darauf geschlossen werden, ob sie materiellrechtlicher oder formellrechtlicher Natur sei. 22 Dieser Vorwurf ist insofern verständlich, als es den meisten Autoren gerade darum geht, bestimmte Umstände entweder als Prozeßvoraussetzungen oder als materiellrechtliche Bestrafungsvoraussetzungen zu qualifizieren. Für sie ist daher nur eine Definition oder Erläuterung des Begriffs Prozeßvoraussetzung von Nutzen, die diese Unterscheidung zwischen materiellem und formellem Recht eindeutig und klar zu leisten vermag. Darum aber geht es Volk gar nicht in seiner Untersuchung. Schließlich fuhrt es selber aus, wie oben am Anfang dieses Abschnitts dargelegt wurde, daß der von ihm gefundene Begriff nur der "teleologischen Kontrolle" dient. Er soll der "kriminalpolitische Generalnenner", "Oberbegriff' und "Direktive" sein (219). Nach ihm sind die Prozeßvoraussetzungen eben gerade nicht eindeutig vom materiellen Recht und vom übrigen formellen Recht zu trennen (218). Insofern kann die Kritik Volks Thesen nicht treffen, denn was an ihnen bemängelt wird, will Volk auch nicht erreichen. Seine Intention ist es, den Hintergrund für die Erscheinungsform Prozeßvoraussetzung zu klären, nicht eine genaue Definition aufzustellen, schließlich vertritt er die Position, daß eine genaue Begriffsbestimmung wegen der Nähe zu beiden Rechtsgebieten nicht funktionieren kann. Man könnte nun schlußfolgern, daß es also bisher keine Definition gibt, mit deren Hilfe man klar und deutlich bestimmte Normen der Gruppe Prozeßvoraussetzungen zuordnen könnte - natürlich in klarer Abgrenzung zu materiellrechtlichen Bestrafungsvoraussetzungen einerseits und sonstigen verfahrensleitenden Bestimmungen des Prozeßrechts andererseits. Resignativ bliebe dann festzuhalten, daß nur Einigkeit darüber besteht, daß es sich bei den Prozeßvoraussetzungen "um Normen handelt, die im Falle ihres NichtVorliegens das weitere Prozedieren mit dem Ziel eines Sachurteils ausschließen".23
Doch läßt eine solche Sichtweise die Ausführungen, die Volk zur Stützung seiner These gemacht hat, außer acht. In ihnen nämlich finden sich weiterführende Aspekte, die für die weitere Untersuchung der Prozeßvoraussetzungen noch von Bedeutung sein können. Volk macht nämlich auf Punkte aufmerksam, in denen sich seine Ansicht teilweise von früheren Positionen der anderen Definition unterscheidet.
22 23
Μ -Κ. Meyer, 36 f.; Zielinski, 878; Alberts, 127. Alberts, 127.
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2. Kap.: F o l g e n g e n aus der fehlenden Erreichbarkeit des Verfahrensziels
Dabei beziehen sich seine Ausführungen wiederum auf Niesen Für diesen bildet den Schwerpunkt des Prozesses das Sachurteil, "zu dem alle Handlungen der Prozeßbeteiligten in Beziehung stehen" und durch das "alle prozessualen Erscheinungen ihren Sinn" bekommen (39). Das Sachurteil ist das "eigentliche Ziel des Prozesses", so daß "von einem vollgültigen Prozeß [...] nur dann die Rede sein kann, wenn er sein [...] Ziel, die Verwirklichung des materiellen Rechts vermöge des Sachurteil erreicht" (40 f.). Das Prozeßurteil hat demnach entgegen dem Sachurteil nur eine "negative materielle Funktion", da insoweit das materielle Recht nicht mehr verwirklicht werden kann (41). Die "Entstörung" des durch die Straftat beeinträchtigten Rechtsfriedens kann nach Niese allein durch das strafende Urteil, also das Sachurteil, erreicht werden (45 Fn. 23). Verwirklicht werden kann das materielle Recht also allein durch ein Sachurteil, ist somit von diesem abhängig - eine These, die in der Schlußfolgerung kulminiert, "daß m. a. W. die gesamte Entwicklung, die das materielle Recht bei seinem Durchgang durch den prqzessualen Raum durchläuft, hinfallig wird und ohne Auswirkung im materiellen Raum bleibt, wenn es nicht zum Sachurteil kommt" (45). Mit einem Prozeßurteil kann also nach Niese das Ziel des Strafverfahrens nicht erreicht werden. Für ihn gibt es nur ein einziges Ziel, die verurteilende Erkenntnis. Liegt ein Verfahrenshindernis vor und wird daher das Strafverfahren eingestellt, hat das nach ihm zur Folge, daß das "gestörte" Recht "durch das Prozeßurteil ungeläutert im ursprünglichen Zustand dorthin (gemeint ist der "materielle Raum", d. Verf.) zurückkehrt" (46). Somit läßt sich auch die eingangs dargestellte Definition der herrschenden Ansicht dahin modifizieren, daß die Prozeßvoraussetzungen Zulässigkeitsbedingungen für das Sachurteil (statt des Verfahrens) sind. Volk 2 5 hält den Ausführungen Nieses entgegen, nicht nur ein bestrafendes Urteil, auch der Freispruch führe dazu, daß der Rechtsfrieden durch "Entstörung" gesichert werde (212). Es stimmt zwar, daß Niese ausdrücklich nur das strafende Sachurteil als Erreichung des Prozeßzieles erwähnt. Das liegt aber daran, daß er stillschweigend von Prozessen ausgeht, bei denen feststeht, daß eine Straftat begangen worden ist, und der Angeklagte auch der Täter ist. Dabei handelt es sich um eine verkürzte Sichtweise, wie man sie auch oben bei der Diskussion um den Zweck des Strafverfahrens bei einigen Zweckbestimmungen antreffen konnte. Daraus aber zu folgern, für Niese stelle ein Freispruch keine Verwirklichung des Prozeßzieles dar, erscheint als zu weit gegriffen. Zwar erwähnt er den Freispruch nicht, andererseits aber spricht er auch nur dem Prozeßurteil die "negative materielle Funktion" ausdrücklich
24 25
Niese, Prozeßhandlungen, 39 ff. Volk, Prozeßvoraussetzungen, 211 tf.
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zu. Aus seinen Ausführungen läßt sich nur der Schluß ableiten, daß er die Möglichkeit eines Freispruchs nicht beachtet hat. In seiner Gegenüberstellung von Prozeßurteil und strafendem Sachurteil geht es ihm vor allen Dingen um die Konstellationen, in denen fehlende Prozeßvoraussetzungen die ansonsten sicher zu erwartende Verurteilung des Straftäters verhindern. Sieht man seine Ausführungen vor diesem Hintergrund, so erscheint es nicht mehr verwunderlich, daß er sich zu dem Problem des Freispruchs nicht mehr äußert. Zudem liegt es nach den obigen Zitaten eher nahe, daß für Niese jedwedes Sachurteil seine "Richtigkeit" unterstellt - zur "Entstörung" beiträgt, also nicht allein nur die Verurteilung des Täters. Ihm kommt es in der Hauptsache darauf an zu zeigen, daß das Prozeßurteil nicht die beeinträchtigte Rechtsordnung entstört. In diesem Punkt jedoch ist Volk zuzustimmen. Unter Hinweis auf die anerkannten Prozeßvoraussetzungen Verjährung, entgegenstehende Rechtskraft und anderweitige Rechtshängigkeit, macht er deutlich, daß auch die Einstellung wegen fehlender Prozeß Voraussetzung dem Rechtsfrieden dient (213). An anderer Stelle führt er weiter aus, die Prozeßhindernisse dürften nicht als Normen angesehen werden, die die Fortsetzung des Strafverfahrens "verbieten", daß also ein "Verzicht auf die Entscheidung eines Konfliktes" vorliege. Vielmehr sei "die Feststellung, daß eine Prozeßvoraussetzung fehlt," die Entscheidung dieses Konflikts (217). Das der bisherigen Lehre Entgegengesetzte ist demnach die Erkenntnis, daß das Ziel des Strafverfahrens nicht nur dadurch erreicht werden kann, daß der Beschuldigte verurteilt oder freigesprochen wird, sondern daß auch die Einstellung des Strafverfahrens etwa wegen Verjährung oder entgegenstehender Rechtskraft der Erreichung des Prozeßzweckes dienen kann. Denn wenn man den Sinn des Instituts der Verjährung darin sieht, daß nach dem Ablauf einer gewissen Zeit davon ausgegangen werden kann, daß eine Störung der Rechtsfriedens nicht mehr vorliegt, ja daß sogar ein Verfahren zu diesem späten Zeitpunkt eher den Rechtsfrieden zu stören als ihn zu sichern geeignet ist 2 6 , dann wird hinreichend deutlich, daß hier die Einstellung des Strafverfahrens der Sicherung des Rechtsfriedens dient. Die Einstellung wegen Bestehens eines Verfahrenshindernisses hindert mithin keineswegs die Durchsetzung der Rechtsordnung, das "gestörte Recht" kehrt nicht "ungeläutert" aus dem Prozeß zurück. Insofern ist es verfehlt, von einer "negativen materiellen Funktion" des Prozeßurteils zu sprechen. Diese Wortwahl offenbart eine Sichtweise, nach der das Prozeßurteil ein zweitklassiges Urteil ist, nach der nur das Sachurteil "wirkliches" Urteil ist. Sie verkennt die Bedeutung des einstellenden Urteils, und sie übersieht die Möglichkeit, daß die Beteiligten eines Strafverfahrens mitunter vielleicht gerade deswegen ein
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Vgl. Rudolphi in SK-StGB, Vor § 78 Rn. 10
6 Limbach
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Verfahren anstreben, um rechtkräftig und für die Rechtsgemeinschaft offensichtlich festzustellen, daß der Rechtsfrieden nicht wiederhergestellt werden muß, zum Beispiel weil eine Störung gar nicht mehr vorliegt.
Es ist folglich nicht das einzige Resultat von Volks Ansicht, daß sie ebenso wenig trennscharf ist wie die überwiegende Meinung. Vielmehr zeigt sie einige Aspekte auf, die für die genauere Auseinandersetzung mit Prozeßvoraussetzungen von nicht unerheblicher Bedeutung sein können, indem sie die Klassifizierung eines Umstandes als Prozeßvoraussetzung unterstützen können. Zudem ist aus Volks Untersuchung noch ein weiteres Fazit zu ziehen: Daß es nämlich eine Illusion ist, zu glauben, man könne die Prozeßvoraussetzungen als Normgruppe klar und deutlich gegen materiellrechtliche Bestrafüngsvoraussetzungen und verfahrensleitende Vorschriften abgrenzen. 27 Denn wie es einige Prozeßvoraussetzungen gibt, die jener Gruppe nahestehen, so gibt es auch welche, die schwer von dieser zu trennen sind. Zudem sind unter dem Begriff Prozeßvoraussetzungen so unterschiedliche Regelungen zusammengefaßt, die - abgesehen von der einheitlichen Rechtsfolge - untereinander kaum übereinstimmende Merkmale aufweisen. c) Verbindung beider Definitionen Beide Lösungsansätze einer Definition beziehungsweise näheren Erläuterung des Begriffes Prozeßvoraussetzung können für sich allein betrachtet nicht überzeugen. Dafür mangelt ihnen die Klarheit, die für Definitionen gemeinhin gefordert wird. Eine deutliche Begriffsbestimmung können sie auch gar nicht leisten. Zuerst einmal ist eine klare Abgrenzung dieser Normgruppe zu den materiellrechtlichen Bestrafüngsvoraussetzungen und den verfahrensleitenden Vorschriften nicht eindeutig möglich, zum anderen handelt es sich um eine heterogene Gruppe von Regelungen. Dennoch kommt man nicht herum, Kriterien aufzustellen, die es wenigstens ansatzweise erlauben, einen bestimmten Tatbestand daraufhin zu untersuchen, ob er als Prozeßvoraussetzung gewertet werden kann, mit der Folge, daß das Verfahren bei seinem Fehlen einzustellen ist. Nach den zu den beiden bisherigen Ansichten geäußerten Zweifeln läge es an sich nahe, eine neue Begriffsdefinition zu entwickeln. Doch hat nicht nur Volks Untersuchung gezeigt, daß ein solcher Versuch nur äußerst begrenzt möglich ist, es ist zudem 27 Vgl. zum Beispiel den Streit um die Natur des Strafantragserfordernisses bei M.-K. Meyer und Zielinski.
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aus dem eben gesagten auch gar nicht ratsam. Eher hat der Versuch, die zu beiden Ansichten entwickelten Kriterien zu verbinden, Aussicht auf Erfolg. Damit ist nun nicht die Intention verbunden, eine sogenannte "vermittelnde Ansicht" zu begründen. Diese liefe Gefahr, nicht nur die Vorteile beider Ansätze zu bündeln, sondern auch die Nachteile. Man droht auf diesem Weg zu einer gänzlich allgemein gefaßten, unscharfen Definition zu gelangen. Vielmehr sollten beide Ansätze getrennt angewandt werden. Volk legt dies nahe, wenn er von seiner Definition sagt, sie diene einer "teleologischen Kontrolle". 2 8 Das hieße also, daß zuerst die Definition der herrschenden Ansicht zugrunde gelegt und das gefundene Ergebnis einer Kontrolle mit Hilfe von Volks Ansatz unterzogen werden müßte. Aber auch auf diesem Weg besteht keine Sicherheit, ein überzeugendes Ergebnis zu erlangen. Denn die Unsicherheiten, die Unschärfen der Definitionen bestehen weiter. Daher empfiehlt es sich, noch ein drittes Element in die Prüfung miteinzubeziehen: Die Vergleichbarkeit mit anderen, anerkannten Prozeßvoraussetzungen. Erst dieses dritte Element eröffnet ein ausreichendes Gegengewicht zur Unschärfe der beiden Definitionsansätze. Denn es bietet eine Brücke von der allgemeinen Definition zu einem konkreten Fall, so daß auf diese Weise die Prüfung eine gewisse "Stütze" erfahrt. 29 Anhand des konkreten Vergleichs können zudem die allgemein gehaltenen Bestandteile der Definitionen näher konkretisiert werden. 30 In dieser Abstraktheit vermag diese Vorgehensweise vielleicht noch nicht zu überzeugen. Die Diskussion anhand des in dieser Untersuchung aufgeworfenen Problems mag dann neben der Klärung der eigentlichen Frage auch der Überpriifüng der Vorgehensweise dienen. Zunächst ist also der Umstand genau zu benennen, für den eine Klassifizierung als Verfahrenshindernis in Frage steht. Sodann soll eine vergleichbare Prozeßvoraussetzung gesucht werden. Dabei sollen deren beider Gemeinsamkeiten sowie, was für die Klärung unter Umständen noch wichtiger ist, beider Unterschiede herausgearbeitet werden. Im folgenden Schritt werden dann die von der herrschenden Ansicht herausgearbeiteten Kriterien in die Untersuchung eingeführt. Ihrer Unschärfe wird aber nach dieser Vorgehensweise dadurch begegnet, daß die Anwendung auf den konkreten Umstand vor dem 28 29
66 ff.
Volk, Prozeßvoraussetzungen, 204. Vgl. zur Methodik dieser Vorgehensweise Zippe lins, Juristische Meüiodenlehre,
30 Vgl. zu dieser Vorgehensweise Rieß, JR 1985, 47: "Die Annahme eines solchen Verfahrenshindernisses würde jedenfalls nahegelegt werden, wenn die fraglichen Umstände so viel Verwandschaft zu den anerkannten, "klassischen" Verfahrenshindernissen haben, daß sich in Voraussetzungen und Folgen eine gleichartige Behandlung aufdrängt."
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Hintergrund einer anerkannten Prozeßvoraussetzung erfolgt. So können die einzelnen Merkmale direkt im Kontext konkretisiert werden. Genauso wird dann vorgegangen, wenn im Anschluß zur "teleologischen Kontrolle" Volks Ansatz in die Untersuchung eingeführt wird. Der Vergleich mit einer anerkannten Prozeßvoraussetzung soll demnach dazu dienen, den Boden unter den Füßen nicht zu verlieren, sich nicht in der Abstraktheit einzelner Begriffe zu verirren, sondern eine klare und insbesondere fundierte Lösung zu finden.
2. Der drohende Tod als einfachgesetzliches Verfahrenshindernis a) "Der drohende Tod" Genau formuliert lautet der Umstand, der auf seine mögliche Eigenschaft als Verfahrenshindernis hin untersucht werden soll: Es steht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest, daß der Beschuldigte das Ende des Strafverfahrens nicht mehr erleben wird. Dem gleichgestellt werden soll die Konstellation, daß der Beschuldigte das Ende des Verfahrens zwar "erleben" wird, sich aber in einem dem Tod unmittelbar vorgelagerten Zustand der dauerhaften Verhandlungsunfahigkeit befinden wird. Zur Feststellung dieses Umstandes sind zwei Prognosen notwendig: Zum einen, wie lange wird das Strafverfahren dauern, zum anderen, wie entwickelt sich der Gesundheitszustand des Angeklagten?31 Die erste Prognose muß das zur Entscheidung über die Einstellung berufene Organ treffen, das heißt im Vorverfahren die Staatsanwaltschaft, im Zwischen- und im Hauptverfahren das Gericht. Auch die zweite Prognose muß an sich dieses Organ treffen, im Unterschied zur ersten Prognose jedoch ist das Organ bei seiner Entscheidung von Sachverständigen auf dem Gebiet der Medizin abhängig, denn nur diese verfügen über den für eine solche Prognose notwendigen Sachverstand. b) Die Verhandlungsfähigkeit und der Tod des Beschuldigten als Vergleichsmaßstab Aus den verschiedenen Prozeßvoraussetzungen soll nun ein dem "drohenden Tod" vergleichbarer Umstand gefunden werden. Die Lehre hat verschiedene Gruppen innerhalb der Prozeßvoraussetzungen gebildet, die der 31 Vgl. zu diesen Prognosen Paeffgen, NJ 1993, 154 f.; ders. in SK-StPO, § 205 Rn. 7. Auf die mit solchen Prognosen verbundenen Schwierigkeiten soll jedoch nicht an dieser Stelle eingegangen werden, vgl. dazu unten unter c)aa).
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Systematik und der "übersichtlichen Darstellung" dienen. 32 Dem "drohenden Tod" vergleichbar ist dabei die Gruppe "Eigenschaften und Beziehungen der Beteiligten" 33 , denn hier handelt es sich nicht um einen mit dem dem Beschuldigten vorgeworfenen Delikt in Zusammenhang stehenden Umstand, wie etwa der Strafantrag oder die Verjährung, noch stehen hier die Zuständigkeit des Gerichts oder formelle Voraussetzungen des Verfahrens, wie etwa Klageerhebung und Eröffnungsbeschluß, in Frage. Innerhalb dieser Untergruppe der Prozeßvoraussetzungen bietet sich für einen Vergleich zuerst einmal die Verhandlungsfahigkeit an, worauf auch schon in der auf den Beschluß des Berliner Verfassungsgerichtshofs folgenden Literatur hingewiesen wurde. 34 Die Verhandlungsfahigkeit ist eine heute allgemein anerkannte Prozeßvoraussetzung, bei deren dauerhaftem Fehlen das Verfahren wie bei den anderen Prozeßvoraussetzungen beziehungsweise -hindernissen einzustellen ist. 35 Verhandlungsfahigkeit bedeutet dabei, "daß der Beschuldigte in der Lage sein muß, physisch und psychisch den Verfahrenshandlungen zu folgen, die Bedeutung aller Umstände für den ihm gemachten Vorwurf zu erkennen, sich selbst im Verfahren zu äußern, seine Verfahrensbefügnisse auszuüben und seine Verfahrenspflichten zu erfüllen." 36 Aufgrund der bei Eintritt dauernder Verhandlungsunfahigkeit automatischen Rechtsfolge der Einstellung des Verfah-
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Vgl. zum Beispiel Eb. Schmidt, LK I, Rn. 122 ff. Noch weiter gehen Sauer, Allgemeine Prozeßrechtslehre, § 13, Baumann, Grundbegriffe, 109 ff., und Peters, Strafprozeßrecht, § 35, die die Prozeßvoraussetzungen in Sachgestaltungs-, Verfolgungsund Verfahrensvoraussetzungen aufteilen. Dies ist jedoch "für die praktische Rechtshandhabung oline wesentliche Bedeutung" (Schäfer in Löwe/Rosenberg, Einl. Kap. 11 Rn. 15). Eb. Schmidt, LK I, Rn. 122 Fn. 227 führt dazu aus: "Die Einteilung der Prozeßvoraussetzungen als wissenschaftliches Problem auffassen, lohnt nicht. Es handelt sich nur um die Frage einer möglichst übersichtlichen Darstellung." Ablehnend auch Sax in KMR, Einl. IX Rn. 2. 33 Unterteilung aus Schäfer in Löwe/Rosenberg, Einl. Kap. 12; dazu zählt er das Lebensalter des Beschuldigten, die Verhandlungsföhigkeit, den Tod des Angeklagten, die Abwesenheit des Angeklagten u.a. (Rn. 99 ff.) 34 So zum Beispiel von Paeffgen, NJ 1993, 157; vgl. auch Weiler, GA 1994, 561 (575). 35 BGH bei Daliinger, MDR 1958, 141 (142); MDR 1968, 552; NJW 1970, 1981; 1975, 887; Schäfer in Löwe/Rosenberg, Einl. Kap. 12 Rn. 101; Rieß in Löwe/Rosenberg, § 205 Rn. 12; Pfeiffer in KK, Einl. Rn. 135; Loos in AK-StPO, § 206a Anhang Rn. 7; Paeffgen in SK-StPO, Anhang zu § 206a Rn. 6; Baxhenhch, Verhandlungsfahigkeit, 86 jeweils m. w. "N. Letzterer fuhrt auch die wenigen abweichenden Autoren, wie zum Beispiel die weiter oben schon erwähnten Baumann und Peters, an. Darauf soll hier jedoch nicht näher eingegangen werden, da die Beurteilung als Prozeßvoraussetzung heute nahezu einhellig ist. 36 BGH StV 1995, 390 (391); Paeffgen in SK-StPO, § 205 Rn. 6; Rieß in Löwe/Rosenberg, § 205 Rn. 14 m.w.N.
