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German Pages 1367 [1460] Year 2016
Henssler/Moll/Bepler
Der Tarifvertrag – Handbuch für das gesamte Tarifrecht
Der Tarifvertrag Handbuch für das gesamte Tarifrecht herausgegeben von
Prof. Dr. Martin Henssler Dr. Wilhelm Moll, LL.M. Prof. Klaus Bepler bearbeitet von
Prof. Klaus Bepler Vorsitzender Richter am BAG a.D., Berlin
Dr. Alexander Bork
Dr. Wilhelm Moll, LL.M. Fachanwalt für Arbeitsrecht, Köln
Dr. Ivo Natzel Rechtsanwalt, Wiesbaden
Rechtsanwalt, Düsseldorf
Dr. Stefan Seitz
PD Dr. Andreas Engels
Fachanwalt für Arbeitsrecht, Köln
Akademischer Oberrat a.Z., Köln
Dr. Ulrich Sittard
Dr. Hans Jörg Gäntgen
Rechtsanwalt, Köln
Vizepräsident des LAG Köln
Dr. Katrin Stamer
Dr. Timon Grau Fachanwalt für Arbeitsrecht, Frankfurt a. M.
Prof. Dr. Stefan Greiner
Fachanwältin für Arbeitsrecht, Hamburg
Dr. Ralf Steffan Rechtsanwalt, Köln
Universitätsprofessor, Bonn
Prof. Dr. Kerstin Tillmanns
Prof. Dr. Martin Henssler
Universitätsprofessorin, FernUniversität in Hagen
Universitätsprofessor, Köln
Christoph Hexel
PD Dr. Daniel Ulber
Fachanwalt für Arbeitsrecht, Düsseldorf
Akademischer Rat, Köln
Prof. Dr. Clemens Höpfner
Dr. Marc Werner
Universitätsprofessor, Konstanz
Rechtsanwalt, Köln
2. Auflage
2016
Zitierempfehlung: Bearbeiter in Henssler/Moll/Bepler, 2. Aufl., Teil … Rz. …
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-42062-8 ©2016 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeiche rung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungs beständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Jan P. Lichtenford, Mettmann Satz: WMTP, Birkenau Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Germany
Vorwort Seit der freundlich aufgenommenen Erstauflage des Handbuchs „Der Tarifvertrag“ hat sich an der Berechtigung eines solchen Projekts nichts geändert. Der Umfang dessen, was man zum Tarifvertragsrecht zu zählen hat, steht in keinem Verhältnis zu dem, was im Tarifvertragsgesetz selbst und in dem Tarifvertragsrecht zuzuordnenden sonstigen gesetzlichen Bestimmungen geregelt ist. Eine systematische Aufbereitung des Tarifvertragsrechts tat und tut not. Seine Überarbeitung in einer Neuauflage war nicht nur durch die das Verhältnis von geschriebenem Recht zu dem vom Rechtsanwender zu beachtenden Recht weiter verschiebende relativ umfangreiche neuere Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (z.B. „Alemo-Herron“, „RegioPost“) sowie des Bundesarbeitsgerichts und der Landesarbeitsgerichte (etwa zur OT-Mitgliedschaft, zur Frage nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, zu einem etwaigen Verhandlungsanspruch oder zur Tariffähigkeit) veranlasst; sie gibt immer wieder neue Antworten, aus denen sich dann vielfach bisher unbeachtete Fragestellungen ergeben. In die Neuauflage wurden auch zusätzliche Regelungsbeispiele aufgenommen und erläutert (Geltungsbereichsklausel, Anerkennungs- und Sanierungstarifvertrag). Erstmals seit vielen Jahren hat der Gesetzgeber darüber hinaus mit dem so genannten Tarifautonomiestärkungsgesetz und dem Tarifeinheitsgesetz auch substantielle und strukturelle Änderungen des Tarifvertragsgesetzes und verwandter Gesetze vorgenommen, die bis in den Katalog der typischen Tarifnormen hinein berücksichtigt und bewertet werden mussten. Wir hoffen, dass dies gelungen ist, bleiben aber weiterhin für Anregungen und Verbesserungsvorschläge aus dem Leserkreis offen und sehr dankbar. Bitte wenden Sie sich dazu an den Verlag unter der E-Mail-Adresse [email protected]. Das Handbuch befindet sich auf dem Bearbeitungsstand Januar 2016. Berlin, Köln, im März 2016 Martin Henssler
Wilhelm Moll
Klaus Bepler
V
Inhaltsübersicht Ausführliche Inhaltsverzeichnisse finden sich jeweils am Anfang der einzelnen Teile.
Seite
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXIII Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXIX
Teil 1 Grundlagen des Tarifvertragsrechts (Engels) Rz.
Seite
A. Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) . . . . . . . . . . . . . . .
1
1
I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
4
II. Art. 9 Abs. 3 GG als verfassungsrechtliche Gewährleistung der Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
5
III. Zur dogmatischen Rekonstruktion der Tarifautonomie . . . . . . . . .
12
12
IV. Träger der Koalitionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18
16
V. Spielräume und Grenzen gesetzgeberischer Ingerenzen – ausgewählte Problemkonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
23
B. Tarifvertrag und höherrangiges Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
39
I. Grundrechtsbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
40
II. Gemeinwohlbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
43
III. Bindung an europäisches Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
44
IV. Normsetzungsmonopol der Koalitionen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54
46
A. Grundlagen des Verbandsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
50
I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
51
Teil 2 Tarifvertragsparteien (Höpfner/Greiner/Sittard)
II. Gründung und Auflösung des Verbandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
54
III. Die Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
61
IV. Geschäftsführung und Vertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
63
V. Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30
64
VII
Inhaltsbersicht
B. Tariffähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Rz.
Seite
33
65
I. Allgemeine Grundsätze der Tariffähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
65
II. Sonderkonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
148
106
C. Tarifzuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
204
132
I. Begriff der Tarifzuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
204
133
II. Festlegung der Tarifzuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
212
136
III. Inhaltliche Freiheiten und Begrenzungen der Zuständigkeitsregelung in der Verbandssatzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
219
139
IV. Tarifzuständigkeit als Wirksamkeitsvoraussetzung des Tarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
233
145
V. Flucht aus dem Tarifvertrag über die Tarifzuständigkeit? . . . . . . . .
240
148
VI. Feststellung der Tarifzuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
242
149
1
157
Teil 3 Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages (Bepler) A. Der Weg zum Tarifabschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gesetzlicher und/oder gewillkürter Verhandlungsanspruch? . . . . .
1
157
II. Tarifschlichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
164
III. Die Tarifverhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35
171
B. Schriftformzwang für Tarifverträge (§ 1 Abs. 2 TVG) . . . . . . . . . . .
41
173
I. Normzweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
173
II. Erfüllung der Schriftform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
173
III. Anwendungsbereich des Schriftformgebots . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
174
IV. Rechtsfolge eines Formverstoßes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53
176
C. Verhandlungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
177
I. Ergebnisniederschriften, Vorverträge, sonstige schuldrechtliche Koalitionsverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
56
177
II. Protokollnotizen, Fußnoten, Anlagen und Anhänge . . . . . . . . . . . .
62
179
III. Regelungen über Inkrafttreten und hinausgeschobene Fälligkeit . . .
66
180
D. Die Publizität tariflicher Regelungswerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92
190
I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92
190
II. Tarifregister und Tarifarchiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
191
III. Die Auslegungspflicht nach § 8 TVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
108
195
IV. Transparenz durch das Nachweisgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
121
200
V. Keine Transparenz durch § 305 Abs. 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . .
127
203
VIII
Inhaltsbersicht Rz.
Seite
E. Inhaltsermittlung von Tarifverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
128
203
I. Die Auslegung des normativen Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
129
204
II. Der Inhalt schuldrechtlicher Koalitionsvereinbarungen . . . . . . . . .
155
212
III. Zuordnung und Qualifikation durch Auslegung . . . . . . . . . . . . . .
157
213
F. Anfechtbarkeit und Nichtigkeit von Tarifverträgen . . . . . . . . . . . .
160
214
I. Anfechtbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
160
214
II. Unwirksamkeit und Teilunwirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
165
216
G. Das Ende der zwingenden Tarifgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
200
228
I. „Automatische“ Beendigungen durch Veränderungen bei den Tarifvertragsparteien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
200
228
II. Die ordentlichen Beendigungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
207
231
III. Beendigung durch außerordentliche Kündigung . . . . . . . . . . . . . . .
224
238
Teil 4 Inhalt des Tarifvertrages (Hexel) A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
244
I. Der Inhalt von Tarifverträgen – § 1 Abs. 1 TVG . . . . . . . . . . . . . . .
1
244
II. Das Arbeitsverhältnis als zentraler Anknüpfungspunkt für die Normen von Tarifverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
245
B. Normativer Teil – Inhalte von Arbeitsverhältnissen und betriebliche Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
247
I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
247
II. Inhaltsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
248
III. Abschluss- und Beendigungsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
261
IV. Normen über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84
279
V. Normen über Gemeinsame Einrichtungen (§ 4 Abs. 2 TVG) . . . . . .
104
288
C. Obligatorischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
113
291
I. Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien (Obligatorischer Teil) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
113
291
II. Normen mit Bezug auf die Tarifinhalte (Friedenspflicht, Durchführungspflicht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
117
293
III. Weitere schuldrechtliche Vereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
128
297
IX
Inhaltsbersicht
Teil 5 Katalog typischer Tarifnormen (Hexel/Bork/Ulber/Steffan/Natzel/Greiner) Seite
(1) Altersgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
301
(2) Annahmeverzug/Betriebsrisiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
314
(3) Arbeitsentgelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
319
(4) Arbeitsverhinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
331
(5) Arbeitszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
338
(6) Befristungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
356
(7) Besetzungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
368
(8) Differenzierungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
374
(9) Direktionsrechtsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
389
(10) Effektivklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
400
(11) Eingruppierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
403
(12) Entgeltfortzahlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
415
(13) Kurzarbeitsregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
425
(14) Maßregelungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
444
(15) Mehrarbeitsregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
450
(16) Meistbegünstigungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
460
(17) Öffnungsklauseln/Genehmigungsvorbehalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
466
(18) Schlechtwetterklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
478
(19) Standortsicherung/Beschäftigungssicherung/Arbeitsplatzsicherung . . . . .
483
(20) Tarifkollisionsklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
494
(21) Unkündbarkeiten/Kündigungsklauseln/Fristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
497
(22) Urlaubsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
509
(23) Verfallklauseln/Ausschlussklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
529
(24) Wiedereinstellungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
538
(25) Zulagen-/Zuschlagsregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
547
Teil 6 Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft (Höpfner)
X
Rz.
Seite
A. Grundsätze der Tarifgebundenheit von Arbeitgeber und Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
561
I. Begriff und Grundlagen der normativen Tarifgebundenheit . . . . . .
1
561
II. Legitimation der Tarifgebundenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
563
Inhaltsbersicht Rz.
Seite
B. Beginn und Ende der Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
567
I. Erwerb der Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14
567
II. Beendigung der Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
573
C. Nachbindung an Tarifverträge gemäß § 3 Abs. 3 TVG . . . . . . . . .
61
584
I. Zweck, Legitimation und Verfassungsmäßigkeit . . . . . . . . . . . . .
62
585
II. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
67
587
III. Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76
589
IV. Ende der Nachbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
82
592
D. Betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Normen gemäß § 3 Abs. 2 TVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
90
596
I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
90
596
II. Normative Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
597
III. Verfassungsmäßigkeit und verfassungskonforme Auslegung . . . .
101
600
A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
607
B. Tarifgeltung aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
607
I. Einführung und rechtstatsächliche Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . .
3
607
Teil 7 Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung (Sittard)
II. Zweck der Allgemeinverbindlicherklärung . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
609
III. Rechtsnatur der Allgemeinverbindlicherklärung . . . . . . . . . . . . .
18
613
IV. Voraussetzungen der Allgemeinverbindlicherklärung . . . . . . . . .
22
614
V. Tarifgeltung aufgrund einer Tarifnormerstreckung durch Allgemeinverbindlicherklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
86
633
VI. Vermeidung allgemeinverbindlicher Tarifverträge . . . . . . . . . . . .
113
641
VII. Rechtsschutz in Zusammenhang mit Allgemeinverbindlicherklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
120
644
VIII. Verfassungsmäßigkeit von § 5 TVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
128
646
C. Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes . . . . .
131
647
I. Einführung und rechtstatsächliche Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . .
131
647
II. Zweck des AEntG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
137
648
III. Voraussetzungen der Tarifnormerstreckung durch das AEntG . . .
139
649
IV. Tarifgeltung aufgrund des AEntG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
184
662
V. Vermeidung der Tarifgeltung nach dem AEntG . . . . . . . . . . . . . .
207
670
XI
Inhaltsbersicht Rz.
Seite
VI. Rechtsschutz in Zusammenhang mit dem AEntG . . . . . . . . . . . .
210
670
VII. Verfassungsmäßigkeit des AEntG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
211
671
D. Mit der Tarifnormerstreckung vergleichbare Regelungsinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
217
673
I. Mindestlohn in der Pflegebranche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
217
673
II. Grenzüberschreitender Bargeldtransport . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
221
674
III. Mindestlohn in der Zeitarbeitsbranche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
222
674
IV. Staatlicher Mindestlohn durch das MiLoG . . . . . . . . . . . . . . . . . .
234
677
V. Tariftreueerklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
235
677
A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
684
I. Begriffe und Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
685
Teil 8 Geltungsbereich (Stamer)
II. Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
686
III. Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
688
IV. Tarifautonome Bestimmung des Geltungsbereichs . . . . . . . . . . . .
20
692
V. Gerichtliche Überprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
28
695
B. Räumlicher Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
696
I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
696
II. Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
697
III. Tarifverträge mit Auslandsberührung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38
699
IV. Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40
700
V. Normen über gemeinsame Einrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
701
VI. Ausscheiden aus dem räumlichen Geltungsbereich . . . . . . . . . . .
42
701
C. Sektoraler Geltungsbereich (Branche) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
702
I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
702
II. Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48
703
III. Ausscheiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
707
IV. Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
708
D. Fachlicher Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
62
709
I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
62
709
II. Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
66
710
III. Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
711
IV. Vergütungsgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
70
711
XII
Inhaltsbersicht
E. Persönlicher Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Rz.
Seite
74
712
I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
74
712
II. Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
713
III. Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
82
715
IV. Veränderung persönlicher Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
88
717
F. Zeitlicher Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89
717
I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89
717
II. Inkrafttreten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
90
717
III. Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
718
G. Geltungsbereichsklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95a
719
H. Normen über gemeinsame Einrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96
720
I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96
720
II. Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
98
720
III. Normative Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
101
722
IV. Allgemeinverbindlicherklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
106
723
V. Ausscheiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
108
724
A. Normwirkung (§ 4 Abs. 1 TVG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
731
I. Unmittelbare Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
732
II. Zwingende Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10
735
Teil 9 Wirkung der Tarifnormen (Greiner/Höpfner)
B. Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
737
I. Zweck, Legitimation und Verfassungsmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . .
21
739
II. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
744
III. Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
747
IV. Ablösung nachwirkender Tarifverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
750
C. Rechtsverlust und Tarifvertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59
756
I. Verzichtsverbot, § 4 Abs. 4 TVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59
756
II. Verwirkung, § 4 Abs. 4 Satz 2 TVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72
761
III. Verjährung tarifvertraglicher Rechte, Ausschluss-/Verfallfristen . . .
76
762
D. Verhältnis zu anderen Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
79
763
I. Mehrheit von Tarifverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
79
763
XIII
Inhaltsbersicht Rz.
Seite
II. Verhältnis des Tarifvertrags zu rangniederen Regelungen . . . . . . . .
181
807
III. Verhältnis des Tarifvertrags zu betrieblichen Regelungen (Tarifvorrang, Tarifvorbehalt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
259
835
1
854
Teil 10 Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme (Henssler) A. Arbeitsvertragliche Geltung von Tarifverträgen . . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
855
II. Wirkung der vertraglichen Inbezugnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6
857
B. Die vertragliche Vereinbarung und ihre Wirksamkeit . . . . . . . . . .
9
858
I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
859
II. Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12
860
III. AGB-rechtliche Kontrolle und Auslegung arbeitsvertraglicher Bezugnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16
862
C. Erscheinungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
876
I. Deklaratorische und konstitutive Inbezugnahme . . . . . . . . . . . . .
48
878
II. Statische oder dynamische Inbezugnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . .
52
880
III. Teil- und Einzelverweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
899
D. Bezugnahme kraft betrieblicher Übung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
103
900
I. Dogmatische Grundlagen der betrieblichen Übung . . . . . . . . . . . .
104
901
II. Entstehung der Tarifbindung durch betriebliche Übung . . . . . . . . .
107
902
III. Inhalt der Bezugnahme durch betriebliche Übung . . . . . . . . . . . . .
114
906
IV. Die Beendigung der Tarifbindung durch betriebliche Übung . . . . . .
119
908
E. Sonstige Rechtsgrundlagen für eine nicht tarifrechtlich begründete Anwendbarkeit von Tarifverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
121
909
I. Bezugnahme durch Betriebsvereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
121
909
II. Tarifvertragliche Außenseiterklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
126
911
III. Arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . .
128
911
F. Formulierungsvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
131
912
I. Tarifgebundene Arbeitgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
132
913
II. Nicht tarifgebundene Arbeitgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
133
914
XIV
Inhaltsbersicht
Teil 11 Haustarif (Seitz) Rz.
Seite
A. Begriff, Arten und Bedeutung in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
920
I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
920
II. Wesentliche Chancen und Risiken von Haustarifverträgen im Verhältnis zu Verbandstarifverträgen aus Unternehmenssicht . . .
2
920
III. Arten von Haustarifverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6
921
B. Der Arbeitgeber als Tarifvertragspartei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
925
I. Haustariffähigkeit des Arbeitgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
925
II. Begriff des Arbeitgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14
925
III. Besonderheiten im Konzern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
926
IV. Beginn und Ende der Tariffähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16
926
C. Typische Ausgangssituationen für Haustarifverträge . . . . . . . . . .
17
926
I. Post Merger Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18
927
II. Outsourcing/Joint Venture-Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
927
III. Austritt aus dem Arbeitgeberverband . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
20
927
IV. Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eines Flächentarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
928
V. Wettbewerber hat tarifliche Vorteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
22
928
VI. Standortfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
929
VII. Umstrukturierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
24
929
VIII. Unternehmen in der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
929
D. Wirkung/Geltung des Haustarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26
930
I. Normative Geltung des Haustarifvertrages kraft beiderseitiger Tarifbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26
930
II. Schuldrechtliche Geltung kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme .
27
930
III. Tarifzuständigkeit der Gewerkschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
28
930
IV. Beginn und Ende der zwingenden Tarifgeltung, insb. Auswirkungen des Verbandsaustritts bzw. des Wechsels zur OT-Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
931
E. Verhältnis zwischen Haustarifvertrag und Verbandstarifvertrag . .
31
931
I. Arbeitgeber kein Verbandsmitglied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32
931
II. Verbandsangehöriger Arbeitgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
932
F. Verhältnis zu anderen Haustarifverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40
934
I. Abschluss eines anderen Haustarifvertrages mit derselben Gewerkschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40
934
XV
Inhaltsbersicht Rz.
Seite
II. Abschluss eines anderen Haustarifvertrages mit einer anderen Gewerkschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
935
G. Verhältnis zu Betriebsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
935
I. Grundsatz: Tarifvorrang und Tarifvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
935
II. Öffnungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
44
936
H. Verhältnis zum Arbeitsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
936
I. Arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
936
II. Sonstige einzelvertragliche Zusagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
937
J. Streikrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
52
938
I. Erstreikbarkeit von Haustarifverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
52
938
II. Friedenspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
940
K. Praxisrelevante Fragestellungen bei Anerkennungstarifverträgen . .
58
941
I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
58
941
II. Umfang der Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
60
941
III. Status der Tarifgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
941
IV. Nachwirkung bei Anerkennungstarifverträgen . . . . . . . . . . . . . . .
64
942
V. Friedenspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72
944
VI. Tarifliche Differenzierungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
944
L. Überleitungstarifverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76
945
M. Rechtliche und taktische Vorbereitung und Durchführung von Haustarifvertrags-Verhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80
946
I. Typische Fragen vor der Einführung von Haustarifverträgen . . . . . .
80
946
II. Vorbereitung von Haustarifvertrags-Verhandlungen . . . . . . . . . . . .
100
951
III. Ablauf der Verhandlungsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
111
953
N. Haustarifverträge bei Betriebsübergang und Umwandlung . . . . . . .
117
954
A. Einleitung; Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
958
B. Gestaltungsoptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
958
I. Haustarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4
959
II. Firmenbezogener Verbandstarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
961
Teil 12 Der Sanierungstarifvertrag (Moll)
XVI
Inhaltsbersicht Rz.
Seite
C. Gebot der Rechtsquellenklarheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
961
D. Inhaltliche Gestaltung und Formulierungshinweise . . . . . . . . . .
19
965
I. Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
20
965
II. Sanierungsbeiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
28
967
III. Sonstige Klauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
973
E. Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
52
984
I. Verhältnis zwischen Verbandstarifvertrag und Sanierungstarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
52
984
II. Verhältnis zu günstigeren Vertragsabreden . . . . . . . . . . . . . . . . .
82
996
III. Verhältnis zum gesetzlichen Mindestlohn . . . . . . . . . . . . . . . . .
82a
997
IV. Rückwirkende Änderung von Arbeitsbedingungen . . . . . . . . . . .
83
997
F. Sanierungstarifvertrag und Betriebsübergang . . . . . . . . . . . . . . . .
90
1000
I. Auswirkungen eines Betriebsübergangs auf die Geltung des Sanierungstarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
1000
II. Wegfall der Geschäftsgrundlage des Sanierungstarifvertrages durch den Betriebsübergang auf einen nicht tarifgebundenen Betriebserwerber? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
107
1007
III. Kündigung des Sanierungstarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
108
1007
G. Sanierungsbetriebsvereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
111
1009
I. Bedeutung des Tarifvorrangs; Reichweite . . . . . . . . . . . . . . . . . .
112
1009
II. Tarifvertragliche Öffnungsklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
116
1010
III. Betriebsvereinbarungsoffene Klausel im Arbeitsvertrag . . . . . . . .
119
1012
H. Tarifsozialplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
120
1012
I. Einleitung; Begriff; Gestaltungsoptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
120
1012
II. Gebot der Rechtsquellenklarheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
122
1013
III. Tarifliche Regelbarkeit, § 1 Abs. 1 TVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
123
1013
IV. Sperrwirkung der §§ 111 ff. BetrVG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
124
1014
V. Arbeitskampf um einen Tarifsozialplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
125
1015
VI. Kollision von betrieblichen und tariflichen Sozialplänen . . . . . . .
148
1022
VII. Betriebliche Beteiligungsrechte beim Arbeitskampf . . . . . . . . . . .
149
1023
VIII. Handlungsmöglichkeiten des Arbeitgebers . . . . . . . . . . . . . . . . .
151
1024
I. Beispiel eines Sanierungstarifvertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
159
1025
XVII
Inhaltsbersicht
Teil 13 Betriebliche Beschäftigungsbündnisse (Werner) Rz.
Seite
A. Begriff, Typen und rechtliche Grundlage betrieblicher Beschäftigungsbündnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1033
I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1033
II. Typen betrieblicher Beschäftigungsbündnisse . . . . . . . . . . . . . . . .
2
1033
III. Rechtliche Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
1036
B. Häufige Ausgangssituationen für betriebliche Beschäftigungsbündnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12
1037
I. Das Unternehmen ist „gewerkschaftsfrei“ . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12
1037
II. Die Unternehmensleitung lehnt eine Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft ab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
1037
III. Gescheiterte Haustarifvertrags-Verhandlungen . . . . . . . . . . . . . . .
14
1037
IV. Die Betriebsparteien wollen eine betriebliche Lösung . . . . . . . . . .
15
1038
C. Rechtliche Voraussetzungen eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16
1038
I. Tarifrechtliche Regelungsgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16
1038
II. Ermittlung des tarifrechtlich zulässigen Gestaltungsspielraums . . .
19
1039
III. Wechsel zur OT-Mitgliedschaft als Alternative zum Verbandsaustritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40
1046
IV. Zustimmungserfordernis der Mitarbeiter zum betrieblichen Bündnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
1048
V. Kurz-Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
1050
D. Die Regelungsabrede als Gestaltungsmittel für betriebliche Beschäftigungsbündnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
1050
I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
1050
II. Kein Tarifvorbehalt für Regelungsabreden . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48
1051
III. Zustimmungserfordernis der Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
1051
IV. AGB-Kontrolle der Regelungsabrede? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
1052
V. Zulässigkeit arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln auf ein betriebliches Beschäftigungsbündnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
1054
E. Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft gegen betriebliche Bündnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
67
1058
I. Unterlassungsanspruch gegen tarifwidrige Betriebsvereinbarungen .
67
1058
II. Unterlassungsanspruch gegen Regelungsabreden . . . . . . . . . . . . . .
69
1059
XVIII
Inhaltsbersicht Rz.
Seite
F. Inhaltliche Gestaltung eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78
1062
I. Typische Beiträge der Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78
1062
II. Typische Gegenleistungen des Unternehmens . . . . . . . . . . . . . . .
82
1063
III. Vermeidung arbeitsrechtlicher Fallstricke . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
98
1067
G. Verhandlung von betrieblichen Beschäftigungsbündnissen . . . . . . .
110
1072
I. Beteiligte Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
110
1072
II. Verhalten bei Gegenreaktionen der Gewerkschaft . . . . . . . . . . . . .
112
1072
III. Kommunikation während der Verhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . .
113
1073
IV. Die Rolle des anwaltlichen Beraters bei Vorbereitung und Umsetzung betrieblicher Beschäftigungsbündnisse . . . . . . . . . . . .
114
1073
H. Beendigung betrieblicher Beschäftigungsbündnisse und Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
115
1074
I. Betriebsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
115
1074
II. Regelungsabreden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
118
1075
J. Fallbeispiel aus der Praxis: Zukunftsvertrag bei Automobilzulieferer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
123
1077
A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1081
B. Verbandsaustritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
1082
Teil 14 Gewillkürter Tarifverlust (Sittard)
I. Rechtsfolgen für bereits beschäftigte Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . .
6
1083
II. Rechtsfolgen für Neueintritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26
1091
III. Zwang zur Anwendung von betrieblichen Entgeltschemata trotz fehlender anderweitiger Tarifbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30
1093
IV. Auswirkungen des Abschlusses neuer Tarifverträge nach dem Verbandsaustritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
1095
C. Verbandswechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35
1096
I. Rechtsfolgen für bereits beschäftigte Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . .
37
1096
II. Rechtsfolgen für Neueintritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
56
1106
III. Zwang zur Anwendung von tariflichen Entgeltschemata für bereits beschäftigte und neu eingestellte Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . .
62
1107
XIX
Inhaltsbersicht Rz.
Seite
D. Herstellung einer mehrfachen Tarifbindung . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
1108
I. Doppelmitgliedschaft von Arbeitnehmer oder Arbeitgeber . . . . . . .
64
1108
II. Abschluss eines Haustarifvertrages neben einem bestehenden Verbandstarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
68
1110
III. Tarifkollision mit allgemeinverbindlich erklärtem Tarifvertrag/AEntG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
1112
E. Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eines Tarifvertrages . . . .
74
1113
I. Rechtsfolgen für bereits beschäftigte Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . .
75
1113
II. Rechtsfolgen für Neueintritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78
1115
F. § 4a TVG als Instrument für einen Tarifwechsel . . . . . . . . . . . . . .
78a
1115
G. Auswirkungen einer Unternehmensumstrukturierung auf die Geltung eines Tarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
79
1117
H. Übersicht über die Tarifgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80
1117
I. „Tarifwechsel“ durch Einsatz von Zeitarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
1120
I. Leiharbeit als Instrument zur Einführung eines neuen/zusätzlichen Tarifregimes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
82
1120
II. Einsatz von konzerninternen Personalservicegesellschaften . . . . . .
86
1123
A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1129
B. Auswirkungen von betriebs- und unternehmensinternen Umstrukturierungen auf die Tarifgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6
1130
I. Herauswachsen aus dem Geltungsbereich als Folge einer internen Umstrukturierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
1131
Teil 15 Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel (Grau)
II. Wegfall der Tarifzuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12
1132
III. Verbandsaustritt und Verbandswechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
1133
IV. Tarifkollision als Folge einer Umstrukturierung . . . . . . . . . . . . . .
16
1133
C. Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang auf die Tarifgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
1134
I. Überblick über Voraussetzungen und Anwendungsbereich des § 613a BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18
1134
II. Kollektivrechtliche Fortgeltung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30
1139
III. Fortwirkung von Tarifverträgen beim Erwerber kraft gesetzlicher Anordnung des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
1145
XX
Inhaltsbersicht Rz.
Seite
IV. Ablösung von Tarifverträgen durch beim Betriebserwerber einschlägige Kollektivverträge (§ 613a Abs. 1 Satz 3 BGB) . . . . . . . . .
93
1169
V. Auswirkungen des Betriebsübergangs auf die individualvertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
119
1183
VI. Unterrichtung der Arbeitnehmer über die tarifrechtlichen Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
172
1208
VII. Übersicht: Tarifgeltung nach Betriebsübergang . . . . . . . . . . . . . . .
180
1213
D. Auswirkungen einer gesellschaftsrechtlichen Umstrukturierung (insbesondere Unternehmensumwandlung) auf die Tarifgeltung . .
181
1216
I. Unternehmensverkauf/Gesellschafterwechsel . . . . . . . . . . . . . . .
182
1216
II. Unternehmensumwandlungen nach dem UmwG und (partielle) Gesamtrechtsnachfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
189
1219
III. Gesamtrechtsnachfolge aufgrund gesellschaftsrechtlicher Anwachsung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
218
1232
E. Auswirkungen von Umstrukturierungen auf Tarifverträge über besondere Betriebsratsstrukturen nach § 3 BetrVG . . . . . . . . . . . .
220
1233
I. Übertragungen mit Rechtsnachfolge auf Seiten des Arbeitgebers . .
221
1233
II. Sonstige Umstrukturierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
226
1236
A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1238
B. Rechtsstreite unter Beteiligung der Tarifvertragsparteien . . . . . . .
2
1238
I. Rechtsstreite zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
1238
II. Rechtsstreite zwischen Gewerkschaften und einzelnen Arbeitgebern wegen tarifwidrigen Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . .
48
1256
C. Tarifliche und gesetzliche Verfahrensbestimmungen . . . . . . . . . .
57
1259
I. Tariflicher Ausschluss der Arbeitsgerichtsbarkeit (§§ 101, 102 ArbGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
1259
II. Tarifliche Zuständigkeitsbestimmungen (§ 48 Abs. 2 ArbGG) . . . .
71
1263
III. Ausschlussfristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
1264
IV. Eingruppierungsfeststellungsklagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84
1268
D. Rechtsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
1272
I. Zulassung der Berufung nach § 64 Abs. 3 ArbGG . . . . . . . . . . . . .
95
1272
Teil 16 Gerichtliche Durchsetzung tariflicher Ansprüche (Gäntgen)
XXI
Inhaltsbersicht Rz.
Seite
II. Zulassung der Revision nach § 72 ArbGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
100
1273
III. Sprungrevision nach § 76 ArbGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
101
1273
E. Informationspflichten der Gerichte für Arbeitssachen bei Rechtsstreiten mit Tarifbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
106
1274
A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1278
B. Internationales Tarifvertragsrecht i.e.S. (Kollisionsrecht) . . . . . . . .
3
1278
Teil 17 Internationales Tarifvertragsrecht (Tillmanns)
I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
1278
II. Das Tarifvertragsstatut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
1279
III. Der internationale Geltungsbereich von deutschen Tarifverträgen und ausländischen Kollektivvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
1295
C. Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
1299
D. Internationale Kollektivvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
62
1300
I. Völker- und unionsrechtliche Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
1300
II. Bestehende Rechtsunsicherheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
67
1302
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1305
XXII
Allgemeines Literaturverzeichnis Literaturhinweise zu Einzelfragen finden sich jeweils am Anfang der einzelnen Teile.
Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985 Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, 4. Aufl. 2012 Bamberger/Roth, Beck’scher Online-Kommentar zum BGB, Stand: 1.11.2014 (zit.: BeckOK-BGB/Bearbeiter) Bauer/Haußmann/Krieger, Umstrukturierung, 3. Aufl. 2015 Bauer/Krieger, Kommentar zum AGG, 4. Aufl. 2015 Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, 2005 Berg/Kocher/Schumann, Tarifvertragsgesetz und Arbeitskampfrecht, 5. Aufl. 2015 (zit.: BKS/Bearbeiter) Bergerhoff, Tarifflucht durch Auflösung des Arbeitgeberverbandes?, 2002 Besgen, Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband ohne Tarifbindung, 1998 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, 1964 Britz/Volkmann, Tarifautonomie in Deutschland und Europa, 2003 Brox/Rüthers/Henssler, Arbeitsrecht, 18. Aufl. 2011 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, 2006 Calliess/Ruffert, EUV, AEUV, 4. Aufl. 2011 Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005 Däubler, Das Grundrecht auf Mitbestimmung und seine Realisierung durch tarifvertragliche Begründung von Beteiligungsrechten, 1976 Däubler, Tarifvertragsrecht, 3. Aufl. 1993 Däubler, Tarifvertragsgesetz, 3. Aufl. 2012 Däubler/Bonin/Deinert, AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, 4. Aufl. 2014 (zit. DBD/Bearbeiter) Däubler/Hege, Koalitionsfreiheit, 1976 Däubler/Kittner/Klebe/Wedde, Betriebsverfassungsgesetz, 14. Aufl. 2014 (zit.: DKKW/ Bearbeiter) Dieterich, Tarifautonomie und Gesetzgebung, 2003 Doerlich, Die Tariffähigkeit der Gewerkschaft, 2002 Dörrwächter, Tendenzschutz im Tarifrecht, 1998 Eitel, Die Ungleichbehandlung der repräsentativen und nicht repräsentativen Gewerkschaften durch den Staat, 1991 Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, 2008
XXIII
Allgemeines Literaturverzeichnis
Epping/Hillgruber, GG-Kommentar, 2. Aufl. 2013 Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 16. Aufl. 2016 (zit.: ErfK/Bearbeiter) Erman, Bürgerliches Gesetzbuch, 14. Aufl. 2014 Fitting, Betriebsverfassungsgesetz, 27. Aufl. 2014 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht Band 1, 1997 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, 2000 Gemeinschaftskommentar zum Arbeitsgerichtsgesetz, Loseblatt Gemeinschaftskommentar zum Betriebsverfassungsgesetz, 10. Aufl. 2014 (zit.: GKBetrVG/Bearbeiter) Germelmann/Matthes/Prütting, Arbeitsgerichtsgesetz, 8. Aufl. 2013 (zit.: GMP/Bearbeiter) Giere, Soziale Mächtigkeit als Voraussetzung für die Tariffähigkeit, 2006 Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, 2010 Grunsky/Waas/Benecke/Greiner, Arbeitsgerichtsgesetz, 8. Aufl. 2014 (zit.: GWBG/ Bearbeiter) Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht, 2014 Henssler, Soziale Mächtigkeit und organisatorische Leistungsfähigkeit als Voraussetzungen der Tariffähigkeit von Gewerkschaften, 2006 Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, 2011 Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, 6. Aufl. 2014 und 7. Aufl. 2016 (zit.: HWK/Bearbeiter) Hess/Worzalla/Glock/Nicolai/Rose/Huke, BetrVG, 9. Aufl. 2014 (zit.: HWGNRH/Bearbeiter) Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, 2015 Hromadka/Maschmann/Wallner, Der Tarifwechsel, 1996 Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts Bd. 2/1, 7. Aufl. 1967 Hümmerich/Boecken/Düwell, AnwaltKommentar Arbeitsrecht, Band 2, 2. Aufl. 2010 (zit.: AnwK-ArbR/Bearbeiter) Isenhardt, Relative Tariffähigkeit, 2007 Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 3. Aufl. 2009 Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, 1999 Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, Tarifvertragsrecht, 2. Aufl. 2013 Jauernig, Bürgerliches Gesetzbuch mit Allgemeinem Gleichbehandlungsgesetz (Auszug), 16. Aufl. 2015 Jung, Die Unabhängigkeit als konstitutives Element im Koalitions- und Tarifvertragsrecht, 1999
XXIV
Allgemeines Literaturverzeichnis
Kallmeyer, Umwandlungsgesetz, 5. Aufl. 2013 Kempen/Zachert, Tarifvertragsgesetz, 5. Aufl. 2014 Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, 1990 Kissel, Arbeitskampfrecht, 2002 Kittner, Arbeitskampf. Geschichte, Recht Gegenwart, 2005 Kittner/Zwanziger/Deinert, Arbeitsrecht, Handbuch für die Praxis, 8. Aufl. 2015 Koberski/Asshoff/Eustrup/Winkler, AEntG Kommentar, 3. Aufl. 2011 Koberski/Clasen/Menzel, Tarifvertragsgesetz, Loseblatt Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung Kommentar, 21. Aufl. 2015 Küttner, Personalbuch 2015, 22. Aufl. 2015 Löwisch/Kaiser, Kommentar zum Betriebsverfassungsgesetz, 6. Aufl. 2010 Löwisch/Rieble, Tarifvertragsgesetz, 3. Aufl. 2012 Maunz/Dürig, Grundgesetz, Loseblatt Moll, Der Tarifvorrang im Betriebsverfassungsgesetz, 1980 Moll, Münchener Anwaltshandbuch Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2012 Müller, Die Tarifautonomie in der Bundesrepublik Deutschland, 1990 v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 6. Aufl. 2012 Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2009 (zit.: MünchArbR/Bearbeiter) Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 1, Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2015 Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 2, Schuldrecht, Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2016 Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 5, Schuldrecht, Besonderer Teil III, 6. Aufl. 2013 Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 10, Rom-I-VO, 6. Aufl. 2015 Nikisch, Arbeitsrecht Bd. 2, 2. Aufl. 1959 Ossenbühl/Cornils, Tarifautonomie und staatliche Gesetzgebung, 2000 Otto, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, 2006 Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 74. Aufl. 2015 und 75. Aufl. 2016 Picker, Tarifautonomie in der deutschen Arbeitsverfassung, 2000 Preis, Arbeitsrecht, Kollektivarbeitsrecht, 3. Aufl. 2012 Preis, Der Arbeitsvertrag, 5. Aufl. 2015 Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, 1993 Preis/Thüsing, Tarifpluralität als Aufgabe des Gesetzgebers, 2011
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Allgemeines Literaturverzeichnis
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XXVI
Allgemeines Literaturverzeichnis
Witt, Der Firmentarifvertrag, 2004 Wlotzke, Das Günstigkeitsprinzip im Verhältnis des Tarifvertrages zum Einzelarbeitsvertrag und zur Betriebsvereinbarung, 1957 Wlotzke/Preis/Kreft, Betriebsverfassungsgesetz, 4. Aufl. 2009 (zit.: WPK/Bearbeiter) Ziepke/Weiss, Kommentar zum MTV Metall NRW, 4. Aufl. 1998 Zöllner/Loritz/Hergenröder, Arbeitsrecht, 7. Aufl. 2015 Zöllner/Seiter, Paritätische Mitbestimmung und Art. 9 GG, 1970
XXVII
Abkürzungsverzeichnis a.A. ABl. abl. Abs. a.E. AEntG AEUV a.F. AG AGB AGG AiB AktG a.M. AMP Anh. Anm. AP ArbG ArbGG AR-Blattei ArbNErfG ArbPlSchG ArbRB ArbRGegw. ArbSchG ArbStättVO ArbuR ArbZG ARST Art. ASiG ATZG AuA AÜG AVE AVR AZO
anderer Ansicht Amtsblatt ablehnend Absatz am Ende Arbeitnehmer-Entsendegesetz Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung Aktiengesellschaft; Amtsgericht Allgemeine Geschäftsbedingungen Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz Arbeitsrecht im Betrieb (Zeitschrift) Aktiengesetz anderer Meinung Arbeitgeberverband Mittelständischer Personaldienstleister Anhang Anmerkung Arbeitsrechtliche Praxis Arbeitsgericht Arbeitsgerichtsgesetz Arbeitsrechtsblattei Gesetz über Arbeitnehmererfindungen Arbeitsplatzschutzgesetz Der Arbeits-Rechts-Berater (Zeitschrift) Arbeitsrecht der Gegenwart Arbeitsschutzgesetz Verordnung über Arbeitsstätten Arbeit und Recht (Zeitschrift) Arbeitszeitgesetz Arbeitsrecht in Stichworten Artikel Arbeitssicherheitsgesetz Altersteilzeitgesetz Arbeit und Arbeitsrecht (Zeitschrift) Arbeitnehmerüberlassungsgesetz Allgemeinverbindlicherklärung Arbeitsvertragsrichtlinien Arbeitszeitordnung
BA BAG BAGE BAnz. BArbBl. BAT
Bundesagentur für Arbeit Bundesarbeitsgericht Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Bundesanzeiger Bundesarbeitsblatt Bundesangestelltentarifvertrag XXIX
Abkrzungsverzeichnis
BayObLG BB BBiG Bd. BDSG BEEG Beil. bej. BetrAVG BetrVG BETV BFH BGB BGBl. BGH BGHZ BlStSozArbR BMAS BPersVG BR-Drucks. BRTV Bau BSchGO BSG BStBl. BT-Drucks. BUrlG BuW BVerfG BVerfGE BVerwG BZA
Bayerisches Oberstes Landesgericht Der Betriebs-Berater (Zeitschrift) Berufsbildungsgesetz Band Bundesdatenschutzgesetz Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz Beilage bejahend Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung Betriebsverfassungsgesetz Bundesentgelttarifvertrag Bundesfinanzhof Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Blätter für Steuerrecht, Sozialversicherung und Arbeitsrecht Bundesministerium für Arbeit und Soziales Bundespersonalvertretungsgesetz Bundesrats-Drucksache Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe Bühnenschiedsgerichtsordnung Bundessozialgericht Bundessteuerblatt Bundestags-Drucksache Bundesurlaubsgesetz Betrieb und Wirtschaft (Zeitschrift) Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Bundesverband Zeitarbeit Personal-Dienstleistungen e.V.
CGM CGZP
Christliche Gewerkschaft Metall Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen
DB DEVO DGB DrittelbG Drucks. DStR DVO DWW
Der Betrieb (Zeitschrift) Datenerfassungsverordnung Deutscher Gewerkschaftsbund Drittelbeteiligungsgesetz Drucksache Deutsches Steuerrecht (Zeitschrift) Durchführungsverordnung Deutsche Wohnungswirtschaft (Zeitschrift)
EBRG EFZG EG
Gesetz über Europäische Betriebsräte Entgeltfortzahlungsgesetz Europäische Gemeinschaft
XXX
Abkrzungsverzeichnis
EGBGB Einl. Einls. EMTV ERA ERTV EStG EU EuGH EuGRZ EUV EuZW EzA
Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch Einleitung Einleitungssatz Einheitlicher Manteltarifvertrag für die Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalen Entgeltrahmenabkommen Entgeltrahmentarifvertrag Einkommensteuergesetz Europäische Union Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechte-Zeitschrift Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Entscheidungssammlung zum Arbeitsrecht
FA f., ff. FG FlRG Fn. FS
Fachanwalt Arbeitsrecht (Zeitschrift) folgende(r); fortfolgende Finanzgericht Flaggenrechtsgesetz Fußnote Festschrift
GBl. gem. GemSOGB GenG GewArch GewO GG GK GmbH GmbHG GNBZ GrCh GS GVBl. GVG
Gesetzblatt gemäß Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes Genossenschaftsgesetz Gewerbearchiv (Zeitschrift) Gewerbeordnung Grundgesetz Gemeinschaftskommentar Gesellschaft mit beschränkter Haftung GmbH-Gesetz Gewerkschaft der Neuen Brief- und Zustelldienste Grundrechte-Charta Großer Senat; Gedächtnisschrift Gesetz- und Verordnungsblatt Gerichtsverfassungsgesetz
HAG Halbs. HGB h.L. h.M. HwB-AR HzA
Heimarbeitsgesetz Halbsatz Handelsgesetzbuch herrschende Lehre herrschende Meinung Handwörterbuch zum Arbeitsrecht Handbuch zum Arbeitsrecht
i.e.S. iGZ
im engeren Sinne Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen e.V.
XXXI
Abkrzungsverzeichnis
InsO IPRax i.S. i.S.d. i.S.v. i.V.m.
Insolvenzordnung Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts (Zeitschrift) im Sinne im Sinne des/der im Sinne von in Verbindung mit
JArbSchG JZ
Jugendarbeitsschutzgesetz Juristenzeitung
Kap. KAPOVAZ KG KGaA KSchG
Kapitel Kapazitätsorientierte variable Arbeitszeit Kammergericht; Kommanditgesellschaft Kommanditgesellschaft auf Aktien Kündigungsschutzgesetz
LAG LAGE LG Ls. LSG LStR lt.
Landesarbeitsgericht Entscheidungen der Landesarbeitsgerichte Landgericht Leitsatz Landessozialgericht Lohnsteuerrichtlinien laut
MDR MiArbG MiLoG MitbestErgG MitbestG MontanMitbestG MTV MünchArbR MuSchG m.w.N.
Monatsschrift für Deutsches Recht (Zeitschrift) Mindestarbeitsbedingungengesetz Mindestlohngesetz Mitbestimmungsergänzungsgesetz Mitbestimmungsgesetz Montan-Mitbestimmungsgesetz
NachwG n.F. NJOZ NJW n. rkr. NRW n.v. NZA NZA-RR NZS
Nachweisgesetz neue Fassung Neue Juristische Online-Zeitschrift Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift) nicht rechtskräftig Nordrhein-Westfalen nicht veröffentlicht Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht NZA-Rechtsprechungsreport (Zeitschrift) Neue Zeitschrift für Sozialrecht
XXXII
Manteltarifvertrag Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht Mutterschutzgesetz mit weiteren Nachweisen
Abkrzungsverzeichnis
öAT OHG OLG OLGZ Os. OVG OWiG
Zeitschrift für das öffentliche Arbeits- und Tarifrecht Offene Handelsgesellschaft Oberlandesgericht Entscheidungen der Oberlandesgerichte in Zivilsachen einschließlich der freiwilligen Gerichtsbarkeit Orientierungssatz Oberverwaltungsgericht Gesetz über Ordnungswidrigkeiten
PflegeZG PSVaG
Pflegezeitgesetz Pensions-Sicherungs-Verein auf Gegenseitigkeit
RdA RIW rkr. RL Rspr. Rz. RzK
Recht der Arbeit (Zeitschrift) Recht der internationalen Wirtschaft (Zeitschrift) rechtskräftig Richtlinie Rechtsprechung Randziffer Rechtsprechung zum Kündigungsrecht
S. s. SAE SE SGB SGb SGG SozVers SprAuG SR StE StGB
Seite siehe Sammlung arbeitsrechtlicher Entscheidungen (Zeitschrift) Europäische Aktiengesellschaft Sozialgesetzbuch Die Sozialgerichtsbarkeit (Zeitschrift) Sozialgerichtsgesetz Die Sozialversicherung (Zeitschrift) Sprecherausschussgesetz (BAT) Sonderregelungen Bundesangestelltentarifvertrag Steuer-Eildienst Strafgesetzbuch
TdL TEG TgDRV TV TVG TVGDV TV-L TVöD TVVO TzBfG
Tarifgemeinschaft der Länder Tarifeinheitsgesetz Tarifgemeinschaft der gesetzlichen Rentenversicherung Tarifvertrag Tarifvertragsgesetz Durchführungsverordnung zum Tarifvertragsgesetz Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder Tarifvertrag öffentlicher Dienst Tarifvertragsverordnung Teilzeit- und Befristungsgesetz
u.a. UAbs. UmwG UrhG
und andere; unter anderem Unterabsatz Umwandlungsgesetz Urheberrechtsgesetz
XXXIII
Abkrzungsverzeichnis
Urt. UVV
Urteil Unfallverhütungsvorschriften
VermBG VersR VO VOBl. VVG
Gesetz zur Förderung der Vermögensbildung der Arbeitnehmer Versicherungsrecht (Zeitschrift) Verordnung Verordnungsblatt Versicherungsvertragsgesetz
WM
Wertpapier-Mitteilungen (Zeitschrift)
ZfA ZfS
Zeitschrift für Arbeitsrecht Zentralblatt für Sozialversicherung, Sozialhilfe und Versorgung (Zeitschrift) Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Zivilprozessordnung Zeitschrift für Tarifrecht zustimmend Zeitschrift für Zivilprozess
ZIP ZPO ZTR zust. ZZP
XXXIV
Teil 1 Grundlagen des Tarifvertragsrechts Rz.
Rz. A. Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) I. Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Art. 9 Abs. 3 GG als verfassungsrechtliche Gewährleistung der Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts – eine Skizze . . . . . . . . 2. Von der Koalitionsbildungs- zur Koalitionsbetätigungsfreiheit . . . . . . 3. Tarifautonomie als Gegenstand der Koalitionsbetätigungsfreiheit . . . . . . III. Zur dogmatischen Rekonstruktion der Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die fundamentale Unterscheidung von Grundrechtsausgestaltung und -eingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zur Grundrechtsrelevanz gesetzgeberischer Aktivitäten im Tarifvertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Träger der Koalitionsfreiheit . . . . . . . 1. Zur Lehre vom Doppelgrundrecht. . .
1
3 4 7 9
2. Die Bedeutung des einfachgesetzlichen Koalitionsbegriffs . . . . . . . . . . . . 3. Koalitionspluralität – ein Verfassungsproblem? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Spielräume und Grenzen gesetzgeberischer Ingerenzen – ausgewählte Problemkonstellationen 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Deregulierung im Tarifvertragsrecht . 3. Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität . 4. Tariftreueklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Mindestlöhne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21 24
27 29 32 37 39
12
B. Tarifvertrag und höherrangiges Recht I. Grundrechtsbindung . . . . . . . . . . . . . .
45
13
II. Gemeinwohlbindung . . . . . . . . . . . . .
49
III. Bindung an europäisches Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
IV. Normsetzungsmonopol der Koalitionen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54
15 18 19
A. Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) Literatur: Band, Tarifkonkurrenz, Tarifpluralität und der Grundsatz der Tarifeinheit, 2003; Barczak, Mindestlohngesetz und Verfassung, RdA 2014, 290; Bayreuther, Gewerkschaftspluralismus im Spiegel der aktuellen Rechtsprechung – Abschied vom „Einheitstarifvertrag“?, BB 2005, 2633; Bayreuther/Franzen/Greiner/Krause/Oetker/Preis/Rebhahn/Thüsing/Waltermann, Tarifpluralität als Aufgabe des Gesetzgebers, 2011; Becker, Kooperative und konsensuale Strukturen in der Normsetzung, 2005; Bepler, Stärkung der Tarifautonomie – Welche Änderungen des Tarifvertragsrechts empfehlen sich?, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, in: Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 70. Deutschen Juristentages, Bd. I, 2014; Bieback, Neue Strukturen der Koalitionsfreiheit?, AuR 2000, 201; Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, 1964; Birk, Die Tarifautonomie in rechtsvergleichender Sicht, RdA 1995, 71; Bruhn, Tarifeinheit im Betrieb als Eingriff in die Koalitionsfreiheit, 1997; Buchner, Tarifverträge im Wettbewerb?, ZfA 2004, 229; Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, 2006; Butzer, Verfassungsrechtliche Grundlagen zum Verhältnis zwischen Gesetzgebungshoheit und Tarifautonomie, RdA 1994, 375; Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2004; Deinert, Negative Koalitionsfreiheit, RdA 2014, 129; Dieterich, Tarifautonomie und Bundesverfassungsgericht, AuR 2001, 390; Dieterich, Betriebliche Bündnisse für Arbeit und Tarifautonomie, DB 2001, 2398; Dieterich, Flexibilisiertes Tarifrecht und Grundgesetz, RdA 2002, 1; Dieterich, Koalitionswettbewerb – Nutzung der Freiheit oder Störung der Ordnung?, in: Dieterich (Hrsg.), Individuelle und kollektive Freiheit im Arbeitsrecht, Gedächtnisschrift für Ulrich Zachert, 2010, S. 532; Dieterich/Hanau/Henssler/Oetker/Wank/Wiedemann, Empfehlungen zur Entwicklung des Tarifvertragsrechts, RdA 2004, 65; Dorndorf, Das Verhältnis von Tarifautonomie und individueller Freiheit als Problem dogmatischer Theorie, in: Heinze (Hrsg.), Arbeitsrecht in der Bewäh-
Engels
1
Teil 1
Grundlagen des Tarifvertragsrechts
rung, Festschrift für Otto Rudolf Kissel zum 65. Geburtstag, 1994, S. 139; Döttger, Der Schutz tariflicher Normsetzung, 2003; Ehmann, Empfiehlt es sich, die Regelungsbefugnisse der Tarifparteien im Verhältnis zu den Betriebsparteien zu ordnen?, ZRP 1996, 314; Ehmann/Schmidt, Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge, NZA 1995, 193; Ewer, Aushöhlung von Grundrechten der Berufs- und Spartengewerkschaften – das Tarifeinheitsgesetz, NJW 2015, 2230; Forst, Die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen nach dem sogenannten Tarifautonomiestärkungsgesetz, RdA 2015, 36; Franzen, Tarifrechtssystem und Gewerkschaftswettbewerb – Überlegungen zur Flexibilisierung des Flächentarifvertrags, RdA 2001, 1; Freihube, Probleme der Tarifbindung in der Unternehmenskrise, 2001; Friauf, Die verfassungsrechtlichen Vorgaben einer gesetzlichen oder tarifvertraglichen Arbeitskampfordnung, RdA 1986, 188; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, 2000; Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, 2002; Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, 2011; Hanau, Die Deregulierung von Tarifverträgen durch Betriebsvereinbarungen als Problem der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG), RdA 1993, 1; Hanau, Der Tarifvertrag in der Krise, RdA 1998, 65; Hanau, Wege zu einer beschäftigungsorientierten Arbeitsmarktordnung: Spannungsverhältnis Individualvertrag, Betriebsvereinbarung, Tarifvertrag, in: Wank (Hrsg.), Festschrift für Herbert Wiedemann zum 70. 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Geburtstag, 1998, S. 205; Heinze, Anforderungen an einen zukunftsfähigen Flächentarifvertrag – Brauchen wir ein neues Tarifrecht?, in: Goos (Hrsg.), Arbeitsrecht im Strukturwandel, Festschrift für Karl Weinspach, 2002, S. 103; Heise, Günstigkeitsprinzip und betriebliche Bündnisse für Arbeit, in: Oetker (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, 2004, S. 657; Henssler, Flexibilisierung der Arbeitsmarktordnung, ZfA 1994, 487; Henssler, Tarifautonomie und Gesetzgebung, ZfA 1998, 1; Henssler, Ende der Tarifeinheit – Eckdaten eines neuen Arbeitskampfrechts, RdA 2011, 65; Henssler, Mindestlohn und Tarifrecht, RdA 2015, 43; Höfling, Vertragsfreiheit, 1991; Höfling, Grundelemente einer Bereichsdogmatik der Koalitionsfreiheit – Kritik und Reformulierung der sog. Kernbereichslehre, in: Wendt (Hrsg.), Staat, Wirtschaft, Steuern, Festschrift für Karl Heinrich Friauf zum 65. Geburtstag, 1996, S. 377; Höfling, Der verfassungsrechtliche Koalitionsbegriff, RdA 1999, 182; Höfling, Streikbewehrte Forderung nach Abschluss von Tarifsozialplänen anlässlich konkreter Standortentscheidungen – Eine verfassungsrechtliche Kritik der arbeitsrechtlichen Judikatur, ZfA 2008, 1; Höfling/Burkiczak, Die unmittelbare Drittwirkung gemäß Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG, RdA 2004, 263; Höfling/Burkiczak, Das Günstigkeitsprinzip – ein grundrechtsdogmatischer Zwischenruf, NJW 2005, 469; Hromadka, Mehr Flexibilität für die Betriebe – Ein Gesetzesvorschlag, NZA 1996, 1233; Hromadka, Bündnisse für Arbeit – Angriff auf die Tarifautonomie?, DB 2003, 42; Hromadka, Wiederherstellung der Tarifeinheit – Die Quadratur des Dreiecks, NZA 2014, 1105; Hufen, Gesetzliche Tarifeinheit und Streiks im Bereich der öffentlichen Infrastruktur: Der verfassungsrechtliche Rahmen, NZA 2014, 1237; Isensee, Die verfassungsrechtliche Verankerung der Tarifautonomie, in: Freudenfeld (Hrsg.), Die Zukunft der sozialen Partnerschaft, 1986, S. 159; Jarass, Tarifverträge und Verfassungsrecht, NZA 1990, 505; Junker, Der Flächentarifvertrag im Spannungsverhältnis von Tarifautonomie und betrieblicher Regelung, ZfA 1996, 383; Kamanabrou, Die Auslegung tarifvertraglicher Entgeltfortzahlungsklauseln – zugleich ein Beitrag zum Verhältnis der Tarifautonomie zu zwingenden Gesetzen, RdA 1997, 22; Kamanabrou, Die „Tarifeinheit“ der Koalitionsfreiheit, in: Maschmann (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Hromadka zum 70. Geburtstag, 2008, S. 176; Kempen, Betriebsverfassung und Tarifvertrag, RdA 1994, 140; Kirchhof, Private Rechtsetzung, 1987; Kissel, Das Spannungsfeld zwischen Betriebsvereinbarung und Tarifvertrag, NZA 1986, 73; Konzen, Grundlagen und Grenzen des vorbeugenden Rechtsschutzes, in: Heinze (Hrsg.), Arbeitsrecht in der Bewährung, Festschrift für Otto Rudolf Kissel zum 65. Geburtstag, 1994, S. 571; Konzen, Die Tarifautonomie zwischen Akzeptanz und Kritik, NZA 1995, 913; Konzen/Schliemann, Der Regierungsentwurf des Tarifeinheitsgesetzes, RdA 2015, 1; Kühling/Bertelsmann, Tarifautonomie und Unternehmerfreiheit, NZA 2005, 1017; Ladeur, Methodische Überlegungen zur gesetzlichen „Ausgestaltung“ der Koalitionsfreiheit, AöR 131 (2006), 643; Lambrich, Tarif- und Betriebsautonomie, 1999; Lieb, Mehr Flexibilität im Tarifvertragsrecht? „Moderne“ Tendenzen auf dem Prüf-
2
Engels
Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG)
Teil 1
stand, NZA 1994, 289, 337; Lieb, Skandal oder Signal? Zur Problematik tarifwidriger Betriebsvereinbarungen, in: Hönn (Hrsg.), Festschrift für Alfons Kraft zum 70. Geburtstag, 1998, S. 343; Lobinger, Stärkung oder Verstaatlichung der Tarifautonomie?, JZ 2014, 810; Löwisch, Die Voraussetzungen der Tariffähigkeit, ZfA 1970, 295; Löwisch, Neuabgrenzung von Tarifvertragssystem und Betriebsverfassung, JZ 1996, 812; Löwisch, Tariföffnung bei Unternehmens- und Arbeitsplatzgefährdung, NJW 1997, 905; Löwisch, Beschäftigungssicherung als Gegenstand betrieblicher und tariflicher Regelungen und von Arbeitskämpfen, DB 2005, 554; Löwisch, Tarifeinheit – Was kann und soll der Gesetzgeber tun?, RdA 2010, 263; Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988; Mager, Einrichtungsgarantien, 2001; Möschel, Tarifautonomie – ein überholtes Ordnungsmodell?, in: Zohlnhöfer (Hrsg.), Die Tarifautonomie auf dem Prüfstand, 1996, S. 11; Papier, Der verfassungsrechtliche Rahmen für Privatautonomie im Arbeitsrecht, RdA 1989, 137; Picker, Niedriglohn und Mindestlohn, RdA 2014, 25; Picker, Tarifmacht und tarifvertragliche Arbeitsmarktpolitik, ZfA 1998, 573; Pieroth, Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie und Mitbestimmung, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. II, 2001, S. 293; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003; Raab, Betriebliche Bündnisse für Arbeit – Königsweg aus der Beschäftigungskrise?, ZfA 2004, 371; Reichold, Stärkung in Tiefe und Breite – wie viel Staat verkraftet die Tarifautonomie?, NJW 2014, 2534; Reuter, Das Verhältnis von Individualautonomie, Betriebsautonomie und Tarifautonomie, RdA 1991, 193; Reuter, Betriebsverfassung und Tarifvertrag, RdA 1994, 152; Reuter, Möglichkeiten und Grenzen einer Auflockerung des Tarifkartells, ZfA 1995, 1; Richardi, Empfiehlt es sich die Regelungsbefugnisse der Tarifparteien im Verhältnis zu den Betriebsparteien neu zu ordnen? Gutachten B zum 61. Deutschen Juristentag, in: Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 61. Deutschen Juristentages, Bd. I, 1996; Richardi, Welche Folgen hätte die Aufhebung des Tarifvorbehalts (§ 77 III BetrVG)?, NZA 2000, 617; Richardi, Koalitionsfreiheit und Tariffähigkeit, in: Kohte (Hrsg.), Arbeitsrecht im sozialen Dialog, Festschrift für Hellmut Wißmann zum 65. Geburtstag, 2005, S. 159; Richardi, Gestaltungsformen der Tarifautonomie, JZ 2011, 282; Rieble, Krise des Flächentarifvertrages? Herausforderungen für das Tarifrecht, in: Otto-Brenner-Stiftung (Hrsg.), Krise des Flächentarifvertrages, 1996, S. 11; Rieble, Relativität der Tariffähigkeit, in: Wank (Hrsg.), Festschrift für Herbert Wiedemann zum 70. Geburtstag, 2002, S. 519; Rieble, Tarifvertrag und Beschäftigung, ZfA 2004, 1; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001; Rupp, Methodenkritische Bemerkungen zum Verhältnis von tarifvertraglicher Rechtsetzung und parlamentarischer Gesetzgebungskompetenz, JZ 1998, 919; Schaub, Wege und Irrwege aus dem Flächentarifvertrag, NZA 1998, 617; Schliemann, Fragen zum Tarifeinheitsgesetz, NZA 2014, 1250; Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971; Scholz/Lingemann/Ruttloff, Tarifeinheit und Verfassung, NZA-Beilage 2015, 3; Sels, Zwingende gesetzliche Eingriffe in bestehende Tarifverträge und das gesetzliche Verbot zukünftiger tarifvertraglicher Regelungen, 2001; Sodan, Verfassungsrechtliche Grenzen der Tarifautonomie, JZ 1998, 421; Söllner, Grenzen des Tarifvertrags, NZA 1996, 897; Thüsing, Tarifautonomie und Gemeinwohl, in: Oetker (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, 2004, S. 889; Thüsing, Vom verfassungsrechtlichen Schutz des Günstigkeitsprinzips, in: Söllner (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Meinhard Heinze, 2005, S. 901; Volkmann, Tarifautonomie in der Bundesrepublik Deutschland, in: Britz/Volkmann, Tarifautonomie in Deutschland und Europa, 2003, S. 1; Walker, Möglichkeiten und Grenzen einer flexibleren Gestaltung von Arbeitsbedingungen, ZfA 1996, 353; Waltermann, Zuständigkeiten und Regelungsbefugnisse im Spannungsfeld von Tarifautonomie und Betriebsautonomie, RdA 1996, 129; Waltermann, Zu den Grundlagen der Rechtsetzung durch Tarifvertrag, in: Köbler (Hrsg.), Europas universale rechtsordnungspolitische Aufgabe im Recht des dritten Jahrtausends, Festschrift für Alfred Söllner zum 70. Geburtstag, 2000, S. 1251; Waltermann, Zu den Grundlagen der Tarifautonomie, ZfA 2000, 53; Waltermann, Entwicklungslinien der Tarifautonomie, RdA 2014, 86; Waltermann, Stärkung der Tarifautonomie – Welche Wege könnte man gehen?, NZA 2014, 874; Wank, Zur Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG, JZ 1996, 629; Wiedemann, Tarifautonomie und staatliches Gesetz, in: Fahrtmann (Hrsg.), Arbeitsgesetzgebung und Arbeitsrechtsprechung, Festschrift zum 70. Geburtstag von Eugen Stahlhacke, 1995, S. 675; Wiese, Individuum und Kollektiv im Recht der Koalitionen, ZfA 2008, 317; Wolter, Standortsicherung, Beschäftigungssicherung, Unternehmensautonomie, Tarifautonomie, RdA 2002, 218; Wolter, Richtungswechsel im Tarifvertragsrecht – Betriebliche Bündnisse für Arbeit und Tarifvorrang, NZA 2003, 1317; Zeising/Weigert, Verfassungsmäßigkeit des Mindestlohngesetzes, NZA 2015, 15; Zöllner, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht zu Artikel 9 Abs. 3 GG, AöR 98 (1973), 71.
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Teil 1 Rz. 1
Grundlagen des Tarifvertragsrechts
I. Einleitung 1 Der inter- und intradisziplinäre Diskurs1 über die Tarifautonomie wurde in der Vergangenheit oftmals mit Forderungen nach Deregulierung und Flexibilisierung des tarifvertraglichen Systems konfrontiert2. Der These, die Tarifautonomie sei eine Erfolgsgeschichte3, wurden Schwächen des überkommenen tarifvertraglichen Systems4 und diesbezügliche Alternativen5 entgegnet; die Behauptung, die Tarifautonomie sei ein existentielles Gut, das nicht ausgehöhlt werden dürfe6, sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, die exegetischen Bemühungen im Kontext der Tarifautonomie perpetuierten einen konturenlosen Mythos der Unantastbarkeit7. Auch die arbeitsrechtliche Disziplin attestierte der Tarifautonomie, unter den Druck neoliberaler Kritik geraten zu sein8, die eine Krise des tarifvertraglichen Systems9 ausgelöst habe10. 2 Nach Auswirkungen dieser Krise muss man nicht lange suchen: Die Koalitionslandschaft ist auf der einen Seite nach wie vor von immer weniger Gewerkschaftsmitgliedern und auf der anderen Seite von immer mehr OT-Mitgliedern der Arbeitgeberverbände geprägt. Im Niedriglohnsektor hat die Tarifautonomie ihre Funktionsfähigkeit anscheinend ganz eingebüßt. Und auch der Bedeutungszuwachs von Spartengewerkschaften kann über eine Krise der Tarifautonomie schließlich nicht hinwegtäuschen – mehr noch: Tarifauseinandersetzungen mit Spartengewerkschaften werden sogar als Ausdruck des Funktionsverlustes der Tarifautonomie wahrgenommen11. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass inzwischen Überlegungen zur Stärkung der Tarifautonomie in den Vordergrund rücken. Nicht zuletzt der 70. Deutsche Juristentag beschäftigte sich mit der kontinuierlich abnehmenden Tarifbindung, den erheblichen Veränderung der Koalitionslandschaft, die namentlich auch mit der Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit durch das BAG befeuert wurde, sowie der Ein-
1 Dazu Fischer, ZfA 2002, 215 ff. 2 Eingehend Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 80 ff.; dazu auch schon Hanau, RdA 1993, 1 ff.; Reuter, ZfA 1995, 1 ff.; Dieterich, RdA 2002, 1 ff.; ferner Hromadka, NZA 1996, 1233 (1239); Hromadka, DB 2003, 42 (46 f.); Löwisch, NJW 1997, 905 (911). 3 Dazu Dieterich, DB 2001, 2398 ff.; ferner Gamillscheg, Die Grundrechte im Arbeitsrecht, S. 99; kritisch zu Deregulierungs- und Flexibilisierungsbestrebungen Dieterich/Hanau/ Henssler/Oetker/Wank/Wiedemann, RdA 2004, 65 (69 ff.); siehe auch Lieb, NZA 1994, 289 ff., 337 ff.; Junker, ZfA 1996, 383 ff.; Löwisch, JZ 1996, 812 (818 ff.); Walker, ZfA 1996, 353 ff.; Waltermann, RdA 1996, 129 ff. 4 Adomeit, NJW 2000, 1918 f. 5 Siehe Heinze, DB 1996, 729 (733). 6 Dorndorf, FS Kissel, 1994, S. 139 ff.; ähnlich Kissel, NZA 1986, 73 (74). 7 Henssler, ZfA 1998, 1 (17). 8 Dieterich, AuR 2001, 390 ff.; siehe auch Rieble in Otto-Brenner-Stiftung (Hrsg.), Krise des Flächentarifvertrages, S. 11 (11); Volkmann in Britz/Volkmann, Tarifautonomie in Deutschland und Europa, S. 1 (2). 9 Siehe etwa Buchner, NZA 1995, 761 ff.; Ehmann/Schmidt, NZA 1995, 193 ff.; Ehmann, ZRP 1996, 314 ff.; Franz/Rüthers, RdA 1999, 32 ff.; ferner auch Engel, VVDStRL 59 (2000), 56 (65 f., 83 ff.). 10 Siehe Heinze, NZA 1997, 1 (7); Heinze, FS Kraft, 1998, S. 205 ff. 11 Waltermann, NZA 2014, 874 (874, 876); zu den Gefahren für die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie auch Preis/Ulber, FS Kempen, 2013, S. 15 ff.