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rens besteht zudem Einigkeit darüber, daß nur "schwere geistige oder körperliche Mängel" zu einer Bejahung der Verhandlungsunfähigkeit führen können. 37 Ihre Begründung findet die Annahme der Verhandlungsfahigkeit als Prozeßvoraussetzung darin, daß sich ein Verhandlungsunfahiger nicht ausreichend verteidigen kann; nicht nur finde er kein rechtliches Gehör, vielmehr würden auch "mögliche Fehlerquellen vervielfacht." 38 Der Unterschied zum drohenden Tod fällt sofort ins Auge. Während der Beschuldigte sich in verhandlungsunfähigem Zustand nicht mehr hinreichend zu verteidigen in der Lage ist, kann er dies im anderen Fall sehr wohl. Anders ist es nur, wenn der Tod so unmittelbar bevorsteht, die Krankheit also so weit fortgeschritten ist, daß eine Verhandlungsunfähigkeit zu bejahen ist. In diesem Fall braucht man sich aber zur Annahme eines Verfahrenshindernisses sowieso nicht mehr auf den drohenden Tod zu berufen. Es besteht jedoch auch eine Gemeinsamkeit. In beiden Fällen ist nämlich das zur Einstellung befugte Organ - Staatsanwaltschaft oder Gericht - auf die Prognose eines Sachverständigen angewiesen. Bei der Verhandlungsunfähigkeit muß untersucht werden, ob sich der Zustand des Beschuldigten in Zukunft wieder bessern wird, dann nämlich kann nur eine vorläufige Einstellung gemäß § 205 StPO ausgesprochen werden, oder ob der Zustand des Beschuldigten gleich bleiben oder sich noch weiter verschlechtern wird. Im Unterschied zur Verhandlungsfahigkeit bedarf es beim drohenden Tod jedoch noch einer weiteren Prognose bezüglich der Dauer des Verfahrens. Eine andere Gemeinsamkeit besteht darin, daß beide Umstände weder vom Beschuldigten selber noch vom Gericht oder der Staatsanwaltschaft beeinflußt werden können. Diese Eigentümlichkeit unterscheidet beide Umstände von anderen Verfahrenshindernissen wie der Abwesenheit des Angeklagten oder dem fehlenden Eröffnungsbeschluß. Niemand hat Einfluß auf die schweren körperlichen und psychischen Mängel des Beschuldigten sowie dessen drohenden Tod. Sie sind gleichsam "Naturgewalten", die sich unabhängig vom Verfahren auf dieses auswirken. Aber nicht nur die Verhandlungsfahigkeit ist dem drohenden Tod vergleichbar, sondern ebenso der Tod des Beschuldigten. Zwar ist es umstritten, 37 BGH NJW 1970, 1981; OLG Karlsruhe NJW 1978, 601; Kleinknecht/MeyerGoßner, Einl. Rn. 97; Rieß in Löwe/Rosenberg, § 205 Rn. 14. Zudem wird noch von mehreren Autoren von der allgemeinen Verhandlungsfähigkeit eine Hauptverhandlungsfähigkeit unterschieden, da die Hauptverhandlung besondere Anforderungen an den Beschuldigten stelle (Rieß in Löwe/Rosenberg, § 205 Rn. 15 m.w.N.). 38 Schäfer in Löwe/Rosenberg, Einl. Kap. 12 Rn. 101.
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ob der Tod des Beschuldigten ein Verfahrenshindernis mit der Rechtsfolge der Einstellung durch das hierfür zuständige Organ ist, oder ob der Tod das Verfahren per se beendet, das heißt, ohne daß es eines Einstellungsbeschlusses bedarf. 39 Dieser Streit um die formale Einordnung des Todes ist jedoch in diesem Zusammenhang insofern ohne Bedeutung, als es einhellige Ansicht ist, daß der Tod des Beschuldigten die Möglichkeit eines Weiterprozessierens ausschließt; zumal es einerseits bei diesem Streit um die Frage geht, wer die Kosten für die notwendige Verteidigung des Beschuldigten trägt, andererseits die Form der Verfahrensbeendigung in Bezug auf mögliche Rechtsmittel nur dann von Bedeutung ist, wenn Zweifel bezüglich des Todes des Beschuldigten bestehen.40 Der Sinn der verfahrensbeendenden Wirkung des Todes ist offensichtlich: "Mit dem Tod des Angeklagten" ist "das Prozeßsubkjekt weggefallen [...] und eine Fortführung in der Sache" kann "keinen Sinn haben".41 Denn wenn es für die Durchführung eines Strafverfahrens - mit Ausnahme von Rehabilitierungsverfahren - überhaupt eine Grundvoraussetzung gibt, dann ist dies ein möglicher Straftäter, mithin der Beschuldigte. Ohne Beschuldigten kann ein Strafverfahren sein Ziel niemals erreichen, unabhängig davon, ob man die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs oder den Rechtsfrieden als Ziel des Verfahrens ansieht. Der Unterschied zum drohenden Tod ist auch hier eindeutig: Beim Tod des Beschuldigten ist der fragliche Umstand schon eingetreten, im anderen Fall wird er "nur" erwartet. Die Gemeinsamkeit liegt ebenso wie bei der Verhandlungsfahigkeit darin, daß es sich bei beiden um von niemandem beeinflußbare Umstände handelt. Weiterhin zeigt sich, daß beide hier als Vergleichsmaßstäbe herangezogenen Umstände nicht nur solche in der Person des Beschuldigten liegende sind, sondern ebenso wie der drohende Tod dessen körperlichen Zustand betreffen, ihm also insofern tatsächlich vergleichbar sind. 39 Für ein Verfahrenshindernis: Loos in AK-StPO, § 206a Anhang Rn. 9; Rieß in Löwe/Rosenberg, § 206a Rn. 55; Paeffgen in SK-StPO, Anhang zu § 206a Rn. 7; Volk, Prozeßvoraussetzungen, 152 Fn. 248. Gegen ein Verfahrenshindernis: BGHSt 34, 184 ff; Treier in KK, § 206a Rn. 9; Schäfer in Löwe/Rosenberg, Einl. Kap. 12 Rn. 105b. Alle jeweils mit weiterem Nachweis. Als Argument gegen die Beurteilung des Todes des Beschuldigten als Verfahrenshindernis wird angeführt, damit entfalle "eine unerläßliche Voraussetzung für. die Durchführung des Verfahrens" (BGHSt 34, 184 (185)). Für eine Klassifizierung wird eingewandt, der Tod sei "kein nachhaltigeres, (diesen konkreten) Prozeß mit anderer Qualität ausschließendes Kriterium als etwa Strafunmündigkeit. Auch jedem anderen wesentlichen Definitionsmerkmal des Prozeßhindemisses genügt der Fall Tod'" (Paeffgen in SK-StPO, Anhang zu § 206a Rn. 7). 40 Vgl. zu diesen beiden Themen die Ausführungen von Schäfer in Löwe/Rosenberg, Einl. Kap. 12 Rn. 105b f. und BGHSt 34, 184 ff. 41 BGHSt 34, 184(186).
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c) Der drohende Tod als negative Zulässigkeitsbedingung des Verfahrens im ganzen Im folgenden Schritt ist nun die Frage zu untersuchen, ob der Umstand des drohenden Todes die von der herrschenden Ansicht aufgestellten Kriterien für ein Verfahrenshindernis erfüllt. Die dabei gebräuchliche Formel definiert Prozeßvoraussetzungen als Umstände, "die nach dem ausdrücklich erklärten oder aus dem Zusammenhang ersichtlichen Willen des Gesetzes für das Strafverfahren so schwer wiegen, daß von ihrem Vorhandensein die Zulässigkeit des Verfahrens im ganzen abhängig gemacht werden muß." 42 aa) "Umstand" Erster Prüfungspunkt in diesem Zusammenhang ist der "Umstand". Dieses Merkmal soll, wie unter l.a. kurz dargelegt wurde, gewährleisten, daß es sich hierbei um Tatsachen handelt. Der Bundesgerichtshof führt dazu aus, daß ein Verfahrenshindernis nur da in Betracht kommt, "wo in sinnvoller Weise an eine bestimmte, für das Verfahren im ganzen uneingeschränkt rechtserhebliche Tatsache angeknüpft werden kann". 43 In einem späteren Urteil präzisiert er seine Ansicht dahingehend, "diese (Tatsachen, d. Verf.) mögen im Einzelfall schwierig zu ermitteln sein, stehen aber - wenn sie als gegeben erachtet werden müssen - der Fortführung des Verfahrens entgegen, ohne daß eine wertende Betrachtung zulässig oder gar erforderlich wäre. [...] Die Konturen der Rechtsfigur des Verfahrenshindernisses gingen verloren, wenn man allein an solche Wertungsergebnisse anknüpfen wollte". 44 Der Bundesgerichtshof will also Konstellationen aus dem Bereich der Verfahrenshindernisse von vornherein dann ausschließen, wenn diese erst durch eine Wertung festgestellt
42
BGHSt 15, 287 (290); 32, 345 (350); 33, 183 (186); 36, 294 (295). BGHSt 24, 239 (240). 44 BGHSt 32, 245 (351 f.); vgl. auch Seelmann, ZStW 95, 831. Die Problematik der Abgrenzung der Verfahrenshindernisse von Umständen, für deren Prüfung eine Wertung im Sinne des Bundesgerichtshofs notwendig wäre, findet ihre Ursache in der Frage, was für Rechtsfolgen schwerwiegende Rechtsstaatsverstöße nach sich ziehen sollen. Bei den erörterten Fallkonstellationen handelt es sich zum Beispiel um die Tatprovokation durch einen polizeilichen Lockspitzel oder die überlange Dauer von Strafverfahren. Eine der dabei erörterten Lösungsvorschläge ist die Annahme eines Verfahrenshindernisses in derartigen Konstellationen. Vgl. zu dieser Problematik Scheffler, Die überlange Dauer von Strafverfahren; I. Roxin, Die Rechtsfolgen schwerwiegender Rechtsstaatsverstöße; Rieß, Verfahrenshindernisse von Verfassungs wegen?, JR 1985, 45; ders. in Löwe/Rosenberg, § 206a Rn. 56 ff; Hillenkamp, Verfahrenshindernisse von Verfassungs wegen, in NJW 1989, 2841; Volk, Prozeßvoraussetzungen, 227 ff. 43
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werden können. Derartige problematische Konstellationen sollen nicht automatisch die Rechtsfolge Einstellung des Verfahrens nach sich ziehen, sondern vielmehr auf andere Art und Weise einer Lösung zugeführt werden. Dieser Versuch einer Eingrenzung ist in der Literatur nicht gänzlich unwidersprochen geblieben. So wird gegen den Bundesgerichtshof angeführt, auch bei anerkannten Prozeßverfahrenshindernissen wie der dauernden Verhandlungsunfahigkeit und der entgegenstehenden Rechtskraft seien Wertungen von Nöten, um sie auf ihr Vorliegen hin zu prüfen. 45 Positiv beurteilt wird aber die Intention, die hinter der Argumentation des Bundesgerichtshofs steht: Volk führt dazu aus, "Prozeßvoraussetzungen sollten in der Tat möglichst klare, einfache Konturen aufweisen". 46 Rieß hat sich dem angeschlossen; nach ihm sind Verfahrenshindernisse "einigermaßen exakt beschreibbare und beschriebene Ereignisse, die mit der (unterschiedlich begründeten) Aussage verbunden sind, daß eine Sachentscheidung ausgeschlossen ist. Hierauf genau ist ihre Feststellung und ihre Konsequenz zugeschnitten"47, was damit begründet wird, "daß Prozeßhindernisse vom jeweiligen Sachstand und von wechselnden Prozeßlagen inhaltlich unabhängig sind." 48 Im Ergebnis bestehen zwischen beiden Ansichten wenig Unterschiede. Was der Bundesgerichtshof - verkürzt auf den Begriff "Wertungen" - eigentlich sagen will, deckt sich mit dem von Rieß und Volk näher Ausgeführten. Fraglich ist nun, ob der Umstand "drohender Tod" die hier aufgestellten Kriterien erfüllt. Bei der Feststellung, daß der Beschuldigte das Strafverfahren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht erleben wird, geht es an sich um eine Tatsache. Da aber sowohl eine Prognose über den Krankheitsverlauf als auch eine über die Dauer des Verfahrens notwendig ist, könnte man die Ansicht vetreten, daß das zur Entscheidung berufene Organ in gewisser Weise auch eine Wertung vornehmen muß. Eine solche Beurteilung bezüglich der ersten Prognose unternimmt das Gericht aber auch bei der Beurteilung der Verhandlungsfahigkeit. Auch hierbei kann es problematisch sein, wie die psychische oder physische Situation des Beschuldigten zu beurteilen ist. Doch kommt deswegen niemand, wie oben im Zusammenhang mit der Kritik am Bundesgerichtshof dargestellt wurde, auf die Idee, die Verhandlungsfahigkeit 45
Rieß, JR 1985, 47; Volk, StV 1986, 36; Scheffler, 164. Schäfer in Löwe/Rosenberg, Einl. Kap. 11 Rn. 9 hat daher einschränkend formuliert, die "Figur des Verfahrenshindernisses würde aber alle Konturen verlieren, wenn sie an Umstände anknüpfte, die lediglich Gegenstand wertender Beurteilung mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen sind." 46 Volk, Prozeßvoraussetzungen, 215; vgl. auch ders., StV 1986, 36 f. 47 Rieß in JR 1985, 48. 48 Volk, in StV 1986, 37.
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aus der Gruppe der Prozeßvoraussetzungen auszuklammern. Und dies ist deswegen der Fall, weil die Verhandlungsunfähigkeit, ist sie einmal festgestellt worden, ein klar umrissener Umstand ist, wie ihn der Bundesgerichtshof, Volk und Rieß für erforderlich halten. Zumal die medizinische Diagnosefähigkeit durch den Fortschritt der letzten Jahrzehnte einen solch hohen Stand erreicht hat, daß Prognosen bezüglich Krankheitsverläufen heute mit Anspruch auf Seriosität abgegeben werden können. In schwierigen und zweifelhaften Fällen muß das Gericht, um Unsicherheiten zu vermeiden, auf eine genügende Anzahl Spezialisten zurückgreifen. 49 Insofern kann die Prognose über den Krankheitsverlauf keinen entscheidenden Bedenken begegnen. Wenn durch Gutachten die Fragen der psychischen beziehungsweise physischen Mängel des Beschuldigten geklärt sind, muß das Gericht gerade keine besondere Wertung, die unter die Ausschlußkriterien des Bundesgerichtshofs oder der Literatur fallen würde, vornehmen. Umstritten ist aber die andere Prognose, bei der das Gericht darüber zu urteilen hat, wie lange das Verfahren dauern wird. Im Zusammenhang mit dem Urteil des Berliner Verfassungsgerichtshofs bezüglich des Honecker-Verfahrens, wird von Meurer und Schoreit die Ansicht vertreten, man könne zwar eine Prognose über die Dauer eines Verfahrens abgeben, diese jedoch nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststellen. 50 Eine solche Vorhersage hänge von vielen Unwägbarkeiten ab, wie dem Umfang der Beweisaufnahme, weiteren sich erst im Verlauf des Verfahrens ergebenden Anträgen der Prozeßparteien oder anderen plötzlichen Wendungen im Prozeß. Stark weist in seiner Kritik auf die Möglichkeit einer Beschleunigung des Verfahrens hin, durch die eine Sachentscheidung vor dem Ableben des Beschuldigten gewährleistet werden könnte. 51 Diese Kritik übergeht jedoch einen nicht unwesentlichen Punkt, nämlich die Frage, wann von einem Ende des Verfahrens ausgegangen werden kann. Das Ende kann man entweder im erstinstanzlichen Urteil sehen oder im Revisionsurteil. In den Ausführungen der drei Autoren wird immer nur auf die Tatsacheninstanz Bezug genommen, was dafür spricht, daß der Abschluß die49
Vgl. zu dieser Problematik Paeffgen, NJ 1993, 155. So hatten zum Beispiel im Honecker-Verfahren bis zur Einstellung durch den Berliner Verfassungsgerichtshof sechs Mediziner mit unterschiedlichen Spezialisierungen Gutachten über den Zustand des Angeklagten erstellt. 50 Meurer, JR 1983, 94; Schoreit, NJW 1993, 884. 51 Stark, JZ 1993, 233. Dieser Gesichtspunkt kann hier aber nicht ausführlich behandelt werden, da er sich auf die konkrete Situtation im Honecker-Verfahren bezog und daher nicht abstrakt behandelt werden kann - im Gegensatz zu der generellen Kritik von Meurer und Schoreit.
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ser Instanz der Punkt sein soll, auf den es bei der Beurteilung des Krankheitszustandes ankommen soll. Dies kann jedoch nicht befriedigen. Es kann nicht entscheidend sein, daß es zu "irgendeinem" Sachurteil kommt, sondern es muß sich um ein rechtskräftiges Urteil handeln. 52 Dieses Ergebnis findet seine Grundlage insbesondere in der hier vertretenen Definition des Ziels des Strafverfahrens, nämlich dem Rechtsfrieden. Neben Wahrheit und Gerechtigkeit als einer Säule ruht diese Zielbestimmung auf der ebenso entscheidenden Säule der Rechtssicherheit, deren praktische Ausprägung die Rechtskraft ist. Ziel des Verfahrens ist demnach nicht nur die richtige Entscheidung, die auch durch ein erstinstanzliches Urteil unter Umständen gewährleistet werden könnte, sondern auch die rechtskräftige, weil Rechtssicherheit gewährleistende Entscheidung. Der Zeitpunkt, auf den sich die Prognose bezüglich des Verfahrensendes beziehen muß, ist mithin das rechtskräftige Urteil, also die letztinstanzliche Sachentscheidung. Bezüglich der Wahrscheinlichkeitsprognose ist der Kritik insoweit Recht zu geben, als es in der Tat in Strafverfahren zu unvorhergesehenen Wendungen kommen kann. Doch das ist ein Risiko, mit dem man auch bei der Verhandlungsunfähigkeit rechnen muß. Auch hier kann es auf einmal zu einer unerwarteten Besserung des Gesundheitszustandes kommen, so daß die rechtskräftige, endgültige Verfahrenseinstellung im Rückblick nicht mehr gerechtfertigt erscheint. Dennoch ist nicht einzusehen, warum dem Gericht nicht zugetraut werden kann, ein an Sicherheit grenzendes Wahrscheinlichkeitsurteil über die Dauer des Verfahrens abzugeben. Anders wäre der Fall nur bei unerfahrenen Richtern. Ansonsten wird man einem Richter, dem Spezialisten in Fragen von Gerichtsverfahren, das gleiche zutrauen könne, wie dem Sachverständigen, dem Spezialisten auf dem Gebiet der Medizin. Ein solches Wahrscheinlichkeitsurteil verbietet sich natürlich dort, wo nach der Beurteilung des Richter der drohende Tod des Beschuldigten und das Ende des Strafv erfahrens in enger zeitlicher Nähe liegen. Das ändert aber nichts daran, daß in den übrigen Fällen aufgrund des Sachverstands und der Erfahrung des Richters eine Prognose über die Dauer des Verfahrens mit an Sicherheit grenzendem Wahrscheinlichkeitsgrad gestellt werden kann. 53 Generell kann ein solches Wahrscheinlichkeitsurteil also durchaus plausibel sein, entscheidend wird aber im52 Vgl. Paeffgen, NJ 1993, 154, der zudem daraufhinweist, daß es keine Rechtspflicht des Angeklagten dahingehend gibt, auf Einlegung von Rechtsmitteln zu verzichten. 53 Paeffgen, NStZ 1993, 531 Fn. 5, fuhrt dazu aus, daß man sich bei einem solchen Prognoseurteil "auf Zeiträume beschränken" darf, "in denen subjektive Prognosegewißheit intersubjektiv vermittelbar ist. Das kann aber nur fur zeitlich enggehaltene Räume gelten, mag die jeweilige Grenzziehung dann, isoliert betrachtet, durchaus etwas Dezisionistisches an sich haben."