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Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG)
Rz. 4 Teil 1
führung eines allgemeinen Mindestlohns1. Des Weiteren hat sich der Gesetzgeber des Tarifvertragsrechts angenommen – zum einen wurden mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz2 die Allgemeinverbindlicherklärung gemäß § 5 TVG erleichtert, die Tariferstreckungsmöglichkeiten nach dem AEntG ausgebaut und ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt; zum anderen schreibt das Tarifeinheitsgesetz3 den Grundsatz der Tarifeinheit nunmehr gesetzlich fest.
II. Art. 9 Abs. 3 GG als verfassungsrechtliche Gewährleistung der Tarifautonomie Es vermag kaum zu überraschen, dass im Rahmen dieser (schemenhaft) aufgezeigten 3 Diskussionsschwerpunkte oftmals verfassungsrechtliche Aspekte bemüht werden, um scheinbar unerschütterliche Argumentationslinien für und wider bestimmte Grundhaltungen im Tarifvertragsrecht zu begründen4. Namentlich die Bezugnahme auf das Grundrecht der Koalitionsfreiheit verwechselt dabei (sowohl in der Vergangenheit als auch im Rahmen der aktuellen Diskussion) indes nicht selten politische Wünschbarkeiten mit verfassungsrechtlichen Gewissheiten5. 1. Die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts – eine Skizze Die verfassungsrechtliche Mediatisierung des Diskurses wurde dabei nicht zuletzt 4 durch die Judikatur des BVerfG befördert. Das BVerfG formulierte schon früh die These, die Tarifautonomie sei Schutzgegenstand der Koalitionsfreiheit: Da Art. 9 Abs. 3 GG den Zusammenschluss zu einem bestimmten Zweck betreffe – nämlich die Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen –, impliziere die Koalitionsfreiheit die Befugnis, auf die Gestaltung der Löhne und Arbeitsbedingungen Einfluss zu nehmen und Gesamtvereinbarungen in Form von TVen mit Normativcharakter und Unabdingbarkeit abzuschließen. Der historisch gewachsene Sinn der Koalitionsfreiheit gebiete einen verfassungsrechtlich geschützten Kernbereich6, der zur staatlichen Bereitstellung eines von frei gebildeten Koalitionen getragenen TVSystems anhalte7. Nachfolgend präzisierte das BVerfG die Befugnis, auf die Gestal1 Siehe Bepler in Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 70. Deutschen Juristentages, Bd. I, 2014, B 1 ff.; dazu etwa Lobinger, JZ 2014, 810 ff.; Höpfner, RdA 2014, 94 ff.; Reichold, NJW 2014, 2534 ff.; Waltermann, NZA 2014, 874 ff. 2 Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie v. 11.8.2014 (BGBl. I, 1348). 3 Gesetz zur Tarifeinheit v. 3.7.2015 (BGBl. I, 1130). 4 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 19; ähnlich schon Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, 1967, S. 21. 5 Siehe Buchner in Löw (Hrsg.), 25 Jahre Grundgesetz, 1974, S. 5 ff.; ähnlich auch Friauf, RdA 1986, 188 (189), der eine weitreichende Vernachlässigung des Art. 9 Abs. 3 GG durch die verfassungsrechtliche Disziplin konstatiert. 6 Dazu auch BVerfG v. 30.11.1965 – 2 BvR 54/62, BVerfGE 19, 303 (321 f.); BVerfG v. 19.10.1966 – 1 BvL 24/65, BVerfGE 20, 312 (317); BVerfG v. 26.5.1970 – 2 BvR 664/65, BVerfGE 28, 295 (303, 305); BVerfG v. 26.5.1970 – 2 BvR 686/65, BVerfGE 28, 310 (313); BVerfG v. 18.12.1974 – 1 BvR 430/65, 1 BvR 259/66, BVerfGE 38, 281 (305); BVerfG v. 19.2.1975 – 1 BvR 418/71, BVerfGE 38, 386 (393); BVerfG v. 28.4.1976 – 1 BvR 71/73, BVerfGE 42, 133 (139); BVerfG v. 1.10.1987 – 2 BvR 1178/86, 2 BvR 1179/86, 2 BvR 1191/86, BVerfGE 77, 1 (63); BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, 212 (228). 7 BVerfG v. 18.11.1954 – 1 BvR 629/52, BVerfGE 4, 96 (106 ff.).
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tung der Löhne und Arbeitsbedingungen Einfluss zu nehmen, mit der allgemeinen Formel, dass die Koalitionsfreiheit das Recht gewährleiste, durch spezifisch koalitionsmäßige Betätigung1 die in Art. 9 Abs. 3 GG benannten Ziele zu erfüllen, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen unerlässlich2 seien3. Das BVerfG hob zugleich hervor, dass TVe das überkommene Mittel seien, das Koalitionen zur Bestimmung namentlich von Löhnen und Gehältern befähige; die der Koalitionsfreiheit immanente Tarifautonomie verfolge den im öffentlichen Interesse liegenden Zweck, in einem von staatlicher Rechtsetzung frei gelassenen Raum das Arbeitsleben durch TVe sinnvoll zu ordnen4. 5 Relativierend konstatierte das BVerfG allerdings, dass ungeachtet der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Tarifautonomie Art. 9 Abs. 3 GG lediglich einen Kernbereich des TV-Systems schütze, der einen weiten legislativen Spielraum zur Ausgestaltung der Tarifautonomie und zur sachgerechten Fortbildung des TV-Systems eröffne. Eine Grenze finde diese Gestaltungsbefugnis lediglich in der Funktionsfähigkeit einer selbstverantwortlichen und paritätischen5 Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen6. Die Koalitionsfreiheit garantiert danach nicht die spezifische Ausprägung, die das TV-System in dem zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Grundgesetzes geltenden Tarifvertragsgesetz erhalten hat7. Obschon das BVerfG anerkannte, dass die Koalitionsfreiheit – Art. 9 Abs. 3 GG gewährleiste die Tätigkeit der Koalitionen nämlich nicht schrankenlos – im Wege der Ausgestaltung spezifischer Befugnisse präzisiert werden könne, wurden die Grenzen der Gestaltungsfreiheit zudem nicht länger mit dem Begriff der Unerlässlichkeit beschrieben; vielmehr durften nach der Judikatur des BVerfG dem Betätigungsrecht der Koalitionen nur solche Schranken gezogen werden, die zum Schutz widerstreitender 1 Dazu auch BVerfG v. 6.5.1964 – 1 BvR 79/62, BVerfGE 18, 18 (26); BVerfG v. 30.11.1965 – 2 BvR 54/62, BVerfGE 19, 303 (312); BVerfG v. 19.10.1966 – 1 BvL 24/65, BVerfGE 20, 312 (320); BVerfG v. 26.5.1970 – 2 BvR 664/65, BVerfGE 28, 295 (304); BVerfG v. 28.4.1976 – 1 BvR 71/73, BVerfGE 42, 133 (138); BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (345); BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (367); BVerfG v. 15.7.1980 – 1 BvR 24/74, 1 BvR 439/79, BVerfGE 55, 7 (21); BVerfG v. 7.4.1981 – 2 BvR 446/80, BVerfGE 57, 29 (37); BVerfG v. 17.2.1981 – 2 BvR 384/78, BVerfGE 57, 220 (245); BVerfG v. 20.10.1981 – 1 BvR 404/78, BVerfGE 58, 233 (246); BVerfG v. 23.4.1986 – 2 BvR 487/80, BVerfGE 73, 261 (270); BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86, 1 BvF 1/87, 1 BvF 2/87, 1 BvF 3/87, 1 BvF 4/87, 1 BvR 1421/86, BVerfGE 92, 365 (393). 2 Siehe dazu auch BVerfG v. 26.5.1970 – 2 BvR 664/65, BVerfGE 28, 295 (304); BVerfG v. 18.12.1974 – 1 BvR 430/65, 1 BvR 259/66, BVerfGE 38, 281 (305); BVerfG v. 17.2.1981 – 2 BvR 384/78, BVerfGE 57, 220 (246). 3 BVerfG v. 14.4.1964 – 2 BvR 69/62, BVerfGE 17, 319 (333, 335). 4 Vgl. BVerfG v. 6.5.1964 – 1 BvR 79/62, BVerfGE 18, 18 (26 ff.); ähnlich BVerfG v. 26.5.1970 – 2 BvR 664/65, BVerfGE 28, 295 (304 f.). 5 BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86, 1 BvF 1/87, 1 BvF 2/87, 1 BvF 3/87, 1 BvF 4/87, 1 BvR 1421/86, BVerfGE 92, 365 (395 f.); vgl. auch BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, 212 (229). 6 BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86, 1 BvF 1/87, 1 BvF 2/87, 1 BvF 3/87, 1 BvF 4/87, 1 BvR 1421/86, BVerfGE 92, 365 (394); zuvor BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (367). 7 BVerfG v. 19.10.1966 – 1 BvL 24/65, BVerfGE 20, 312 (317); ferner BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (367, 369); ähnlich BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86, 1 BvF 1/87, 1 BvF 2/87, 1 BvF 3/87, 1 BvF 4/87, 1 BvR 1421/86, BVerfGE 92, 365 (394 f.).
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Rechtspositionen geboten seien1. Ungeachtet der abweichenden Konturierung der Koalitionsfreiheit betonte das BVerfG allerdings regelmäßig den Stellenwert der Tarifautonomie, die einer sachgerechten2 Versöhnung widerstreitender Interessen diene und angesichts der Zurücknahme der staatlichen Regelungsmacht eine Entscheidung zugunsten eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates widerspiegele3. Auf der Grundlage der im öffentlichen Interesse liegenden Aufgabe der Koalitionsfreiheit, Löhne und sonstige materielle Arbeitsbedingungen in eigener Verantwortung und ohne staatliche Einflussnahme zu ordnen, sei den Koalitionen mit den Bestimmungen des TVG das Mittel des TVs eingeräumt worden, um die von Art. 9 Abs. 3 GG intendierte Ordnung des Arbeitslebens verwirklichen zu können4. Nach dem BVerfG lässt sich allerdings auch nicht annehmen, dass Art. 9 Abs. 3 GG andere Formen einer sinnvollen Ordnung und Befriedung des Arbeitsplatzes als die des TV-Systems ausschließen will5. Auch die in der Judikatur gefundene Formulierung, Art. 9 Abs. 3 GG gewährleiste in 6 erster Linie ein Freiheitsrecht6, bedeutete schließlich keine Abkehr von der Annahme, die Koalitionsfreiheit bedürfe der Ausgestaltung7. Das BVerfG stellte vielmehr heraus, dass nicht nur die Bereitstellung von Rechtsinstituten und Normkomplexen unabdingbare Voraussetzung einer Ausübung der Koalitionsfreiheit sei; auch die Vielzahl der von der Ausübung der Koalitionsfreiheit berührten Belange mache vielfältige gesetzliche Regelungen notwendig, die der Koalitionsfreiheit auch Schranken ziehen könnten8. Dennoch wurde die Bedeutung der Kernbereichsdoktrin in der Judikatur des BVerfG „klargestellt“9: Die Koalitionsfreiheit wurde auf alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen erstreckt und der Unerlässlichkeit lediglich Bedeutung im Rahmen der 1 BVerfG v. 26.5.1970 – 2 BvR 664/65, BVerfGE 28, 295 (306); siehe auch BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (369); BVerfG v. 20.10.1981 – 1 BvR 404/78, BVerfGE 58, 233 (247 f.). 2 Vgl. auch BVerfG v. 2.3.1993 – 1 BvR 1213/85, BVerfGE 88, 103 (114). 3 BVerfG v. 27.2.1973 – 2 BvL 27/69, BVerfGE 34, 307 (316 f.); vgl. ferner BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (340 f.), BVerfG v. 10.1.1995 – 1 BvF 1/90, 1 BvR 342/90, 1 BvR 348/90, BVerfG v. 10.1.1995 – 1 BvF 1/90, 1 BvR 342/90, 1 BvR 348/90, BVerfGE 92, 26 (45), BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86, 1 BvF 1/87, 1 BvF 2/87, 1 BvF 3/87, 1 BvF 4/87, 1 BvR 1421/86, BVerfGE 92, 365 (395). 4 BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (340 f.). 5 BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (371 f.). 6 BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (367); ähnlich BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86, 1 BvF 1/87, 1 BvF 2/87, 1 BvF 3/87, 1 BvF 4/87, 1 BvR 1421/86, BVerfGE 92, 365 (393). 7 BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (368). 8 BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (368); BVerfG v. 20.10.1981 – 1 BvR 404/78, BVerfGE 58, 233 (247); ferner BVerfG v. 10.1.1995 – 1 BvF 1/90, 1 BvR 342/90, 1 BvR 348/90, BVerfGE 92, 26 (41) mit dem Hinweis, die Regelung von Voraussetzungen für die Wahrnehmung von Freiheitsrechten, namentlich die Regelung der Beziehungen zwischen Repräsentanten widerstreitender Interessen, bedürfe der Ausgestaltung. 9 BVerfG v. 14.11.1995 – 1 BvR 601/92, BVerfGE 93, 352 (360); vgl. auch BVerfG v. 24.2.1999 – 1 BvR 123/93, BVerfGE 100, 214 (222); ferner BVerfG v. 27.4.1999 – 1 BvR 2203/93, 1 BvR 897/95, BVerfGE 100, 271 (282).
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Einschränkung des Art. 9 Abs. 3 GG beigemessen1. Ausgangspunkt dieser neuen Kernbereichsdoktrin ist dabei, dass die Koalitionsfreiheit die Betätigung der Koalitionen nicht schrankenlos zulasse, sondern Art. 9 Abs. 3 GG der Ausgestaltung zugänglich sei. Der Kernbereich umschreibe daher die verfassungsrechtlichen Grenzen, die den Schutz widerstreitender Rechtspositionen bezweckten und im Rahmen der Ausgestaltung des Art. 9 Abs. 3 GG zu beachten seien2. Der verfassungsrechtliche Schutz sei allerdings nicht für alle koalitionsmäßigen Betätigungen von übereinstimmender Intensität3. Könne eine Angelegenheit sachgerecht von den TV-Parteien geregelt werden, müssten die Gründe, die einen Eingriff rechtfertigen, schwergewichtig sein, liege doch Art. 9 Abs. 3 GG das Leitbild eines die widerstreitenden Interessen angemessen zum Ausgleich bringenden Mechanismus zugrunde4. 2. Von der Koalitionsbildungs- zur Koalitionsbetätigungsfreiheit 7 Die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Tarifautonomie gründet auf der – in der Judikatur des BVerfG mit geringem Begründungsaufwand5 konstatierten – Annahme, dass Art. 9 Abs. 3 GG eine Koalitionsbetätigungsfreiheit gewährleistet6. Obwohl der rechtsquellenhierarchische Vorrang des Verfassungsrechts und dessen Maßstabsfunktion7 namentlich auch das Tarifvertragsrecht nicht ausspart, überschreitet die Deduktion einer Koalitionsbetätigungsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG zunächst nicht die Grenzen zulässiger Grundrechtsexegese8. Allerdings bedarf eine entsprechende Konzeption einer vorrangig teleologischen Argumentation, bleibt doch zumindest der Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG jedenfalls auf den ersten Blick für die Begründung einer Koalitionsbetätigungsfreiheit unergiebig9. Eine Koalitionsbetätigungsfreiheit findet
1 BVerfG v. 14.11.1995 – 1 BvR 601/92, BVerfGE 93, 352 (358 f.); zuletzt mit Blick auf gewerkschaftlich getragene Flashmob-Aktionen BVerfG v. 26.3.2014 – 1 BvR 3185/09, NJW 2014, 1874 (1875). 2 BVerfG v. 14.11.1995 – 1 BvR 601/92, BVerfGE 93, 352 (358 f.). 3 BVerfG v. 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, BVerfGE 94, 268 (284 f.). 4 Siehe BVerfG v. 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, BVerfGE 94, 268 (285). 5 Dazu Zöllner, AöR 98 (1973), 71 (77); Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 119, 286. 6 Siehe BVerfG v. 14.4.1964 – 2 BvR 69/62, BVerfGE 17, 319 (333); BVerfG v. 6.5.1964 – 1 BvR 79/62, BVerfGE 18, 18 (26); BVerfG v. 19.10.1966 – 1 BvL 24/65, BVerfGE 20, 312 (319 f.); BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (367); BVerfG v. 15.7.1980 – 1 BvR 24/74, 1 BvR 439/79, BVerfGE 55, 7 (21); BVerfG v. 17.2.1981 – 2 BvR 384/78, BVerfGE 57, 220 (245); BVerfG v. 14.11.1995 – 1 BvR 601/92, BVerfGE 93, 352 (357); BVerfG v. 27.4.1999 – 1 BvR 2203/93, 1 BvR 897/95, BVerfGE 100, 271 (282); BVerfG v. 3.4.2001 – 1 BvL 32/97, BVerfGE 103, 293 (304); dazu ferner Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 138 ff.; Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 107; Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 67; Rixen in Stern/Becker, Art. 9 GG Rz. 40 ff.; Friauf, RdA 1986, 188 (190); Jarass, NZA 1990, 505 (506); Konzen, FS Kissel, 1994, S. 571 (581); Henssler, ZfA 1998, 517 (519); Dieterich, DB 2001, 2398 (2400); Dieterich, RdA 2002, 1 (8); Wolter, RdA 2002, 218 (219). 7 Höfling, RdA 1999, 182 (182); ähnlich Butzer, RdA 1994, 375 (385). 8 Anders Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 284 ff.; siehe auch Sels, Zwingende gesetzliche Eingriffe in bestehende Tarifverträge und das gesetzliche Verbot zukünftiger tarifvertraglicher Regelungen, S. 105 ff.; Rupp, JZ 1998, 919 (921); ähnlich wohl Engel, VVDStRL 59 (2000), 158 (160 f.). 9 Siehe auch Konzen, FS Kissel, 1994, 571 (579); Henssler, ZfA 1998, S. 1 (3).
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nämlich neben der Koalitionsgründungsfreiheit in Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG keine ausdrückliche Erwähnung1. Des Weiteren kann auch die exzeptionelle Anordnung der unmittelbaren Drittwirkung nach Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG nicht als Grundlage einer Koalitionsbetätigungsfreiheit herangezogen werden: Dass „Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen,“ verfassungsunmittelbar für nichtig erklärt werden und „hierauf gerichtete Maßnahmen“ verfassungswidrig sind, kann aufgrund des konfliktorischen Charakters der Koalitionsfreiheit nur als spezifischer Aspekt der Koalitionsbildungsfreiheit qualifiziert werden. Ist aber der Anwendungsbereich des Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG auf die Koalitionsbildungsfreiheit beschränkt, kann die exzeptionelle Anordnung der unmittelbaren Drittwirkung nicht für die Begründung einer Koalitionsbetätigungsfreiheit fruchtbar gemacht werden2. Allerdings kann nicht zuletzt der Benennung eines spezifischen Koalitionszwecks die 8 verfassungsrechtliche Gewährleistung einer Koalitionsbetätigungsfreiheit abgewonnen werden3. Zwar nahm auch Art. 159 WRV auf die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Bezug, gleichwohl bildete lediglich Art. 165 Abs. 1 Satz 1 WRV die Grundlage einer Koalitionsbetätigungsfreiheit4. Dennoch kann der Benennung des Koalitionszwecks nicht lediglich die Aufgabe zugedacht werden, als Kriterium der Abgrenzung der Koalitionsfreiheit von der allgemeinen Vereinigungsfreiheit zu fungieren und die Erweiterung des grundrechtlichen Schutzes in personeller Hinsicht sowie die exzeptionelle Anordnung der unmittelbaren Drittwirkung in Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG zu kompensieren5. Vielmehr streitet die Entstehungsgeschichte des Art. 9 Abs. 3 GG6 – die zwar Art. 165 Abs. 1 Satz 1 WRV nicht erwähnt7 und folglich dem Einwand begegnet, eine verfassungsrechtliche Gewährleistung der Tarifautonomie sei entstehungsgeschichtlich nicht nachweisbar8 – zugunsten der Annahme, dass angesichts der spezifischen Intention des Art. 165 Abs. 1 Satz 1 WRV eine Koalitionsbetätigungsfreiheit schon durch die Bezugnahme auf Art. 159 WRV anerkannt wur-
1 Gamillscheg, Die Grundrechte im Arbeitsrecht, S. 98; dazu ferner Reuter, RdA 1991, 193 (201); Reuter, RdA 1994, 152 (162); Birk, RdA 1995, 71 (72); Kamanabrou, RdA 1997, 22 (32); Dieterich, AuR 2001, 390 (390); Thüsing, FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 889 (892). 2 Siehe Höfling/Burkiczak, RdA 2004, 263 (268 f.); ferner Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 301 ff.; ähnlich Krichel, NZA 1986, 731 (734); ausführlich zum Ganzen Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 184 ff. 3 Siehe auch BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, 212 (224); ferner Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Art. 9 GG Rz. 107; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 198 f.; Dorndorf, FS Kissel, 1994, S. 139 (140, 158); Konzen, NZA 1995, 913 (915); Söllner, NZA 1996, 897 (898); Henssler, ZfA 1998, 1 (7); anders Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 144 f., 298 f. 4 Dazu Pieroth, FS 50 Jahre BVerfG, Bd. II, 2001, S. 293 (298); umfassend auch Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 298 f.; kritisch Klein, Einrichtungsgarantien, 1934, S. 324; zum Ganzen auch Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1988, S. 848; Mager, Einrichtungsgarantien, 2001, S. 234 f. 5 Anders Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 299. 6 Ausführlich dazu Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 41 ff., 307 ff. 7 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 43. 8 Scholz/Konzen, Die Aussperrung im System von Arbeitsverfassung und kollektivem Arbeitsrecht, 1980, S. 110; Reuter, FS Hattenhauer, 2003, S. 409 (419); Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 45.
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Teil 1 Rz. 9
Grundlagen des Tarifvertragsrechts
de1. Dass namentlich der Tarifautonomie keine weitere Aufmerksamkeit gewidmet wurde, steht folglich der Annahme einer Koalitionsbetätigungsfreiheit nicht entgegen. 3. Tarifautonomie als Gegenstand der Koalitionsbetätigungsfreiheit 9 Ist damit Art. 9 Abs. 3 GG als verfassungsrechtlicher Sitz einer Koalitionsbetätigungsfreiheit benannt, kann auch die Erstreckung der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Koalitionsfreiheit auf die Tarifautonomie nicht als Provokation für die Verfassungsauslegung qualifiziert werden2. Die Tarifautonomie beschreibt einen zentralen Aspekt der Koalitionsfreiheit3, der ein Leerlaufen des Art. 9 Abs. 3 GG verhindert4. Die Tarifautonomie gewährleistet aufgrund der historischen Erfahrung, dass TVe eher als die staatliche Schlichtung geeignet sind, interessengerechte und gemeinwohlkompatible Kompromisse hervorzubringen, einen Freiraum, in dem Arbeitnehmer und Arbeitgeber ihre Interessengegensätze in eigener Verantwortung austragen können5. Der TV ist das historisch gewachsene funktionstypische Mittel, das der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Geltungsmacht verschafft6. Die Tarifautonomie als Grundlage einer autonomen Ordnung der Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen ist folglich Gegenstand der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Art. 9 Abs. 3 GG7. 10
Allein die Erkenntnis, dass die Tarifautonomie Gegenstand der Koalitionsbetätigungsfreiheit ist, beantwortet allerdings nicht sämtliche Fragen. Vornehmlich in der arbeitsrechtlichen Disziplin wird vielmehr eine (auch dem verfassungsrechtlichen Diskurs bekannte8) Debatte über die dogmatische Begründung der Rechtsetzungsmacht der TV-Parteien geführt. Das BAG spricht nach Überwindung der etatistisch geprägten Sichtweise einer Delegation der Tarifautonomie seitens des Staates einhellig von kollektiv ausgeübter Privatautonomie9. Deswegen besteht nach dem BAG 1 Siehe auch Kittner/Schiek in AK-GG, Art. 9 Abs. 3 GG (2001) Rz. 22; Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen des Arbeitskampfes, 1968, S. 27; Badura, FS Berber, 1973, S. 11 (28); anders Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 310 ff.; zum Ganzen auch HWK/Hergenröder, Art. 9 GG Rz. 24. 2 Siehe Volkmann in Britz/Volkmann, Tarifautonomie in Deutschland und Europa, S. 1 (20); anders Isensee in Freudenfeld (Hrsg.), Die Zukunft der sozialen Partnerschaft, 1986, S. 159 (162). 3 Zuletzt BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 (219); ferner etwa Rixen in Stern/ Becker, Art. 9 GG Rz. 43 ff.; Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 125. 4 Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 125; ferner ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 20, 51; kritisch Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 204 ff. 5 BVerfG v. 2.3.1993 – 1 BvR 1213/85, BVerfGE 88, 103 (114 f.); dazu auch Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 83. 6 BVerfG v. 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, BVerfGE 94, 268 (283); dazu ferner Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 87; ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 51. 7 BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, 212 (229). 8 Siehe dazu nur Kluth in Friauf/Höfling, Art. 9 GG, Rz. 192 ff. 9 Siehe nur BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 563/99, BAGE 95, 277 (283); BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, BAGE 119, 103 (118); BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, BAGE 135 80 (87 f.); ausführlich dazu Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, 2002, S. 127 ff.; Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, 2005, S. 91 ff.; differenzierend Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, 99 ff.; ferner Ulber, Tarifdispositives Gesetzesrecht im Spannungsfeld von Tarifautonomie und grundrechtlichen Schutzpflichten, 2010, S. 455 ff.
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Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG)
Rz. 11 Teil 1
grundsätzlich auch keine rechtliche Pflicht der Koalitionen, einen TV zu schließen oder auch nur über einen solchen zu verhandeln. Ein TV komme in beiderseitiger Ausübung des Grundrechts der positiven Koalitionsfreiheit in autonomen freien Verhandlungen zustande. Dabei seien die TV-Parteien im Rahmen ihrer koalitionsspezifischen Betätigung in erster Linie Privatrechtssubjekte und könnten deshalb frei entscheiden, mit wem sie welche TVe schließen und mit wem sie hierüber verhandeln wollen1. Ganz in diesem Sinne wurden zuletzt etwa auch die gesetzgeberischen Aktivitäten im Bereich der Tarifautonomie als deren „Verstaatlichung“ oder „sozialstaatlich-hoheitliche Stützung“ wahrgenommen – gesetzliche Regelungen, die darauf abzielten, die Bindung an TVe ohne beiderseitige autonom herbeigeführte Tarifgebundenheit herzustellen, könnten nicht als Fortentwicklung der Tarifautonomie verstanden werden2; deswegen wird auch der Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG vorgeworfen, mittelfristig zu einer Erosion der Tarifautonomie zu führen3. Um ein gegenläufiges Verständnis der Tarifautonomie zu untermauern, wird oftmals 11 die Rechtsprechung des BVerfG herangezogen4. In der Tat formulierte das BVerfG anfänglich, die Tarifautonomie sei aus staatlicher Zuständigkeit überlassen5 oder den Koalitionen im öffentlichen Interesse zugewiesen worden6 und Normsetzung durch die TV-Parteien sei Gesetzgebung im materiellen Sinne, die Normen im rechtstechnischen Sinne erzeugt7. Nichtsdestotrotz dürften inzwischen allerdings keine Zweifel daran bestehen, dass die Tarifautonomie in erster Linie als Freiheitsrecht gegen den Staat gewährleistet wird8. Koalitionen werden als frei konkurrierende Gruppen aus eigener Kraft tätig9 und vertreten Interessen ihrer Mitglieder10. Die Normsetzungsbefugnis erstreckt sich deswegen auch nur auf eben diese Mitglieder, jede Ausweitung der Tarifgebundenheit auf Außenseiter bedarf demgegenüber einer zusätzli-
1 BAG v. 25.9.2013 – 4 AZR 173/12, BAGE 146, 133 (143 f.). 2 Siehe Bepler in Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 70. Deutschen Juristentages, Bd. I, 2014, B 42 f.; ferner Lobinger, JZ 2014, 810 (811); Spielberger/Schilling, NZA 2014, 414 (419); Henssler, RdA 2015, 43 (43 f.); siehe aber auch Preis/Ulber, FS Kempen, 2013, S. 15 (30 ff.). 3 Bepler in Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 70. Deutschen Juristentages, Bd. I, 2014, B 111; ferner Giesen, FS Kempen, 2013, S. 216 (218); differenzierend Greiner, FS v. Hoyningen-Huene, 2014, 103 ff. 4 Ausführlich zum Ganzen Löwisch/Rieble, Grundl. Rz. 22 ff.; Krause in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 1 Rz. 25 ff. 5 BVerfG v. 3.4.2001 – 1 BvL 32/97, BVerfGE 103, 293 (304); BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 (219). 6 BVerfG v. 1.12.2010 – 1 BvR 2593/09, BVerfGK 18, 252 ff. 7 BVerfG v. 18.11.1954 – 1 BvR 629/52, BVerfGE 4, 96 (106); BVerfG v. 6.5.1964 – 1 BvR 79/62, BVerfGE 18, 18 (26); BVerfG v. 26.5.1970 – 2 BvR 664/65, BVerfGE 28, 295 (304 f.); BVerfG v. 27.2.1973 – 2 BvL 27/69, BVerfGE 34, 307 (317); BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (341); BVerfG v. 14.6.1983 – 2 BvR 488/80, BVerfGE 64, 208 (214). 8 BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (367); ähnlich BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86, 1 BvF 1/87, 1 BvF 2/87, 1 BvF 3/87, 1 BvF 4/87, 1 BvR 1421/86, BVerfGE 92, 365 (393). 9 BVerfG v. 20.10.1981 – 1 BvR 404/78, BVerfGE 58, 233 (250). 10 BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (367 f.); BVerfG v. 20.10.1981 – 1 BvR 404/78, BVerfGE 58, 233 (247); BVerfG v. 10.1.1995 – 1 BvF 1/90, 1 BvR 342/90, 1 BvR 348/90, BVerfGE 92, 26 (38); BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86, 1 BvF 1/87, 1 BvF 2/87, 1 BvF 3/87, 1 BvF 4/87, 1 BvR 1421/86, BVerfGE 92, 365 (394 f.).
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Grundlagen des Tarifvertragsrechts
chen Rechtfertigung – was nach dem BVerfG dem Grundsatz Rechnung trägt, dass der Staat seine Normsetzungsbefugnis nicht in beliebigem Umfang außerstaatlichen Stellen überlassen und den Bürger nicht schrankenlos der normsetzenden Gewalt autonomer Gremien ausliefern darf, die ihm gegenüber nicht demokratisch bzw. mitgliedschaftlich legitimiert sind1. Tarifverträge dürfen daher nicht mit zwingender Wirkung Arbeitsbedingungen für nicht organisierte Arbeitnehmer festsetzen2.
III. Zur dogmatischen Rekonstruktion der Tarifautonomie 12
Die Einsicht, die Tarifautonomie sei in erster Linie ein Freiheitsrecht, darf allerdings nicht missverstanden und die grundrechtsdogmatische Maßstabbildung nicht vorschnell abgeschlossen werden. Nach wie vor kann nämlich insbesondere der Rechtsprechung des BVerfG vorgeworfen werden, dass es um die Durchdringung der dogmatischen Strukturen von Art. 9 Abs. 3 GG nicht eben zum Besten bestellt ist3: Die Kernbereichsdoktrin sowie die Betonung der Notwendigkeit der Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit haben die grundrechtsdogmatischen Elementarkategorien des grundrechtlich geschützten Verhaltens und des freiheitsverkürzenden Grundrechtseingriffs weitestgehend aufgelöst4. Namentlich der oftmals unbekümmerte Umgang5 mit den Begriffen der Grundrechtsausgestaltung und des Grundrechtseingriffs – deren Abgrenzung inzwischen Gegenstand einer kaum noch überschaubaren Vielzahl von Überlegungen ist – ließ und lässt nicht selten eine stringente dogmatische Konzeption vermissen6. 1. Die fundamentale Unterscheidung von Grundrechtsausgestaltung und -eingriff
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Die Unterscheidung von Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtseingriff und eine damit einhergehende Zuordnung verschiedener Gewährleistungsgehalte der Koalitionsfreiheit zu den überkommenen Grundrechtsdimensionen ist für die Interpretation des Art. 9 Abs. 3 GG jedoch essentiell7. Während Grundrechtseingriffe die abwehrrechtliche Grundrechtsdimension negativ betreffen und durch das tradierte (Schranken-)Schrankenregime der Grundrechte eine Begrenzung erfahren, bezeichnet die Figur der Grundrechtsausgestaltung eine im Kontrast zum Grundrechtseingriff stehende Kategorie, die jene grundrechtsrelevanten Interventionen betrifft, die den abwehrrecht-
1 BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (344, 347 f.). 2 BVerfG v. 14.6.1983 – 2 BvR 488/80, BVerfGE 64, 208 (214 f.). 3 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 150 f.; zuvor schon Friauf, RdA 1986, 188 (189). 4 Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 74 f.; siehe auch Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 109. 5 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 152 f.; ähnlich Thüsing, FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 889 (892). 6 Höfling, FS Friauf, 1996, S. 377 (385); ferner Ossenbühl/Cornils, Tarifautonomie und staatliche Gesetzgebung, S. 46 ff.; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, 2000, S. 197 f. 7 Ossenbühl/Cornils, Tarifautonomie und staatliche Gesetzgebung, S. 55; Pieroth, FS 50 Jahre BVerfG, Bd. II, 2001, S. 293 (307); eingehend zum Ganzen Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 153 ff.
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Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG)
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lichen Grundrechtsschutz nicht auszulösen vermögen1. Die Grundrechtsausgestaltung umschreibt dabei die (legislative) Ausübungshilfe, derer normativ konstituierte (normgeprägte) Grundrechtsgewährleistungen bedürfen2. Dass Art. 9 Abs. 3 GG als schrankenlos gewährleistetes Grundrecht garantiert wird, 14 erlangt angesichts der fundamentalen Unterscheidung von Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtseingriff lediglich Bedeutung im Zusammenhang mit der abwehrrechtlichen Grundrechtsdimension der Koalitionsfreiheit3. Die Unterscheidung von Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtseingriff hat gleichwohl nicht zur Folge, dass die Grundrechtsausgestaltung keinen verfassungsrechtlichen Direktiven unterworfen wäre4. Vielmehr werden nach tradierter Interpretation den grundrechtlichen Institutsgarantien – oder in anderer Terminologie: kompetentiellen Freiheiten5 – vorrangig inhaltlich Maßstäbe der Grundrechtsausgestaltung abgewonnen: Ungeachtet bereichsspezifischer Struktur-, Konstitutions- und Ordnungsprinzipien sind grundrechtlichen Institutsgarantien nach überkommener Dogmatik zunächst Kernelemente immanent, die im Zuge der Grundrechtsausgestaltung einer Disposition entzogen sind6. Neben der Sicherstellung unverzichtbarer Essentialia verlangen grundrechtliche Institutsgarantien des Weiteren eine normative Durchsetzung, die dem Stellenwert grundrechtlicher Gewährleistung gebührend Rechnung trägt7. Den Maßstab des verfassungsrechtlichen Anforderungsprofils bildet allerdings insoweit nicht das Übermaßverbot8, sondern das Untermaßverbot9. 2. Zur Grundrechtsrelevanz gesetzgeberischer Aktivitäten im Tarifvertragsrecht Angesichts der Tatsache, dass Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtseingriff in einem Verhältnis strenger Exklusivität stehen10, ist auch im Anwendungsbereich der 1 Siehe nur Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 153 f.; allgemein Sachs in Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1988, S. 594 ff.; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 300; eingehend Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 49 ff. 2 Siehe dazu Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 51 ff.; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 301 ff. 3 Höfling, FS Friauf, 1996, S. 377 (387); Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 155; ferner Isensee in Freudenfeld (Hrsg.), Die Zukunft der sozialen Partnerschaft, 1986, S. 159 (175); Ossenbühl/Cornils, Tarifautonomie und staatliche Gesetzgebung, S. 47, 55. 4 Am Beispiel der Koalitionsfreiheit dazu Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 156 f.; siehe auch Butzer, RdA 1994, 375 (380); Wiedemann, FS Stahlhacke, 1995, S. 675 (682); eingehend ferner Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 288 ff. 5 Höfling, Vertragsfreiheit, 1991, S. 20 ff. 6 Eingehend dazu Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 314 ff. 7 Ausführlich Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 328 ff. 8 Dazu und zum Ganzen Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 331 ff.; siehe auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 420 f. 9 Siehe nur Höfling, FS Friauf, 1996, S. 377 (385); kritisch dazu Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 342 ff., der eine Angemessenheitsprüfung favorisiert; anders auch Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 425 ff.; Cornils in Epping/Hillgruber, Art. 9 GG Rz. 62.1. 10 Eingehend Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 54 ff.; Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 157 ff.; ferner Thüsing, GS Heinze, 2005, S. 901 (910); kritisch etwa Ladeur, AöR 131 (2006), 643 ff.; Cornils, Die Ausgestaltung
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Grundlagen des Tarifvertragsrechts
Koalitionsfreiheit eine präzise Abgrenzung erforderlich1. Während die Intention grundrechtsrelevanten Handelns für die Unterscheidung von Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtseingriff unergiebig bleibt2, können der Judikatur des BVerfG, die die Grundrechtsausgestaltung als Voraussetzung der Wahrnehmung der Koalitionsfreiheit qualifiziert3, durchaus Anhaltspunkte einer tragfähigen Abgrenzung von Grundrechtausgestaltung und Grundrechtseingriff abgewonnen werden4. Im Gegensatz zu natürlichen Freiheiten5, die von der Rechtsordnung in ihrer Substanz vorgefunden wurden und deren Wahrnehmung folglich keiner Bereitstellung normativer Durchsetzungsinstrumente bedarf6, sind normgeprägte Freiheiten7 der zentrale Bezugspunkt der Grundrechtsausgestaltung. Normgeprägte Freiheiten, deren Schutzgut durch einfachgesetzliche Vorschriften begründet wird8, zeichnet die spezifische Problemlage aus, dass ein Gebrauch im Wege der Grundrechtsausgestaltung ermöglicht wird, die grundrechtliche Substanz allerdings auch vor Grundrechtseingriffen zu schützen ist9. Die abwehrrechtliche Grundrechtsdimension wird danach allenfalls durch grundrechtsrelevantes Handeln aktiviert, das die schon geprägte Substanz des Grundrechts betrifft10. Die Bereitstellung normativer Durchsetzungsinstrumente liegt der abwehrrechtlichen Grundrechtsdimension dagegen voraus11. Die Abgrenzung von Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtseingriff ist im Anwendungsbereich normgeprägter Freiheiten folglich am Maßstab der Unterscheidung zwischen der Beseitigung konkreter subjektiver Rechtspositionen und der Schaffung einfachgesetzlicher Regelungen, auf deren Grundlage subjektive Rechtspositionen erworben werden können, zu konkretisieren12.
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der Grundrechte, S. 401 ff.; Cornils in Epping/Hillgruber, Art. 9 GG Rz. 72 ff.; Rixen in Stern/ Becker, Art. 9 GG Rz. 71. Kritisch dazu Henssler, ZfA 1998, 1 (11); Thüsing, FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 889 (892); siehe auch Maschmann, Tarifautonomie im Zugriff des Gesetzgebers, 2007, S. 17. Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 160; anders etwa Dieterich, DB 2001, 2398 (2401); mit Blick auf die Tarifeinheit Papier/Krönke, ZfA 2011, 807 (820 ff.). BVerfG v. 10.1.1995 – 1 BvF 1/90, 1 BvR 342/90, 1 BvR 348/90, BVerfGE 92, 26 (41). Siehe auch Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 161. Allgemein dazu etwa Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 94; Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2004, S. 76; zuvor schon Höfling, Vertragsfreiheit, 1991, S. 21; eingehend ferner Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 163 ff. Dazu schon Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 163. Siehe dazu Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 90 ff., 269 f.; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 104; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 133; Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2004, S. 85, 89 f.; ferner Höfling, Vertragsfreiheit, 1991, S. 21; Mager, Einrichtungsgarantien, 2001, S. 432. Siehe schon Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 1892, S. 45 ff. Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 105; zum Ganzen auch Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 84, 141; Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 168 ff.; allgemein Kloepfer in Papier/Merten (Hrsg.), HGR II/1, 2006, § 43, Rz. 20 ff. Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 90. Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 75 f.; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 91; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 133. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 133 ff.; siehe auch Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 171, 253 ff.; ähnlich BVerfG v. 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, BVerfGE 94, 268 (284).
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Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG)
Rz. 16 Teil 1
Vor dem skizzierten grundrechtsdogmatischen Hintergrund muss die Tarifautonomie 16 als normgeprägte Freiheit qualifiziert werden1. Jedenfalls der Abschluss von TVen mit normativer Wirkung2 ist zwingend auf die Bereitstellung spezifischer Durchsetzungsinstrumente angewiesen, die die Voraussetzungen für die Wahrnehmung der Tarifautonomie bilden3. Schon das Prinzip des demokratischen Rechtsstaates steht einer gegenläufigen Auffassung, die eine vorstaatliche und unmittelbar in Art. 9 Abs. 3 GG angesiedelte Normsetzungskompetenz propagiert, entgegen4. Jedenfalls die Rechtsnormqualität von TVen basiert unbestreitbar auf einem staatlichen Geltungsbefehl5. Kann der Abschluss von TVen mit normativer Wirkung nicht als natürliche Freiheit qualifiziert und der abwehrrechtlichen Grundrechtsdimension zugeordnet werden6, sind im Zuge der dogmatischen Rekonstruktion der Tarifautonomie folglich andere Grundrechtsdimensionen fruchtbar zu machen. Namentlich das BVerfG qualifiziert die Tarifautonomie daher als grundrechtliche Institutsgarantie7, die die Institution eines normativ konstituierten TV-Systems verfassungsrechtlich gewährleistet8. Da die Tarifautonomie ohne normative Durchsetzungsinstrumente ineffektiv bleiben müsse, folge aus Art. 9 Abs. 3 GG eine Verpflichtung zur Bereitstellung des für die Ausübung der Koalitionsfreiheit erforderlichen einfachgesetzlichen Normenkomplexes9, der die typischen Merkmale des TV-Systems der legislativen 1 Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 84, 141 ff.; Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 164 ff.; siehe auch Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 156 f.; 162, 166; Becker, Kooperative und konsensuale Strukturen in der Normsetzung, 2005, S. 428; ferner Thüsing, GS Heinze, 2005, S. 901 (908); ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 61; anders wohl Däubler, Das Grundrecht auf Mitbestimmung, S. 113 ff.; Kempen in Kempen/Zachert, Grundlagen, Rz. 67 ff., 89. 2 Eingehend zur dogmatischen Qualität der Vertragsfreiheit Höfling, Vertragsfreiheit, passim. 3 BVerfG v. 10.1.1995 – 1 BvF 1/90, 1 BvR 342/90, 1 BvR 348/90, BVerfGE 92, 26 (41); Höfling, FS Friauf, 1996, S. 377 (385); Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 81; Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 164; ferner Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 81; Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 142; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 156 f.; siehe auch Butzer, RdA 1994, 375 (379); Rupp, JZ 1998, 919 (922); Waltermann, ZfA 2000, 53 (60); Mager, Einrichtungsgarantien, 2001, S. 462; Pieroth, FS 50 Jahre BVerfG, Bd. II, 2001, S. 293 (303); Richardi, JZ 2011, 282 (286 f.). 4 Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 73 ff.; Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 165; ferner Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 162; Becker, Kooperative und konsensuale Strukturen in der Normsetzung, 2005, S. 410 f., 417; siehe auch Kirchhof, Private Rechtsetzung, 1987, S. 133 f., 158 f. 5 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 166; zur Unterscheidung zwischen Tarifautonomie und Normsetzung auch Waltermann, ZfA 2000, 53 (56 ff.); Waltermann, FS Söllner, 2000, S. 1251 (1258 ff.); ferner Heinze, FS Kraft, 1998, S. 205 (207, 211 f.); Heinze, FS Weinspach, 2002, S. 103 (105); Buchner, ZfA 2004, 229 (240); Rieble, ZfA 2004, 1 (39). 6 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 167; ferner Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 156 f., 162, 166. 7 Kritisch dazu Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 198 ff. 8 Siehe nur BVerfG v. 18.11.1954 – 1 BvR 629/52, BVerfGE 4, 96 (108); dazu Mager, Einrichtungsgarantien, 2001, S. 246; ferner Wiedemann, FS Stahlhacke, 1995, S. 675 (682). 9 Eingehend dazu Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit S. 65 ff.; Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 142; ferner Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 322; Mager, Einrichtungsgarantien, 2001, S. 245 f., 465; siehe auch Isensee in Freudenfeld (Hrsg.), Die Zukunft der sozialen Partnerschaft, 1986, S. 159 (166 f.); Wiedemann, FS Stahlhacke, 1995, S. 675 (680 ff.); Rupp, JZ 1998, 919 (923 ff.).
Engels 15
Teil 1 Rz. 17
Grundlagen des Tarifvertragsrechts
Disposition entziehe1. Allerdings steht die Annahme einer subjektiven Dimension der Verpflichtung zur Bereitstellung einfachgesetzlicher Normenkomplexe2 in Widerspruch zu der tradierten Dogmatik grundrechtlicher Institutsgarantien, die entsprechende Rechtspositionen nicht zu begründen vermag3. Die Tarifautonomie ist deshalb als kompetentielle Gewährleistungsdimension mit auxiliärem leistungsrechtlichem Gehalt zu qualifizieren, die die Verpflichtung zur Bereitstellung eines unerlässlichen einfachgesetzlichen Normenkomplexes als subjektive Rechtsposition beinhaltet4. 17
Kann der Normierung und Fortentwicklung des TVG angesichts der skizzierten grundrechtsdogmatischen Maßstäbe kein abwehrrechtlicher Bedeutungsgehalt beigemessen werden, vermögen schließlich abgeschlossene TVe allenfalls die abwehrrechtliche Grundrechtsdimension zu aktivieren5. Die abwehrrechtliche Grundrechtsdimension erfährt nämlich keine Erweiterung durch einen grundrechtlichen Normbestandsschutz in dem Sinne6, dass die Umgestaltung grundrechtsnaher einfachgesetzlicher Normenkomplexe als Grundrechtseingriff zu qualifizieren wäre7. Die These, die einfachgesetzliche Erfüllung einer verfassungsrechtlichen Normierungspflicht bewirke eine derartige Erweiterung des grundrechtlichen Schutzbereiches8, ebnet kategoriale Unterschiede zwischen Verfassungsrecht und einfachgesetzlicher Grundrechtsausgestaltung ein9. Die Umgestaltung einfachgesetzlicher Normenkomplexe ist dementsprechend weder als eigenständige grundrechtsdogmatische Kategorie noch als Grundrechtseingriff, sondern lediglich als Anwendungsfall der Grundrechtsausgestaltung zu qualifizieren10.
IV. Träger der Koalitionsfreiheit 18
Mit Blick auf die Träger der Koalitionsfreiheit kann dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG zunächst die Maßgabe abgewonnen werden, dass das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, für jedermann und alle Berufe gewährleistet ist.
1 Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 144; allgemein Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 140 (146). 2 Dazu Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 142, 145. 3 Siehe Mager, Einrichtungsgarantien, 2001, S. 443 ff.; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 86. 4 Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 79 f.; Höfling, FS Friauf, 1996, S. 377 (385 f.). 5 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 171. 6 Dazu aber Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 75 ff.; ähnlich Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 135; siehe auch Sachs in Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1988, S. 668 f.; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 176 ff. 7 Umfassend dazu Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 408 ff.; Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2004, S. 86 ff.; Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 172 ff. 8 Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 150. 9 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 410 ff.; eingehend auch Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 175 ff. 10 Umfassend dazu Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 398 ff., 449.
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Engels
Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG)
Rz. 20 Teil 1
1. Zur Lehre vom Doppelgrundrecht Der grundrechtliche Status der Koalitionen hat danach keinen unmittelbaren Nieder- 19 schlag im Normtext des Art. 9 Abs. 3 GG gefunden1. Die Koalitionsfreiheit wurde nur als Individualgrundrecht konzipiert2. Das BVerfG konstruiert die Koalitionsfreiheit indes als Doppelgrundrecht, das auch den Koalitionen verfassungsrechtlichen Schutz gewährt3. Zur Begründung stellt das BVerfG darauf ab, dass ein Grundrecht, dessen Ausdehnung auf soziale Gemeinschaften schon in der Weimarer Epoche erkennbar gewesen sei, nicht ohne zwingende Gründe auf Individuen beschränkt werden könne4. Diesen Gedanken hat das BVerfG später um den Hinweis ergänzt, die Interpretation der Koalitionsfreiheit als Doppelgrundrecht werde von der Nennung des Vereinigungszwecks getragen5. Obwohl dogmengeschichtlich geprägte Anleihen aufgrund einer restriktiven Aus- 20 legung des Art. 159 WRV6 fehlgehen7, scheint unbestreitbar, dass auch Koalitionen der grundrechtliche Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG gebührt. Jedoch ist für die Begründung einer verfassungsrechtlichen Schutzposition Art. 19 Abs. 3 GG notwendig8. Die 1 Pieroth, FS 50 Jahre BVerfG, Bd. II, 2001, S. 293 (294). 2 Zum Ganzen Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 66, 69 f.; Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 141 ff.; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 180 ff.; eine besondere Verknüpfung von Individual- und Kollektivgrundrecht zeigt sich mit Blick auf gewerkschaftlich getragene Flashmob-Aktionen – das BAG sah insoweit den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG als eröffnet an, obschon nicht von vornherein ausgeschlossen werden könne, dass sich an Flashmob-Aktionen auch Dritte beteiligen; hierdurch werde die Aktion indes nicht typischerweise zu einem Arbeitskampf, der nicht der Durchsetzung tariflicher Forderungen dient, für die Einordnung komme es nicht auf die individuelle Motivation der einzelnen Teilnehmer, sondern auf das von der Gewerkschaft verfolgte Ziel an, siehe BAG v. 22.9.2009 – 1 AZR 972/08, BAGE 132, 140 (150 f.); das BVerfG hat in diesen Überlegungen keine Verletzung der Koalitionsfreiheit der Arbeitgeberseite erblickt, siehe BVerfG v. 26.3.2014 – 1 BvR 3185/09, NJW 2014, 1874 ff.; kritisch dazu allerdings Kersten, Neues Arbeitskampfrecht, 2012, S. 70 ff., der dem BAG vorwirft, die Einbeziehung Dritter in den personellen Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG ignoriere die verfassungsrechtlich erforderliche legitimierende Rückbindung der kollektiven Koalitionsfreiheit an die individuelle Koalitionsfreiheit und ermögliche den Arbeitskampf ohne Arbeitnehmer. 3 BVerfG v. 18.11.1954 – 1 BvR 629/52, BVerfGE 4, 96 (101 f.); BVerfG v. 30.11.1965 – 2 BvR 54/62, BVerfGE 19, 303 (312); BVerfG v. 26.5.1970 – 2 BvR 664/65, BVerfGE 28, 295 (304); BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (367); BVerfG v. 15.7.1980 – 1 BvR 24/74, 1 BvR 439/79, BVerfGE 55, 7 (21); BVerfG v. 17.2.1981 – 2 BvR 384/78, BVerfGE 57, 220 (245); BVerfG v. 14.11.1995 – 1 BvR 601/92, BVerfGE 93, 352 (357); BVerfG v. 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, BVerfGE 94, 268 (282); BVerfG v. 27.4.1999 – 1 BvR 2203/93, 1 BvR 897/95, BVerfGE 100, 271 (282); BVerfG v. 3.4.2001 – 1 BvL 32/97, BVerfGE 103, 293 (304); siehe ferner Rixen in Stern/Becker, Art. 9 GG Rz. 30; Cornils in Epping/Hillgruber, Art. 9 GG Rz. 44. 4 BVerfG v. 18.11.1954 – 1 BvR 629/52, BVerfGE 4, 96 (102); ähnlich BVerfG v. 30.11.1965 – 2 BvR 54/62, BVerfGE 19, 303 (312, 319). 5 BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, 212 (224); BVerfG v. 10.1.1995 – 1 BvF 1/90, 1 BvR 342/90, 1 BvR 348/90, BVerfGE 92, 26 (38). 6 Dazu schon Huber, AöR 23 (1933), 1 (75); ferner Pieroth, FS 50 Jahre BVerfG, Bd. II, 2001, S. 293 (298); siehe auch Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 138 ff. 7 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 147 ff. 8 Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 70; Höfling, FS Friauf, 1996, S. 377 (380); Höfling, RdA 1999, S. 182 (183); Höfling/Burkiczak, NJW 2005, 469 (472); ferner Kemper in v. Mangoldt/Klein/ Starck, Art. 9 GG Rz. 139; siehe auch Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971,
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Teil 1 Rz. 21
Grundlagen des Tarifvertragsrechts
Kontroverse ist zunächst nicht lediglich akademischer Natur, hat doch allein die Begründung eines Doppelgrundrechtes die Öffnung der Koalitionsfreiheit für ausländische Koalitionen zur Folge1. Eine Interpretation des Art. 9 Abs. 3 GG als Doppelgrundrecht begegnet des Weiteren dem Vorwurf, Intention und Schutzzweck der Gewährleistung des Art. 19 Abs. 3 GG zu missachten. Während die verfassungsrechtliche Systematik den Grundrechtsschutz natürlicher Personen in den Vordergrund stellt2, hat die Erstreckung des grundrechtlichen Schutzes auf juristische Personen lediglich eine arrondierende Funktion3. Auch die Nennung eines Vereinigungszwecks4 entkräftet folglich nicht den Vorwurf, die „Hochzonung“ der Koalitionen als originäre Träger des Grundrechtes der Koalitionsfreiheit unterlaufe die verfassungsrechtliche Systementscheidung des Art. 19 Abs. 3 GG5. 2. Die Bedeutung des einfachgesetzlichen Koalitionsbegriffs 21
Art. 9 Abs. 3 GG benennt als Träger der Koalitionsfreiheit jedermann und alle Berufe. Die Umschreibung der Grundrechtsberechtigten nimmt folglich alle Menschen in ihrer Eigenschaft als Berufsangehörige in Bezug6; welcher Beruf ausgeübt wird, ist grundsätzlich irrelevant7. Vereinigungen, die von den Grundrechtsträgern zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen gebildet werden, müssen zunächst die Merkmale des Vereinigungsbegriffs des Art. 9 Abs. 1 GG erfüllen8. Auch Art. 9 Abs. 3 GG fordert aus Gründen des systematischen Zusammenhangs9 folglich eine freie Gründung10 sowie jedenfalls ein gewisses Maß an organisatorischer
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S. 51 ff., 121 ff.; Scholz in Maunz/Dürig, Art. 9 GG (1999) Rz. 25, 240; Wiese, ZfA 2008, 317 ff. Dazu schon Dietz in Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. III/1, 1958, S. 417 (445); ferner Cornils in Epping/Hillgruber, Art. 9 GG Rz. 52; siehe dazu aber auch Löwer in v. Münch/Kunig, Art. 9 GG Rz. 86. Siehe nur BVerfG v. 2.5.1967 – 1 BvR 578/63, BVerfGE 21, 362 (369); BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (337); 61, 82 (100 f.); 68, 193 (205); ferner Rüfner, FS 50 Jahre BVerfG, Bd. II, 2001, S. 55 (55). Allgemein dazu Remmert in Maunz/Dürig, Art. 19 Abs. 3 GG (2009) Rz. 26 ff. Folglich besteht zwischen dem grundrechtlichen Schutz von Individuum und Koalition Deckungsgleichheit, siehe Höfling/Burkiczak, NJW 2005, 469 (472); Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 294 ff.; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 186; Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 140; anders ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 40 mit dem Hinweis, der Schutzumfang der kollektiven Koalitionsfreiheit gehe gegenständlich über die Gesamtheit individueller Schutzbedürfnisse hinaus. Kollisionen von individueller und kollektiver Koalitionsfreiheit scheinen gleichwohl möglich, siehe Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 141; anders Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 140. Kritisch zur Bedeutung des Vereinigungszwecks in vorliegendem Zusammenhang Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 144 f. Scholz in Maunz/Dürig, Art. 9 GG (1999) Rz. 25; Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 70. Höfling in Sachs, Art. 9 Rz. 118. BVerfG v. 30.11.1965 – 2 BvR 54/62, BVerfGE 19, 303 (322); ferner Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 119; siehe auch ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 27 f. Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 56; siehe auch Scholz in Maunz/Dürig, Art. 9 GG (1999) Rz. 213 f.; Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 85; Dietlein in Stern, Staatsrecht, Bd. IV/1, S. 2025 f.; ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 22. Siehe auch Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 81. BVerfG v. 18.11.1954 – 1 BvR 629/52, BVerfGE 4, 96 (106); BVerfG v. 18.12.1974 – 1 BvR 430/65, 1 BvR 259/66, BVerfGE 38, 281 (302); ferner Dietz in Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. III/1, 1958, S. 417 (436).
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Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG)
Rz. 22 Teil 1
Stabilität der Koalitionen1. Darüber hinaus müssen Vereinigungen i.S.d. Art. 9 Abs. 3 GG intentional auf die kumulative2 Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ausgerichtet sein3. Während Arbeitsbedingungen das Arbeitsverhältnis selbst betreffen, werden vom Begriff der Wirtschaftsbedingungen wirtschaftsund sozialpolitische Fragen erfasst, die über die Bedeutung des Arbeitsverhältnisses hinausreichen4. Der Koalitionszweck muss daher jedenfalls auch in der Ordnung des Arbeitslebens bestehen5. Weil die Tarifautonomie einen Freiraum gewährleisten soll, in dem Arbeitnehmer und Arbeitgeber ihre Interessengegensätze in eigener Verantwortung austragen können, müssen Koalitionen schließlich gegnerfrei und gegnerunabhängig6 sowie überbetrieblich organisiert sein7. Eine Deduktion weiterer den Koalitionsbegriff i.S.d. Art. 9 Abs. 3 GG eingrenzender 22 Merkmale vermag nicht zu überzeugen. Das BVerfG hat dementsprechend klargestellt, dass etwa die Kampfbereitschaft nicht Voraussetzung des Koalitionsbegriffs ist. Vereinigungen i.S.d. Art. 9 Abs. 3 GG können daher auf die Durchführung von Arbeitskämpfen verzichten8. Auch das Kriterium der sozialen Mächtigkeit findet in Art. 9 Abs. 3 GG keine Grundlage, blieben Koalitionen doch anderenfalls in der Gründungsphase ohne verfassungsrechtlichen Schutz9. Namentlich die Anerkennung von Gewerkschaften als TV-Parteien i.S.d. § 2 Abs. 1 TVG fordert nach der Judikatur des BAG allerdings, dass die Koalitionen in der Lage sind, auf die Gegenseite fühlbaren Druck auszuüben: Koalitionen müssten (neben der satzungsgemäßen Aufgabe, die Interessen ihrer Mitglieder in deren Eigenschaft als Arbeitnehmer wahrzunehmen, dem Willen, TVe abzuschließen, und der freien Bildung, der Gegnerfreiheit, und Unabhängigkeit und der Organisation auf überbetrieblicher Grundlage sowie der An1 Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 56, der zudem ein gewisses Maß an zeitlicher Stabilität fordert; kritisch dazu Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 86; zum Ganzen auch Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 110 f.; ferner Rixen in Stern/Becker, Art. 9 GG Rz. 30. 2 Siehe nur Cornils in Epping/Hillgruber, Art. 9 GG Rz. 47; Rixen in Stern/Becker, Art. 9 GG Rz. 33; ferner ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 23; HWK/Hergenröder, Art. 9 GG Rz. 39. 3 Zu Firmentarifverträgen mit dem Ziel der Standortsicherung etwa Höfling, ZfA 2008, 1 ff.; siehe auch Hanau/Thüsing, ZTR 2001, 1 ff., 49 ff.; Löwisch, DB 2005, 554 ff.; Kühling/Bertelsmann, NZA 2005, 1017 ff. 4 Dazu BVerfG v. 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, BVerfGE 94, 268 (283); ferner Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 30 ff.; siehe auch Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 57; Rixen in Stern/Becker, Art. 9 GG Rz. 31 f.; Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 89; Cornils in Epping/Hillgruber, Art. 9 GG Rz. 45 f. 5 BVerfG v. 20.10.1981 – 1 BvR 404/78, BVerfGE 58, 233 (249 f.). 6 Am Beispiel der GNBZ auch Maier, NVwZ 2008, 746 (749); ferner Park/v. Paar/Schüren, NJW 2008, 3670 ff. 7 BVerfG v. 18.11.1954 – 1 BvR 629/52, BVerfGE 4, 96 (106); BVerfG v. 6.5.1964 – 1 BvR 79/62, BVerfGE 18, 18 (28); BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (373 ff.); BVerfG v. 20.10.1981 – 1 BvR 404/78, BVerfGE 58, 233 (247); siehe auch Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 59 f.; Bauer in Dreier, Art. 9 GG Rz. 77 f.; Rixen in Stern/Becker, Art. 9 GG Rz. 34; Cornils in Epping/Hillgruber, Art. 9 GG Rz. 49; differenzierend Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 91 f.; ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 25. 8 BVerfG v. 6.5.1964 – 1 BvR 79/62, BVerfGE 18, 18 (32 f.); Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 61; Bauer in Dreier, Art. 9 GG Rz. 79 f.; Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 96; ferner ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 26. 9 Siehe BVerfG (K) v. 26.1.1995 – 1 BvR 2071/94, NJW 1995, 3377 (3377); ferner Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 62; Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 97.
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Teil 1 Rz. 23
Grundlagen des Tarifvertragsrechts
erkennung des geltenden Tarifrechts) mächtig und leistungsfähig sein, damit der Tarifvertragspartner eine Veranlassung erkennt, auf Verhandlungen über den Abschluss einer tariflichen Regelung der Arbeitsbedingungen einzugehen und zum Abschluss eines TVs zu kommen1. Weder das Merkmal der Tarifwilligkeit noch das Kriterium der Tariffähigkeit zählt jedoch zu den Begriffsmerkmalen der Koalition i.S.d. Art. 9 Abs. 3 GG2. Das BVerfG betonte überdies, dass es zwar nicht der Sinn der in Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten Koalitionsfreiheit sein könne, dass der Gesetzgeber schlechthin jede Koalition zum Abschluss von TVen zulassen, also als tariffähig behandeln müsse. Anforderungen an die Tariffähigkeit, die erheblich auf die Bildung und Betätigung einer Koalition zurückwirken, Koalitionen unverhältnismäßig beeinträchtigen oder zu einer Aushöhlung der Gewährleistung des Art. 9 Abs. 3 GG führen, seien allerdings unzulässig. Durchsetzungsfähigkeit gegenüber dem sozialen Gegenspieler zur Teilnahme an einer sinnvollen Ordnung des Arbeitslebens könne daher nicht bedeuten, dass Koalitionen die Chance des vollständigen Sieges haben müssen; vielmehr müsse nur erwartet werden, dass Koalitionen vom Gegner überhaupt ernst genommen werden, so dass die schließlich gefundene Regelung der Arbeitsbedingungen nicht einem Diktat der einen Seite entspringt, sondern ausgehandelt wird3. 23
Aus grundrechtsdogmatischer Perspektive ist des Weiteren der Hinweis geboten, dass jede Verkürzung namentlich der Koalitionsbildungsfreiheit sowie der der abwehrrecht1 Siehe BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, BAGE 136, 1 (11) mit dem Hinweis, dass allein die Anzahl der abgeschlossenen TVe ohne Angaben zur Zahl der Mitglieder sowie der organisatorischen Leistungsfähigkeit die Tariffähigkeit nicht belegen kann; anders insoweit noch BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, BAGE 117, 308 (326); am Beispiel der CGZP zum Ganzen auch BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, BAGE 136, 302 (319 ff.) mit dem weitergehenden Hinweis, dass Spitzenorganisationen weder nach § 2 Abs. 2 TVG noch § 2 Abs. 3 TVG über eine originäre Tariffähigkeit verfügen, sondern ihre Tariffähigkeit ausschließlich von ihren Mitgliedern ableiten; zwar könnten Spitzenorganisationen selbst Partei eines TVs sein, sie würden dabei aber ausschließlich für ihre Mitgliedsverbände tätig, die den Spitzenorganisationen die Tariffähigkeit daher nur im Rahmen ihrer eigenen Tariffähigkeit vermitteln könnten – was die Tariffähigkeit von sämtlichen das Tarifgeschehen der Spitzenorganisation bestimmenden Gewerkschaften voraussetze und erfordere, dass die zu einer Spitzenorganisation zusammengeschlossenen Gewerkschaften dieser ihre Tariffähigkeit vollständig vermitteln; dazu Schüren, AuR 2008, 239 ff.; Schüren, NZA 2008, 453 ff.; Lembke, FS Bepler, 2012, 345 ff.; gegen die Anforderungen, die das BAG für die Wirksamkeit eines Wechsels in die OT-Mitgliedschaft und an die Satzung eines Arbeitgeberverbands aufgestellt hat (BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 111/08, BAGE 130, 264 ff.; ferner BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 285/08, BAGE 132, 10 ff.; zur arbeitskampfrechtlichen Bedeutung eines Wechsels von einer Mitgliedschaft mit Tarifbindung in eine OT-Mitgliedschaft BAG v. 19.6.2012 – 1 AZR 775/10, BAGE 142, 98 ff.), hatte das BVerfG nichts zu erinnern, siehe BVerfG v. 1.12.2010 – 1 BvR 2593/09, BVerfGK 18, 252 ff.; zur Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler auch BVerfG v. 24.2.1999 – 1 BvR 123/93, BVerfGE 100, 214 (223); ferner Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 98. 2 Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 64; Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 95; Cornils in Epping/Hillgruber, Art. 9 GG Rz. 50; Dietlein in Stern, Staatsrecht, Bd. IV/1, S. 2036; zum Ganzen auch HWK/Hergenröder, Art. 9 GG Rz. 48 ff. 3 BVerfG v. 18.11.1954 – 1 BvR 629/52, BVerfGE 4, 96 (107 f.); BVerfG v. 20.10.1981 – 1 BvR 404/78, BVerfGE 58, 233 (249); siehe dazu auch BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, BAGE 136, 1 (8 f.), wonach Anforderungen, die nicht zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie geeignet, erforderlich und angemessen sind, die Grenze der grundrechtlichen „Ausgestaltung“ überschreiten, und die damit verbundene Beeinträchtigung der Koalitionsfreiheit verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen ist.
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Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG)
Rz. 24 Teil 1
lichen Grundrechtsdimension zuzuordnenden Gewährleistungsgehalte der Koalitionsbetätigungsfreiheit im Wege zusätzlicher, über die von Art. 9 Abs. 3 GG stillschweigend vorausgesetzten funktionsadäquaten Kriterien hinausreichender Merkmale des Koalitionsbegriffs als Grundrechtseingriff zu qualifizieren ist1. Eine restriktive Auslegung des § 2 Abs. 1 TVG, nach der nur tariffähige Koalitionen als Tarifvertragspartner zugelassen werden, kann angesichts der Zuordnung der Tarifautonomie zu den normgeprägten Schutzgehalten des Art. 9 Abs. 3 GG demgegenüber allerdings als Grundrechtsausgestaltung qualifiziert werden2. Damit wird nämlich nicht tariffähigen Koalitionen lediglich die Möglichkeit zum Abschluss von TVen vorenthalten, die nicht schon als natürliche Freiheit existiert3. Verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet daher nur die Formulierung spezifischer Anforderungen an die Tariffähigkeit, die typische Merkmale des TV-Systems unberücksichtigt lassen und die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie beseitigen4. 3. Koalitionspluralität – ein Verfassungsproblem? Anfänglich war die Tarifautonomie von dem zentralen Gedanken geprägt, dass in ei- 24 nem Betrieb nur ein TV gelten solle5. Dieses Industrieverbandsprinzip6 geriet allerdings zunehmend unter Druck7 – die Bildung durchsetzungsstarker Berufs-, Spartenund Spezialistengewerkschaften, die vorrangig eigene Tarifforderungen für spezifische Berufsgruppen formulieren8, führte nicht erst in der jüngeren Vergangenheit zu Koalitionspluralität. Mit der Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit durch das BAG9 schien das Industrieverbandsprinzip zuletzt ganz auf verlorenem Posten zu stehen, es erlebte allerdings mit der gesetzlichen Festschreibung der Tarifeinheit durch das Tarifeinheitsgesetz10 eine Renaissance. Was zunächst die Koalitionspluralität angeht, vermag aus verfassungsrechtlicher Perspektive der Hinweis auf die Gefahr eines kollektiven Unterbietungswettbewerbes, der dysfunktionale Wirkungen der individuellen Arbeitsbeziehung auf kollektiver Ebene aufleben lasse11, nicht in Frage zu stellen, dass die Koalitionsbildungsfreiheit keine Rücksicht auf kartellartige Strukturen der 1 Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 65; Rixen in Stern/Becker, Art. 9 GG Rz. 35 f.; ferner Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 130 f.; Cornils in Epping/Hillgruber, Art. 9 GG Rz. 50. 2 Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, S. 160 f.; ähnlich ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 66 ff. 3 Siehe auch Richardi, FS Wißmann, 2005, S. 159 (170); Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, S. 161; wohl auch HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 4; siehe aber auch Bayreuther, BB 2005, 2633 (2636). 4 Ähnlich mit Blick auf die soziale Mächtigkeit wohl schon Löwisch, ZfA 1970, 295 (303); anders Henssler, Soziale Mächtigkeit, S. 28 ff.; kritisch wohl auch Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, S. 161. 5 Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, Bd. 2/1, S. 516. 6 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 213 f. 7 Siehe nur Dieterich, GS Zachert, 2010, S. 532 (533 ff.). 8 Eingehend dazu Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, passim; ferner Hanau, NZA 2003, 128 ff. 9 BAG v. 27.1.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 645 ff.; BAG v. 23.6.2010 – 10 AS 2/10, NZA 2010, 778; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068 ff. 10 Gesetz zur Tarifeinheit v. 3.7.2015 (BGBl. I, 1130). 11 Kempen, FS Hromadka, 2008, 177 (184 f.); ähnlich Hromadka, GS Heinze, 2005, S. 383 (388 f.); zuvor schon Zachert, ArbuR 1986, 321 (324 f.).
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Teil 1 Rz. 25
Grundlagen des Tarifvertragsrechts
Koalitionen nimmt1. Art. 9 Abs. 3 GG will Wettbewerb nicht verhindern, sondern ermöglicht ihn geradezu2. 25
Zutreffend betonte das BVerfG demgemäß die Bildung, Betätigung und Entwicklung der Koalitionen in ihrer Mannigfaltigkeit3. Auch das BAG judizierte, dass der verfassungsrechtlich gewährleistete Koalitionspluralismus eine Konkurrenzsituation schaffe, die eine wechselseitige Mitgliederwerbung legitimiere4. Noch bevor der Grundsatz der Tarifeinheit ausdrücklich aufgegeben (und damit zwischenzeitlich endgültig ernst mit der Koalitionspluralität gemacht) wurde, sprach das BAG auch mit Blick auf die Bildung von Tarifgemeinschaften ausdrücklich von einer Konkurrenzsituation zwischen Gewerkschaften: Ein rechtliches Gebot, bei mehreren im Betrieb vertretenen Gewerkschaften Tarifgemeinschaften zu bilden, stelle einen Eingriff in das Grundrecht der den Tarifvertrag abschließenden anderen Gewerkschaft sowie der hieran beteiligten Arbeitgeberseite dar; Art. 9 Abs. 3 GG umfasse auch das Recht, die Regelung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch Tarifverträge überhaupt, mit einem bestimmten Gegenspieler oder unter bestimmten Bedingungen abzulehnen – die Pflicht zur Einbeziehung einer weiteren Tarifvertragspartei sei damit nicht zu vereinbaren und berücksichtige die Gegnerschaft von konkurrierenden Gewerkschaften nur unzureichend5.
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Führt die Koalitionsbildungsfreiheit demenstprechend gewissermaßen zwangsläufig zu Koalitionspluralität6, sind Überlegungen zur Bewältigung der damit verbundenen Herausforderungen, die schon an die Koalitionsgründung anknüpfen, aus grundrechtsdogmatischer Perspektive zunächst als Grundrechtseingriffe zu qualifizieren7. Die Beeinträchtigung der Koalitionsbildungsfreiheit kann sodann auch nicht mit dem Hinweis auf ein volatiles Koalitionssystem oder die Gefahr einer Entsolidarisierung gerechtfertigt werden8: Damit würde gerade im Bereich der Koalitionsbildungsfreiheit nicht nur die Selbstbestimmung der Grundrechtsträger erheblich relativiert. Viel-
1 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 210, 434; ferner auch Henssler, Soziale Mächtigkeit, S. 53. 2 Mit Blick auf die Tarifeinheit Greiner, NZA 2012, 529 (531 f.). 3 BVerfG v. 6.5.1964 – 1 BvR 79/62, BVerfGE 18, 18 (32). 4 BAG v. 31.5.2005 – 1 AZR 141/04, AP Nr. 124 zu Art. 9 GG; die Rechtsprechung geht überdies davon aus, Art. 9 Abs. 3 GG gewähre einer Gewerkschaft auch die Einschätzungsprärogative, welche Räumlichkeiten des Arbeitgebers für die Mitgliederwerbung am geeignetsten sind – gegenüber dem gewerkschaftlichen Interesse an einer effektiven Mitgliederwerbung seien zugleich aber auch die ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten Belange des Arbeitgebers und Betriebsinhabers (wie das Haus- und Eigentumsrecht sowie das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb in Gestalt eines störungsfreien Betriebsablaufs sowie die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit, die insbesondere bei einer Störung des Arbeitsablaufs und des Betriebsfriedens berührt werde) abzuwägen, siehe LAG Bremen v. 26.11.2013 – 1 Sa 74/13, ZTR 2014, 286 f. 5 BAG v. 9.12.2009 – 4 AZR 190/08, NZA 2010, 712 (716 f.). 6 Allgemein Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, S. 244 ff.; siehe auch Säcker/Oetker, ZfA 1993, 1 (12). 7 Siehe Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, S. 249 f. 8 Derartige Aspekte werden vornehmlich im Zusammenhang mit dem Grundsatz der Tarifeinheit angesprochen, mit dessen Hilfe die Auswirkungen der Koalitionspluralität nicht schon im Bereich der Koalitionsbildungsfreiheit, sondern vielmehr der Tarifautonomie aufgefangen werden sollen, siehe ausführlich dazu Rz. 32 ff.
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Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG)
Rz. 27 Teil 1
mehr würde die grundrechtliche Freiheit auch in unzulässiger Weise funktionalisiert1. Namentlich die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie, die als objektiv-rechtlich garantierter Regelungszweck des Art. 9 Abs. 3 GG konstruiert wird2 und auch nach der Rechtsprechung des BVerfG grundsätzlich einen Belang von Verfassungsrang darstellt, spielt zwar im Kontext der Grundrechtsausgestaltung eine tragende Rolle – wenn es darum geht, die Voraussetzungen der Tarifautonomie zu schaffen3. Ob dieser Funktionsfähigkeit indes auch im Bereich der abwehrrechtlichen Grundrechtsdimension der Koalitionsfreiheit Bedeutung beigemessen werden kann, erscheint fraglich. Jedenfalls sind tarif- und arbeitskampfrechtliche Gestaltungsoptionen unverkennbar, die namentlich der vermeintlich aus der Koalitionspluralität folgenden Gefahr von Dauerarbeitskämpfen4 begegnen können. Entsprechende Maßnahmen sind allerdings ebenfalls der Dichotomie von Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtseingriff unterworfen, so dass grundrechtsdogmatische Elementarkategorien auch insoweit nicht unberücksichtigt bleiben dürfen.
V. Spielräume und Grenzen gesetzgeberischer Ingerenzen – ausgewählte Problemkonstellationen 1. Allgemeines Mit Blick auf die dem auxiliären leistungsrechtlichen Gehalt des Art. 9 Abs. 3 GG 27 immanente Pflicht, den zur Ausübung der Tarifautonomie erforderlichen einfachgesetzlichen Normenkomplex bereitzustellen, ist zunächst die Feststellung des BVerfG von Bedeutung, dass ein einfachgesetzlicher Normenbestand weder in seinem gegenwärtigen Umfang noch in seinem aktuellen Inhalt verfassungsrechtlich festgeschrieben ist5. Werden die verfassungsrechtlichen Determinanten der Grundrechtsausgestaltung aus dem Untermaßverbot deduziert6, so ist klar, dass Art. 9 Abs. 3 GG lediglich gewisse typische Merkmale schützt, die angesichts der geschichtlichen Entwicklung als charakteristisch und „unerlässlich“ zu qualifizieren sind7. Verfassungsrechtlich notwendig ist folglich die Bereitstellung eines Koalitionsinstrumentariums,
1 Allgemein dazu Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 406 ff. mit dem Hinweis, die dienende Funktion der Koalitionsbetätigung sei eine Funktion der Freiheit; ferner Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 113 f., 183. 2 Rixen in Stern/Becker, Art. 9 GG Rz. 88. 3 Ausführlich zur Ausgestaltung einer funktionsfähigen Tarifautonomie Rz. 27 f. 4 Zu den arbeitskampfrechtlichen Fragen allgemein etwa Bayreuther, NZA 2006, 642 ff.; Bayreuther, NZA 2008, 12 ff.; Greiner, NZA 2007, 1023 ff.; Höfling/Engels, NJW 2007, 3102 ff.; Hanau, RdA 2008, 98 ff.; Jacobs, NZA 2008, 325 (329 ff.); v. Steinau-Steinrück/Glanz, NZA 2009, 113 ff.; Scholz, FS Buchner, 2009, S. 827 ff.; zuvor schon Buchner, BB 2003, 2121 ff.; Buchner, BB 2007, 2520 ff. 5 Nochmals BVerfG v. 19.10.1966 – 1 BvL 24/65, BVerfGE 20, 312 (317); ferner BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (367, 369); ähnlich BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86, 1 BvF 1/87, 1 BvF 2/87, 1 BvF 3/87, 1 BvF 4/87, 1 BvR 1421/86, BVerfGE 92, 365 (394 f.); dazu ferner Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 80; Höfling, FS Friauf, 1996, S. 377 (385 f.); siehe auch Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 141, 144 f., 146 ff. 6 Höfling, FS Friauf, 1996, S. 377 (385). 7 Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 141, 144 f., 146 ff.
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Teil 1 Rz. 28
Grundlagen des Tarifvertragsrechts
das unter den gegebenen wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen eine wirksame und autonome Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ermöglicht1. Die Koalitionsfreiheit verlangt einfachgesetzliche Regelungen, die die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie gewährleisten2. 28
Da abgeschlossene TVe allerdings die abwehrrechtliche Grundrechtsdimension aktivieren3, ist andererseits zu betonen, dass Art. 9 Abs. 3 GG als vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht kodifiziert wurde4. Grundrechtseingriffe bedürfen folglich einer Rechtfertigung durch kollidierendes Verfassungsrecht5. Modelle, die ausgehend von einer verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Koalitionsbetätigungsfreiheit den Grundrechtsschutz nicht in sämtlichen Emanationen als vorbehaltlos gewährleistet ansehen, vermögen nicht zu überzeugen. Die Etablierung eines gestuften Schrankenregimes, das einen unantastbaren Betätigungsbereich, einen zentralen Betätigungsbereich sowie einen mit der unmittelbaren Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingung assoziierten Betätigungsbereich unterscheidet und Formen der mittelbaren Verwirklichung des Koalitionszwecks nicht berücksichtigt6, widerspricht dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG sowie dem System grundrechtlicher Gesetzesvorbehalte7.
1 Isensee in Freudenfeld (Hrsg.), Die Zukunft der sozialen Partnerschaft, 1986, S. 159 (170). 2 Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 82; Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 82; siehe auch Richardi in Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 61. Deutschen Juristentages, Bd. I, 1996, B 44; ferner BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (370, 373, 376, 377); BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, 212 (229); BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86, 1 BvF 1/87, 1 BvF 2/87, 1 BvF 3/87, 1 BvF 4/87, 1 BvR 1421/86, BVerfGE 92, 365 (394 f.); BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, 212 (229); kritisch zur Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie auch im Kontext der Grundrechtsausgestaltung dagegen Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 205 f.; siehe auch Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 406 ff. 3 Siehe nochmals Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 171, 253 ff.; ähnlich auch BVerfG v. 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, BVerfGE 94, 268 (284). 4 Siehe nur BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, 212 (228); BVerfG v. 10.1.1995 – 1 BvF 1/90, 1 BvR 342/90, 1 BvR 348/90, BVerfGE 92, 26 (41); 92, 268 (284); BVerfG v. 24.2.1999 – 1 BvR 123/93, BVerfGE 100, 214 (223). Deswegen findet auch Art. 9 Abs. 2 GG keine Anwendung, siehe Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 135 f.; Rixen in Stern/Becker, Art. 9 GG Rz. 88; anders etwa Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen des Arbeitskampfes, 1968, S. 33; Friauf, RdA 1986, 188 (190 f.); Henssler, ZfA 1998, 1 (7); Bauer in Dreier, Art. 9 GG Rz. 93; HWK/Hergenröder, Art. 9 GG Rz. 80 ff. 5 Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 137 ff.; Höfling, FS Friauf, 1996, S. 377 (387 ff.); ferner Jarass, NZA 1990, 505 (507); Butzer, RdA 1994, 375 (381); Pieroth, FS 50 Jahre BVerfG, Bd. II, 2001, S. 293 (307); zur Tarifautonomie auch BVerfG v. 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, BVerfGE 94, 268 (284); siehe auch BVerfG v. 27.4.1999 – 1 BvR 2203/93, 1 BvR 897/95, BVerfGE 100, 271 (283); BVerfG v. 3.4.2001 – 1 BvL 32/97, BVerfGE 103, 293 (306); dazu Höfling, JZ 2000, 44 (45); Bieback, AuR 2000, 201 (203); Wolter, NZA 2003, 1317 (1319); Thüsing, FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 889 (891 f.). 6 Dazu Henssler, ZfA 1998, 1 (4 f., 39); ähnlich schon Lieb, NZA 1985, 265 (268); Lieb, FS Kraft, 1998, S. 343 (356 f.); Friauf, RdA 1986, 188 (190 f.); Butzer, RdA 1994, 375 (381); Söllner, NZA 1996, 897 (898); Wank, JZ 1996, 629 (631); Kamanabrou, RdA 1997, 22 (32 f.). 7 Siehe Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 290 f.; dazu aber auch Thüsing, FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 889 (892), der im Hinblick auf das Schrankenregime des Art. 9 Abs. 3 GG Bezugnahmen auf den Wortlaut für verfehlt hält.
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Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG)
Rz. 30 Teil 1
2. Deregulierung im Tarifvertragsrecht Nicht nur die wirtschaftswissenschaftliche Disziplin hat in der Vergangenheit oft- 29 mals eine Beschneidung der Tarifautonomie und eine damit korrespondierende Stärkung der individuellen Vertragsfreiheit sowie eine Flexibilisierung im Spannungsfeld von TV und Betriebsvereinbarung gefordert1. Auch der arbeitsrechtliche Diskurs setzte lange Zeit auf den Gedanken der Deregulierung2. Die normative Wirkung von TVen und das tarifvertragliche Günstigkeitsprinzip3 wurden allerdings auch als verfassungsrechtlich unabdingbar qualifiziert4, sodass oftmals § 77 Abs. 3 BetrVG den Ausgangspunkt für Überlegungen zur Modernisierung der Tarifautonomie bildete5. Kann die Fähigkeit, TVe abzuschließen, nicht der abwehrrechtlichen Grundrechts- 30 dimension zugeordnet werden, lassen sich Modifikationen sowie eine ersatzlose Streichung des § 4 Abs. 1 TVG grundsätzlich nur dem Bereich der Grundrechtsausgestaltung zuordnen6. Auch wenn das Untermaßverbot verfassungsrechtliche Restriktionen der Grundrechtsausgestaltung formuliert, stößt eine ersatzlose Streichung des § 4 Abs. 1 TVG gleichwohl nicht auf durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken7. Eine Deregulierung der Rechtsetzungsmacht lässt nämlich die Befugnis zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen im Wege dispositi1 Eingehend zur Diskussion nur Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 80 ff. 2 Ausführlich zum Ganzen Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 94 ff.; ferner etwa Hanau, RdA 1993, 1 ff.; Hanau, RdA 1998, 65 ff.; Lieb, NZA 1994, 289 ff., 337 ff.; Heinze, NZA 1995, 5 (6); Junker, ZfA 1996, 383 (393 ff.); Walker, ZfA 1996, 353 ff.; Waltermann, RdA 1996, 129 ff.; Löwisch, NJW 1997, 905 ff.; Söllner, NZA 1998, 897 ff.; Schaub, NZA 1998, 617 ff.; Picker, ZfA 1998, 573 ff.; eingehend auch Dieterich/Hanau/Henssler/Oetker/Wank/Wiedemann, RdA 2004, 65 (69 ff.). 3 Dazu aber auch Hromadka, NZA 1996, 1233 (1239); Hromadka, DB 2003, 42 (46 f.). 4 Hanau, RdA 1993, 1 (4 f., 6). 5 Siehe etwa Reuter, RdA 1991, 193 (199); Reuter, ZfA 1995, 1 (62 ff.); ferner Hromadka, NZA 1996, 1233 (1239); Hromadka, DB 2003, 42 (46 f.); siehe auch Löwisch, NJW 1997, 905 (911); kritisch Richardi in Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 61. Deutschen Juristentages, Bd. I, 1996, B 83; Dieterich, RdA 2002, 1 (16). Das BAG formuliert mit Blick auf § 77 Abs. 3 BetrVG, dass die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Koalitionsfreiheit nicht erst dann beeinträchtigt werde, wenn eine Koalition daran gehindert werde, Tarifrecht zu schaffen, eine Einschränkung liege vielmehr auch schon in Abreden oder Maßnahmen, die darauf gerichtet seien, die Wirkung des von Koalitionen geschaffenen Tarifrechts zu vereiteln oder leerlaufen zu lassen (wobei unschädlich sei, dass entsprechende Abreden nach Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG nichtig seien, also die tarifliche Ordnung nicht in rechtlich erzwingbarer Weise ersetzen könnten) – die Beeinträchtigung der Koalitionsfreiheit liege nämlich bereits in der Eignung solcher Absprachen, aufgrund ihres erklärten Geltungsanspruchs faktisch an die Stelle der tariflichen Regelung zu treten, worauf namentlich tarifwidrige Betriebsvereinbarungen abzielten, siehe BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, BAGE 91, 210 (227); ferner BAG v. 17.5.2011 – 1 AZR 473/09, BAGE 138, 68 (76). 6 Siehe Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 98; eingehend Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 162 ff.; anders etwa Dieterich, DB 2001, 2398 (2401); Hanau, FS Wiedemann, 2002, S. 283 (293 f.). 7 Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 98; Rixen in Stern/Becker, Art. 9 GG Rz. 45; siehe dazu auch Rieble, ZfA 2004, 1 (39); Raab, ZfA 2004, 371 (392 ff.); Buchner, ZfA 2004, 229 (240); ferner Thüsing, GS Heinze, 2005, S. 901 (912). Kritisch Henssler, ZfA 1994, 487 (511); Wiedemann, FS Stahlhacke, 1995, S. 675 (681); Junker, ZfA 1996, 383 (395); Waltermann, FS Söllner, 2000, S. 1251 (1271 f.); Dieterich, DB 2001, 2398 (2402); Dieterich, RdA 2002, 1 ff.; ferner ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 60 ff., 85; Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 146 f., 149.
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Teil 1 Rz. 31
Grundlagen des Tarifvertragsrechts
ver TVe1 oder sonstiger Kollektivvereinbarungen2 unberührt. Die zwingende Wirkung von TVen ist dementsprechend für die Wahrnehmung der Koalitionsfreiheit nicht unerlässlich3. Gleiches gilt für Modifikationen des § 4 Abs. 3 TVG4: Kann schon die zwingende Wirkung von TVen nicht dem unerlässlichen Kernbereich der Koalitionsbetätigungsfreiheit zugeordnet werden, begegnet auch eine Zulassung von Ausnahmen5 von der zwingenden Wirkung keinen verfassungsrechtlichen Bedenken6. Schließlich zählt auch der Vorrang von TVen gegenüber Betriebsvereinbarungen nach § 77 Abs. 3 BetrVG nicht zu den unerlässlichen Voraussetzungen der Koalitionsbetätigungsfreiheit7. Die Annahme, dass aufgrund der freiheitlichen Durchsetzungsmöglichkeiten im Arbeitskampf die tarifliche Rechtsetzung von Verfassungs wegen Vorrang vor einer Gestaltung der Arbeitsverhältnisse durch Betriebsvereinbarungen genieße8, konfligiert mit der grundrechtsdogmatischen Erkenntnis, dass angesichts der Befugnis zum Abschluss von dispositiven TVen eine durch das Untermaßverbot konkretisierte Grenze zulässiger Grundrechtsausgestaltung durch eine ersatzlose Streichung des § 77 Abs. 3 BetrVG nicht überschritten wird9. 31
Auch die Einsicht, dass die Koalitionsfreiheit Schwächen des einzelnen Arbeitnehmers gegenüber den Arbeitgebern durch einen Zusammenschluss in organisierten Interessenvertretungen kompensieren soll10 und dem Prinzip der freien sozialen Grup1 Dazu auch BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86, 1 BvF 1/87, 1 BvF 2/87, 1 BvF 3/87, 1 BvF 4/87, 1 BvR 1421/86, BVerfGE 92, 365 (394 f.) mit dem Hinweis auf die existenzielle Befugnis zum Abschluss von TVen. 2 Siehe dazu auch Rixen in Stern/Becker, Art. 9 GG Rz. 44; Cornils in Epping/Hillgruber, Art. 9 GG Rz. 61 f.; ferner Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 90. 3 Ausführlich Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 207 ff.; siehe auch Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 55 ff.; Scholz in Maunz/Dürig, Art. 9 GG (1999) Rz. 300; Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 98; ferner Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, 2002, S. 154 f.; anders Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 95 ff.; Volkmann in Britz/Volkmann, Tarifautonomie in Deutschland und Europa, S. 1 (27); Lambrich, Tarif- und Betriebsautonomie, 160; ähnlich Badura, FS Zeidler, Bd. II, 1987, S. 1591 (1596); Richardi, NZA 2000, 617 (617 f.); siehe auch BVerfG v. 18.11.1954 – 1 BvR 629/52, BVerfGE 4, 96 (108); 34, 307 (316 f.); BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (346); BVerfG v. 15.7.1980 – 1 BvR 24/74, 1 BvR 439/79, BVerfGE 55, 7 (23). 4 Scholz in Maunz/Dürig, Art. 9 GG (1999) Rz. 273; zuvor schon Säcker/Oetker, ZfA 1996, 85 (95 ff.); Papier, RdA 1989, 137 (141). 5 Zu tarifvertraglichen Öffnungsklauseln nur BVerfG (K) v. 29.6.1993 – 1 BvR 1916/91, NZA 1994, 34. 6 Eingehend dazu Höfling/Burkiczak, NJW 2005, 469 (472); siehe auch Höfling in Sachs, Art. 9 Rz. 99; ähnlich Dietlein, in Stern, Staatsrecht, Bd. IV/1, S. 2058; ferner Heise, FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 657 ff.; kritisch Dieterich, RdA 2002, 1 (15, 17); Wolter, NZA 2003, 1317 (1319 f.); ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 60 ff. 7 Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 99; Rixen in Stern/Becker, Art. 9 GG Rz. 45. 8 Siehe dazu Kittner/Schiek in AK-GG, Art. 9 Abs. 3 GG (2001) Rz. 134; ferner Döttger, Der Schutz tariflicher Normsetzung, 2003, S. 156, 189; Däubler/Däubler, TVG, Einleitung, Rz. 142 ff.; Kissel, NZA 1986, 73 (79); Kempen, RdA 1994, 140 (151); Junker, ZfA 1996, 383 (395); Dieterich, RdA 2002, 1 (13); Rieble, ZfA 2004, 1 (39). 9 Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 99; Rixen in Stern/Becker, Art. 9 GG Rz. 45; siehe auch Scholz in Maunz/Dürig, Art. 9 GG (1999) Rz. 273. 10 BVerfG v. 18.11.1954 – 1 BvR 629/52, BVerfGE 4, 96 (107 f.); BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (367); siehe auch Cornils in Epping/Hillgruber, Art. 9 GG Rz. 38.
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Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG)
Rz. 31 Teil 1
penbildung im Interesse einer autonomen gesellschaftlichen Selbstorganisation1 folgt2, zwingt nicht dazu, die normative Wirkung von TVen sowie den Tarifvorrang als verfassungsrechtlich unerlässlich zu qualifizieren. Zunächst überzeugt es nicht, die normative Wirkung von TVen und den Tarifvorrang aus der Bestandsgarantie der Koalitionen abzuleiten3. Die Befürchtung, dass TVe im Zuge der Deregulierung des Tarifvertragsrechts zu unverbindlichen Richtlinien degradiert werden, die lediglich empfehlenden Charakter besitzen4 und die Betriebsräte zu beitragsfreien Ersatzgewerkschaften erstarken ließen5, hat nämlich nicht zwingend zur Folge, dass der Bestand der Koalitionen6 angetastet würde. Dies gilt jedenfalls, wenn die Bestandsgarantie der Koalitionen aus Art. 9 Abs. 3 GG lediglich eine Beeinträchtigung der Koalitionsbildungsfreiheit untersagt7. Auch eine Verpflichtung zur Optimierung der rechtlichen oder gesellschaftlichen Voraussetzungen der Koalitionsbetätigungsfreiheit kann Art. 9 Abs. 3 GG des Weiteren nicht abgewonnen werden8. Entsprechendes gilt für die Behauptung, die zwingende Wirkung von TVen sei zur Kompensation der Schwäche des einzelnen Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber notwendig9. Dass auch das Prinzip der freien sozialen Gruppenbildung die zwingende Wirkung von TVen jedenfalls angesichts der maßstabbildenden Funktion des Untermaßverbotes aus verfassungsrechtlicher Perspektive nicht zu legitimieren vermag, verdeutlicht schon die Tatsache, dass die Prämisse von der strukturellen Unterlegenheit des Arbeitnehmers in ihrer Pauschalität fraglich geworden war und ist10 und die Möglichkeit der einzelvertraglichen Einbeziehung von TVen in Individualarbeitsverträge in
1 Scholz in Maunz/Dürig, Art. 9 GG (1999) Rz. 11; siehe auch ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 1. 2 Rixen in Stern/Becker, Art. 9 GG Rz. 1, 11. 3 Dazu Dieterich, DB 2001, 2398 (2402); ähnlich Junker, ZfA 1996, 383 (395), der im Hinblick auf Art. 77 Abs. 3 BetrVG eine Bestandsgarantie der Koalitionen bemüht; ferner Hromadka, DB 2003, 42 (43 f.). 4 Dieterich, DB 2001, 2398 (2401); siehe auch Löwisch, JZ 1996, 812 (818); Waltermann, FS Söllner, 2000, S. 1251 (1572). 5 Dieterich, DB 2001, 2398 (2402). 6 Dazu auch BVerfG v. 26.5.1970 – 2 BvR 664/65, BVerfGE 28, 295 (304); BVerfG v. 18.12.1974 – 1 BvR 430/65, 1 BvR 259/66, BVerfGE 38, 281 (302 f.); BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, 212 (224). 7 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 222 ff.; siehe mit Blick auf die staatliche Normsetzung im Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen aber auch Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 135; ähnlich BVerfG v. 18.12.1974 – 1 BvR 430/65, 1 BvR 259/66, BVerfGE 38, 281 (302 ff.); ferner BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 (220) mit dem Hinweis, dass sich mittelbare Auswirkungen auf die Bestandsgarantie des Art. 9 Abs. 3 GG auch daraus ergeben können, dass durch Tariftreueklauseln Anreize zum Koalitionsbeitritt gemindert werden. 8 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 222; siehe auch Wiedemann, FS Stahlhacke, 1995, S. 675 (681); mit Blick auf den Wettbewerb zwischen Koalitionen auch BVerfG v. 6.5.1964 – 1 BvR 79/62, BVerfGE 18, 18 (33); BVerfG v. 15.7.1980 – 1 BvR 24/74, 1 BvR 439/79, BVerfGE 55, 7 (24). 9 Anders Söllner, NZA-Beilage 2000, 33 (34); ähnlich Dieterich, RdA 2002, 1 (12); ferner Volkmann in Britz/Volkmann, Tarifautonomie in Deutschland und Europa, S. 1 (25). 10 Eingehend dazu Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 234 ff.; ferner Lambrich, Tarif- und Betriebsautonomie, 1999, S. 140 ff.; Reuter, FS Hattenhauer, 2003, S. 409 (417); anders BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, 212 (229); siehe auch Dorndorf, FS Gnade, 1992, S. 39 (41 f.); Dorndorf, FS Kissel, 1994, S. 139 (142); Dieterich, FS Schaub, 1998, S. 117 (131); Schwarze, ZfA 2005, 1 81 (97 ff.).
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Teil 1 Rz. 32
Grundlagen des Tarifvertragsrechts
erheblichem Maße praktiziert wird1. Eine einseitige Festlegung der Arbeitsbedingungen durch den Arbeitgeber, ist deshalb keineswegs zwingende Folge einer ersatzlosen Streichung des § 4 Abs. 1 TVG. 3. Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität 32
Nachdem das BAG der nicht zuletzt verfassungsrechtlich fundierten Kritik2 an der Begründung einer Vorrangstellung speziellerer TVe im Falle der Tarifpluralität3 Rechnung getragen und den Grundsatz der Tarifeinheit wegen Verstoßes gegen die „individuelle und kollektive Koalitionsfreiheit“ aufgegeben hatte4, dominierte in der Auseinandersetzung zunächst die an den Gesetzgeber gerichtete Forderung, den Grundsatz der Tarifeinheit gesetzlich festzuschreiben5. Eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Vorschläge wurde dazu unterbreitet6: Von Seiten der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände wurde eine Ergänzung des TVG vorgeschlagen (wobei dieses Regelungsmodell bei der Normierung des § 4a TVG Pate gestanden hat)7. Auch andere Regelungsvorschläge zielten auf eine Änderung des Tarifvertragsrechts – mit dem Ziel, entweder die bisherige Rechtsprechung des BAG gesetzlich festzuschreiben8 oder die Tarifeinheit „in der Sparte“9 einzuführen. Hinzu kamen Vorschläge zur Einschränkung des Arbeitskampf-
1 Dazu etwa Oetker, FS Wiedemann, 2002, S. 383 ff.; Preis, FS Wiedemann, 2002, S. 425 ff. 2 Bruhn, Tarifeinheit im Betrieb als Eingriff in die Koalitionsfreiheit, 1997, S. 145 ff.; Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 411 ff.; Waas, Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität, S. 123 ff.; Band, Tarifkonkurrenz, Tarifpluralität und der Grundsatz der Tarifeinheit, 2003, S. 119 ff.; ferner Konzen, RdA 1978, 146 ff.; Kraft, RdA 1992, 161 ff.; Salje, SAE 1993, 79 (81 f.); Merten, BB 1993, 572 ff.; Wiedemann/Arnold, ZTR 1994, 399 ff.; Fenn, FS Kissel, 1994, S. 213 ff.; Franzen, RdA 2001, 1 (7 f.); Rieble, BB 2003, 1227 (1228); Schaub, RdA 2003, 378 ff.; Hanau, NZA 2003, 128 ff.; Bayreuther, BB 2005, 2633 (2640); Bayreuther, NZA 2006, 642 (643); Thüsing/v. Medem, ZIP 2007, 510 ff.; Reichold, NZA 2007, 321 (324); Jacobs, NZA 2008, 325 ff.; Hanau, RdA 2008, 98 ff.; anders Säcker/Oetker, ZfA 1993, 1 ff.; Heinze/Ricken, ZfA 2001, 159 ff.; Buchner, BB 2003, 2121 ff.; Buchner, ZfA 2004, 229 (246 ff.); Buchner, FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 631 ff.; Buchner, BB 2008, 106 (108); Hromadka, GS Heinze, 2005, S. 383 ff.; Hromadka, NZA 2008, 284 (386 ff.); Meyer, DB 2006, 1271 ff.; Meyer, NZA 2006, 1387 ff.; Hunold, NZA 2007, 1037 ff.; Kempen, FS Hromadka, 2008, S. 177 ff.; Giesen, NZA 2009, 11 ff. 3 Eingehend zur Judikatur des BAG Bepler, NZA-Beilage 2010, 99 ff. 4 BAG v. 27.1.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 645 ff.; BAG v. 23.6.2010 – 10 AS 2/10, NZA 2010, 778; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068 ff.; dazu nur Freckmann/Müller, BB 2010, 1981 ff.; zu arbeitskampfrechtlichen Folgefragen v. Steinau-Steinrück/Brugger, NZABeilage 2010, 127 ff.; Fritz/Meyer, NZA-Beilage 2010, 111 (113 f.); Melms/Reinhardt, NZA 2010, 1033 ff.; Rüthers, NZA 2010, 6 ff.; Greiner, NJW 2010, 2977 ff.; Scholz, ZfA 2010, 681 ff.; Spielberger, NJW 2011, 264 ff.; Franzen, ZfA 2011, 647 ff. 5 Allgemein zur Diskussion Konzen, JZ 2010, 1036 ff.; Bayreuther, DB 2010, 2223 ff.; Hanau, DB 2010, 2107 ff.; Löwisch, RdA 2010, 263 ff.; Greiner, NZA 2010, 743 ff.; Lehmann, BB 2010, 2237 ff.; Franzen, ZfA 2011, 647 (663 ff.); Giesen, ZfA 2011, 1 ff.; Papier/Krönke, ZfA 2011, 807 ff. 6 Siehe dazu etwa Franzen, FS Bepler, 2012, S. 171 ff. 7 Deutscher Gewerkschaftsbund/Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, RdA 2010, 315 ff. 8 Hromadka, NZA 2008, 384 ff. 9 Dazu schon Hanau, RdA 2008, 98 (103); ausführlich Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, S. 348 ff.; ferner Bayreuther/Franzen/Greiner/Krause/Oetker/ Preis/Rebhahn/Thüsing/Waltermann, Tarifpluralität als Aufgabe des Gesetzgebers, 2011, passim.
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Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG)
Rz. 33 Teil 1
rechts1 sowie unterschiedliche Modelle zu Koordinations- und Kooperationspflichten2 oder zur obligatorischen Schlichtung3. Der Forderung nach einer gesetzlichen Regelung ist der Gesetzgeber mit dem Tarifeinheitsgesetz4 nachgekommen. Zur Sicherung der Schutzfunktion, Verteilungsfunktion, Befriedungsfunktion sowie Ordnungsfunktion von TVen werden Tarifkollisionen im Betrieb gemäß § 4a TVG nunmehr dadurch vermieden, dass, soweit sich die Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher TVe verschiedener Gewerkschaften überschneiden (kollidierende TVe), im Betrieb nur die Rechtsnormen des TVs (anders als nach dem vom BAG angewandten Spezialitätsgrundsatz) derjenigen Gewerkschaft anwendbar sind, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des zuletzt abgeschlossenen kollidierenden TVs im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat. Von der ursprünglichen Forderung nach einer gesetzlichen Regelung ist – so scheint es 33 – in Anbetracht gerade dieser Neuregelung kaum noch etwas übrig geblieben: Wegen eines Eingriffs in die positive Koalitionsfreiheit wird § 4a TVG (abgesehen von zahlreichen weiteren Einzelfragen5) überwiegend für verfassungswidrig erachtet6. Ob der Vorwurf der Verfassungswidrigkeit zutrifft, hängt maßgeblich von der grundrechtsdogmatischen Maßstabbildung ab. Das BAG begründete seinerzeit die Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit mit einem nicht gerechtfertigten Eingriff in das Abwehrrecht des Art. 9 Abs. 3 GG7. Diese Wertung dürfte grundsätzlich auf § 4a TVG zu übertragen sein, werden doch ebenso wie nach der vormaligen Rechtsprechung des BAG abgeschlossene TVe verdrängt und somit die bereits ausgeübte grundrechtliche Freiheit ge1 Henssler, RdA 2011, 65 ff.; ferner Seeling/Probst, BB 2014, 2421 ff.; zum Entwurf eines Gesetzes zur Regelung des Arbeitskampfes im Bereich der Daseinsvorsorge Franzen/Thüsing/Waldhoff, ZG 2012, 349 ff.; ferner Stegmüller, NZA 2015, 723 ff. 2 Siehe dazu Franzen, RdA 2008, 193 (203 f.); Franzen, ZfA 2009, 297 (312, 316 f.); Hromadka, NZA 2008, 384 ff.; Kamanabrou, ZfA 2008, 241 (271 ff.); Hirdina, NZA 2009, 997 ff.; Jacobs, FS Buchner, 2009, S. 342 (345, 352 f.); ähnlich auch Schliemann, FS Hromadka, 2008, S. 359 (378); Bayreuther, FS Buchner, 2009, S. 628 (628 ff.); Giesen, ZfA 2011, 1 (31 ff.). 3 Dazu Buchner, BB 2007, 2520 (2521); Bayreuther, NZA 2008, 12 (16); Jacobs, FS Buchner, 2009, S. 342 (356). 4 Gesetz zur Tarifeinheit v. 3.7.2015 (BGBl. I, 1130). 5 Kritisch wird etwa die Bezugnahme auf den Begriff des Betriebes bewertet, ferner werden Unklarheiten bei der Ermittlung der Mehrheitsverhältnisse ausgemacht, siehe etwa Bayreuther, NZA 2013, 1395 (1397); Greiner, RdA 2015, 36 (38 f., 39 f.); zu arbeitskampfrechtlichen Folgefragen etwa Fischinger/Monsch, NJW 2015, 2209 ff.; Löwisch, DB 2015, 1102 f. 6 Ausführlich Bepler in Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 70. Deutschen Juristentages, Bd. I, 2014, B 90 ff.; ferner Schliemann, NZA 2014, 1250 (1251); Ewer, NJW 2015, 2230 ff.; Konzen/Schliemann, RdA 2015, 1 (6, 12 f.); siehe aber auch Kersten, Neues Arbeitskampfrecht, 2012, S. 45 ff.; Hufen, NZA 2014, 1237 ff.; Bauer, DB 2014, 2715 ff.; mit Blick auf die Tarifzuständigkeit wohl auch Greiner, RdA 2015, 36 (41); zur Vereinbarkeit des Tarifeinheitsgesetzes mit internationalem Recht Schubert, ZfA 2013, 1 ff.; Schlachter, ArbuR 2015, 217 ff. 7 BAG v. 27.1.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 645 (654 ff.); BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068 (1075 ff.); ferner Engels, RdA 2008, S. 331 (334 f.); siehe auch Jacobs, NZA 2008, 325 (328); Franzen, ZfA 2009, 297 (302 ff.); anders Schliemann, FS Hromadka, 2008, S. 359 (368 ff.); Hromadka, NZA 2008, 384 (387); Hromadka/Schmitt-Rolfes, NZA 2010, 687 (689); Greiner, NZA 2012, 529 (531); ausführlich Papier/Krönke, ZfA 2011, 807 (820 ff.); Giesen, ZfA 2011, 1 (15 ff.); Scholz/Lingemann/Ruttloff, NZA-Beilage 2015, 3 (19 ff.); schließlich wird mit Blick auf die Tarifeinheit allerdings (wohl unzutreffend) auch darauf hingewiesen, dass es sowohl beim Grundrechtseingriff als auch bei der Grundrechtsausgestaltung um die Frage der Verhältnismäßigkeit gehe, siehe Henssler, RdA 2011, 65 (70).
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Grundlagen des Tarifvertragsrechts
schmälert1. Teilt man diese Einschätzung, lassen sich auch Überlegungen zur Eingriffsrechtfertigung, die schon mit Blick auf die vormalige Rechtsprechung des BAG formuliert wurden, im Anwendungsbereich des § 4a TVG heranziehen. Holzschnittartig dargestellt gilt dann Folgendes: Der Grundsatz der Tarifeinheit konnte schon in der Vergangenheit jedenfalls nicht aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit2 oder aufgrund praktischer Folgeprobleme3 verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden4. Etwas anderes wurde für einen „Überbietungswettbewerb“ erwogen5, ins Spiel gebracht wurde überdies auch ein gegenläufiger „Unterbietungswettbewerb“6. Während das BAG arbeitskampfrechtliche Folgen der Tarifpluralität im Arbeitskampfrecht geregelt wissen wollte7, scheint die Gefahr permanenter Tarifauseinandersetzungen angesichts der Auswirkungen auf Arbeitgeber und nicht zuletzt Dritte in der Tat durchaus dazu geeignet zu sein, Beeinträchtigungen der Tarifautonomie zu rechtfertigen8. Ob des Weiteren auch die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie allein zur grundrechtlichen Eingriffsrechtfertigung herangezogen werden kann, scheint ebenso wie im Kontext der Koalitionsbildungsfreiheit hingegen durchaus fraglich9. 1 Zur verfassungsrechtlichen Maßstabbildung mit Blick auf § 4a TVG auch Konzen/Schliemann, RdA 2015, 1 (12). 2 Siehe dazu aber noch BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, AP Nr. 20 zu § 4 Tarifkonkurrenz; anders BAG v. 27.1.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 645 (651, 656); BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068 (1072); kritisch Franzen, ZfA 2009, 297 (306 f., 310); Dieterich, GS Zachert, 2010, S. 532 (539 f.). 3 Dazu noch BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, AP Nr. 20 zu § 4 Tarifkonkurrenz; anders BAG v. 27.1.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 645 (650, 652 f.); BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068 (1071, 1074, 1077 f.); kritisch Bayreuther, NZA 2007, 187 ff.; Reichold, RdA 2007, 321 ff.; Thüsing/v. Medem, ZIP 2007, 510 ff.; Franzen, RdA 2008, 192 (195 ff.); Franzen, ZfA 2009, 297 (310 f.); Hanau, RdA 2008, 98 (99); Jacobs, NZA 2008, 325 (328); Jacobs, FS Buchner, 2009, S. 342 (342); eingehend zum Ganzen Schmidt, Tarifpluralität im System der Arbeitsrechtsordnung, 2011, passim. 4 Auflösungsbedürftig solle allenfalls die unterschiedliche Regelung betriebsverfassungsrechtlicher Fragen (dazu nun § 4a Abs. 3 TVG) sein, siehe Reichold, RdA 2007, 321 (327). 5 Siehe dazu Buchner, ZfA 2004, 229 (246 ff.); Buchner, BB 2008, 106 ff.; Hromadka, GS Heinze, 2005, S. 383 (388); Hromadka, NZA 2008, 384 (387 f.); Bayreuther, BB 2005, 2633 (2641); Meyer, NZA 2006, 1387 (1390); Kamanabrou, ZfA 2008, 241 (262); Franzen, ZfA 2009, 297 (307, 311 ff.); allgemein zur Entsolidarisierung nochmals Bayreuther, BB 2005, 2633 (2640 f.); Bayreuther, NZA 2008, 12 (15); Kamanabrou, ZfA 2008, 241 (261); Giesen, NZA 2009, 11 (15, 16). 6 Siehe (nochmals) Kempen, FS Hromadka, 2008, S. 177 (184 f.). 7 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068 (1074); dazu schon Bayreuther, NZA 2008, 12 ff.; Meyer, FS Adomeit, 2008, S. 459 ff.; Giesen, NZA 2009, 11 (14); Jacobs, FS Buchner, 2009, S. 342 ff.; siehe auch Henssler, RdA 2011, 65 ff.; Richardi, NZA 2014, 1233 ff.; mit Blick auf die Geeignetheit arbeitskampfrechtlicher Regelungsansätze aber auch Giesen, ZfA 2011, 1 (31 ff.); kritisch zur Rechtsprechung des BAG ferner Kersten, Neues Arbeitskampfrecht, 2012, S. 53 f. 8 Dazu nur Hromadka, NZA 2008, 384 (387 f.); ferner Kamanabrou, ZfA 2008, 241 (262 ff.); siehe aber auch Schliemann, FS Hromadka, 2008, S. 359 (372 ff.), der zwischen gewillkürter und unfreiwilliger Tarifpluralität unterscheidet; kritisch etwa Jacobs, NZA 2008, 325 (329). 9 Überwiegend wird allerdings darauf hingewiesen, dass ein funktionierendes Tarifsystem die Grundrechtsausübung durch den Einzelnen erst ermögliche, siehe etwa Scholz, FS Buchner, 2009, S. 827 (828); Scholz/Lingemann/Ruttloff, NZA-Beilage 2015, 3 (22 f.); ferner Bayreuther, FS Hromadka, 2008, S. 1 (2); Bayreuther, DB 2010, 2223 (2225); Franzen, ZfA 2009, 297 (308 ff.); Giesen, ZfA 2011, 1 (26 ff.); Greiner, NZA 2012, 529 (531, 532 f.); unter Bezugnahme auf ein institutionelles Verfassungsdenken auch Kersten, Neues Arbeitskampfrecht, 2012, S. 48 ff.; differenzierend Dietrich, GS Zachert, 2010, S. 532 (538 f.); Richardi, FS Buchner, 2009, S. 731 (739 f.).
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Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG)
Rz. 35 Teil 1
Nichtsdestotrotz zielt auch die Begründung des Entwurfs des Tarifeinheitsgesetzes 34 gerade auf den Gedanken der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie, genauer: auf die Schaffung einer widerspruchsfreien Ordnung der Arbeitsbeziehungen im Betrieb. Insbesondere könne – so die Argumentation – die Kohärenz des im Betrieb geltenden Entgeltsystems beträchtlich in Mitleidenschaft gezogen werden, wenn Tarifverträge konkurrierender Gewerkschaften nicht aufeinander abgestimmte Bewertungen der Arbeitsleistungen vornehmen. Auch die Verteilungsfunktion des Tarifvertrags werde gestört, wenn die konkurrierenden Tarifabschlüsse nicht den Wert verschiedener Arbeitsleistung innerhalb einer betrieblichen Gemeinschaft widerspiegeln, sondern vor allem Ausdruck der jeweiligen Schlüsselpositionen der unterschiedlichen Beschäftigtengruppen im Betriebsablauf seien1. Vor diesem Hintergrund stellt sich in aller Schärfe die Frage, ob der Funktionsfähig- 35 keit der Tarifautonomie eingriffslegitimierende Wirkung beizumessen ist – m.a.W.: ob die eingreifende Reglementierung der Tarifautonomie in Gestalt der Bevorzugung einzelner Gewerkschaften mit der Funktionsfähigkeit eben jener Tarifautonomie selbst gerechtfertigt werden kann2. Stellt man sich auf den Standpunkt, dass die gesetzliche Festschreibung des Grundsatzes der Tarifautonomie gerade keine Grundrechtsausgestaltung ist, lässt sich allein mit der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie die Verfassungsmäßigkeit des § 4a TVG wohl nicht begründen. Legt man die strengeren Maßstäbe der Eingriffsrechtfertigung an, darf (ebenso wie mit Blick auf die Koalitionspluralität) nämlich die Gefahr nicht außer Acht gelassen werden, dass sich der Rekurs auf die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie zur Monopolisierung einzelner Gewerkschaften3 auch gerade gegen die Tarifautonomie wenden kann4. Dies gilt umso mehr, als sich der Gesetzgeber – soweit ersichtlich – nicht auf empirische Erkenntnisse beruft und eine Funktionsunfähigkeit der Tarifautonomie, die im Wege der Tarifeinheit korrigiert werden soll, dementsprechend nicht nachweist5. Jedenfalls
1 BT-Drucks. 18/4062, S. 8. 2 Allgemein dazu nochmals Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 406 ff.; Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 113 f., 183; siehe aber auch Hufen, NZA 2014, 1237 (1239 f.); Hromadka, NZA 2014, 1105 (1106 f.); ferner Scholz/Lingemann/ Ruttloff, NZA-Beilage 2015, 3 (22 f.), die von immanenten koalitionsrechtlich-internen Schranken sprechen; ausführlich auch Papier/Krönke, ZfA 2011, 807 (823 f., 840 f.) mit dem Hinweis, die individuelle Tarifvertragsfreiheit sei an den Koalitionszweck des Art. 9 Abs. 3 GG gebunden und stehe unter dem Vorbehalt einer funktionierenden Tarifautonomie insgesamt, weswegen innerbetriebliche Verteilungskonflikte von Gesetzes wegen unterbunden werden könnten. 3 Zur fehlenden Gewähr einer tatsächlichen Erzielung von betrieblicher Lohngerechtigkeit durch Branchenverbände ferner Greiner, NZA 2015, 769 (777 f.); zur Konkurrenz unter Industrieverbänden überdies Henssler, RdA 2015, 222 (223 f.). 4 Das BVerfG erklärte allerdings die Allgemeinverbindlicherklärung von TVen mit Blick auf die positive Koalitionsfreiheit deswegen für zulässig, weil der Abschluss von TVen nicht rechtlich oder faktisch unmöglich gemacht werde, siehe BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (352 f.). 5 Auch das BAG hat darauf hingewiesen, dass die Tarifeinheit keine Funktionsbedingung der Tarifautonomie sei, siehe BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068 (1078); ganz in diesem Sinne auch Henssler, RdA 2011, 65 (66 f.) mit dem Hinweis, der beste Beweis dafür, dass Tarifpluralitäten die Funktionsfähigkeit des Tarifsystems nicht in Frage stellen, könne dem Umstand entnommen werden, dass sie in vielen Bereichen seit vielen Jahren unbeanstandet
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Teil 1 Rz. 36
Grundlagen des Tarifvertragsrechts
aber dürfte § 4a TVG deshalb als verfassungswidrig zu qualifizieren sein, weil zur Erreichung der Tarifeinheit mildere Mittel (obschon auch der Schutz von Minderheitsinteressen im Rahmen der Tarifeinheit für möglich gehalten wird1, § 4a Abs. 4, 5 TVG regelt diesbezüglich die Nachzeichnung sowie ein Beteiligungsrecht) zur Verfügung gestanden hätten2 – etwa eine Anknüpfung des Mehrheitssystems nicht am Betrieb, sondern am sich jeweils überschneidenden Bereich3 mit der Folge, dass sich der TV derjenigen Gewerkschaften durchsetzen sollte, die in der Personengruppe, für die beide Gewerkschaften tätig seien, die meisten Mitglieder haben4. 36
Teilt man diese Überlegungen, dürfte sich auch in Zukunft die Frage stellen, ob der Grundsatz der Tarifeinheit (angesichts der fast schon notorischen gesetzgeberischen Untätigkeit im Arbeitskampfrecht)5 im Tarifvertragsrecht gesetzlich festgeschrieben werden kann. Anbieten könnte sich insoweit eine im Interesse der Tarifeinheit normierte Beschränkung der Tariffähigkeit6: Da die Tarifautonomie lediglich als normgeprägte Freiheit zu qualifizieren ist, wäre jedenfalls ein solcher Regelungsansatz als Grundrechtsausgestaltung zu qualifizieren und folglich nicht an den strengen Maßstäben der verfassungsrechtlichen Eingriffsrechtfertigung zu messen7. 4. Tariftreueklauseln
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Ein weiteres Problem betrifft Tariftreueklauseln, die im Rahmen der Vergabe öffentlicher Aufträge tarifvertragliche Regelungen im Interesse der Bekämpfung von Sozial-
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praktiziert werden; siehe aber auch Papier/Krönke, ZfA 2011, 807 (844 ff., 851 f.), die dem Gesetzgeber bei der „Ausgestaltung“ der Tarifautonomie eine Einschätzungsprärogative zuerkennen und eine Handlungsberechtigung anerkennen, wenn sich die Annahme einer Gefährdung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie nicht als Fehleinschätzung erweist. Hromadka, NZA 2014, 1105 (1107 ff.). Zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch Jacobs, NZA 2008, 325 (328 f.); Franzen, ZfA 2009, 297 (311 f.); Löwisch, RdA 2010, 263 (265 ff.); ausführlich Scholz/Lingemann/Ruttloff, NZA-Beilage 2015, 3 (23 ff.). Kritisch Hromadka, NZA 2014, 1105 (1107). Ausführlich Ewer, NJW 2015, 2230 (2233 ff.); Konzen/Schliemann, RdA 2015, 1 (12 f.); kritisch dazu Giesen, ZfA 2011, 1 (38 f.). Siehe dazu nur Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 311 ff. Zur Beschränkung der Tariffähigkeit auch Franzen, ZfA 2009, 297 (312 f.); Franzen, ZfA 2011, 647 (669 f.); das BVerfG hat insoweit festgestellt, dass es nicht der Sinn der in Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten Koalitionsfreiheit sein könne, dass der Gesetzgeber schlechthin jede Koalition zum Abschluss von Tarifverträgen zulassen, also als tariffähig behandeln müsse – die sich aus dem Ordnungszweck des TV-Systems ergebenden Grenzen der Tariffähigkeit könnten auch im Rahmen der Koalitionsfreiheit wirksam werden, obschon Anforderungen an die Tariffähigkeit, die erheblich auf die Bildung und Betätigung einer Koalition zurückwirken, Koalitionen unverhältnismäßig beeinträchtigen oder zu einer Aushöhlung der Gewährleistung des Art. 9 Abs. 3 GG führen, unzulässig seien, siehe nochmals BVerfG v. 18.11.1954 – 1 BvR 629/52, BVerfGE 4, 96 (107 f.); ferner BVerfG v. 20.10.1981 – 1 BvR 404/78, BVerfGE 58, 233 (247 f.). Mit Blick auf § 4a TVG wird insoweit allerdings auf einen „Eingriff“ dadurch hingewiesen, dass Spartengewerkschaften nicht nur die faktische Möglichkeit zur Durchsetzung tarifvertraglicher Regelungen, sondern zudem auch rechtlich die Tariffähigkeit genommen werde, siehe Ewer, NJW 2015, 2230 (2231 f.); ferner Konzen/Schliemann, RdA 2015, 1 (12 f.).
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Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG)
Rz. 37 Teil 1
dumping1 auf nicht tarifgebundene Arbeitgeber aus dem In- und Ausland erstrecken: Der Europäische Gerichtshof hält derartige Klauseln wegen Verstoßes gegen die Dienstleistungsfreiheit für europarechtswidrig2, weswegen die Tariftreue- und Vergabegesetze der Länder inzwischen lediglich eine Bindung an Tarifverträge statuieren, die ohnehin nach § 5 TVG oder den Regelungen des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes Anwendung finden (sog. deklaratorische Tariftreueregelungen), und überdies im Bereich des Öffentlichen Personennahverkehrs zur Anwendung gelangen, auf den gemäß Art. 58 AEUV die Dienstleistungsfreiheit nicht unmittelbar anwendbar ist3. Im Mittelpunkt der verfassungsrechtlichen Diskussion über Tariftreueklauseln steht die negative Dimension der Koalitionsfreiheit4. Art. 9 Abs. 3 GG umfasst zweifelsohne auch die Freiheit, aus einer Koalition auszutreten oder Koalitionen fernzubleiben5, was namentlich im Hinblick auf die Rechtsstellung von Außenseitern von Bedeutung ist6. Nach Auffassung des BVerfG gewährleistet die negative Koalitionsfreiheit gegenüber fremdbestimmter Normsetzung namentlich nach § 5 TVG7 und § 1 Abs. 3a AEntG a.F.8 jedoch keinen verfassungsrechtlichen Schutz. Dass Art. 9 Abs. 3 GG nur vor erheblichem, nicht dagegen vor jedem Beitrittsdruck schütze und bloße Anreize zum Beitritt zulasse, weswegen auch eine „negative Tarifvertragsfreiheit“ nicht exis-
1 Siehe nur BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 (223 f.). 2 EuGH v. 3.4.2008 – C-346/06, DÖV 2008, 552 ff.; dazu etwa Seifert, EuZA 2008, 526 ff.; Bayreuther, NZA 2008, 626 ff.; Hänlein, ZESAR 2008, 275 ff.; Kocher, DB 2008, 1042 ff.; Bayreuther, EuZW 2009, 102 ff.; zu Mindestlohntreueregelungen ferner EuGH, NJW 2014, 3769 f.; dazu etwa Forst, NJW 2014, 3755 ff. 3 Siehe dazu Faber, NVwZ 2015, 257 ff. 4 Verfassungskritik wurde zudem daran geübt, dass einige Tariftreue- und Vergabegesetze auf einen jeweils repräsentativen Tarifvertrag Bezug nehmen, siehe Greiner, ZfA 2012, 483 ff.; Greiner, ZTR 2013, 647 ff.; dazu ferner Dieterich/Ulber, ZTR 2013, 179 ff. 5 BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290 (367); 64, 208 (213); BVerfG v. 23.4.1986 – 2 BvR 487/80, BVerfGE 73, 261 (270); BVerfG v. 3.4.2001 – 1 BvL 32/97, BVerfGE 103, 293 (304); BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 (218); eingehend zur negativen Koalitionsfreiheit in vorliegendem Zusammenhang Preis/ Ulber, NJW 2007, 465 (466 f.). 6 Mit Blick auf Tariftreueklauseln judizierte das BVerfG, dass eine staatliche Geltungsanordnung fehle und zudem das Betätigungsrecht der Koalitionen nicht betroffen sei, konkurrierende Rechtssetzungskompetenzen mithin nicht aufeinander träfen und folglich den Koalitionen aus Art. 9 Abs. 3 GG auch kein verfassungsrechtlich geschütztes Interesse an einer Beteiligung am Verfahren der Tariftreueerklärung erwachse. Des Weiteren stellte das BVerfG fest, Anreize zum Koalitionsbeitritt würden nicht gemindert, sodass auch der Bestand der Koalitionen durch Tariftreueklauseln nicht tangiert würde. Schließlich judizierte das BVerfG, auch die Möglichkeit einer Verdrängung konkurrierender TVe führe nicht zur Verfassungswidrigkeit von Tariftreueklauseln, da kein rechtliches Hindernis zum Abschluss von TVen errichtet werde und der Abschluss konkurrierender TVe nicht unmöglich gemacht werde, siehe zum Ganzen BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 (219 f.); dazu auch Höfling/Rixen, RdA 2007, 360 (362 f.), die entgegen dem BVerfG auf den Aspekt der Auswahl einer tarifvertraglichen Bezugsbasis der Tariftreueklauseln und auf die Gefahr einer systematischen Benachteiligung kleinerer Koalitionen hinweisen. 7 BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (352); des Weiteren geht das BAG davon aus, dass der Gesetzgeber trotz negativer Koalitionsfreiheit auch die Fortdauer der einmal wirksam durch Verbandsmitgliedschaft begründeten Tarifbindung über das Ende der Mitgliedschaft hinaus bis zum Ablauf des TVs anordnen kann, siehe BAG v. 4.8.1993 – 4 AZR 499/92, BAGE 74, 41 (44); BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, BAGE 131, 176 (187 ff.). 8 Siehe BVerfG v. 18.7.2000 – 1 BvR 948/00, NZA 2000, 948 f.; ausführlich dazu auch Rz. 42 f.
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Grundlagen des Tarifvertragsrechts
tiere1, präjudiziert nämlich auch die verfassungsrechtliche Bewertung von Tariftreueklauseln2. 38
Eine an der Erheblichkeit des Beitrittsdrucks orientierte Differenzierung3 lässt indes nicht nur Maßstäbe der Konkretisierung dieser Erheblichkeit – die namentlich eine generelle negative Tarifvertragsfreiheit aus dem Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG ausklammert – vermissen4, vielmehr tendiert eine entsprechende Differenzierung auch zu einer Verschränkung der grundrechtsdogmatischen Kategorien des grundrechtlichen Schutzbereichs und des Grundrechtseingriffs5. In Fortsetzung der Klarstellung der Kernbereichsdoktrin ist folglich eine Aufgabe der restriktiven Auslegung der negativen Koalitionsfreiheit angezeigt6. Allerdings kann – ungeachtet der dogmatischen Zweifel, denen das Schutzgut der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie auch im Anwendungsbereich von Tariftreueklauseln7 begegnet8 – die sozialverträgliche Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen9 unter Beachtung grundrechtsdogmatischer Elementarkategorien10 die Beeinträchtigung der negativen Koalitionsfreiheit gleichwohl rechtfertigen11. 1 Siehe dazu auch ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 36; Schubert, RdA 2001, 199 ff.; Kreiling, NZA 2001, 1118 (1124); Wolter, AuR 2006, 137 (139); Preis/Ulber, NJW 2007, 465 (466 f.); Preis/Greiner, ZfA 2009, 825 (829); Sansone/Ulber, AuR 2009, 125 (129); kritisch Höfling/Rixen, RdA 2007, 360 (362); zuvor wohl auch Schleusener, ZTR 1998, 100 (101); Reuter, FS Wiedemann, 2002, S. 449 (478). 2 BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 (218). Das BAG hat im Nachgang der Rechtsprechung des BVerfG sog. einfache Differenzierungsklauseln an der negativen Koalitionsfreiheit von Außenseitern gemessen und festgestellt, dass derartige Klauseln keinen unzulässigen, gegen die negative Koalitionsfreiheit von Außenseitern verstoßenden Druck zum Gewerkschaftsbeitritt ausüben, siehe BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, BAGE 130, 43 ff.; quotenmäßig begrenzte Vorruhestandsvereinbarungen hat das BAG demgegenüber für unzulässig erachtet, siehe BAG v. 21.1.1987 – 4 AZR 547/86, ABGE 54, 113 ff., und auch sog. Spannenklauseln können die TV-Parteien nicht vereinbaren, da es ihnen nach dem BAG nicht zukommt, ein dem außertariflichen Bereich zuzuordnendes Verhalten des Arbeitgebers im Verhältnis zu nicht oder anders organisierten Arbeitnehmern unmöglich zu machen, siehe BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, BAGE 137, 231 ff. 3 Die Behauptung, die positive Koalitionsfreiheit der Koalitionsmitglieder umfasse im Gegensatz zum grundrechtlichen Status der Koalitionen nicht das Recht, Tarifnormen zu setzen, so dass auch eine negative Tarifvertragsfreiheit ausscheiden müsse, dazu Schubert, RdA 2001, 199 (202), lässt wohl Art. 19 Abs. 3 GG unbeachtet, siehe Höfling/Rixen, RdA 2007, 360 (362); dazu auch Preis/Ulber, NJW 2007, 465 (466 f.). 4 Höfling/Rixen, RdA 2007, 360 (361 f.). 5 Höfling/Rixen, RdA 2007, 360 (361); Rixen, BayVBl. 2010, 325 (326). 6 Rixen, BayVBl. 2010, 325 (326). 7 Zur Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie mit Blick auf Tariftreueklauseln aber auch BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 (224). 8 Zur Unzulässigkeit der Funktionalisierung der Tarifautonomie nochmals Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 406 ff.; Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 113 f., 183; kritisch in vorliegendem Zusammenhang auch Rieble, NZA 2007, 1 (2); anders Preis/Ulber, NJW 2007, 465 (470 f.). 9 BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 (223 f.); siehe dazu auch BayVGH v. 20.6.2008 – Vf. 14-VII-00, BayVBl. 2008, 626 (626); ferner Preis/Ulber, NJW 2007, 465 (469 f.); Preis/Greiner, ZfA 2009, 825 (829); Wendeling-Schröder, GS Zachert, 2010, S. 147 (155 ff.); kritisch Rieble, NZA 2007, 1 (3). 10 Dazu Höfling/Rixen, RdA 2007, 360 (364 ff.); Rixen, BayVBl. 2010, 325 (326 f.). 11 Die Judikatur des BVerfG verdeutlicht, dass namentlich die Möglichkeit zur Stellungnahme keine zwingende Voraussetzung verfassungsrechtlich legitimer Tariftreueklauseln ist, siehe
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Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG)
Rz. 40 Teil 1
5. Mindestlöhne Mindestlöhne haben Konjunktur: Mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz1 hat der 39 Gesetzgeber im Wesentlichen das Mindestlohngesetz2 verabschiedet; des Weiteren wurde die Allgemeinverbindlicherklärung gemäß § 5 TVG erleichtert und die Möglichkeiten zur Erstreckung von TVe nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz wurden ausgebaut3. Die gesetzliche Festschreibung bestimmter Arbeitsbedingungen durch das Mindestlohngesetz sowie die Tariferstreckung auf Arbeitnehmer ohne Gewerkschaftsmitgliedschaft einerseits und die Tarifautonomie andererseits stehen indes in einem Spannungsverhältnis zueinander. Verfassungsrechtlich betrachtet dürften dabei die Frage nach der Zulässigkeit einer Verkürzung des Gestaltungsspielraums der Koalitionen durch die Festschreibung eines Mindestlohns sowie die negative Koalitionsfreiheit der Außenseiter mit Blick auf die Tariflohnerstreckung die wesentlichen Eckpunkte der Diskussion ausmachen. Was die Verkürzung des Gestaltungsspielraums der Koalitionen angeht, dürfte es vor- 40 rangig um eine Einschränkung der koalitionsspezifischen Betätigung infolge der Einführung eines allgemeinen Mindestlohns gehen. Sieht man von Fragen hinsichtlich der Mitwirkung der Koalitionen in der Mindestlohnkommission ab4, lässt sich zwar auch nicht von der Hand weisen, dass es zu einem Verlust von Beitrittsanreizen kommen kann5 – eine verfassungswidrige Beeinträchtigung der Bestandsgarantie der Koalitionen dürfte darin (sofern Maßnahmen jenseits der Koalitionsbildungsfreiheit überhaupt eine Beeinträchtigung dieser Bestandsgarantie bewirken können) allerdings kaum zu erblicken sein6. Deswegen steht vorrangig der Vorwurf im Raum, bestehende TVe mit Vergütungsgruppen unterhalb des Mindestlohns würden obsolet und künftige Abschlüsse mit derartigen Vergütungsgruppen unmöglich7. Dadurch werde
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dazu Preis/Ulber, NJW 2007, 465 (468); anders Löwisch, DB 2001, 1090 (1091); Scholz, RdA 2001, 193 (198). Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie v. 11.8.2014 (BGBl. I, 1348). Siehe dazu etwa Spielberger/Schilling, NJW 2014, 2897 ff.; Spielberger/Schilling, NZA 2014, 414 ff.; Bayreuther, NZA 2014, 865 ff.; Maschmann, NZA 2014, 929 ff.; Sittard, NZA 2014, 951 ff.; Heuschmid/Hlava, NJW 2015, 1719 ff.; Schrader/Novak, NJW 2015, 1783 ff.; das BVerfG hat eine Verfassungsbeschwerde gegen §§ 16, 17 Abs. 2, 20 MiLoG aus Gründen der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, da die Möglichkeit bestehe, vor den Fachgerichten auf Feststellung zu klagen, nicht zu den nach §§ 16, 17 Abs. 2, 20 MiLoG gebotenen Handlungen verpflichtet zu werden, siehe BVerfG, NJW 2015, 2242 f. Nach der Rechtsprechung des EuGH kann ferner auch die Vergabe öffentlicher Aufträge durch Gesetz davon abhängig gemacht werden, dass ein Mindestlohn gezahlt wird, siehe EuGH v. 17.11.2015 – C-115/14, ZIP 2015, 2335 ff. Dazu Bepler in Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 70. Deutschen Juristentages, Bd. I, 2014, B 106 ff. Dazu Bepler in Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 70. Deutschen Juristentages, Bd. I, 2014, B 105; Bepler, FS Richardi, 2007, S. 189 (199); siehe auch Giesen, FS Kempen, 2013, 216 (218); Seiwerth, NZA 2014, 708 (709). Bepler in Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 70. Deutschen Juristentages, Bd. I, 2014, B 105; ferner Preis/Ulber, FS Kempen, 2013, S. 15 (34); Preis/Ulber, Die Verfassungsmäßigkeit des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns, 2014, S. 30 f., 49 f. Zu den Besonderheiten beschäftigungssichernder TVe auch schon Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1219 f.); Löwisch, RdA 2009, 215 (220 f.); Bayreuther, NJW 2009, 2006 (2007).