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mer der konkrete Einzelfall sein. Hierbei kommt es auf die aktuelle Lage an, in der sich der Prozeß befindet, auf die Dimension der dem Beschuldigten vorgeworfenen Taten, die den Umfang der Beweisaufnahme entscheidend beeinflußt, sowie auf die Erfahrung des Richters. Eine solche, mit hohem Wahrscheinlichkeitsgrad ausgestattete Prognose mag zudem in manchen Fällen einfacher zu treffen sein als eine Prognose über die Verhandlungsfähigkeit. In das Wahrscheinlichkeitsurteil hat das Gericht natürlich auch die Möglichkeiten einer Verfahrensbeschleunigung einzubeziehen. Ein anderes scheint aber noch bemerkenswert an der Kritik bezüglich der doppelten Prognose. Schoreit und Stark erwähnen im Zusammenhang mit der Beschleunigung des Verfahrens die Möglichkeiten des Angeklagten zur Beeinflussung der Verfahrensdauer. 54 Mißverständlich könnten diese Bemerkungen dahingehend ausgelegt werden, daß es der Angeklagte schließlich selber in der Hand habe, das Verfahren zu verkürzen, etwa durch Verzicht auf Beweisanträge, die vielleicht eher der Verschleppung des Prozesses als der Wahrheitsermittlung zu dienen bestimmt sind. Diese Sichtweise mag nicht der Intention der beiden Autoren entsprechen 55, dennoch sollte an dieser Stelle darauf eingegangen werden. Denn es besteht die Gefahr, daß tatsächlich dem Beschuldigten in einem solchen Fall zum Vorwurf gemacht wird, es läge in seiner Hand, das Verfahren zu verkürzen und somit ein Sachurteil noch zu "erleben". Es ist jedoch im grundgesetzlich geprägten Strafjprozeß nicht Aufgabe des Angeklagten, für eine schnelle Sachentscheidung Sorge zu tragen. Das Fehlen einer solchen Zuständigkeit folgt unter anderem zum Beispiel im Umkehrschluß aus § 231a StPO, der eine eng umgrenzte Ausnahme von der Anwesenheitspflicht des Angeklagten normiert, nämlich nur dann, wenn der Angeklagte vorsätzlich und schuldhaft seine Verhandlungsunfahigkeit herbeigeführt hat. Somit könnte eine Einstellung des Verfahrens nicht aus dem Grund abgelehnt werden, daß der Angeklagte eine Verkürzung des Verfahrens herbeiführen könnte. Eine solche Beurteilung liefe auf eine faktische Beschneidung seines Rechts auf Verteidigung sowie des nemo-tenetur-se-ipsum-prodereGrundsatzes hinaus. 56 54
Schovelt, NJW 1993, 884; Stavk, JZ 1993, 233. Schovelt, NJW 1993, 884 führt dazu aus: "Selbstverständlich ist allein vom Angeklagten zu entscheiden, wie er sich verteidigen will. [...] die oft unverständlich lange Dauer von Strafverfahren kann sich als Preis einer freiheitlichen Verfahrensordnung und einer entsprechenden Stellung des Angeklagten ergeben." 56 Der Hinweis auf die dem Beschuldigten zur Verfügung stehenden Möglichkeiten mag sich auch hier wieder durch die Person des Angeklagten erklären und die Enttäuschung darüber, daß der höchste Repräsentant der ehemaligen DDR nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden konnte; was aber nichts daran ändert, daß für Angeklagte in nicht nur strafrechtlich, sondern auch politisch bedeutsamen Strafverfahren 55
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Aus dem bisher Erörterten läßt sich folgendes festhalten. Zur Ermittlung des Umstandes "drohender Tod" sind zwei verschiedene Prognosen vorzunehmen. Jedoch ist eine solche Prognose auch bei der allseits anerkannten Prozeßvoraussetzung Verhandlungsfahigkeit notwendig. Zudem muß eine Einschätzung bezüglich der Dauer eines Verfahrens nicht in der Regel unseriös sein. Im Gegenteil kann sie mit der selben Seriosität wie die Prognose über eine Krankheitsentwicklung getroffen werden. An der Notwendigkeit einer Prognose durch das Gericht kann die Annahme des drohenden Todes als Verfahrenshindernis also nicht scheitern, wie der Vergleich zeigt. Der Umstand, daß der Beschuldigte das gegen ihn gerichtete Strafverfahren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht erleben wird, ist auch ein einigermaßen exakt beschreibbares Ereignis. Es muß nicht Bezug zum Stand der Verhandlung in der Sache genommen werden. Zwar muß insoweit auf den Stand des Prozesses geachtet werden, als es für die Prognose bezüglich der weiteren Dauer desselben notwendig ist, jedoch ist die Entscheidung von der konkreten Prozeßlage zum Zeitpunkt dieser Feststellung gänzlich unabhängig. Sie ist zudem unabhängig von der materiellen Rechtslage, das heißt von der Frage, ob und gegebenenfalls welcher Straftaten sich der Beschuldigte schuldig gemacht hat. Damit entfallt eine Vergleichbarkeit mit der Tatprovokation durch einen Spitzel, bei der es entscheidend darauf ankommt, ob sich der Angeklagte überhaupt strafbar gemacht hat und welchen Einfluß der Lockspitzel auf die Tat des Angeklagten hatte, bei der es für die Entscheidung über das Vorliegen eines schwerwiegenden Rechtsstaatsverstoßes mithin auf die Beurteilung der materiellen Sach- und Rechtslage ankommt. 57 Davon aber ist die Beurteilung, ob der Beschuldigte das Ende des Verfahrens erleben wird, vollkommen unabhängig. In den Fällen der schwerwiegenden Rechtsstaatsverstöße handelt es sich nämlich nicht nur um Wertungen, sondern, präziser formuliert, um Wertabwägungen, während das Gericht bei der dauernden Verhandlungsunfähigkeit und beim drohenden Tod Prognosen, also Einschätzungen, und damit nicht Wertungen vornehmen muß. Folglich handelt es sich beim drohenden Tod um einen Umstand, bei dem, wenn er "als gegeben erachtet" werden muß, eine sich daran anschließende "wertende Betrachtung" nicht mehr erforderlich ist - ebenso wie bei der Verhandlungsfahigkeit. Damit erfüllt er die vom Bundesgerichtshof und der Literatur zum Problemfeld der schwerwiegenden Rechtsstaatsverstöße aufgestellten Kriterien.
dieselben Rechte gelten wie für jeden anderen Angeklagten, worauf auch schon im ersten Kapitel hingewiesen wurde. 57 Vgl. dazu BGHSt 32, 345.
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bb) "Zulässigkeit des Verfahrens im ganzen" Der nächste Punkt der Definition beinhaltet die Forderung, daß der Umstand die Zulässigkeit des "Verfahrens im ganzen" betreffen muß. Dadurch sollen die Prozeßvoraussetzungen von den Prozeßhandlungsvoraussetzungen abgegrenzt werden. 58 Letztere sind Zulässigkeitsbedingungen für einzelne im Verlauf des Verfahrens vorgenommene Handlungen der Beteiligten, wie zum Beispiel das Stellen eines Beweisantrages, die Einlegung einer Beschwerde oder eines anderen Rechtsmittels. Die Abgrenzung beider Gruppen kann nicht immer eindeutig vorgenommen werden, jedoch ist dies im vorliegenden Fall nicht problematisch. Der Tod des Beschuldigten betrifft das gesamte Verfahren, nicht einzelne Abschnitte oder einzelne Prozeßhandlungen. Gleiches gilt für die dauernde Verhandlungsunfähigkeit; sie ist eindeutig zur nur vorübergehenden Prozeßhandlungsunfahigkeit, die negative Zulässigkeitsbediiigung zum Beispiel für die Einlegung einer Beschwerde ist, abgegrenzt. 59 Beim Umstand des drohenden Todes kann in diesem Zusammenhang nichts anderes gelten. Auch hier geht es um einen dauerhaften Zustand, der Einfluß nicht nur auf einzelne Prozeßhandlungen oder Teilabschnitte des Verfahrens hat, sondern sich auf das gesamte Verfahren bezieht. Der Vergleich mit dem anerkannten Verfahrenshindernis Verhandlungsunfähigkeit und dem Tod des Beschuldigten zeigt mithin, daß dieses Abgrenzungsmerkmal der herrschenden Definition im Gegensatz zum vorhergehenden Abschnitt keine Schwierigkeiten bereitet. Der drohende Tod ist folglich ein Umstand, der das gesamte Verfahren betrifft. cc) "Schwer wiegen" Weiteres wichtiges Merkmal der Defintion ist jedoch, daß der Umstand "so schwer wiegen" muß, daß von ihm "die Zulässigkeit des Verfahrens im ganzen abhängig gemacht werden muß". Um einen Umstand als Prozeß Voraussetzung definieren zu können, ist es folglich notwendig, sein besonderes "Gewicht" herauszuarbeiten. Dieses Merkmal dient unter anderem der Abgrenzung der Prozeßvoraussetzungen von Umständen, die erst auf Rüge hin beachtlich sein sollen. Die hier notwendige Abgrenzung ist eng verbunden mit der beim Begriff des "Umstandes", denn die Frage, ob eine "wertende Betrachtung" notwendig ist, hat auch Einfluß auf das "Gewicht des Umstandes". In diesem Zu58
Schäfer in Löwe/Roseiiberg, Einl. Kap. 11 Rn. 7; zur Kritik an diesem Merkmal vgl. Volk, Prozeßvoraussetzungen, 206 ff. 59 Vgl. dazu C. Roxi η, Strafverfahrensrecht, § 21 Rn. 10 f., § 22 Rn. 4.
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sammenhang ist auch verständlich, daß der Bundesgerichtshof zum "Gewicht" eines Umstandes ausführt, daß "das Gewicht von Verfahrensvorschriften, die die Rechtsstaatlichkeit und die Wahrheitsfindung betreffen, kein ausschlaggebender Umstand für die Würdigung als Verfahrensvoraussetzung" sein kann, sogar Grundrechtsverletzungen im Strafverfahren seien "rügebürftig". 60 Würde der Bundesgerichtshof diese Einschränkung nicht vornehmen, würden schwerwiegende Verstöße gegen das Rechtsstaatsprinzip sonst als Prozeßhindernisse gewertet. Die Konterkarierung der eigenen Defintion durch den Bundesgerichtshof erschwert aber nicht unwesentlich das Bemühen, einen Umstand auf eine mögliche Eigenschaft als Prozeßhindernis hin zu überprüfen, bleibt doch fraglich, was nun entscheidend für das Merkmal "schwer wiegen" sein soll. Eine Hilfe mag es hierbei sein, auf die Begründungen zu rekurrieren, die bei anerkannten Verfahrenshindernissen für ihre Klassifizierung als solche aufgestellt werden. Denn diese können Aufschluß darüber geben, warum diese Umstände nach Ansicht von Rechtsprechung und Literatur ein solches "Gewicht" haben, daß sie nicht erst auf Rüge hin beachtlich sein sollen, sondern stets von Amts wegen zu beachten sind und ein weiteres Prozessieren ausschließen. Die Begründungen sind gleichsam als Konkretisierung des Definitionsmerkmals "schwer wiegen" anzusehen. Ihr Vergleich mit dem hier zur Beurteilung anstehenden Umstand wird dann ergeben, inwieweit Unterschiede oder Gemeinsamkeiten bestehen. Die Gründe bezüglich der Verhandlungsfähigkeit werden darin gesehen, daß sich ein Verhandlungsunfahiger nicht ausreichend verteidigen kann, er kein rechtliches Gehör fände und "mögliche Fehlerquellen vervielfacht" würden. 61 Diese Argumentation läßt sich auf den Umstand des drohenden Todes nicht vollständig übertragen. Solange der Krankheitsverlauf nicht so weit fortgeschritten ist, daß aus einer eingeschränkten Verhandlungunfähigkeit, der mit der Reduzierung der Durchführung der Hauptverhandlung auf wenige Tage die Woche und auf einige Stunden pro Verhandlungstag Rechnung getragen werden kann, eine dauerhafte wird, ist der Beschuldigte noch in der Lage, sich ausreichend zu verteidigen. Der Durchsetzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör stehen also keine Hindernisse entgegen. Insofern sind beide Umstände nicht zu vergleichen. Aber es steht beim drohenden Tod mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest, daß der Beschuldigte noch vor Ende des Verfahrens die 60 61
BGHSt 19, 273 (278); 26, 84 (90). Schäfer in Löwe/Rosenberg, Einl. Kap. 12 Rn. 101.
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Möglichkeit einer ausreichenden Verteidigung verlieren wird. Er wird kein rechtliches Gehör vor der letztendlichen Entscheidung finden. Was bei der Verhandlungsunfähigkeit schon jetzt feststeht, ist beim drohenden Tod für die nahe Zukunft sicher prognostizierbar. Dieser Umstand ist schon deswegen von Bedeutung, wenn man sich vergegenwärtigt, daß im Strafverfahren vor dem Urteil dem Angeklagten das letzte Wort gebührt, § 258 StPO. Wie an der Einstufung der Verhandlungsfähigkeit als Prozeßvoraussetzung und an den Regelungen der StPO zur Abwesenheit des Angeklagten zu ersehen ist, kommt dem Recht des Beschuldigten auf Verteidigung im grundgesetzlich geprägten Rechtsstaat eine immense Bedeutung zu. Und daher läßt sich mit Recht die Frage stellen, ob es ohne Auswirkungen bleiben soll, wenn schon jetzt mit an Sicherhëit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, daß das Recht auf ausreichende Verteidigung in naher Zukunft nicht mehr gewährleistet sein wird. Zudem gibt es noch ein weiteres Argument für die Einstufung der Verhandlungsfähigkeit als Prozeßvorausetzung. Verfahrensverstöße wie die nicht ordnungsgemäße Besetzung der Richterbank oder die Befangenheit eines Richters, die nur auf Rüge hin beachtlich sind und ein Rechtsmittel begründen können, sind grundsätzlich revisibel. Durch eine erneute Verhandlung vor einem ordnungsgemäß besetztem Spruchkörper oder ohne den befangenen Richter wird der Verfahrensverstoß rückgängig gemacht. Ebenso ist es, wenn ein Beweismittel verwendet wurde, obwohl der StPO ein dahingehendes Verbot zu entnehmen war. Auch hier kann der Verfahrensverstoß durch eine erneute Verhandlung, in der das Beweismittel nicht beachtet werden darf, geheilt werden. Selbst bei Grundrechtsverstößen, etwa wenn in einem Strafverfahren wegen ehrverletzenden Äußerungen das Grundrecht des Beschuldigten auf Freiheit der Meinungsäußerung verletzt wird, ist dies erst auf Rüge hin beachtlich. Auch hier kann der Verstoß durch eine erneute Verhandlung beseitigt werden. Verstöße dieser Art wirken sich also nur auf die konkrete Instanz aus, in der sie geschehen oder nicht beseitigt werden. Generell ist es aber in diesen Fällen möglich, ein Strafverfahren ohne diesen Verstoß durchzuführen. Um ein "verstoßfreies" Strafverfahren zu gewährleisten, sind schließlich die Rechtsmittel der Beschwerde, der Berufung und der Revision sowie - bei Grundrechtsverstößen - der Urteil Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht geschaffen worden. Anders ist es bei der dauernden Verhandlungsunfähigkeit. Wird das Strafverfahren nicht eingestellt, so kann auch eine erneute Verhandlung diesen Fehler nicht beseitigen, denn der Beschuldigte bleibt schließlich weiterhin verhandlungsunfahig. Dem Mangel der Verhandlungsunfähigkeit kann also nur durch sofortige Einstellung begegnet werden. Denn die Verhandlungsunfähigkeit an sich ist kein Umstand, der einen Verstoß gegen Verfahrensrecht darstellt, anders als ein befangener Richter oder ein nicht ordnungsgemäß besetztes Gericht, denn es ist ein von niemandem zu beeinflussender in der Per-
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son des Beschuldigten liegender Grund. Genauso ist es auch beim drohenden Tod. Auch dieser Umstand ist nicht beeinflußbar. Er hätte auch anders als die hier aufgeführten, auf Rüge hin beachtlichen Umstände nicht vermieden werden können. Im genaueren Vergleich mit der dauernden Verhandlungsunfähigkeit im Unterschied zu anderen Verfahrensverstößen zeigen sich also entscheidende Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Umständen. Zwar ließe sich einwenden, auch anerkannte Verfahrenshindernisse, wie fehlender Eröffnungsbeschluß oder fehlende Strafanklage seien Umstände, die vermieden werden könnten. Doch lassen sich, wie bereits oben ausgeführt wurde, wegen der zum Teil großen Unterschiede zwischen den einzelnen Verfahrensvoraussetzungen keine übergreifenden Aussagen, die für alle Prozeßvoraussetzungen gelten und eine gewisse Klarheit vorweisen können, treffen; vielmehr muß man anhand von Fallgruppen vorgehen 62, wie dies hier anhand der in der Person des Beschuldigten liegenden Prozeßvoraussetzungen geschieht. Jedoch liefert die Vergleichbarkeit mir einer Prozeßvoraussetzung aufgrund der Unterschiedlichkeit zu auf Rüge hin beachtlichen Verstößen kein durchgreifendes Argument dafür, daß es sich hierbei um ein Verfahrenshindernis handelt. Dieses Teilergebnis kann erst dann entscheidend sein, wenn man überhaupt zu dem Ergebnis gelangt, daß der drohende Tod eine Auswirkung auf die Fortführung des Verfahrens haben soll. Insofern kann der Vergleich zur Verhandlungsunfähigkeit eine Klassifizierung des drohenden Todes als Verfahrenshindernis noch nicht ausreichend begründen.
Der zweite zum Vergleich herangezogene Umstand ist der Tod des Beschuldigten. Begründet wird die prozeßbeendende Wirkung vom Bundesgerichtshof - wobei er den Tod nicht als Verfahrenshindernis ansieht - damit, daß das Strafverfahren, wenn das Subjekt desselben weggefallen ist, keinen Sinn mehr hat. 63 Unabhängig davon, was man als das Ziel des Strafverfahrens ansieht, ist diese Feststellung insofern einleuchtend, als es im Strafverfahren konkret darum geht, die Frage zu klären, ob der Beschuldigte sich einer Straftat schuldig gemacht hat; nicht aber geht es darum, losgelöst von einem Beschuldigten zu klären, was wahrhaft passiert ist. Ein von einem konkreten Beschuldigten unabhängiges Strafverfahren ist schlechterdings nach dem geltenden Recht unmöglich.
62 63
Vgl. Schäfer in Löwe/Rosenberg, Einl. Kap. 11 Rn. 8. BGHSt 34, 184(186).