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Teil 1 Rz. 41
Grundlagen des Tarifvertragsrechts
– so die Argumentation – in das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG eingegriffen1 und dieser Eingriff sei auch nicht zu rechtfertigen. Dem Tätigwerden des Gesetzgebers stehe dort, wo tariffähige Koalitionen Löhne vereinbaren, die Normsetzungsprärogative der TV-Parteien entgegen2. Das Fehlen jeglicher Tariföffnung könne auch nicht unter Hinweis auf den Gedanken der Existenzsicherung gerechtfertigt werden3: Die Regelungen des Mindestlohngesetzes seien schon ersichtlich nicht auf eine solche Existenzsicherung zugeschnitten4 und ohnehin könne die Verantwortung für die Existenzsicherung nicht auf Private abgewälzt werden5. Schließlich könnten auch weder die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie6 noch der Schutz vor Missbrauch der sozialen Sicherungssysteme7 oder deren Entlastungen die Beeinträchtigung der Tarifautonomie rechtfertigen8. 41
Wie auch immer diese Argumente im Einzelnen zu bewerten sein mögen – eine verfassungsrechtliche Betrachtung der Regelungen des Mindestlohngesetzes kommt nicht umhin, zunächst die grundrechtsdogmatischen Maßstäbe herauszuarbeiten. Denn es ist keinesfalls eindeutig, dass die Einführung eines allgemeinen Mindestlohns einen Eingriff in die Tarifautonomie darstellt, ist doch auch insoweit die Unterscheidung zwischen Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtseingriff unverzichtbar9. Handelt es sich bei der Tarifautonomie um eine normgeprägte Freiheit, dürfte die Verkürzung jedenfalls des künftigen Gestaltungsspielraums der Koalitionen vielmehr als Grundrechtsausgestaltung zu qualifizieren sein10. Deren verfassungsrechtliche Legitimität kann sodann darauf gestützt werden, dass die Lohnfindung zwar zu 1 Zur verfassungsrechtlichen Maßstabsbildung auch Barczak, RdA 2014, 290 (296); Henssler, RdA 2015, 43 (45); Zeising/Weigert, NZA 2015, 15 (16); Lembke, NZA 2015, 60 (71). 2 Siehe dazu Giesen, FS Kempen, 2013, S. 216 (217, 233); Picker, RdA 2014, 25 (27 f., 34); ferner Henssler, RdA 2015, 43 (46); anders Waltermann, RdA 2014, 86 (98 f.); siehe auch Preis/Greiner, ZfA 2009, 825 (839); Preis/Ulber, Die Verfassungsmäßigkeit des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns, 2014, S. 98, 103. 3 Siehe dazu aber auch Bepler in Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 70. Deutschen Juristentages, Bd. I, 2014, B 106 f. 4 Lobinger, GS Brugger, 2013, S. 355 (365 ff.); dazu ferner Hanau, ZfA 2012, 269 (277); Giesen, FS Kempen, 2013, S. 216 (219 f.); Picker, RdA 2014, 25 (29). 5 Hanau, ZfA 2012, 269 (283); Lobinger, GS Brugger, 2013, S. 355 (365 ff.); Picker, RdA 2014, 25 (29); Barczak, RdA 2014, 290 (294); siehe aber auch Preis/Ulber, Die Verfassungsmäßigkeit des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns, 2014, S. 57 ff., die auf die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers hinweisen – dazu auch BVerfG v. 20.3.2007 – 1 BvR 1047/05, NZA 2007, 609 ff., wonach die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Verbindung mit der Sicherung sozialer Mindeststandards ein besonders wichtiges Ziel ist, bei dessen Verwirklichung dem Gesetzgeber ein relativ großer Entscheidungsspielraum zugestanden werden muss; ferner Waltermann, NJW 2010, 801 (806). 6 Zum Schutz der Vertragsfreiheit aber auch Bayreuther, NJW 2007, 2022 (2023 f.); Picker, RdA 2014, 25 (30). 7 Siehe Bepler in Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 70. Deutschen Juristentages, Bd. I, 2014, B 107; anders Barczak, RdA 2014, 290 (296); Picker, RdA 2014, 25 (29 f.); Waltermann, NZA 2013, 1041 (1042, 1046). 8 Zum Ganzen Lobinger, JZ 2014, 810 (813 ff.); Zeising/Weigert, NZA 2015, 15 (16 ff.). 9 Dazu Engels, JZ 2008, 490 ff. 10 Allerdings ist mit Blick auf die Regelungen des Mindestlohngesetzes in der Tat zu berücksichtigen, dass trotz der Übergangsregelung des § 24 MiLoG nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann, dass auch schon geschlossene TVe vor die Herausforderung eines staatlich vorgegebenen Mindestlohnes gestellt werden, siehe Zeising/Weigert, NZA 2015, 15 (18 f.), die insoweit auf eine Rückwirkungsproblematik hinweisen.
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Engels
Garantie der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG)
Rz. 42 Teil 1
den tradierten Gegenständen der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen i.S.d. Art. 9 Abs. 3 GG zählt1. Angesichts des oftmals diagnostizierten Versagens der Koalitionen im Niedriglohnsektor2 und der Möglichkeit zur Lohnfindung oberhalb des gesetzlichen Mindestlohns3 dürfte eine Verletzung des maßstabbildenden Untermaßverbotes4 zudem nicht festzustellen sein5. Dies gilt umso mehr, als das BVerfG eine subsidiäre Regelungszuständigkeit des Staates ganz allgemein dann anerkannt hat, wenn die Koalitionen die ihnen übertragene Aufgabe, das Arbeitsleben durch TVe sinnvoll zu ordnen, im Einzelfall nicht allein erfüllen können und die soziale Schutzbedürftigkeit einzelner Arbeitnehmer(gruppen) oder ein sonstiges öffentliches Interesse ein Eingreifen des Staates erforderlich macht6. Damit dürften auch Situationen gemeint sein, in denen sozial mächtige Gewerkschaften existieren und diese niedrigen Tariflöhnen zustimmen7. Was die Tariferstreckung nach den Regelungen des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes 42 angeht, war die Diskussion zunächst von der Frage geprägt, ob § 1 Abs. 3a AEntG a.F. einen Tarifvorrang enthielt8. Spätestens mit der ausdrücklichen Beseitigung eines solchen Tarifvorrangs durch § 8 Abs. 2 AEntG n.F.9 konnten verfassungsrechtliche Fragen auch insoweit nicht länger überspielt werden und auch die staatliche Tariflohnerstreckung bewegte sich fortan auf Kollisionskurs mit der Tarifautonomie10. Als weniger problematisch wurde hingegen die negative Koalitionsfreiheit von Außenseitern wahrgenommen, hatte das BVerfG doch nicht nur § 5 TVG11, sondern auch § 1 Abs. 3a AEntG a.F.12 als verfassungsgemäß erachtet. Hinsichtlich der Änderung des
1 Siehe BVerfG v. 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, BVerfGE 94, 268 (283); dazu auch Thüsing, ZfA 2008, 590 (609 f.); Sodan/Zimmermann, ZfA 2008, 526 (557). 2 Waltermann, NJW 2010, 801 (802); Waltermann, AuR 2015, 166 (168); ferner Bieback, GS Zachert, 2010, S. 359 (359 ff.); Loritz, ZfA 2010, 367 (374 ff.); Picker, RdA 2014, 25 (27); Spielberger/Schilling, NZA 2014, 414 (419). 3 Preis/Greiner, ZfA 2009, 825 (835 f.); Bayreuther, NJW 2009, 2006 (2006); Lakies, AuR 2013, 69 (70 ff.); Waltermann, AuR 2015, 166 (166). 4 Ähnlich Bieback, GS Zachert, 2010, S. 359 (369). 5 Anders Thüsing, ZfA 2008, 590 (603 ff.), der die verbleibenden Gestaltungsspielräume für unmaßgeblich hält; siehe auch Zeising/Weigert, NZA 2015, 15 (18). 6 BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (342) – ausführlich dazu mit Blick auf die Frage nach der Existenz einer Normsetzungsprärogative der TV-Parteien Rz. 54 ff. 7 Anders Picker, RdA 2014, 25 (34). 8 Siehe VG Berlin v. 7.3.2008 – 4 A 439/07, NZA 2008, 482 (486 ff.); ferner Maier, AuR 2008, 387 f.; Maier, NZA 2009, 351 (352); Klebeck, NZA 2008, 446 (447 ff.); Sodan/Zimmermann, NJW 2009, 2001 (2001); dazu aber auch Preis/Greiner, ZfA 2009, 825 (847 ff.); anders im Anwendungsbereich des § 1 Abs. 3 AEntG BAG v. 25.6.2002 – 9 AZR 405/00, NZA 2003, 275 (281); BAG v. 20.7.2004 – 9 AZR 343/03, NZA 2005, 114 (117); BAG v. 18.10.2006 – 10 AZR 576/05, NZA 2007, 1111 (1116). 9 Dazu Sodan/Zimmermann, ZfA 2008, 526 ff.; Sodan/Zimmermann, NJW 2009, 2001 ff.; ferner Bayreuther, DB 2008, 678 ff.; Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 ff.; Joussen, ZESAR 2009, 355 ff.; Löwisch, RdA 2009, 215 ff.; Sittard, NZA 2009, 346 ff.; Hänlein, FG Bieback, 2010, S. 185 ff.; Bieback, GS Zachert, 2010, S. 359 ff. 10 Siehe Thüsing, ZfA 2008, 590 (629 ff.); Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1217 ff.); Sodan/ Zimmermann, NJW 2009, 2001 (2004 f.); Moll, RdA 2010, 321 (326 f.). 11 BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (352). 12 BVerfG v. 18.7.2000 – 1 BvR 948/00, NZA 2000, 948 f.; eingehend dazu auch Ossenbühl/Cornils, Tarifautonomie und staatliche Gesetzgebung, 2000, passim; zu § 1 Abs. 3a AEntG a.F. ferner VG Berlin v. 7.3.2008 – 4 A 439/07, NZA 2008, 482 (486 ff.); Preis/Greiner, ZfA 2009,
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Teil 1 Rz. 43
Grundlagen des Tarifvertragsrechts
§ 5 TVG sowie der Erweiterung der Tariferstreckungsmöglichkeiten nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz werden dementsprechend lediglich vorsichtige (namentlich auf den Wegfall des 50-Prozent-Quorums bezogene) Zweifel angemeldet1 – einer weitreichenden Tariflohnerstreckung wird angesichts der flächendeckenden Einführung eines Mindestlohnes nur selten (und mit Blick auf die unterschiedlichen Gesetzeszwecke wohl unzutreffend2) die Daseinsberechtigung abgesprochen3. 43
Drängender scheint auch mit Blick auf die Tariferstreckung die Frage nach einer Verletzung der Tarifautonomie zu sein, sofern es mangels Tariföffnung auf der Grundlage von § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG4 sowie § 8 Abs. 2 AEntG zur Verdrängung von TVen kommt. Legt man insoweit grundrechtsdogmatische Maßstäbe an, dürfte eine solche Verdrängung am Maßstab der abwehrrechtlichen Grundrechtsdimension zu messen sein5, sodass sich (anders als mit Blick auf die Regelungen des Mindestlohngesetzes) die Frage nach der Eingriffsrechtfertigung stellt. Hierzu hat das BVerfG angemerkt, dass gesetzliche Regelung in Bereichen, die auch TVen offenstehen, möglich sind, wenn der Gesetzgeber sich auf Grundrechte Dritter oder andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechte stützen kann und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt wird6. Die Existenzsicherung7 dürfte dabei allerdings kaum Gewicht erlangen – das BVerfG rechtfertigte Allgemeinverbindlicherklärungen vielmehr damit, dass die von Art. 9 Abs. 3 GG intendierte autonome Ordnung des Arbeitslebens abgestützt werde, indem sie TVen zu größerer Durchsetzungskraft verhülfen und daneben den Außenseitern angemessene Arbeitsbedingungen sicherten8, und auch die Tariferstreckung ist gemäß § 1 AEntG auf die Herstellung gerade angemessener Mindestarbeitsbedingungen ausgerichtet.
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Zu erinnern ist indes daran, dass nach dem BVerfG das Ziel der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit Verfassungsrang hat und sich der Gesetzgeber dabei auf das Sozial-
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825 (828 ff.); Sansone/Ulber, AuR 2009, 125 (129); siehe auch Selmayr, ZfA 1996, 615 (838 f.); Strohmaier, RdA 1998, 339 ff.; Scholz, RdA 2001, 193 (197); Sittard, NZA 2007, 1090 ff.; Sittard, ZIP 2007, 1444 ff.; Hohenstatt/Schramm, NZA 2008, 433 ff.; Greiner, BB 2008, 840 ff.; Zipperling, BB 2008, 1790 ff.; Wank, FS Buchner, 2009, S. 898 (906 f.). Zu § 5 TVG n.F. Bepler in Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 70. Deutschen Juristentages, Bd. I, 2014, B 109 ff.; ferner Reichold, NJW 2014, 2534 (2536); Picker, RdA 2014, 25 (33); Henssler, RdA 2015, 43 (50 ff.). Höpfner, RdA 2015, 94 (98); siehe auch Greiner, FS v. Hoyningen-Huene, 2014, S. 103 (114). Lobinger, JZ 2014, 810 (817 f.); Picker, RdA 2014, 25 (34). Ausführlich dazu Forst, RdA 2015, 25 ff. Zur verfassungsrechtlichen Maßstabsbildung auch Sodan/Zimmermann, ZfA 2008, 526 (539 ff.); Sodan/Zimmermann, NJW 2009, 2001 (2003); Thüsing, ZfA 2008, 590 (603 ff.); ferner Kocher, NZA 2007, 600 (602); Giesen, ZfA 2008, 355 (373); Jacobs, GS Walz, 2008, S. 289 (294 f.); Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1221 f.); Sittard, NZA 2009, 346 (347 f., 350). BVerfG v. 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, BVerfGE 94, 268 (284); siehe auch Löwisch, RdA 2009, 215 (220). Siehe dazu aber auch Löwisch, RdA 2009, 215 (220); Waltermann, NJW 2010, 801 (803); kritisch Sodan/Zimmermann, ZfA 2008, 526 (548 ff.); Sodan/Zimmermann, NJW 2009, 2001 (2003); ferner Thüsing, ZfA 2008, 590 (605 ff.); Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1219); Wank, FS Buchner, 2009, S. 898 (904); Bieback, GS Zachert, 2010, S. 359 (361 f.). BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (344, 347 f.); ferner Greiner, FS v. Hoyningen-Huene, 2014, 109 (112 ff.), der es für einen Paradigmenwechsel hält, wenn die Allgemeinverbindlicherklärung zur Unterbindung von Gewerkschaftswettbewerb eingesetzt würde.
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Engels
Tarifvertrag und hçherrangiges Recht
Teil 1
staatsprinzip berufen kann1 und ferner Tariftreueklauseln unter Hinweis namentlich auf einen Verdrängungswettbewerb über die Lohnkosten gerechtfertigt wurden2. Geht man deswegen im Grundsatz von der Rechtfertigungsfähigkeit der Tariferstreckung selbst im Falle der Verdrängung konkurrierender TVe aus, dürfte für die Frage der Verhältnismäßigkeit maßgeblich sein, dass § 7 Abs. 1 AEntG einen begrenzten Günstigkeitsvergleich ermöglicht3. Dagegen lässt sich wohl auch nicht pauschal einwenden, die Tarifautonomie sei geeignet, interessengerechte und gemeinwohlverträgliche Kompromisse hervorzubringen4: § 7 Abs. 1 AEntG ermöglicht die branchenspezifische Steuerung5 und deswegen verhältnismäßige Reaktionsmöglichkeit auf Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen, die staatlichen Interessen zuwiderlaufen.
B. Tarifvertrag und höherrangiges Recht Literatur: Belling, Die Verantwortung des Staats für die Normsetzung durch die Tarifpartner, ZfA 1999, 547; Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, 2005; Burkiczak, Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien oder Relevanz grundrechtlicher Schutzpflichten – Erfurter Einerlei?, RdA 2007, 17; Butzer, Verfassungsrechtliche Grundlagen zum Verhältnis zwischen Gesetzgebungshoheit und Tarifautonomie, RdA 1994, 375; Canaris, Grundrechte und Privatrecht, AcP 184 (1984), 201; Coester, Vorrangprinzip des Tarifvertrags, 1974; Dieterich, Tarifautonomie und Gesetzgebung, 2003; Gornik, Grundrechtsbindung in der Rechtsprechung des BAG, NZA 2012, 1399; Henssler, Tarifautonomie und Gesetzgebung, ZfA 1998, 1; Höfling, Die Grundrechtsbindung der Staatsgewalt, JA 1995, 431; Höfling/Burkiczak, Die unmittelbare Drittwirkung gemäß Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG, RdA 2004, 263; Hopfner, Gesetzgebung und Tarifautonomie, 2009; Kirchhof, Private Rechtsetzung, 1987; Otto, Tarifautonomie unter Gesetzes- oder Verfassungsvorbehalt, in: Bettermann (Hrsg.), Festschrift für Albrecht Zeuner zum 70. Geburtstag, 1994, S. 121; Rüfner, Zur Gemeinwohlbindung der Tarifvertragsparteien, RdA 1985, 193; Rupp, Methodenkritische Bemerkungen zum Verhältnis von tarifvertraglicher Rechtsetzung und parlamentarischer Gesetzgebungskompetenz, JZ 1998, 919; Schnapp/Kaltenborn, Grundrechtsbindung nichtstaatlicher Institutionen, JuS 2000, 937; Schwarze, Die Grundrechtsbindung der Tarifnormen aus der Sicht grundrechtlicher Schutzpflichten, ZTR 1996, 11; Singer, Tarifvertragliche Normenkontrolle am Maßstab der Grundrechte?, ZfA 1995, 611; Steiner, Zum verfassungsrechtlichen Stellenwert der Tarifautonomie, in: Bauer (Hrsg.), Festschrift für Peter Schwerdtner zum 65. Geburtstag, 2003, S. 355; Thüsing, Tarifautonomie und Gemeinwohl, in: 1 BVerfG v. 27.4.1999 – 1 BvR 2203/93, 1 BvR 897/95, BVerfGE 100, 271 ff.; mit Blick auf die Neuregelung der Arbeitnehmerüberlassung (allerdings unter maßgeblichem Hinweis auf die Tariföffnung) ferner BVerfG v. 29.12.2004 – 1 BvR 2283/03, 1 BvR 2504/03, 1 BvR 2582/03, NZA 2005, 153 ff.; schließlich qualifiziert das BVerfG auch die finanzielle Stabilität des Systems der sozialen Sicherung als verfassungsrechtlich legitimierten Gemeinwohlbelang, siehe BVerfG v. 20.3.2007 – 1 BvR 1047/05, NZA 2007, 609 ff. 2 BVerfG v. 11.7.2206 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 (223) mit dem Hinweis, dass Tariftreueklauseln zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit beitragen und dem Schutz der Beschäftigung solcher Arbeitnehmer, die bei tarifgebundenen Unternehmen arbeiten, und damit auch der Erhaltung als wünschenswert angesehener sozialer Standards und der Entlastung der bei hoher Arbeitslosigkeit oder bei niedrigen Löhnen verstärkt in Anspruch genommenen Systeme der sozialen Sicherheit dienen. 3 Dazu Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1219 f.). 4 BVerfG v. 2.3.1993 – 1 BvR 1213/85, BVerfGE 88, 103 (114 f.); dazu auch Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1219); Sodan/Zimmermann, NJW 2009, 2001 (2004 f.); ferner Kocher, NZA 2007, 600 (601). 5 Siehe Preis/Greiner, ZfA 2009, 825 (835 f.); kritisch dazu Sodan/Zimmermann, NJW 2009, 2001 (2005); ähnlich Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1220); Sittard, NZA 2010, 1160 (1161 f.).
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Tarifvertrag und hçherrangiges Recht
Teil 1
staatsprinzip berufen kann1 und ferner Tariftreueklauseln unter Hinweis namentlich auf einen Verdrängungswettbewerb über die Lohnkosten gerechtfertigt wurden2. Geht man deswegen im Grundsatz von der Rechtfertigungsfähigkeit der Tariferstreckung selbst im Falle der Verdrängung konkurrierender TVe aus, dürfte für die Frage der Verhältnismäßigkeit maßgeblich sein, dass § 7 Abs. 1 AEntG einen begrenzten Günstigkeitsvergleich ermöglicht3. Dagegen lässt sich wohl auch nicht pauschal einwenden, die Tarifautonomie sei geeignet, interessengerechte und gemeinwohlverträgliche Kompromisse hervorzubringen4: § 7 Abs. 1 AEntG ermöglicht die branchenspezifische Steuerung5 und deswegen verhältnismäßige Reaktionsmöglichkeit auf Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen, die staatlichen Interessen zuwiderlaufen.
B. Tarifvertrag und höherrangiges Recht Literatur: Belling, Die Verantwortung des Staats für die Normsetzung durch die Tarifpartner, ZfA 1999, 547; Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, 2005; Burkiczak, Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien oder Relevanz grundrechtlicher Schutzpflichten – Erfurter Einerlei?, RdA 2007, 17; Butzer, Verfassungsrechtliche Grundlagen zum Verhältnis zwischen Gesetzgebungshoheit und Tarifautonomie, RdA 1994, 375; Canaris, Grundrechte und Privatrecht, AcP 184 (1984), 201; Coester, Vorrangprinzip des Tarifvertrags, 1974; Dieterich, Tarifautonomie und Gesetzgebung, 2003; Gornik, Grundrechtsbindung in der Rechtsprechung des BAG, NZA 2012, 1399; Henssler, Tarifautonomie und Gesetzgebung, ZfA 1998, 1; Höfling, Die Grundrechtsbindung der Staatsgewalt, JA 1995, 431; Höfling/Burkiczak, Die unmittelbare Drittwirkung gemäß Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG, RdA 2004, 263; Hopfner, Gesetzgebung und Tarifautonomie, 2009; Kirchhof, Private Rechtsetzung, 1987; Otto, Tarifautonomie unter Gesetzes- oder Verfassungsvorbehalt, in: Bettermann (Hrsg.), Festschrift für Albrecht Zeuner zum 70. Geburtstag, 1994, S. 121; Rüfner, Zur Gemeinwohlbindung der Tarifvertragsparteien, RdA 1985, 193; Rupp, Methodenkritische Bemerkungen zum Verhältnis von tarifvertraglicher Rechtsetzung und parlamentarischer Gesetzgebungskompetenz, JZ 1998, 919; Schnapp/Kaltenborn, Grundrechtsbindung nichtstaatlicher Institutionen, JuS 2000, 937; Schwarze, Die Grundrechtsbindung der Tarifnormen aus der Sicht grundrechtlicher Schutzpflichten, ZTR 1996, 11; Singer, Tarifvertragliche Normenkontrolle am Maßstab der Grundrechte?, ZfA 1995, 611; Steiner, Zum verfassungsrechtlichen Stellenwert der Tarifautonomie, in: Bauer (Hrsg.), Festschrift für Peter Schwerdtner zum 65. Geburtstag, 2003, S. 355; Thüsing, Tarifautonomie und Gemeinwohl, in: 1 BVerfG v. 27.4.1999 – 1 BvR 2203/93, 1 BvR 897/95, BVerfGE 100, 271 ff.; mit Blick auf die Neuregelung der Arbeitnehmerüberlassung (allerdings unter maßgeblichem Hinweis auf die Tariföffnung) ferner BVerfG v. 29.12.2004 – 1 BvR 2283/03, 1 BvR 2504/03, 1 BvR 2582/03, NZA 2005, 153 ff.; schließlich qualifiziert das BVerfG auch die finanzielle Stabilität des Systems der sozialen Sicherung als verfassungsrechtlich legitimierten Gemeinwohlbelang, siehe BVerfG v. 20.3.2007 – 1 BvR 1047/05, NZA 2007, 609 ff. 2 BVerfG v. 11.7.2206 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 (223) mit dem Hinweis, dass Tariftreueklauseln zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit beitragen und dem Schutz der Beschäftigung solcher Arbeitnehmer, die bei tarifgebundenen Unternehmen arbeiten, und damit auch der Erhaltung als wünschenswert angesehener sozialer Standards und der Entlastung der bei hoher Arbeitslosigkeit oder bei niedrigen Löhnen verstärkt in Anspruch genommenen Systeme der sozialen Sicherheit dienen. 3 Dazu Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1219 f.). 4 BVerfG v. 2.3.1993 – 1 BvR 1213/85, BVerfGE 88, 103 (114 f.); dazu auch Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1219); Sodan/Zimmermann, NJW 2009, 2001 (2004 f.); ferner Kocher, NZA 2007, 600 (601). 5 Siehe Preis/Greiner, ZfA 2009, 825 (835 f.); kritisch dazu Sodan/Zimmermann, NJW 2009, 2001 (2005); ähnlich Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1220); Sittard, NZA 2010, 1160 (1161 f.).
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Teil 1 Rz. 45
Grundlagen des Tarifvertragsrechts
Oetker (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, 2004, S. 889; Ulber, Tarifdispositives Gesetzesrecht im Spannungsfeld von Tarifautonomie und grundrechtlichen Schutzpflichten, 2010; Vossen, Tarifdispositives Richterrecht, 1974; Waltermann, Kollektivvertrag und Grundrechte, RdA 1990, 138; Waltermann, Zu den Grundlagen der Rechtsetzung durch Tarifvertrag, in: Köbler (Hrsg.), Europas universale rechtsordnungspolitische Aufgabe im Recht des dritten Jahrtausends, Festschrift für Alfred Söllner zum 70. Geburtstag, 2000, S. 1251; Waltermann, Zur Grundrechtsbindung der tarifvertraglichen Rechtsetzung, in: Oetker (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, 2004, S. 913; Wiedemann, Tarifautonomie und staatliches Gesetz, in: Fahrtmann (Hrsg.), Arbeitsgesetzgebung und Arbeitsrechtsprechung, Festschrift zum 70. Geburtstag von Eugen Stahlhacke, 1995, S. 675; Zachert, Elemente einer Dogmatik der Grundrechtsbindung der Tarifparteien, AuR 2002, 330.
I. Grundrechtsbindung 45
TVe enthalten gemäß § 1 Abs. 1 TVG Rechtsnormen, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen ordnen können. Generell-abstrakte Rechtsregeln in diesem Sinne sind nach Maßgabe des § 4 Abs. 1, 3 TVG grundsätzlich zwingend. Diese normative Wirkung von TVen führt zu Unsicherheiten im Spannungsfeld von TVen und höherrangigem Recht. Neben der Frage nach der Bindung der TV-Parteien an Grundsätze des Verfassungsrechts1 wirft namentlich Art. 1 Abs. 3 GG, der die Bindung von Gesetzgebung, vollziehender Gewalt und Rechtsprechung an die Grundrechte anordnet, im Kontext der Tarifautonomie die Frage nach der Grundrechtsbindung auch von TV-Parteien auf, die zur Rechtsetzung befugt sind2. Das BVerfG hat eindeutige Stellungnahmen zur Grundrechtsbindung der TV-Parteien bislang vermieden3. Die Diskussion wurde lange Zeit durch gegenläufige Argumentationen geprägt, die nahezu parallel zu der Grenze zwischen verfassungsrechtlicher und arbeitsrechtlicher Disziplin zu verlaufen schienen. Namentlich das BAG judizierte anfangs unter Bezugnahme auf die abwehrrechtliche Grundrechtsdimension4, dass auch TV-Parteien unmittelbar an die Grundrechte gebunden seien5. Zur Begründung stellte das BAG darauf ab, dass nach Art. 1 Abs. 3 GG die nachfolgenden Grundrechte auch die Gesetzgebung als unmittelbar geltendes Recht binden und TVe Gesetzgebung in diesem Sinne seien, nämlich Gesetze im materiellen Sinne, weil sie namentlich in ihren Arbeitsbedingungen objektives Recht für die Arbeitsverhältnisse der Beteiligten setzten6.
1 Siehe dazu etwa HWK/Henssler, Einl. TVG Rz. 18 ff.; ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 12. 2 Allgemein dazu Höfling in Sachs, Art. 1 GG Rz. 96 ff. 3 Siehe BVerfG (K) v. 21.5.1999 – 1 BvR 726/98, NZA 1999, 878 f.; ferner BVerfG v. 27.2.1973 – 2 BvL 27/69, BVerfGE 34, 307 (317); BVerfG v. 30.5.1990 – 1 BvL 2/83, 9, 10/84, 3/85, 11, 12, 13/89, 4/90, 1 BvR 764/86, BVerfGE 82, 126 (154); BVerfG v. 22.2.1994 – 1 BvL 21/85, 4/92, BVerfGE 90, 46 (58). 4 Siehe dazu auch Burkiczak, RdA 2007, 17 (17). 5 BAG v. 15.1.1955 – 1 AZR 305/54, BAGE 1, 258 (262); BAG v. 23.3.1957 – 1 AZR 326/56, BAGE 4, 240 (250 ff.); BAG v. 2.6.1961 – 1 AZR 573/59, BAGE 11, 135 (138); BAG v. 29.11.1967 – GS 1/67, BAGE 20, 175 (224); BAG v. 23.1.1992 – 2 AZR 470/91, BAGE 69, 257 (263 f.); BAG v. 7.3.1995 – 3 AZR 282/94, BAGE 79, 236 (242); siehe dazu Sodan, JZ 1998, 421 (425); ferner Belling, ZfA 1999, 547 ff. 6 BAG v. 15.1.1955 – 1 AZR 305/54, BAGE 1, 258 (262 f.); ausführlich dazu sowie zu weiteren Begründungsansätzen Jacobs in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 1 Rz. 55 ff.
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Engels
Tarifvertrag und hçherrangiges Recht
Rz. 47 Teil 1
Diese Sichtweise musste spätestens mit der Deutung der Tarifautonomie als kollek- 46 tiv ausgeübte Privatautonomie unter Druck geraten1 – und in der Tat zeigt die Rechtsprechung des BAG inzwischen ein uneinheitliches Bild: Vereinzelt betrachtete das BAG die Frage nach der Geltung der Grundrechte im Verhältnis zwischen den TVParteien und Arbeitsvertragsparteien (zutreffend) aus der Perspektive der grundrechtlichen Schutzpflichtendimension2. Andererseits erkannte das BAG mit Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG aber auch oftmals Besonderheiten, es handele sich – so das BAG – um ein fundamentales Rechtsprinzip, das für jeden Normgeber gelte3. An anderer Stelle judizierte das BAG, dass die Grundrechtsbindung der TV-Parteien nicht allgemeingültig festzustellen sei4. Schließlich stellte das BAG (wenig überzeugend aber gleichwohl zunehmend) darauf ab, dass dahinstehen könne, ob die Grundrechtsbindung der TV-Parteien aus der Perspektive der abwehrrechtlichen Grundrechtsdimension oder der Schutzpflichtendimension zu thematisieren sei, da die Prüfungsmaßstäbe ohnehin übereinstimmten5. Unzweifelhaft dürften Allgemeinverbindlicherklärungen nach § 5 TVG die Grund- 47 rechtsgeltung nach sich ziehen6. Gleiches soll nach dem BAG ganz grundsätzlich für tarifliche Betriebsnormen gelten, die Arbeitnehmer ungeachtet ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit betreffen: Die TV-Parteien griffen – so die Argumentation – ohne die Legitimation der Verbandszugehörigkeit in grundrechtlich geschützte Rechtspositionen ein, die es im Regelfall rechtfertige und gebiete, tarifliche Regelungen nicht der strengeren Kontrolle nach dem Übermaßverbot zu unterwerfen. Es sei vielmehr geboten, derartige Regelungen an demjenigen Prüfungsmaßstab zu messen, der auch für andere fremdbestimmende Normgeber gelte – den Maßstab der gebotenen gerichtlichen Inhaltskontrolle bilde daher nicht lediglich das aus den grundrechtlichen Schutzpflichten folgende Untermaßverbot, sondern wegen der Außenseiterwirkung von Betriebsnormen wie bei Regelungen des Gesetzgebers oder anderer fremdbestimmender Normgeber das Übermaßverbot. Demzufolge hätten die TV-Parteien zwar einen Gestaltungsfreiraum und eine Einschätzungsprärogative, sie müssten aber bei Eingriffen in grundrechtlich geschützte Freiheitsrechte den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und insbesondere den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG beachten. Von den TV-Parteien in Betriebsnormen getroffene, Arbeitnehmer in ihren Freiheitsrechten beschränkende Regelungen müssten somit geeignet, erforderlich und unter Berücksichtigung der gewährleisteten Freiheitsrechte angemessen sein, um den erstreb1 Auch das arbeitsrechtliche Schrifttum zieht deswegen mehr und mehr die grundrechtliche Schutzpflichtendimension heran, siehe Singer, ZfA 1995, 611 (626 ff.); Dieterich, FS Schaub, 1998, S. 117 (120 ff.); Schliemann, FS Hanau, 1999, S. 577 (583 ff.); Dieterich, FS Wiedemann, 2002, S. 229 (235 ff.). 2 BAG v. 25.2.1998 – 7 AZR 641/96, BAGE 88, 118 (123 f.); BAG v. 31.7.2002 – 7 AZR 140/01, BAGE 102, 65 (69); ferner BAG v. 27.5.2004 – 6 AZR 129/03, NZA 2004, 1399 (1402); BAG v. 25.8.2007 – 6 AZR 95/07, BAGE 124, 284 (292); BAG v. 22.4.2010 – 6 AZR 966/08, BAGE 134, 160 (167 f.). 3 BAG v. 4.4.2000 – 3 AZR 729/98, NZA 2002, 917 ff.; siehe auch BAG v. 18.10.2000 – 10 AZR 503/99, BAGE 96, 72 (75 f.). 4 BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 563/99, BAGE 95, 277 (282). 5 BAG v. 12.10.2004 – 3 AZR 571/03, NZA 2005, 1127 (1129); BAG v. 28.7.2005 – 3 AZR 14/05, NZA 2006, 335 (339); BAG v. 4.5.2010 – 9 AZR 184/09, BAGE 134, 202 (214). 6 Dazu BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (343, 346); BVerfG v. 15.7.1980 – 1 BvR 24/74, 1 BvR 439/79, BVerfGE 55, 7 (24 ff.); ferner Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1988, S. 1278 f.; Steiner, FS Schwerdtner, 2003, S. 355 (358); Höfling in Sachs, Art. 1 GG Rz. 100.
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Teil 1 Rz. 48
Grundlagen des Tarifvertragsrechts
ten Zweck zu erreichen. Mit Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG dürfe eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten zudem nicht anders behandelt werden, sofern zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestünden, dass sie die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen könnten1. 48
Jedenfalls abseits derartiger Besonderheiten (und unabhängig davon, ob die Rechtsprechung des BAG zu tariflichen Betriebsnormen zu überzeugen vermag) kann eine unmittelbare Grundrechtsbindung der TV-Parteien namentlich unter Hinweis auf die zwingende Wirkung von TVen nicht begründet werden2. Die Anordnung der unmittelbaren Grundrechtsbindung nach Art. 1 Abs. 3 GG und insbesondere der Begriff der Gesetzgebung betreffen nämlich allein staatliche Rechtssätze3. Der systematische Zusammenhang sowie die Bezugnahme auf vollziehende Gewalt und Rechtsprechung zeigen4, dass die Ausübung grundrechtlicher Freiheit nicht der Anordnung der Grundrechtsbindung nach Art. 1 Abs. 3 GG unterliegt. Deswegen vermag auch die Behauptung nicht zu überzeugen, die soziale Macht der Koalitionen bedinge eine analoge Anwendung des Art. 1 Abs. 3 GG5. Letztlich kommt auch ein differenzierender Problemlösungsansatz nicht in Betracht – Art. 1 Abs. 3 GG enthält vielmehr eine einheitliche Anordnung der Grundrechtsbindung6. Die Frage nach der Grundrechtsgeltung im Verhältnis zwischen den TV-Parteien und Arbeitsvertragsparteien muss deswegen vielmehr nach Maßgabe der Schutzpflichtendimension der Grundrechte beantwortet werden7. Fraglich bleibt dabei allein die Existenz einer solchen grundrechtlichen Schutzpflicht im Anwendungsbereich des Art. 3 GG8. Die Behauptung, die Prüfungsmaßstäbe der abwehrrechtlichen Grundrechtsdimension und der Schutzpflichtendimension der Grundrechte divergierten nicht, muss angesichts der strengen Exklusivität von Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtseingriff demgegenüber schließlich fehlgehen9. 1 Zum Ganzen BAG v. 8.12.2010 – 7 ABR 98/09, BAGE 136, 237 ff. mit dem Hinweis, personenbezogene Differenzierungen bedürften regelmäßig einer intensiveren Rechtfertigung als solche, die an personenunabhängige Umstände anknüpfen – der Gestaltungsspielraum sei dabei umso kleiner, je stärker sich die Ungleichbehandlung auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann; des Weiteren sei der allgemeine Gleichheitssatz gewahrt, wenn eine Regelung nach einem der in § 1 AGG genannten Merkmale differenziere und diese Differenzierung nach den im AGG genannten Voraussetzungen zulässig ist; ausführlich zur Rechtsprechung des BAG etwa Gornik, NZA 2012, 1399 ff. 2 Höfling in Sachs, Art. 1 GG Rz. 100; ferner Waltermann, RdA 1990, 138 (141, 144); Waltermann, FS Söllner, 2000, S. 1251 (1274); Waltermann, FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 913 ff. 3 Höfling in Sachs, Art. 1 GG Rz. 100, Art. 9 GG Rz. 97; Höfling, JA 1995, 431 (434 f.); Höfling/ Burkiczak, RdA 2004, 263 (264 f.); Herdegen in Maunz/Dürig, Art. 1 Abs. 3 GG (2005) Rz. 100; Cornils in Epping/Hillgruber, Art. 9 GG Rz. 62; ferner Canaris, AcP 184 (1984), 201 (243 f.); Schnapp/Kaltenborn, JuS 2000, 937 (941 f.). 4 Dazu Schnapp/Kaltenborn, JuS 2000, 937 (941 f.). 5 Schnapp/Kaltenborn, JuS 2000, 937 (942); siehe aber auch Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. I, S. 668 f. 6 Höfling in Sachs, Art. 1 GG Rz. 99. 7 Eingehend Burkiczak, RdA 2007, 17 ff.; siehe auch Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1988, S. 1277 f.; Steiner, FS Schwerdtner 2003, S. 355 (359 f.); Höfling in Sachs, Art. 1 GG Rz. 100; zum Ganzen Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 581 ff.; HWK/Hergenröder, Art. 9 GG Rz. 135 ff.; HWK/Henssler, Einl. TVG Rz. 16; ferner Schwarze, ZTR 1996, 1 ff.; Zachert, AuR 2002, 330 (331). 8 Siehe nur Burkiczak, RdA 2007, 17 (20 ff.). 9 Dazu Burkiczak, RdA 2007, 17 (18 ff.).
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Engels
Tarifvertrag und hçherrangiges Recht
Rz. 50 Teil 1
II. Gemeinwohlbindung Des Weiteren findet sich namentlich in der Rechtsprechung des BVerfG der Hinweis, 49 Koalitionen seien an das Gemeinwohl gebunden: Angesichts der deutlich interessengerichteten Tätigkeit und der Bedeutung dieser Tätigkeit für die gesamte Wirtschaft und des Einflusses auf weite Bereiche des öffentlichen Lebens müssten sie bei allen Aktivitäten das gemeine Wohl berücksichtigen.1 Während das BVerfG zunächst nicht präzisierte, ob die Gemeinwohlbindung eine faktische Obliegenheit2 oder eine ungeschriebene verfassungsrechtliche Grenze des Art. 9 Abs. 3 GG markiert3, stellte das BVerfG zuletzt (nur noch) darauf ab, dass die Koalitionsfreiheit jedenfalls zum Schutz von Gemeinwohlbelangen eingeschränkt werden könne, denen gleichermaßen verfassungsrechtlicher Rang gebührt4. Zu Recht: Schon aufgrund der Tatsache, dass eine Funktionalisierung der Koalitionsfreiheit Art. 9 Abs. 3 GG widerspricht5, kann jedenfalls eine der Ausübung der grundrechtlichen Freiheit immanente Gemeinwohlbindung nicht überzeugen6. Deswegen beschreibt die Judikatur des BVerfG, die (lediglich) auf die Möglichkeit der 50 Einschränkung der Koalitionsfreiheit durch kollidierendes Verfassungsrecht hinweist, die dogmatischen Kategorien zutreffend. Art. 9 Abs. 3 GG unterliegt allenfalls verfassungsimmanenten Vorbehalten, die eine Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit legitimieren7. Gleichwohl enthält das Gemeinwohl lediglich eine populäre Formulierung, der im Zusammenhang mit der Beschränkung der Koalitionsfreiheit kaum eine eigenständige Bedeutung zuwachsen kann8. Das Gemeinwohl bezeichnet nämlich lediglich einen vagen Begriff, der die Gefahr subjektiver Interpretation mit sich bringt9. Angesichts der Tatsache, dass Koalitions- und Gemeinwohlinteressen divergieren können10 und auch eine Interpretationshoheit der Koalitionen fehlgehen
1 BVerfG v. 18.12.1974 – 1 BvR 430/65, 1 BvR 259/66, BVerfGE 38, 281 (307); dazu auch Rüfner, RdA 1985, 193 ff.; Isensee in Freudenfeld (Hrsg.), Die Zukunft der sozialen Partnerschaft, 1986, S. 159 (177 ff.); Konzen, NZA 1995, 913 (914); Sodan, JZ 1998, 421 (425 f.); Thüsing, FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 889 ff. 2 Siehe Isensee in Freudenfeld (Hrsg.), Die Zukunft der sozialen Partnerschaft, 1986, S. 159 (179). 3 Kritisch dazu Steiner, FS Schwerdtner, 2003, S. 355 (359); zum Ganzen auch Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 127 f., 264 ff. 4 BVerfG v. 27.4.1999 – 1 BvR 2203/93, 1 BvR 897/95, BVerfGE 100, 271 (283); BVerfG v. 3.4.2001 – 1 BvL 32/97, BVerfGE 103, 293 (306); siehe dazu auch Otto, FS Zeuner, 1994, S. 121 (137 f.). 5 Nochmals Cornils, Ausgestaltung der Grundrechte, S. 406 ff.; Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 183. 6 Dietlein in Stern, Staatsrecht, Bd. IV/1, S. 2003 f.; Kemper in v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 GG Rz. 83; siehe auch Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 136; ferner Richardi, JZ 2011, 282 (287). 7 Siehe auch Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 266; ferner Scholz in Maunz/Dürig, Art. 9 GG (1999) Rz. 274. 8 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 266; siehe auch HWK/ Hergenröder, Art. 9 GG Rz. 142 f.; ferner Dieterich, Tarifautonomie und Gesetzgebung, S. 67 f. 9 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 265; ferner Scholz in Maunz/Dürig, Art. 9 GG (1999) Rz. 274; Thüsing, FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 889 (890). 10 Henssler, ZfA 1998, 1 (21).
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Teil 1 Rz. 51
Grundlagen des Tarifvertragsrechts
muss1, dürfte der Begriff des Gemeinwohls folglich kaum justiziabel sein2. Bedarf der Begriff des Gemeinwohls aber einer am Maßstab der Verfassung zu messenden Konkretisierung3, ist ein eigenständiger Bedeutungsgehalt nicht zu ermitteln4.
III. Bindung an europäisches Unionsrecht 51
Für das Recht der Europäischen Union hat der Europäische Gerichtshof unterschiedliche Bindungen der TV-Parteien aufgezeigt5. Ganz grundsätzlich dürfte eine wesentliche Weichenstellung darin zu sehen sein, dass TVe – sofern man diese mit dem BAG als kollektiv ausgeübte Privatautonomie versteht – nicht unmittelbar dem europäischen Recht verpflichtet sein können. Etwas anderes gilt hingegen für Allgemeinverbindlicherklärungen nach § 5 TVG6. Sodann ist weiter zu differenzieren: Verordnungen haben gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV allgemeine Geltung und sind unmittelbar verbindlich7; im Gegensatz dazu scheint eine unmittelbare Geltung des europäischen Primärrechts kaum möglich und auch Richtlinien richten sich nach Art. 288 Abs. 3 AEUV auf den ersten Blick nur an die Mitgliedstaaten8.
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Gleichwohl hat der Europäische Gerichtshof eine unmittelbare Geltung der Grundfreiheiten für „Regelwerke […], die unselbständige und selbständige Tätigkeiten bzw. Dienstleistungen kollektiv regeln“, grundsätzlich anerkannt9. Namentlich mit Blick auf Art. 45 AEUV geht der Europäische Gerichtshof deswegen davon aus, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit sowohl in Gestalt ihres Beschränkungs- als auch Diskriminierungsverbotes auch gegenüber TVen gilt10. In den Entscheidungen Viking-Line11 und Laval12 statuierte der Europäische Gerichtshof ferner, dass die TV-Parteien an die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) sowie die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) gebunden sind: Arbeitskampfmaßnahmen könnten – so der Europäische Gerichtshof – die Grundfreiheiten beeinträchtigen. Dem stehe auch nicht die fehlende Zuständigkeit der Europäischen Union für das kollektive Arbeitsrecht entgegen, da 1 Butzer, RdA 1994, 375 (382); Thüsing, FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 889 (894); ferner Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 217 ff.; Scholz in Maunz/Dürig, Art. 9 GG (1999) Rz. 274; zum Ganzen auch Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 265. 2 Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 265; siehe auch Junker, ZfA 1996, 383 (392). 3 Scholz in Maunz/Dürig, Art. 9 GG (1999) Rz. 274; Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 98 ff.; siehe auch Picker, ZfA 1986, 199 (217 ff.). 4 Ausführlich Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, S. 265 f.; ähnlich wohl ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 81. 5 Ausführlich Krause in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert § 1 Rz. 160 ff. 6 Däubler/Schiek, TVG, Einleitung, Rz. 369; Schaub, FS Wißmann, 2005, S. 578 (581 f.). 7 Siehe dazu auch Wiedemann/Thüsing, Einleitung, Rz. 119. 8 Krause in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 1 Rz. 160. 9 Grundlegend EuGH v. 12.12.1974 – Rs. 36/74, Slg. 1974, 1405 ff.; dazu Thüsing/Braun/Thüsing, Einleitung, Rz. 41 ff.; ferner Wiedemann/Thüsing, Einleitung, Rz. 119 ff.; Däubler/ Schiek, TVG, Einleitung, Rz. 367 ff. 10 Grundlegend dazu EuGH v. 15.12.1995 – C-415/93, Slg. 1995, I-4921 ff.; ferner EuGH v. 16.3.2010 – C-325/08, Slg. 2010, I-2177 ff.; ausführlich dazu Krause in Jacobs/Krause/Oetker/ Schubert, § 1 Rz. 161 ff. 11 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779 ff. 12 EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05, Slg. 2007, I-11767 ff.
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Tarifvertrag und hçherrangiges Recht
Rz. 53 Teil 1
Art. 153 Abs. 5 AEUV, der das kollektive Arbeitsrecht von der Rechtsetzungskompetenz des Art. 153 AEUV ausnimmt, nicht den Anwendungsbereich des sonstigen europäischen Gemeinschaftsrechts bestimme1. Diskriminierungsverbote binden nach dem Europäischen Gerichtshof ebenfalls die TV-Parteien. Namentlich der Grundsatz der Entgeltgleichheit gemäß Art. 157 AEUV gilt danach für die TV-Parteien unmittelbar2 – was angesichts des Verbotes auch mittelbarer Diskriminierung von besonderer Bedeutung ist3. Mangels einschlägiger Rechtsprechung umstritten ist demgegenüber die unmittelbare Bindung der TV-Parteien an europäische Grundrechte sowie allgemeine Grundsätze des Unionsrechts4. Keine Anwendung auf TVe findet nach dem Europäischen Gerichtshof schließlich das Kartellverbot nach Art. 101 AEUV, Gleiches soll auch für Art. 102 AEUV gelten5. Des Weiteren scheinen nach der Rechtsprechung ungeachtet der Regelung des 53 Art. 288 Abs. 3 AEUV auch Richtlinien die TV-Parteien unmittelbar binden zu können: Nach dem BAG gilt nämlich jedenfalls im Verhältnis zwischen öffentlichen Arbeitgebern und ihren Arbeitnehmern, dass zu Gunsten der Arbeitnehmer Richtlinien nach allgemeinem Verständnis unmittelbare Rechte und Pflichten erzeugen können und anstelle tarifvertraglicher Regelungen, die eine mit einer Richtlinie unvereinbare Diskriminierung vorsehen, Richtlinien zu Gunsten der benachteiligten Gruppe unmittelbar anzuwenden sind, ohne dass die Beseitigung der Diskriminierung durch die Tarifvertragsparteien abgewartet werden muss6. Im Übrigen wird dagegen eine Bindung der TV-Parteien an Richtlinien verneint7 – obschon der Europäische Gerichtshof erkennen lässt, dass auch Richtlinien für die TV-Parteien zumindest Bedeutung erlangen können: Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs muss nämlich das Recht auf Kollektivverhandlungen im Geltungsbereich des Unionsrechts im Einklang mit eben diesem Unionsrecht ausgeübt werden. Wenn TV-Parteien Maßnahmen treffen, die etwa in den Geltungsbereich der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie fallen, die das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters konkretisiert, müssten sie – so der Europäische Gerichtshof weiter – daher unter Beachtung dieser Richtlinie vorgehen8. Geschehe dies nicht, sollen nach dem Europäischen Gerichtshof Bestimmungen einer Richtlinie, die inhaltlich als unbedingt und hinreichend ge1 Zum Ganzen Thüsing/Braun/Thüsing, Einleitung, Rz. 41 ff.; ferner Joussen, ZESAR 2008, 333 ff.; Junker, SAE 2008, 209 ff.; Schubert, RdA 2008, 289 ff.; Engels, ZESAR 2008, 475 ff.; Franzen, FS Buchner, 2009, S. 231 ff. 2 Grundlegend EuGH v. 8.4.1976 – 43/75, NJW 1976, 2068 ff. 3 Zur Judikatur des Europäischen Gerichtshofes Wiedemann/Thüsing, Einleitung, Rz. 123, 130 ff.; Däubler/Schiek, TVG, Einleitung, Rz. 372, 395 ff.; eingehend Krause in Jacobs/Krause/ Oetker/Schubert, § 1 Rz. 166 ff. 4 Allgemein dazu Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 590 ff.; Krause in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 1 Rz. 164 f.; mit Blick auf den allgemeinen europarechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz Thüsing/Braun/Thüsing, Einleitung, Rz. 45; Wiedemann/Thüsing, Einleitung, Rz. 129; Däubler/Schiek, TVG, 2006, Einleitung, Rz. 394. 5 Grundlegend EuGH v. 21.9.1999 – C-67/96, Slg. 1999, I-5863 ff.; siehe dazu Thüsing/Braun/ Thüsing, Einleitung, Rz. 47 ff.; Krause in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 1 Rz. 175 f. 6 BAG v. 16.6.2005 – 6 AZR 108/01, BAGE 115, 113 (118); siehe auch schon Schliemann, FS Hanau, 1999, S. 577 (582). 7 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 529 ff.; Däubler/Schiek, TVG, Einleitung, Rz. 384 ff.; Krause in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 1 Rz. 173; ferner Schliemann, FS Hanau, 1999, S. 577 (581 f.). 8 EuGH v. 13.9.2011 – C-447/09, Slg. 2011, I-8003 ff.; EuGH v. 8.9.2011 – C-297/10, C-298/10, Slg. 2011, I-7965 ff.
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Teil 1 Rz. 54
Grundlagen des Tarifvertragsrechts
nau erscheinen, vom Einzelnen vor den nationalen Gerichten dem Mitgliedstaat gegenüber geltend gemacht werden können1. Unabhängig davon, ob die vom Europäischen Gerichtshof ins Spiel gebrachte Geltendmachung gegenüber dem Mitgliedstaat nun eine unmittelbar Bindung der TV-Parteien an Richtlinien ausklammert, können sich Beschränkungen der Gestaltungsmacht der TV-Parteien schließlich auch aus einer richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts ergeben2; unsicher scheint demgegenüber eine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung von TVen selbst3.
IV. Normsetzungsmonopol der Koalitionen? 54
Angesichts der zwingenden Wirkung von TVen gemäß § 4 Abs. 1 TVG sind schließlich Kollisionen zwischen tarifvertraglicher und staatlicher Normsetzung unvermeidbar4. Unbestreitbar ist schon aus Gründen der Normenhierarchie allerdings, dass TVe einer Rechtskontrolle am Maßstab des zwingenden Gesetzesrechts unterworfen sind5. Die aus Art. 9 Abs. 3 GG zu deduzierenden Grenzen staatlicher Normsetzung beschreibt diese Feststellung indes nicht – die Frage nach einem Normsetzungsmonopol der TV-Parteien lässt sich vielmehr aus unterschiedlichen Perspektiven stellen: Zunächst ist – worauf das BAG zutreffend hingewiesen hat – die Macht der TV-Parteien zur Normsetzung auf ihre Mitglieder begrenzen. Aber auch mit Blick auf diese Mitglieder verdrängen TVe die individuelle Privatautonomie nicht vollumfänglich: Bei der Bestimmung der eigenen Arbeitsbedingungen bleibe – so das BAG weiter – auch dem tarifgebundenen Arbeitnehmer ein privatautonomer Gestaltungsspielraum. Der Arbeitsvertragsfreiheit werde über das Günstigkeitsprinzip nach § 4 Abs. 3 TVG ein Vorrang eingeräumt, der eine formelle Schranke der tariflichen Regelungsmacht bilde. Deswegen sei es den TV-Parteien auch unter dem Gesichtspunkt der Tarifautonomie im Grundsatz verwehrt, Arbeitsbedingungen tariflich zu vereinbaren, die eine Verkürzung individualvertraglich begründeter Rechte bedeuten6.
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Zum Verhältnis von tarifvertraglicher und staatlicher Normsetzung finden sich auch Stellungnahmen des BVerfG – dessen Grundaussage dabei lautet, dass staatliche Regelungsbefugnisse im Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen weit zurückgenommen worden seien und Art. 9 Abs. 3 GG die Befugnis der Koalitionen, Rechtsregeln zu setzen und wieder aufzuheben, anerkannt habe7. Den Koalitionen stehe – so die Schlussfolgerung des BVerfG – daher eine Normsetzungsprärogative zu, die allerdings nicht schrankenlos gelte. Der subsidiär für die Ordnung des Arbeitslebens zuständige Gesetzgeber sei aufgerufen, eine Betätigungsgarantie der Koalitionen un-
1 EuGH v. 20.3.2003 – C-187/00, Slg. 2003, I-2741 ff. 2 Siehe dazu BAG v. 24.1.2006 – 1 ABR 6/05, BAGE 117, 27 (32 ff.). 3 Dazu Krause in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 1 Rz. 174; ferner Wißmann, FS Bepler, 2012, 649 ff. 4 Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 147 ff.; siehe dazu auch Schwarze, ZfA 2011, 867 ff. 5 Wiedemann in Wiedemann, TVG, Einl. Rz. 354; HWK/Henssler, Einl. TVG Rz. 22 ff.; Däubler/ Schiek, TVG, Einleitung, Rz. 309. 6 Mit Blick auf die Unzulässigkeit sog. Spannenklauseln BAG v. 18.8.1971 – 4 AZR 342/70, BAGE 23, 399 (404 f.); BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, BAGE 137, 231 (241 f.). 7 BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (349).
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Tarifvertrag und hçherrangiges Recht
Rz. 57 Teil 1
ter Berücksichtigung des Kernbereichs der Koalitionsfreiheit zu normieren1. Die subsidiäre Regelungszuständigkeit des Gesetzgebers lebe folglich auf, wenn die Koalitionen die Aufgabe einer sinnvollen Ordnung des Arbeitslebens im Einzelfall nicht erfüllen und die soziale Schutzbedürftigkeit einzelner Arbeitnehmer(gruppen) oder ein anderes öffentliches Interesse ein gesetzliches Einschreiten erforderlich machten2. Während diese Konzeption noch unverkennbare Bezüge zur Kernbereichsdoktrin auf- 56 weist, formulierte das BVerfG nach deren Relativierung, dass jede gesetzliche Regelung auf dem Gebiet der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, die einen Gegenstand betreffe, der herkömmlicherweise tariflich geregelt wird, einen Eingriff in Art. 9 Abs. 3 GG darstelle3. Da Art. 9 Abs. 3 GG schon in Anbetracht von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG indes kein Normsetzungsmonopol verleihe, komme eine gesetzliche Regelung demzufolge in Betracht, wenn der Gesetzgeber auf Grundrechte Dritter oder andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtsgüter verweisen könne und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahre4. Die Wirkkraft von Art. 9 Abs. 3 GG nehme – so das BVerfG – dabei in dem Maße zu, in dem eine Materie aus Sachgründen am besten von den TV-Parteien geregelt werden könne; dies gelte vor allem für die Festsetzung der Löhne und anderer materieller Arbeitsbedingungen5. Deswegen genieße die Tarifautonomie in Bereichen, in denen die Koalitionen regelmäßig tätig werden, grundsätzlich einen stärkeren Schutz als in Bereichen, die die Koalitionen üblicherweise ungeregelt lassen – was zugleich erhöhte Anforderungen an das Gewicht der Gründe stelle, die eine Beeinträchtigung der Tarifautonomie rechtfertigen sollen6. Als Rechtfertigungsgründe in diesem Sinne hat das BVerfG etwa die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit7 sowie die Stabilität der sozialen Sicherungssysteme anerkannt8. Schließlich wirken sich gesetzliche Regelungen nach dem BVerfG auf die Tarifautonomie allerdings nicht übermäßig belastend aus, sofern der Gesetzgeber Tariföffnungsklauseln vorsieht und deswegen die Betätigungsmöglichkeiten der TV-Parteien nicht einschränkt9. Grundrechtsdogmatisch vermag diese Sichtweise nicht vollumfänglich zu überzeu- 57 gen. Zunächst kann die Behauptung einer Kompetenzverschiebung zugunsten der Koalitionen, die jegliche konkurrierende staatliche Normsetzung im Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen als Grundrechtseingriff qualifiziert10, schon vor dem Hintergrund des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG als fehlgehend identifiziert werden11. Des Weiteren lässt auch die Annahme, die Tarifautonomie impliziere einen Vorrang
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BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (341 f.). BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (342). BVerfG v. 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, BVerfGE 94, 268 (283). BVerfG v. 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, BVerfGE 94, 268 (284). BVerfG v. 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, BVerfGE 94, 268 (285). BVerfG v. 3.4.2001 – 1 BvL 32/97, BVerfGE 103, 293 (306). BVerfG v. 27.4.1999 – 1 BvR 2203/93, 897/95, BVerfGE 100, 271 (284). BVerfG v. 3.4.2001 – 1 BvL 32/97, BVerfGE 103, 293 (306). BVerfG v. 29.12.2004 – 1 BvR 2283, 2504, 2582/03, NZA 2005, 153 (154). Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 152 ff. Zur Bedeutung von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG auch Wiedemann, FS Stahlhacke, 1995, S. 675 (687); Rupp, JZ 1998, 919 (922); Dietlein in Stern, Staatsrecht, Bd. IV/1, S. 2006; Buschmann, FS Richardi, 2007, S. 93 (103).
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Grundlagen des Tarifvertragsrechts
tarifvertraglicher Normsetzung1, der jedenfalls die Formulierung zwingender Regelungen auf dem Gebiet der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen als Grundrechtseingriff identifiziert2, die Unterscheidung von Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtseingriff unberücksichtigt; Gleiches dürfte auch für die Auffassung gelten, dass der Gesetzgeber aus Gründen der Verhältnismäßigkeit als mildere Einschränkung der Tarifautonomie tarifdispositives Recht wählen müsse3. Da die Tarifautonomie lediglich als normgeprägte Freiheit qualifiziert werden kann, sind tarifvertragliche und staatliche Normsetzung gewissermaßen nicht gleichwertig4, bedarf die tarifvertragliche Normsetzung doch einer Begründung durch einfachgesetzliche Vorschriften. Deswegen geht auch die Annahme fehl, dass staatliche Normsetzung ein Versagen5 der tarifvertraglichen Normsetzung6 voraussetzt7. Vielmehr sind staatliche Rechtssätze auf dem Gebiet der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, die den Gestaltungsspielraum der Koalitionen begrenzen, grundsätzlich als Grundrechtsausgestaltung zu qualifizieren, die die Tarifautonomie im grundrechtsdogmatischen Sinne nicht beschränken, sondern den Anwendungsbereich tarifvertraglicher Normsetzung erst definieren8. Angesichts der Geltung des Untermaßverbotes unterliegt die Bestimmung der inhaltlichen Reichweite tarifvertraglicher Normsetzung folglich einem weiten Gestaltungsspielraum9 und stößt allenfalls auf durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken, wenn ein aus Gründen der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie erforderlicher Mindeststandard der Gestaltungskompetenzen der Koalitionen unterschritten wird10. 1 Coester, Vorrangprinzip des Tarifvertrags, passim; Otto, FS Zeuner, 1994, S. 121 (137 ff.); Waltermann, ZfA 2000, 53 (62); Dietlein in Stern, Staatsrecht, Bd. IV/1, S. 2006; Neumann, RdA 2007, 71 (72); ähnlich auch Rüfner, RdA 1985, 193 (195); ferner Vossen, Tarifdispositives Richterrecht, 1974, S. 55, die eine Vorrangrelation lediglich auf die Lohnfindung erstrecken; zum Ganzen Ulber, Tarifdispositives Gesetzesrecht, S. 92 ff. 2 Siehe Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, 1969, S. 55 ff.; Säcker, ArbuR 1994, 1 (7); Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, 2005, S. 348 ff.; ferner Wiedemann, FS Stahlhacke, 1995, S. 675 (685 ff.) mit dem Hinweis, eigene Regelungen von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch den Staat, durch welche die Tarifautonomie eingeschränkt oder partiell sogar völlig verdrängt werde, seien als Eingriff zu qualifizieren. 3 Dazu aber auch Löwisch/Rieble, Grundl. Rz. 171; ferner Bock, Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie, 2005, S. 348 ff. 4 Dazu Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, 2000, S. 255 f.; ähnlich auch Scholz in Maunz/Dürig, Art. 9 GG (1999) Rz. 259. 5 Auch eine Verpflichtung zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen kann Art. 9 Abs. 3 GG kaum abgewonnen werden, hat doch namentlich das BVerfG die Zulässigkeit von Tariföffnungsklauseln anerkannt, siehe BVerfG (K) v. 29.6.1993 – 1 BvR 1916/91, NZA 1994, 34; dazu Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 93. 6 Im Kontext des Diskurses über Mindestlöhne dazu aber Thüsing, ZfA 2008, 590 (608); siehe auch Rieble/Klebeck, ZIP 2006, 829 (831); Jacobs, GS Walz, 2008, S. 289 (294). 7 Mit Blick auf Mindestlöhne auch Preis/Greiner, ZfA 2009, 825 (837). 8 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, 2000, S. 161 ff.; siehe dazu auch Wiedemann, FS Stahlhacke, 1995, S. 675 (691); Oetker, ZG 1998, 155 (166); Buschmann, FS Richardi, 2007, S. 93 (102); kritisch Hopfner, Gesetzgebung und Tarifautonomie, S. 139 ff. 9 Auch das BVerfG respektiert einen weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, siehe BVerfG v. 3.4.2001 – 1 BvL 32/97, BVerfGE 103, 293 (307); mit Blick auf Art. 12 GG auch BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 (224); siehe dazu ferner Cornils in Epping/ Hillgruber, Art. 9 GG Rz. 91. 10 Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 122 f.; ähnlich auch Butzer, RdA 1994, 375 (377); Wiedemann, FS Stahlhacke, 1995, S. 675 (691); Oetker, ZfA 2001, 288 (309); anders Rieble, ZfA 2005, 245 (255).
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Teil 2 Tarifvertragsparteien Rz.
Rz. A. Grundlagen des Verbandsrechts I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gründung und Auflösung des Verbandes 1. Verbandsgründung. . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verbandsauflösung . . . . . . . . . . . . . . .
1
9 18
III. Die Mitgliedschaft. . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Geschäftsführung und Vertretung. . .
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V. Haftung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Tariffähigkeit I. Allgemeine Grundsätze der Tariffähigkeit 1. Einführung und systematische Grundlagen a) Regelungszweck . . . . . . . . . . . . . . . b) Marktfreiheit oder staatliche Regulierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verfassungsrechtliche Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Voraussetzungen der Tariffähigkeit von Arbeitnehmerkoalitionen . . . . . . a) Koalitionsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . b) Weitere Anforderungen auf einfachrechtlicher Ebene. . . . . . . . . . . aa) Tarifwilligkeit. . . . . . . . . . . . . . bb) Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler (1) Zugangskontrolle als legitime ordnungspolitische Ausgestaltung. . . . . . . . . . . . . . (2) Ausgangspunkt: Arbeitskampfbereitschaft und -fähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Koalitionsmittelfreiheit . . . . . (4) Rechtsprechungsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Prüfung der Durchsetzungsfähigkeit seit dem CGMBeschluss. . . . . . . . . . . . . . . . . . (6) GKH-Beschluss. . . . . . . . . . . . . (7) Besondere Arbeitskampffähigkeit, Spezialistengewerkschaften . . . . . . . . . . . . . . cc) Organisatorische Leistungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33 37 41 45 47 52 53
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58 59 60
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dd) Anerkennung des geltenden Tarifrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Demokratische Binnenorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) „Relative“ und „absolute“ Tariffähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Verfassungsrechtliche Bewertung nach CGM- und GKHBeschluss des BAG . . . . . . . . . . . . . 3. Voraussetzungen der Tariffähigkeit auf Arbeitgeberseite . . . . . . . . . . . . . . a) Tariffähigkeit einzelner Arbeitgeber aa) Arbeitgeberbegriff. . . . . . . . . . . bb) Soziale Mächtigkeit? . . . . . . . . cc) Verlust der Tariffähigkeit durch Verbandsbeitritt? . . . . . . b) Tariffähigkeit der Arbeitgeberverbände aa) Koalitionsbegriff (1) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . (2) Insbesondere: demokratische Binnenstruktur . . . . . . . . . . . . . bb) Überbetrieblichkeit . . . . . . . . . cc) Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . dd) Tarifwilligkeit. . . . . . . . . . . . . . ee) Kein Mächtigkeitserfordernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Weitere tariffähige Akteure auf Arbeitgeberseite . . . . . . . . . . . . . . . 4. Folgen des Entfalls der Tariffähigkeit a) Tatbestandliche Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Verfahren zur gerichtlichen Feststellung der Tariffähigkeit . . . . . . . . . II. Sonderkonstellationen 1. OT-Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . . a) OT-Mitgliedschaft im Aufteilungs- und Stufenmodell . . . . . . . . b) OT-Mitgliedschaft und Gastmitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) OT-Mitgliedschaft als Problem der Tarifgebundenheit . . . . . . . . . . d) Anforderungen an die Zulässigkeit der OT-Mitgliedschaft . . . . . . e) Rechtsfolgen einer unzulässigen Satzungsgestaltung . . . . . . . . . . . . .
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Teil 2
Tarifvertragsparteien Rz.
Rz. f) Voraussetzungen und Rechtsfolgen des Wechsels in die OTMitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Transparenzanforderungen und „Blitzwechsel“ . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Tarifgemeinschaft a) Grundlagen und Begriff der Tarifgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Tarifgemeinschaft und mehrgliedriger TV . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Tariffähigkeit der Tarifgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Tarifzuständigkeit der Tarifgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Tarifgemeinschaft als Tarifpartei . 3. Tariffähigkeit von Spitzenorganisationen a) Begriff und tarifliche Wirkungsmöglichkeiten der Spitzenorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Voraussetzung: Tariffähigkeit der Mitgliedskoalitionen . . . . . . . . c) Prinzip der Zuständigkeitskongruenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Keine Überschreitung der Tarifzuständigkeiten . . . . . . . . bb) Kein Zurückbleiben hinter den Tarifzuständigkeiten. . . . . cc) Praktische Konsequenzen . . . .