7 Limbach
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Beim drohenden Tod könnte man nun vertreten, das Verfahren habe seinen Sinn noch nicht verloren, dies sei erst der Fall, wenn der Beschuldigte tot sei. Da aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, daß der Beschuldigte das Ende des Verfahrens nicht mehr erleben wird, steht nicht nur fest, daß das Verfahren in Zukunft seinen Sinn verloren hat, sondern es hat schon in dem Moment seinen Sinn verloren, in dem das zuständige Organ Gewißheit bezüglich des Umstandes erlangt hat. Seinen Sinn verliert das Verfahren also in der Konstellation, daß der Tod vorhersehbar ist - und zwar bezüglich seines Zeitpunktes im Verhältnis zur Dauer des Verfahrens -, schon mit der Erkenntnis, daß das Verfahren nicht beendet werden kann. Zu diesem Ergebnis kann derjenige nicht gelangen, für den das Prozessieren an sich schon Zielerreichung ist, denn dieser muß davon ausgehen, daß das Verfahren seinen Sinn erst durch den Tod des Beschuldigten beziehungsweise den Eintritt der dem Tod vorgelagerten dauernden Verhandlungsunfähigkeit verlieren wird. Sieht man jedoch die Erreichung von Rechtsfrieden mit den beiden Säulen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit als Verfahrensziel, so kann man nur zu dem Ergebnis kommen, daß in einem solchen Verfahren weder Gerechtigkeit, denn diese ist an ein Urteil zur Sache gebunden, noch Rechtssicherheit, denn diese ist von der Rechtskraft eines solchen Urteils abhängig, erreicht werden können. Das Verfahren gegen einen "dem Tod geweihten" Beschuldigten kann mithin ebensowenig Sinn machen wie ein Verfahren gegen einen Toten. Zu diesem Ergebnis müßten auch diejenigen Autoren gelangen, die Wahrheit und Gerechtigkeit allein, die Durchsetzung eines staatlichen Strafanspruchs oder einen nicht normativ, sondern faktischpsychologisch verstandenen Rechtsfrieden als Ziel des Strafverfahrens ansehen. Der Grund für die Beendigung des Verfahrens, wenn der Beschuldigte stirbt, liegt also nicht allein im Wegfall des Prozeßsubjektes, sondern vielmehr darin, daß dadurch das Verfahren an sich seinen Sinn verloren hat, daß es sein Ziel nicht mehr erreichen kann. Daraus läßt sich dann weiter schlußfolgern, daß ein Verfahren immer dann einzustellen ist, wenn es offensichtlich sein Ziel nicht mehr erreichen kann. So ist es auch im Falle der dauernden Verhandlungsunfähigkeit. Nicht nur kann der Beschuldigte sich in einem solchen Fall nicht mehr ausreichend verteidigen; vielmehr ist er auch durch seinen psychischen oder physischen Verfall für das Verfahren zwar noch körperlich anwesend, nicht jedoch als Prozeßsubjekt. Und ohne ein solches verliert, wie die Begründung des Bundesgerichtshofs zum Tod als verfahrensbeendigendem Umstand zeigt, ein Verfahren seinen Sinn. Und ebenso verliert auch das Verfahren gegen einen "dem Tod Geweihten" seinen Sinn, und zwar schon durch die Erkenntnis, daß er das Ende des Verfahrens nicht mehr erleben wird. Für die weitere Durchführung des Verfah-
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rens von dieser Erkenntnis ab bis zum Tod oder der dauernden Verhandlungsunfähigkeit des Beschuldigten läßt sich auf dem Boden der meisten zum Ziel des Strafverfahrens vertretenen Ansichten keine hinreichend legitimierende Begründung finden. 64 Untersucht man also die Gründe, die hinter der Einordnung der beiden zum Vergleich herangezogenen Umstände, die die sofortige Beendigung des Verfahrens zur Folge haben, stehen, erkennt man, daß das Argument des verlorenen Sinns ebenso auf den Umstand des drohenden Todes zutrifft. Dann aber muß der drohende Tod konsequenterweise genauso behandelt werden wie die beiden Umstände der dauernden Verhandlungsunfähigkeit und des Todes des Beschuldigten. Denn das Argument des verlorenen Sinns ist zugleich das Argument, das das besondere Gewicht der beiden Umstände ausmacht, wodurch die Verhandlungsunfähigkeit zum Verfahrenshindernis und der Tod zum Beendigungsgrund werden. Zugleich wird auf diese Weise die Unterschiedlichkeit der einzelnen Gruppen der Prozeßvoraussetzungen deutlich. Der fehlende Eröffnungsbeschluß des Gerichts läßt nicht den Sinn des gesamten Strafverfahrens entfallen, sondern nur den des konkreten Verfahrensabschnittes, hier der Hauptverhandlung. Das erklärt, warum der Bundesgerichtshof und die ihm folgende Literatur einen so unbestimmten Begriff wie den des Gewichts verwenden müssen, wenn sie erklären wollen, daß nicht jedweder Umstand, sondern nur besondere als Prozeßvoraussetzungen angesehen werden sollen. Im hier zu beurteilenden Fall läßt sich daher das Gewicht auf sinnvolle Weise aus dem Vergleich mit artverwandten Umständen heraus erklären. Deutlich wird bei dieser Methode des konkreten Vergleichs, daß, wenn man die Hintergründe der einzelnen Umstände im Verhältnis zum Strafverfahren untersucht, entscheidende Gemeinsamkeiten bestehen, die eine unterschiedliche Behandlung nicht rechtfertigen können, sondern vielmehr eine Gleichbehandlung erfordern. Dann aber wiegt der Umstand des drohenden Todes so schwer, "daß von ihm die Zulässigkeit des Verfahrens im ganzen abhängig gemacht werden muß".
64 Paeffgen in SK-StPO, Anhang zu § 206a Rn. 10, führt dazu aus: "Die zentrale Frage ist aber, ob der jenen Strafverfolgungsanspruch verfolgende Staat bei seiner Rechtsverfolgung, überspitzt gesagt, 'über Leichen gehen dürfen 1 soll; was ja doch hieße, einer Rechtsidee zu huldigen, obwohl das Verfahren erkennbar nicht zu einem rechtskräftigen Abschluß kommen wird."
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dd) Zwischenergebnis Die bisherige Untersuchung hat ergeben, daß der Umstand, daß der Beschuldigte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Ende des Strafverfahrens nicht erleben wird, als Umstand im Sinne der Definition des Bundesgerichtshofs und der Literatur anzusehen ist. Zwar ist eine zweifache Prognose - einerseits bezüglich des Krankheitsverlaufs, andererseits bezüglich der Verfahrensdauer - vorzunehmen, diese erfüllt jedoch, wenn man sie mit der wertenden Prognose bezüglich des Umstandes Verhandlungsunfähigkeit vergleicht, die Kriterien, die zu den schwerwiegenden Rechtsstaatsverstößen entwickelt wurden. Weiterhin ist der drohende Tod ein Umstand, der das gesamte Verfahren, und nicht nur einzelne Verfahrensabschnitte oder einzelne Prozeßhandlungen betrifft. Entscheidend aber ist, daß dieser Umstand auch ein solches Gewicht hat, daß von ihm die Zulässigkeit des Verfahrens abhängig ist. Dieses besondere Gewicht findet seine Begründung darin, daß das Verfahren gegen einen Beschuldigten, der "dem Tod geweiht" ist, seinen Sinn verloren hat, und zwar schon in dem Zeitpunkt, in dem dieser Umstand feststeht. Seine Grundlage findet dieses Argument in dem Vergleich mit der dauernden Verhandlungsunfähigkeit und dem Tod des Beschuldigten, da bei diesen beiden Umständen die Rechtsfolge der Verfahrenseinstellung beziehungsweise der automatischen Beendigung des Verfahrens darauf zurückzuführen ist, daß das Strafverfahren an sich seinen Sinn verloren hat. Der Umstand des drohenden Todes erfüllt damit die vom Bundesgerichtshof und der herrschenden Ansicht in der Literatur aufgestellten Merkmale der Definition der Prozeßhindernisse sowie der zur Abgrenzung zu anderen Instituten entwickelten Kriterien. Dabei darf aber nicht außer acht gelassen werden, daß man aufgrund der zum Teil wenig klaren Merkmale und der "geringen Trennschärfe" nicht nur der Definition, sondern der in der Folgezeit entwickelten weiteren Kriterien ebenso zu der Ansicht gelangen kann, daß der drohende Tod nicht als Umstand im Sinne der obigen Defninition gelten kann - sei es wegen der Schwierigkeiten, die beide Prognosen aufwerfen, sei es aufgrund der unabdingbaren Wertung - oder daß diesem Umstand das notwendige Gewicht fehle, was eine Klassifizierung als Prozeßvoraussetzung mit den damit verbundenen strikten Rechtsfolgen ausschließen würde. Die Ausführungen in diesem Abschnitt sollen demnach nicht den Schluß nahelegen, Vertreter der herrschenden Ansicht müßten notwendigerweise zu dem hier gefundenen Ergebnis gelangen. Dennoch erscheint das Ergebnis insbesondere wegen des konkreten Vergleichs einleuchtend, wie die obigen Ausführungen zeigen.
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Jedoch handelt es sich, zumindest nach Überzeugung des Bundesgerichtshofs und eines Teils des Schrifttums, beim zweiten zum Vergleich herangezogenen Umstand, nämlich dem Tod des Beschuldigten, nicht um ein Verfahrenshindernis, vielmehr soll dieser Umstand das Verfahren per se beenden. Diese Beurteilung des Todes des Beschuldigten bereitet aber nur auf den ersten Blick Schwierigkeiten bei der Einstufung des drohenden Todes als ein Verfahrenshindernis. Denn Einigkeit besteht darin, wie oben schon dargelegt wurde, daß der Tod des Beschuldigten in jedem Falle ein Weiterprozessieren ausschließt. Erkennt man den drohenden Tod als Umstand an, der das Weiterprozessieren ausschließt, wird niemand vertreten, daß das Verfahren per se beendet wird, sondern daß ebenso wie bei der dauernden Verhandlungsunfähigkeit eine Beendigung durch formelle Einstellung durch das dazu berufene Organ notwendig ist. Die Vergleichbarkeit der beiden Umstände kann also nichts an der Klassifizierung ändern, da das Endergebnis - Unzulässigkeit des Weiterprozessierens - in beiden Fällen übereinstimmt. Dem Streit um die genaue Eingruppierung des Todes des Beschuldigten kommt insofern Einmaligkeit zu, als hierbei das Prozeßsubjekt in der Gesamtheit seiner Existenz entfallen ist, und ist daher nicht auf die dauernde Verhandlungsunfähigkeit oder den drohenden Tod übertragbar.
Somit ist als Fazit der Untersuchung bezüglich der von der Rechtsprechung und dem überwiegenden Schrifttum aufgestellten Definition der Prozeßvoraussetzungen festzuhalten, daß der Umstand, daß der Beschuldigte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vor dem Ende des Strafverfahrens sterben beziehungsweise in einen dem Tod unmittelbar vorgelagerten Zustand der dauernden Verhandlungsunfähigkeit gelangen wird, so schwer wiegt, daß von seinem "Vorhandensein die Zulässigkeit des Verfahrens im ganzen abhängig gemacht werden muß". d) Der drohende Tod als negative typisierte der Rechtsfriedenssicherung
Voraussetzung
In einem zweiten Schritt ist nun zu untersuchen, ob der drohende Tod auch nach Volks 6 5 Ansatz als Verfahrenshindernis zu klassifizieren ist. Für Volk sind die Prozeßvoraussetzungen "typisierte Voraussetzungen der Sicherung des Rechtsfriedens", im Falle ihres NichtVorliegens bestehe "von Rechts wegen kein Anlaß zur Bewährung der Strafrechtsordnung" (204). Dabei stimmen
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Volk, Prozeßvoraussetzungen, 204 ff.
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Volk und die herrschende Ansicht seiner Meinung nach in einem Punkt überein: "Prozeßvoraussetzungen sollten in der Tat möglichst klare, einfache Strukturen aufweisen. Es ist nötig, den Abbruch des Verfahrens [...] mit Hilfe prägnanter Merkmale zu legitimieren. Daß die Sicherung des Rechtsfriedens [...] nicht angezeigt ist, muß durch eine gewisse Signalwirkung außer Streit gestellt werden" (215 f.). Hinsichtlich der schwerwiegenden Rechtsstaatsverstöße führt er dazu am Beispiel der überlangen Verfahrensdauer aus, daß eine Qualifizierung als Prozeßvoraussetzung seiner Meinung nach daran scheitere, daß es an den "evidenten Kriterien für ein Überkippen des Verfahrens" fehle (229). aa) Voraussetzung der Rechtsfriedenssicherung Bezüglich der Verhandlungsunfähigkeit sagt er, daß "gegenüber einem Verhandlungsunfähigen [...] die Bewährung der Rechtsordnung weder möglich noch nötig" sei (230). Aber auch gegenüber einem "Todgeweihten" ist die Bewährung der Rechtsordnung nicht mehr möglich, wenn feststeht, daß er vor dem Ende des Verfahrens sterben wird. Denn Bewährung der Rechtsordnung setzt nach Volk nicht nur einen Prozeß, sondern auch ein rechtskräftiges Urteil voraus. Und da der Tod mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintreten wird, ist eine solche Bewährung auch nicht mehr möglich. Schon oben im 1. Kapitel unter 6. und im 2. Kapitel unter I.2.c.cc. wurde dargelegt, daß der Rechtsfrieden mit seinem Dualismus aus Wahrheit und Gerechtigkeit einerseits und Rechtssicherheit andererseits durch ein Verfahren gegen einen Moribunden nicht mehr erreicht werden kann. Wenn es für die Sicherung des Rechtsfriedens unabdingbar ist, daß der Beschuldigte das Urteil verständig aufnehmen kann, so muß es auch eine Bedingung für dessen Sicherung sein, daß der Beschuldigte das Urteil überhaupt erleben wird. Insofern kann ein Weiterprozessieren dem Rechtsfrieden in keiner Weise dienlich sein. Damit steht fest, daß es eine der vielen Voraussetzungen der Rechtsfriedenssicherung ist, daß der Beschuldigte das Ende des Verfahrens, und gemeint ist hierbei wieder das rechtskräftige Ende, erleben muß. Wo das Gegenteil mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, fehlt also eine Voraussetzung der Sicherung des Rechtsfriedens. bb) "Einfache Struktur" und "wirkungssichere Evidenz" Der Umstand des drohenden Todes muß aber auch die andere von Volk aufgestellte Voraussetzung erfüllen, die in seiner Kurzformel durch das Merkmal "typisiert" angedeutet wird, nämlich Prägnanz, das heißt er muß
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"möglichst klare, einfache Strukturen" aufweisen. Die Erfüllung dieses Merkmals erscheint insofern fraglich, als es zur Feststellung des Umstandes drohender Tod einer zweifachen Prognose bedarf. Dabei ist wiederum deren erste unproblematisch, da auch bei der dauernden Verhandlungsunfähigkeit eine Prognose bezüglich des Krankheitsverlaufs notwendig ist. Die zweite Prognose jedoch bezieht sich auf den Verlauf des Strafverfahrens. Volk hat seine Ausführungen zur Struktur von Verfahrenshindernissen später dahingehend präzisiert 66 , daß diese aufgrund ihrer "Funktion, eine Sachprüfung auszuschließen, [...] nicht aus dem bisherigen Verhandlungsergebnis und einer Prognose künftiger Beweislagen hergeleitet werden" können (36). Weiter führt er aus, "sie alle bringen nur einen bestimmten Gesichtspunkt von Signalwirkung zur Geltung. Er muß nicht mit anderen abgewogen werden und greift stets durch" (36). Bei der Prognose der Verfahrensdauer muß aber der Umstand der Krankheitsentwicklung des Moribunden in Beziehung zum Prozeß verlauf gesetzt werden. Das Gericht muß die Frage beantworten, wie lange das Verfahren noch dauern wird. Dabei muß es den bisherigen Verlauf des Prozesses in seine Beurteilung miteinbeziehen, und daraus, wie auch aus seiner Erfahrung mit ähnlichen Strafverfahren, Schlüsse auf die weitere Zeitdauer ziehen, wobei es insbesondere auch den Umfang der Beweisaufnahme sowie die Möglichkeiten der Einlegung von Rechtsmitteln in seine Überlegungen miteinbeziehen muß. Jedoch meint Volk etwas anderes, wenn er vom "bisherigen Verhandlungsergebnis" und der "Prognose künftiger Beweislagen" spricht. Er bezieht sich dabei auf die materielle Rechtslage und auf Verstöße gegen die StPO bei der Beweiserlangung durch die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren. 67 Hierbei ist natürlich zur Prüfung, ob dies zu einem Verfahrenshindernis führt, ein Eingehen auf die Sache erforderlich. Bei der Frage, wie lange sich ein Verfahren noch hinziehen wird, ist zwar auch ein Blick auf den Umfang der dem Beschuldigten vorgeworfenen Taten sowie auf den Umfang der Beweisaufnahme vonnöten, jedoch muß das Gericht keine rechtliche Bewertung der materiellen Rechtslage oder bezüglich von Verstößen gegen Verfahrensrecht vornehmen. Schwierig ist allein die reine Tatsachenermittlung. Die dabei notwendige Wertung kann aber nach Volk nicht zu einer Ablehnung eines Ver-
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Volk, StV 1986, 34 ff. Vgl. auch Volk, NStZ 1995, 367 (369): "Ein Verfahrenshindernis, von dem ein Richter erst sagen kann, daß es vorliegt, wenn alle Umstände des Einzelfalles geklärt sind, ist ein Unding. [...] Verfahrenshindernisse nur für Schuldige gibt es nicht. Ein grundlegendes Funktionsprinzip von Verfahrens Voraussetzungen besteht ja gerade darin, daß sie von der Sachfrage unabhängig sind, also gewissermaßen schuldneutral." 67
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fahrenshindernisses führen. Denn im Blick auf das anerkannte Verfahrenshindernis der entgegenstehenden Rechtskraft führt er an, daß "bei der Frage, ob die Sache bereits rechtskräfig entschieden ist, [...] die Antwort recht umfangreiche Wertungen voraussetzen" kann 6 8 Wertungen und schwierige Ermittlungen allein können also nicht dazu führen, ein Verfahrenshindernis abzulehnen. Vielmehr kommt es darauf an, ob auf die zu beurteilende Sache, wobei darunter nicht nur die materielle, sondern auch die formelle Rechtslage gemeint ist, eingegangen werden muß. Und darauf muß beim Umstand des drohenden Todes nicht eingegangen werden. Die Art der dem Beschuldigten zur Last gelegten Taten sowie die Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft sind unerheblich für die Frage, ob der Beschuldigte das Ende des Verfahrens erleben wird. Sie interessieren nur insoweit, als es um die Zeitdauer des Verfahrens geht. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist zudem, ob es nach Feststellung des Ergebnisses, noch weiterer Wertungen bedarf, oder ob der fragliche Umstand "einfach strukturiert und von wirkungssicherer Evidenz" ist. 69 Steht, wenn auch vielleicht nach umfangreichen Ermittlungen 70 , fest, daß der Beschuldigte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Ende des Verfahrens nicht mehr erleben wird, so ist eine weitere Wertung nicht mehr von Nöten. Im Gegensatz dazu muß beim Problem der rechtswidrigen Ermittlungen, wenn also gegen den Anspruch des Beschuldigten auf ein rechtsstaatliches Verfahren verstoßen wurde 71 , im Anschluß an die Feststellung dieser Tatsachen noch geklärt werden, ob der Verstoß gegen das Gebot des "fair trial" so schwer ist, daß er zu einem Verfahrenshindernis führt. Ebenso muß bei der überlangen Dauer von Strafverfahren anschließend noch wertend beurteilt werden, ob die Dauer nun ausreicht, um ein Weiterprozessieren auszuschlie-
68 Volk, StV 1986, 36. Die Notwenigkeit von Wertungen bei der Prüfung des Vorliegens von Verfahrenshindernissen wird auch von Rieß, JR 1985, 47 und Schejfler, Die überlange Dauer von Strafverfahren, 164, vertreten. Vgl. hierzu die Ausführungen oben unter 2.c)aa). 69 So Volk, StV 1986, 36 zum Verfahrenshindernis der entgegenstehenden Rechtskraft. 70 Erinnert sei hier noch einmal an die Tatsache, daß sich das Gericht, um Gewißheit über den Krankheitsverlauf zu bekommen, medizinischer Sachverständiger bedienen muß, wobei es unter Umständen, je nachdem ob Uneinigkeit unter den Prozeßbeteiligten über die Bewertung des Krankheitsverlaufs besteht, Gutachten verschiedener Sachverständiger einholen muß. 71 Diesen Fall behandelt Volk, StV 1986, 34 ff. Er bezieht sich dabei auf ein Urteil des AG Mannheim, StV 1985, 276 ff., das in diesem Fall ein Verfahrenshindernis angenommen hat.
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ßen. Diese beiden Probleme bedürfen einer flexiblen Lösung, die die Annahme eines Verfahrenshindernisses nicht zu bieten vermag. 72 Anders aber verhält es sich beim drohenden Tod. Hierbei ist eine Abwägung zwischen diesem Umstand und anderen Gesichtspunkten nicht mehr nötig. Im Gegensatz zu der Gruppe der schwerwiegenden Rechtsstaatsverstöße bieten sich in diesem Fall keine flexiblen Lösungen an. Denn anders als bei diesen Umständen kann es in jenem Fall gar nicht zum Ende des Verfahrens kommen, also zu einem rechtskräftigen Urteilsspruch, der in der Regel die flexible Lösung enthalten könnte. Klarer ausgedrückt bedeutet das: Wenn man wegen einer überlangen Dauer des Verfahrens die Strafe mildert oder bei eklatant rechtsstaatswidrigen Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft gar zu einem Freispruch in Teilen kommt, da bestimmte Beweise nicht verwertet werden dürfen, oder bei der Tatprovokation durch einen polizeilichen Spitzel eine andere Bewertung der materiellen Rechtslage vornimmt, so kann eine solche flexible Lösung nicht für einen Moribunden gefunden werden, da er in diesem Zeitpunkt dauerhaft verhandlungsunfähig sein wird oder schon nicht mehr lebt. Auch dies zeigt wieder die mangelnde Vergleichbarkeit des drohenden Todes mit der Gruppe der Rechtsstaatsverstöße.73 Der Umstand des drohenden Todes erfüllt also nicht die von Volk zur Abgrenzung zu den Rechtsstaatsverstößen aufgestellten Ausschlußkriterien für die Beurteilung eines Umstandes als Verfahrenshindernis. Zudem ist er "einfach strukturiert", wenn man den genauen Wortlaut betrachtet: "Es steht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest, daß der Beschuldigte das Ende des Verfahrens nicht mehr erleben wird." Ist diese Tatsache einmal festgestellt, entzieht sie sich jeder wertenden Betrachtung. In Bezug auf den Zweck des Strafverfahrens - und eben diesen Bezug fordert Volk in seiner Definition des Begriffes Prozeßvoraussetzung - , nämlich dem Rechtsfrieden, der sich aus dem Streben nach Gerechtigkeit einerseits und nach Rechtssicherheit andererseits zusammensetzt, wird auch die Evidenz des Umstandes drohender Tod deutlich. Wenn feststeht, daß dieses Ziel durch ein Weiterprozessieren nicht erreicht werden kann, fehlt eine Bedingung der Rechtsfriedenssicherung. Und um zu diesem Ergebnis zu kommen, bedarf es keiner wertenden Betrachtung und keines Eingehens auf die materielle Rechtslage oder auf Verstöße
72 So Volk, Prozeßvoraussetzungen, 228 f. zum Problem der überlangen Verfahrensdauer. 73 Daß dieser Vergleich in der auf den Honecker-Beschluß des Berliner Verfassungsgerichtshofs folgenden Auseinandersetzung dennoch gezogen wurde, liegt daran, daß in beiden Fällen Verfahrenshindernisse diskutiert wurden, die sich unmittelbar aus der Verfassung ergeben sollen. Vgl. Battlsperger, DVB1. 1993, 333 (340).