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178 182 188 190 191
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C. Tarifzuständigkeit I. 1. 2. 3. 4.
Begriff der Tarifzuständigkeit Definition. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ermittlung der Tarifzuständigkeit. . . Abgrenzung der Tarifzuständigkeit von der Tariffähigkeit . . . . . . . . . . . . .
204 206 209 211
II. Festlegung der Tarifzuständigkeit 1. Regelung durch Satzung bei Verbänden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 2. Regelung bei Spitzenorganisationen und Tarifgemeinschaften . . . . . . . . . . 215 3. Regelung bei einzelnen Arbeitgebern und Gewerkschaften . . . . . . . . . 217 III. Inhaltliche Freiheiten und Begrenzungen der Zuständigkeitsregelung in der Verbandssatzung 1. Räumliche Zuständigkeit. . . . . . . . . . 219 2. Fachliche Zuständigkeit . . . . . . . . . . . 221 a) Industrieverbandsprinzip . . . . . . . . 222 b) Berufsverbandsprinzip . . . . . . . . . . 227 3. Sachliche Zuständigkeit . . . . . . . . . . . 228 4. Personelle Zuständigkeit . . . . . . . . . . 229 5. Einfluss des Tarifeinheitsgesetzes auf die Tarifzuständigkeit. . . . . . . . . 232b IV. Tarifzuständigkeit als Wirksamkeitsvoraussetzung des Tarifvertrages 1. Korrespondierende Tarifzuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Fehlen der korrespondierenden Tarifzuständigkeit a) Anfängliches Fehlen der Tarifzuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Nachträglicher Wegfall der Tarifzuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Konsequenzen für das Arbeitskampfrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Flucht aus dem Tarifvertrag über die Tarifzuständigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . 240 VI. Feststellung der Tarifzuständigkeit 1. Gerichtliche Klärung. . . . . . . . . . . . . . 242 2. Verbandsinterne Klärung . . . . . . . . . . 247
A. Grundlagen des Verbandsrechts Literatur: Bauer, Informationsobliegenheiten bei „Blitzaustritt“ und „Blitzwechsel“, in: Festschrift Picker, 2010, S. 889; Bauer/Haußmann, Blitzaustritt und Blitzwechsel: Wirksam, aber ohne Wirkung?, RdA 2009, 99; Bepler, Stärkung der Tarifautonomie – Welche Änderungen des Tarifvertragsrechts empfehlen sich?, in: Verhandlungen des 70. DJT Hannover, Band I, 2014; Bergmann, Die fremdorganschaftlich verfaßte offene Handelsgesellschaft, Kommanditgesellschaft und BGB-Gesellschaft als Problem des allgemeinen Verbandsrechts, 2002; Beuthien, Die Vorgesellschaft im Privatrechtssystem, ZIP 1996, 360; Blomeyer, Die Wirkung der Verbandsauflösung auf den geltenden Tarifvertrag, SAE 1972, 109; Buchner, Die tarifrechtliche Situation bei Verbandsaustritt und bei Auflösung eines Arbeitgeberverbandes, RdA 1997, 259; Fischer, Nachwirkung von Tarifnormen (§ 4 Abs. 5 TVG), 2009; Grunewald, Die Auslegung von Gesellschaftsverträgen und Satzungen, ZGR 1995, 68; Hager, Gesetzes- und sittenkonforme Auslegung und Aufrechterhaltung von Rechtsgeschäften, 1983; Heinz, Tarifgeltung ohne Mitgliedschaft, 2014; Hensche, Verfassungsrechtlich bedenkliche Neujustierung des Verhältnisses zwischen Indivi-
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Grundlagen des Verbandsrechts
Rz. 1 Teil 2
dualwille und kollektiver Ordnung, NZA 2009, 815; Henssler, Ende der Tarifeinheit – Eckdaten eines neuen Arbeitskampfrechts, RdA 2011, 65; Henssler, Nachbindung und Nachwirkung, in: Festschrift Picker, 2010, S. 987; Höpfner, Anm. AP TVG § 3 Nr. 36; Höpfner, Blitzaustritt und Blitzwechsel in die OT-Mitgliedschaft, ZfA 2009, 541; Höpfner, Die unbegrenzte Nachbindung an Tarifverträge, NJW 2010, 2173; Höpfner, Normativer und schuldrechtlicher Konzerntarifvertrag – Gestaltungsformen einer konzerneinheitlichen Tarifbindung, in: Rieble/Junker/Giesen (Hrsg.), Arbeitsrecht im Konzern, 2010, S. 113; Jacobs/Krois, Anm. AP TVG § 3 Nr. 38; Jacobs/Krois, Das Zusammenspiel von Tarif- und Satzungsautonomie bei Blitzaustritt und Blitzwechsel, in: Festschrift Reuter, 2010, S. 555; Kempen/Lörcher/Platow/Tiefenbacher/Trümner, JbArbR, Bd. 39 (2002), S. 65; Kertess, Die Haftung des für einen nichtrechtsfähigen Verein Handelnden gem. § 54 S. 2 BGB, 1982; Konzen, Blitzaustritt und Blitzwechsel. Vereins- und koalitionsrechtliche Aspekte der Flucht des Arbeitgebers aus dem Verbandstarif, in: Festschrift Bauer, 2010, S. 559; Krause, „Blitzaustritt“ und „Blitzwechsel“ von Arbeitgebern als Herausforderung des Tarifrechts, in: Gedächtnisschrift Zachert, 2010, S. 605; Kübler/Assmann, Gesellschaftsrecht, 6. Aufl. 2006; Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, Band II/2, Besonderer Teil, 1994; Lobinger, EuGH zur dynamischen Bezugnahme von Tarifverträgen beim Betriebsübergang, NZA 2013, 945; Lutter, Theorie der Mitgliedschaft, AcP 180 (1980), 84; Martinek, Repräsentantenhaftung, 1979; Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Band I, 1899; Niklisch, Gesetzliche Anerkennung und Kontrolle von Verbandsmacht – Zur rechtspolitischen Diskussion um ein Verbandsgesetz, in: Festschrift Schiedermair, 1976, S. 459; Oetker, Kündigungsfristen in den Satzungen von Arbeitgeberverbänden, DZWiR 2015, 47; Ch. Picker, Niedriglohn und Mindestlohn, RdA 2014, 25; E. Picker, Arbeitnehmerüberlassung – Eine moderne Personalwirtschaftsform als Mittel arbeitsrechtlicher Modernisierung –, ZfA 2002, 469; Potthoff, Freie Gewerkschaften 1918–1933. Der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund in der Weimarer Republik, 1987; Reichert, Handbuch Vereins- und Verbandsrecht, 12. Aufl. 2010; Reichold, Stärkung in Tiefe und Breite – wie viel Staat verkraftet die Tarifautonomie?, NJW 2014, 2534; Ricken, Neues zur Tarifzuständigkeit?, RdA 2007, 35; Rieble, Konzerntarifvertrag (Teil I), Der Konzern 2005, 475; Rieble, Richterliche Gesetzesbindung und BVerfG, NJW 2011, 819; Rüthers, Klartext zu den Grenzen des Richterrechts, NJW 2011, 1856; Saliger, Parteiengesetz und Strafrecht, 2005; Sattler, Tarifvereinheitlichung im Konzern, 2009; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002; K. Schmidt, Liquidationszweck und Vertretungsmacht der Liquidatoren, AcP 174 (1974), 55; Schöpflin, Der nichtrechtsfähige Verein, 2003; Semler/Stengel, Umwandlungsgesetz, 3. Aufl. 2012; Sohn, Berufsverband und Industriegewerkschaft. Organisationsprinzipien der deutschen Gewerkschaften, 1964; Wiedemann, Anm. AP Nr. 28 zu § 2 TVG; Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Band I, Grundlagen, 1980; Wiedemann/Thüsing, Gewerkschaftsfusionen nach dem Umwandlungsgesetz, WM 1999, 2237 und 2277; Willemsen/Mehrens, Die Rechtsprechung des BAG zum „Blitzaustritt“ und ihre Auswirkungen auf die Praxis, NJW 2009, 1916; Windbichler, Arbeitsrecht im Konzern, 1989.
I. Allgemeines Das Koalitions- und Tarifvertragsrecht stellt eine Schnittstelle zwischen Arbeitsrecht 1 und Verbandsrecht dar. Da es in Deutschland kein besonderes Verbändegesetz gibt1, richten sich die Gründung von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, aber auch von Tarifgemeinschaften und Spitzenorganisationen, sowie ihre Auflösung nach den allgemeinen, für die jeweilige Rechtsform geltenden verbands- und gesellschaftsrechtlichen Regelungen. Gleiches gilt für den Erwerb und die Beendigung der Mitgliedschaft durch einzelne Arbeitnehmer oder Arbeitgeber. Darüber hinaus gibt das Verbandsrecht vor, welche Organe die Geschäfte des Verbandes führen und diesen im Rechtsverkehr nach außen vertreten. Schließlich bestimmt sich auch die Haftung des Verbandes nach dem Verbandsrecht. 1 Vgl. dazu Niklisch, FS Schiedermair, S. 459.
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2 Ein Verband ist eine durch privatrechtlichen Gesellschaftsvertrag oder Satzung verfasste, auf Mitgliedschaft beruhende und gegenüber den Mitgliedern verselbständigte Organisation, die einen gemeinsamen Zweck verfolgt1. Aus Sicht der Politikwissenschaft dienen Verbände dem Schutz und der Durchsetzung gemeinsamer Interessen im politischen und gesellschaftlichen Bereich2. Die in der Praxis bedeutsamsten Organisationsformen sind die rechtsfähigen und nichtrechtsfähigen (besser: eingetragenen und nicht eingetragenen)3 Vereine. 3 Arbeitgeberverbände (und ein Teil ihrer Spitzenfachverbände) treten in der Regel in der Rechtsform des eingetragenen Vereins auf. Von den ca. 130 Gewerkschaften in Deutschland4 hat der ganz überwiegende Teil dagegen traditionell die Rechtsstellung eines nicht eingetragenen Vereins. Eine Ausnahme war etwa die „Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft“ (ver.di), die kurzzeitig von 2001 bis 2004 als eingetragener Verein firmierte, um die Verschmelzung der früheren Einzelgewerkschaften DAG, DPG, HBV, IG Medien und ÖTV nach §§ 3 Abs. 1 Nr. 4, 99 UmwG zu ermöglichen5. Da auch nicht eingetragene Vereine körperschaftlich verfasste Verbände darstellen, sind Gewerkschaften im verbandsrechtlichen Sinne ebenfalls zu den Verbänden zu zählen. Im Folgenden wird der Begriff Verband daher einheitlich für Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften verwendet. 4 Der Verzicht der Gewerkschaften auf die Eintragung im Vereinsregister ist historisch zu erklären6. Der Gesetzgeber sah die auf dem politischen, religiösen und sozialen Gebiet tätigen Vereine zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Bedrohung für das politisch-gesellschaftliche System an7. Aus diesem Grunde wurde der nicht eingetragene Verein gezielt dem völlig ungeeigneten Recht der damals nach ganz überwiegender Auffassung nicht rechtsfähigen GbR unterstellt (§ 54 Satz 2 BGB). Damit wollte man insb. die Gewerkschaften zu einer Eintragung veranlassen, was bis 1908 bedeutete, dem Amtsgericht auf Verlangen ein für jedermann einsehbares Verzeichnis der Vereinsmitglieder einreichen zu müssen (§§ 72, 79 Satz 1 BGB a.F.). Zugleich hatte die zuständige Verwaltungsbehörde nach § 61 Abs. 2 BGB a.F. ein Einspruchsrecht gegen die Eintragung, wenn der Verein einen politischen, sozialpolitischen oder religiösen Zweck verfolgt. Insgesamt kam dies einer „verkappten Konzessionspflicht“ gleich8, die eine freie Bildung von politischen Vereinen und Gewerkschaften verhindern sollte. 5 Die Regelungsziele des historischen Gesetzgebers sind heute nicht nur aufgrund der gewandelten Wertvorstellungen des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates über1 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 7 I 1 b. 2 Kübler/Assmann, Gesellschaftsrecht, § 5 III 1. 3 Nach heute ganz h.M. ist der „nichtrechtsfähige Verein“ rechtsfähig, vgl. K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 25 II 1; MünchKomm/Arnold, § 54 BGB Rz. 17 ff.; Staudinger/Weick, § 54 BGB Rz. 25; a.A. Schöpflin, Der nichtrechtsfähige Verein, S. 116: lediglich „Rechtsverkehrsfähigkeit“. 4 Übersicht bei Thüsing/Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 116. 5 Vgl. dazu Kempen/Lörcher/Platow/Tiefenbacher/Trümner, JbArbR, Bd. 39 (2002), S. 65 (69); Semler/Stengel/Katschinksi, § 99 UmwG Rz. 41; zuvor bereits Wiedemann/Thüsing, WM 1999, 2237 ff., 2277 ff. 6 Dazu Kittner, Arbeitskampf, S. 274 ff.; MünchKomm/Reuter, Vor § 21 BGB Rz. 54; Brox/ Rüthers/Henssler, Rz. 652. 7 Ausführlich dazu Höpfner, Tarifgeltung, S. 87 ff. 8 Vgl. MünchKomm/Reuter, Vor § 21 BGB Rz. 54.
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holt, sondern auch mit der verfassungsrechtlich gewährleisteten Vereins- und Koalitionsfreiheit unvereinbar1. Der Verweis des § 54 Satz 1 BGB auf das Recht der GbR ist daher nach dem Grundsatz „cessante ratione legis cessat lex ipsa“ außer Kraft getreten2. An dessen Stelle finden die §§ 21 ff. BGB auch auf den nicht eingetragenen Verein Anwendung mit Ausnahme derjenigen Vorschriften, welche zwingend die Eintragung voraussetzen3. Für Gewerkschaften entwickelten Rechtsprechung und Schrifttum darüber hinaus unter der Geltung des Grundgesetzes ein verbandsrechtliches Sonderrecht. So erkannte der BGH Gewerkschaften im Hinblick auf Art. 9 Abs. 3 GG entgegen § 50 Abs. 2 ZPO a.F. die aktive Parteifähigkeit zu4. Auch die Anwendung der Handelndenhaftung gemäß § 54 Satz 2 BGB wird teilweise in Frage gestellt (vgl. Rz. 31 f.). Die verbandsrechtlichen Grundlagen haben in den letzten Jahren im Tarifrecht erheb- 6 lich an Bedeutung gewonnen, etwa für die Fragen der Tarifbindung im Fall der Verbandsauflösung5 oder der Wirksamkeit des sog. Blitzaustritts6 bzw. Blitzwechsels in die OT-7 oder Gast-Mitgliedschaft8 unmittelbar vor Inkrafttreten eines TVs. Betroffen ist jeweils das Verhältnis von Tarifvertrags- und Verbandsrecht. Im ersten Fall geht es um die Auswirkungen der Vorschriften über die Liquidation und die Vollbeendigung des Vereins (§§ 41, 47 ff., 74 ff. BGB) auf den Fortbestand der von diesem abgeschlossenen TVe. Im zweiten Fall wird diskutiert, ob ein verbandsrechtlich wirksamer Austritt oder Statuswechsel „tarifrechtlich unwirksam“9 sein kann, wenn er die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie gefährdet. Beide Fälle werfen die Grundfrage auf, ob Maßnahmen eines Tarifverbandes verbandsrechtlich und tarifrechtlich unterschiedlich behandelt werden können oder gar müssen. Das BAG hat in den genannten Entscheidungen die vereins- und tarifrechtliche Wirksamkeit der Maßnahmen getrennt geprüft und im Ergebnis unterschiedlich beurteilt. Von Teilen des Schrifttums ist das scharf kritisiert worden10. Die Kritik geht jedoch fehl11. Es ist zwar in der Tat nicht überzeugend, dass gerade die fehlende Transparenz zur Unwirksamkeit des Blitzaustritts und -wechsels führen soll (vgl. Rz. 175 sowie 1 Vgl. Staudinger/Weick, § 54 BGB Rz. 2. 2 MünchKomm/Arnold, § 54 BGB Rz. 4; a.A. Staudinger/Weick, § 54 BGB Rz. 2: „berichtigende Auslegung“. 3 Vgl. näher K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 25 II 2 c, d. 4 BGH v. 6.10.1964 – VI ZR 176/63, NJW 1965, 29; BGH v. 11.7.1968 – VII ZR 63/66, NJW 1968, 1830; sonstige „nichtrechtsfähige“ Vereine sind dagegen erst seit der Neufassung des § 50 Abs. 2 ZPO am 24.9.2009 aktiv prozessfähig. 5 BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 312/01, AP TVG § 3 Nr. 36 m. Anm. Höpfner = NZA 2008, 771. 6 BAG v. 20.2.2008 – 4 AZR 64/07, NZA 2008, 946. 7 BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366; BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 285/08, NZA 2010, 230; BAG v. 19.6.2012 – 1 AZR 775/10, NZA 2012, 1372 Rz. 30, 37; BAG v. 21.11.2012 – 4 AZR 27/11, NZA-RR 2014, 545 Rz. 29. 8 BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 285/08, NZA 2010, 230. 9 So BAG v. 20.2.2008 – 4 AZR 64/07, NZA 2008, 946; BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366; BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 285/08, NZA 2010, 230; BAG v. 23.9.2009 – 4 AZR 346/08, AP TVG § 3 Verbandszugehörigkeit Nr. 29; BAG v. 17.2.2010 – 5 AZR 191/09, AP TVG § 1 Tarifverträge: Metallindustrie Nr. 209; BAG v. 18.5.2011 – 4 AZR 457/09, NZA 2011, 1378. 10 Bauer, FS Picker, S. 889 (896); Bauer/Haußmann, RdA 2009, 99 (103); Hensche, NZA 2009, 815 (820); Willemsen/Mehrens, NJW 2009, 1916 (1917); Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 115. 11 Höpfner, ZfA 2009, 541 (561 f.); Jacobs/Krois, AP TVG § 3 Nr. 38; Jacobs/Krois, FS Reuter, S. 555 (566); insoweit übereinstimmend Krause, GS Zachert, S. 605 (622).
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Teil 6 Rz. 50). Die Grundentscheidung, zwischen der vereinsrechtlichen und der tarifrechtlichen Wirksamkeit der Maßnahme zu differenzieren, ist dagegen vollkommen zutreffend. Eine derartige Trennung von vereins- und tarifrechtlicher Wirksamkeit ist weder neu noch spektakulär1. So ist schon seit langem anerkannt, dass ein rückwirkender Beitritt in eine Gewerkschaft oder einen Arbeitgeberverband tarifrechtlich stets nur ex nunc wirkt2. Gleiches gilt für den rückwirkenden Austritt und den Statuswechsel3. Die getrennte rechtliche Bewertung der verbands- und der tarifrechtlichen Zulässigkeit einer Maßnahme ist nicht nur rechtlich zulässig, sondern auch sinnvoll. Sie führt zu einer klaren Trennung der allgemeinen verbandsrechtlichen und der besonderen tarifrechtlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen4. Das Tarifrecht kann strengere Maßstäbe an die Rechtmäßigkeit einer Handlung anlegen, insb. wenn durch eine verbandsrechtlich an sich zulässige Maßnahme die zwingenden Regelungen über die Tarifbindung (§§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG) und die Nachbindung (§ 3 Abs. 3 TVG) umgangen werden5. 8 Umgekehrt kann das Tarifrecht jedoch keine nach den allgemeinen verbandsrechtlichen Grundsätzen unzulässige Maßnahme rechtfertigen. Denn das Verbandsrecht gibt den rechtlichen Rahmen für die Binnenstruktur des Verbandes vor. Allerdings besteht bei der inneren Ordnung des Verbandes aufgrund der verfassungsrechtlich gewährleisteten Vereins- und Satzungsautonomie eine weitreichende Gestaltungsfreiheit der Mitglieder, die normativ durch §§ 26 Abs. 1 Satz 3, 30, 37 Abs. 1, 39 Abs. 2, 40, 41 BGB abgesichert ist. Innerhalb dieses Rahmens können die tarifrechtlichen Besonderheiten angemessen berücksichtigt werden.
II. Gründung und Auflösung des Verbandes 1. Verbandsgründung 9 Bei der Gründung eines Verbandes sind die zwingenden Voraussetzungen des Vereinsrechts zu beachten. Die Vereinsgründung geschieht durch einen Vertrag von mindestens zwei Gründungsmitgliedern. Für die Eintragung sind gemäß § 56 BGB sogar sieben Mitglieder erforderlich. Dabei handelt es sich um eine reine Ordnungsvorschrift. Im Fall der Nichtbeachtung muss die Eintragung gemäß § 60 BGB zurückgewiesen werden. Eine bereits erfolgte Eintragung bleibt jedoch selbst im Falle einer Täuschung des Registergerichts wirksam und wird nicht gelöscht6.
1 Jacobs/Krois, AP TVG § 3 Nr. 38; anders aber noch BAG v. 14.10.1960 – 1 AZR 233/58, NJW 1961, 573 (575). 2 BAG v. 20.12.1988 – 1 ABR 57/87, NZA 1989, 564; BAG v. 22.11.2000 – 4 AZR 688/99, NZA 2001, 980; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 94. 3 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 55; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 52; zum Aufhebungsvertrag ebenso Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 150. 4 Näher Höpfner, ZfA 2009, 541 (561 f.); zustimmend Jacobs/Krois, AP TVG § 3 Nr. 38; Krause, GS Zachert, S. 605 (614 ff.); wohl auch Konzen, FS Bauer, S. 559 (576), der zwar die tarifrechtliche Unwirksamkeit von Blitzaustritt und Blitzwechsel ablehnt, nicht aber die Möglichkeit einer tarifrechtlichen Unwirksamkeit als solcher. 5 Vgl. auch Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 181 f. zur Tarifzuständigkeit des Verbandes. 6 OLG Stuttgart v. 4.5.1983 – 8 W 442/82, OLGZ 1983, 307; MünchKomm/Arnold, § 56 BGB Rz. 1; Staudinger/Habermann, § 56 BGB Rz. 1.
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Gründungsmitglieder können natürliche und juristische Personen sowie rechtsfähige 10 Personengesellschaften sein1. Unerheblich ist, ob es sich dabei um tarifgebundene Mitglieder oder um Mitglieder ohne Tarifbindung handelt. Zulässig ist auch ein sog. „Konzern-Arbeitgeberverband“, der ausschließlich von Konzerngesellschaften gegründet wird, um eine einheitliche Tarifbindung im Konzern herbeizuführen (vgl. etwa den für den Lufthansa-Konzern zuständigen „Arbeitgeberverband Luftverkehr e.V.“ (AGVL))2. Für die nach § 56 BGB zur Eintragung erforderliche Mindestzahl an Gründungsmitgliedern sieht die h.M. im Vereinsrecht jedoch eine Einschränkung vor. Setzen sich die Gründungsmitglieder aus natürlichen Personen und aus von diesen beherrschten juristischen Personen zusammen, so sollen für die Mindestzahl nur die natürlichen Personen zählen, da nur so die erforderliche Personenmehrheit und die körperschaftliche Organisation des Vereins sichergestellt würden3. Auf Konzerngesellschaften ist diese Auffassung nicht zu übertragen, da mangels Beteiligung natürlicher Personen Zweifel am korporativen Charakter des Vereins nicht bestehen4. Jeder Verein bedarf einer Vereinsverfassung, welche „die das Vereinsleben bestimmenden Grundlagenentscheidungen“ vorgibt5. Darunter fallen vor allem Zweck und Mittel des Vereins, Voraussetzungen und Folgen der Mitgliedschaft, die Organe, insb. deren Bildung, Bestellung und Wirkungskreis, sowie Sitz und Name des Vereins6. Die Vereinsverfassung wird bestimmt durch die zwingenden gesetzlichen Bestimmungen und vor allem durch die Satzung. Das gilt sowohl für den eingetragenen (bzw. einzutragenden) als auch für den nicht eingetragenen Verein7.
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Im Vereinsrecht gilt der durch Art. 9 Abs. 1 GG gewährleistete Grundsatz der Sat- 12 zungsautonomie, wonach die Mitglieder die innere Ordnung des Vereins selbst bestimmen8. Die Satzungsautonomie der Koalitionen gemäß Art. 9 Abs. 3 GG umfasst darüber hinaus das Recht, die Tarifzuständigkeit frei zu bestimmen9. Dazu gehört insb. die Wahl des Organisationsprinzips. Die Gewerkschaften in der Bundesrepublik sind traditionell ganz überwiegend nach dem Industrieverbandsprinzip organisiert10. Danach können einer Gewerkschaft alle Arbeitnehmer eines bestimmten Wirtschaftssektors angehören11. Das Prinzip „Ein Betrieb – eine Gewerkschaft“ ist in der 1 Vgl. Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, Rz. 69 ff. 2 Dazu Windbichler, Arbeitsrecht im Konzern, S. 479 ff.; Sattler, Tarifvereinheitlichung im Konzern, S. 47 ff.; Rieble, Der Konzern 2005, 475 (479 f.); Höpfner, in: Arbeitsrecht im Konzern, S. 113 (137 ff.). 3 OLG Stuttgart v. 4.5.1983 – 8 W 442/82, OLGZ 1983, 307; OLG Köln v. 16.3.1988 – 2 Wx 14/88, NJW 1989, 173; MünchKomm/Arnold, § 56 BGB Rz. 3; Staudinger/Habermann, § 56 BGB Rz. 3; krit. Rieble, Der Konzern 2005, 475 (479) unter Berufung auf Art. 9 Abs. 1 GG. 4 Vgl. Höpfner, in: Arbeitsrecht im Konzern, S. 113 (137 f.); i.E. auch Rieble, Der Konzern 2005, 475 (479). 5 BGH v. 6.3.1967 – II ZR 231/64, NJW 1967, 1268 (1270); BGH v. 24.10.1988 – II ZR 311/87, NJW 1989, 1724 (1727). 6 Staudinger/Weick, § 25 BGB Rz. 3. 7 Vgl. Schöpflin, Der nichtrechtsfähige Verein, S. 220 f. 8 Dazu K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 5 I 3 a; Schöpflin, Der nichtrechtsfähige Verein, S. 228 f.; MünchKomm/Arnold, § 40 BGB Rz. 3. 9 Vgl. BAG v. 19.11.1985 – 1 ABR 37/83, NZA 1986, 480; BAG v. 27.9.2005 – 1 ABR 41/04, NZA 2006, 273. 10 Zur geschichtlichen Entwicklung vgl. Greiner, Rechtsfragen, S. 8 ff.; Sohn, Berufsverband, S. 56 ff. 11 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 353.
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Satzung des DGB als ein Kriterium zur Abgrenzung des Organisationsbereichs der Mitgliedsgewerkschaften vorgesehen1. Auf der einen Seite hat dies aus Gewerkschaftssicht den Vorteil, dass regelmäßig für einen Betrieb nur eine Gewerkschaft tarifzuständig ist und diese dadurch einen stärkeren Verhandlungsdruck aufbauen kann2. Auf der anderen Seite hat sich gezeigt, dass nicht alle Berufsgruppen im Modell der Einheitsgewerkschaft hinreichend vertreten werden. Die gilt vor allem für die höher qualifizierten Berufe, deren Angehörige im Verhältnis zum Gesamtergebnis aller Mitglieder deutlich geringere Entgeltzuwächse zu verzeichnen haben3. 13
Aus diesem Grunde gewinnen seit einigen Jahren sog. Spartengewerkschaften zunehmend an Bedeutung. Diese sind nach dem historisch älteren4 Berufsverbandsprinzip organisiert. Darunter versteht man den Zusammenschluss von Arbeitnehmern einer bestimmten Berufsgruppe unabhängig von der Branchenzugehörigkeit des jeweiligen Arbeitgebers5. Spartengewerkschaften haben zwar im Verhältnis zu den DGB-Gewerkschaften eine nach absoluten Zahlen geringe Anzahl von Mitgliedern. Nach eigenen Angaben haben der Marburger Bund ca. 117 000, die Vereinigung Cockpit (VC) ca. 9300, die Unabhängige Flugbegleiter Organisation e.V. (UFO) mehr als 10 000 und die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) rund 34 000 Mitglieder6. Innerhalb der jeweiligen Berufsgruppe ist der Organisationsgrad der Spartengewerkschaften dagegen oftmals verhältnismäßig hoch, was gerade bei sog. Funktionseliten, die aufgrund ihrer Schlüsselposition und ihrer besonderen Qualifikation während eines Arbeitskampfes kaum austauschbar sind, eine große Durchschlagskraft bedeutet7. Aufgrund ihrer Satzungsautonomie darf jede Koalition frei über ihre optimale Struktur und Organisation entscheiden8. Der Staat darf wegen der verfassungsrechtlichen Neutralitätspflicht nicht durch eine Bevorzugung oder Benachteiligung eines bestimmten Organisationskonzeptes in den „Konkurrenzkampf der Verbände“ eingreifen9.
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Unter einer Satzung versteht man diejenigen Regeln, welche ursprünglich von den Gründern, später von der Mitgliederversammlung als Satzung festgestellt werden. Nach der herrschenden modifizierten Normentheorie ist zu differenzieren: Die Errichtung der Satzung erfolgt durch einen privatautonomen Vertragsschluss der Gründer, während die durch die Satzung geschaffene Verbandsverfassung objektive Rechtsnormen enthält10. Die Satzung muss die Grundentscheidungen über die Verfassung
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Vgl. Ziff. 2 lit. a der Anlage 1 zu § 15 der Satzung des DGB v. Mai 2014. Brox/Rüthers/Henssler, Rz. 649. Vgl. Greiner, Rechtsfragen, S. 15. Im Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) waren überwiegend Berufsverbände organisiert, vgl. Potthoff, Freie Gewerkschaften, S. 38; Greiner, Rechtsfragen, S. 9. Brox/Rüthers/Henssler, Rz. 651. Stand: November 2015. Vgl. Thüsing/Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 101. Henssler, RdA 2011, 65 (72). Vgl. ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 148; Höpfner, Tarifgeltung, S. 243 ff.; Konzen, JZ 2010, 1036 (1041); für einen faktischen Vorrang des Industrieverbandsprinzips dagegen Henssler, RdA 2011, 65 (71 ff.). Vgl. RGZ 165, 143 (144); BGH v. 4.10.1956 – II ZR 121/55, NJW 1956, 1793; BGH v. 6.3.1967 – II ZR 231/64, NJW 1967, 1268 (1271); K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 5 I 1 b; zum Meinungsstand Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, § 3 II 1 b; MünchKomm/Reuter, § 25 BGB Rz. 17.
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des Vereins regeln, kann aber darüber hinaus weitere Regelungen umfassen (sog. formeller Satzungsbegriff)1. Der Mindestinhalt der Satzung ergibt sich für den eingetragenen (bzw. einzutragenden) Verein aus §§ 57 f. BGB2. Jedoch muss auch die Satzung des nicht eingetragenen Vereins zumindest Namen und Zweck des Vereins sowie ein Mindestmaß körperschaftlicher Organisation festlegen3. Dazu gehört insb. ein von der Gesamtheit der Mitglieder zu unterscheidender Vorstand als notwendiges (Außen-)Organ des Vereins4. Für ihn gelten die §§ 26 ff. BGB entsprechend5. Die für die Auslegung der Satzung geltenden Grundsätze sind umstritten. Während 15 nach der Vertragstheorie die §§ 133, 157 BGB anzuwenden sind6, gelten nach der herrschenden modifizierten Normentheorie jedenfalls für die körperschaftlichen Regelungen über die Verfassung des Vereins die Grundsätze der Gesetzesauslegung7. BGH und BAG legen solche Vorschriften objektiv, d.h. ohne Bindung an die Regelungsabsichten der Verfasser, aus und berücksichtigen Umstände, die außerhalb der Vertragsurkunde liegen und die nicht allgemein zugänglich und erkennbar sind, grundsätzlich nicht8. Dem ist nicht zu folgen. Die vermeintlich „objektive“ Auslegungsmethode entspricht nicht der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG, das zu Recht eine strikte Gesetzesbindung des Richters betont9. Der sog. „objektivierte Wille“ des Normgebers ist ein Scheinargument, mit dem der Interpret ein beliebiges, aus seiner Sicht vernünftiges Ergebnis zum Inhalt einer Norm erklären kann. Die Privatautonomie der Satzungsgeber verlangt aber im Grundsatz eine Auslegung der Satzung mit Rücksicht auf den Willen der Satzungsverfasser10. Damit unvereinbar ist insb. eine strenge Andeutungstheorie, die Umstände außerhalb der Satzungsurkunde generell nicht beachtet. Zwar hat der Wortlaut der Satzung mit Rücksicht auf den Verkehrsschutz und die Rechtssicherheit für einen wechselnden Mitgliederbestand eine besonders große Bedeutung für die Auslegung11. Gleichwohl können etwa eine innerverbandliche Übung oder eine ständige Beschlusspraxis auch dann von Bedeutung sein, wenn sie dem Wortlaut der Satzung widersprechen12. Eine große praktische Relevanz haben schließlich die ergänzende Vertragsauslegung13 und die gesetzeskonforme Auslegung14 in den Fällen, in denen 1 2 3 4 5 6 7 8
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Vgl. MünchKomm/Reuter, § 25 BGB Rz. 16; Staudinger/Weick, § 25 BGB Rz. 7. Näher dazu Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, Rz. 440 ff. Schöpflin, Der nichtrechtsfähige Verein, S. 224. Schöpflin, Der nichtrechtsfähige Verein, S. 224; Staudinger/Weick, § 54 BGB Rz. 31. MünchKomm/Arnold, § 54 BGB Rz. 35; Jauernig/Mansel, § 54 BGB Rz. 13. Vgl. Grunewald, ZGR 1995, 68; Wiedemann, Gesellschaftsrecht, S. 165 ff.; vgl. auch BGH v. 11.11.1985 – II ZB 5/85, NJW 1986, 1033 (1034). Vgl. BGH v. 9.6.1997 – II ZR 303/95, NJW 1997, 3368 (3369); K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 5 I 4 a; Staudinger/Weick, § 25 BGB Rz. 16; Oetker, DZWiR 2015, 47 (48, 52). BGH v. 9.6.1997 – II ZR 303/95, NJW 1997, 3368 (3369); BAG v. 27.11.1964 – 1 ABR 13/63, SAE 1965, 201 (204); BAG v. 27.9.2005 – 1 ABR 41/04, NZA 2006, 273 (277); BAG v. 10.2.2009 – 1 ABR 36/08, NZA 2009, 908 (911); BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289 (299). BVerfG v. 26.9.2011 – 2 BvR 2216/06, NJW 2012, 669 (670 ff.); BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10, NJW 2011, 836 (837 f.); dazu Rieble, NJW 2011, 819; Rüthers, NJW 2011, 1856. Ebenso Wiedemann, Gesellschaftsrecht, S. 167. Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, Rz. 450. Vgl. BAG v. 10.2.2009 – 1 ABR 36/08, NZA 2009, 908 (911); BGH v. 2.12.1974 – II ZR 78/72, NJW 1975, 771 (774); Wiedemann, Gesellschaftsrecht, S. 168; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 5 I 4 c; offen BGH v. 28.11.1988 – II ZR 96/88, NJW 1989, 1212 (1213). Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, Rz. 451. Die Vertreter der Normentheorie sprechen folgerichtig von Analogie. BAG v. 10.2.2009 – 1 ABR 36/08, NZA 2009, 908 (912); grundlegend Hager, S. 132 ff.
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Teil 2 Rz. 16
Tarifvertragsparteien
die Satzung lückenhaft ist oder aufgrund tatsächlicher oder rechtlicher Entwicklungen korrigiert werden muss1. 16
Das Vereinsrecht kennt keinen besonderen Bestimmtheitsgrundsatz für die Satzung. Allein die in § 58 BGB genannten Regelungen müssen gewissen Mindestanforderungen an die Bestimmtheit genügen, weil sie den Kern der Mitgliedschaft betreffen2. Demgegenüber stellt das BAG besonders hohe Anforderungen an die Bestimmtheit von Satzungsregelungen eines Verbandes über seinen Tarifzuständigkeitsbereich3. Danach muss die Tarifzuständigkeit für die handelnden Organe des Verbandes selbst, für den sozialen Gegenspieler und für Dritte (Tarifunterworfene) zuverlässig zu ermitteln sein. Eine wortsinnübersteigende Satzungsauslegung ist demnach grundsätzlich ausgeschlossen. Das Vereinsrecht bietet keine Grundlage für diese Rechtsprechung. Sie lässt sich allein tarifrechtlich mit der von der Koalitionsfreiheit geschützten Koalitionszweckautonomie4 und mit dem Schutz des Vertrauens der Tarifnormunterworfenen begründen.
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Erfüllt die Satzung nicht die gemäß §§ 57 f. BGB gesetzlich vorgeschriebenen Anforderungen, hat das Registergericht den Eintragungsantrag zurückzuweisen. Ist der Verein bereits eingetragen, so ist zu differenzieren: Fehlen bereits die Mindesterfordernisse des § 57 Abs. 1 BGB, so kann die Eintragung von Amts wegen gelöscht werden (§§ 374 Nr. 4, 395 Abs. 1 Satz 1 FamFG)5. Ein Verstoß gegen die Ordnungsvorschrift des § 58 BGB berührt die Wirksamkeit der Eintragung dagegen nicht6. 2. Verbandsauflösung
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Ein Verein kann durch Beschluss der Mitgliederversammlung aufgelöst werden, wofür vorbehaltlich anderweitiger Regelungen in der Satzung eine Mehrheit von drei Vierteln der erschienenen Mitglieder erforderlich ist (§ 41 BGB). Die Auflösung des eingetragenen Vereins erfolgt regelmäßig in zwei Stufen: Zunächst findet ein Liquidationsverfahren statt (§§ 47 ff. BGB). Erst mit dessen Abschluss erlischt der Verein (Vollbeendigung). Gleiches gilt nach h.M. in entsprechender Anwendung der §§ 47 ff. BGB für den nicht eingetragenen Verein7.
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Gemäß § 49 Abs. 2 BGB ist der Verein in Liquidation lediglich teilrechtsfähig. Das entspricht dem ausdrücklichen Willen des historischen Gesetzgebers8. Dem folgend 1 Vgl. dazu K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 5 I 4 d. 2 Vgl. etwa OLG Hamm v. 23.11.2010 – 15 W 419/10, NZG 2011, 557 zur Einberufung der Mitgliederversammlung „durch Presseveröffentlichung“; OLG München v. 18.2.1998 – 3 U 4897/97, NJW-RR 1998, 966 zur Umlagenerhebung; vgl. auch Staudinger/Habermann, § 56 BGB Rz. 2 f., 7. 3 BAG v. 10.2.2009 – 1 ABR 36/08, NZA 2009, 908 (911 f.); BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289 (299); vgl. dazu Ricken, RdA 2007, 35; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 44. 4 Dazu Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 176 f. 5 BeckOK-BGB/Schöpflin, § 57 Rz. 1; Staudinger/Habermann, § 57 BGB Rz. 1. 6 MünchKomm/Arnold, § 58 BGB Rz. 1. 7 BGH v. 11.7.1968 – VII ZR 63/66, NJW 1968, 1830; MünchKomm/Arnold, § 54 BGB Rz. 68 f.; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 25 II 2 c; für direkte Anwendung Schöpflin, Der nichtrechtsfähige Verein, S. 510. 8 Mugdan, Materialien, S. 415 f. (= Mot. I, S. 115); dazu Höpfner, AP TVG § 3 Nr. 36; dem folgend Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 31.
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Hçpfner
Grundlagen des Verbandsrechts
Rz. 21 Teil 2
hat der BGH entschieden, dass der Verein nur insoweit als fortbestehend gelte, als es für die Vermögensliquidation erforderlich sei1. Das vereinsrechtliche Schrifttum geht dagegen heute ganz überwiegend von einer unbeschränkten Rechtsfähigkeit des Vereins bis zu dessen Vollbeendigung aus2. Der Meinungsstreit spielt in der Praxis nur eine geringe Rolle, da der BGH inzwischen Beschränkungen der Rechtsfähigkeit „allenfalls beim Erwerb neuer Rechte“ für denkbar hält3. Die Liquidation führt danach lediglich zu einer Änderung des Vereinszwecks. An die Stelle des ursprünglichen Vereinszwecks tritt die Abwicklung. Erst mit Abschluss des Liquidationsverfahrens, der Vollbeendigung, hört der Verein auf, zu existieren4. Umstritten ist, wie weit die Vertretungsmacht der Liquidatoren reicht. Im Tarifrecht 20 betrifft dies vor allem die Frage, ob die Liquidatoren bestehende VerbandsTVe kündigen können. Das BAG hat 2008 seine langjährige Rechtsprechung zur Tarifbindung bei Verbandsauflösung geändert5. Nunmehr soll die Verbandsauflösung nicht zum Wegfall der Tarifbindung führen. Zur Begründung führt der 4. Senat an, dass die Liquidatoren des Verbandes die bestehenden TVe kündigen könnten. Ungeklärt ist die Frage der Tarifbindung, wenn der Verband aufgelöst wird, ohne dass die Liquidatoren zuvor die TVe gekündigt haben. Der Senat lässt für diesen Fall ausdrücklich offen, „ob (!) und ggf. wann ausnahmsweise die Beendigung der unmittelbaren und zwingenden Wirkung eines auf unbestimmte Zeit abgeschlossenen Tarifvertrages in Betracht kommen kann“. Die Rechtsprechung ist schon im Ausgangspunkt verfehlt. Richtigerweise beschränkt 21 sich das Liquidationsverfahren auf die Abwicklung vermögensrechtlicher Verpflichtungen des Vereins6. Es soll die Rechte der Gläubiger des aufgelösten Vereins wahren und zugleich eine angemessene Überleitung des Vermögens auf die bezugsberechtigten Mitglieder gewährleisten7. Es ist zwar richtig, dass der beschränkte Liquidationszweck nicht per se auch die Vertretungsmacht der Liquidatoren begrenzt. Der BGH und die überwiegende Auffassung im vereinsrechtlichen Schrifttum gehen in Anlehnung an § 269 AktG von einer unbeschränkten Vertretungsmacht der Liquidatoren aus und lösen Konflikte zwischen der Pflichtenbindung der Liquidatoren und dem Verkehrsschutz nach den Grundsätzen des Missbrauchs der Vertretungsmacht8. Eine solche Abweichung vom gesetzgeberischen Grundmodell, das in § 48 Abs. 2 BGB deutlich zum Ausdruck gekommen ist, ist jedoch nur gerechtfertigt, soweit Gründe des Verkehrsschutzes dies auch tatsächlich verlangen. Für die Frage der Beendigung 1 BGH v. 11.11.1985 – II ZR 37/85, NJW 1986, 1604; ebenso schon RAG v. 26.10.1929 – RAG 47/29, ARS 8, 129 (138 f.); RAG v. 2.3.1932 – RAG 426/31, ARS 14, 475 (476); RAG v. 13.2.1932 – RAG 241/31, ARS 14, 595 (597). 2 K. Schmidt, AcP 174 (1974), 55 (67 f.); MünchKomm/Arnold, § 49 BGB Rz. 11 ff.; Staudinger/ Weick, § 49 BGB Rz. 17. 3 BGH v. 22.3.2001 – IX ZR 373/98, ZIP 2001, 889 (891); dazu MünchKomm/Arnold, § 49 BGB Rz. 13. 4 Staudinger/Weick, § 49 BGB Rz. 20. 5 BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 312/01, NZA 2008, 771 = AP TVG § 3 Nr. 36 m. Anm. Höpfner. 6 Staudinger/Weick, § 48 BGB Rz. 4; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 49 Rz. 1; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 35; a.A. Wiedemann, AP Nr. 28 zu § 2 TVG; MünchKomm/Arnold, § 49 BGB Rz. 12. 7 Mugdan, Materialien, S. 414 f. (= Mot. I, S. 113). 8 Grundlegend K. Schmidt, AcP 174 (1974), 55 (67 ff.) und heute h.M., vgl. BGH v. 1.12.1983 – III ZR 149/82, NJW 1984, 982; Staudinger/Weick, § 49 BGB Rz. 14; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 49 Rz. 12.
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Teil 2 Rz. 22
Tarifvertragsparteien
von TVen, die zweifellos nicht als Liquidation von Vermögensmasse anzusehen ist1, gilt dies nicht. Hier geht es nicht um Verkehrsschutz, nicht um ein Vermögen, das zwischen Gläubigern und Mitgliedern aufzuteilen ist. Es muss daher bei der gesetzlichen Regelung des § 48 Abs. 2 BGB bleiben, wonach die Liquidatoren Vertretungsmacht nur insoweit besitzen, als es für die Liquidation erforderlich ist. Aus vereinsrechtlicher Sicht gilt daher: Sofern der aufgelöste Arbeitgeberverband ein Vermögen besitzt, besteht er gemäß § 49 Abs. 2 BGB bis zum Abschluss des Liquidationsverfahrens fort. Die Vertretungsmacht der Liquidatoren beschränkt sich jedoch auf die Geschäfte, die zur Abwicklung des Vereinsvermögens erforderlich sind. Eine Kündigung bestehender TVe durch die Liquidatoren ist nicht möglich (a.A. Rz. 137 sowie Teil 3 Rz. 205)2. 22
Die Tarifbindung der Mitglieder endet aber in jedem Fall mit Vollbeendigung des Verbandes. Wenn der Verband als Rechtsträger erlischt, fällt der Vertragspartner des TVs weg, so dass diesem der Geltungsgrund entzogen ist3. In diesem Fall tritt auch keine Nachbindung ein, da § 3 Abs. 3 TVG die „Flucht aus dem TV“ verhindern will, die bei einer Verbandsauflösung grundsätzlich nicht zu befürchten ist4. Zudem setzt § 3 Abs. 3 TVG voraus, dass die TV-Parteien noch eine Herrschaft über den TV ausüben können5. Stattdessen schließt sich direkt die Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG an6. Der Gefahr einer Ewigkeitsbindung an TVe, die nach der Rechtsprechung des BAG nach Vollbeendigung des Verbandes besteht, nach hier vertretener Auffassung dagegen nur in dem Fall, dass das Liquidationsverfahren über Jahre hinweg nicht abschlossen wird, ist durch eine Höchstfrist für die Tarifbindung zu begegnen. In Anlehnung an die Nachhaftungsregelungen der §§ 736 Abs. 2 BGB, 159 HGB bietet sich dafür ein Zeitraum von fünf Jahren an, mit dessen Ablauf die Tarifbindung der Verbandsmitglieder spätestens endet7. Man mag mit guten Gründen einwenden, dass dieser Zeitraum zu lang bemessen ist8. Aus rechtspolitischer Sicht spricht in der Tat viel dafür, die einjährige Frist des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB auf den vorliegenden Fall zu übertragen9. Das geltende Recht bietet dafür jedoch keinen normativen Anknüp1 RAG v. 26.10.1929 – RAG 47/29, ARS 8, 129 (138); Wiedemann, AP Nr. 28 zu § 2 TVG; Bergerhoff, Tarifflucht, S. 121 ff. m.w.N. 2 Höpfner, AP TVG § 3 Nr. 36; ebenso RAG v. 26.10.1919, RAG 47/29, ARS 9, 128 (138 f.); BAG v. 11.11.1970 – 4 AZR 522/69, AP TVG § 2 Nr. 28; Nikisch, Arbeitsrecht II, § 76 II 3; a.A. BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 312/01, NZA 2008, 771; Henssler, FS Picker, S. 987 (992); Buchner, RdA 1997, 259 (263). 3 Henssler, FS Picker, S. 987 (992); Höpfner, AP TVG § 3 Nr. 36; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1267; Bergerhoff, Tarifflucht, S. 92 ff., 210 ff.; ebenso schon RAG v. 13.2.1932 – RAG 241/31, ARS 14, 595 (597); a.A. Blomeyer, SAE 1972, 109 (112); Wiedemann, AP Nr. 28 zu § 2 TVG. 4 Henssler, FS Picker, S. 987 (991); Höpfner, AP TVG § 3 Nr. 36; i.E. auch Bergerhoff, Tarifflucht, S. 174 ff. Die Missbrauchsbefürchtung von MünchKomm/Arnold, § 49 BGB Rz. 12 betrifft nur die Liquidationsphase und nicht den hier in Rede stehenden Fall der Vollbeendigung. 5 Wiedemann, AP Nr. 28 zu § 2 TVG. 6 Bergerhoff, Tarifflucht, S. 183; Höpfner, AP TVG § 3 Nr. 36; Fischer, Nachwirkung, S. 161 ff.; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 172. 7 Dazu Höpfner, NJW 2010, 2173 und ausführlich Höpfner, Tarifgeltung, S. 399 ff.; gegen eine zeitliche Begrenzung BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53. 8 So Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 171. 9 Für eine Angleichung von § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB und § 3 Abs. 3 TVG de lege ferenda Höpfner, Tarifgeltung, S. 405; ferner Bepler, in: Verhandlungen des 70. DJT, Band I, B51, der jedoch für beide Regelungsmodelle eine Erweiterung der Frist auf zwei Jahre vorschlägt; dem folgend Reichold, NJW 2014, 2534 (2537).
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Grundlagen des Verbandsrechts
Rz. 24a Teil 2
fungspunkt, so dass de lege lata allein eine Begrenzung nach den Grundsätzen der Nachhaftung auf fünf Jahre zulässig ist.
III. Die Mitgliedschaft Die Mitgliedschaft ist die zentrale Rechtsposition der Verbandsmitglieder und zu- 23 gleich die Legitimationsgrundlage allen verbandlichen Handelns. Sie begründet ein subjektives Recht des Einzelnen auf Teilhabe an dem Verband1. Als solches ist sie grundsätzlich übertragbar2 und wird deliktsrechtlich als sonstiges Recht i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB geschützt3. Zugleich entsteht durch die Mitgliedschaft in einem Verband ein Rechtsverhältnis mit entsprechenden Treuepflichten sowohl zwischen Verband und Mitglied als auch zwischen den Mitgliedern untereinander4. Der Erwerb der Mitgliedschaft durch Beitritt zum Verein ist von der individuellen positiven Vereinigungsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 1 GG geschützt, jedoch nur hinsichtlich deutscher Staatsbürger5. Der Austritt sowie das Recht des Fernbleibens unterliegen dem Schutz der negativen Vereinigungsfreiheit6. Die Mitgliedschaft in einer Koalition unterliegt dem Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 24 GG, der im Gegensatz zur Vereinigungsfreiheit für jedermann gilt. Seine positive Koalitionsfreiheit übt auch aus, wer als OT-Mitglied einem Verband beitritt7. Denn verbandsrechtlich handelt es sich bei der OT-Mitgliedschaft um eine echte Mitgliedschaft mit entsprechenden Teilhaberechten, bei der lediglich die Tarifbindung ausgeschlossen ist8. Gleiches gilt für den Wechsel von der Vollmitgliedschaft in die OT-Mitgliedschaft. Auch in diesem Fall nimmt das Mitglied nicht etwa seine negative Koalitionsfreiheit wahr9, sondern es übt weiterhin sein von der positiven Koalitionsfreiheit geschütztes Recht aus, Mitglied in einem Verband zu sein und sich darin zu betätigen10. Zu Erwerb und Beendigung der Mitgliedschaft siehe Teil 6 Rz. 13 ff. Der Austritt aus einer Koalition sowie die Entscheidung, nicht in eine Koalition ein- 24a zutreten, sind von der negativen Koalitionsfreiheit umfasst. Art. 9 Abs. 3 GG stellt nach in jüngerer Zeit zwar bestrittener11, aber nichtsdestotrotz richtiger Auffassung 1 Lutter, AcP 180 (1980), 84 (102). 2 MünchKomm/Arnold, § 38 BGB Rz. 11; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 19 I 3 a. 3 Vgl. BGH v. 12.3.1990 – II ZR 179/89, NJW 1990, 2877; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 19 I 3 a; Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 76 II 4 e. 4 Grundlegend Lutter, AcP 180 (1980), 84 (97 ff.); ferner BGH v. 1.2.1988 – II ZR 75/87, NJW 1988, 1579; BGH v. 20.3.1995 – II ZR 205/94, NJW 1995, 1739; Wiedemann, Gesellschaftsrecht, S. 95; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 19 I 3 b, III 1. 5 Ausländer werden über Art. 2 Abs. 1 GG vergleichbar geschützt. Für Angehörige der EU-Mitgliedstaaten gilt zudem Art. 12 Abs. 1 GR-Charta. 6 Vgl. ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 6. 7 Insoweit zutreffend BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1371). 8 Höpfner, Tarifgeltung, S. 369; a.A. Heinz, Tarifgeltung, S. 54. 9 So aber BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1371). Das ist indes nur zutreffend, wenn man zugleich die negative Koalitionsfreiheit als „negative Tarifvertragsfreiheit“ verstehen wollte; vgl. dazu Rz. 24a. 10 Höpfner, ZfA 2009, 541 (570 ff.). 11 Monographisch Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit, passim; ferner Lobinger, NZA 2013, 945 (946 f.); Ch. Picker, RdA 2014, 25 (33); E. Picker, ZfA 2002, 469 (503); Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 50 ff.
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Teil 2 Rz. 25
Tarifvertragsparteien
von BVerfG1, BAG2 und BGH3 lediglich ein mitgliedschaftsbezogenes Fernbleiberecht dar. Ein Schutz vor Tarifgeltung sieht jedenfalls die deutsche Koalitionsfreiheit nicht vor4. Der einzelne Arbeitnehmer oder Arbeitgeber ist in seiner negativen Koalitionsfreiheit nur verletzt, wenn ein tatsächlicher Zwang zur Mitgliedschaft besteht oder wenn ein nicht unerheblicher, sozialinadäquater Druck zum Beitritt bzw. zum Verbleib in der Koalition ausgeübt wird5. Ein bloßer Anreiz zum Beitritt oder indirekter Druck reichen dagegen nicht aus. 25
Alles Handeln des Verbandes bedarf einer mitgliedschaftlichen Legitimation6. Diese Legitimation erfolgt durch den Beitritt des Mitglieds zum Verband bzw. die Teilnahme an der Gründung des Verbandes und die damit verbundene Akzeptierung der Verbandsverfassung. Beschlüsse des Verbandes müssen darüber hinaus vom „Verbandswillen“ getragen werden, wobei die Anforderungen an die Legitimation (einfache Mehrheit, qualifizierte Mehrheit, Einstimmigkeit) unterschiedlich hoch sein können. Im Vereinsrecht ist grundsätzlich die Mehrheit der abgegebenen Stimmen entscheidend (§ 32 Abs. 1 Satz 3 BGB). Satzungsänderungen verlangen – vorbehaltlich anderweitiger Regelungen in der Satzung selbst (§ 40 BGB) – eine qualifizierte Mehrheit von drei Vierteln der abgegebenen Stimmen (§ 33 Abs. 1 Satz 1 BGB). Änderungen des Vereinszwecks sind nur einstimmig möglich (§ 33 Abs. 1 Satz 2 BGB).
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Im Vereins- und Kapitalgesellschaftsrecht ist der Grundsatz der mitgliedschaftlichen Legitimation des Verbandshandelns vor allem im Zusammenhang mit den Mehrheitsanforderungen für Beschlüsse und dem damit verbundenen Minderheitenschutz von Bedeutung. Für das Handeln des Verbandes nach außen spielt er dagegen keine Rolle, da hierdurch grundsätzlich keine Verpflichtungen der Mitglieder begründet werden. Anders ist die Situation bei den Tarifverbänden. Die von ihnen abgeschlossenen TVe gelten für ihre Mitglieder unmittelbar und zwingend. Die von Art. 9 Abs. 3 GG verliehene Befugnis, tarifliche Rechtsnormen zu setzen, setzt eine Legitimation im Verhältnis von Normgeber und Normunterworfenem voraus7. Als Bestandteil der individuellen Koalitionsfreiheit hängt die Tarifgebundenheit der Arbeitsvertragsparteien von deren individueller Entscheidung über die Mitgliedschaft in der jeweiligen Vereinigung ab8.
1 BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (352); BVerfG v. 10.9.1991 – 1 BvR 561/89, AP TVG § 5 Nr. 27; BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 (218 f.). 2 BAG v. 25.6.2002 – 9 AZR 405/00, AP AEntG § 1 Nr. 12; BAG v. 29.7.2009 – 7 ABR 27/08, NZA 2009, 1424 Rz. 18. 3 BGH v. 8.4.2014 – KZR 53/12, VersR 2014, 1473 Rz. 27 ff.; a.A. noch BGH v. 18.1.2000 – KVR 23/98, AP GWB § 20 Nr. 1. 4 Zum Unionsrecht vgl. EuGH v. 9.3.2006 – C-499/04 (Werhof); EuGH v. 18.7.2013 – C-426/11 (Alemo-Herron); dazu Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit, S. 254 ff., 328 ff.; Höpfner, Tarifgeltung, S. 370 ff. 5 Ausführlich Höpfner, Tarifgeltung, S. 360 ff., 605 m.w.N. 6 Vgl. K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 16 I 1. 7 MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 168 Rz. 1. 8 Vgl. ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 57; ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 6; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 56; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 15 III 1.
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Grundlagen des Verbandsrechts
Rz. 29 Teil 2
IV. Geschäftsführung und Vertretung Die Geschäftsführung des Vereins obliegt grundsätzlich dem Vorstand (§ 27 Abs. 3 27 BGB), sofern die Satzung gemäß § 40 BGB keine anderweitige Regelung vorsieht. Der Vorstand ist dabei an Zweck und Satzung des Vereins und an Weisungen der Mitgliederversammlung gebunden1. Die Weisungsgebundenheit kann so weit gehen, dass der Vorstand faktisch zu einem „Verrichtungsgehilfen“ degradiert wird2. Umgekehrt ist es aber auch möglich, dass die Mitgliederversammlung ihre Kompetenz für Satzungsänderungen und für Grundlagengeschäfte auf den Vorstand überträgt. Ihr muss lediglich die Befugnis verbleiben, dem Vorstand durch Satzungsänderung die Kompetenzen wieder entziehen zu können3. Gemäß § 26 Abs. 1 Satz 2 BGB vertritt der Vorstand den Verein gerichtlich und außer- 28 gerichtlich. Das Gesetz geht von einer unbeschränkten Vertretungsmacht des Vorstandes aus4. Insb. ist die Vertretungsmacht nicht durch den Vereinszweck beschränkt5. Die Ultra-vires-Lehre, nach der ein Verband außerhalb seines durch Gesetz oder Satzung bestimmten Wirkungskreises mangels Rechtsfähigkeit keine wirksamen Geschäfte vornehmen kann6, gilt im deutschen Privatrecht nach heute h.M. grundsätzlich nicht7. Zulässig ist aber eine Beschränkung der Vertretungsmacht durch die Satzung des Vereins. So kann etwa anstelle des Vorstandes eine Tarifkommission für die Entscheidung über die Annahme und Ablehnung der Ergebnisse von Tarifverhandlungen und für den Abschluss und die Kündigung von TVen zuständig sein8. Möglich ist auch eine Satzungsbestimmung, wonach die Wirksamkeit von Handlungen des Vorstandes von der Zustimmung eines besonderen Organs (der Mitgliederversammlung, eines Tarifausschusses etc.) abhängig ist9. Eine solche Beschränkung der Vertretungsmacht des Vorstandes entfaltet nur dann 29 Wirkung gegenüber Dritten, wenn sie in der Satzung eindeutig zum Ausdruck kommt10. Es genügt nicht, dass in der Satzung eine den Handlungsspielraum des Vorstandes einschränkende Regelung getroffen wird, wenn nicht zugleich zum Ausdruck gebracht wird, dass damit auch die Vertretungsmacht beschränkt werden soll11. Schließlich muss auch der Umfang der Beschränkung eindeutig der Satzung zu entnehmen sein. Die Satzung sollte daher die Sachverhalte so konkret wie möglich be-
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MünchKomm/Arnold, § 27 BGB Rz. 40; Staudinger/Weick, § 27 BGB Rz. 25. MünchKomm/Arnold, § 27 BGB Rz. 40. Zu den Grenzen Staudinger/Weick, § 32 BGB Rz. 5. MünchKomm/Arnold, § 27 BGB Rz. 40. Vgl. BGH v. 28.4.1980 – II ZR 193/79, NJW 1980, 2799 (2780). Anders noch BGH v. 30.3.1953 – IV ZR 176/52, JZ 1953, 474 (475); offen gelassen bei BGH v. 28.4.1980 – II ZR 193/79, NJW 1980, 2799 (2780). Vgl. dazu K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 8 V 2. Vgl. Staudinger/Weick, § 26 BGB Rz. 9; MünchKomm/Reuter, Vor § 21 BGB Rz. 15; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, §§ 8 V 2, 24 III 2 c; zu Einschränkungen im Liquidationsverfahren siehe oben Rz. 20 f. Vgl. etwa § 68 der Satzung von ver.di v. 26.9.2015. Vgl. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1315; MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 165 Rz. 17. BGH v. 22.4.1996 – II ZR 65/95, NJW-RR 1996, 866; BayObLG v. 19.8.1999 – 2Z BR 63/99, NJW-RR 2000, 41; MünchKomm/Arnold, § 26 BGB Rz. 14; Staudinger/Weick, § 26 BGB Rz. 11. BGH v. 28.4.1980 – II ZR 193/79, NJW 1980, 2799 (2780).
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Teil 2 Rz. 30
Tarifvertragsparteien
nennen und auf unbestimmte Begriffe, etwa „Investitionsmaßnahmen“ ab einer bestimmten Höhe, verzichten1. Erfüllt die satzungsmäßige Einschränkung der Vertretungsmacht diese Anforderungen nicht, so schränkt sie nur die Geschäftsführungsbefugnis im Innenverhältnis ein2. Die rechtsgeschäftliche Erklärung des Vorstandes ist dann nach außen grundsätzlich wirksam; der Verein kann lediglich in Ausnahmefällen nach den Grundsätzen des Missbrauchs der Vertretungsmacht die Erfüllung verweigern.
V. Haftung 30
Schuldner der Verbindlichkeiten des eingetragenen Vereins ist allein der Verein selbst. Eine Durchgriffshaftung der Mitglieder kommt nur ausnahmsweise „bei Vorliegen ganz besonderer Umstände in Betracht“3. Der Verein muss sich gemäß § 31 BGB alle Schäden zurechnen lassen, die der Vorstand oder ein anderer eigenverantwortlich handelnder Repräsentant4 des Vereins einem Dritten zufügt. Neben dem Verein selbst haftet auch der handelnde Vorstand als Gesamtschuldner (§ 840 Abs. 1 BGB) nach den allgemeinen Grundsätzen für unerlaubte Handlungen (§§ 823 ff. BGB)5, nicht aber für rechtsgeschäftliche Verbindlichkeiten6.
31
Die Haftungsverfassung des nicht eingetragenen Vereins ist weitgehend identisch. Für Verbindlichkeiten des Vereins haftet grundsätzlich allein dieser selbst7. Eine persönliche Haftung der Mitglieder für Vereinsverbindlichkeiten gibt es ebenso wenig wie beim eingetragenen Verein8. Der Verweis des § 54 Satz 1 BGB auf das Recht der GbR hat sich wegen Fortfalls des ursprünglichen Normzwecks (s. Rz. 4 f.) erledigt. Vorstand und Mitglieder haften daher grundsätzlich nur für eigene deliktische Handlungen. Im Gegensatz zum eingetragenen Verein sieht § 54 Satz 2 BGB daneben eine persönliche Haftung des Handelnden für rechtsgeschäftliche Verbindlichkeiten vor9. Der Gesetzgeber wollte damit ursprünglich den fehlenden vermögensrechtlichen Gläubigerschutz für den nicht eingetragenen Verein ausgleichen10. Dieser Zweck hat sich erledigt, da die Regelungen der §§ 42 Abs. 2, 47 ff. BGB über die Liquidation heute auch für den nicht eingetragenen Verein gelten11. Stattdessen dient die Handeln-
1 BayObLG v. 19.8.1999 – 2Z BR 63/99, NJW-RR 2000, 41. 2 BGH v. 22.4.1996 – II ZR 65/95, NJW-RR 1996, 866; MünchKomm/Arnold, § 26 BGB Rz. 14. 3 BGH v. 8.7.1970 – VIII ZR 28/69, NJW 1970, 2015; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 24 VI 2 b. 4 Vgl. dazu BGH v. 30.10.1967 – VII ZR 82/65, NJW 1968, 391; Martinek, Repräsentantenhaftung, passim; Staudinger/Weick, § 31 BGB Rz. 24 ff. 5 Vgl. MünchKomm/Arnold, § 31 BGB Rz. 45. 6 MünchArbR/Löwisch/Rieble, § 160 Rz. 34. 7 MünchKomm/Arnold, § 54 BGB Rz. 41; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 25 III 1, 2; a.A. MünchArbR/Löwisch/Rieble, § 160 Rz. 35. 8 BGH v. 30.6.2003 – II ZR 153/02, NZG 2003, 878; MünchKomm/Arnold, § 54 BGB Rz. 41; a.A. Schöpflin, Der nichtrechtsfähige Verein, S. 393 ff., 519. 9 BGH v. 21.5.1957 – VIII ZR 202/56, NJW 1957, 1186; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 25 III 3; Staudinger/Weick, § 54 BGB Rz. 57. 10 Mugdan, Materialien, S. 641 (= Prot. II, S. 2495). 11 MünchKomm/Arnold, § 54 BGB Rz. 53.
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Hçpfner
Rz. 32 Teil 2
Tariffhigkeit
denhaftung heute als Ausgleich für die Intransparenz der Vertretungsverhältnisse aufgrund der fehlenden Registerpublizität beim nicht eingetragenen Verein1. § 54 Satz 2 BGB sieht eine akzessorische, inhaltsgleiche und unbeschränkte Haftung 32 des Handelnden mit seinem Privatvermögen vor2. Der Handelnde schuldet nicht nur Erfüllung des Rechtsgeschäfts, das er im Namen des Vereins abschließt. Er hat darüber hinaus auch für sämtliche Sekundäransprüche bei Pflichtverletzungen einzustehen3. Im Tarifrecht kann dies weitreichende Folgen haben: So ist nicht nur die Gewerkschaft selbst zum Ersatz der Schäden verpflichtet, die infolge einer Verletzung der Friedenspflicht beim Arbeitgeberverband und dessen Mitgliedern eintreten. Auch die Personen, die als Vertreter der Gewerkschaft den TV unterzeichnen, haften unbegrenzt mit ihrem Privatvermögen für Vertragsverletzungen. Bereits auf dem Deutschen Juristentag 1926 wurde deshalb die Abschaffung der Handelndenhaftung für Gewerkschaften gefordert4. Der Gesetzgeber hat 1967 mit § 37 ParteiG die persönliche Haftung der für politische Parteien Handelnden ausgeschlossen. Er wollte damit die „Vielzahl von ehrenamtlich tätigen Parteimitgliedern [schützen], die auf den verschiedenen Ebenen für ihre Partei rechtsgeschäftlich auftreten“5. Es spricht einiges dafür, diese Vorschrift analog auf Gewerkschaften anzuwenden6. In der Praxis wird das Problem dadurch entschärft7, dass der geschädigte Arbeitgeber(verband) jedenfalls zunächst die Gewerkschaft zur Leistung auffordern muss, bevor er den Handelnden in Anspruch nimmt8, und letzterer überdies einen Freistellungsanspruch gegen die Gewerkschaft hat.
B. Tariffähigkeit I. Allgemeine Grundsätze der Tariffähigkeit Literatur: Bayreuther, Gewerkschaftspluralismus im Spiegel der aktuellen Rechtsprechung – Abschied vom „Einheitstarifvertrag“?, BB 2005, 2633; Bepler, Aktuelle tarifrechtliche Fragen aus Anlass eines BAG-Urteils vom 23. März 2005, in: Festschrift ARGE Arbeitsrecht im DAV, 2006, S. 791; Brors, Zur Entscheidung über die Tarif(un)fähigkeit der CGZP, ArbuR 2010, 406; Buchner, Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum Gewerkschaftsbegriff, in: Festschrift 25 Jahre BAG, 1979, S. 55; Buchner, Die tarifrechtliche Situation bei Verbandsaustritt und bei Auflösung eines Arbeitgeberverbandes, RdA 1997, 259; Buchner, Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung, NZA 1994, 2; Buschmann, Abbau des gesetzlichen Arbeitnehmerschutzes durch kollektives Arbeitsrecht?, in: Festschrift für Reinhard Richardi zum 70. Geburtstag, 2007, S. 93; Däubler, Voraussetzungen der Gewerkschaftseigenschaft, ArbuR 1977, 286; Dieterich, Die 1 MünchKomm/Arnold, § 54 BGB Rz. 53; Bergmann, Fremdorganschaftlich verfaßte OHG, S. 442 f.; zum Meinungsstand Schöpflin, Der nichtrechtsfähige Verein, S. 468 ff. 2 BeckOK-BGB/Schöpflin, § 54 Rz. 44. 3 MünchKomm/Arnold, § 54 BGB Rz. 58; Schöpflin, Der nichtrechtsfähige Verein, S. 489. 4 Vgl. Nipperdey, in: Verhandlungen des 34. DJT 1926, Bd. I, S. 395 (421); Sinzheimer, a.a.O., Bd. II, S. 805, 813. 5 Vgl. BT-Drucks. 14/6710, S. 72; Saliger, Parteiengesetz, S. 176. 6 So MünchKomm/Arnold, § 54 BGB Rz. 43; i.E. auch Kertess, Haftung, S. 41; a.A. Schöpflin, Der nichtrechtsfähige Verein, S. 504 f.; MünchArbR/Löwisch/Rieble, § 160 Rz. 35. 7 In der Bundesrepublik ist kein Fall bekannt, in dem Gewerkschaftsvertreter nach § 54 Satz 2 BGB persönlich in Anspruch genommen wurden. Zu Fällen vor 1945 vgl. die Nachweise bei Kertess, Haftung, S. 30 ff. 8 Vgl. Beuthien, ZIP 1996, 360 (367); Schöpflin, Der nichtrechtsfähige Verein, S. 491.
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Rz. 32 Teil 2
Tariffhigkeit
denhaftung heute als Ausgleich für die Intransparenz der Vertretungsverhältnisse aufgrund der fehlenden Registerpublizität beim nicht eingetragenen Verein1. § 54 Satz 2 BGB sieht eine akzessorische, inhaltsgleiche und unbeschränkte Haftung 32 des Handelnden mit seinem Privatvermögen vor2. Der Handelnde schuldet nicht nur Erfüllung des Rechtsgeschäfts, das er im Namen des Vereins abschließt. Er hat darüber hinaus auch für sämtliche Sekundäransprüche bei Pflichtverletzungen einzustehen3. Im Tarifrecht kann dies weitreichende Folgen haben: So ist nicht nur die Gewerkschaft selbst zum Ersatz der Schäden verpflichtet, die infolge einer Verletzung der Friedenspflicht beim Arbeitgeberverband und dessen Mitgliedern eintreten. Auch die Personen, die als Vertreter der Gewerkschaft den TV unterzeichnen, haften unbegrenzt mit ihrem Privatvermögen für Vertragsverletzungen. Bereits auf dem Deutschen Juristentag 1926 wurde deshalb die Abschaffung der Handelndenhaftung für Gewerkschaften gefordert4. Der Gesetzgeber hat 1967 mit § 37 ParteiG die persönliche Haftung der für politische Parteien Handelnden ausgeschlossen. Er wollte damit die „Vielzahl von ehrenamtlich tätigen Parteimitgliedern [schützen], die auf den verschiedenen Ebenen für ihre Partei rechtsgeschäftlich auftreten“5. Es spricht einiges dafür, diese Vorschrift analog auf Gewerkschaften anzuwenden6. In der Praxis wird das Problem dadurch entschärft7, dass der geschädigte Arbeitgeber(verband) jedenfalls zunächst die Gewerkschaft zur Leistung auffordern muss, bevor er den Handelnden in Anspruch nimmt8, und letzterer überdies einen Freistellungsanspruch gegen die Gewerkschaft hat.
B. Tariffähigkeit I. Allgemeine Grundsätze der Tariffähigkeit Literatur: Bayreuther, Gewerkschaftspluralismus im Spiegel der aktuellen Rechtsprechung – Abschied vom „Einheitstarifvertrag“?, BB 2005, 2633; Bepler, Aktuelle tarifrechtliche Fragen aus Anlass eines BAG-Urteils vom 23. März 2005, in: Festschrift ARGE Arbeitsrecht im DAV, 2006, S. 791; Brors, Zur Entscheidung über die Tarif(un)fähigkeit der CGZP, ArbuR 2010, 406; Buchner, Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum Gewerkschaftsbegriff, in: Festschrift 25 Jahre BAG, 1979, S. 55; Buchner, Die tarifrechtliche Situation bei Verbandsaustritt und bei Auflösung eines Arbeitgeberverbandes, RdA 1997, 259; Buchner, Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung, NZA 1994, 2; Buschmann, Abbau des gesetzlichen Arbeitnehmerschutzes durch kollektives Arbeitsrecht?, in: Festschrift für Reinhard Richardi zum 70. Geburtstag, 2007, S. 93; Däubler, Voraussetzungen der Gewerkschaftseigenschaft, ArbuR 1977, 286; Dieterich, Die 1 MünchKomm/Arnold, § 54 BGB Rz. 53; Bergmann, Fremdorganschaftlich verfaßte OHG, S. 442 f.; zum Meinungsstand Schöpflin, Der nichtrechtsfähige Verein, S. 468 ff. 2 BeckOK-BGB/Schöpflin, § 54 Rz. 44. 3 MünchKomm/Arnold, § 54 BGB Rz. 58; Schöpflin, Der nichtrechtsfähige Verein, S. 489. 4 Vgl. Nipperdey, in: Verhandlungen des 34. DJT 1926, Bd. I, S. 395 (421); Sinzheimer, a.a.O., Bd. II, S. 805, 813. 5 Vgl. BT-Drucks. 14/6710, S. 72; Saliger, Parteiengesetz, S. 176. 6 So MünchKomm/Arnold, § 54 BGB Rz. 43; i.E. auch Kertess, Haftung, S. 41; a.A. Schöpflin, Der nichtrechtsfähige Verein, S. 504 f.; MünchArbR/Löwisch/Rieble, § 160 Rz. 35. 7 In der Bundesrepublik ist kein Fall bekannt, in dem Gewerkschaftsvertreter nach § 54 Satz 2 BGB persönlich in Anspruch genommen wurden. Zu Fällen vor 1945 vgl. die Nachweise bei Kertess, Haftung, S. 30 ff. 8 Vgl. Beuthien, ZIP 1996, 360 (367); Schöpflin, Der nichtrechtsfähige Verein, S. 491.
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Teil 2
Tarifvertragsparteien
Grundrechtsbindung von Tarifverträgen, in: Festschrift für Günter Schaub, 1998, S. 117; Dieterich, Flexibilisiertes Tarifrecht und Grundgesetz, RdA 2002, 1; Dieterich, Gleichheitsgrundsätze im Tarifvertragsrecht, RdA 2005, 177; Dütz, Die „Tarif“-Wirkung von kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen, in: Festschrift für Günter Schaub, 1998, S. 157; Dütz, Gewerkschaft in der Gewerkschaft?, AuR 1995, 337; Dütz, Soziale Mächtigkeit als Voraussetzung eines einheitlichen Koalitionsbegriffs?, ArbuR 1976, 65; Dütz, Zur Entwicklung des Gewerkschaftsbegriffs, DB 1996, 2385; Franzen, Tarifrechtssystem und Gewerkschaftswettbewerb – Überlegungen zur Flexibilisierung des Flächentarifvertrags, RdA 2001, 1; Gamillscheg, Sozialpolitische Bedeutung und Repräsentativität der Gewerkschaft im deutschen und ausländischen Recht, in: Festschrift für Wilhelm Herschel zum 85. Geburtstag, 1982, S. 99; Gitter, Durchsetzungsfähigkeit als Kriterium der Tariffähigkeit für einzelne Arbeitgeber und Arbeitgeberverbände, in: Festschrift für Otto Rudolf Kissel zum 65. Geburtstag, 1994, S. 265; Greiner, Der GKH-Beschluss – Evolution oder (erneute) Revolution der Rechtsprechung zur Tariffähigkeit?, NZA 2011, 825; Grunsky, Gewerkschaftseigenschaft von Arbeitnehmervereinigungen, JZ 1977, 473; Hagemeier, Das BAG zur Tariffähigkeit von Arbeitnehmervereinigungen, ArbuR 1988, 193; Hanau, Verbands-, Tarif- und Gerichtspluralismus, NZA 2003, 128; Hanau/Kania, Zur personellen Beschränkung der Tarifzuständigkeit, in: Festschrift für Wolfgang Däubler, 1999, S. 437; Heinze, Tarifzuständigkeit von Gewerkschaften und Arbeitgebern/Arbeitgeberverbänden, DB 1997, 2122; Heinze/Ricken, Verbandsaustritt und Verbandsauflösung im Spannungsfeld von Tarifeinheit und Tarifpluralität, ZfA 2001, 159; Henssler, Firmentarifverträge und unternehmensbezogene Verbandstarifverträge als Instrumente einer „flexiblen“, betriebsnahen Tarifpolitik, ZfA 1998, 517; Jacobs, Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit einer Spitzenorganisation im Sinne des § 2 Abs. 3 TVG, ZfA 2010, 27; Kamanabrou, Der Streik durch Spartengewerkschaften – Zulässigkeit und Grenzen, ZfA 2008, 241; Kempen, Die „Tarifeinheit“ der Koalitionsfreiheit – ein Zwischenruf, in: Festschrift für Wolfgang Hromadka zum 70. Geburtstag, 2008, S. 177; Kissel, Arbeitsrecht und Staatsvertrag, NZA 1990, 545; Kleinke/Kley/Walter, Personalüberleitungstarifverträge von Mitgliedern kommunaler Arbeitgeberverbände, ZTR 2000, 499; Klimpe-Auerbach, Arbeitsvertragliche Verweisung auf Tarifverträge als Indiz für soziale Mächtigkeit?, ArbuR 2010, 362; Kocher, Gewerkschaftseigenschaft der Christlichen Gewerkschaft Metall, ArbuR 2005, 336; Konzen, Verfassungsmäßigkeit des § 116 Abs. 3 S. 1 AFG – Arbeitslosengeld und Kurzarbeitergeld im Arbeitskampf, SAE 1996, 216; Kraft, Zur Gewerkschaftseigenschaft und Tariffähigkeit eines Verbandes, SAE 1978, 43; Lobinger, Streiks um unternehmensbezogene Tarifverträge bei Verbandstarifgebundenheit des Arbeitgebers, RdA 2006, 12; Löwisch, Die Voraussetzungen der Tariffähigkeit, ZfA 1970, 295; Matthes, Der Arbeitgeber als Tarifvertragspartei, in: Festschrift für Günter Schaub, 1998, S. 477; Mayer-Maly, Voraussetzungen der Gewerkschaftseigenschaft und der Tariffähigkeit, SAE 1991, 100; Müller, Die Tragweite der tariflichen Bezugnahmeklauseln, RdA 1990, 322; Peter, Abschied vom Konsens – Mangelnde Tariftreue und Erosion der Arbeitgeberverbände, in: Festschrift für Wolfgang Däubler, 1999, S. 479; Picker, Ursprungsidee und Wandlungstendenzen des Tarifvertragswesens – Ein Lehrstück zur Privatautonomie am Beispiel Otto v. Gierkes, in: Gedächtnisschrift für Brigitte Knobbe-Keuk, 1997, S. 879; Preis, Legitimation und Grenzen des Betriebsbegriffes im Arbeitsrecht, RdA 2000, 257; Prütting/Weth, Die Vertretung einer Gewerkschaft im Betrieb – Geheimverfahren zum Nachweis der Voraussetzungen, DB 1989, 2273; Richardi, Gegnerunabhängigkeit, Verhandlungsgleichgewicht und Verhandlungsfreiheit als Funktionsvoraussetzungen des Tarifvertragssystems im öffentlichen Dienst, DB 1985, 1021; Richardi, Koalitionsfreiheit und Tariffähigkeit, in: Festschrift für Hellmut Wißmann zum 65. Geburtstag, 2005, S. 159; Richardi, Tariffähigkeit und Erfordernis der sozialen Mächtigkeit, RdA 2007, 118; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, 1996; Rieble, Betriebsverfassungsrechtlicher Gewerkschaftsbegriff, RdA 2008, 35; Rieble, Der Tarifvertrag als kollektiv-privatautonomer Vertrag, ZfA 2000, 5; Rieble, Gewerkschaftswettbewerb und Tariffähigkeit, SAE 2006, 89; Rieble, Relativität der Tariffähigkeit, in: Festschrift für Herbert Wiedemann zum 70. Geburtstag, 2002, S. 519; Rolfs/Witschen, Zeitarbeit vor dem Aus?, DB 2010, 1180; Schrader, Arbeitgeberverbände und Mächtigkeit, NZA 2001, 1337; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, 1975; Söllner, Der verfassungsrechtliche Rahmen für Privatautonomie im Arbeitsrecht, RdA 1989, 144; Söllner, Mächtigkeit und Leistungsfähigkeit als typologische Merkmale der arbeitsrechtlichen Gewerkschaften, ArbuR 1976, 321; Thüsing, 20 Jahre „Dritter Weg“ – Rechtsnatur und Besonderheiten der Regelung kirchlicher Arbeitsverhältnisse, RdA 1997, 163; Thüsing/Stelljes, Verbandsmitgliedschaft und Tarifgebundenheit, ZfA 2005, 527; Wank, Die Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems, in: Soziale Sicherheit durch
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Greiner
Tariffhigkeit
Rz. 35 Teil 2
Sozialpartnerschaft, Festschrift zum 50jährigen Bestehen der Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes, 2007, S. 141; Wank/Schmidt, Neues zur sozialen Mächtigkeit und organisatorischen Leistungsfähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung, RdA 2008, 257; Wiedemann, Tariffähigkeit und Unabhängigkeit, RdA 1976, 72; Zeuner, Gedanken zum Verhältnis von Richterrecht und Betätigungsfreiheit der Beteiligten – dargelegt an Beispielen aus der Rechtsprechung des BAG, in: Festschrift 25 Jahre BAG, 1979; Zöllner, Zu den Voraussetzungen für die Tariffähigkeit von Vereinigungen von Arbeitnehmern oder Arbeitgebern, SAE 1969, 140.
1. Einführung und systematische Grundlagen a) Regelungszweck Da TVe normativ – wie staatliche Gesetze – auf die beiderseits kongruent tarifgebun- 33 denen Arbeitsverhältnisse einwirken (Teil 9 Rz. 1 ff.)1, besteht ein besonderes Bedürfnis, die Zuverlässigkeit und Verantwortung der Akteure, die an der Tarifnormsetzung mitwirken, sicherzustellen. Diesem Anliegen einer Zugangskontrolle zur tariflichen Normsetzungskompetenz dienen weitere Anforderungen an die Tariffähigkeit von TV-Parteien, die über die Merkmale des Koalitionsbegriffs (s. Teil 1 Rz. 21) hinausgehen. Ebenso wie dort die Merkmale der Gegnerfreiheit und Gegnerunabhängigkeit dem Missbrauch der Koalitionsfreiheit entgegenwirken sollen, ist Anliegen der Tariffähigkeitskontrolle die Unterbindung des Missbrauchs der Tarifmacht2. Entsprechend diesem Anliegen ist die Tariffähigkeit unstreitig Wirksamkeitsvoraus- 34 setzung für die normative Wirkung der getroffenen Vereinbarungen3. Fehlt die Tariffähigkeit beim Abschluss des TVs, kommt eine (rückwirkende) Heilung nicht in Betracht4. Der TV ist als solcher unheilbar unwirksam; in Betracht kommt allenfalls eine Umdeutung (§ 140 BGB) in eine schuldrechtlich wirkende Koalitionsvereinbarung5, der es an normativer Wirkung fehlt und die daher auch von nicht tariffähigen Akteuren wirksam vereinbart werden kann6. Auch der gute Glaube an die Tariffähigkeit wird nicht geschützt7. Dass die Anforderungen insofern über die Voraussetzungen des Koalitionsbegriffs hi- 35 nausgehen können, hängt damit zusammen, dass es sich bei der Tarifnormsetzung um einen besonders qualifizierten Bereich der Koalitionsbetätigung handelt: Der TV soll die Disparität des individuellen Arbeitsverhältnisses ausgleichen8. Ihm kommt 1 Zu diesem Ansatz vgl. BVerfG v. 19.10.1966 – 1 BvL 24/65, NJW 1966, 2305, Rz. 21; BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112, Rz. 35; BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 64. 2 Vgl. nur Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 12 („Ordnungsfunktion“); Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 6. 3 Exemplarisch Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 15; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 3; ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 5; Gamillscheg, S. 526; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 160; Koberski/Clasen/ Menzel, § 2 TVG Rz. 12. 4 HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 3; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 15; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 165. 5 Dazu z.B. Gamillscheg, S. 526 m.w.N. 6 Explizit BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112, Rz. 35. 7 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 15; ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 5; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 3. 8 Vgl. nur BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, NZA 1991, 809; Gamillscheg, S. 3 ff. m. zahlr. Nachw.; Bepler, FS ARGE Arbeitsrecht im DAV, S. 807 f.; Picker, GS Knobbe-Keuk, S. 883 f. (949); Löwisch, ZfA 1970, 295 (308).
Greiner
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Teil 2 Rz. 36
Tarifvertragsparteien
nach hergebrachter Sichtweise eine inhaltliche Richtigkeitsgewähr zu. Den TV-Parteien sind zunehmend durch die verstärkte Etablierung tarifdispositiven Gesetzesrechts Deregulierungsaufgaben zugewiesen, deren Wahrnehmung eine erhebliche soziale Verantwortung voraussetzt1. Verlangt man für die Tarifnormsetzung die Erfüllung zusätzlicher Kriterien, die über die Merkmale des verfassungsrechtlichen Koalitionsbegriffs hinausgehen, dient dies folglich der Sicherstellung einer zuverlässigen Tarifnormsetzung. Der Gründung von „Phantomorganisationen“ wird vorgebeugt2. 36
Wie sich spezifische Anforderungen an die Tariffähigkeit, insbesondere auf Gewerkschaftsseite, begründen und rechtfertigen lassen, hängt entscheidend von dogmatischen Grundfragen des Tarifrechts ab. Interpretiert man die Tarifautonomie ausschließlich als kollektiv ausgeübte Privatautonomie3, kann insbesondere das Mächtigkeitskriterium (s. Rz. 55 ff.) vertragstheoretisch gerechtfertigt werden. Stärke und Zuverlässigkeit der TV-Parteien sind eine vertragsfunktionale Voraussetzung4 und damit unerlässlich für die Anerkennung einer Richtigkeitsgewähr der Tarifnormen, die insbesondere im Verzicht auf eine Inhaltskontrolle (§ 310 Abs. 4 Satz 1 BGB) deutlichen Ausdruck findet. Ein Vertragsschluss mit besonderem Richtigkeitsvertrauen setzt eine näherungsweise Parität der Verhandlungspartner voraus5. Bei diesem Ansatz dient die soziale Mächtigkeit dazu, den TV als kollektiv-privatautonomes Gestaltungsinstrument abzusichern. b) Marktfreiheit oder staatliche Regulierung?
37
Führt man den ausschließlich kollektiv-privatautonomen Ansatz konsequent zu Ende, wäre es freilich folgerichtig, auf die individuelle Legitimation der Tarifnormsetzung durch das einzelne Koalitionsmitglied und die Möglichkeit funktionierender marktförmiger Auswahlentscheidungen zu vertrauen. Dann läge es nahe, jenseits der Anforderungen des Koalitionsbegriffs weitere einfachrechtliche Anforderungen an die Tariffähigkeit für verzichtbar zu halten: Im Falle einer Scheingewerkschaft könnte etwa das einzelne Gewerkschaftsmitglied einer „unzuverlässigen“ Tarifnormsetzung zum Schaden der eigenen Mitglieder durch den Austritt aus der „Gewerkschaft“ und gegebenenfalls den Eintritt in eine konkurrierende Gewerkschaft entgehen6.
1 Ausf. Ulber, Tarifdispositives Gesetzesrecht im Spannungsfeld von Tarifautonomie und grundrechtlichen Schutzpflichten, 2010; weiterhin schon Richardi, FS Wißmann, S. 164 f. (172); vgl. ferner Buschmann, FS Richardi, S. 93 ff. 2 Zutr. Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 51 f. 3 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068; BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225, Rz. 55; BAG v. 27.11.2002 – 7 AZR 414/01, NZA 2003, 812, Rz. 19; BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 563/99, NZA 2001, 613, Rz. 45; weiterhin BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 294/08, NZA-RR 2010, 305, Rz. 30; Bayreuther, S. 57 ff.; HWK/Henssler, Einl. TVG Rz. 15 f.; Rieble, ZfA 2000, 5; Dieterich, RdA 2002, 1; Dieterich, FS Schaub, S. 121; Dieterich, RdA 2005, 177 (178); Söllner, RdA 1989, 144 (149). 4 Rieble, FS Wiedemann, S. 526; ähnlich Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1867 ff.; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 120 ff. 5 Zur Überlegung, dass dies allein als Legitimationsgrund des Mächtigkeitskriteriums nicht genügt, vgl. Greiner, Rechtsfragen, S. 213. 6 Vgl. Grunsky, JZ 1977, 470 (473 f.); ähnlich Eitel, S. 58; Richardi, RdA 2007, 118 (119); Henssler, S. 50 ff., 62; Kamanabrou, ZfA 2008, 241 (249 ff.); Gamillscheg, S. 433 („natürliche Auslese innerhalb der Verbände“); Bayreuther, BB 2005, 2633 (2637); Kraft, SAE 1978, 43 (44).
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Greiner
Tariffhigkeit
Rz. 40 Teil 2
Dieser Ansatz, der zusätzliche einfachrechtliche Anforderungen an die Tariffähigkeit 38 als einen nicht erforderlichen Eingriff in die Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) interpretiert1, vermag jedenfalls unter den gegenwärtigen Bedingungen des TV-Systems nicht zu überzeugen. Zum einen kann man bereits an der ausschließlich kollektivprivatautonomen Herleitung der Normsetzungskompetenz zweifeln2. Ferner ist das Vertrauen auf eine eigenverantwortliche Auswahlentscheidung des einzelnen Tarifgebundenen nur dann gerechtfertigt, wenn es funktionsfähige Alternativen gibt, insbesondere die Existenz pluralistisch miteinander konkurrierender Gewerkschaften sichergestellt ist3. Der Arbeitnehmer hat nämlich nur unter den Vorzeichen eines funktionierenden Gewerkschaftswettbewerbs die Möglichkeit, sich marktförmig für einen anderen kollektiven Regelungsanbieter zu entscheiden – der Arbeitgeber hat immerhin als tariffähige Partei (s. Rz. 96 ff.) stets die Alternative einer eigenständigen Tarifpolitik ohne Einbindung in einen Arbeitgeberverband. Selbst wenn derartige Alternativen vorhanden sind, ist jedoch die Markttransparenz 39 Voraussetzung für eine funktionierende eigenverantwortliche Auswahlentscheidung4. Das einzelne Koalitionsmitglied kann durch Koalitionsaustritt und Koalitionswechsel eine einmal eingegangene Tarifbindung nicht sofort abstreifen (vgl. § 3 Abs. 3 TVG; s. Teil 6 Rz. 61 ff.). Der marktförmigen Auswahlentscheidung sind also selbst unter den Vorzeichen eines funktionierenden Koalitionswettbewerbs Grenzen gesetzt. Somit müsste auch in einem voll entfalteten pluralistischen Koalitionssystem die Zuverlässigkeit der Akteure einer Vorabkontrolle unterworfen bleiben. Übersteigerte Anforderungen an die Tariffähigkeit drohen auf der anderen Seite eine 40 Gefahr für den Gewerkschaftspluralismus mit sich zu bringen und ihrerseits einen Beitrag zum Versagen der skizzierten marktförmigen Selbstregulierung zu leisten5. Insofern sieht sich die Rechtsprechung vor der schwierigen Aufgabe, die sozialstaatlich wünschenswerten Kontrollkompetenzen wirkungsvoll auszuüben, andererseits die Anforderungen aber auch nicht über das erforderliche Maß hinaus zu verschärfen. Der Rechtsprechung zur Tariffähigkeit kommt eine Schlüsselfunktion für das gesamte TV-System zu, indem eine besonders strikte Zugangskontrolle letztlich zum Entstehen von Monopolverbänden führt. Eine liberalisierte Zugangskontrolle ermöglicht erst das Entstehen eines pluralistisch aufgefächerten Koalitionsspektrums und damit eines funktionierenden Wettbewerbs unterschiedlicher Regelungsanbieter. Eine vollständige Freigabe des Zugangs zum TV-System würde hingegen die Gefahr einer sozial unverantwortlichen Ausübung von Tarifmacht mit sich bringen und im Extremfall die Gründung von „Scheingewerkschaften“ begünstigen6.
1 Vgl. Gamillscheg, S. 433; Gamillscheg, FS Herschel, S. 115; Henssler, S. 26 ff.; Mayer-Maly, Anm. AP Nr. 25 zu § 2 TVG; ähnlich Kraft, SAE 1978, 43 f. 2 Greiner, Rechtsfragen, S. 99 ff. 3 Greiner, Rechtsfragen, S. 215. 4 In anderem Kontext Stoffels, AGB-Recht, Rz. 564 (Transparenz als „Funktionsbedingung des Marktes“). 5 Zutr. HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 18; Henssler, S. 30; Zöllner, SAE 1969, 140; ähnlich Buchner, FS 25 Jahre BAG, S. 55 ff.; Mayer-Maly, SAE 1991, 100 (102); Grunsky, JZ 1977, 470 (473 f.). 6 Zu einem praktischen Fall (GNBZ) LAG Köln v. 20.5.2009 – 9 TaBV 105/08, ArbuR 2009, 316.
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Teil 2 Rz. 41
Tarifvertragsparteien
c) Verfassungsrechtliche Einordnung 41
Angesichts der beschriebenen Wirkungen stellt sich die Frage nach der verfassungsrechtlichen Beurteilung derjenigen Anforderungen an die Tariffähigkeit, die über die Begriffsmerkmale einer Koalition i.S.v. Art. 9 Abs. 3 GG hinausgehen. Insbesondere ist fraglich, ob es sich bei der Statuierung zusätzlicher Voraussetzungen um einen Eingriff in die Koalitionsfreiheit oder aber um eine Ausgestaltung dieses Grundrechts handelt (s. Teil 1 Rz. 12)1.
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Nach wohl überwiegender Ansicht sind die einfachrechtlichen Kriterien der Tariffähigkeit als Eingriff in die Koalitionsfreiheit zu erfassen2 und bedürfen mithin einer verfassungsimmanenten Rechtfertigung3. Im Einklang mit der Rechtsprechung des BVerfG lässt sich diese in weit und extensiv ausgelegten Verfassungsgütern finden, insbesondere dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG)4 sowie dem aus Art. 9 Abs. 3 GG selbst resultierenden Postulat der Funktionsfähigkeit des TV-Systems5.
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Zutreffender scheint, die Statuierung weiterer einfachrechtlicher Kriterien hinsichtlich der Tariffähigkeit als eine Ausgestaltung des Grundrechts zu begreifen6. Dies wird dem Verhältnis von staatlicher und tarifautonomer Normsetzung weit eher gerecht7: Den Koalitionen ist kein Maximum an (tariflicher) Regelungskompetenz anvertraut, in welches der staatliche Gesetzgeber mit jeder Normsetzung auf dem Gebiet der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen in rechtfertigungsbedürftiger Weise eingriffe. Vielmehr stellt sich das Verhältnis von staatlicher und tarifautonomer Normsetzung so dar, dass das staatliche Recht ohne Eingriff in die Tarifautonomie Gemeinwohlbelange „ausgestaltend“ entfalten kann. Dies geschieht insbesondere, wenn dem Anliegen einer zuverlässigen, verlässlichen Tarifnormsetzung durch die Festsetzung weiterer Zulassungskriterien Rechnung getragen wird.
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Voraussetzung für diese Sichtweise ist freilich, dass die Tarifnormsetzung nicht ausschließlich kollektiv-privatautonom gedeutet wird, sondern ein delegatorischer Einschlag anerkannt wird. Legt man diesen Ausgangspunkt zugrunde, hat das grundlegende Diktum des BVerfG zur Rechtfertigung des Mächtigkeitskriteriums, dem staatlichen Gesetzgeber könne nicht gleichgültig sein, zu wessen Gunsten er sich durch die Verleihung der Tariffähigkeit seiner Normsetzungskompetenz auf dem Ge-
1 Vgl. monographisch Cornils, Ausgestaltung, insbesondere S. 396 ff.; Kemper, Koalitionsfreiheit, S. 83 ff.; Konzen, SAE 1996, 216 (218 ff.); Kempen, FS Hromadka, S. 179 ff.; Dieterich, Tarifautonomie, S. 69 ff. 2 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112; Bayreuther, BB 2005, 2633 (2636), der einen verfassungsrechtlichen „Anspruch auf Teilhabe am Tarifsystem“ annimmt; Sachs/Höfling, Art. 9 GG Rz. 65; Höfling, RdA 1999, 182 (185). 3 Vgl. BVerfG v. 24.2.1999 – 1 BvR 123/93, NZA 1999, 713; Sachs/Höfling, Art. 9 GG Rz. 137; AK-GG/Kittner/Schiek, Art. 9 III Rz. 95 ff. 4 Vgl. BVerfG v. 27.4.1999 – 1 BvR 2203/93, 1 BvR 897/95, NZA 1999, 992. 5 Zu diesem Topos umfassend Wank, FS SOKA Bau, S. 141 ff. 6 Zutr. Wank/Schmidt, RdA 2008, 257 (266); Richardi, FS Wißmann, S. 170; Kannengießer in Schmidt-Bleibtreu, Art. 9 GG Rz. 25; mit dieser Tendenz auch BVerfG v. 19.10.1966 – 1 BvL 24/65, NJW 1966, 2305; so nun auch BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 35; BAG v. 28.1.2008 – 3 AZB 30/07, NZA 2008, 489 (Verfahren nach § 97 ArbGG als Ausgestaltung der Tarifautonomie). 7 Ausf. Greiner, Rechtsfragen, S. 73 ff.
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Tariffhigkeit
Rz. 49 Teil 2
biet der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen partiell begibt1, weiterhin Bestand. Freilich ist auch bei Anerkennung einer Ausgestaltungsdogmatik die Rückwirkung auf die Gründungs- und Bestandsgarantie aus Art. 9 Abs. 3 GG (s. Teil 1 Rz. 7, 22 f.) so groß, dass die verfassungsrechtliche Beurteilung im Regelfall ähnlichen Maximen folgen wird wie bei Zugrundelegung einer reinen Eingriffsdogmatik. 2. Voraussetzungen der Tariffähigkeit von Arbeitnehmerkoalitionen Fähig zum Abschluss von TVen sind auf Arbeitnehmerseite solche Organisationen, 45 die – kumulativ – den Koalitionsbegriff des Art. 9 Abs. 3 GG (s. Teil 1 Rz. 21) erfüllen, den Abschluss von TVen zu ihrem satzungsautonomen Aufgabenbereich zählen (Tarifwilligkeit, s. Rz. 53 f.), über eine hinreichende Durchsetzungskraft (soziale Mächtigkeit, s. Rz. 55 ff.) und organisatorische Leistungsfähigkeit verfügen und das geltende Tarifrecht als Grundlage ihres Wirkens anerkennen (s. Rz. 83 f.). Keine tariffähigen Akteure sind im deutschen Tarifrecht die Betriebsräte. Diese können 46 lediglich Betriebsvereinbarungen abschließen, denen zwar gleichfalls eine normative Wirkung zukommt (vgl. § 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG), die jedoch nicht erstreikt werden können und im Verhältnis zu Tarifnormen mit gleichem Regelungsgegenstand zurücktreten (vgl. insbesondere §§ 77 Abs. 3, 87 Abs. 1 Einls. BetrVG; s. Teil 9 Rz. 259 ff.). a) Koalitionsbegriff Notwendige Bedingung der Tariffähigkeit eines Zusammenschlusses von Arbeitneh- 47 mern ist, dass er den Koalitionsbegriff des Art. 9 Abs. 3 GG erfüllt, der kollektiv-persönliche Schutzbereich dieses Grundrechts somit eröffnet ist (s. Teil 1 Rz. 19, 21). Art. 9 Abs. 3 GG sieht dem Wortlaut nach zwei Begriffsmerkmale für die Eröffnung des persönlichen Schutzbereichs vor: Zum einen muss es sich um eine „Vereinigung“ handeln, zum anderen muss diese Vereinigung dem Zweck der „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ dienen. Rechtsprechung und Literatur haben aus beiden offenen und sperrigen Merkmalen 48 mehrere stärker konkretisierte und damit subsumtionsfähige Kriterien abgeleitet, die den Koalitionsbegriff ausfüllen: Demnach muss es sich um einen freiwilligen privatrechtlichen Zusammenschluss handeln, der über eine gewisse organisatorische Verfestigung und Dauerhaftigkeit verfügt2 und ferner eine demokratische Binnenstruktur im Sinne einer Etablierung von Mehrheitsprinzip und Minderheitenrechten3 aufweist. Neben diese Konkretisierungen des Vereinigungsbegriffs treten Ableitungen aus dem Vereinigungszweck: Außer dem Willen, zur „Wahrung und Förderung der Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen“ tätig zu werden4, was reine Wirtschaftsverbände aus1 BVerfG v. 18.11.1954 – 1 BvR 629/52, NJW 1954, 1881. 2 Zur umstrittenen Rechtsstellung sog. Ad-hoc-Koalitionen Scholz in Maunz/Dürig, Art. 9 GG Rz. 213; Höfling in Sachs, Art. 9 GG Rz. 56; Löwer in v. Münch/Kunig, Art. 9 GG Rz. 91; Seiter, S. 76 ff. versus AK-GG/Kittner/Schiek, Art. 9 III Rz. 117; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1635. 3 Im Einzelnen Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 342 ff. 4 BVerfG v. 6.5.1964 – 1 BvR 79/62, NJW 1964, 1267; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 357 m.w.N.
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Teil 2 Rz. 50
Tarifvertragsparteien
schließt1, soll nach vorherrschender Sichtweise erforderlich sein, dass die Vereinigung über hinreichende Unabhängigkeit vom Staat, von politischen Parteien oder auch Religionsgemeinschaften verfügt – ohne dass indes weltanschauliche oder politische Neutralität vorauszusetzen wäre. Erforderlich ist nur eine von Kirchen und Parteien unbeeinflusste, autonome Willensbildung2. Ferner wird vorausgesetzt, dass sie gegnerunabhängig ist, z.B. nicht auf finanzielle Zuwendungen des sozialen Gegenspielers angewiesen ist, und schließlich, dass sie nicht sowohl Arbeitgeber- als auch Arbeitnehmerinteressen vertritt und somit gegnerfrei ist. Die Ausrichtung auf die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass Personen Mitglieder sind, die keine Arbeitnehmer sind. So können z.B. einer Koalition auch arbeitnehmerähnliche Personen, Beamte oder leitende Angestellte angehören, ohne dass die Koalition dadurch ihre Tariffähigkeit für die in ihr organisierten Arbeitnehmer verliert, es sei denn, dadurch würde die Unabhängigkeit substantiell in Frage gestellt3. Als weitere Konkretisierung der Unabhängigkeit wird verbreitet ferner das Merkmal der Überbetrieblichkeit gefordert: Der Betätigungsbereich einer Arbeitnehmerkoalition soll demnach nicht auf einen Betrieb oder ein Unternehmen beschränkt sein dürfen4. Anderenfalls drohe die Abhängigkeit der Koalition von dem jeweiligen Arbeitgeber. Hinsichtlich der Details und des Meinungsstands zu den einzelnen Begriffsmerkmalen sei auf die verfassungsrechtliche Darstellung verwiesen (Teil 1 Rz. 21 f.). 50
Der zentrale Begriff der Gegnerunabhängigkeit ist nach Rechtsprechung des BAG nicht im formalen, sondern im materiellen Sinn zu verstehen5. Dies bedeutet, dass es an Gegnerunabhängigkeit fehlt, wenn die eigenständige Interessenwahrnehmung der TV-Partei durch personelle Verflechtungen, in organisatorischer Hinsicht oder durch wesentliche finanzielle Zuwendungen ernsthaft gefährdet ist6. Daran ist insbesondere zu denken, wenn sie sich im Wesentlichen nicht aus den Beiträgen ihrer Mitglieder finanziert und deshalb zu befürchten ist, dass die Arbeitgeberseite durch Androhung der Zahlungseinstellung die Willensbildung auf Arbeitnehmerseite beeinflussen kann. Für die Frage der Gegnerunabhängigkeit ist damit die originäre finanzielle Leistungsfähigkeit der Koalition von besonderer Aussagekraft und Bedeutung7. Die Koalition muss zur Darlegung ihrer Gegnerunabhängigkeit somit offenlegen, welches Beitragsaufkommen und welches Spendenaufkommen aus welchen Quellen sie hat. Ist allgemein bekannt, dass eine Koalition angesichts ihrer laufenden Ausgaben und des geringen Beitragsaufkommens zur Abwendung einer strukturellen Unterfinanzierung 1 Koberski/Clasen/Menzel, § 2 TVG Rz. 54; Fitting, § 2 BetrVG Rz. 41. 2 Großzügiger Maßstab in BAG v. 21.11.1975 – 1 ABR 12/75, NJW 1976, 1165; dazu Jung, Die Unabhängigkeit als konstitutives Element im Koalitions- und Tarifvertragsrecht, S. 225; näher auch Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 330 ff. 3 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 234; Koberski/Clasen/Menzel, § 2 TVG Rz. 22; vgl. § 12a TVG. 4 Dafür insbesondere BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 67; HStR/Scholz, Bd. VI, § 151 Rz. 63; kritisch u.a. ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 25 („allenfalls als Teilaspekt und Indiztatsache von begrenztem Interesse“); ähnlich MünchArbR/Löwisch/Rieble, § 155 Rz. 65; Däubler/Hege, Koalitionsfreiheit, Rz. 118; ausf. zum Meinungsstand Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 345 ff. 5 BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 31. 6 BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 31; vgl. auch schon BAG v. 14.12.2004 – 1 ABR 51/03, NZA 2005, 697, Rz. 37 m.w.N. 7 BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 52.
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Tariffhigkeit
Rz. 52 Teil 2
auf weitere Finanzmittel angewiesen ist, muss die Koalition darlegen und beweisen können, dass die dazu erforderlichen Mittel nicht vom sozialen Gegenspieler stammen. Die vollständige personelle Gegnerunabhängigkeit im Sinne einer „Reinheit des Verbands“ – kein Arbeitgeber darf zugleich der Gewerkschaft angehören – wird man mit Blick auf die mangelnde Erforderlichkeit dieser Anforderung und die bestehenden erheblichen Rechtsunsicherheiten und Abgrenzungsschwierigkeiten hingegen nicht fordern können1, solange die Überschneidung die inhaltlich-materielle Unabhängigkeit nicht in Frage stellt. Eine solche „Inkompatibilität“2 der Mitgliedschaften wird man nur für die unmittelbar persönlich am TV-Abschluss Beteiligten, also die Mitglieder der Tarifkommission, verlangen können3. Im Übrigen stehen finanzielle und organisatorische Aspekte der Unabhängigkeit im Vordergrund. Hervorzuheben ist, dass vertragsfunktionale Schutzzwecke, insbesondere die Absiche- 51 rung des Vertrags als Instrument zur Regelung gegenläufiger Interessen, die dem Unabhängigkeitspostulat zugrunde liegt (s. Rz. 36, 50), entgegen h.M. vorzugsweise nicht durch dogmatisch schwer begründbare ungeschriebene Verengungen des Schutzbereichs von Art. 9 Abs. 3 GG verwirklicht, sondern als legitime einfachrechtliche Ausgestaltung der Tarifnormsetzungskompetenz betrachtet werden sollten4. Insbesondere das Postulat der Gegnerunabhängigkeit ist bei diesem Verständnis nicht bereits dem Koalitionsbegriff zuzuordnen; Gleiches gilt für das Erfordernis der Gegnerfreiheit. Gleichwohl sind beide Kriterien in jedem Fall Voraussetzung für den wirksamen Abschluss eines TVs5. Ihr Regelungsanliegen ist bei dieser Betrachtungsweise, dass im Interesse der tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien gewährleistet sein muss, dass der TV ausschließlich als „echtes“ Regelungsinstrument zur Bewältigung von Interessengegensätzen verwendet wird, „ScheinTVe“, denen kein echter Interessengegensatz zugrunde liegt, hingegen ausgeschlossen werden (s. auch Rz. 55 ff.)6. b) Weitere Anforderungen auf einfachrechtlicher Ebene Ein über den Koalitionsbegriff hinausgehender Begriff der Tariffähigkeit ist gesetzlich 52 nicht definiert7. Die im gemeinsamen Protokoll über die Leitsätze des Staatsvertrags vom 18.5.19908 enthaltenen Aussagen zur Tariffähigkeit sollen lediglich eine Beschreibung des geltenden Rechts, nicht aber eine rechtsverbindliche (Neu-)Definition sein; auch ist der Anwendungsbereich höchst eingeschränkt (s. näher Rz. 127). § 2 Abs. 1–3 TVG definieren zwar, wer Partei eines TVs sein kann, beinhalten aber selbst keine nähere Definition der Tariffähigkeit9. Angesichts der in §§ 2a Abs. 1 Nr. 4, 97
1 Wie hier Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 308 f.; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 65 f.; Kempen/ Zachert/Kempen, § 2 TVG Rz. 75 für Gewerkschaften; a.A. Fitting, § 2 BetrVG Rz. 35, 41; Richardi, § 2 BetrVG Rz. 45. 2 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 311. 3 Zutr. HWK/C. W. Hergenröder, Art. 9 GG Rz. 43; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 311. 4 Greiner, Rechtsfragen, S. 82 ff.; s. auch Teil 1 Rz. 19. 5 Vgl. schon Sinzheimer, Arbeitstarifgesetz, S. 58. 6 Grundlegend Zöllner/Seiter, Paritätische Mitbestimmung, S. 34 ff.; weiterhin Richardi, DB 1985, 1021 (1022); Wiedemann, RdA 1976, 72 (73); Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 302 ff.; Koberski/Clasen/Menzel, § 2 TVG Rz. 47. 7 BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 27. 8 BGBl. II, 518, 537, 545. 9 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 64.
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Teil 2 Rz. 53
Tarifvertragsparteien
Abs. 1, Abs. 5 Satz 1 ArbGG erkennbaren Grundentscheidung des Gesetzgebers für einen über die Koalitionsmerkmale hinausgehenden Begriff der Tariffähigkeit kann und muss die Arbeitsgerichtsbarkeit eingrenzende Konkretisierungen der Tariffähigkeit entwickeln. Das BAG hat folgende Formel entwickelt: „Eine Arbeitnehmervereinigung ist (…) tariffähig, wenn sie sich als satzungsgemäße Aufgabe die Wahrnehmung der Interessen ihrer Mitglieder in deren Eigenschaft als Arbeitnehmer gesetzt hat und willens ist, Tarifverträge abzuschließen. Sie muss frei gebildet, gegnerfrei, unabhängig und auf überbetrieblicher Grundlage organisiert sein und das geltende Tarifrecht als verbindlich anerkennen. Weiterhin ist Voraussetzung, dass die Arbeitnehmervereinigung ihre Aufgabe als Tarifpartnerin sinnvoll erfüllen kann. Dazu gehören die durch ihre Mitglieder vermittelte Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler und eine leistungsfähige Organisation.“1 Keine Voraussetzung der Tariffähigkeit ist die Rechtsfähigkeit2; Gewerkschaften sind traditionell und aus historischen Gründen als nicht rechtsfähige Vereine organisiert. Die Tariffähigkeit erstreckt sich auch auf selbständig entscheidungsfähige und eigenverantwortlich handelnde Unterverbände, also etwa Orts- und Bezirksverbände, sofern die Gewerkschaftssatzung ihnen Tarifzuständigkeit einräumt3. aa) Tarifwilligkeit 53
Die Festlegung des Wirkungskreises einer Koalition erfolgt durch die Satzung. Bei der Ausgestaltung ihrer Satzung genießt die Koalition den vorbehaltlosen Grundrechtsschutz durch Art. 9 Abs. 3 GG; eine Schutzfacette des Grundrechts ist die Satzungsautonomie (s. Rz. 12)4. Eine Arbeitnehmerkoalition, die den Abschluss von TVen nicht zu ihrem satzungsautonom festgelegten Aufgabenkreis zählt, macht insofern von der durch Art. 9 Abs. 3 GG vorbehaltlos zugebilligten Koalitionsmittelwahlfreiheit Gebrauch5. Anlass, ihr eine Kompetenz aufzuzwingen, die sie gar nicht nutzen möchte, besteht nicht. Entscheidet sich eine Koalition dafür, ihren Wirkungskreis auf die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen außerhalb des tarifpolitischen Wirkungskreises zu beschränken, unterliegt diese legitime satzungsautonome Entscheidung keiner inhaltlichen Bewertung. Die in der Satzung dokumentierte Bereitschaft zum Abschluss von TVen (Tarifwilligkeit) ist somit Voraussetzung für die Zuerkennung der Tariffähigkeit6. Auch eine tarifunwillige Koalition genießt den Schutz durch Art. 9 Abs. 3 GG7.
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Dementsprechend kann eine Koalition, die in der Vergangenheit den Abschluss von TVen zu ihrem Zuständigkeitsbereich gezählt hat, durch Satzungsänderung ihre Ta1 So BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 67; ebenso bereits BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 30; BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112, Rz. 34. 2 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 253; HWK/C. W. Hergenröder, Art. 9 GG Rz. 32. 3 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 259 ff. 4 Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1792 f. m.w.N.; vgl. auch BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 90; ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 40. 5 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 25. 6 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112; BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289; BAG v. 16.11.1982 – 1 ABR 22/78, DB 1983, 1151; vgl. auch Löwisch, ZfA 1970, 295 (304); Richardi, Kollektivgewalt, S. 155. 7 Zutr. Bayreuther, S. 399 f.; Buchner, NZA 1994, 2 (10); Thüsing/Stelljes, ZfA 2005, 527 (534 f.); für Arbeitnehmerkoalitionen auch Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 16.
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Tariffhigkeit
Rz. 57 Teil 2
rifwilligkeit für die Zukunft ausschließen. Sie bleibt gleichwohl eine Koalition i.S.v. Art. 9 Abs. 3 GG, die ihren Koalitionszweck auf anderen Gebieten (etwa politische Einflussnahme, Beratung ihrer Mitglieder u.Ä.) weiterhin verwirklichen kann. Zu den Wirkungen des satzungsautonomen Wechsels von einer tarifwilligen zu einer tarifunwilligen Koalition s. zusammenfassend unten Rz. 123 f. bb) Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler (1) Zugangskontrolle als legitime ordnungspolitische Ausgestaltung Vorstellbar wäre ein TV-System, das auch auf Gewerkschaftsseite auf eine Prüfung der 55 Durchsetzungsfähigkeit gegenüber dem sozialen Gegenspieler als Voraussetzung der Tariffähigkeit verzichtet. Dann würde auf die Eigenverantwortung der Gewerkschaftsmitglieder und darauf gesetzt, dass sich nur diejenigen Akteure am „Markt der gewerkschaftlichen Interessenvertretung“ halten können, die eine angemessen wirkungsvolle Verhandlungsmacht und dementsprechende Verhandlungsergebnisse gegenüber dem sozialen Gegenspieler vorweisen können. Ein solches liberales Regelungsmodell würde auf einen freien Markt der Gewerkschaften und starke Gewerkschaftskonkurrenz unter weitgehendem Verzicht auf staatliche Regulierung setzen1. Das geltende TV-Recht verfolgt einen anderen Ansatz. Es erachtet die Tarifnormset- 56 zung als so wesentlich für die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen, dass es diese verantwortungsvolle Aufgabe nur solchen Arbeitnehmerkoalitionen anvertrauen will, die das in dem TV enthaltene Versprechen der „Richtigkeitsgewähr“ auch inhaltlich einlösen können. Es soll kein Prinzip des trial and error geben, sondern von vornherein sollen nur prognostisch verantwortungsvoll handelnde Akteure zur Tarifnormsetzung zugelassen werden2. Dieses Regelungsmodell scheint insbesondere angesichts der intensiven Wirkungen 57 von Tarifnormen angemessen. Könnte auch eine durchsetzungsschwache Arbeitnehmerkoalition wirksame Tarifnormen abschließen, müsste dem koalitionsangehörigen Arbeitnehmer die Möglichkeit eingeräumt werden, eine daran bestehende Tarifbindung sofort und folgenlos zu beenden, wenn ihm die mangelnde Durchsetzungsstärke der Koalition bewusst wird. Das zur Stabilisierung des TV-Systems etablierte Rechtsinstitut der Nachbindung (§ 3 Abs. 3 TVG, s. Teil 6 Rz. 61 ff.) würde zu einem solchen Modell nicht passen. Die weit reichenden normativen Wirkungen, die somit von Tarifnormen ausgehen, sprechen dafür, keinen gänzlich „freien Markt der Gewerkschaften“3 zuzulassen, sondern staatliche Kontroll- und Einflussmöglichkeiten zu eröffnen, die in einer sozialen Marktwirtschaft das am ehesten systemkonforme Ausgestaltungsmodell darstellen, sofern innerhalb des staatlich gesetzten Ordnungsrahmens hinreichender Spielraum für eine auch wettbewerbliche Betätigung konkurrierender Arbeitnehmerkoalitionen verbleibt. Gleichfalls spricht die faktische Wirkungsbreite der Tarifnormen – insbesondere infolge Verwendung von Bezugnahmeklauseln – dafür. 1 Vgl. Grunsky, JZ 1977, 470 (473 f.); ähnlich Eitel, S. 58; Richardi, RdA 2007, 118 (119); Henssler, S. 50 ff., 62; Kamanabrou, ZfA 2008, 241 (249 ff.); Gamillscheg, S. 433 („natürliche Auslese innerhalb der Verbände“); Bayreuther, BB 2005, 2633 (2637); Kraft, SAE 1978, 43 (44). 2 Dagegen und für das Modell einer verstärkten Inhaltskontrolle der Tarifnormen Wiedemann/ Oetker, § 2 TVG Rz. 406. 3 Henssler, S. 50 ff.
Greiner
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Teil 2 Rz. 58
Tarifvertragsparteien
(2) Ausgangspunkt: Arbeitskampfbereitschaft und -fähigkeit 58
Ursprünglich herrschte im Tarifrecht der Bundesrepublik Deutschland1 die Vorstellung, dass eine Arbeitnehmerkoalition nur dann tariffähig ist, wenn sie einen wirkungsvollen Arbeitskampf führen kann und dazu auch bereit ist2. Nachdem das BVerfG 1964 diesem strengen Regelungsmodell jedenfalls für den Sonderfall einer Gewerkschaft katholischer Hausangestellter eine Absage erteilt hatte3, ging das BAG zur offeneren Prüfung der hinreichenden Durchsetzungskraft über4. Diese muss sich nicht zwangsläufig in der Arbeitskampffähigkeit äußern, schlägt sich jedoch typischerweise darin nieder. So gesehen ist das alte Erfordernis der Arbeitskampfbereitschaft und -fähigkeit eine besonders charakteristische Ausdrucksform des heute verwendeten, umfassenderen Topos der sozialen Mächtigkeit. Eine Arbeitnehmerkoalition, die bereits hinreichende Arbeitskampfbereitschaft und -fähigkeit gezeigt hat, wird damit regelmäßig als sozial mächtig und durchsetzungsfähig anzuerkennen sein, es sei denn, dass im Rahmen der stets anzustellenden Prognose (s. Rz. 63 ff.) hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie ihre Arbeitskampfbereitschaft und -fähigkeit mittlerweile eingebüßt hat. (3) Koalitionsmittelfreiheit
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Da jedoch die Wahl der Mittel, die eine Koalition einsetzen möchte, ihrer durch Art. 9 Abs. 3 GG vorbehaltlos geschützten Betätigungsfreiheit, insbesondere ihrer Satzungsautonomie, unterliegt, verzichtet das BAG nunmehr in ständiger Rechtsprechung5 auf ein starres Erfordernis der Arbeitskampfbereitschaft und -fähigkeit. Auch eine Arbeitnehmerkoalition, die das Mittel des Arbeitskampfes für sich ausgeschlossen oder jedenfalls noch keinen Arbeitskampf geführt hat, kann demnach eine tariffähige Arbeitnehmerkoalition sein6. Der Begriff der sozialen Mächtigkeit umfasst damit das Kriterium der Arbeitskampffähigkeit, setzt es jedoch nicht mehr absolut, sondern betrachtet den Arbeitskampf als einen – freilich den typischsten – Weg zu einem zuverlässigen TV-Abschluss. Das Kriterium der Arbeitskampffähigkeit schimmert immer wieder auch in der jüngeren Judikatur zur Tariffähigkeit noch durch, etwa zuletzt bei der Begründung des Umstands, dass eine Gewerkschaft, die Spezialisten in Schlüsselstellungen organisiert, trotz einer geringen Mitgliederzahl dann hinreichend durchsetzungsstark sein kann, wenn die Gewerkschaftsmitglieder kraft ihrer Stellung im Arbeitsleben eine besondere Arbeitskampfmacht entfalten können (s. Rz. 79)7. 1 Anders im Recht der Weimarer Republik, das keine derartige Zugangskontrolle zum TV-System kannte; vgl. Eitel, S. 74 f.; Greiner, Rechtsfragen, S. 180 ff. 2 BAG v. 19.1.1962 – 1 ABR 14/60, DB 1962, 242; BAG v. 6.7.1956 – 1 AZB 18/55, ArbuR 1957, 124. 3 BVerfG v. 6.5.1964 – 1 BvR 79/62, BB 1964, 594. 4 Seit BAG v. 16.11.1982 – 1 ABR 22/78, DB 1983, 1151; vgl. auch schon BAG v. 15.3.1977 – 1 ABR 16/75, DB 1977, 772. 5 Z.B. BAG v. 15.3.1977 – 1 ABR 16/75, DB 1977, 772; BAG v. 16.11.1982 – 1 ABR 22/78, DB 1983, 1151; BAG v. 10.9.1985 – 1 ABR 32/83, NZA 1986, 332; BAG v. 25.11.1986 – 1 ABR 22/85, NZA 1987, 492; BAG v. 16.1.1990 – 1 ABR 10/89, NZA 1990, 623; BAG v. 14.12.2004 – 1 ABR 51/03, NZA 2005, 697; BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112; BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300; BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289. 6 Zust. Gamillscheg, S. 427 f.; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 17; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 379; a.A. Stein, Tarifvertragsrecht, Rz. 48; Fitting, § 2 BetrVG Rz. 39; Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 26 ff. 7 BAG v. 14.12.2004 – 1 ABR 51/03, NZA 2005, 697.
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Rz. 63 Teil 2
(4) Rechtsprechungsentwicklung Die Rechtsprechung zur Durchsetzungsfähigkeit war starken Wandlungen unterwor- 60 fen. Insgesamt sind vier Phasen der Entwicklung auszumachen. Nach Aufgabe des Kriteriums der Arbeitskampfbereitschaft und -fähigkeit setzte sich zunächst eine relativ liberale Sichtweise auf die Durchsetzungsfähigkeit durch1. Mitte der 1980er Jahre folgte eine Phase deutlich strengerer Judikatur, die selbst Koalitionen die Tariffähigkeit absprach, die bereits über eine längere Tariftradition und eine nicht unerhebliche Mitgliederanzahl verfügten2. Seit dem richtungsweisenden UFO-Beschluss vom 14.12.20033 setzt sich heute eine 61 erneut liberalere Sichtweise auf die Tariffähigkeit durch, die zwar an dem dargestellten ordnungspolitischen Postulat einer Zugangskontrolle zum TV-System festhält, im Lichte eines geänderten Grundrechtsverständnisses zu Art. 9 Abs. 3 GG4 (s. Teil 1 Rz. 4 ff.) jedoch die Schwelle für die Bejahung hinreichender Durchsetzungsfähigkeit abgesenkt hat. Diese Entwicklung erreichte einen konsequenten Höhepunkt mit dem CGM-Beschluss zur Tariffähigkeit der Christlichen Gewerkschaft Metall5. In jüngerer Zeit deutet sich wieder eine gewisse Gegentendenz zu einer graduell stren- 62 geren Kontrolle an. Mit Recht gibt das BAG dabei seine liberalere Sicht auf die Tariffähigkeit, die im UFO- und CGM-Beschluss Ausdruck gefunden hat, nicht gänzlich auf, sondern nimmt insbesondere mit Blick auf Sonderkonstellationen (etwa die Tariffähigkeit der CGZP; zur Tariffähigkeit von Spitzenorganisationen s. Rz. 192 ff.) Abschichtungen und Ausdifferenzierungen vor6. Die schon auf eine Änderung der Grundstruktur abzielende, deutlichste Ausdifferenzierung gegenüber der im CGM-Beschluss entwickelten Prüfungsstruktur findet sich dagegen – ohne dass dies in der Sache erforderlich gewesen wäre – im jüngsten Beschluss zur Tariffähigkeit der GKH (s. Rz. 74 ff.) (5) Prüfung der Durchsetzungsfähigkeit seit dem CGM-Beschluss Nach dem CGM-Beschluss ist vorrangig zu betrachten, inwieweit die Koalition be- 63 reits in der Vergangenheit am Tarifgeschehen teilgenommen hat. Eine Vielzahl bereits abgeschlossener TVe belegt, dass der soziale Gegenspieler die Koalition ernst nimmt und bereit ist, mit ihr TVe abzuschließen. Dies begründet regelmäßig eine Tatsachenvermutung7 hinreichender Durchsetzungskraft8.
1 Exemplarisch BAG v. 10.9.1985 – 1 ABR 32/83, NZA 1986, 332. 2 Exemplarisch BAG v. 25.11.1986 – 1 ABR 22/85, NZA 1987, 492; BAG v. 16.1.1990 – 1 ABR 10/89, NZA 1990, 623; BAG v. 6.6.2000 – 1 ABR 10/99, NZA 2001, 160. 3 BAG v. 14.12.2004 – 1 ABR 51/03, NZA 2005, 697. 4 Vgl. die Aufgabe der Kernbereichstheorie durch BVerfG v. 14.11.1995 – 1 BvR 601/92, NZA 1996, 381. 5 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112. 6 S. BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300; BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289. 7 Greiner, Anm. EzA § 2 TVG Nr. 28 unter IV 1a aa; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 19; Henssler/ Heiden, Anm. AP Nr. 4 zu § 2 TVG Tariffähigkeit unter IV. 8 Ähnlich noch der zweistufige Prüfungsansatz in der Entscheidung des LAG Hessen v. 9.4.2015 – 9 TaBV 225/14, NZA-RR 2015, 482 zur Tariffähigkeit der NAG.
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Entgegen einer früher vorherrschenden Auffassung1 werden dabei originäre TVe und reine AnschlussTVe gleichermaßen einbezogen2. Hatte das BAG früher bei AnschlussTVen noch darauf abgestellt, inwieweit die Koalition auf die Tarifverhandlungen um den in Bezug genommenen HauptTV Einfluss nehmen konnte3, entfällt dieses wenig sachgerechte Kriterium. Das BAG würdigt nun, dass gerade in wirtschaftlichen Krisenzeiten bereits in der Erstreckung der Tarifwirkungen auf weitere Arbeitsverhältnisse durch Abschluss eines AnschlussTVs eine sozialpolitisch wünschenswerte Leistung der Koalition liegt4. Diese positive Bewertung des AnschlussTVs könnte in wirtschaftlich florierenden Zeiten anders ausfallen. Wohl auch vor diesem Hintergrund lässt sich der GKH-Beschluss vom 5.10.2010 distanzierter zur Bedeutung von AnschlussTVen ein5. Der Abschluss eines AnschlussTVs verliert dann an Aussagekraft, wenn die von ihm erfassten Arbeitsverhältnisse ohnehin schon nach dem in Bezug genommenen HauptTV behandelt werden, etwa in Folge arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln, denn eine echte Verbesserung ergibt sich für die betroffenen Arbeitnehmer durch den AnschlussTV dann nicht.
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Auf sog. Schein- oder GefälligkeitsTVe lässt sich die Tatsachenvermutung der hinreichenden Durchsetzungskraft hingegen nicht gründen6. Um einen ScheinTV handelt es sich, wenn dieser durch eine stark vom sozialen Gegenspieler beeinflusste Koalition abgeschlossen wird. Ein Unterfall ist das sog. Tarifdiktat, das gewissermaßen einen von Arbeitgeberseite „einseitig gestellten“, nicht ausgehandelten TV erfasst. Ein ScheinTV ist insbesondere anzunehmen, wenn eine Arbeitnehmerkoalition gezielt von Arbeitgeberseite gegründet wird, um diese zum Abschluss arbeitgebergünstiger TVe zu instrumentalisieren. Der Begriff des ScheinTVs setzt insofern ein kollusives Zusammenwirken zum Schaden der tarifgebundenen Arbeitnehmer voraus7.
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Niedriger liegt die Schwelle bei einem GefälligkeitsTV. Dieser ist in zwei Varianten vorstellbar. Zum einen kann die Arbeitgeberseite der Arbeitnehmerkoalition durch den Abschluss des GefälligkeitsTVs gefällig sein, um dieser den Status einer tariffähigen Koalition zu verschaffen. In der anderen Variante ist die Arbeitnehmerkoalition der Arbeitgeberseite gefällig, indem ein TV primär im Arbeitgeberinteresse abgeschlossen wird. Bei letzterer Variante ist freilich Zurückhaltung geboten: Sozialpartnerschaft und Tarifautonomie leben vom Kompromiss. Somit ist es ein zweifellos legitimes Anliegen, bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten durch Zugeständnisse der Arbeitnehmerseite Arbeitsplätze zu retten. Eine Inhaltskontrolle im Sinne einer „Ta-
1 BAG v. 25.11.1986 – 1 ABR 22/85, NZA 1987, 492; BAG v. 16.1.1990 – 1 ABR 10/89, NZA 1990, 623. 2 So BAG v. 14.12.2004 – 1 ABR 51/03, NZA 2005, 697; BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112; LAG Hamm v. 13.3.2009 – 10 TaBV 89/08 hinsichtlich der Gewerkschaft für Kunststoffgewerbe und Holzverarbeitung (GKH) im CGB. 3 BAG v. 25.11.1986 – 1 ABR 22/85, NZA 1987, 492; BAG v. 16.1.1990 – 1 ABR 10/89, NZA 1990, 623; ebenso noch heute Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 25. 4 BAG v. 14.12.2004 – 1 ABR 51/03, NZA 2005, 697, Rz. 52; krit. Wank/Schmidt, RdA 2008, 257 (269); zurückhaltend auch schon LAG Baden-Württemberg v. 1.10.2004 – 4 TaBV 1/04, NZA-RR 2005, 85 (87). 5 BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 41; näher dazu Greiner, NZA 2011, 825 (829). 6 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112, Rz. 61. 7 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112, Rz. 67.
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Rz. 69 Teil 2
rifzensur“1 darf auch mit dem Begriff des GefälligkeitsTVs nicht verknüpft werden. Auch hier geht es somit um eine Art Evidenzkontrolle2, so dass das klar kollusive Zusammenwirken zum Schaden der tarifgebundenen Arbeitnehmer im Fokus steht. Deutliches Indiz für das Vorliegen eines solchen Missbrauchs der Tarifmacht ist die Unterschreitung (tarifdispositiver) gesetzlicher Mindeststandards ohne Kompensation zugunsten der tarifgebundenen Arbeitnehmer3 oder die Akzeptanz eines „besonders krassen Missverhältnisses zwischen den vereinbarten Leistungen“4. Liegt ein solcher Extremfall vor, entfällt aus Sicht der Rechtsprechung lediglich die 67 positive Indizwirkung des Tarifverhaltens in der Vergangenheit. Richtigerweise sollten zur Vermeidung des Missbrauchs der Tarifmacht und um eine echte Präventionsund Abschreckungswirkung zu erzielen, die Konsequenzen an dieser Stelle verschärft werden: Ist tatsächlich der Abschluss von Schein- oder GefälligkeitsTVen belegbar, sollte nicht nur die positive Indizwirkung des Tarifverhaltens in der Vergangenheit entfallen, sondern vielmehr eine Negativvermutung fehlender Durchsetzungskraft begründet werden, die die Koalition durch Darlegung einer längeren Phase „zuverlässiger“ Koalitionsbetätigung entkräften muss, um wieder tariffähig zu werden5. Die positive Indizwirkung des Tarifverhaltens in der Vergangenheit hat das BAG in sei- 68 ner jüngsten Rechtsprechung an einem entscheidenden Punkt wieder eingeschränkt: In dem Sonderfall, dass eine Arbeitnehmerkoalition in der Vergangenheit TVe in einer Tarifgemeinschaft mit einer anderen Gewerkschaft abgeschlossen hat, indizieren die gemeinsam abgeschlossenen TVe per se weder Durchsetzungsfähigkeit noch organisatorische Leistungsfähigkeit der Arbeitnehmerkoalition, deren Durchsetzungskraft umstritten ist6. Diese Verschärfung stellt die im CGM-Beschluss erreichten Rechtsgrundsätze nicht grundsätzlich in Frage, grenzt sie jedoch für einen Sonderfall sachgerecht ein. In der Konstellation einer Tarifgemeinschaft ist nämlich nicht ersichtlich, ob die abgeschlossenen TVe auf die Durchsetzungsfähigkeit der Koalitionen mit umstrittener Tariffähigkeit oder aber auf die Durchsetzungsfähigkeit der anderen an der Tarifgemeinschaft beteiligten Koalition zurückzuführen sind. Sie sind daher, wie das BAG zutreffend erkannt hat, ohne echte Aussagekraft. In der jüngsten Rechtsprechung der Instanzgerichte wird die primär auf das Tarifver- 69 halten in der Vergangenheit rekurrierende Rechtsprechung des BAG als zu großzügig bewertet. So hat insbesondere das LAG Berlin/Brandenburg7 zur Tariffähigkeit der CGZP ausgeführt, dass eine Vereinigung nicht tariffähig sei, wenn sie nur in einem Teilbereich der von ihr beanspruchten Zuständigkeit Mitglieder habe. Ohne Aussagekraft sei in diesem Fall die Tatsache, dass von ihr bereits eine große Anzahl von TVen abgeschlossen worden ist. Dieser Umstand lasse keine Aussage hinsichtlich der Tarif-
1 Vgl. z.B. BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, NZA 2007, 987, Rz. 95. 2 Allgemein zu diesem Maßstab Greiner, Rechtsfragen, S. 46. 3 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112; näher dazu auch ArbG Köln v. 30.10.2008 – 14 BV 324/08, ArbuR 2009, 100, Rz. 77; Wank/Schmidt, RdA 2008, 257 (271) halten zu Recht insofern auch eine Kompensation weniger arbeitnehmergünstiger Arbeitsbedingungen durch Beschäftigungsgarantien für denkbar. 4 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112. 5 Vgl. Henssler, S. 56 ff.; Greiner, Rechtsfragen, S. 241 f. 6 BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300. 7 LAG Berlin/Brandenburg v. 7.12.2009 – 23 TaBV 1016/09, BB 2010, 1927.