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gegen Verfahrensrecht. Es handelt sich also bei diesem Umstand um ein "exakt beschreibbares und beschriebenes Ereignis". 74 Die Evidenz zeigt sich unter anderem im Vergleich mit der Verhandlungsunfähigkeit und der Abwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung. Daß gegenüber einem Verhandlungsunfahigen ein gerechtes Urteil beziehungsweise die Bewährung der Rechtsordnung nicht möglich sein kann 75 , ist klar ersichtlich, denn er kann sich nicht verteidigen, das Gericht sich kein "gerechtes" Bild von ihm machen. Anders bei der Abwesenheit: Hier erlaubt die StPO in zahlreichen Vorschriften (so zum Beispiel in §§ 231 II, 231a, 231b, 232, 233 StPO) ausnahmsweise ein Verhandeln in Abwesenheit des Angeklagten. Dieses großzügige Regel-Ausnahme-Verhältnis führt dazu, daß man von einer Evidenz nicht reden kann, es "fehlt die Signal Wirkung".76 Der drohende Tod wiederum ist der dauernden Verhandlungsunfähigkeit vergleichbar. Wenn bei dieser das Verfahren endgültig eingestellt wird, dann aus dem Grund, daß der Beschuldigte nie mehr aufnähme- und verteidigungsfahig sein wird, die Rechtsordnung diese Fähigkeit aber verlangt, es also nie zu einem Urteil kommen wird. Auch in einem Verfahren gegen einen Moribunden kann es nie ein Urteil geben, wenn die Tatsache des drohenden Todes einmal feststeht. Auch diese Konsequenz ist eben evident, und wenn man dieses Ergebnis verinnerlicht hat, ist dann auch die Rechtsfolge, die endgültige Einstellung des Verfahrens, nur eine logische Folgerung. cc) Entscheidung des Konflikts Ein weiterer Gesichtspunkt mag das bisher Erörterte noch verstärken: In diesem Kapitels wurde unter 1.1.b. dargelegt, daß Volk im Gegensatz zu Niese dem Prozeßurteil keine "negative materielle Funktion" zuschreibt, sondern die Ansicht vertritt, daß auch die Einstellung wegen einer fehlenden Prozeßvoraussetzung dem Rechtsfrieden dient; eine solche Einstellung sei kein "Verzicht auf die Entscheidung eines Konflikts", sie sei die Entscheidung selber. 77 Das Ziel des Strafverfahrens, die Schaffüng von Rechtsfrieden, kann also nach Volk nicht nur durch das Sachurteil, gleich ob schuldzusprechender oder freisprechender Natur, erreicht werden, sondern auch durch das das Verfahren einstellende Prozeßurteil. Dargelegt wurde dies am Beispiel der 74
Vgl. zu dieser Forderung Rieß, JR 1985, 48, und Volk, StV 1986, 37. So Volk, Prozeßvoraussetzungen, 230; vgl. auch 231 Fn. 239. 76 Volk, Prozeßvoraussetzungen, 231; vgl. auch BGHSt 26, 84 (90 ff.), der mit teilweise anderer Begründung die Annahme eines' Verfahrenshindernisses verneint. 7 ' Volk, Prozeßvoraussetzungen, 213 und 217. 75
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Verjährung, bei deren Vorliegen ein Störung der Rechtsordnung nicht mehr besteht, und der entgegenstehenden Rechtskraft, bei der die Störung schon beseitigt wurde. Bei diesen beiden Verfahrenshindernissen leuchtet das Fehlen einer Störung der Rechtsordnung auf den ersten Blick ein. Doch es stellt sich die Frage, ob es sich beim drohenden Tod ebenso verhält. Bevor jedoch darauf näher eingegangen wird, soll diese Frage zuerst bei den beiden als Vergleichsmaßstäben eingeführten Umständen untersucht werden. Die Beendigung des Verfahrens beim Tod des Beschuldigten ohne formellen Einstellungsbeschluß hat ihren Grund darin, daß das Verfahren seinen Sinn verloren hat, sein Ziel also durch ein Weiterprozessieren nicht erreicht werden kann. Eine Fortführung des Strafverfahrens wäre im Gegenteil sogar geeignet, den Rechtsfrieden weiter zu stören, denn der Beschuldigte ist logischerweise nicht mehr in der Lage, sich zu verteidigen. Der Tod des Beschuldigten entscheidet also den Konflikt, der durch seine Tat möglicherweise denn die Feststellung über seine Schuld kann nicht mehr getroffen werden - in der Rechtsgemeinschaft hervorgerufen wurde. Die Beunruhigung über den Verdacht einer Straftat endet mithin vom Standpunkt des Strafrechts her. 78 Auch die Einstellung des Verfahrens gegen einen dauerhaft Verhandlungsunfähigen hindert nicht die Entscheidung des Konflikts. Mit einem weder aufnähme- noch verteidigungsfähigen Beschuldigten kann ein Konflikt nicht beendet, eine Situation nicht entstört werden. Auch hier wäre ein Weiterverhandeln eher geeignet, den Rechtsfrieden nachhaltig zu stören, denn die Möglichkeit zu umfassender Verteidigung zählt zu den essentialia des grundrechtlich geprägten Rechtsstaates. Demnach liegt auch hier in der Einstellung des Verfahrens die Entscheidung des Konflikts und zwar indem deutlich gemacht wird, daß aufgrund des Zustandes des Beschuldigten dem Rechtsfrieden durch eine Beendigung des Verfahrens mehr gedient wird als durch seine Fortsetzung.
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Damit soll nicht unterstellt werden, daß eine tatsächliche Beruhigung eintritt. Eine Tat kann, wie es an den nationalsozialistischen Massenverbrechen und der Regierungskriminalität in der ehemaligen DDR ersichtlich wird, noch Jahre danach zur Beunruhigimg der Rechtsgemeinschaft fuhren, unabhängig davon, ob die Täter bestraft wurden oder zwischenzeitlich gestorben sind. Gemeint ist in diesem Zusammenhang die für die Einleitung imd Durchführung eines Strafverfahrens erforderlich Beunruhigung über den Verdacht einer Straftat. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, daß Rechtsfrieden in dieser Untersuchung normativ verstanden wird, d. h. als ein Zustand, "bei dem von der Gemeinschaft vernünftigerweise erwartet werden kann, daß sie sich über den Verdacht einer Straftat beruhige" (Schmidhäuser, Eb. Schmidt-FS, 521 ff.).
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Ein Verfahren gegen einen Moribunden kann, wie oben dargelegt wurde, auch nicht zur Sicherung des Rechtsfriedens beitragen. Die Entscheidung, durch die das Verfahren eingestellt wird, hingegen löst den durch die Straftat entstandenen Konflikt, indem sie klarstellt, daß es zur Schaffung von Rechtsfrieden keines strafgerichtlichen Verfahrens mehr bedarf, da sich die durch die Straftat entstandene Störung des Gemeinschaftsfriedens durch den absehbaren Tod des Angeklagten von selbst erledigen wird. Ein Weiterprozessieren, das den Anschein erwecken soll, die Justiz nähme die Störung ernst und wolle ihr mit ihren Mitteln begegnen, würde nur zu einer vordergründigen Beruhigung führen, die dann umschlägt, wenn erkannt wird, daß das Ableben vor dem Ende des Verfahrens absehbar war. 7 9 Da die Störung also durch das gerichtliche Strafverfahren nicht beseitigt werden kann, beinhaltet nur die Einstellung aufgrund des drohenden Todes eine Entscheidung des Konflikts. Dabei darf man diese Entscheidung nicht mit der bei entgegenstehender Rechtskraft oder bei Verjährung gleichsetzen. Während bei dieser die Störung für nicht mehr virulent erklärt wird, hat jene ihren Grund darin, daß die Störung schon beseitigt wurde. Beim drohenden Tod ebenso wie bei der Verhandlungsunfähigkeit und beim Tod des Beschuldigten wird die Störung des Gemeinschaftsfriedens nicht für beseitigt oder nicht mehr virulent erklärt. Vielmehr wird durch die Einstellung eingestanden, daß die Störung durch ein strafgerichtliches Verfahren nicht beseitigt werden kann, daß der Konflikt also nur durch eine sofortige Beendigung des Verfahrens entschieden werden kann, will man die Störung nicht noch vertiefen. Die sofortige und endgültige Einstellung eines Verfahrens gegen einen Moribunden hindert mithin nicht die Rechtsverwirklichung. Wie sollte sie auch etwas hindern, das zu erreichen unmöglich ist? Dieses Paradoxon zu erklären, kann denjenigen, die in den Prozeßvoraussetzungen "Prozeßverbote" sehen, nicht ohne Friktionen gelingen. Die Prozeßvoraussetzungen sind, um es mit Volks eigenen Worten zu sagen, als "Voraussetzungen der Friedenssicherung Kriterien der Beurteilung einer Störung der Rechtsordnung". 80 Fehlt eine dieser Voraussetzungen, so ist die Fortsetzung des Verfahrens gerade aufgrund der Friedenssicherungsfunktion derselben nicht mehr nötig, das Verfahren also einzustellen. Das Fazit, daß folglich allein eine Einstellung den Konflikt entscheiden kann, zeigt, daß dem Umstand des drohenden Todes allein durch eine sofortige Beendigung des Verfahrens angemessen Rechnung getragen werden kann.
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Vgl. auch Paeffgen in SK-StPO, Anhang zu § 206a Rn. 10. Volk, Prozeßvoraussetzungen, 217, nennt sie daher "Maßstabsnormen" unter Hinweis auf Rimmelspacher, aaO, 139 ff 80
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dd) Zwischenergebnis Eine der Forderungen, die Volk aufstellt, aber wird man nicht erfüllen können, nämlich, daß die Tatsache, die ein Verfahrenshindernis begründet, so evident ist, daß die Unnötigkeit eines Weiterprozessierens "außer Streit" steht.81 Im Gegensatz zu den anerkannten Verfahrenshindernissen wie entgegenstehende Rechtskraft oder Verhandlungsunfähigkeit ist die Diskussion um den drohenden Tod als Verfahrenshindernis relativ neu. Es muß daher illusorisch erscheinen, daß sowohl Literatur als auch Rechtsprechung nun unisono dieses Verfahrenshindernis anerkennen. 82 Es wird bei jedem Umstand, für den eine Beurteilung als Prozeßvoraussetzung in Betracht gezogen wird, einige Zeit dauern, bis "außer Streit" steht, ob es sich bei ihm um ein Verfahrenshindernis handelt. Als Ergebnis der Untersuchung in diesem Abschnitt aber bleibt festzuhalten, daß es sich bei der Tatsache, daß der Beschuldigte das Ende des Strafverfahrens erleben wird, um eine Voraussetzung der Sicherung des Rechtsfriedens handelt. Der Umstand des drohenden Todes erfordert zu seiner Feststellung im Strafverfahren je nach Fallkonstellation einen nicht unerheblichen Aufwand. Nichtsdestotrotz handelt es sich bei ihm um einen klar und einfach strukturierten Sachverhalt. Wenn er einmal festgestellt wird, bedarf es zur Beantwortung der Frage, ob eingestellt werden soll oder nicht, keiner weiteren Wertungen, insbesondere ist er unabhängig von der Beurteilung der aktuellen Sach- und Rechtslage durch das zur Entscheidung berufene Organ. Er ist zudem von "wirkungssicherer Evidenz", denn es ist eindeutig ersichtlich, daß eine Fortführung des Verfahrens keinen Sinn haben kann und sie nur noch in der Ableistung "zeremonieller Arbeit" 83 bestehen kann. Eine sofortige Beendigung des Verfahrens durch Einstellung verhindert zudem keineswegs die Verwirklichung des Rechts, dieses kann nämlich nach der von Volk und der hier vertretenen Definition des Prozeßzweckes gar nicht mehr verwirklicht werden, da dies nur durch ein rechtskräftiges Sachurteil geschehen kann. Vielmehr ist die Einstellung die Entscheidung des Konflikts. Die Beendigung des Verfahrens dient somit mehr dem Rechtsfrieden als das dessen Fortführung vermögen könnte. 81
So Volks Forderung in StV 1986, 36. Deutlich wird dies, wenn man die langanhaltende Diskussion um die Rechtsfolgen schwerwiegender Rechtsstaatsverstöße oder die Abwesenheit des Angeklagten verfolgt. 83 Paeffgen. NJ 1993, 154 unter Verweis auf Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 107 ff. 82
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Folglich handelt es sich beim Umstand des drohenden Todes um eine "typisierte Voraussetzung der Rechtsfriedenssicherung", und somit auch nach Volks Ansatz zur Bestimmung der den Prozeßvoraussetzungen eigentümlichen Merkmalen um ein Verfahrenshindernis.
3. Bedenken gegen die Einstufung als Verfahrenshindernis Die bisherige Untersuchung hat folgendes ergeben: Der Umstand, daß der Beschuldigte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Ende des Verfahrens nicht erleben wird, erfüllt sowohl die Bedingungen, die der Bundesgerichtshof und der überwiegende Teil der Literatur für ein Verfahrenshindernis aufstellen, als auch die von Volk entwickelten Bedingungen. Der direkte Vergleich mit der dauernden Verhandlungsunfähigkeit als auch mit dem Tod des Beschuldigten hat gezeigt, daß der drohende Tod als negative Zulässigkeitsbedingung für das Verfahren im ganzen und als negative typisierte Bedingung der Rechtsfriedenssicherung angesehen werden kann. Die beiden angeführten Definitionen betreffen mithin nicht nur einen abschließenden Katalog bisher anerkannter Prozeßvoraussetzungen und -hindernisse, sondern sie stellen Bedingungen auf für weitere Umstände, die bisher noch nicht beachtet wurden oder für deren Klassifizierung als Verfahrenshindernis noch kein Konsens erzielt werden konnte. Der Ungenauigkeit beider Definitionen kann dabei am sinnvollsten durch einen ständigen Vergleich mit anerkannten Prozeßvoraussetzungen begegnet werden. Das Ergebnis 4er bisherigen Untersuchung kann aber aufgrund eben dieser Ungenauigkeiten noch nicht als abgesichert gewertet werden. Daher sollen Ausführungen zu weiteren Bedenken, die thematisch mit diesem Problemkreis zusammenhängen und in der auf den Beschluß des Berliner Verfassungsgerichfshofs folgenden Literatur schon angesprochen wurden, die Untersuchung ergänzen. a) Der bei Durchführung des Strafverfahrens BVerJGE 51, 324
drohende Tod -
Wilke und Meurer 84 halten bezüglich des Problems des drohenden Todes BVerfGE 51, 324 für einschlägig. Diese Entscheidung betrifft "die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Strafverfahren einzustellen ist, wenn zu befürchten ist, daß die Durchführung der Hauptverhandlung das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des Beschuldigten gefährden würde" (325). Das
84
Wilke, NJW 1993, ZW, Meurer, JR 1993, 93.
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Gericht betont in diesem Zusammenhang, daß die "verfassungsrechtliche Pflicht zu einer wirksamen Rechtspflege" nicht immer die Durchführung eines Strafverfahrens rechtfertige (345). Von den beiden gegenüberstehenden Belangen - "der Pflicht des Staates zur Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege" einerseits und "dem Interesse des Beschuldigten an der Wahrung seiner verfassungsmäßig verbürgten Rechte" (gemeint ist hier das Recht auf Leben aus Art. 2 II 1 GG, d. Verf.) andererseits - genießt keiner "schlechthin den Vorrang vor dem anderen" (345). Das Gericht kommt zu dem Ergebnis, daß bei Bestehen einer naheliegenden, konkreten "Gefahr, daß der Beschuldigte bei Durchführung der Hauptverhandlung sein Leben einbüßen oder schwerwiegenden Schaden an seiner Gesundheit nehmen würde", ihn die Fortsetzung des Verfahrens in seinem Grundrecht aus Art. 2 II 1 GG verletze (346). Dieses Problem des drohenden schweren Schadens beziehungsweise Todes ordnet das Gericht der Verhandlungsfahigkeit zu (350). Die Obergerichte haben sich in der Folgezeit dieser Beurteilung angeschlossen und sehen in der Tatsache, daß dem Beschuldigten bei Durchführung der Hauptverhandlung oder bei Fortsetzung der Untersuchungshaft schwere Gesundheitsgefahren oder sogar der Tod drohen, ein Verfahrens- beziehungsweise ein Vollzugshindernis, das die sofortige Einstellung beziehungsweise Freilassung erfordert. 85 Auch die in der Folgezeit erschienene Literatur hat diesem Ergebnis zugestimmt. 86 Diese Konstellation ist jedoch nicht mit der gleichzusetzen, die Thema dieser Untersuchung ist. In den aufgeführten Urteilen geht es um den Fall, daß dem Beschuldigten der Tod beziehungsweise eine schwere Gesundheitsbeschädigung durch die Fortführung der Hauptverhandlung oder der Untersuchungshaft droht. Hingegen ist es bei der den Gegenstand dieser Untersuchung bildenden Konstellation so, daß dem Beschuldigten der Tod während des Verfahrens droht, also lediglich eine "zeitliche Koinzidenz" vorliegt. 87 Beide Konstellationen sind also nur bedingt vergleichbar, so daß sich die Frage stellt, ob der hier zu untersuchende Umstand die gleiche Rechtsfolge, nämlich Einstellung des Verfahrens, nach sich ziehen kann, oder ob diese Folge nur bei zu bejahender Kausalität begründet ist.
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BGH StV 1992, 553 (554); BGH (Z) StV 1993, 329 (330); KG (Z) StV 1992, 584 (585); OLG Düsseldorf NStZ 1993, 554. 86 Paeffgen in SK-StPO, Anhang zu § 206a Rn. 8; ders., NStZ 1996, 76, Loos in AK-StPO, § 206a Anhang Rn. 7; Fezer, Strafprozeßrecht, 9/137; C. Roxi η, Strafverfahrensrecht, § 21 Rn. 11. 87 Koppemock/Staechelin, StV 1993, 441. Dies sehen auch Wilke, NJW 1993, 888, und Meurer, JR 1993, 93.
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In beiden Konstellationen droht dem Angeklagten während des Verfahrens beziehungsweise der Untersuchungshaft der Tod oder eine schwere Leibesgefahr. Im einen Fall kann dieser Gefahr aber durch eine Einstellung des Verfahrens oder eine Entlassung aus der Untersuchungshaft begegnet werden. Im anderen Fall jedoch tritt der Tod unabhängig von der Weiterfuhrung des Verfahrens ein. 88 Im ersten Fall drängt sich der Verstoß gegen Art. 2 II 1 GG, wenn das Verfahren fortgeführt wird, geradezu auf, denn zwischen Verfahren und drohendem Tod besteht ein Kausalzusammenhang, der in der zweiten Konstellation gerade nicht besteht. Insofern dürfen aus der Tatsache, daß die durch das Verfahren hervorgerufene Lebens- oder schwere Leibesgefahr einhellig als Verfahrenshindernis anerkannt wird, keine zu weitgehenden Schlüsse gezogen werden, mag auch in diesem Zusammenhang die - "bisweilen wütende" - Ablehnung des drohenden Todes als Verfahrenshindernis verwundern. 89 Zwar können die Ausführungen der Gerichte nicht vollständig auf den Fall des drohenden Todes übertragen werden, andererseits finden sich in ihnen Gesichtspunkte, die das oben erarbeitete Ergebnis weiter stützen. So führt der Bundesgerichtshof aus, es dürfe "nicht zwischen Krankheiten unterschieden werden, die von der Haft und deren Grund unabhängig sind, und solchen, die psychische und physische Folge der Haft sind.' 9 0 Diese Ausführung deutet darauf hin, daß trotz der großen Unterschiede zwischen den beiden Konstellationen in einigen Punkten Vergleiche gezogen werden können. Entscheidend ist, ob dem Beschuldigten eine Lebensgefahr droht, nicht ob sie durch das Verfahren hervorgerufen wird oder auch ohne Verfahren bestehen würde. Es ändert sich nichts daran, daß das Verfahren in einem solchen Fall seinen Sinn verloren hat, sein Ziel also nicht mehr erreichen kann, ein Argument, daß in der dem Bundesgerichtshof zugrundeliegenden Fallkonstellation neben den Verstoß gegen Art. 2 II 1 GG tritt. 91 Der Bundesgerichtshof betont in diesem Urteil außerdem, daß bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen nicht außer acht gelassen werden darf,
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Dabei darf nicht übersehen werden, daß ein Strafverfahren aufgrund der damit unweigerlich für den Angeklagten verbunden Streßsituation den Prozeß des Sterbens noch beschleunigen kann, so daß der Angeklagte nach Einstellung des Verfahrens vielleicht noch eine längere Zeitspanne lebt, als dies bei Fortfühnmg des Verfahrens der Fall wäre. 89 Vgl. Paeffgen in SK-StPO, Anhang zu § 206a Rn. 9 f. 90 BGH StV 1994, 329 (330) unter Verweis auf BVerfGE 51, 324 (345 ff.). 91 Dagegen spielt ein Verstoß gegen Art. 2 Π 1 GG t>eim drohenden Tod keine Rolle, da der Tod nicht aufgrund des Verfahrens droht, es sich also nicht um einen Eingriff in das Grundrecht auf Leben von staatlicher Seite hande lt.
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daß der Beschuldigte noch nicht verurteilt ist und daher noch als unschuldig zu gelten hat. 92 Dieser an sich selbstverständliche Standpunkt sollte eigentlich keiner Erwähnung bedürfen. Wenn dies hier dennoch der Fall ist, dann liegt das darin begründet, daß - wie bereits im 1. Kapitel unter III.6. aufgezeigt wurde - einige Autoren schon die Ingangsetzung eines Verfahrens als Form von Strafe empfinden. Daß es sich dabei um eine Ansicht handelt, die nicht nur vorverurteilt, sondern zudem mit Grundätzen des rechtsstaatlichen Strafverfahrens nicht vereinbar ist, braucht an dieser Stelle nicht mehr ausgeführt zu werden. 93 Hervorzuheben ist nur, daß der Bundesgerichtshof, ebenso wie der Berliner Verfassungsgerichtshof im Honecker-Verfahren, einer solchen Versuchung nicht nur widerstanden hat, sondern diese Tatsache auch ausdrücklich klargestellt hat.
Festzuhalten bleibt demnach, daß der in BVerfGE 51, 325 behandelte Umstand sich von dem hier zu untersuchenden Umstand insofern unterscheidet, als im ersten Fall zwischen dem drohenden Tod des Beschuldigten und dem Strafverfahren eine Kausalbeziehung besteht. So kann die starke Betonung des Lebensschutzes auf den hier zu beurteilenden Umstand nicht übertragen werden, da in diesem Fall das Leben des Beschuldigten nicht mehr geschützt werden kann, denn sein Tod wird nach der Prognose unweigerlich eintreten, unabhängig davon, ob das Verfahren fortgesetzt wird oder die Untersuchungshaft weiter vollzogen wird. Für den hier zu untersuchenden Fall des drohenden Todes läßt sich daher nur die Betonung der Unschuldsvermutung durch den Bundesgerichtshof zum Vergleich heranziehen, da beide Konstellationen im Stadium vor einem rechtskräftigen Abschluß des Verfahrens auftreten. b) Abwägung mit der Schwere der Tat Ein weiterer Aspekt, der in die Diskussion um den Beschluß des Berliner Verfassungsgerichtshofs miteinfloß, betrifft die Frage, ob die Schwere der dem Beschuldigten vorgeworfenen Taten in die Überlegung, ob das Verfahren einzustellen ist, miteinzubeziehen ist. So wurde dem Berliner Verfassungsgerichtshof vorgeworfen, er habe mit der Aufstellung eines absoluten Einstellungsgrundes "keinen Raum für die Erwägungen gelassen, daß die konkret individuelle Bedeutung der Strafsache, vor allem das Gewicht der staatlichen Strafgewalt angesichts der dem Angeklagten zur Last gelegten Schwere der
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BGH StV 1994, 329 (331). Vgl. Paeffgen, NJ 1993, 155.
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2. Kap.: Folgeningen aus der fehlenden Erreichbarkeit des Verfahrensziels
Straftaten und Schuld, eine Fortsetzung und Sicherung des Strafverfahrens bis zu einer wirklich aktuellen prozessualen Unmöglichkeit der Strafverfolgung rechtfertigen können." 94 Dies bedeutet nichts anderes, als daß nur bei kleinerer Kriminalität ein absoluter Einstellungsgrund vorliegen würde, bei mittlerer und schwerer Kriminalität jedoch eine Abwägung des konkreten Falles notwendig wäre. Wäre eine solche Abwägung notwendig, so würde sich in der Tat eine Einstufung des drohenden Todes als Verfahrenshindernis verbieten. Denn nach beiden zu den Prozeßvoraussetzungen vertretenen Ansichten scheidet die Einstufung eines Umstandes als Verfahrenshindernis - wie in diesem Kapitel unter 1.2. dargelegt wurde - dann aus, wenn zu seiner Feststellung ein Eingehen auf die Sache erforderlich ist. 95 Doch zunächst ist überhaupt zu klären, ob eine Abwägung mit der Schwere des Tatvorwurfs zwingend ist. Sie ist in einigen Regelungen des Strafverfahrensrechts zu beachten. So kann zum Beispiel nach § 112 III StPO bei schweren Delikten die Untersuchungshaft auch ohne Bestehen eines Haftgrundes nach § 112 II StPO angeordnet werden. 96 Weitere Bedeutung kommt dem Tatvorwurf bei den Einstellungen aus Opportunität nach den §§ 153 ff. StPO zu, bei denen die Einstellung des Verfahrens von der Schwere der vorgeworfenen Taten abhängt. Im Fall des drohenden Todes vermag wiederum der Blick auf vergleichbare Umstände zu helfen. So ist bei der Verhandlungsunfähigkeit die Frage nach der Einstellung des Strafverfahrens gänzlich unabhängig vom Tatvorwurf 97 . Niemand vertritt etwa die Ansicht, bei Schwerstkriminalität dürfe auch gegen einen nicht aufnähme- oder verteidigungsfähigen Beschuldigten verhandelt werden. Gleiches gilt auch für den Tod des Beschuldigten, der das Verfahren unabhängig von den zur Last gelegten Taten beendet. In Bezug auf den unter a. dargestellten Umstand des bei Durchführung des Strafverfahren drohenden Todes hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, daß die Frage der Einstellung, wenn die Tatsache des drohenden Todes oder der drohenden schweren Gesundheitsgefahr mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehe,
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Bartlspetger, DVB1. 1993, 340; vgl. auch Schoreit. NJW 1993, 883. Dabei ist zu berücksichtigen, daß es bei dem Verfahrenshindernis der Verjährung auf die Schwere des Tatvorwurfs ankommt und bei einer Amnestie sogar die konkrete Straferwartung von Bedeutung sein kann. 96 Ausführlich und kritisch zum Haftgrund der Tatschwere BVerfGE 19, 342 ff ; Paeffgen, Vorüberlegungen, 111 ff; Kleinknecht/hieyer-Goßner, § 112 Rn. 36 ff; Boujong in KK, § 112 Rn. 39 ff. 97 Vgl. Koppemock/Staechelin, StV 1993, 441. 95
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unabhängig sei von der Schwere des Schuldvorwurfs. 98 Diese drei Beispiele verdeutlichen, daß es bei in der Person des Beschuldigten liegenden Umständen nur auf diesen Umstand selber ankommt, nicht jedoch auf den konkreten Tatvorwurf. Das Verfahren verliert in allen diesen Fällen durch den Eintritt des Umstandes seinen Sinn und kann sein Ziel nicht erreichen. Daran ändert sich nichts durch den Blick auf die dem Beschuldigten vorgeworfenen Taten. Zwar ist es nicht von der Hand zu weisen, daß die Gesellschaft bei schwerer Kriminalität, insbesondere bei Regierungskriminalität, die wie im Fall Honekker Tötungsverbrechen betrifft, ein großes Interesse an der Aufklärung des Schuldvorwurfs hat. 99 Doch kann dieses Interesse auch bei einer Fortfuhrung des Strafverfahrens nicht endgültig befriedigt werden, wie oben bereits ausgeführt wurde. Zudem ist auch fraglich, ob die Strafverfolgungsbehörden diesem Aufklärungsinteresse einen solchen Vorrang geben dürfen. Auch andere Regelungen wie die Aussageverweigerungsrechte, Beweisverwertungsverbote oder das Verfahrenshindernis der diplomatischen Immunität begrenzen die Verfolgungstätigkeit des Staates, und zwar unabhängig vom konkreten Tatvorwurf. Das Aufklärungsinteresse kann folglich nicht uneingeschränkten Vorrang vor anderen Interessen genießen, auch nicht bei schwerwiegenden Tatvorwürfen. Paeffgen ist darin zuzustimmen, daß die Wahrheitserforschung nicht "um jeden Preis" betrieben werden darf, "was ja doch hieße, einer Rechtsidee zu huldigen, obwohl das Verfahren erkennbar nicht zu einem Abschluß kommen wird." 1 0 0 Somit kann die Schwere des Tatvorwurfs auf die Frage der Einstellung des Verfahrens gegen einen Moribunden keinen Einfluß haben. Das Verfahren verliert seinen Sinn und seine Rechtsfrieden schaffende Funktion gänzlich unabhängig von der konkreten Tat. Ein Vergleich mit der Prozeßvoraussetzung des Strafantrages, der nur für Taten geringerer Schwere Voraussetzung der Strafverfolgung ist, kann aufgrund der Unterschiedlichkeit beider Umstände nicht zu einem anderen Ergebnis führen, denn in diesem Falle kann das Verfahren zu seinem Ende geführt werden; das Strafantragserfordernis soll eine Strafverfolgung nur in den Fällen unterbinden, wo sie zur Schaffung des
98 BVerfGE 51, 324 (349). In dem zu beurteilenden Fall wurden dem Beschuldigten als ehemaligen SS-Mann Tötungsverbrechen an KZ-Häftlingen in der Zeit des Krieges zur Last gelegt. 99 Vgl. Paeffgen in SK-StPO, Anhang zu § 206a Rn. 10. 100 Paeffgen in SK-StPO, Anhang zu § 206a Rn. 10, wo er weiter ausführt: "Daß der Preis in Fällen der hier angesprochenen Art überhöht ist, erscheint mir außer Frage. Es ist auch ein Zeichen von Stärke, Menschlichkeit gegenüber Personen obwalten zu lassen, die zu solchem Verhalten nie bereit gewesen wären."
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Rechtsfriedens nicht erforderlich ist. 101 Der drohende Tod muß hingegen aufgrund der Gemeinsamkeiten auch in diesem Punkt dieselben Folgen haben wie die dauernde Verhandlungsunfähigkeit und der Tod des Beschuldigten. In eine ähnliche Richtung wie die Frage nach der Schwere des Tatvorwurfs geht die Überlegung, ob ein Verfahrenshindernis auch dann angenommen werden kann, wenn beim Beschuldigten eine Wiederholungsgefahr vorliegt. 102 In Bezug auf die Situation an Aids erkrankter Beschuldigter spricht Dencker vom "Phantom des 'Desperados'", das die Diskussion beherrsche. 103 Tatsächlich handelt es sich nicht nur aufgrund der geringen Anzahl von Fallkonstellationen, die die Merkmale des drohenden Todes erfüllen, um ein geringes Problem. Denn die Wiederholungsgefahr dürfte bei einem Täter, der um die unmittelbare Nähe seines Todes weiß, verschwindend klein sein. Der kurz vor dem Stadium des Siechtums stehende, sterbenskranke Beschuldigte stellt außer in krassen Ausnahmefällen für niemanden mehr eine Bedrohung dar. Zudem kann dieses Problem auf die Frage nach der Klassifizierung eines Umstandes als Verfahrenshindernis und der sich daraus ergebenden Rechtsfolge keinen Einfluß haben, denn auch bei der dauernden Verhandlungsunfähigkeit spielt das Vorliegen einer Wiederholungsgefahr keine Rolle. c) Zusammenfassung Zwischen den beiden Umständen "bei Durchführung des Verfahrens drohender Tod" und "während des Verfahrens drohender Tod" bestehen erhebliche Unterschiede. Gemeinsam ist ihnen nur, daß es sich bei beiden um in der Person des Beschuldigten liegende Umstände handelt und daß das Verfahren bei ihrer positiven Feststellung seinen Sinn verliert, so daß eine Einstellung die einzige angemessene Reaktion darstellt. Die Vergleichbarkeit mit der dauernden Verhandlungsunfähigkeit und dem Tod des Beschuldigten ergibt zudem, daß eine Abwägung mit der Schwere des Tatvorwurfes nicht nur nicht zwingend ist, sondern daß sie zu dieser Gruppe der Prozeßvoraussetzungen auch gar nicht paßt. Die durch nichts zu beseiti-
101 Zum Strafantrag vgl. Volk, Prozeßvoraussetzungen, 233 f.; vgl. auch Rudolphi in SK-StGB, Vor § 77 Rn. 2. 102 Diese Frage ist deswegen von Bedeutung, da mit der Entscheidung über das Vorliegen eines Verfahrenshindemisses auch die Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft verbunden ist. 103 Dencker, StV 1992, 125 (130). Der Unterschied zum drohenden Tod liegt darin, daß bei den Beschuldigten in den von Dencker behandel ten Aids-Fällen feststand, daß sie nicht vor Ende des Verfahrens sterben würden.
I. Vorliegen eines einfachgesetzlichen Verfahrenshindernisses
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gende "Sinnlosigkeit" jedweden Weiterprozessierens in diesen Fällen - was diese Prozeßvoraussetzungen von anderen wie zum Beispiel dem Strafantrag unterscheidet - ist keine relative. Überspitzt ausgedrückt ist in einer solchen Konstellation, ob es sich nun um dauernde Verhandlungsunfähigkeit oder den drohenden Tod handelt, die Fortführung eines Verfahrens gegen einen "kleinen Trickbetrüger" ebenso weit davon entfernt, das Ziel des Strafverfahrens, den Rechtsfrieden, zu erreichen, wie die Fortführung eines Verfahrens gegen eine Person, der mehrfacher Mord vorgeworfen wird. Das Weiterprozessieren gegen einen Verhandlungsunfähigen oder einen Moribunden wird nicht dadurch legitimer, "sinnvoller" oder justizförmiger, weil ihm schwere Verbrechen zur Last gelegt werden, zumal auch in diesem Punkt wieder die Unschuldsvermutung betont werden muß. Die Schwere des Tatvorwurfs ist dort von Bedeutung, wo bei geringer Schwere die Rechtsfriedenssicherung die Durchführung eines Strafverfahrens nicht gebietet, wie etwa beim Strafantragserfordernis und bei den §§ 153 ff. StPO. Sie kann aber dort nicht Beachtung finden, wo sie im Gegensatz zum Ziel des Strafverfahrens steht. So würde dem Rechtsfrieden nicht gedient, wenn entgegen § 136a StPO bei Tötungsdelikten oder anderer schwerer Kriminalität Folter erlaubt und eine so erpreßte Aussage verwertbar wäre oder wenn entgegen dem § 52 StPO die Ehefrau des Beschuldigten bei solchen Delikten zur Aussage verpflichtet wäre. Im Gegenteil würde dem Streben nach Rechtsfrieden nur weiterer Schaden zugefügt. Ebenso verhält es sich bei Prozeßvoraussetzungen, die in der Person des Beschuldigten liegende Umstände betreffen. Wie alle Gesichtspunkte auf dem Gebiet des Strafverfahrens muß sich auch die Schwere des Tatvorwurfs in das Gesamtsystem des Strafverfahrens eingliedern, das entscheidend nicht nur vom Grundgesetz, sondern insbesondere vom Ziel und Zweck des Strafverfahrens, welcher natürlich auch unter dem Einfluß der Verfassung steht, geprägt wird. Bei der Feststellung der Tatsache des drohenden Todes erlaubt die Frage nach der Rechtsfolge mithin kein Eingehen auf den wie auch immer gearteten Tatvorwurf.
4. Ergebnis Der Umstand, daß der Beschuldigte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Ende des Strafverfahrens nicht erleben wird, wiegt als negative vertypte Voraussetzung der Rechtsfriedenssicherung so schwer, daß er die Zulässigkeit des Verfahrens im ganzen entfallen läßt. Der Vergleich mit der dauernden Verhandlungsunfähigkeit, dem Tod des Beschuldigten und dem bei Durchführung des Hauptverfahrens drohenden Tod hat zum Ergebnis, daß der drohende Tod dieselbe Rechtsfolge haben muß wie diese drei Umstände, nämlich sofortige Einstellung des - durch Eintritt des Umstandes sinnlos gewor-
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2. Kap.: F o l g e n g e n aus der fehlenden Erreichbarkeit des Verfahrensziels
denen - Verfahrens. Auf andere Weise, etwa durch Abwägung mit der Schwere des Tatvorwurfes oder durch Abwarten des Eintritts der Verhandlungsunfähigkeit oder des Todes, kann sowohl dem Umstand selber also auch insbesondere dem Ziel des Verfahrens, der Sicherung des Rechtsfriedens durch Streben nach Gerechtigkeit und Rechtssicherheil:, nicht Rechnung getragen werden. Der drohende Tod ist somit ein einfachgesetzliches Verfahrenshindernis.
II. Verfahrenshindernis von Verfassungs wegen Als Ergebnis des ersten Abschnitts des zweiten Kapitels bleibt festzuhalten, daß es sich beim drohenden Tod um ein einfachgesetzliches Verfahrenshindernis handelt, das ein Weiterprozessieren verbietet. Die Frage, ob es sich hierbei um ein unmittelbar der Verfassung zu entnehmendes Verfahrenshindernis handelt, scheint dann an sich obsolet. Denn warum sollte die Verfassung bemüht werden, wenn die Antwort schon dem einfachen Gesetz zu entnehmen ist? Doch wäre es zu kurz gegriffen, an dieser Stelle die Untersuchung zu beenden. Denn der Berliner Verfassungsgerichtshof, der den drohenden Tod erstmals als Verfahrenshindernis qualifiziert hat, stützt sich in seiner Begründung gerade auf die Verfassung, genauer gesagt auf die Unantastbarkeit der Menschenwürde. 104 Und ebenso setzt sich die auf den Beschluß folgende Literatur in der Hauptsache mit diesem Verfahrenshindernis aus der Verfassung auseinander. Es ist also noch zu prüfen, ob sich aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde ergibt, daß immer dann das Strafverfahren einzustellen ist, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, daß der Beschuldigte das Ende des Verfahrens nicht erleben wird. Dabei werden diese Ausführungen wegen der spezifisch einfachgesetzlich-strafprozessrechtlichen Ausrichtung der Untersuchung notwendigerweise kurz gehalten; was schon deswegen ratsam ist, da man sich mit dem Thema Menschenwürde auf ein "weites Feld" begibt, das den Rahmen dieses Abschnitts leicht sprengen kann. Zunächst setzt diese Aufgabe die Klärung des Begriffs Menschenwürde voraus. Daran anschließend ist die Frage zu beantworten, ob die Menschenwürde von Moribunden durch die Fortführung des Strafverfahrens verletzt
104 So BerlVerfGH, NJW 1993, 515 (517). In diesem Zusammenhang soll nicht darauf eingegangen werden, ob die Menschenwürdegarantie auch in der Verfassung des Landes Berlin enthalten ist (BerlVerfGH NJW 1993, 515 (516 f.)), da dies für die hier interessierende abstrakte Rechtsfrage, die sich am Grundgesetz orientiert, nicht von Bedeutung ist.