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Teil 2 Rz. 70
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fähigkeit zu. In der nachfolgenden Revisionsentscheidung vom 14.12.20101 hat das BAG diese Kritik nicht zum Anlass einer grundlegenden Korrektur seiner Rechtsprechung genommen, sondern die Tariffähigkeit der CGZP aus anderen Gründen verneint. Ausschlaggebend war insofern die Einordnung der CGZP als Spitzenorganisation (§ 2 Abs. 2, 3 TVG). Das BAG beschränkt sich in der genannten Entscheidung darauf, zusätzliche Anforderungen an die Tariffähigkeit von Spitzenorganisationen zu statuieren, insbesondere die Anforderung, dass die Mitgliedsgewerkschaften der Spitzenorganisation ihre Tariffähigkeit vollumfänglich vermitteln (s. Rz. 197 ff.). 70
In anderer Hinsicht erweist sich die Rechtsprechung auch nach dem CGM-Beschluss als zu streng. Die vergangenheitsbezogene Betrachtung soll danach auf den Bereich der Tarifnormsetzung beschränkt bleiben. Daneben erwägt das BAG nur eine Einbeziehung der Regelung von Arbeitsbedingungen durch – wenig praxisrelevante – schuldrechtliche Koalitionsvereinbarungen2. Stellt man den Gedanken der Zuverlässigkeitsprüfung in den Mittelpunkt des Durchsetzungsfähigkeitskriteriums (s. Rz. 33), sollte auch eine langjährige zuverlässige Betätigung der Koalition auf anderen koalitionstypischen Betätigungsfeldern, etwa der Mitbestimmung in Betrieb und Unternehmen sowie der Prozessvertretung von Gewerkschaftsmitgliedern, in die vergangenheitsbezogene Betrachtung einbezogen werden. Voraussetzung dafür wäre freilich die Aufgabe des – verfehlten – „einheitlichen Gewerkschaftsbegriffs“3.
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Begründet das Verhalten der Koalition in der Vergangenheit keine hinreichende Tatsachengrundlage für den Rückschluss auf die gegebene Durchsetzungsfähigkeit, ist nach der Rechtsprechung damit noch keine Negativaussage hinsichtlich der sozialen Mächtigkeit getroffen. Vielmehr bedarf es dann einer Betrachtung des gegenwärtigen Zustands der Koalition4. Diese muss also darlegen und beweisen, dass sie einen hinreichenden Grad an Durchsetzungsfähigkeit erreicht hat. Dazu muss sie insbesondere den Organisationsgrad offen legen. Organisationsgrad ist das Verhältnis der Mitgliederzahl der Gewerkschaften zur Gesamtzahl der Arbeitnehmer im satzungsautonom festgelegten Zuständigkeitsbereich der Koalition. Nach der Rechtsprechung muss die Arbeitnehmervereinigung insoweit Tatsachen darlegen, die den Schluss rechtfertigen, dass die Arbeitgeberseite ihre künftigen Tarifforderungen voraussichtlich nicht ignorieren und sich Tarifverhandlungen auf Dauer nicht entziehen kann. Hinsichtlich der geforderten Mitgliederstärke stellt das BAG seit dem CGM-Beschluss nur noch geringe Anforderungen: Die CGM hätte, wenn es darauf angekommen wäre, einen Organisationsgrad von etwa 1,6 % aufweisen können. Das BAG äußert sich insofern sehr zurückhaltend, wenn es ausführt, es sei „fraglich“, ob ein solcher Organisationsgrad ausreichen würde5. Auch hier zeigt sich die deutliche Liberalisierung und Absenkung
1 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289. 2 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112; allg. zur schuldrechtlichen Koalitionsvereinbarung MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 190 Rz. 1 ff.; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 769 ff. 3 Zuletzt BAG v. 19.9.2006 – 1 ABR 53/05, NZA 2007, 518; zust. Kempen/Zachert/Kempen, § 2 TVG Rz. 78; Rüthers/Roth, Anm. AP Nr. 32 zu § 2 TVG, Bl. 8 („traditionell einheitliche“ Begriffsbildung); dagegen u.a. Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 122 (216 f.); GK-BetrVG/Franzen, § 2 Rz. 33 ff.; Rieble, RdA 2008, 35. 4 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112. 5 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112; vgl. zu den konkreten Prüfungsmaßstäben zuletzt LAG Hessen v. 9.4.2015 – 9 TaBV 225/14, NZA-RR 2015, 482, Rz. 83 ff.
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Rz. 73 Teil 2
der Anforderungen an die Tariffähigkeit. In der Vergangenheit hatte das BAG teilweise auch deutlich höhere Organisationsgrade als nicht ausreichend erachtet1. In der CGZP-Entscheidung vom 14.12.2010 führt das BAG aus, die Annahme einer umfassenden Tarifzuständigkeit (der GÖD als Mitgliedsgewerkschaft der CGZP) mit der Konsequenz eines Organisationsgrades von 0,3 % führe „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ zur Tarifunfähigkeit2. Für die Zukunft wird man davon ausgehen können, dass ein Organisationsgrad von 5 % im selbst gewählten Zuständigkeitsbereich jedenfalls ausreichen dürfte, um die hinreichende soziale Mächtigkeit zu belegen. Im GKH-Beschluss vom 5.10.20103 präzisiert das BAG für diesen Fall die Anforderungen hinsichtlich der Offenlegung des Mitgliederbestands: Die Koalition müsse ihre Mitglieder nicht namentlich benennen und den Mitgliederbestand auch nicht im Einzelnen regional aufschlüsseln; eine datenschutzrechtliche Problematik im Hinblick auf die Offenlegung personenbezogener Daten wird mit diesem Argument verneint. Jedoch bleibt fraglich, wie eine Gewerkschaft im Falle des Bestreitens des dargelegten Mitgliederbestands diesen anders als durch Offenlegung von Mitgliederlisten nachweisen soll. Eine weitere beifallswürdige Liberalisierung liegt darin, dass das BAG lediglich ver- 72 langt, dass die Voraussetzung hinreichender Durchsetzungskraft nur in einem „zumindest nicht unbedeutenden Teil der Tarifzuständigkeit“ gegeben sein müsse4. Die geforderte Organisations- und Mitgliederstärke muss mithin nicht innerhalb des gesamten Zuständigkeitsbereichs in gleicher Weise realisiert sein. So ist es einer Koalition etwa möglich, ausgehend von einer gesicherten Mitgliederbasis in einer bestimmten Branche ihre Aktivität auch auf weitere Branchen auszudehnen, ohne ihre Tariffähigkeit insgesamt zu gefährden. Im Interesse einer Erleichterung der Gründung neuer Gewerkschaften und im Interesse einer gebotenen grundrechtsfreundlichen Betrachtungsweise ist dies zu begrüßen; insbesondere angesichts der Auswirkungen auf die Gründungsfreiheit. Den abgesenkten Kriterien kommt eine ausgewogene, zugleich stabilisierende als 73 auch dynamisierende Wirkung zu: Zum einen wird die Gründung neuer Gewerkschaften entscheidend erleichtert, indem diesen bereits zu einem möglichst frühen Zeitpunkt auch die Profilierung auf dem wichtigen Gebiet der Tarifnormsetzung ermöglicht wird. Hierdurch gewinnt die Koalition entscheidende Argumente, um für den Koalitionsbeitritt zu werben. Zum anderen wohnt der liberalisierten Rechtsprechung auch eine wichtige stabilisierende Wirkung inne: Vor dem Hintergrund insgesamt zurückgehender Organisationsgrade bei den etablierten (DGB-)Gewerkschaften wird deren Tariffähigkeit gesichert, indem ein Mitgliederverlust in Teilbereichen oder auch innerhalb der gesamten Tarifzuständigkeit die Tariffähigkeit nicht mehr substanziell gefährdet5. Insgesamt ist die Grundtendenz der Rechtsprechung somit als Sicherung der Funktionsfähigkeit des TV-Systems zu begrüßen.
1 2 3 4
BAG v. 6.6.2000 – 1 ABR 10/99, NZA 2001, 160: 14 % nicht ausreichend. BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 107. BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300. BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112, Rz. 59 f.; BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 81. 5 Vgl. Henssler, S. 36; Rieble, FS Wiedemann, S. 531 zu den Konsequenzen einer strengeren Betrachtungsweise.
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Teil 2 Rz. 74
Tarifvertragsparteien
(6) GKH-Beschluss 74
Eine Modifikation der im CGM-Beschluss vertretenen Prüfungsstruktur findet sich im Beschluss des BAG vom 5.10.20101 zur Tariffähigkeit der Gewerkschaft für Kunststoffgewerbe und Holzverarbeitung (GKH), ebenfalls einer christlichen Gewerkschaft. Leitend ist ersichtlich die Befürchtung, dass infolge der liberalisierten CGM-Rechtsprechung das Entstehen von Scheingewerkschaften begünstigt werden könnte, insbesondere mit Blick darauf, dass der bloße Abschluss von TVen in Zeiten des exzessiven Einsatzes tarifdispositiven Gesetzesrechts durch den Gesetzgeber nur noch von geringer Aussagekraft für das interessengerechte Agieren einer Arbeitnehmerkoalition ist2. Freilich hatte das BAG bereits im CGM-Beschluss diesen Sorgen Rechnung getragen, indem der bloßen Unterschreitung gesetzlicher Standards ohne hinreichende Kompensation keine positive Indizwirkung zukommen sollte (s. Rz. 66). Insofern scheint die Notwendigkeit dieser etwas kurzatmig wirkenden Neuausrichtung zweifelhaft.
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Im GKH-Beschluss stellt das BAG klar, dass der Mitgliederzahl als Indikator von Arbeitskampffähigkeit und finanzieller Leistungskraft3 (stets) eine entscheidende Bedeutung für die einzelfallbezogene Beurteilung der Mächtigkeit und Leistungsfähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung zukommt4. Nur „darüber hinaus“ komme es auf die Teilnahme am Tarifgeschehen an5. In exakter Umkehrung der Vorrang-NachrangStruktur des CGM-Beschlusses will das BAG nun die langjährige Teilnahme am Tarifgeschehen nur noch nachrangig als positives Indiz in die Betrachtung einbeziehen, wenn „Zweifel an der durch die Mitglieder vermittelten sozialen Mächtigkeit und der organisatorischen Leistungsfähigkeit“ verblieben6. Dabei komme es auf das Vorliegen von „originär ausgehandelte(n), eigenständige(n) Tarifverträge(n)“ an; undeutlich bleibt, ob das BAG damit auch seine Rechtsprechung zu AnschlussTVen revidieren möchte oder lediglich auf den Sonderfall der Tarifgemeinschaft abzielt. Im Fall einer Tarifgemeinschaft kommt den abgeschlossenen TVen keine entsprechende positive Indizwirkung zu, da den beteiligten Koalitionen keine individuellen Verhandlungsbeiträge zugeordnet werden könnten7.
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Beteilige sich eine noch junge Arbeitnehmerkoalition im zeitlichen Zusammenhang mit ihrer Gründung am Aushandeln von TVen, könne ohne Angaben zur Zahl ihrer Mitglieder und organisatorischen Leistungsfähigkeit allein die Anzahl der von ihr abgeschlossenen TVe ihre Tariffähigkeit nicht belegen8.
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Die klare Vorrang-Nachrang-Struktur aus dem CGM-Beschluss erfährt somit eine deutliche Aufweichung. Freilich suggeriert der erste Senat eine (insofern tatsächlich nicht gegebene) Kontinuität zum CGM-Beschluss9. Letztlich handelt es sich damit um eine Sonderrechtsprechung für junge, noch nicht etablierte Gewerkschaften ohne 1 2 3 4 5 6 7 8 9
BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300. Explizit darauf verweist BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 43. BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 39. BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 38. BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 38. BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 40. BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 41. BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 43. BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 46.
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Tariffhigkeit
Rz. 79 Teil 2
große Tradition1. Hier scheint es eine nicht unvertretbare Einschätzung des BAG, dass die Zuverlässigkeitsprüfung andere Kriterien zugrunde legen muss als bei bereits etablierten Gewerkschaften. Die Dynamisierung des TV-Systems wird damit begrenzt, der rechtspolitische Akzent deutlich in Richtung Stabilisierung verschoben. Die darin liegende Ungleichbehandlung alter und neuer Gewerkschaften scheint auch mit Blick auf Art. 3 Abs. 1, 9 Abs. 3 GG legitimierbar, da gerade in einem besonders aktiven Tarifverhalten einer neu gegründeten Koalition ohne starke Mitgliederbasis ein Indiz dafür liegen kann, dass es sich bei den abgeschlossenen TVen um Schein- oder GefälligkeitsTVe handelt (s. Rz. 66)2. Dieses Missbrauchsindiz muss durch die Darlegung eines hinreichenden Mitgliederbestands und hinreichender Organisationsstrukturen entkräftet werden. (7) Besondere Arbeitskampffähigkeit, Spezialistengewerkschaften In einer gesteigerten Arbeitskampffähigkeit kann ein positiv zu bewertender Aspekt 78 zur Untermauerung der Durchsetzungskraft liegen: Dies zeigt sich am Beispiel der Spezialistengewerkschaften. Bereits in einer Entscheidung vom 9.7.19683 formuliert das BAG, dass auch eine Koalition mit vergleichsweise wenigen Mitgliedern tariffähig sein kann, wenn die Mitglieder „kraft ihrer Stellung im Arbeitsleben einen besonderen Einfluss gegenüber der Arbeitgeberseite ausüben“ können. Diese Sonderrechtsprechung zu Spezialistengewerkschaften hat das BAG zwischenzeitlich dahingehend interpretiert, dass auch solche Arbeitnehmer als „Spezialisten“ mit besonderer kollektiver Durchsetzungsmacht zu beurteilen sind, die bereits kraft ihrer besonderen Qualifikation eine hohe individuelle Marktmacht und individuelle Durchsetzungsfähigkeit aufweisen: Für das BAG war in der Entscheidung über die Tariffähigkeit des VOE von entscheidender Bedeutung, dass die Koalitionsmitglieder durchweg in führenden Positionen in den Unternehmen tätig und aufgrund ihrer Ausbildung und beruflichen Stellung in der Lage seien, „ihre Ansichten und Forderungen zu artikulieren, (…) mit Sachverstand zu begründen und mit Nachdruck zu vertreten“4. Von diesem individuell-qualifikationsbezogenen Begründungsansatz ist das BAG 79 mittlerweile abgerückt und stellt die besonderen Blockademöglichkeiten im Arbeitskampf in den Mittelpunkt: Verfügt eine Koalition nur über eine kleine Zahl von Mitgliedern, könne sich die Durchsetzungsfähigkeit trotzdem ergeben, wenn es sich bei den organisierten Arbeitnehmern um „Spezialisten in Schlüsselstellungen handelt, die im Falle eines Arbeitskampfes kurzfristig überhaupt nicht oder nur schwer ersetzbar“ seien5. Für die Berufsgruppe der Flugbegleiter (UFO) hat das BAG dies bejaht, da ein Streik der Flugbegleiter ernsthafte Verhandlungen über den angestrebten TV angesichts der drohenden wirtschaftlichen Schäden durch den Ausfall von Flugverbindungen unzweifelhaft erzwingen kann. Für den Sonderfall der Spezialistengewerkschaften ist somit die Druckausübungsfähigkeit im Arbeitskampf ein entscheidendes Positivkriterium; auf die gesteigerte individuelle Qualifikation kommt es für die Erfüllung des „Spezialisten“-Begriffs heute nicht mehr an. 1 2 3 4 5
In diesem Sinne auch LAG Hessen v. 9.4.2015 – 9 TaBV 225/14, NZA-RR 2015, 482. Ausf. Greiner, Gemeins. Anm. EzA § 2 TVG Nr. 30, 31 unter II 3; Greiner, NZA 2011, 825. BAG v. 9.7.1968 – 1 ABR 2/67, DB 1968, 1715. BAG v. 16.11.1982 – 1 ABR 22/78, DB 1983, 1151. BAG v. 14.12.2004 – 1 ABR 51/03, NZA 2005, 697.
Greiner
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Teil 2 Rz. 80
Tarifvertragsparteien
cc) Organisatorische Leistungsfähigkeit 80
Neben der Durchsetzungsfähigkeit soll die organisatorische Leistungsfähigkeit der Koalition von maßgeblicher Bedeutung sein. Diese ist neben der Durchsetzungsfähigkeit die zweite Facette, die zur Begründung sozialer Mächtigkeit erforderlich ist. Auch hier gelangt das BAG mittlerweile zu einer stark liberalisierten Sichtweise. Die Anforderungen an die organisatorische Leistungsfähigkeit werden stark abgesenkt. Insbesondere zeigt sich dies bei der Bewertung der Tätigkeit ehrenamtlicher Mitarbeiter. Während das BAG in früheren Entscheidungen die Beschäftigung ehrenamtlicher Mitarbeiter eher despektierlich abgewertet und damit das Leitbild der professionellen Funktionärsgewerkschaft zugrunde gelegt hat1, erkennt es heute an, dass die Aufgaben einer Arbeitnehmerkoalition auch durch ehrenamtliche Mitarbeiter wahrgenommen werden können2. Dem ist zuzustimmen; gerade in der ehrenamtlichen Betätigung, die häufig bei kleineren Gewerkschaften anzutreffen ist, wird eine besonders starke Identifikation mit der Organisation sichtbar.
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Die Bewertung der organisatorischen Leistungsfähigkeit vollzieht sich entsprechend dem für die Durchsetzungsfähigkeit dargestellten zweistufigen Prüfungsansatz (s. Rz. 63, 71): Hat die Koalition bereits in der Vergangenheit zahlreiche TVe abgeschlossen und durchgeführt, soll dies regelmäßig die Vermutung begründen, dass sie eine hinreichende organisatorische Infrastruktur zur Erfüllung ihrer koalitionstypischen Aufgaben aufweist3. Auf die Bewertung der tatsächlich vorhandenen Infrastruktur (Mitarbeiter, Büroräume, technische Infrastruktur) kommt es somit nur dann an, wenn noch kein hinreichendes Tarifverhalten in der Vergangenheit dargetan werden kann. Auch wenn es mangels hinreichend aktiven Tarifverhaltens auf die aktuelle organisatorische Leistungsfähigkeit ankommt, sind die Maßstäbe nach dem CGM-Beschluss großzügig: Die Tariffähigkeit entfällt demnach nicht schon dann, wenn eine Arbeitnehmervereinigung personell nicht in der Lage sei, die Durchführung der TVe „jederzeit und überall vor Ort effektiv zu überwachen“. Es sei vielmehr ausreichend, „wenn diese Möglichkeit im Bedarfsfall gewährleistet“ sei. Eine geringe Anzahl von Mitarbeitern soll dafür ausreichen; bei der CGM hätte das BAG 43 hauptamtliche Mitarbeiter bei bundesweiter Tarifzuständigkeit für eine sehr große Branche offenbar genügen lassen. Auch mit Blick auf neue Kommunikationswege verliere der persönliche Kontakt der Gewerkschaftsrepräsentanten zu den Gewerkschaftsmitgliedern tendenziell an Bedeutung4.
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Im GKH-Beschluss5 gelangt das BAG auch zu weiteren Konkretisierungen hinsichtlich der organisatorischen Leistungsfähigkeit. Es hält zwar im Ausgangspunkt daran fest, dass die Beschäftigung hauptamtlicher Gewerkschaftsmitarbeiter nicht – oder nicht in erheblichem Umfang – erforderlich ist. Es müsse jedoch gewährleistet sein, dass die Arbeitnehmervereinigung über loyale Mitarbeiter verfügt, die ihr und ihren Mitgliedern im Konfliktfall verpflichtet sind und nicht dem bestimmenden Einfluss 1 BAG v. 6.6.2000 – 1 ABR 10/99, NZA 2001, 160, Rz. 45; vgl. auch schon BAG v. 25.11.1986 – 1 ABR 22/85, NZA 1987, 492; BAG v. 16.1.1990 – 1 ABR 10/89, NZA 1990, 623. 2 BAG v. 14.12.2004 – 1 ABR 51/03, NZA 2005, 697, Rz. 54; BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112, Rz. 52; zuletzt noch bestätigt in BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300. 3 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112, Rz. 54. 4 Dagegen Kocher, ArbuR 2005, 336 (338). 5 BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300.
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Tariffhigkeit
Rz. 85 Teil 2
Dritter unterliegen. Entsprechendes gelte, wenn eine Arbeitnehmervereinigung im Wesentlichen vom Aufbau einer eigenen Organisation absieht und sich hierfür der Einrichtungen und des Personals einer anderen Arbeitnehmervereinigung bediene – in casu hauptamtlicher Gewerkschaftssekretäre der „Schwestergewerkschaft“ CGM. In einem solchen Fall bedürfe es besonderer Vorkehrungen, die sicherstellen, dass die Arbeitnehmervereinigung nicht zum „verlängerten Arm“ derjenigen Vereinigung werde, deren Organisation sie sich bediene. Dazu gehöre auch, dass diejenigen, die das Tarifgeschehen bestimmen, eine gewisse fachliche Nähe hierzu aufwiesen, da diese fachliche Nähe erst das Richtigkeitsvertrauen in die TVe rechtfertige. Mit Blick auf die Transparenz der Tarifnormsetzung kann man dieser Position zustimmen: Es soll klar erkennbar werden, welche Gewerkschaft hinter einem Tarifabschluss steht; die Errichtung von „Tarnorganisationen“ soll unterbunden werden1. dd) Anerkennung des geltenden Tarifrechts Weitere Voraussetzung der Tariffähigkeit ist die Anerkennung des geltenden Tarif- 83 rechts2. Dies folgt bereits daraus, dass nach hier vertretener Auffassung die zusätzlichen Kriterien, die außerhalb des Koalitionsbegriffs für die Tariffähigkeit einer Koalition statuiert werden, letztlich die Zuverlässigkeit einer Koalition für die Tarifnormsetzung gewährleisten sollen (s. Rz. 33). Elementarer Bestandteil der Zuverlässigkeitsprüfung ist die Kontrolle, ob eine Koalition sich rechtstreu verhält3. Dazu gehört neben der Selbstverpflichtung zur Wahrung der verfassungsmäßigen Ordnung4 auch die Anerkennung des geltenden Tarifrechts5. Freilich wird diese Rechtstreue nicht dadurch in Frage gestellt, dass eine Koalition 84 rechtspolitisch Änderungen der geltenden Rechtslage einfordert6. Gleichfalls wird die Tariffähigkeit selbstverständlich nicht dadurch gefährdet, dass eine Koalition in einzelnen Rechtsfragen von einer „herrschenden Meinung“ abweichende Rechtsstandpunkte vertritt. Würde eine Koalition hingegen gehäuft zu rechtswidrigen Arbeitskampfmaßnahmen aufrufen oder z.B. eine Strategie des „closed shop“ durch rechtswidrige qualifizierte Differenzierungsklauseln (s. Teil 5 (8)) verfolgen7, würde dies die Anerkennung des geltenden Tarifrechts an einem ganz zentralen Punkt und damit auch die Zuverlässigkeit der Koalition als Basis ihrer Tariffähigkeit in Frage stellen. ee) Demokratische Binnenorganisation Bei Arbeitnehmerkoalitionen ist wegen der Betroffenheit der Persönlichkeitsrechte 85 durch die Tarifnormsetzung und angesichts der mangelnden Alternative einer eigenständigen tarifpolitischen Betätigung der in der Koalition zusammengeschlossenen Individuen (s. bei Arbeitgeberkoalitionen Rz. 115 f.) eine Kontrolle der demokratischen Binnenorganisation zweifellos notwendiger als bei Arbeitgeberkoalitionen. 1 2 3 4 5
Näher Greiner, Gemeins. Anm. EzA § 2 TVG Nr. 30, 31, unter II 4 c. So auch BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112. Vgl. Löwisch, ZfA 1970, 295 (311); weiterhin Doerlich, Tariffähigkeit, insbesondere S. 151 ff. Vgl. auch Stern/Dietlein, Staatsrecht IV/1, S. 2081. Zutr. Löwisch, ZfA 1970, 295 (310); a.A. Däubler, ArbuR 1977, 286 (287); Hagemeier, ArbuR 1988, 193 (196). 6 Vgl. Hagemeier, ArbuR 1988, 193 (196). 7 Zutr. Rieble, SAE 2006, 89 (92).
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Teil 2 Rz. 86
Tarifvertragsparteien
Auch insofern äußert sich das BAG im CGM-Beschluss1: Inwieweit eine demokratische Binnenorganisation überhaupt zu fordern ist, wird offen gelassen, höchstens seien jedoch demokratische Mindeststandards, wie die Gleichheit der Mitglieder und die Berücksichtigung von Minderheiteninteressen, zu verlangen. c) „Relative“ und „absolute“ Tariffähigkeit 86
Zu Recht eine Absage hat das BAG mittlerweile dem Konzept einer „relativen Tariffähigkeit“ erteilt. Nach der jüngeren Judikatur des BAG ist die Tariffähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung „für den beanspruchten Zuständigkeitsbereich (…) einheitlich und unteilbar“2. Eine „partielle, auf bestimmte Regionen, Berufskreise oder Branchen beschränkte Tariffähigkeit“ gibt es demnach nicht. Eine Beschränkung der Tariffähigkeit auf einzelne Regelungsgegenstände, Mitglieder oder räumliche Bereiche kann auch durch eine Eingrenzung der Tarifwilligkeit nicht erzielt werden3. Eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung (OT-Mitgliedschaft, s. Rz. 148 ff.) kann somit nicht durch Beschränkung der Tariffähigkeit auf bestimmte Mitglieder, sondern allein durch Ausgestaltung der Tarifzuständigkeit ermöglicht werden4. Freilich bewirkt die satzungsautonom festzulegende Tarifzuständigkeit, dass eine tariffähige Koalition den Bereich ihrer Normsetzungskompetenz im Übrigen in räumlicher und fachlicher Hinsicht frei gestalten kann (s. Rz. 212).
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Für die Bejahung der einheitlichen Tariffähigkeit innerhalb des gesamten, selbst gewählten Zuständigkeitsbereichs genügt es, „dass die Arbeitnehmervereinigung Durchsetzungskraft und organisatorische Leistungsfähigkeit in einem zumindest nicht unerheblichen Teil des beanspruchten Zuständigkeitsbereichs besitzt“5. Bereits dies lasse regelmäßig erwarten, dass sich die Arbeitnehmerkoalition auch in den Bereichen, in denen es ihr an Durchsetzungskraft (noch) fehlt, beim Abschluss von TVen nicht den Forderungen der Arbeitgeberseite unterwirft. Eine Arbeitnehmerkoalition kann somit auch eine tariffähige Gewerkschaft in Branchen oder Betrieben sein, in denen sie (noch) keine Mitglieder hat. Auf ein „Vertretensein“ in den Betrieben kommt es demnach nicht an6. Damit grenzt sich das BAG von einer starken Literaturströmung deutlich ab7.
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Für das Konzept einer relativen Tariffähigkeit scheinen zunächst Gründe der Verhältnismäßigkeit zu sprechen: Das Konzept der relativen Tariffähigkeit vermeidet zweifellos eine „Alles-oder-nichts-Entscheidung“ über die bestehende oder fehlende Tariffähigkeit. Es ist ein sachgerechter Kompromiss, einer Arbeitnehmerkoalition die
1 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112. 2 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 81; BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 24; BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112, Rz. 56; zust. Kissel, Arbeitskampfrecht, § 9 Rz. 34; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 394. 3 Zutr. Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 19; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 94; Gamillscheg, S. 529; Hanau/Kania, FS Däubler, S. 437 (440 f.). 4 Zutr. Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 147; Buchner, NZA 1994, 2 (4). 5 Zuletzt BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 81. 6 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112. 7 Rieble, FS Wiedemann, S. 529 ff.; Dütz, DB 1996, 2385 (2389 f.); Isenhardt, Relative Tariffähigkeit, passim; Henssler, S. 36 f. (Hilfsargumentation bei prinzipieller Ablehnung des Mächtigkeitskriteriums).
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Tariffhigkeit
Rz. 92 Teil 2
Tariffähigkeit nicht komplett abzusprechen, sondern sie gezielt dort zu bejahen, wo die Koalition bereits über hinreichende Durchsetzungskraft und Organisationsstärke verfügt. Diese Aspekte werden jedoch aufgewogen durch den Verweis des BAG auf Rechts- 89 sicherheit und Rechtsklarheit1. Wäre die Tariffähigkeit für einzelne Branchen, Unternehmen, Betriebe oder gar Betriebsteile festzustellen, so wäre in Grenzfällen häufig unklar, ob ein TV von einer insoweit relativ tariffähigen Gewerkschaft abgeschlossen und somit wirksam ist. Selbst bei etablierten Gewerkschaften könnte in Teilbereichen der Tarifzuständigkeit die Tariffähigkeit fraglich sein und zahlreichen TVen die (Teil-)Nichtigkeit drohen. Die Anerkennung einer absoluten, einheitlichen Tariffähigkeit dient damit dem bereits angesprochenen zweifachen Regelungszweck (s. Rz. 73): einerseits der Stabilisierung des Tarifsystems auch bei erheblichen Mitgliederverlusten in Teilbereichen, andererseits der Erleichterung neuer Gewerkschaftsgründungen im Interesse der durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten Gründungsfreiheit, indem es Gewerkschaften im Gründungsstadium ermöglicht wird, den Zuständigkeitsbereich auf Felder auszudehnen, auf denen sie bislang über keine hinreichende Durchsetzungskraft und Organisationsstärke verfügen. Voraussetzung für die Anerkennung einer einheitlichen absoluten Tariffähigkeit in 90 Bereichen, in denen an sich die Tariffähigkeitsvoraussetzungen noch nicht gegeben sind, ist freilich ein (auch) delegatorisches Verständnis der Tarifnormsetzung; konsequent folgen die Vertreter eines rein kollektiv-privatautonomen Deutungsansatzes somit auch einhellig dem Konzept der relativen Tariffähigkeit2. d) Verfassungsrechtliche Bewertung nach CGM- und GKH-Beschluss des BAG Die verfassungsrechtliche Kritik an zusätzlichen einfachrechtlichen Voraussetzungen 91 für die Tarifnormsetzungskompetenz3 hat das BAG durch die dargestellten Liberalisierungen, insbesondere im CGM-Beschluss, entscheidend entkräftet. Das dargestellte Prüfungssystem mit einer klar zweistufigen Prüfung erweist sich als sehr grundrechtsfreundlich, indem es sowohl das bestehende TV-System stabilisiert als auch die Gründung und Betätigung neuer Gewerkschaften erleichtert. Durch die klare Prüfungsstruktur wird ein weitaus höherer Grad an Rechtssicherheit erreicht als dies nach der strengeren Rechtsprechung früherer Zeiten der Fall war4. Durch die Relativierungen des GKH-Beschlusses wird dieser Fortschritt teilweise zurückgenommen, ohne jedoch in die viel kritisierte Konturlosigkeit mancher früherer Entscheidungen zu verfallen. Natürlich bleiben in Sonderfällen erhebliche Wertungsspielräume, so etwa bei der Bewertung, ob ein TV ein Schein- oder GefälligkeitsTV ist. Diese Wertungsspielräume sind jedoch kaum vermeidbar. An der Kompetenz der Gerichte für Arbeitssachen, diese Kriterien richterrechtlich zu 92 statuieren, bestehen keine durchgreifenden Zweifel. Das BVerfG hat eine Kompetenz1 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112. 2 Vgl. Rieble, FS Wiedemann, S. 529 ff.; Dütz, DB 1996, 2385 (2389 f.); Isenhardt, Relative Tariffähigkeit, passim; Henssler, S. 36 f. 3 Vgl. Gamillscheg, S. 433; Gamillscheg, FS Herschel, S. 115; Henssler, S. 26 ff.; Mayer-Maly, Anm. AP Nr. 25 zu § 2 TVG; ähnlich Kraft, SAE 1978, 43 f. 4 Zu Recht krit. insofern Giere, Soziale Mächtigkeit, S. 60 ff. m.w.N.
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Teil 2 Rz. 93
Tarifvertragsparteien
überschreitung der Judikative verneint1. Auch ist eine gesetzgeberische Grundentscheidung, dass es einen Begriff der Tariffähigkeit gibt, der über den Koalitionsbegriff des Art. 9 Abs. 3 GG hinausgeht, bereits in den §§ 2a Abs. 1 Nr. 4, 97 Abs. 1, Abs. 5 Satz 1 ArbGG klar ersichtlich. Die „wesentliche“ Grundentscheidung hat somit der parlamentarische Gesetzgeber getroffen, so dass ein Konflikt zur Wesentlichkeitstheorie nicht ersichtlich ist2. 93
Die Kritik, beim Kriterium der sozialen Mächtigkeit handele sich um einen nicht erforderlichen Eingriff in die Koalitionsfreiheit, die insbesondere eine gravierende Erschwerung von Gewerkschaftsgründung und Gewerkschaftswettbewerb mit sich bringe3, kann man nach den erfolgten Liberalisierungen nicht mehr teilen. Die Zugangskontrolle zum Tarifsystem ist bereits im Interesse der Markttransparenz geboten. Gewerkschaftswettbewerb kann nur dann funktionieren, wenn es kein ungeordneter Wettbewerb ist, vielmehr die „Kunden“, also die Gewerkschaftsmitglieder, die Wahl zwischen zuverlässigen Regelungsanbietern haben, nicht hingegen bei Akzeptanz eines Durcheinanders von „echten“ und Scheingewerkschaften.
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Gegenüber denkbaren Alternativkonzepten wie einer verstärkten Inhaltskontrolle des abgeschlossenen TVs4 ist das Rechtsprechungsmodell deutlich vorzugswürdig, da es auf eine regelmäßige inhaltliche (Negativ-)Bewertung der TVe, die mit der Grundidee von Tarifautonomie schwerlich vereinbar ist, verzichtet. 3. Voraussetzungen der Tariffähigkeit auf Arbeitgeberseite
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Als tariffähige Akteure auf Arbeitgeberseite kommen gemäß § 2 Abs. 1 TVG einzelne Arbeitgeber sowie Arbeitgebervereinigungen in Betracht. Ferner können Spitzenorganisationen der Arbeitgeberverbände gemäß § 2 Abs. 3 TVG Parteien eines TVs sein, wenn der Abschluss von TVen zu ihren satzungsmäßigen Aufgaben gehört (s. Rz. 192 ff.). Schließlich ist zu beachten, dass die Tariffähigkeit auf Arbeitgeberseite durch das TVG nicht abschließend festgelegt wird: Weitere tariffähige Akteure auf Arbeitgeberseite können insbesondere Innungen und Innungsverbände sein, sofern ihnen die Tarifnormsetzung spezialgesetzlich anvertraut ist5. a) Tariffähigkeit einzelner Arbeitgeber aa) Arbeitgeberbegriff
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§ 2 Abs. 1 TVG erklärt den einzelnen Arbeitgeber für stets tariffähig. Sinn dieser Regelung ist, der tarifzuständigen Gewerkschaft auch bei fehlender Verbandszugehörig1 BVerfG v. 20.10.1981 – 1 BvR 404/78, NJW 1982, 815; vgl. auch Söllner, ArbuR 1976, 321 (322); Dütz, ArbuR 1976, 65 (78). 2 A.A. etwa Henssler, S. 27; Richardi, FS Wißmann, S. 170. 3 Vgl. Gamillscheg, S. 433; Gamillscheg, FS Herschel, S. 115; Henssler, S. 26 ff.; Mayer-Maly, Anm. AP Nr. 25 zu § 2 TVG. 4 Insbesondere Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 403 ff.; auch Bayreuther, BB 2005, 2633 (2637); ähnlich mit Blick auf arbeitskampfrechtliche Fragestellungen Otto, § 8 Rz. 41; zu Recht dagegen Henssler, S. 55 („Tarifzensur“). 5 Dies ist trotz fehlender Koalitionseigenschaft verfassungskonform; vgl. BVerfG v. 19.10.1966 – 1 BvL 24/65, NJW 1966, 2305; BAG v. 11.6.1975 – 4 AZR 395/74, DB 1975, 2454; BAG v. 6.5.2003 – 1 AZR 241/02, NZA 2004, 562; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 30 f., 288 ff.
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Tariffhigkeit
Rz. 99 Teil 2
keit des Unternehmens stets einen Vertragspartner für den Abschluss von TVen zur Verfügung zu stellen1. Damit ist die Tariffähigkeit des einzelnen nicht verbandsangehörigen2 Arbeitgebers eine verfassungsrechtlich gebotene Funktionsvoraussetzung des TV-Systems3. Dementsprechend kann der Arbeitgeber sich seiner Tariffähigkeit weder durch „Tarifunwilligkeit“4 noch durch Verbandsbeitritt (s. Rz. 108 ff.) entziehen. Zugleich dient die Tariffähigkeit dem Schutz der negativen Koalitionsfreiheit auf Arbeitgeberseite, indem der Arbeitgeber auch ohne Verbandsbeitritt auf das Gestaltungsmittel TV zurückgreifen kann5. Arbeitgeber i.S.v. § 2 Abs. 1 TVG ist der jeweilige Rechtsträger eines Unternehmens. Es gilt der allgemeine arbeitsrechtliche Arbeitgeberbegriff: Arbeitgeber ist demnach der andere Partner des Arbeitsverhältnisses, also derjenige, der die Dienstleistungen vom Arbeitnehmer kraft des Arbeitsvertrags fordern kann. Dies ist diejenige natürliche oder juristische Person, zu welcher der Arbeitnehmer in einem Verhältnis persönlicher und regelmäßig auch wirtschaftlicher Abhängigkeit steht6. Der Arbeitgeberbegriff wird somit funktional durch die Stellung als Vertragspartner des Arbeitnehmers bestimmt. Da es sich beim Betrieb ausschließlich um eine faktische organisatorische Untergliederung eines Rechtsträgers handelt7, kommen Betrieb oder Betriebsleitung nicht als tariffähige Arbeitgeber i.S.v. § 2 Abs. 1 TVG in Betracht. Bei Aufspaltung der Arbeitgeberstellung – etwa in Fällen der Zeitarbeit – ist Arbeitgeber allein derjenige, der den Arbeitsvertrag geschlossen hat8. Ein Rechtsträger ohne eigene Arbeitnehmer – etwa eine Konzernholding – ist mangels Arbeitgeberstellung nicht tariffähig9.
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Arbeitgeber können mithin natürliche Personen, Personen(handels)gesellschaften so- 98 wie juristische Personen sein. In Betracht kommen sowohl juristische Personen des Zivilrechts (GmbH, AG, Genossenschaft) als auch solche des öffentlichen Rechts (Bund, Länder, Gemeinden). Auch die Angehörigen freier Berufe (Rechtsanwälte, Ärzte etc.) können Arbeitgeber sein. Handelt es sich um eine juristische Person im Gründungsstadium, kann bereits frühzeitig – sobald gesellschaftsrechtlich ein Stadium der (Teil-)Rechtsfähigkeit erreicht ist – ein TV für die juristische Person in Gründung abgeschlossen werden10; Sinn und Zweck ist, dass bereits vom ersten Tag der Geschäftsaufnahme an für die dort beschäftigten Arbeitnehmer ein TV die Arbeitsbeziehungen regelt. Etwa kann die Vor-GmbH oder Vor-AG TV-Partei sein11. Bei Personengesellschaften (GbR, OHG, KG) ist zu beachten, dass infolge der mittlerweile generell anerkannten Rechtsfähigkeit der Personengesellschaften, insbesondere
1 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 23, 124; vgl. weiterhin BVerfG v. 20.10.1981 – 1 BvR 404/78, NJW 1982, 815; Gamillscheg, S. 524; Henssler, ZfA 1998, 517 (519 f.). 2 Zu dieser Differenzierung Henssler, ZfA 1998, 517 (519 f.). 3 Witt, Der Firmentarifvertrag, 2004, S. 128 f. 4 Zutr. Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 23; Gamillscheg, S. 524; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 23. 5 Zutr. Staudinger/Richardi, Vor §§ 611 ff. BGB Rz. 617. 6 BAG v. 9.9.1982 – 2 AZR 253/80, AP Nr. 1 zu § 611 BGB Hausmeister. 7 Allg. zum Betriebsbegriff Preis, RdA 2000, 257. 8 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 125. 9 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 137. 10 BAG v. 24.1.2001 – 4 ABR 4/00, NZA 2001, 1149. 11 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 128.
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Teil 2 Rz. 100
Tarifvertragsparteien
auch der GbR1, als Partei eines FirmenTVs nur die Personengesellschaft als solche in Betracht kommt. Mit der Anerkennung der Rechtsfähigkeit auch der GbR ist die früher konstruierte Arbeitgeberstellung der einzelnen Gesellschafter obsolet2; die akzessorische Haftung analog § 128 HGB begründet keine Arbeitgeberstellung der Gesellschafter. Das BAG bejaht auch bei Personengesellschaften, dass der Abschluss eines TVs bereits vor Gesellschaftsgründung durch einen vollmachtlosen Stellvertreter möglich ist3. Abweichend von der Sichtweise des BAG hängt das Wirksamwerden des TVs in diesem Fall gemäß § 177 Abs. 1 BGB von der Genehmigung der Gesellschaft nach ihrer Gründung ab4. 100 Rechtsfähige Körperschaften, Stiftungen und Anstalten des öffentlichen Rechts sind im Prinzip gleichfalls tariffähige Arbeitgeber i.S.v. § 2 Abs. 1 TVG, jedoch ist die Tariffähigkeit vielfach spezialgesetzlich ausgestaltet5. Auch die Kirchen und kirchlichen Einrichtungen sind tariffähige Arbeitgeber6, jedoch unterliegt ihre Tariffähigkeit – obwohl das TVG keinen expliziten Tendenzschutz statuiert – den aus dem Staatskirchenrecht folgenden Beschränkungen: So haben es die Kirchen in der Hand, anstelle von TVen auf spezielle Vereinbarungen zurückzugreifen (sog. „dritter Weg“)7. 101 Die Arbeitgeberstellung bleibt durch den wirtschaftlichen Zusammenschluss mit anderen Unternehmen unberührt. Grundsätzlich nicht als Arbeitgeber i.S.v. § 2 Abs. 1 TVG kommt somit ein Konzern in Betracht8. Die Konzernobergesellschaft ist Arbeitgeberin i.S.v. § 2 Abs. 1 TVG ausschließlich im Hinblick auf diejenigen Arbeitnehmer, die unmittelbar in einem Arbeitsverhältnis zu ihr stehen. Für die bei anderen Konzerngesellschaften beschäftigten Arbeitnehmer hat die Konzernobergesellschaft nur dann die Arbeitgeberstellung inne, wenn sie im eigenen Namen die Arbeitsverträge abgeschlossen hat und die Beschäftigung bei anderen Konzerngesellschaften ausschließlich aufgrund arbeits- oder kollektivvertraglicher Konzern(versetzungs)klauseln erfolgt9. Nur in diesem Fall ist die Konzernobergesellschaft Vertragspartnerin der Arbeitnehmer, so dass der allgemeine arbeitsrechtliche Arbeitgeberbegriff zweifellos erfüllt ist. Ein praktisches Bedürfnis für die Tariffähigkeit des Konzerns besteht angesichts der dort gegebenen Gestaltungsmöglichkeiten durch Abschluss von KonzernverbandsTVen, mehrgliedrigen KonzernTVen und der schuldrechtlichen Verpflich-
1 Grundlegend BGH v. 29.1.2001 – II ZR 331/00, NJW 2001, 1056; weiterhin BGH v. 18.2.2002 – II ZR 331/00, NZA 2002, 405. 2 Zutr. nun BAG v. 30.10.2008 – 8 AZR 397/07, NZA 2009, 485; BAG v. 1.12.2004 – 5 AZR 597/03, NZA 2005, 318. 3 BAG v. 24.1.2001 – 4 ABR 4/00, NZA 2001, 1149. 4 Zutr. Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 128. 5 Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 100; ausführlich Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 87. 6 Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, § 13 Rz. 10 ff. 7 Ausf. MünchArbR/Richardi, § 330 Rz. 1 ff.; Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, § 14 Rz. 1 ff.; Thüsing, RdA 1997, 163; Dütz, FS Schaub, S. 157. 8 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 141; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 79; Gamillscheg, S. 525, jeweils m.w.N. 9 A.A. Däubler, Grundrecht auf Mitbestimmung, S. 444 f., der eine Funktion der Konzernobergesellschaft als Arbeitgeberin neben der konzernangehörigen Vertragsarbeitgeberin konstruiert.
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Tariffhigkeit
Rz. 104 Teil 2
tung zur konzerneinheitlichen Anwendung der mit der Konzernobergesellschaft abgeschlossenen TVe nicht1. Der Konzern kann auch nicht ohne weiteres als Arbeitgeberverband interpretiert 102 werden, der die automatische Tarifzuständigkeit zum Abschluss für sämtliche Konzerngesellschaften besitzt2, denn es fehlt z.B. an den auch bei Arbeitgeberverbänden zu stellenden Anforderungen an eine demokratische Binnenstruktur (s. Rz. 114 ff.). Zweifellos ist es jedoch möglich, einen Arbeitgeberverband mit Tarifzuständigkeit für alle konzernangehörigen Unternehmen und Betriebe zu gründen; dies ist bei großen Konzernen in der Praxis durchaus üblich. Alternativ kommt der Abschluss eines sog. „mehrgliedrigen“ TVs in Betracht. Charakteristisch dafür ist, dass auf Arbeitgeberseite mehrere tariffähige, häufig wirtschaftlich verbundene Arbeitgeber handeln, ohne zu einem Arbeitgeberverband zusammengeschlossen zu sein. Der TV-Abschluss kommt dann nicht aufgrund der abgeleiteten Verhandlungsmacht eines Arbeitgeberverbands, sondern in Ausübung der aus § 2 Abs. 1 TVG folgenden Tariffähigkeit der einzelnen beteiligten Unternehmen zustande3. Hinsichtlich der Rechtsfolgen eines solchen mehrgliedrigen TVs muss danach differen- 103 ziert werden, ob es sich lediglich um eine Parallelität rechtlich selbständiger TVe handeln soll, die z.B. durch das einzelne beteiligte Unternehmen separat gekündigt werden können, oder aber um den Abschluss durch eine Tarifgemeinschaft, auf deren Geschäftsführung die Vorschriften über die Gesellschaft bürgerlichen Rechts (§§ 705 ff. BGB) Anwendung finden. In letzterem Fall kann auch das Kündigungsrecht regelmäßig nur gemeinschaftlich ausgeübt werden. Entsprechend dem allgemeinen Arbeitgeberbegriff gelten hinsichtlich der Tariffähig- 104 keit keine Besonderheiten für mitbestimmte Unternehmen4. Auch eine Gewerkschaft selbst ist Arbeitgeberin der bei ihr beschäftigten Arbeitnehmer, so dass sie in ihrer Arbeitgeberfunktion tariffähig ist5; freilich kann sie nicht auf beiden Seiten an einem TV beteiligt sein, so dass ein Tarifabschluss nur mit einer anderen Gewerkschaft in Betracht kommt6. Dementsprechend verhindert erst recht die Tatsache, dass ein Unternehmen im Eigentum einer Gewerkschaft steht, seine Tariffähigkeit als Arbeitgeber nicht7. Gleiches gilt für ein Unternehmen, das im Eigentum der dort tätigen Arbeitnehmer steht, wenn die Arbeitsleistung aufgrund von Arbeitsverträgen erfolgt – nicht hingegen, wenn es sich um Leistungen auf gesellschaftsrechtlicher Grundlage handelt8. 1 Zu diesen Gestaltungsmöglichkeiten ausführlich Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 143; Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 111. 2 In diese Richtung aber Reichel/Ansey, § 2 TVG Anm. 32; Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 111; Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 96; wie hier Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 141. 3 Vgl. Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 363 ff.; Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 100. 4 Vgl. Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 155 ff.; Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 108; a.A. Zöllner/Seiter, Paritätische Mitbestimmung, S. 38 ff. 5 BAG v. 17.2.1998 – 1 AZR 364/97, NZA 1998, 754; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 136; Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 110; a.A. noch BAG v. 28.4.1992 – 1 ABR 68/91, NZA 1993, 31; Dörrwächter, Tendenzschutz im Tarifrecht, S. 180 ff.; Dütz, AuR 1995, 337 f. 6 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 135; Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 110. 7 Zutr. Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 109; a.A. Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 67 f. 8 Ebenso Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 126; Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 90; a.A. Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 67 f.
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Teil 2 Rz. 105
Tarifvertragsparteien
bb) Soziale Mächtigkeit? 105 Umstritten ist die Frage, ob an die Tariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers zusätzliche Anforderungen zu stellen sind, insbesondere ob auch der wirtschaftlich schwache Arbeitgeber Partei eines TVs sein kann. Überwiegender Auffassung entspricht dabei, dass § 2 Abs. 1 TVG sämtliche Unternehmen für tariffähig erklärt, ohne dass es auf ihre wirtschaftliche Stärke oder die Zahl der bei ihnen beschäftigten Arbeitnehmer ankommt1. Nach der Gegenauffassung ist, insbesondere mit Blick auf den grundgesetzlichen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), eine Parallelbetrachtung zur Mächtigkeitsjudikatur auf Gewerkschaftsseite angezeigt, so dass der kleine, wirtschaftlich besonders schwache Arbeitgeber, der sich einer übermächtigen Gewerkschaft gegenüber sieht, nicht als tariffähig betrachtet wird2. 106 Der erstgenannten, überwiegenden Auffassung ist zuzustimmen. Die Legitimation des Mächtigkeitskriteriums auf Gewerkschaftsseite beruht darauf, dass die Gewerkschaft Normsetzungsmacht für tarifgebundene Arbeitnehmer ausübt. Erst dadurch entsteht eine Legitimation für die Beurteilung ihrer Zuverlässigkeit. Dies ist bei einem einzelnen Arbeitgeber als TV-Partei nicht ersichtlich. Vielmehr schließt er stets nur TVe ab, an die er selbst als Vertragsarbeitgeber gebunden ist. Bei einem freiwilligen TV-Abschluss ohne Arbeitskampfdruck entsteht somit auch angesichts der wirtschaftlichen Schwäche des Arbeitgebers kein Kontrollbedürfnis: Für sich selbst kann der Arbeitgeber beim Vertragsschluss privatautonom und eigenverantwortlich handeln. Eine normative Einwirkung auf die Rechtsverhältnisse anderer Rechtssubjekte auf Arbeitgeberseite ist nicht ersichtlich. Der zweifellos zu konstatierenden Drittbetroffenheit der tarifgebundenen Arbeitnehmer wird hingegen bereits durch die Zuverlässigkeitsanforderungen hinsichtlich der sie repräsentierenden Gewerkschaft Rechnung getragen (s. Rz. 55 ff.). Somit ist eine Mächtigkeitskontrolle hinsichtlich des einzelnen Arbeitgebers als TV-Partei zur Gewährleistung „zuverlässiger“ Tarifnormsetzung nicht erforderlich (zu diesem Zweck des Mächtigkeitskriteriums s. Rz. 56). Insofern vermag auch der Verweis auf den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) nicht zu überzeugen, da es sich um wesentlich ungleiche Sachverhalte handelt. 107 Relevante Probleme ergeben sich lediglich dann, wenn der wirtschaftlich besonders schwache Arbeitgeber durch Arbeitskampf zum Abschluss eines TVs gezwungen wird. Dies ist jedoch kein Problem seiner Tariffähigkeit, sondern vielmehr ein spezifisch arbeitskampfrechtliches Problem, dem ggf. durch eine paritätsbezogene Verschärfung der Verhältnismäßigkeitsanforderungen beim Arbeitskampf gegen einen wirtschaftlich schwachen Arbeitgeber Rechnung getragen werden muss3. cc) Verlust der Tariffähigkeit durch Verbandsbeitritt? 108 Ebenfalls umstritten ist die Frage, ob die Tariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers fortbesteht, wenn dieser sich einem Arbeitgeberverband angeschlossen hat. Wer dies 1 Vgl. nur BVerfG v. 20.10.1981 – 1 BvR 404/78, NJW 1982, 815; BAG v. 20.11.1990 – 1 ABR 62/89, NZA 1991, 428; Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 103. 2 Insbesondere Müller, Tarifautonomie, S. 262 ff.; Müller, RdA 1990, 322; vgl. dazu Henssler, S. 33 f.; Eitel, S. 51 (56); Franzen, RdA 2001, 1 (7); Wiedemann, Gemeins. Anm. AP Nr. 24 zu Art. 9 GG und Nr. 30 zu § 2 TVG unter II 2 a (2); Zeuner, FS 25 Jahre BAG, S. 730. 3 Tendenziell ähnlich BAG v. 21.4.1971 – GS 1/68, NJW 1971, 1668; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 137 f. (140) m.w.N.
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Tariffhigkeit
Rz. 112 Teil 2
verneint1, will letztlich den verbandsangehörigen Arbeitgeber vor der Inanspruchnahme auf Abschluss eines FirmenTVs schützen. Somit könnte der einzelne Arbeitgeber sich der tarifzuständigen Gewerkschaft als potentieller Partner eines FirmenTVs entziehen, indem er dem Arbeitgeberverband beitritt. Diese Schutzwirkung ist dem Verbandsbeitritt nicht beizumessen2. Der einzelne Ar- 109 beitgeber hat es nicht in der Hand, die ihm durch § 2 Abs. 1 TVG verliehene Tariffähigkeit durch Verbandsbeitritt aufzugeben3. Ebenso wenig wie er sich generell dem Abschluss eines TVs durch bloße „Tarifunwilligkeit“ entziehen kann (s. Rz. 96), kann er dies durch den Beitritt zu einem Arbeitgeberverband. Vielmehr statuiert § 2 Abs. 1 TVG die Tariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers insbesondere mit der Intention, der Gewerkschaft stets einen Verhandlungspartner zur Verfügung zu stellen. Will die Gewerkschaft trotz Mitgliedschaft eines Unternehmens im Arbeitgeberverband mit diesem einen speziellen FirmenTV abschließen, ist diese Entscheidung über den Zuschnitt des angestrebten Geltungsbereichs Bestandteil ihrer grundrechtlich gesicherten Betätigungsfreiheit. Für eine derartige Entscheidung können sehr plausible Gründe bestehen, etwa eine differenzierte wirtschaftliche Situation innerhalb der Branche. Häufig liegt der Abschluss von TVen, die auf die Situation des jeweiligen Unternehmens abgestimmt sind, sogar im Arbeitgeberinteresse. Müsste der Arbeitgeber zwischen der Möglichkeit einer eigenständigen Tarifpolitik 110 durch Abschluss von FirmenTVen und der Verbandsmitgliedschaft wählen, entstünde ein sehr starres TV-System, in dem sinnvoll differenzierende Gestaltungen vielfach ohne Not ausgeschlossen wären. Auch würde ein der Funktionsfähigkeit des TV-Systems abträglicher Bedeutungsverlust der Arbeitgeberverbände drohen, da Unternehmen mit einem Interesse an eigenständiger, differenzierter Tarifpolitik nur der Austritt aus dem Arbeitgeberverband bzw. der Wechsel in eine OT-Mitgliedschaft bliebe. Untersagt ein Arbeitgeberverband seinen Mitgliedsunternehmen satzungsrechtlich 111 den Abschluss von FirmenTVen, wird auch dadurch die Tariffähigkeit der Mitgliedsunternehmen nicht aufgehoben. Ein gleichwohl – z.B. unter Arbeitskampfdruck – abgeschlossener FirmenTV ist wirksam, mag er auch gegen die Verbandssatzung verstoßen und das Unternehmen – zulässigen4 – vereinsrechtlichen Sanktionen aussetzen5. b) Tariffähigkeit der Arbeitgeberverbände aa) Koalitionsbegriff (1) Allgemeines Tariffähig sind gemäß § 2 Abs. 1 TVG auch „Vereinigungen von Arbeitgebern“. An- 112 gesprochen ist damit der Koalitionsbegriff des Art. 9 Abs. 3 GG. Das Vorliegen einer 1 Matthes, FS Schaub, S. 483; Heinze, DB 1997, 2122 (2126); Kleinke/Kley/Walter, ZTR 2000, 499. 2 So auch die ganz h.M., etwa BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734 m.w.N.; Bayreuther, S. 305 f.; Henssler, ZfA 1998, 517 (535); Witt, Der Firmentarifvertrag, S. 64 ff.; Lobinger, RdA 2006, 12 (13 ff.); Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 149 m. zahlr. Nachw. 3 Vgl. BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734; Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 107. 4 BAG v. 24.1.2001 – 4 AZR 655/99, NZA 2001, 788; Hanau/Kania, FS Däubler, S. 437 (455 ff.). 5 Näher Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 151 ff.
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Teil 2 Rz. 113
Tarifvertragsparteien
Arbeitgeberkoalition setzt unstreitig voraus, dass es sich um einen freiwilligen Zusammenschluss von Arbeitgebern handelt, der dem Koalitionszweck des Art. 9 Abs. 3 GG verpflichtet ist, also die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen anstrebt (s. Teil 1 Rz. 18). Umstritten ist, ob innerhalb des verfassungsrechtlich geprägten Koalitionsbegriffs auch im Hinblick auf Arbeitgeberkoalitionen weitere Merkmale vorauszusetzen sind. Teilweise wird das Bestehen weiterer Anforderungen mit Hinweis auf die historische Entwicklung verneint: Arbeitgeberkoalitionen seien lediglich als Reaktion auf die Gründung von Gewerkschaften entstanden1. Grundlage dieser bereits beim Koalitionsbegriff zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite differenzierenden Betrachtungsweise ist letztlich die verfehlte Interpretation, dass Art. 9 Abs. 3 GG ausschließlich oder jedenfalls überwiegend ein „Arbeitnehmergrundrecht“ sei2. Tatsächlich gewährt Art. 9 Abs. 3 GG jedoch Arbeitnehmerund Arbeitgeberkoalitionen dieselben Rechte. Auch beim Koalitionsbegriff sollte daher nur insofern differenziert werden, als sachliche Unterschiede eine Abweichung notwendig machen3. Zu bedenken ist auch, dass eine Absenkung der Anforderungen des Koalitionsbegriffs für Arbeitgeberkoalitionen letztlich dazu führen würde, dass der kollektiv-persönliche Schutzbereich auf Arbeitgeberseite unversehens weiter wäre als auf Arbeitnehmerseite; die skizzierte Intention dieser Auffassung würde somit geradezu auf den Kopf gestellt. 113 Wie bei Arbeitnehmerkoalitionen ist daher auch hier zusätzlich zu den genannten Kriterien eine privatrechtliche Grundlage, eine organisatorische Verfestigung und Dauerhaftigkeit, aus der die Fähigkeit zu eigener Willensbildung folgt4, eine demokratische Binnenstruktur sowie eine Unabhängigkeit des Verbands vorauszusetzen (zu den einzelnen Begriffsmerkmalen s. Rz. 47 ff.). (2) Insbesondere: demokratische Binnenstruktur 114 Trotz dieser im Ausgangspunkt parallelen Betrachtung ergeben sich jedoch graduelle Abweichungen gegenüber dem Koalitionsbegriff auf Arbeitnehmerseite: Die Anforderungen an die demokratische Binnenstruktur sind, verglichen mit der Arbeitnehmerseite, zu reduzieren: Dass auch dem einzelnen Arbeitgeber durch § 2 Abs. 1 TVG die Tarifnormsetzungsmacht auf Arbeitgeberseite eingeräumt wird, lässt den Schluss zu, dass die notwendige demokratische Legitimation der Tarifnormsetzung insgesamt primär über die demokratische Willensbildung auf Arbeitnehmerseite vermittelt wird. Der einen TV abschließende einzelne Arbeitgeber verfügt über keinerlei demokratische Legitimation – und braucht sie auch nicht, da er niemanden als sich selbst repräsentiert5. Auch wenn auf Arbeitgeberseite ein Arbeitgeberverband normsetzend tätig wird, ist das Schutzbedürfnis des verbandsangehörigen Arbeitgebers vor „undemokratischer“ Tarifnormsetzung im Vergleich zu einem Gewerkschaftsmitglied deutlich reduziert, da der verbandsangehörige Arbeitgeber infolge der ihm durch § 2 Abs. 1 TVG ver-
1 So Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 112. 2 Dezidiert AK-GG/Kittner, 2. Aufl., Art. 9 III Rz. 26; ähnlich noch AK-GG/Kittner/Schiek, Art. 9 III Rz. 80 ff.; dagegen zu Recht Scholz in Maunz/Dürig, Art. 9 GG Rz. 157 m. Fn. 6. 3 Zutr. für eine einheitliche Betrachtung plädiert etwa Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 222 f. 4 Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 10 ff. 5 Vgl. auch Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 125 m.w.N.
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Tariffhigkeit
Rz. 117 Teil 2
liehenen Tariffähigkeit (s. Rz. 96) stets die Alternative hat, dem Verband für die Zukunft die Normsetzungslegitimation zu entziehen und künftig eine eigenständige Tarifpolitik zu verfolgen1. Stein2 stellt überzeugend dar, dass Grundgedanke des Postulats einer demokratischen 115 Binnenstruktur von Gewerkschaften letztlich der Schutz der Persönlichkeitsrechte der einzelnen Gewerkschaftsmitglieder ist. Diese Überlegung lässt sich nicht bruchlos auf Arbeitgeberverbände übertragen, da es bei großen Unternehmen jedenfalls nicht um Persönlichkeitsrechtsentfaltung, sondern allein um wirtschaftliche Betätigung geht. Insofern ist ein Abstimmungsmodus angebracht, der nicht „nach Köpfen“ zählt, sondern die wirtschaftliche und arbeitsmarktpolitische Bedeutung der Mitgliedsunternehmen gewichtet3. Anderes mag man erwägen, wenn in einem Arbeitgeberverband auch Unternehmen 116 organisiert sind, die der Praktizierung persönlicher Freiheitsrechte des Unternehmensinhabers dienen4. Zu bejahen ist dies etwa bei Personenunternehmen und Personengesellschaften, in denen der Einzelunternehmer bzw. die Gesellschafter persönlich mitarbeiten. Grundrechtlich geht es dann nicht um den bloßen Schutz des Anteilseigentums (Art. 14 Abs. 1 GG), sondern um die betätigte Berufsfreiheit auf Unternehmerseite (Art. 12 Abs. 1 GG). In diesem Fall spricht auf den ersten Blick einiges dafür, die genannten Unternehmen vor einer undemokratischen Tarifnormsetzung durch den Verband zu schützen. Jedoch wird man auch dagegen anführen können, dass das einzelne Verbandsmitglied sich den im Verband geltenden Spielregeln durch den freiwilligen Verbandsbeitritt unterworfen hat. Da es auf Unternehmerseite nie um die persönlich abhängige Arbeitsleistung geht, sondern um die selbstbestimmte unternehmerische Berufstätigkeit, ist eine Betroffenheit von Persönlichkeitsrechten außerhalb der genannten Berufsfreiheit nicht ersichtlich. Vieles spricht daher dafür, dass die reduzierten Anforderungen an die demokratische Binnenstruktur auf Arbeitgeberverbandsseite unabhängig von der Art der im Verband organisierten Unternehmen gelten. bb) Überbetrieblichkeit Weitere Abweichungen ergeben sich hinsichtlich des für Gewerkschaften zum Krite- 117 rium der Überbetrieblichkeit Festgestellten (s. Teil 1 Rz. 21 f.): Handelt es sich um einen „Arbeitgeberverband“, dem nur ein Unternehmen angehört, fehlt es bereits am Merkmal des „Zusammenschlusses“ mehrerer Unternehmen, der für den Koalitionsbegriff essentiell ist (zur Möglichkeit des Zusammenschlusses mehrerer Konzernunternehmen s. dagegen Rz. 102). Ein solcher Arbeitgeberverband genösse nicht den Schutz durch Art. 9 Abs. 3 GG5.
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Greiner, Rechtsfragen, S. 233. Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 119. Zutr. Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 117; Löwisch, ZfA 1970, 295 (306). Dafür Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 119. Mit Recht bezeichnet Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 117 das Merkmal der Überbetrieblichkeit als „hier schon aus praktischen Gründen bedeutungslos“.
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Teil 2 Rz. 118
Tarifvertragsparteien
cc) Unabhängigkeit 118 Als weitere Anforderung an die Tariffähigkeit ist auch bei Arbeitgebervereinigungen die Gegnerunabhängigkeit im bereits dargestellten Sinne (Rz. 50) zu fordern. Insoweit ist wie bei Arbeitnehmerkoalitionen eine großzügige Betrachtungsweise geboten (s. Rz. 50): Insbesondere die zahlreichen Phänomene partieller Kooperation zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite stehen der Unabhängigkeit nicht entgegen. Anders als im Zuge der Mitbestimmungsdebatte erwogen, gilt dies auch angesichts des Umstandes, dass, vermittelt durch die Aufsichtsräte der mitbestimmten Kapitalgesellschaften, ein partieller Gewerkschaftseinfluss auf die Tarifpolitik von Arbeitgeberverbänden gegeben sein kann1. 119 Eine gewisse Unabhängigkeit vom Vertragspartner ist funktionale Voraussetzung für das Zustandekommen eines echten Vertrags (vgl. auch § 181 BGB)2. Ein Vertrag, der auf beiden Seiten von wirtschaftlich oder sozial identischen bzw. stark voneinander abhängigen Parteien abgeschlossen wird, ist ein bloßer Scheinvertrag, ein In-Sich-Geschäft. Soll dieser Vertrag unmittelbar und zwingend auf die Rechtsbeziehungen Dritter – nämlich der tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien – einwirken, ist in deren Interesse somit auch die Gegnerunabhängigkeit auf Arbeitgeberverbandsseite unerlässliche Voraussetzung für die Zuverlässigkeit des Verbands und damit seine Tariffähigkeit3. Daher rekurriert auch das BVerfG in ständiger Rechtsprechung ohne Unterscheidung zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite darauf, dass Koalitionen gegnerunabhängig sein müssen4. 120 Soweit an diesem Erfordernis von Teilen der Literatur Zweifel geltend gemacht werden5, vermag dies nicht zu überzeugen. Nicht überzeugend scheint, als Fundament des Unabhängigkeitspostulats das – tatsächlich nur für die Gewerkschaftsseite nutzbar zu machende – Gegenmachtsprinzip anzuführen. Anders als das Kriterium der sozialen Mächtigkeit besagt das bloße Unabhängigkeitspostulat über die Durchsetzungsfähigkeit der Koalition und damit die wirkungsvolle Begründung von „Gegenmacht“ nämlich nicht viel: Es beinhaltet lediglich einen Mindeststandard und eine notwendige Voraussetzung für den Abschluss eines vollwertigen Vertrags. Für die dem Vertrag innewohnende Richtigkeitsgewähr (s. Rz. 56), die an das Gegenmachtsprinzip anknüpft, ist es ohne echte Aussagekraft. 121 Mit Blick darauf, dass der einzelne verbandsangehörige Arbeitgeber stets die Alternative einer eigenständigen Tarifpolitik hat, können allenfalls die Anforderungen an die Unabhängigkeit graduell weiter abgesenkt werden. Allerdings wurde bereits bei Arbeitnehmerkoalitionen gezeigt (s. Rz. 50), dass das Unabhängigkeitspostulat nur einen Minimalstandard kennzeichnen kann; die wechselseitigen Abhängigkeiten zwi1 Dazu Stern/Dietlein, Staatsrecht IV/1, S. 2034, der zutreffend die fortschreitende Relativierung des ursprünglichen Konzepts der „absoluten“ Gegnerfreiheit beschreibt. 2 Dazu Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 299; ausführlich Zöllner/Seiter, Paritätische Mitbestimmung, S. 34 ff.; überkritisch zu dieser Argumentation: Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 120. 3 Zutr. Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 298 ff. m.w.N. 4 Vgl. – ohne Differenzierung zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberkoalitionen – BVerfG v. 18.11.1954 – 1 BvR 629/52, NJW 1954, 1881; BVerfG v. 6.5.1964 – 1 BvR 79/62, NJW 1964, 1267; BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, NJW 1979, 833. 5 Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 118.