Π. Verfallrenshindernis von Verfassungs wegen
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wird. Dabei kann es aber nicht darum gehen zu klären, ob der konkrete Beschwerdeführer in dem vor dem Berliner Verfassungsgerichtshof anhängigen Verfahren durch die Fortführung des Strafverfahrens in seiner Menschenwürde verletzt wurde, sondern ob eine solche Verletzung immer bei Strafverfahren gegen Moribunde vorliegt. Schließlich hat der Berliner Verfassungsgerichtshof diese Frage generell - und nicht auf den Einzelfall bezogen - entschieden, wenn er ausführt: "Der Mensch wird zum Objekt staatlicher Maßnahmen insbesondere dann, wenn sein Tod derart nahe ist, daß die Durchführung eines Strafverfahrens ihren Sinn verloren hat." 1 0 5
1. Der Begriff Menschenwürde Der Versuch, den Begriff Menschenwürde zu definieren, erscheint angesichts der Unbestimmtheit und Offenheit dieses Begriffs und der Fülle der hierzu erschienenen Literatur zum Scheitern verurteilt. 106 Im vergleichsweise kleinen Rahmen dieser Untersuchung kann es daher nur darum gehen, eine Annäherung an den Begriff Menschenwürde zu finden. Dürig, der sich unmittelbar nach Erlaß des Grundgesetzes mit der Menschenwürde auseinandergesetzt hat, sieht darin einen dem Menschen "unverlierbar und unverzichtbar" innewohnenden Wert, welchen sich der Mensch nicht erst durch positives Tun verschaffen muß: 107 "Jeder Mensch ist Mensch kraft seines Geistes, der ihn abhebt von der unpersönlichen Natur und ihn aus eigener Entscheidung dazu befähigt, seiner selbst bewußt zu werden, sich selbst zu bestimmen und sich und die Umwelt zu gestalten." Das Bundesverfassungsgericht hat sich diesem Verständnis von Menschenwürde angeschlossen: Danach "kommt dem Menschen in der Gemeinschaft ein sozialer Wert- und Achtungsanspruch zu" 1 0 8 ; die Menschenwürde ist "oberster Wert" im Grundgesetz, "Grundnorm", "höchster Rechtswert" und "tragendes Konstitutionsprinzip". 109 105
BerlVerfGH, NJW 1993, 515 (517). Vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 383: "Würde ist ein Begriff, auf dem sozusagen zweieinhalbtausend Jahre Philosophiegeschichte lasten "; vgl. außerdem Lammer, Verdeckte Ermittlungen, 63 f. 107 Dürig, AöR 81 (1956), 117 (125); vgl. auch ders., JR 1952, 259 (260 f.) und ders. in Maunz/Dürig, Art. 1 Rn. 2 und 18. 108 BVerfGE 27, 1 (6). 109 BVerfGE 6, 32 (41); 27, 1 (6); 34, 238 (245); 48, 127 (163); 50, 166 (175). Vgl. auch Leibholz/Rink/Hesselberger, Art. 1 Rn. 1 f.; Jarass in Jarass/Pieroth, Art. 1 Rn. 2; Kunig in von Mimch/Kunig, Art. 1 Rn. 12 f.; Müller-Dietz, Menschenwürde und Strafvollzug, 25 f.; Wolter, NStZ 1993, 1 (3). 100
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2. Kap.: F o l g e n g e n aus der fehlenden Erreichbarkeit des Verfahrensziels
Dem entgegen wird Menschenwürde von Luhmann nicht als Wert, sondern als Leistung, also als etwas dynamisches, verstanden, das der Mensch durch Selbstdarstellung erbringen kann, das er aber auch nicht erbringen, das heißt verfehlen kann. 1 1 0 Diese Ansicht hat den Vorteil, daß sie im Gegensatz zur herrschenden Ansicht besonders die Verantwortung des Menschen betont, selber festzulegen, worin seine Würde besteht, was sie "ausmacht".111 Gegen sie ist jedoch einzuwenden, daß sie dann versagt, wenn der Mensch zu dieser Leistung unfähig ist, zum Beispiel wenn er "handlungs- und willensunfähig" ist. wie zum Beispiel der psychisch Gestörte oder das kleine Kind. 1 1 2 Gerade aber dem Schutz dieser Personen dient die Garantie der Menschenwürde in Art. 1 I GG. Denn in Abkehr zu der vorhergehenden Zeit des Nationalsozialismus mit seiner Unterscheidung zwischen leberiswerten und lebensunwerten Menschen, sollte durch diese Bestimmung sichergestellt werden, daß jedem menschlichen Leben Würde zukommt. 113 Dies gewährleistet aber nur ein Verständnis von Menschenwürde, das in ihr einen jedem Menschen, unabhängig von seinen Fähigkeiten und Leistungen, innewohnenden Wert sieht. Und so ist es auch einhellige Ansicht, daß auch dem Menschen, der die Würde bewußt mißbraucht, nämlich dem Straftäter, Würde zukommt. 114 Doch auch Begriffe wie "innewohnender Weit" oder "sozialer Wert- und Achtungsanspruch" liefern noch keine arbeitstaugliche Grundlage für die Beurteilung, was Menschenwürde ist. Daher haben sich Dürig und ihm folgend das Bundesverfassungsgericht der Eingrenzung dessen, was Menschenwürde ausmacht, vom Verletzungsvorgang her genähert: "Die Menschenwürde als solche ist getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird." 1 1 5 Dies soll insbesondere 110 Lu limami, Grundrechte als Institution, 68 ff, Podlech in AK-GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 11. 1,1 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 385. 112 Starck in von Mangoldt/Klein, Art. 1 Abs. 1 Rn. 14; Häberle in Handbuch des Staatsrechts, Band 1, § 20 Rn. 44; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 385. 113 Vgl. Kunig in von Münch/Kunig, Art. 1 Rn. 11; Benda in Handbuch des Verfassungsrechts, § 6 Rn. 15.; vgl. auch Dürig, AöR 81 (1956), 125. 1,4 BGHSt 31, 189 (194); Benda in Handbuch des Verfassungsrechts, § 6 Rn. 16; Kunig in von Münch/Kunig, Art. 1 Rn. 12; Häberle in Handbuch des Staatsrechts, Bd. 1, § 20 Rn. 25; Dürig in Maunz/Dütig, Art. 1 Abs. 1 Rn. 21; Schont, Der Schutz der Menschenwürde im Strafverfahren, 100; Graf Vitzthum, JZ 1985, 201 (202); vgl. auch Zippelius in Bonner Kommentar, Art. 1 Abs. 1 u. 2 Rn. 65; 115 Dürig, AöR 81 (1956), 117 (127); ders. in Maunz/Dürig, Art. 1 Abs. 1 Rn. 28; BVerfGE 9, 89 (95); 27, 1 (6); 45, 187 (228); Häberle in Handbuch des Staatsrechts, Bd. 1, § 20 Rn. 43; Zippelius in Bonner Kommentar, Art. 1 Abs. 1 u. 2 Rn. 63 f.; Küttig in von Münch/Kunig, Art. 1 Rn. 22; Lammer, Verdeckte Ermittlungen, 64.
Π. Verfarenshindernis von Verfassungs wegen
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dann der Fall sein, wenn der Mensch zum Objekt eines staatlichen Verfahrens gemacht wird. 1 1 6 Im sogenannten Abhörurteil hat das Bundesverfassungsgericht jedoch ausgeführt, daß diese Objektformel nur eine Richtung für die Untersuchung, ob die Menschenwürde verletzt sei, vorgeben könne: 117 "Der Mensch ist nicht selten bloßes Objekt nicht nur der Verhältnisse und der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch des Rechts, insofern er ohne Rücksicht auf seine Interessen sich fügen muß. [...] Die Behandlung des Menschen durch die öffentliche Hand, die das Gesetz vollzieht, muß also, wenn sie die Menschenwürde berühren soll, Ausdruck der Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seines Personenseins zukommt, also in diesem Sinne eine verächtliche Behandlung sein." Es reicht demnach für die Bejahung einer Verletzung der Menschenwürde nicht aus, wenn man Objekt eines staatlichen Handelns ist. Hinzukommen muß eine gewisse subjektive Zielrichtung, die durch das Wort "Verachtung" gekennzeichnet ist. Diese "Abkehr" von der bisherigen Objektformel, die allein auf die Objektstellung des Menschen abhob, wurde von drei Richtern des erkennenden Senats in einem abweichenden Votum kritisiert. Sie führen aus, daß der Mensch auch nicht in "guter Absicht" als Objekt, also "unpersönlich" behandelt werden dürfe, die Objektformel also nicht nur eine Richtung angebe, sondern ein "in Art. 1 GG wurzelnder Grundsatz, der unmittelbar Maßstäbe setzt", sei. 118 Dieser Ansicht haben sich auch Teile der Literatur angeschlossen.119 Zutreffend erklärt Häberle, daß das Mehrheitsvotum den "emanzipatorischen Charakter" der Menschenwürde und das "Rechtsverständnis einer freiheitlichen Demokratie" verkenne. 120 Mit Sicherheit richtig ist, daß der Einzelne Adressat des Rechts ist, daß ihm Pflichten auferlegt und seine Rechte eingegrenzt werden. Dennoch muß der Einzelne auch dann noch Rechtssubjekt sein insofern, als er die Möglichkeit hat, sich gegen das Recht, mag es von der Verwaltung als Rechtsverordnung oder Verwaltungsakt oder vom Gesetzgeber als Gesetz erlassen worden sein, 1,6
Düng in Maunz/Dürig, Art. 1 Abs. 1 Rn. 34. BVerfGE 30, 1 (25 f.); zustimmend Leibholz/Rink/Hesselberger, Art. 1 Rn. 10; differenzierend von Münch, GG, 3. Aufl., Art. 1 Rn. 19 ff. 118 Abweichendes Votum in BVerfGE 30, 1 (40). 119 Kunig in von Münch/Kunig, Art. 1, Rn. 23 f., Geädert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 47; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 388; Häberle in Handbuch des Staatsrechts, Bd. 1, § 20 Rn. 9; vgl. auch Jarass in Jarass/Pieroth, Art. 1 Rn. 6; Höfling in Sachs, Art. 1 Rii. 15 120 Häberle in Handbuch des Staatsrechts, Bd. 1, § 20 Rn. 9. 117
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zu wehren oder auf andere Weise als Rechtssubjekt zu handeln. Er darf aber nicht ein Objekt des mit guter Absicht gesetzten F.echts sein, wenn dieses "den Menschen als Person mit seiner metaphysischen Dimension aus dem Auge verliert". 121 Die Menschenwürde kann unabhängig davon verletzt sein, ob dies mit "böser", "guter" oder gar keiner Absicht geschieht. Letztendlich kommt es darauf an, ob seine Subjektsqualität in Frage gestellt wird. Die Kontroverse zeigt, daß auch die Objektsformel noch zu unbestimmt ist, um klare Antworten darüber geben zu können, wann die Menschenwürde verletzt wird. Insofern ist dem Mehrheitsvotum Recht zu geben, wenn es konstatiert, daß sich eine Verletzung der Menschenwürde nicht generell, sondern immer nur "in Ansehung des konkreten Falles" feststellen lassen kann. 1 2 2 Dennoch haben die bisherigen Ausführungen einige "Markierungen" ergeben, die bei der Untersuchung der hier interessierenden Problematik in Bezug auf eine mögliche Verletzung der Menschenwürde weiterhelfen können. Dazu zählt nicht nur die "Objektformel", sondern auch schon die Feststellung, daß jedem Menschen unabhängig von seinen Fähigkeiten und Leistungen Würde im Sinne des Art. 1 I GG zukommt.
2. Verletzung der Menschenwürde in Verfahren gegen Moribunde Im Strafverfahren ist die Garantie der Menschenwürde aufgrund der vielfältigen Möglichkeiten, in die Freiheit und andere Rechte von Menschen einzugreifen, von großer Bedeutung. Das Bundesverfassungsgericht fuhrt dazu aus, daß der Straffällige "nicht zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung" gemacht werden dürfe. 123 In einer späteren Entscheidung entnimmt das Gericht der Menschenwürdegarantie "das zwingende Gebot, daß der Beschuldigte, im Rahmen der von der Verfahrensordnung aufgestellten, angemessenen Regeln, die Möglichkeit haben und auch tatsächlich ausüben können muß, auf das Verfahren einzuwirken". 124
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Starck in von Mangoldt/Klein, Art. 1 Abs. 1 Rn. 10; vgl. auch Graf Vitzthum, JZ 1985, 201 (204). Das abweichende Votum fuhrt dazu aus, daß der Mensch, auch wenn er "der Rechtsordnung unterworfen ist", "lebendiges Glied der Rechtsgemeinschaft" bleibt (BVerfGE 30, 1 (42)). 122 BVerfGE 30, 1 (25) 123 BVerfGE 45, 187 (228); 72, 105 (116); Leibholz/Rink/Hesselberger, Art. 1 Rn. 21. 124 BVerfGE 63, 332 (337); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 393; vgl. auch Starck in von Mangoldt/Klein, Art. 1 Abs. 1 Rn. 45; Schont, Der Schutz der Menschewürde
Π. Verfalrenshindeis von Verfassungs wegen
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Die Gestaltung, die das Strafverfahren durch die gesetzlichen Regelungen erfahren hat, entsprechen grundsätzlich diesem Prinzip, denn dem Beschuldigten werden zahlreiche Möglichkeiten eingeräumt, wie er seine Rechte wahrnehmen, seine Position vertreten kann. Daher ist im Grundsatz Starck zuzustimmen, der konstatiert, daß das "Einstehen-Müssen für eigene Taten in einem rechtsstaatlich geführten Strafprozeß" die Menschenwürde' nicht berührt. 1 2 5 Dennoch können Situationen entstehen, in denen der Beschuldigte nicht mehr Subjekt im Verfahren ist, ohne daß die Strafprozeßordnung angemessen darauf reagiert. Fraglich ist, ob dies auch auf den Fall, daß der Beschuldigte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Ende des Strafverfahrens nicht erleben wird, zutrifft. Angesichts der "Schrankenlosigkeit" 126 der Menschenwürde und ihrer Unabänderlichkeit gemäß Art. 79 III GG darf in diesem Zusammenhang nicht die Gefahr einer extensiven Anwendung übersehen werden. 127 Das heißt, daß nicht jede Beeinträchtigung der persönlichen Freiheitssphäre gleich einen Verstoß gegen die Meschenwürde darstellt. Andererseits kann ihr Schutz nicht nur auf extremste Situationen beschränkt werden. 128 Hier jedoch, wo es um das zeitlich nahe Sterben des Beschuldigten geht, also um seine vitalen Interessen, wird man kaum umhin können, auch die Frage nach einer Verletzung der Menschenwürde zu stellen. 129 Im Falle der dauernden Verhandlungsunfähigkeit ist die Situation - abgesehen davon, daß es sich um ein Verfahrenshindernis handelt - eindeutig: Der Angeklagte kann sich nicht mehr ausreichend verteidigen und seine Rechte wahrnehmen. Damit verliert er seine Subjektsqualität und wird zum Objekt des Strafverfahrens. Dadurch wird eine Verletzung der Menschenwürde offensichtlich, eine Fortführung des Strafverfahrens wäre verfassungswidrig.
im Strafverfahren, 100; Häberle in Handbuch des Staatsrechts, Bd. 1, § 20 Rn. 25; Zippelius in Bonner Kommentar, Art. 1 Abs. 1 u. 2 Rn. 65; Benda in Handbuch des Verfassungsrechts, § 6 Rn. 20; Graf Vitzthum, JZ 1985, 201 (204); Wolter, Meyer-GS, 493 (500). 125 Starck, JZ 1993,231 (233). 120 Der Schutz der menschlichen Würde ist absolut insofern, als jeder Eingriff in den Schutzbereich der Menschenwürde schon einen Verstoß darstellt, so daß sich Grenzen nur aus der Menschenwürde Anderer ergeben können. Vgl. dazu BVerfGE 75, 369 (380); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 397; Starck in von Mangoldt/Klein, Art. 1 Abs. 1 Rn. 28; Jarass in Jarass/Pieroth, Art. 1 Rn. 10. 127 Graf Vitzthum, JZ 1985, 201 (209); Starck in von Mangoldl'Klein, Art. 1 Abs. 1 Rn. 10; vgl. auch Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 395. 128 Lammer, Verdeckte Ermittlungen im Strafprozeß, 66. 129 So auch Müller-Dietz, Menschenwürde und Strafvollzug, 6.
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2. Kap.: F o l g e n g e n aus der fehlenden Erreichbarkeit des Verfahrensziels
Der moribunde Beschuldigte kann sich jedoch noch ausreichend verteidigen. Er ist weiterhin in der Lage, Anträge zu stellen, dem Verfahrensablauf zu folgen oder auf andere Weise seine Rechte wahrzunehmen. 130 Die Situation ist also nicht vergleichbar mit der dauernden Verhandlungsunfähigkeit. Der Berliner Verfassungsgerichtshof stützt seine Argumentation daher auch auf den Umstand, daß die Fortfuhrung des Strafverfahrens seinen Sinn verloren hat und der Beschuldigte dadurch zum bloßen Objekt staatlicher Maßnahmen geworden ist. 1 3 1 Auch diese Untersuchung kommt im ersten Kapitel zu dem Ergebnis, daß ein Verfahren gegen einen Moribunden keinen Sinn hat, seinen Zweck nicht mehr erreichen kann. Aber in der Argumentation des Berliner Verfassungsgerichtshofs wird nicht deutlich, warum dies zum Verlust der Subjektsqualität des Betroffenen fuhrt. Schließlich ist er genauso handlungsfähig wie jeder normale Beschuldigte. Die Fortfuhrung eines Strafverfahrens, das seinen Sinn verloren hat, mag mit dem Rechtsstaatsprinzip in Kollision geraten, aber einen Eingriff in die Menschenwürde läßt sich nicht generell feststellen. 132 Im Einzelfall kann es sicher auch zu einer Verletzung der Menschenwürde des Beschuldigten kommen. So zum Beispiel in dem dem Berliner Verfassungsgerichtshof vorgelegten Fall, in dem der oberste Repräsentant eines untergegangen Systems wegen zahlreicher Tötungen an der Grenze angeklagt war: In einem solchen Verfahren, das eine starke Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit hervorrief und das auch eine starke politische Dimension hatte, kann in der Fortführung eine Verletzung der Menschenwürde des Beschuldigten liegen. Denn es besteht die Gefahr, daß die Subjektstellung des Beschuldigten in den Hintergrund gerät und er als Repräsentant des untergegangenen Systems Objekt einer "Abrechnung" zu werden droht. Eine Verletzung der Menschenwürde liegt auf jeden Fall dann vor, wenn das Verfahren nur deshalb fortgesetzt wird, um den Beschuldigten nicht entkommen zu lassen. Besteht die Motivation also darin, dem Beschuldigten den Lebensrest, der ihm noch zur Verfügung steht, möglichst schwer zu machen, wird mithin, worauf im ersten Kapitel unter 6. eingegangen wurde, die Untersuchungshaft und der Prozeß als vorweggenommene Strafe betrachtet, so ist darin mit Sicherheit eine Verletzung der Menschenwürde zu sehen. Folglich spielen auch das Verhalten und die Beweggründe der Verfahrensbeteiligten eine wichtige Rolle, nämlich wie zum Beispiel Richter und Staatsanwälte mit
130
Vgl. Meurer, JR 1993, 89 (94). BerlVerfGH NJW 1993, 515 (517); zustimmend Paeffgen, Berkemann, NVwZ 1993,409 (417). 132 So auch Höfling in Sachs, Art. 1 Rn. 34. 131
NJ 1993, 152 (154);
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der Person des Beschuldigten umgehen. Diese Situation läßt sich aber nicht auf ein normales Strafverfahren übertragen, das kein so großes Interesse in der Öffentlichkeit hervorruft und die Justiz nicht vor so vielfaltige Probleme stellt wie die Auseinandersetzung mit Regierungskriminalität. Damit soll nicht gesagt werden, es sei die besondere Empfindlichkeit des konkreten Beschuldigten ausschlaggebend, vielmehr würde jeder Bürger in einem solchen Verfahren wie dem Honecker-Vefahren als Beschuldigter mehr Belastungen ausgesetzt sein als in anderen Strafverfahren. Deutlich wird damit, daß in bestimmten Verfahren die Gefahren für die Menschenwürde höher sind als in anderen Verfahren.
Jedoch könnte man aus einem anderen Grund die Ansicht vertreten, daß der Moribunde in einem Strafverfahren grundsätzlich seine Subjektstellung verliert, somit nur Objekt für Zwecke anderer ist: Wenn das konkrete Ziel des Verfahrens, ein gerechtes und rechtskräftiges Urteil über die Schuld des Angeklagten, nicht mehr erreicht werden kann, so dient der Moribunde in seiner Verfahrensrolle als Angeklagter jedenfalls nicht mehr Zwecken, die - auf seine Person bezogen - das Verfahren legitimieren können. Das hieße in seiner Konsequenz, daß der Mensch immer dann zum Objekt in einem Verfahren würde, wenn dieses seinen Sinn verliert. Eine tiefergehende Untersuchung dieser Problematik wäre im Hinblick darauf, daß dies Konsequenzen weit über das strafrechtliche und das gerichtliche Verfahren überhaupt hinaus hätte, wünschenswert. Aufgrund der schon in der Einleitung zu diesem Abschnitt angekündigten Kürze des verfassungsrechtlichen Aspekts der Problematik, beschränkt sich die Kritik dieser Ansicht auf einige - teilweise bereits oben erwähnte - Punkte. Zum einen wird man nicht generell unterstellen können, daß ein Verfahren, daß seinen legitimen Zweck verloren hat, als vorweggenomme Strafe oder, überspitzt formuliert, als Rache dient. Dies ist ohne Zweifel immer eine Frage des konkreten Falles. Darüber hinaus sollte man Vorsicht bei der Aufstellung allgemeiner Regeln bezüglich einer Verletzung der Menschenwürde walten lassen, denn damit droht eine Ausuferung der Menschenwürdegarantie. Die Menschenwürde ist "höchster Rechtswert" und "tragendes Konstitutionsprinzip", ein Eingriff in sie ist immer sofort auch ein Verletzung. 133 Daraus erklärt sich auch die Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts, nach dessen Ansicht sich eben keine allgemeinen Regeln aufstellen lassen, sondern es auf den
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Vgl. BVerfGE 75, 369 (380); Pieroth/Schlink, von Mangoldt/Klein, Art. 1 Abs. 1 Rn. 28.
Grundrechte, Rn. 397; Starck in
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konkreten Fall ankommt. 134 Zudem ist es durchaus vorstellbar, daß ein Beschuldigter, der von seiner Unschuld überzeugt ist und dieses auch, soweit es geht, vor Gericht beweisen will, sich eher durch eine Einstellung des Verfahrens in seiner Menschenwürde verletzt sieht als durch eine Fortführung. Eine allgemeine Regel würde mithin sowohl der Garantie der Menschenwürde als auch den verschiedenen vorstellbaren Konstellationen nicht gerecht. Daß die Fortführung des Strafverfahrens sinnlos geworden ist, begründet also für sich gesehen noch keinen Menschenwürdeverstoß. Es sind noch mehr Situationen vorstellbar, in denen ein Verfahren seinen Zweck nicht mehr erreichen kann, ohne daß die Strafprozeßordnung Möglichkeiten bereithält, darauf angemessen zu reagieren, etwa weil es sich nicht um ein Verfahrenshindernis handelt, keine "typisierte Voraussetzung der Rechtsfriedenssicherung" vorliegt. Einer Fortsetzung kann dann nur mit dem Einwand der Rechtsstaatswidrigkeit begegnet werden 135 , im Einzelfall mögen auch Grundrechte verletzt sein, generell wird man dies aber nicht behaupten können.
Der Berliner Verfassungsgerichtshof 136 beruft sich desweiteren auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die den Fall eines betagten Häftlings betraf, der - zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt - schon zweiundzwanzig Jahre in Haft war. Das Bundesverfassungsgericht vertritt die Ansicht, daß es mit der Menschenwürde nicht vereinbar sei, die Chance auf Freilassung "auf einen von Siechtum und Todesnähe gekennzeichneten Lebensrest zu reduzieren", es schließt jedoch nicht aus, daß eine lebenslange Freiheitsstrafe auch bis zum Tod des Häftlings vollstreckt wird. 1 3 7 Der Umstand, daß dieser Fall die Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe, der andere Fall aber die Durchführung eines Strafverfahrens betrifft, hindert nicht die Vergleichbarkeit beider Konstellationen. Wenn schon die Verbüßung einer rechtskräftigen lebenslangen Freiheitsstrafe gegen die Menschenwürde verstoßen kann, muß dies erst recht für das Erkenntnisverfahren gelten, in dem sich der Beschuldigte auf die Unschuldsvermutung berufen kann. 138 Dennoch stützt
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BVerfGE 30, 1 (25). Vor einer extensiven Anwendung warnen Graf Vitzthum, JZ 1985, 201 (209) und Starck in von Mangoldt/Klein, Art. 1 Abs. 1 Rn. 10. 135 An dieser Stelle soll nicht darauf eingegangen werden, ob es sich bei solchen Konstellationen um Verfahrenshindernisse handelt oder ob diese nur einzelfallbezogen beurteilt werden können; vgl. dazu die Ausführungen unter 1.2.c). 136 BeriVerfGH NJW 1993, 515 (517). 137 BVerfGE 72, 105 (116 f.). 138 Paeffgen, NJ 1993, 152 (154); Koppeniock/Staechelin, StV 1993, 433 (441); a.A. Schoreit, NJW 1993, 881 (883); Starck, JZ 1993, 231 (233).
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dieses Urteil nicht die Argumentation des Berliner Verfassungsgerichtshofs. Das Bundesverfassungsgericht stellt keine allgemeingültige Regel auf. Im Gegenteil verneinte es beim Beschwerdeführer trotz seines hohen Alters und der langen Haftzeit von zweiundzwanzig Jahren einen Menschenwürdeverstoß. An diesem Urteil zeigt sich deutlich, daß eine Beurteilung des konkret individuellen Falles entscheidend ist und nicht eine abstrakte Regel. Als Ergebnis bleibt festzuhalten, daß die Menschenwürde eines Beschuldigten, dem der Tod nahe bevorsteht, durchaus verletzt werden kann, wenn das Strafverfahren fortgesetzt wird. Eine solche Verletzung kann aber nicht allein damit begründet werden, daß er dadurch, daß das Verfahren seinen Zweck nicht mehr erfüllen kann, zum Objekt wird, denn er behält, anders als der dauernd VerhandlungSunfahige, seine Subjektsqualität. Die Frage nach dem Sinn und Zweck des Verfahrens, der im Streben nach Rechtsfrieden mit den beiden Elementen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit liegt, ist vielmehr dann von großer Bedeutung, wenn die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens zur Diskussion steht. Entscheidend muß es für die Feststellung eines Verstoßes gegen die Unantastbarkeit der Menschenwürde auf die spezielle Konstellation des Einzelfalles ankommen. Eine allgemeine Regel, daß die Fortfuhrung des Strafverfahrens gegen einen Moribunden immer seine Menschenwürde verletze, läßt sich hingegen nicht aufstellen.
3. Zusammenfassung Die Schwierigkeit zu definieren, was Menschenwürde ist, läßt es sinnvoll erscheinen, sich der Problematik vom Verletzungsvorgang her zu nähern. Diesbezüglich kann auf der von Dürig entwickelten und vom Bundesverfassungsgericht übernommenen Objektformel aufgebaut werden, die im Bereich des Strafrechts dahingehend präzisiert worden ist, daß "der Beschuldigte [...] die Möglichkeit haben und tatsächlich ausüben können muß, auf das Verfahren einzuwirken". 139 In Strafverfahren gegen Moribunde kann in der Fortfuhrung desselben ein Verstoß gegen Art. 1 I GG liegen. Dies läßt sich jedoch nicht generell und absolut feststellen, vielmehr kommt es entscheidend auf die Konstellation des Einzelfalles an. Daher kann sich ein Verfahrenshindernis nicht aus der Verbürgung der Menschenwürde ergeben. Für derart gelagerte Fälle bietet sich - soweit nicht ein einfachgesetzliches Verfahrenshindernis gegeben ist - möglicherweise eine "Einstellung von Verfassungs wegen" an. 1 4 0 139
BVerfGE 63, 332 (337). So lautet der Vorschlag von Bctrüsperget\ DVB1. 1993, 333 (345), zustimmend Volk, NStZ 1995, 367 (371). Diese "Einstellung von Verfassungs wegen" soll als dritte 140
128 2. Kap.: Folgerungen aus der fehlenden Erreichbarkeit des Verfahrensziels
I I I . Rechtsfolgen des Verfahrenshindernisses In den beiden vorigen Abschnitten wurde der Frage nachgegangen, ob es sich bei dem Umstand, daß mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, daß der Beschuldigte das gegen ihn gerichtete Verfahren nicht überleben wird, um ein Verfahrenshindernis handelt. Als Ergebnis ist festzuhalten, daß zwar die Verfassung eine Einstellung des Verfahrens nicht in allen Fällen zwingend vorschreibt, es sich jedoch um ein einfachgesetzliches Verfahrenshindernis handelt. Dies hat zur Folge, daß eine Fortführung des Verfahrens nach Feststellung dieses Umstandes unzulässig ist. Nun bleibt zu klären, auf welchem prozessualen Weg dieser Tatsache Rechnung zu tragen ist. Grundsätzlich bieten sich zwei Lösungswege an: Zum einen die endgültige Einstellung des Verfahrens nach § 206a StPO, beziehungsweise nach § 170 II, § 204 oder § 260 I I I StPO, je nachdem, in welcher Lage sich das Verfahren befindet; zum anderen die vorläufige Einstellung nach § 205 StPO.
1. Vorläufige Einstellung nach § 205 StPO Das OLG Karlsruhe hat in einem entsprechenden Fall, in dem mit hoher Wahrscheinlichkeit feststand, daß der Beschuldigte das Ende des Verfahrens nicht in verhandlungsfähigem Zustand erleben und unter anderem auch aufgrund des Verfahrens eine lebensbedrohliche Situation entstehen werde, diesen Umstand unter die Verhandlungsunfähigkeit subsumiert und eine vorläufige Einstellung nach § 205 StPO bejaht. 141 Diesen Lösungsweg bevorzugt auch Paeffgen für die Fälle des drohenden Todes mit der Begründung, es handele sich bei einer Analogie zu § 205 StPO um "eine prozeßordnungs-nähere, unaufwendigere und gleichwohl effiziente Lösung". 142
Art von Einstellung neben die aus Opportunitätsgründen und wegen Vorliegens eines Verfahrenshindernisses treten. Der Unterschied zu den Verfahrenshindernissen besteht darin, daß flicht abstrakte Regeln für die Einstellung entscheidend sind, sondern daß hier eine "einzelfallbezogene, die verfassungsrechtlichen Maßstäbe berücksichtigende Bewertung des Prozeßzwecks" stattfindet (Bartlsperger, DVB1. 1993, 333 (345)). Dezidierte Vorschläge hinsichtlich der Umsetzung einer solchen Einstellung fuhrt Weiler, GA 1994, 561 (576 ff.) bezüglich der schwerwiegenden Rechtsstaatsverstöße auf. 141 OLG Karlsruhe, NJW 1978, 601 (602); zustimmend Rieß in Löwe/Rosenberg, § 205 Rn. 16. 142 Paeffgen in SK-StPO, Anhang zu § 206a Rn. 10; und schon NJ 1993, 152 (157).
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§ 205 StPO betrifft Konstellationen, in denen ein in der Person des Angeschuldigten liegendes Hindernis der Hauptverhandlung für längere Zeit entgegensteht. Ist dies der Fall, so kann das Gericht das Verfahren vorläufig einstellen. Die Vorschrift betrifft nach einhelliger Ansicht nur vorübergehende Hindernisse, das heißt es muß die Möglichkeit bestehen, daß sie später wegfallen. 1 4 3 Bei endgültigen Verfahrenshindernissen ist demnach § 205 StPO nicht einschlägig, vielmehr ist das Verfahren nach § 206a StPO endgültig einzustellen. Auf diesem Hintergrund erscheint die Entscheidung des OLG Karlsruhe zumindest fragwürdig. Denn den Urteilsgründen ist nicht zu entnehmen, ob eine Besserung des Zustandes des Beschuldigten möglich war. Im Gegenteil wurde eine "rasch fortlaufende, einer Therapie nicht zugängliche Verschlechterung" des Gesundheitszustandes konstatiert. 144 Ebenso ist es im Fall eines Moribunden. Wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, daß der Beschuldigte das Ende des Verfahrens nicht erleben wird, scheidet folglich die Möglichkeit einer Besserung seiner gesundheitlichen Situation aus. Die Tatsache des drohenden Todes, daß also der Beschuldigte keine lange Frist mehr zu leben hat, kann mithin nicht als vorübergehender Zustand bezeichnet werden. Zweck der Vorschrift ist es aber, das Verfahren für einige Zeit auszusetzen, da es gegenwärtig nicht fortgesetzt werden kann, jedoch die Möglichkeit besteht, daß es in einiger Zeit wieder aufgenommen werden kann. 1 4 5 Diese Möglichkeit beinhaltet dann aber auch die Chance, daß durch ein Weiterprozessieren das Ziel des Strafverfahrens, nämlich die Schaffung von Rechtsfrieden, erreicht werden kann. Hinsichtlich des Moribunden steht jedoch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest, daß es auch in einiger Zeit keine Fortsetzung des Verfahrens geben kann. Damit ist mithin die Feststellung verbunden, daß das Ziel des Strafverfahrens durch die Fortführung des Prozesses nicht erreicht werden kann. Diese Nichterreichbarkeit des Verfahrensziels unterscheidet den drohenden Tod von allen vorübergehenden, in der Person des Beschuldigten liegenden Umständen. Die Vorteile, die die Anwendung des § 205 StPO auf den vorliegenden Fall nach Paeffgen hat 1 4 6 , liegen auf der Hand. Eine vorläufige Einstellung ist von einer anderen Qualität als eine endgültige Einstellung wegen Verstoßes gegen die Menschenwürde. Sie ist auch insofern unaufwendiger, als sie durch Be-
143
OLG Nürnberg MDR 1968, 516; Rieß in Löwe/Rosenberg, § 205 Rn. 8; Τ rei er in KK, § 205 Rn. 2; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 205 Rn. 1. 144 OLG Karlsruhe NW 1978, 601 (602). 145 Vgl. zur Bedeutung der Vorsclirift Rieß in Löwe/Rosenberg, § 205 Rn. 1. 146 Paeffgen in SK-StPO, Anhang zu § 206a Rn. 10. 9 Limbach
130
2. Kap.: Folgeningen aus der fehlenden Erreichbarkeit des Verfahrensziels
schluß des Gerichts ergeht, sich somit die Frage erübrigt, ob die Einstellung nicht durch ein Prozeßurteil zu ergehen hat. Auch kann man diesem Lösungsvveg eine gewisse Effizienz nicht absprechen. Das Gericht braucht nur abzuwarten, daß der Beschuldigte in einen Zustand dauernder Verhandlungsunfähigkeit gerät oder stirbt, und kann das Verfahren dann endgültig beenden, ohne kritische Stimmen befürchten zu müssen. Und dennoch erzielt das Gericht das gleiche Ergebnis wie bei einer endgültigen Einstellung, denn das Verfahren wird nicht fortgeführt, auch wenn es theoretisch noch "in der Schwebe" ist. Zudem ist die Anwendung des § 205 StPO auch "prozeßordnungs-näher" als eine Einstellung von Verfassungs wegen. Nach den bisherigen Ergebnissen dieser Untersuchung können diese Argumente jedoch nicht durchschlagen. Denn es handelt sich beim drohenden Tod um ein einfachgesetzliches Verfahrenshindernis. Eine endgültige Einstellung ist daher nicht von so sehr anderer Qualität als eine, die unmittelbar aus der Verfassung entnommen wird, und sie ist genauso prozeßordnungs-nah wie die nach § 205 StPO. Die Argumente des Aufwandes und der Effizienz können sich zudem nicht gegen die Tatsache durchsetzen, daß der drohende Tod dogmatisch nicht zu vergleichen ist mit den Anwendungsfällen des § 205 StPO, wie dèr vorübergehenden Verhandlungsunfähigkeit zum Beispiel. Denn die Tatsache des drohenden Todes ist kein vorübergehender Zustand, wie die obigen Ausführungen gezeigt haben.
2. Endgültige Einstellung nach § 206a StPO Auch in diesem Zusammenhang bietet sich daher ein Vergleich mit der dauernden Verhandlungsunfähigkeit des Beschuldigten an. Diese ist anerkannterweise ein Umstand, bei dessen Vorliegen das Verfahren endgültig nach § 206a StPO einzustellen ist. 1 4 7 Der Grund dafür liegt im Unterschied zur vorübergehenden Verhandlungsunfähigkeit. Denn im Gegensatz zu dieser kann bei jener eine Verbesserung des Zustandes des Beschuldigten nicht eintreten und sich damit die Möglichkeit einer Fortführung des Verfahrens nicht ergeben. 147 BGH bei Daliinger MDR 1968, 516; OLG Hamburg JR 1962, 268 (269); Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 205 Rn. 1; Τ rei er in KK, § 206a Rn. 11; Baxhenrich, Verhandlungsfahigkeit, 111; Rieß in Löwe/Rosenberg, § 205 Rn. 12. Nur Schneidewien, .TR 1962, 269 (271), verneint eine Anwendbarkeit des § 206a StPO. Jedoch übersieht er, daß es Konstellationen geben kann, in denen die Unwiederherstellbarkeit der Verhandlungsunfähigkeit außer Frage steht (so auch Rieß in Löwe/Rosenberg, § 205 Rn. 12 Fn.
21).
ΠΙ. Rechtsfolgen des Verfahrenshindernisses
131
Beim drohenden Tod ist die Situation, wie die obigen Ausführungen gezeigt haben, vergleichbar. Auch hierbei handelt es sich nicht um einen vorübergehenden Zustand. Die Situation des Beschuldigten wird sich nach der Prognose im Gegenteil verschlimmern, bis letztlich der Tod eintritt. Daher kann nur eine endgültige Einstellung nach §§ 170 II, 204, 206a, 260 III StPO in Betracht kommen. Zudem haben schon die Ausführungen zu einer Abwägung mit der Schwere der Tat in diesem Kapitel unter 1.3.b. gezeigt, daß für eine Ermessensentscheidung kein Raum ist, wie sie etwa § 205 StPO vorsieht. Schließlich mag ein Blick auf den Zweck des Strafverfahrens diese Argumentation zusätzlich unterstützen. Im Verfahren gegen einen Moribunden kann das Ziel des Verfahrens nicht mehr durch ein abschließendes rechtskräftiges Urteil erreicht werden. Es ist nicht mehr möglich, der Gerechtigkeit im Sinne eines "schuldig oder nicht schuldig" zum Durchbruch zu verhelfen. Rechtsfrieden kann nur noch eintreten, indem mit plausibler Begründung das Verfahren beendet wird. Und dies gilt endgültig. Niemand kann begründete Hoffnung haben, in einem solchen Verfahren Rechtsfrieden anders als durch Einstellung des Verfahrens zu erreichen, denn spätestens mit dem Tod des Beschuldigten endet das Verfahren gänzlich und absolut. Da also keine Möglichkeit besteht, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit auf die eigentlich vorgesehene Art und Weise, nämlich durch das Sachurteil, zu erreichen, bedarf es auch nicht der Einräumung eines Ermessens. Und vor allem käme eine vorläufige Einstellung nicht nur einer Verschleierung von Tatsachen gleich, vielmehr ließe sie sich eben diese Vorläufigkeit nicht überzeugend begründen. Dem Gericht kann nicht einmal die Möglichkeit, das Verfahren auch nur vorläufig einzustellen, eingeräumt werden. Im Hinblick auf die Eigenart des Umstandes drohender Tod und die Struktur und Dogmatik von Verfahrenshindernissen, und zwar vorläufigen wie endgültigen, kann auf die Tatsache, daß der Beschuldigte das Ende des Verfahrens nicht erleben wird, nicht anders als durch eine endgültige Einstellung nach §§ 170 II, 204, 206a, 260 III StPO reagiert werden. 148
148 Die Frage nach dem Verhältnis von Einstellung und Freispruch ist bei diesem Verfahrenshindemis nicht von Bedeutung, da bei bevorstehendem Freispruch schon die das Verfahrenshindemis des drohenden Todes begründenden Tatsachen nicht vorliegen würden. (Vgl. zu diesem Problem bei der dauernden Verhandlungsunfähigkeit Baxhentich, Verhandlungsföhigkeit, 114 f. und Volk, Prozeßvoraussetzungen, 246 f.).
9*
Zusammenfassung der Thesen 1. Ziel des Strafverfahrens ist der Rechtsfrieden, bestimmt durch das Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit einerseits und Rechtssicherheit andererseits. Dabei wird Rechtsfrieden als ein Zustand begriffen, bei dem eine Beruhigung der Gemeinschaft über den Verdacht einer Straftat erwartet werden kann.
2. Wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, daß der Beschuldigte das Ende des Verfahrens nicht erleben wird, kann dieses Strafverfahren durch seine Fortführung sein Ziel, seinen Zweck nicht mehr erreichen, es hat mithin seinen Sinn verloren.
3. Der Umstand, daß der Beschuldigte das Ende des Verfahrens erleben wird, wiegt so schwer, daß von seinem Vorhandensein die Zulässigkeit des Verfahrens im ganzen abhängig gemacht werden muß. Er ist zudem eine Voraussetzung der Sicherung des Rechtsfriedens, so daß bei seinem Fehlen von Rechts wegen kein Anlaß zur Bewährung der Strafrechtsordnung besteht. Der drohende Tod ist somit ein Verfahrenshindernis.
4. Die Menschenwürde aus Art. 1 I GG kann durch die Fortführung eines Verfahrens gegen einen Moribunden verletzt werden. Daraus läßt sich jedoch keine allgemeine Regel ableiten. Aus der Verfassung kann sich damit allein wegen des drohenden Todes kein Vefahrenshindernis ergeben, vielmehr kommt es entscheidend auf die Konstellation des Einzelfalles an.
5. Die Rechtsfolge der Feststellung, daß der Beschuldigte das Ende des Verfahrens mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht erleben wird, besteht in der endgültigen Einstellung des Strafverfahrens nach §§ 170 II, 204, 206a, 260 I I I StPO.
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