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Tariffhigkeit
Rz. 124 Teil 2
schen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite stehen auch dort der Eröffnung des Koalitionsbegriffs nicht entgegen. Dass die Abhängigkeit des einzelnen Arbeitnehmers von seinem Arbeitgeber ein besonderes Unabhängigkeitserfordernis bei kollektiven Vereinigungen von Arbeitnehmern erfordert1, ist zwar ein richtiger Gedanke, angesprochen wird damit jedoch auch wieder das Gegenmachtsprinzip. Die persönliche und regelmäßig auch wirtschaftliche Abhängigkeit des Arbeitnehmers von seinem Arbeitgeber kann wirksam nur durch eine sozial mächtige Arbeitnehmerkoalition ausgeglichen werden, so dass auch dieser Aspekt ausschließlich für das Mächtigkeitskriterium nutzbar gemacht werden kann. Seine Rechtfertigung findet das Unabhängigkeitspostulat mithin nicht im Gegenmachtsprinzip, sondern in der Normwirkung des TVs und der daraus folgenden unmittelbaren Betroffenheit fremder Interessensphären durch den Vertragsschluss. dd) Tarifwilligkeit Problematisch ist, inwieweit die Arbeitgeberkoalition nach ihrer satzungsautonomen 122 Zwecksetzung die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen gerade durch den Abschluss von TVen anstreben muss. Hat es der Arbeitgeberverband also in der Hand, durch entsprechende Ausgestaltung der Satzung den tarifpolitischen Wirkungskreis aus seinem Aufgabenspektrum auszuklammern? Bejaht man dies, findet damit die gewollte Tarifunfähigkeit Anerkennung; die Tariffähigkeit hinge auch auf Seiten eines Arbeitgeberverbands letztlich von seiner Tarifwilligkeit ab (s. für Gewerkschaften Rz. 53). Entsprechend der durch Art. 9 Abs. 3 GG vorbehaltlos gewährleisteten Satzungsauto- 123 nomie steht es auch Arbeitgeberverbänden frei, die Entscheidung, inwieweit von dem durch Art. 9 Abs. 3 GG verbürgten Freiheitsrecht Gebrauch gemacht werden soll, autonom zu treffen. Insbesondere kann der Arbeitgeberverband somit in seiner Satzung den Wirkungskreis auf ein Tätigwerden außerhalb tarifpolitischer Zwecksetzungen beschränken. Auch bei einem Arbeitgeberverband ist folglich die Tariffähigkeit von der satzungsautonom artikulierten Tarifwilligkeit abhängig2. Will ein Zusammenschluss von Arbeitgebern von der durch Art. 9 Abs. 3 GG verbürgten Tarifautonomie keinen Gebrauch machen, ist es grundrechtsdogmatisch nicht begründbar, ihm diese Kompetenz rechtlich aufzuzwingen. Da die Satzungsautonomie auch die jederzeitige autonome Satzungsänderung umfasst, kann sich ein bestehender Arbeitgeberverband, der zunächst tarifwillig war, nachträglich durch Satzungsänderung für tarifunwillig erklären. Mit diesem von Art. 9 Abs. 3 GG vorbehaltlos geschützten Gestaltungsakt entfällt auch die Tariffähigkeit3. Diese Freiheit stößt erst dann an ihre Grenzen, wenn sie zu unzuträglichen Kon- 124 sequenzen für die Tarifautonomie führt und dadurch eine grundrechtsimmanente Schranke der Satzungsautonomie, die Funktionsfähigkeit des TV-Systems4, aktiviert wird. Wird die Tarifunwilligkeit durch Satzungsänderung gezielt herbeigeführt, um die Auswirkungen eines bereits vereinbarten Tarifabschlusses von den eigenen Mit1 So Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 119. 2 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 364 ff. 3 So BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 111/08, NZA 2010, 105, Rz. 34; a.A. Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 116. 4 Dazu Wank, FS SOKA Bau, S. 141 ff.
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Teil 2 Rz. 125
Tarifvertragsparteien
gliedern abzuwenden, liegt darin ein missbräuchlicher Einsatz der Satzungsautonomie zu tarifpolitischen Zwecken. Diese vor allem in der Zeit der Weimarer Republik praktizierte Flucht in die gewollte Tarifunfähigkeit entzieht daher dem getätigten Tarifabschluss nicht die Geltungsgrundlage. Vielmehr tritt die Tarifunwilligkeit und damit der Verlust der Tariffähigkeit auf Arbeitgeberverbandsseite erst mit Ablauf des abgeschlossenen TVs ein, so dass dessen Geltungsgrundlage nicht berührt wird. Die Gegenauffassung, wonach der nachträgliche Verzicht auf die Tariffähigkeit bei Arbeitgebervereinigungen nur dadurch möglich sei, dass die Vereinigung generell die Interessenvertretung der Mitglieder auf dem Gebiet der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen aufgebe1, ist mit Art. 9 Abs. 3 GG nicht vereinbar. Verkannt wird, dass Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen auch ohne Rückgriff auf das spezifische Mittel der Tarifnormsetzung gewahrt und gefördert werden können, so dass im Interesse eines grundrechtsfreundlichen Schutzbereichsverständnisses der Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG auch für derartige Koalitionen eröffnet ist, die die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen auf anderen Gebieten als der Tarifpolitik wahren und fördern wollen2. ee) Kein Mächtigkeitserfordernis 125 Nicht vorauszusetzen ist bei Arbeitgeberverbänden das im Gegenmachtsprinzip wurzelnde Kriterium der sozialen Mächtigkeit. Eine besondere Durchsetzungskraft muss der Arbeitgeberverband nicht aufweisen3. Die Gegenauffassung4 verkennt, dass § 2 Abs. 1 TVG bereits einzelnen Arbeitgebern unabhängig von ihrer sozialen Mächtigkeit und wirtschaftlichen Stärke die Tariffähigkeit zuspricht (s. Rz. 96). Weshalb dann einem Zusammenschluss tariffähiger Arbeitgeber die Tariffähigkeit wegen mangelnder Durchsetzungsstärke versagt werden sollte, ist nicht begründbar. 126 Auch ein dies legitimierendes Schutzbedürfnis besteht nicht: Nach hier vertretener Auffassung (s. Rz. 123) hat der Arbeitgeberverband es in der Hand, durch satzungsautonome Beschränkung des eigenen Wirkungskreises die Tariffähigkeit für die Zukunft entfallen zu lassen (gewillkürte Tarifunfähigkeit; Tarifunwilligkeit). 127 Anderes folgt auch nicht aus dem gemeinsamen Protokoll über die Leitsätze des Staatsvertrags vom 18.5.19905. Dort wird der Staatsvertrag zur Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwar dahingehend interpretiert, dass der Wille, „durch Ausüben von Druck auf den Tarifpartner zu einem Tarifabschluss zu kommen“ und die dahingehende Druckentfaltungsfähigkeit Wesensmerkmale „tariffähige(r) Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände“ seien. Angesichts des begrenzten Regelungsgegenstands dieses Staatsvertrags ist jedoch keine Intention des Gesetzgebers ersichtlich, das TV-Recht dort neu mit konstitutiver Wirkung regeln zu wollen. Dem Leitsätzeprotokoll kommt nicht der Rang eines materiellen Gesetzes zu6. Vielmehr 1 Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 116. 2 A.A. – Schutz solcher Verbände nur nach Art. 9 Abs. 1 GG – Gamillscheg, S. 528. 3 So zutr. BAG v. 20.11.1990 – 1 ABR 62/89, NZA 1991, 428; Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 116; Gamillscheg, S. 438 f. 4 ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 67; MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 10 ff.; Hanau, NZA 2003, 128 f.; Gitter, FS Kissel, S. 265 ff. 5 BGBl. II, 518, 537, 545. 6 Zutr. BAG v. 6.6.2000 – 1 ABR 21/99, NZA 2001, 156, Rz. 34; BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 66; BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 27.
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Tariffhigkeit
Rz. 131 Teil 2
war seine Intention, den geltenden Rechtszustand in der Bundesrepublik Deutschland vor der Wiedervereinigung zu beschreiben und die Erstreckung dieses vorgefundenen Rechtszustands auf das Beitrittsgebiet sicherzustellen. Erfasste der Gesetzgeber somit die Rechtsprechung zur Tariffähigkeit unzutreffend, handelt es sich eher um eine Falschbezeichnung durch den Gesetzgeber als eine verbindliche Gestaltungsentscheidung. Auffassungen, die hieraus weitergehende Schlüsse für das heute geltende Tarifrecht ziehen1, verkennen diesen Umstand und überdies auch den begrenzten Regelungsgegenstand des Staatsvertrags: Dieser ist auf den Beitrittsprozess und die Rechtsangleichung auf dem Gebiet der ehemaligen DDR bezogen und hat sich durch den historischen Ablauf, insbesondere die erfolgte Wiedervereinigung und die damit eingetretene Rechtsangleichung, gegenständlich erledigt2. Keine Frage der Tariffähigkeit eines Arbeitgeberverbands, sondern eine Frage der Tarifbindung (§ 3 Abs. 1 TVG) ist die satzungsautonome Eröffnung von Mitgliedschaften ohne Tarifbindung („OT-Mitgliedschaft“). Siehe dazu ausführlich Rz. 148 ff.
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c) Weitere tariffähige Akteure auf Arbeitgeberseite § 2 Abs. 3 TVG statuiert die Tariffähigkeit von Spitzenorganisationen der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände (s. Rz. 192 ff.).
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Der Gesetzgeber hat darüber hinaus speziell auf Arbeitgeberseite weiteren Akteuren 130 die Tariffähigkeit verliehen, die den Koalitionsbegriff des Art. 9 Abs. 3 GG nicht erfüllen. Zu nennen sind insofern Innungen und Innungsverbände3. Bei diesen handelt es sich um Körperschaften des öffentlichen Rechts, § 53 Satz 1 HandwerksO. Es fehlt ihnen mithin an der von Art. 9 Abs. 3 GG für den Koalitionsbegriff vorausgesetzten privatrechtlichen Grundlage. Gleichwohl wird ihnen durch das Gesetz (§§ 54 Abs. 3 Nr. 1, 82 Nr. 3, 85 Abs. 2 i.V.m. 82 Nr. 3 HandwerksO) die Tariffähigkeit verliehen. Auf Basis der damals vorherrschenden Delegationstheorie hatte das BVerfG insofern keine Bedenken4, da der Gesetzgeber berechtigt sei, „jedenfalls auf Seite der Arbeitgeber“ die Tariffähigkeit auf andere Organisationen als die von Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Verbände auszudehnen. Die Möglichkeit, Arbeitgeberverbände zu schaffen, sei dadurch auch im Bereich des Handwerks nicht beeinträchtigt. Angesichts des bestehenden faktischen Zwangs zum Innungsbeitritt ist dies nicht unbedenklich5, auch wenn das Gesetz heute keine Zwangsmitgliedschaft mehr begründet6. Im Interesse einer pragmatischen Effektuierung der Tarifnormsetzung im Bereich des 131 Handwerks mag diese Ausgestaltungsentscheidung des Gesetzgebers (noch) vertretbar sein. Der öffentlich-rechtliche Charakter der Innungen steht jedoch in einem er1 Z.B. Richardi, § 2 BetrVG Rz. 39; Gitter, FS Kissel, S. 268 ff.; Schrader, NZA 2001, 1337; Kissel, NZA 1990, 545 (549 f.). 2 Zutr. Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 14; Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 126; Henssler, S. 14 f.; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 1; differenzierend Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 204, der den Staatsvertrag als Grundlage einer (historischen) Auslegung heranzieht. 3 Vgl. BAG v. 6.5.2003 – 1 AZR 241/02, NZA 2004, 562. Unrichtig ist insofern das Diktum des BAG (14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 64), die Aufzählung in § 2 Abs. 1 TVG sei „abschließend“. 4 BVerfG v. 19.10.1966 – 1 BvL 24/65, BB 1966, 1267. 5 Vgl. auch BVerfG v. 19.10.1966 – 1 BvL 24/65, BB 1966, 1267. 6 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 289.
Greiner
99
Teil 2 Rz. 132
Tarifvertragsparteien
heblichen Spannungsverhältnis zur Staatsferne der institutionellen Gewährleistung der Tarifautonomie. Im Übrigen hängt die verfassungsrechtliche Bewertung massiv von der dogmatischen Herleitung der Tarifnormsetzungsmacht ab und lässt sich nur auf Basis eines auch delegatorischen Begründungsansatzes untermauern. Die Verleihung der Tariffähigkeit an Handwerksinnungen ist ein weiteres deutliches Indiz dafür, dass eine reine Legitimationstheorie als Erklärungsmuster für das geltende TVRecht nicht trägt1. Insofern wäre jede Schaffung weiterer tariffähiger Akteure durch Gesetz – auch unter dem Gesichtspunkt der drohenden Aushöhlung der verfassungsrechtlich geschützten Koalitionsfreiheit durch konkurrierende Akteure2 – fragwürdig und stünde in einem Spannungsverhältnis zur grundrechtlich „staatsfern“ konzipierten Tarifautonomie. 132 Nicht tariffähig sind Kreishandwerkerschaften (§§ 86 ff. HandwO) sowie Handwerkskammern (§§ 90 ff. HandwO)3. Die Bundesrepublik Deutschland ist TV-Partei auf Arbeitgeberseite hinsichtlich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen derjenigen Arbeitnehmer, die auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland bei NATO-Truppen beschäftigt sind4. Die umstrittene Tariffähigkeit der Lotsenbrüderschaften und Bundeslotsenkammern5 wird überwiegend verneint6. 4. Folgen des Entfalls der Tariffähigkeit a) Tatbestandliche Voraussetzungen 133 Die Tariffähigkeit von Koalitionen entfällt im Prinzip durch die Auflösung der Koalition7. Ebenso kommt der Verzicht auf die Tariffähigkeit in Betracht (gewollte Tarifunfähigkeit, Tarifunwilligkeit; s. Rz. 53 f., 123). Ferner entfällt die Tariffähigkeit, wenn die rechtlichen Voraussetzungen der Tariffähigkeit nicht mehr gegeben sind, z.B. die hinreichende Durchsetzungskraft (s. Rz. 55 ff.) der Gewerkschaft nicht mehr gegeben ist8. 134 Ist der einzelne Arbeitgeber TV-Partei, führt die Einstellung der Betriebstätigkeit und Liquidation des Unternehmens zum Entfall der Tariffähigkeit. Auch das Unternehmen in Liquidation bleibt freilich an die TVe gebunden. Ein TV endet erst dann, wenn das letzte Arbeitsverhältnis im Unternehmen beendet ist und mithin der TV gegenstandslos geworden ist9. Auch der Insolvenzverwalter bleibt an die geschlossenen FirmenTVe gebunden10. Bei Gesamtrechtsnachfolge (Verschmelzung gemäß § 20 UmwG, Erbfall) tritt keine Beendigung der Tariffähigkeit ein, vielmehr tritt der Rechtsnachfolger in die 1 S. allgemein Greiner, Rechtsfragen, S. 99 ff. 2 BVerfG v. 19.10.1966 – 1 BvL 24/65, NJW 1966, 2305; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 32. 3 Vgl. BAG v. 10.12.1960 – 2 AZR 490/59, BB 1961, 179; BAG v. 27.1.1961 – 1 AZR 311/59, RdA 1961, 179; zutr. Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 177; weiterhin Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 293. 4 So das NATO-Truppenstatut v. 30.3.1955, BGBl. II, 405; Zusatzabkommen v. 3.8.1959, BGBl. II 1961, 1218 und Zusatzabkommen v. 21.10.1971, BGBl. II 1972, 1022, weiterhin Abkommen v. 28.9.1994 BGBl. II 1994, 2598; dazu näher Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 132. 5 Vgl. Gesetz über das Seelotsenwesen v. 13.10.1954, BGBl. II, 1035. 6 Dazu Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 179; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 294. 7 Für Gewerkschaften BAG v. 25.9.1990 – 3 AZR 266/89, NZA 1991, 314. 8 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 34; ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 17. 9 Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 199. 10 BAG v. 27.6.2000 – 1 ABR 31/99, NZA 2001, 33.
100 Greiner
Tariffhigkeit
Rz. 137 Teil 2
Parteistellung bei FirmenTVen und damit auch in die Tariffähigkeit ein1. Für den Fall der Verschmelzung folgt dies bereits aus § 20 Abs. 1 Nr. 1 UmwG. Besondere Probleme ergeben sich im Fall der Unternehmensspaltung (vgl. Teil 15 Rz. 196 ff.). Nicht zum Entfall der Tariffähigkeit führen Verbandsaustritt, Herauswachsen aus dem Geltungsbereich des geltenden TVs oder Betriebsübergang (zu den dann eintretenden Rechtsfolgen s. Rz. 237; Teil 6 Rz. 61 ff.; Teil 15 Rz. 7 ff., 17 ff.). b) Rechtsfolgen Problematisch ist, welche Rechtsfolgen beim Verlust der Tariffähigkeit eines Ver- 135 bands eintreten. Eine gesetzliche Regelung besteht dazu nicht. Unstreitig entfällt die Fähigkeit zum Abschluss neuer TVe bereits während des vereinsrechtlichen Liquidationsstadiums, es sei denn es handelt sich um Aufhebungsverträge zur Beendigung zuvor geschlossener TVe2. Im Insolvenzfall ist Ausgangspunkt der Betrachtung, dass mit dem Eröffnungs- 136 beschluss die – jedenfalls bei Arbeitgeberverbänden regelmäßig gegebene (s. Rz. 3) – Rechtsfähigkeit des Vereins erlischt, § 42 BGB. Jedoch erlöschen dadurch noch nicht die in die Welt gesetzten Verträge3. Als Liquidationsverein besteht der Verein fort (§ 49 Abs. 2 BGB analog). Zu den im Abwicklungsstadium zu liquidierenden Rechtsverhältnissen gehören auch die abgeschlossenen TVe. Im Rahmen der Liquidation kann ein geltender TV durch den Insolvenzverwalter gekündigt werden, sofern die Kündigungsvoraussetzungen gegeben sind. Wichtig ist hervorzuheben, dass der Eröffnungsbeschluss die Tarifbindung nicht entfallen lässt. Vielmehr besteht die mitgliedschaftliche Bindung an die TVe des Verbands fort. Erst mit Kündigung endet die Bindung. Daran schließt sich die Nachwirkung an, § 4 Abs. 5 TVG. Der Rekurs des BAG4 auf die Nachbindung (§ 3 Abs. 3 TVG) hat zu dem Fehlschluss verleitet, es handele sich bei der während des Insolvenzverfahrens fortbestehenden Bindung um eine Nachbindung5. Zutreffend ist hingegen, dass es sich um die „normale“ mitgliedschaftliche Bindung gemäß § 3 Abs. 1 TVG handelt6. Bei einem autonom veranlassten Auflösungsbeschluss – außerhalb einer Insolvenz – 137 hat das BAG früher vertreten, dass bereits damit der TV beendet werde7. Der TV wirke mit dem Wirksamwerden des Auflösungsbeschlusses nur noch nach (§ 4 Abs. 5 TVG)8. Begründet wurde dies damit, dass das Liquidationsstadium nur der vermögensrechtlichen Abwicklung des Vereins diene, nicht hingegen der weiteren Durchführung von TVen9. Der genaue Zeitpunkt, zu dem die Beendigungswirkung 1 Für den Tod des Arbeitgebers so ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 26; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 375; Koberski/Clasen/Menzel, § 2 TVG Rz. 101. 2 Statt aller Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 41. 3 Vgl. BVerfG v. 18.7.1967 – 2 BvH 1/63, BVerfGE 22, 221 (231) – „Coburg“ – für einen Staatsvertrag; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 35. 4 BAG v. 27.6.2000 – 1 ABR 31/99, NZA 2001, 334. 5 Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 155. 6 Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 194. 7 BAG v. 11.11.1970 – 4 AZR 522/69, DB 1971, 483; BAG v. 15.10.1986 – 4 AZR 289/85, NZA 1987, 246; BAG v. 28.5.1997 – 4 AZR 546/95, NZA 1998, 40. 8 So BAG v. 15.10.1986 – 4 AZR 289/85, NZA 1987, 246; BAG v. 28.5.1997 – 4 AZR 546/95, NZA 1998, 40; a.A. (sofortiger Entfall jeder Tarifwirkung) Heinze, ZfA 2001, 159 (170). 9 Vgl. nur Koberski/Clasen/Menzel, § 2 TVG Rz. 100a; Richardi, Kollektivgewalt, S. 220.
Greiner
101
Teil 2 Rz. 138
Tarifvertragsparteien
eintreten sollte, blieb dabei unklar1. Mit Recht wurde dies von Teilen der Literatur kritisch bewertet2. Bei Lichte betrachtet gilt im Fall des autonom veranlassten Auflösungsbeschlusses nichts anderes als im Fall der Insolvenz. Auch hier tritt der Verband in ein Liquidationsstadium ein, das der Abwicklung aller bestehenden Rechtsbeziehungen dient, nicht allein der vermögensrechtlichen3. Nicht ersichtlich ist, weshalb den von dem Verein geschlossenen Verträgen dadurch die Grundlage entzogen werden sollte4. Die Liquidatoren können von Kündigungsrechten Gebrauch machen, sofern diese tarifrechtlich bestehen. Erst mit ausgesprochener Kündigung treten die Tarifnormen in das Nachwirkungsstadium ein. Die mitgliedschaftliche Bindung nach § 3 Abs. 1 TVG wird auch in diesem Liquidationsstadium fortgeschrieben. Zutreffend ist der Hinweis, dass es wertungsmäßig ein vergleichbarer Vorgang ist, ob die Mitglieder nach und nach austreten, zugleich austreten oder einen Auflösungsbeschluss treffen5. Insbesondere der Rechtsgedanke des § 3 Abs. 3 TVG gebietet somit, die volle Tarifbindung auch bei Verbandsauflösung aufrecht zu erhalten. Der Grundsatz pacta sunt servanda gebietet es, die mitgliedschaftliche Bindung an den – in Ausübung kollektiver Privatautonomie geschlossenen – TV fortzuschreiben. 138 Dieser Position hat sich auch das BAG mit Urteil vom 23.1.20086 angeschlossen. Die Tarifgebundenheit eines Verbandsmitglieds endet demnach generell nicht ohne weiteres allein dadurch, dass der Verband sich auflöst. Die bestehenden TVe treten mit Verbandsauflösung nicht in den Zustand der Nachwirkung, sondern gelten zunächst vollwirksam weiter. Seine frühere Rechtsprechung7 gibt das BAG ausdrücklich auf. Nach Auflösung eines Verbands bestünden weiterhin die gegebenen Möglichkeiten der Beendigung der TVe, z.B. durch Befristung oder Kündigung. Die Rechtsfähigkeit des Vereins sei bis zur Auflösung gegeben und bestehe im Anschluss bis zur Beendigung der Liquidation fort (§ 49 Abs. 2 BGB), soweit es der Liquidationszweck erfordere. Nicht begründbar sei die früher vorherrschende Position, dass der interne Auflösungsbeschluss im Außenverhältnis die Wirkung einer fristlosen Kündigung des TVs habe. 139 Auch hier handelt es sich um die unveränderte mitgliedschaftliche Bindung nach § 3 Abs. 1 TVG. Da die Mitgliedschaft nicht sofort, sondern erst mit dem individuell erklärten Austritt aus dem Liquidationsverein endet, erfolgt mit dem Auflösungsbeschluss kein Übergang zur Nachbindung (§ 3 Abs. 3 TVG)8. In der Entscheidung vom 23.1.2008 entnimmt das BAG zwar § 3 Abs. 3 TVG und § 4 Abs. 5 TVG die den „Tarifverträgen zukommende Funktion, als Regelungs- und Ordnungssystem die Ar1 Vgl. Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 36 m.w.N. 2 So Peter, FS Däubler, S. 489 ff.; Wiedemann, Anm. AP Nr. 4 zu § 3 TVG; Buchner, AR-Blattei Tarifvertrag III Entscheidung Nr. 4; Reuter, JuS 1987, 666; der Rspr. zust. aber Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 68 ff.; ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 18; Heinze, ZfA 2001, 159 (169 f.); Richardi, Kollektivgewalt, S. 219; Koberski/Clasen/Menzel, § 2 TVG Rz. 100; Bergerhoff, Tarifflucht durch Auflösung des Arbeitgeberverbandes?, S. 212 ff. 3 Zutr. Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 40. 4 Zutr. Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 38; Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 195; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 60; Buchner, RdA 1997, 259 (263 f.). 5 Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 197; ähnlich Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 40. 6 BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 312/01, NZA 2008, 771. 7 BAG v. 15.10.1986 – 4 AZR 289/85, NZA 1987, 246; BAG v. 28.5.1997 – 4 AZR 545/95, AP Nr. 27 zu § 4 TVG Nachwirkung; s. dazu Rz. 137. 8 Zutr. Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 40; a.A. Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 60.
102 Greiner
Tariffhigkeit
Rz. 141a Teil 2
beitsverhältnisse nachhaltig zu gestalten“. Mit diesem Rekurs auf §§ 3 Abs. 3, 4 Abs. 5 TVG ist aber nicht gemeint, dass lediglich eine Nachbindung oder Nachwirkung einträte; das BAG argumentiert lediglich mit dem in diesen Vorschriften exemplarisch zum Ausdruck gebrachten allgemeinen Rechtsgedanken, dass TVe eine auch bei Veränderungen der verbandlichen und mitgliedschaftlichen Voraussetzungen funktionsfähig bleibende Ordnung begründen sollen. In Verallgemeinerung dieser Erwägungen begründet der Wegfall der Tariffähigkeits- 140 voraussetzungen auf einer Seite des geschlossenen TVs nicht ohne weiteres ein außerordentliches Kündigungsrecht, und zwar weder für die davon betroffene Partei noch für das tarifvertragliche Gegenüber. Ein außerordentliches Kündigungsrecht entsteht auch in diesen Fällen nur, wenn durch die verbandsrechtlichen Veränderungen die Geschäftsgrundlage des TVs entfallen ist1 oder das Festhalten am TV in anderer Weise unzumutbar i.S.v. § 314 BGB ist – insbesondere angesichts einer unzumutbar langen noch verbleibenden Laufzeit ohne ordentliche Kündigungsmöglichkeit2. Im Auflösungsbeschluss als solchem wird man eine Kündigungserklärung nur unter besonderen Umständen erblicken können3; es muss eine eigenständige Willensbildung über das Schicksal der TVe erkennbar werden. In jedem Fall muss die Kündigungserklärung dem Tarifpartner zugegangen sein, um wirksam zu sein (§ 130 Abs. 1 BGB)4. 5. Verfahren zur gerichtlichen Feststellung der Tariffähigkeit Das Verfahren zur gerichtlichen Feststellung der Tariffähigkeit bzw. Tarifunfähigkeit 141 einer Koalition ist in den §§ 2a Abs. 1 Nr. 4, 97 ArbGG geregelt. Es handelt sich um ein Beschlussverfahren mit besonderem Gegenstand; gemäß § 97 Abs. 2a ArbGG finden § 80 Abs. 1, 2 Satz 1 und Abs. 3, § 81, § 83 Abs. 1–4, § 83a, § 84 Satz 1, 2, § 90 Abs. 3, § 91 Abs. 2 und §§ 92–96 ArbGG entsprechende Anwendung; für die Vertretung der Beteiligten gilt § 11 Abs. 4, 5 ArbGG entsprechend. Der Antrag zielt darauf ab festzustellen, inwieweit die Tariffähigkeit der Vereinigung nach den dargestellten Kriterien (s. Rz. 45 ff.; 95 ff.) gegeben ist. Es handelt sich um eine Feststellungsklage, auf die § 256 ZPO Anwendung findet5; das erforderliche Feststellungsinteresse folgt bereits aus der Antragsberechtigung6. § 97 Abs. 3 Satz 1 ArbGG stellt nun ausdrücklich klar, dass der rechtskräftige Beschluss über die Tariffähigkeit einer Vereinigung für und gegen jedermann wirkt; die gesetzliche Verankerung dieser Erga-omnes-Wirkung kodifiziert die höchstrichterliche Rechtsprechung7. Durch das sog. Tarifautonomiestärkungsgesetz8 wurde mit Wirkung zum 16.8.2014 141a das Verfahren modifiziert und gestrafft. Insbesondere ist nun gemäß § 97 Abs. 2 1 Vgl. Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 42; Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 197; die außerordentliche Kündigung generell verneinend Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 157. 2 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 42. 3 Vgl. BAG v. 15.10.1986 – 4 AZR 289/85, NZA 1987, 246. 4 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 42. 5 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289. 6 BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 25. 7 BAG v. 15.3.1977 – 1 ABR 16/75, AP Nr. 24 zu Art. 9 GG; BAG v. 23.5.2012 – 1 AZB 67/11, NZA 2012, 625. 8 Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie v. 11.8.2014, BGBl I 2014, 1348.
Greiner
103
Teil 2 Rz. 142
Tarifvertragsparteien
ArbGG n.F. erstinstanzlich das Landesarbeitsgericht zuständig, in dessen Bezirk die Vereinigung, über deren Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit zu entscheiden ist, ihren Sitz hat. Die örtliche Zuständigkeit orientiert sich dabei am allgemeinen Gerichtsstand juristischer Personen gemäß § 17 Abs. 1 ZPO. Die von § 8 Abs. 1 ArbGG abweichende Verkürzung des Instanzenzugs dient nach der amtlichen Gesetzesbegründung der Verfahrensbeschleunigung und der schnelleren Herstellung von Rechtssicherheit1. Sie wahrt die Vorgaben des BVerfG zur Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens. Insbesondere steht mit dem BAG weiterhin eine zusätzliche Instanz zur Kontrolle der erstinstanzlichen Entscheidung zur Verfügung2. Die Rechtsschutzmöglichkeiten nach dem neugefassten § 97 ArbGG sind folglich mit Art. 19 Abs. 4 GG sowie Art. 20 Abs. 3 GG vereinbar3. Insbesondere scheint der anzuwendende Amtsermittlungsgrundsatz, § 83 ArbGG, sogar besonders geeignet, die Reduktion auf eine Tatsacheninstanz durch Intensivierung der gerichtlichen Sachverhaltserforschung auszugleichen4. 142 Antragsberechtigt sind zum einen die oberste Arbeitsbehörde des Bundes sowie eines von der Tarifzuständigkeit erfassten Bundeslandes, also Bundes- und Landesarbeitsminister. Antragsberechtigt sind zum anderen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberkoalitionen mit zumindest teilidentischem Zuständigkeitsbereich, insbesondere also auch konkurrierende Koalitionen desselben sozialen „Lagers“. Dies hat in der Vergangenheit insbesondere DGB-Gewerkschaften veranlasst, auch die Tariffähigkeit relativ starker Konkurrenzorganisationen immer wieder gerichtlich in Zweifel zu ziehen. Eine solche Instrumentalisierung des Verfahrens nach § 97 ArbGG zur Verhinderung legitimen Koalitionswettbewerbs scheint bedenklich5. Freilich entspricht die Antragsberechtigung geltendem Recht. Auch mit Blick auf die Wettbewerbssituation hält das BAG derartige Anträge nicht für rechtsmissbräuchlich6. 143 Die Antragsbefugnis einer konkurrierenden Gewerkschaft erfordert nicht die Betroffenheit eines anderen eigenen Rechts oder rechtlichen Interesses, sondern ergibt sich bereits aus § 97 Abs. 1 ArbGG selbst7. Für die Antragsberechtigung genügt es, dass der räumliche und sachliche Zuständigkeitsbereich der antragstellenden Gewerkschaft zumindest teilweise mit dem Zuständigkeitsbereich der angegriffenen Vereinigung übereinstimmt8. Die antragstellende Koalition muss selbst tariffähig sein9. Ob sie in dem streitgegenständlichen Zuständigkeitsbereich selbst eine erfolgreiche Ta1 BT-Drucks. 18/1558, S. 44. 2 Vgl. zu den Anforderungen im Einzelnen BVerfG (Plenum) v. 30.4.2003 – 1 PBvU 1/02, NJW 2003, 1924; BVerfG (Kammer) v. 28.2.2013 – 2 BvR 612/12, NStZ-RR 2013, 225; BVerfG (Kammer) v. 19.7.2007 – 1 BvR 650/03, NJW-RR 2008, 26; BVerwG v. 22.1.2004 – 4 A 4/03, NVwZ 2004, 861. 3 Ebenso LAG Hessen v. 9.4.2015 – 9 TaBV 225/14, NZA-RR 2015, 482, Rz. 72. 4 Vgl. LAG Hessen v. 9.4.2015 – 9 TaBV 225/14, NZA-RR 2015, 482, Rz. 72. 5 Vgl. aber BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 52 ff. 6 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289; BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 25; BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112, Rz. 32. 7 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 47; BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112, Rz. 27. 8 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 47; BAG v. 6.6.2000 – 1 ABR 10/99, NZA 2001, 160, Rz. 16. 9 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289; BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112, Rz. 28 m.w.N.
104 Greiner
Tariffhigkeit
Rz. 146 Teil 2
rifpolitik betrieben hat oder betreibt, soll aus Sicht des BAG unerheblich sein, sofern sich ihre Tariffähigkeit nach den Grundsätzen der einheitlichen, unteilbaren Tariffähigkeit ergibt1. Auch die Antragsbefugnis der obersten Arbeitsbehörde des Bundes oder Landes folgt 144 aus § 97 Abs. 1 ArbGG selbst. Eine darüber hinausgehende Betroffenheit muss nicht vorliegen2. Die Antragsbefugnis der obersten Arbeitsbehörde eines Landes setzt nicht voraus, dass sich die Tätigkeit der Vereinigung auf das Gebiet des jeweiligen Bundeslandes beschränkt3. Daraus kann sich eine parallele Antragsbefugnis unterschiedlicher Landesminister und des Bundesministers ergeben4. In dem Verfahren nach § 97 Abs. 1 ArbGG ist der Antragsteller notwendig Beteiligter. 145 Die weiteren Beteiligten ergeben sich aus § 83 Abs. 3 ArbGG; dieser findet gemäß § 97 Abs. 2a ArbGG entsprechende Anwendung. Entscheidend kommt es auf die unmittelbare Betroffenheit in der Rechtsstellung als Arbeitnehmer- oder Arbeitgebervereinigung an. Daher ist stets die Vereinigung beteiligt, über deren Tariffähigkeit gestritten wird. Beteiligt sind ferner die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite, soweit die Entscheidung sie berühren kann5. Aus Perspektive des BAG ist grundsätzlich die Beteiligung der jeweiligen Spitzenorganisationen ausreichend. Nicht zu beteiligen sind demnach z.B. einzelne Arbeitgeber, die mit der in ihrer Tariffähigkeit angegriffenen Gewerkschaft FirmenTVe abgeschlossen haben6. Auch wenn diese ein unabweisbares Interesse an der Rechtswirksamkeit der geschlossenen TVe haben, ist dieser Verengung des Beteiligtenkreises aus Gründen der Prozessökonomie und mit Blick darauf beizupflichten, dass das Verfahren nach § 97 ArbGG der objektiven Feststellung der Tariffähigkeit dient, nicht hingegen der Verteidigung von Individualinteressen. Welche Argumente einzelne Arbeitgeber vortragen könnten, um einer objektiv tarifunfähigen Gewerkschaft zur Tariffähigkeit zu verhelfen, ist nicht ersichtlich. Erstreckt sich die Zuständigkeit der Vereinigung, deren Tariffähigkeit umstritten ist, auf das Gebiet mehrerer Bundesländer, ist in dem Verfahren auch die oberste Arbeitsbehörde des Bundes beteiligt7. In dem Verfahren gilt der Amtsermittlungsgrundsatz, § 83 Abs. 1 ArbGG i.V.m. § 97 146 Abs. 2a Satz 1 ArbGG. Sofern es auf die Darlegung der Organisationsstärke ankommt (s. Rz. 71), kann die Arbeitnehmerkoalition Mitgliederlisten in einem „Geheimverfahren“ einem Notar vorlegen, um eine Offenbarung des Mitgliederstands vor Gericht zu vermeiden8. Gegen ein derartiges Verfahren bestehen keine durchgreifenden Be1 BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 24. 2 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 48. 3 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 48; BAG v. 15.3.1977 – 1 ABR 16/75, DB 1977, 772, Rz. 16; ebenso GK-ArbGG/Dörner, § 97 Rz. 33; GMPM/Matthes/Schlewing, § 97 ArbGG Rz. 18; Schwab/Weth/Walker, § 97 ArbGG Rz. 12; offengelassen bei HWK/Bepler, § 97 ArbGG Rz. 7. 4 Näher GWBG/Greiner § 97 Rz. 11. 5 BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 18. 6 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 59 f.; dazu Greiner, Gemeins. Anm. EzA § 2 TVG Nr. 30, 31, unter V 2. 7 BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300, Rz. 18; BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112, Rz. 19. 8 Dazu BAG v. 25.3.1992 – 7 ABR 65/90, NZA 1993, 134; Doerlich, Tariffähigkeit, S. 278 ff.; jeweils m.w.N.; Prütting/Weth, DB 1989, 2273.
Greiner
105
Teil 2 Rz. 147
Tarifvertragsparteien
denken. Der zu beweisende Umstand ist, da es hier lediglich um das Erreichen einer Mindestrepräsentativität geht, dafür weit eher geeignet als bei der Mehrheitsermittlung i.S.d. § 4a TVG (s. Teil 9 Rz. 131 ff.). 147 Von Bedeutung ist, dass § 97 Abs. 5 ArbGG die zwingende Aussetzung eines Rechtsstreits vorsieht, wenn es für die Entscheidung darauf ankommt, ob eine Vereinigung tariffähig ist. Maßgeblich ist, ob es auf die Frage der Tariffähigkeit tatsächlich ankommt, nicht hingegen, ob es auf die Tariffähigkeit möglicherweise ankommen könnte1. Diese Aussetzungsregelung erstreckt sich auf sämtliche Gerichtsbarkeiten, insbesondere auch auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit2. Die Aussetzungspflicht besteht schon bei bloßen Bedenken, etwa „allgemein bekannt gewordenen“ Zweifeln an der Tariffähigkeit3. Das aussetzende Gericht muss infolge des Amtsermittlungsgrundsatzes selbst ermitteln, ob Zweifel an der Tariffähigkeit bestehen. Es muss im Aussetzungsbeschluss die ermittelten Tatsachen darlegen. Insbesondere ist das Aussetzungsverfahren daher geboten, wenn in der Fach- oder Tagespresse valide Zweifel an der Tariffähigkeit geäußert werden4. Von besonderer Bedeutung ist das Aussetzungsverfahren, wenn es auf die Wirksamkeit eines TVs ankommt. Wird das Aussetzungsgebot des § 97 Abs. 5 ArbGG nicht beachtet, verstößt das nicht aussetzende Gericht damit gegen seine Verfahrensordnung; zugleich ist das Gebot des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) betroffen. Wirkung der Aussetzung ist nicht die automatische Initiierung des Verfahrens nach § 97 Abs. 1 ArbGG, sondern vielmehr sind die Parteien des Ausgangsverfahrens gehalten, von ihrem aus § 97 Abs. 5 Satz 2 ArbGG folgenden Recht Gebrauch zu machen, selbst einen Antrag auf Feststellung der Tariffähigkeit zu stellen, sofern nicht bereits ein Verfahren zur Feststellung der Tariffähigkeit anhängig ist5.
II. Sonderkonstellationen Literatur: Bauer, Informationsobliegenheiten bei „Blitzaustritt“ und „Blitzwechsel“, in: Festschrift Picker, 2010, S. 889; Bauer/Haußmann, Blitzaustritt und Blitzwechsel: Wirksam, aber ohne Wirkung?, RdA 2009, 99; Bauer/Rolf, „Blitzaustritt“ aus dem Arbeitgeberverband, DB 2003, 1519; Bayreuther, OT-Mitgliedschaft, Tarifzuständigkeit und Tarifbindung, BB 2007, 325; Bayreuther, Tarifzuständigkeit beim Abschluss mehrgliedriger Tarifverträge im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung, NZA 2012, 14; Boemke/Lembke, AÜG, 3. Aufl. 2013; Buchner, Bestätigung der OT-Mitgliedschaft durch das BAG, NZA 2006, 1377; Buchner, Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung, NZA 1994, 2; Buchner, Verbandsmitgliedschaft ohne Tarifgebundenheit, NZA 1995, 761; Danz, Die Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband ohne Tarifbindung, 2000; Däubler, Tarifaussteig – Erscheinungsformen und Rechtsfolgen, NZA 1996, 225; Deinert, Schranken der Satzungsgestaltung beim Abstreifen der Verbandstarifbindung durch OT-Mitgliedschaften, RdA 2007, 83; Deinert/Walser, Zur Förderung der Mitgliedschaft von Arbeitgebern in Verbänden, AuR 2015, 386; Dieterich, Die Grundrechtsbindung von Tarifverträgen, in: Festschrift Schaub, 1998, S. 117; Dieterich/Hanau/Henssler/Oetker/Wank/Wiedemann, Empfehlungen zur Entwicklung des Tarifvertragsrechts, RdA 2004, 65; Dymke, Tarifgemeinschaft und mehrgliedriger Tarifvertrag, 2002; Ellguth/Kohaut, Tarifbindung und betriebliche Interessenver1 2 3 4
Zutr. BAG v. 28.1.2008 – 3 AZB 30/07, NZA 2008, 489. Verkannt von VG Berlin v. 7.3.2008 – 4 A 439.07, NZA 2008, 482. BAG v. 28.1.2008 – 3 AZB 30/07, NZA 2008, 489. Zutr. BAG v. 28.1.2008 – 3 AZB 30/07, NZA 2008, 489 („Erkenntnisse in der rechtswissenschaftlichen Literatur und sonstigen allgemeinen Quellen“). 5 BAG v. 28.1.2008 – 3 AZB 30/07, NZA 2008, 489.
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Tariffhigkeit
Teil 2
tretung: Ergebnisse aus dem IAB-Betriebspanel 2012, WSI-Mitteilungen 2013, 281; Franzen, Das Ende der Tarifeinheit und die Folgen, RdA 2008, 193; Franzen, Gesetzesbindung im Tarifvertragsrecht, in: Festschrift Picker, 2010, S. 929; Gaul/Jessen/Müller, Wirksamkeit einer OT-Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband, ArbRB 2015, 372; Glaubitz, Tariffähigkeit von Arbeitgeberverbänden mit tarifgebundenen und -ungebundenen Mitgliedern?, NZA 2003, 140; Greiner, Der GKH-Beschluss – Evolution oder (erneute) Revolution der Rechtsprechung zur Tariffähigkeit?, NZA 2011, 825; Hanxleden, Tarifgemeinschaften, 1930; Hensche, Verfassungsrechtlich bedenkliche Neujustierung des Verhältnisses zwischen Individualwille und kollektiver Ordnung, NZA 2009, 815; Henssler, Tarif- und arbeitsvertragliche Folgen der Auflösung von Arbeitgeberverbänden und Tarifgemeinschaften, in: Festschrift 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht, 2006, S. 37; Henssler/Höpfner/Orlowski, Der CGZP-Beschluss des Bundesarbeitsgerichts und seine tarifrechtlichen Folgen, 2012; Höpfner, Aktuelle Strategien im deutschen Tarif- und Arbeitskampfrecht, in: Latzel/Picker, Neue Arbeitswelt, 2014, S. 115; Höpfner, Blitzaustritt und Blitzwechsel in die OT-Mitgliedschaft, ZfA 2009, 541; Höpfner, Das Tarifvertragsrecht auf dem 70. Deutschen Juristentag 2014 – Eine Nachbetrachtung, RdA 2015, 94; Höpfner, Die unbegrenzte Nachbindung an Tarifverträge, NJW 2010, 2173; Höpfner, Normativer und schuldrechtlicher Konzerntarifvertrag – Gestaltungsformen einer konzerneinheitlichen Tarifbindung, in: Rieble/Junker/Giesen (Hrsg.), Arbeitsrecht im Konzern, 2010, S. 113; A. Hueck, Handbuch des Arbeitsrechts, 3. Buch: Das Tarifrecht, 1922; Jacobs/Krois, Anm. AP TVG § 3 Nr. 38; Jacobs/Krois, Das Zusammenspiel von Tarif- und Satzungsautonomie bei Blitzaustritt und Blitzwechsel, in: Festschrift Reuter, 2010, S. 555; Junker, Beschränkung der Tarifzuständigkeit – OT-Mitgliedschaft, SAE 1997, 172; Kocher/Sudhof, Die Unternehmensumwandlung im Streik, NZA 2013, 875; Konzen, Blitzaustritt und Blitzwechsel. Vereins- und koalitionsrechtliche Aspekte der Flucht des Arbeitgebers aus dem Verbandstarif, in: Festschrift Bauer, 2010, S. 559; Krause, „Blitzaustritt“ und „Blitzwechsel“ von Arbeitgebern als Herausforderung des Tarifrechts, in: Gedächtnisschrift Zachert, 2010, S. 605; Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Band I, Allgemeiner Teil, 1987; Löwisch, Gewollte Tarifunfähigkeit im modernen Kollektivarbeitsrecht, ZfA 1974, 29; Melot de Beauregard, Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden und Tarifbindung, 2002; Meyer, Anm. AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 177; F. Moll, Tarifausstieg der Arbeitgeberseite: Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband „Ohne Tarifbindung“, 2000; Oetker, Die Beendigung der Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden als tarifliche Vorfrage, ZfA 1998, 41; Oetker, Die Kündigung von Tarifverträgen, RdA 1995, 82; Ostrop, Mitgliedschaft ohne Tarifbindung, 1997; S.-J. Otto, Die rechtliche Zulässigkeit einer tarifbindungsfreien Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden, NZA 1996, 624; Plander, Tarifflucht durch kurzfristig vereinbarten Verbandsaustritt?, NZA 2005, 897; Reuter, Die Mitgliedschaft ohne Tarifbindung (OT-Mitgliedschaft) im Arbeitgeberverband, RdA 1996, 201; Ricken, Autonomie und tarifliche Rechtsetzung, 2006; Rieble, „Blitzaustritt“ und tarifliche Vorbindung, RdA 2009, 280; Rieble, Der gewerkschaftshörige Arbeitgeberverband, in: Festschrift Reuter, 2010, S. 805; Rieble, Der Tarifvertrag als kollektiv-privatautonomer Vertrag, ZfA 2000, 5; Rieble, Tarifkoordinierung durch Spitzenverbände, in: Festschrift Otto, 2008, S. 471; Röckl, Zulässigkeit einer Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung?, DB 1993, 2382; Schlochauer, OT-Mitgliedschaft, in: Festschrift Hromadka, 2008, S. 379; Schlochauer, OT-Mitgliedschaft in tariffähigen Arbeitgeberverbänden, in: Festschrift Schaub, 1998, S. 699; K. Schmidt, Zur „Außenhaftung der Innengesellschaft“, JuS 1988, 444; Schüren, Die Legitimation tariflicher Normsetzung, 1990; Stoffels/Bieder, AGB-rechtliche Probleme der arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf mehrgliedrige Zeitarbeitstarifverträge, RdA 2012, 27; Stöhr, Grundlagen des Tarifrechts und Koalitionsrechts, Jura 2016, 58; Stumpfe, Änderungen in der Verbandslandschaft – Arbeitgeber, NZABeilage zu Heft 24/2000, S. 1; Thüsing, Die Mitgliedschaft ohne Tarifbindung in Arbeitgeberverbänden, ZTR 1996, 481; Thüsing/Stelljes, Verbandsmitgliedschaft und Tarifgebundenheit, ZfA 2005, 527; Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Band II, Personengesellschaftsrecht, 2006; Wiedemann/Thüsing, Die Tariffähigkeit von Spitzenorganisationen und der Verhandlungsanspruch der Tarifvertragsparteien, RdA 1995, 280; Wilhelm/Dannhorn, Die „OT-Mitgliedschaft“ – neue Tore für die Tarifflucht?, NZA 2006, 466; Willemsen/Mehrens, Die Rechtsprechung des BAG zum „Blitzaustritt“ und ihre Auswirkungen auf die Praxis, NJW 2009, 1916; Windbichler, Arbeitsrecht im Konzern, 1989; Wroblewski, Kein generelles o.k. für OT, NZA 2007, 421; Zöllner, Das Wesen der Tarifnormen, RdA 1964, 443; Zöllner, Die Rechtsnatur der Tarifnormen nach deutschem Recht, 1966; Zöllner, Tarifmacht und Außenseiter, RdA 1962, 453.
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Teil 2 Rz. 148
Tarifvertragsparteien
1. OT-Mitgliedschaft 148 Die Mitgliedschaft ohne Tarifbindung (OT-Mitgliedschaft) erfreut sich wachsender Beliebtheit unter Arbeitgebern. Als der FlächenTV in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts, insb. aufgrund des Einstiegs in die 35-Stunden-Woche1 und seiner nur beschränkten Flexibilität2, in eine Krise geriet, war die Folge eine „Flucht“ aus dem Arbeitgeberverband. Viele Verbände reagierten darauf mit der Möglichkeit einer OT-Mitgliedschaft als Alternative zum Verbandsaustritt3. Damit ermöglichen sie ihren Mitgliedern, sich der Bindung an die VerbandsTVe zu entledigen, ohne zugleich auf die Leistungen des Verbandes (juristische Beratung, gerichtliche Vertretung etc.) verzichten zu müssen. Die OT-Mitgliedschaft schwächt zwar das tarifpolitische Gewicht des Verbandes. Sie sichert ihm aber das Mitglied zumindest als Beitragszahler und gewährleistet, dass die Verankerung des Verbandes im Unternehmen nicht vollständig verloren geht. 149 Die Erosion des FlächenTVs hält bis heute an. In der Privatwirtschaft war im Jahr 2013 nur noch etwa die Hälfte der Arbeitnehmer (West: 52 %; Ost: 35 %) normativ an VerbandsTVe gebunden4. Im Gegenzug hat sich die Zahl der Unternehmen, die einen FirmenTV abgeschlossen haben, von 1990 bis 2014 mehr als vervierfacht5. Auch die Zahl der OT-Mitglieder wächst kontinuierlich an. Während bei Gesamtmetall die Zahl der tarifgebundenen Mitglieder von 4425 auf 3554 im Zeitraum von 2005 bis 2014 gesunken ist, kann in demselben Zeitraum bei den OT-Mitgliedern ein Anstieg um 133 % von 1432 auf heute 3349 Mitglieder verzeichnet werden6. Auch wenn tragfähige branchenübergreifende Statistiken zur Mitgliederentwicklung in den Verbänden fehlen, erlauben die Zahlen in der Metallbranche zumindest einen vorsichtigen Rückschluss auf die Gesamtentwicklung. 150 Die OT-Mitgliedschaft hat ihre wesentliche praktische Bedeutung für Arbeitgeber, die aus der Tarifbindung „flüchten“ wollen, ohne auf die Vorteile der Verbandsmitgliedschaft zu verzichten. Aber auch bei Gewerkschaften sind OT-Mitgliedschaften seit langem üblich. Ihre Zulässigkeit ist nie bestritten worden7. So haben etwa ver.di sowie die im „dbb beamtenbund und tarifunion“ zusammengeschlossenen Gewerk-
1 Buchner, NZA 1994, 2; Schlochauer, FS Hromadka, S. 379 (380). 2 Vgl. Dieterich/Hanau/Henssler/Oetker/Wank/Wiedemann, RdA 2004, 65 (66 f.). 3 Zur Diskussion auf Arbeitgeberseite Stumpfe, NZA-Beil. 24/2000, 1; vgl. ferner Röckl, DB 1993, 2382; Buchner, NZA 1994, 2; Buchner, NZA 1995, 761; Däubler, NZA 1996, 225; S.-J. Otto, NZA 1996, 624; Thüsing, ZTR 1996, 481; Reuter, RdA 1996, 201; Junker, SAE 1997, 172; Schlochauer, FS Schaub, S. 699. 4 Daten nach WSI, Statistisches Taschenbuch Tarifpolitik 2015, abrufbar unter: http://www. boeckler.de/wsi-tarifarchiv_4828.htm (Stand: 16.11.2015); vgl. auch Ellguth/Kohaut, WSI-Mitteilungen 2013, 281 (282). 5 1990: rd. 2550 Unternehmen; 2014: 10 639 Unternehmen. Von den 70 216 gültigen TVen am Jahresende 2014 sind 40 265, also gut 57 %, FirmenTVe. Daten nach WSI, Statistisches Taschenbuch Tarifpolitik 2015, abrufbar unter: http://www.boeckler.de/wsi-tarifarchiv_4828.htm (Stand: 16.11.2015). 6 Daten nach Gesamtmetall, abrufbar unter: http://www.gesamtmetall.de/branche/me-zahlen/ zahlenheft/mitgliedsfirmen-und-beschaeftigte-den-verbaenden-von-0 (Stand: 16.11.2015). 7 Vgl. BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1369); Thüsing, ZTR 1996, 481 (483); Schlochauer, FS Schaub, S. 699 (701 f.); Schlochauer, FS Hromadka, S. 379 (380); Wilhelm/ Dannhorn, NZA 2006, 466 (470).
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Tariffhigkeit
Rz. 152 Teil 2
schaften beamtete Mitglieder, für die sie TVe von vornherein nicht abschließen können1. Darüber hinaus können auch Rentner, Freiberufler oder Sympathisanten zu den OT-Mitgliedern gezählt werden, sofern die Gewerkschaft keine TVe mit Wirkung für diese Gruppen schließen kann oder will2. a) OT-Mitgliedschaft im Aufteilungs- und Stufenmodell Verbände können OT-Mitgliedschaften auf zwei verschiedenen Wegen einführen: 151 Beim sog. Aufteilungsmodell existieren zwei getrennte Arbeitgeberverbände, von denen nur einer tariffähig ist, der andere sich dagegen auf Dienstleistungen gegenüber seinen Mitgliedern und die Interessenvertretung nach außen beschränkt. Die organisatorische Trennung der Verbände erfolgt entweder durch die Spaltung eines bestehenden tariffähigen Verbandes, durch Gründung eines zweiten Verbandes ohne Tariffähigkeit und anschließenden Austritt und Neueintritt der Mitglieder oder durch Gründung eines tariffähigen Verbandes, der an die Stelle des bisherigen Verbandes tritt3. Im Ergebnis besteht neben dem tariffähigen Verband ein zweiter, rechtlich selbständiger Verband, der zwar ebenfalls als Koalition unter dem Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG steht, der aber mangels Tarifwilligkeit keine TV-Partei gemäß § 2 Abs. 1 TVG ist4. Die rechtliche Zulässigkeit des Aufteilungsmodells steht seit jeher außer Frage5. Die praktische Umsetzung wirft jedoch nicht unerhebliche Probleme auf. So ist für die Begründung der Mitgliedschaft im neuen Verband eine Beitrittserklärung aller Mitglieder erforderlich, die erfahrungsgemäß nicht ohne Schwierigkeiten beizubringen ist6. Des Weiteren erfordern zwei parallel bestehende Verbände doppelte Verwaltungsstrukturen und sorgen so für erhöhten organisatorischen und finanziellen Aufwand. Aus diesem Grunde bevorzugen viele Arbeitgeberverbände das sog. Stufenmodell. Da- 152 nach gibt es nur einen Verband, der neben einer Mitgliedschaft mit Tarifbindung (Voll- oder T-Mitgliedschaft) eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung (OT-Mitgliedschaft) vorsieht7. Die Satzung räumt den Mitgliedern ein Wahlrecht über die Art ihrer Mitgliedschaft ein. Vereinsrechtlich sind OT-Mitglieder „echte“ Mitglieder des Verbandes (vgl. Rz. 24). Sie werden jedoch von der Bindung an VerbandsTVe nicht erfasst. Zudem nehmen sie grundsätzlich nicht an den tarifpolitischen Aktivitäten des Verbandes teil und dürfen dies auch nicht (vgl. Rz. 157 ff.).
1 Vgl. ausdrücklich § 63 der Satzung von ver.di v. 26.9.2015. 2 BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1369); a.A. Hensche, NZA 2009, 815 (816). 3 Ostrop, Mitgliedschaft ohne Tarifbindung, S. 78; Schlochauer, FS Schaub, S. 699 (702). 4 Vgl. Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 25; HWK/Hergenröder, Art. 9 GG Rz. 57; Bayreuther, Tarifautonomie, S. 399 f.; Besgen, Mitgliedschaft ohne Tarifbindung, S. 30 ff.; Buchner, NZA 1994, 2 (10); Löwisch, ZfA 1974, 29 (33); a.A. Danz, Mitgliedschaft ohne Tarifbindung, S. 165 ff.; Däubler, NZA 1996, 225 (231). 5 Vgl. nur Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 22; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 3; Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 119; Ostrop, Mitgliedschaft ohne Tarifbindung, S. 145. 6 Vgl. Buchner, NZA 1994, 2 (9). 7 Höpfner, ZfA 2009, 541 (544).
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Teil 2 Rz. 153
Tarifvertragsparteien
b) OT-Mitgliedschaft und Gastmitgliedschaft 153 Von der OT-Mitgliedschaft zu unterscheiden ist die Gast- oder Fördermitgliedschaft. Als „außerordentliche Mitglieder“1 nehmen Gastmitglieder üblicherweise nicht an den verbandsinternen Entscheidungsprozessen teil. Sie haben zwar ein in der vereinsrechtlichen Mitgliedschaft2 wurzelndes, unabdingbares Recht auf Teilnahme an der Mitgliederversammlung3. Gastmitglieder sind aber nach den meisten Verbandssatzungen nicht stimmberechtigt, können selbst keine Verbandsfunktion wahrnehmen und haben oft kein Recht auf juristische Beratung und gerichtliche Vertretung durch den Verband4. Darin unterscheiden sie sich von OT-Mitgliedern, deren im Grundsatz volles Teilhabe- und Stimmrecht nur in tarif- und arbeitskampfpolitischen Angelegenheiten beschränkt ist. Aus Sicht des Tarifrechts besteht aber ein weitgehender Gleichlauf von OT- und Gastmitgliedschaft: Beide Arten der Mitgliedschaft begründen keine Tarifbindung des Mitglieds. Gastmitglieder ohne Stimmrecht in der Mitgliederversammlung legitimieren den Verband nicht dazu, Tarifnormen mit Wirkung für sie selbst zu setzen5. Tarifrechtlich sind sie keine Mitglieder i.S.d. § 3 Abs. 1 TVG6. Nur wenn ein Gastmitglied nach der Verbandssatzung ausnahmsweise einmal die Stellung eines Vollmitglieds in allen wesentlichen Punkten (Stimmrecht, Wahlrecht etc.) haben sollte, die Gastmitgliedschaft mithin nur auf dem Papier besteht, kommt eine Tarifbindung in Betracht7. c) OT-Mitgliedschaft als Problem der Tarifgebundenheit 154 Die Zulässigkeit der OT-Mitgliedschaft im Stufenmodell war lange heftig umstritten8, bis sie der 1. Senat des BAG in einer Grundsatzentscheidung gebilligt hat9. Im Schrifttum und in der früheren Rechtsprechung des 4. Senats wurde die Frage der Zulässigkeit einer OT-Mitgliedschaft verbreitet als Problem der Tarifzuständigkeit gesehen10. In 1 MünchKomm/Arnold, § 38 BGB Rz. 8. 2 Unrichtig BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 285/08, NZA 2010, 230 (232 f.) sowie Deinert, RdA 2007, 83 (86), wonach Gastmitglieder „keine Mitglieder im vereinsrechtlichen Sinn“ seien; wie hier Oetker in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 6 Rz. 14; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 44. 3 Palandt/Ellenberger, § 38 BGB Rz. 2; MünchKomm/Arnold, § 38 BGB Rz. 8; Melot de Beauregard, Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden, S. 117; Ostrop, Mitgliedschaft ohne Tarifbindung, S. 40. 4 Vgl. BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 285/08, NZA 2010, 230 (231); Wilhelm/Dannhorn, NZA 2006, 466 (467). 5 BAG v. 16.2.1962 – 1 AZR 167/61, AP TVG § 3 Verbandszugehörigkeit Nr. 12; Wiedemann/ Oetker, § 3 TVG Rz. 135. 6 BAG v. 20.2.1986 – 6 AZR 236/84, SAE 1987, 107; BAG v. 25.9.2002 – 4 AZR 294/01, NZA 2003, 807 (809); weitergehend BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 285/08, NZA 2010, 230 (232 f.). 7 So bereits BAG v. 16.2.1962 – 1 AZR 167/61, AP TVG § 3 Verbandszugehörigkeit Nr. 12. 8 Vgl. nur Röckl, DB 1993, 2382; Buchner, NZA 1994, 2; Buchner, NZA 1995, 761; Däubler, NZA 1996, 225; S.-J. Otto, NZA 1996, 624; Thüsing, ZTR 1996, 481; Reuter, RdA 1996, 201; Junker, SAE 1997, 172; aus jüngerer Zeit: Glaubitz, NZA 2003, 140; Buchner, NZA 2006, 1377; Thüsing/Stelljes, ZfA 2005, 527; Bayreuther, BB 2007, 325; Deinert, RdA 2007, 83; Wroblewski, NZA 2007, 421. 9 BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225; verfassungsgerichtlich gebilligt von BVerfG v. 1.12.2010 – 1 BvR 2593/09, AP GG Art. 9 Nr. 146; zuvor bereits BAG v. 23.2.2005 – 4 AZR 186/04, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 42. 10 Grundlegend Löwisch, ZfA 1974, 29, 37; Buchner, NZA 1994, 2 (4 f.); Buchner, NZA 1995, 761 (764); vgl. ferner BAG v. 23.2.2005 – 4 AZR 186/04, NZA 2005, 1320; BAG v. 23.10.1996
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Tariffhigkeit
Rz. 156 Teil 2
seinem sorgfältig begründeten Beschluss vom 18.7.2006 hat der 1. Senat sich von dieser Sichtweise gelöst und die Zulässigkeit der OT-Mitgliedschaft zutreffend zu einer Frage der Tarifgebundenheit erklärt1. Der 4. Senat hat sich der Rechtsprechung angeschlossen und sieht die OT-Mitgliedschaft nun ebenfalls als grundsätzlich zulässige Beschränkung der Tarifgebundenheit einzelner Mitglieder an2. Die Tarifzuständigkeit ist eine rechtliche Eigenschaft des Verbandes. Dagegen betrifft 155 die Tarifgebundenheit den einzelnen Arbeitgeber oder Arbeitnehmer (vgl. Teil 6 Rz. 3). Folgerichtig richtet sich die Tarifzuständigkeit als Ausdruck der kollektiven Koalitionsfreiheit nach der Satzung des jeweiligen Verbandes, währenddessen die Tarifgebundenheit als Bestandteil der individuellen Koalitionsfreiheit des Arbeitgebers oder Arbeitnehmers nach dem Modell der mitgliedschaftlichen Legitimation3 von dessen individueller Entscheidung über die Mitgliedschaft in einem Verband abhängt. Dementsprechend darf die Tarifzuständigkeit nicht vom Willen des einzelnen Verbandsmitglieds abhängen, sondern muss abschließend in der Satzung des Verbandes geregelt sein. Ansonsten wäre das Merkmal der Tarifgebundenheit, wie das BAG zu Recht hervorhebt4, weitgehend wirkungslos. Die OT-Mitgliedschaft ist durch die Verbandsautonomie und die individuelle Koaliti- 156 onsfreiheit des Arbeitgebers legitimiert5. Rechtsdogmatisch handelt es sich um eine in der Verbandssatzung geregelte Form gewillkürter Tarifunwilligkeit des Verbandes6. Dem Verband steht es aufgrund seiner als Bestandteil der innerverbandlichen Organisation von Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Satzungsautonomie frei, eine Mitgliedschaftsform vorzusehen, die nicht die Rechtsfolgen des § 3 Abs. 1 TVG auslöst. Ein Verstoß gegen diese Rechtsnorm liegt nicht vor, da § 3 Abs. 1 TVG nur vorgibt, dass Mitglieder eines Verbandes an die von diesem abgeschlossenen TVe gebunden sind,
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– 4 AZR 409/95, NZA 1997, 383; Wiedemann/Thüsing, RdA 1995, 280 (282); Thüsing/Stelljes, ZfA 2005, 527 (561 ff.); Reuter, RdA 1996, 201 (202); Besgen, Mitgliedschaft ohne Tarifbindung, S. 84 ff.; Ostrop, Mitgliedschaft ohne Tarifbindung, S. 114 ff.; Melot de Beauregard, Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden, S. 132 f. BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 (1230 f.); zustimmend HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 4; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 226; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 80; Bayreuther, BB 2007, 325 (326); Buchner, NZA 2006, 1377 (1379 f.); Höpfner, ZfA 2009, 541 (545 f.); Konzen, FS Bauer, S. 559 (563); im Ansatz ähnlich Wroblewski, NZA 2007, 421; generell ablehnend Hensche, NZA 2009, 815; Deinert/Walser, AuR 2015, 386 (387); abwegig BKS/Dierßen, § 3 TVG Rz. 52, wonach die OT-Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband einen Eingriff in die koalitionsmäßige Betätigung der Gewerkschaften darstellen soll. BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1368 f.); BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 316/07, AP TVG § 3 Nr. 37; BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 111/08, NZA 2010, 105 (107); BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 294/08, NZA-RR 2010, 305 (307); BAG v. 15.12.2010 – 4 AZR 256/09, AP TVG § 3 Nr. 50; BAG v. 21.1.2015 – 4 AZR 797/13, NZA 2015, 1521 Rz. 17, 50. Grundlegend Zöllner, RdA 1962, 453; Zöllner, RdA 1964, 443; Zöllner, Die Rechtsnatur der Tarifnormen, S. 21 ff.; vgl. ferner Biedenkopf, S. 47 ff., 292 ff.; Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, S. 308 ff.; ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 57 ff.; Dieterich, FS Schaub, S. 117 (121); scharf ablehnend Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 15 III 3. BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 (1229). BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 (1230); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 5; Bayreuther, BB 2007, 325 (326); Höpfner, ZfA 2009, 541 (546). Vgl. ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 9; Thüsing/Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 157; Besgen, Mitgliedschaft ohne Tarifbindung, S. 19.
Hçpfner 111
Teil 2 Rz. 157
Tarifvertragsparteien
nicht aber, wer Mitglied im Sinne des TVG ist1. Entsprechendes gilt für § 58 HandwO, so dass auch in einer Handwerksinnung eine OT-Mitgliedschaft im Stufenmodell zulässig sein kann2. d) Anforderungen an die Zulässigkeit der OT-Mitgliedschaft 157 Trotz grundsätzlicher Anerkennung der OT-Mitgliedschaft stellen BAG und Schrifttum hohe Anforderungen an die satzungsmäßige Ausgestaltung der OT-Mitgliedschaft im Stufenmodell. Es reicht nicht aus, dass die Satzung lediglich die Tarifgebundenheit für OT-Mitglieder abbedingt. Gemäß dem Prinzip des „Gleichlaufs von Verantwortlichkeit und Betroffenheit“ ist eine klare und eindeutige Trennung der Befugnisse von Mitgliedern mit und ohne Tarifbindung erforderlich3. Nach der vom BVerfG4 gebilligten Rechtsprechung des BAG5 muss die Verbandssatzung dafür Sorge tragen, dass OT-Mitglieder auf tarifpolitische Entscheidungen nicht unmittelbar Einfluss nehmen können. Das kann entweder durch eine allgemeine, alle Einzelkonstellationen abdeckende Formulierung6 oder durch eine ausdrückliche Regelung in jeder einzelnen, das Tarifgeschehen betreffenden Satzungsnorm geschehen. Eine Regelung in der Geschäftsordnung des Organs bzw. Ausschusses oder in sonstigem „unterrangigen Vereinsrecht“ genügt diesen Anforderungen hingegen nicht7. Im Einzelnen gilt: OT-Mitglieder dürfen nicht in Tarifkommissionen entsandt werden oder den Verband im Außenverhältnis in tarifpolitischen Angelegenheiten vertreten. Sie dürfen bei Abstimmungen über die Festlegung von tarifpolitischen Zielen oder über die Annahme von Tarifverhandlungsergebnissen kein Stimmrecht haben8. Eine beratende Teilnahme an tarifpolitischen Entscheidungen ist dagegen stets möglich9. 1 BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 (1230); a.A. Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 140. 2 Zutreffend OVG Lüneburg v. 25.9.2014 – 8 LC 23/14, NZA-RR 2015, 31 (34 ff.); Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 427; a.A. VG Braunschweig v. 19.12.2013 – 1 A 58/13, GewA 2014, 361; VG Braunschweig v. 17.3.2010 – 1 A 274/08, n.v.; Deinert/Walser, AuR 2015, 386 (391). 3 BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366; BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 316/07, AP TVG § 3 Nr. 37; BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 111/08, NZA 2010, 105; BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 179/08, NZA 2010, 102; BAG v. 15.12.2010 – 4 AZR 256/09, AP TVG § 3 Nr. 50; BAG v. 21.1.2015 – 4 AZR 797/13, NZA 2015, 1521 Rz. 18; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 137; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 107 ff.; Besgen, Mitgliedschaft ohne Tarifbindung, S. 116 f.; Bayreuther, BB 2007, 325 (327); Deinert, RdA 2007, 83 (86); Höpfner, ZfA 2009, 541 (547 ff.); Jacobs/ Krois, AP TVG § 3 Nr. 38; S.-J. Otto, NZA 1996, 624 (627 f.); Rieble, FS Reuter, S. 805 (821); Röckl, DB 1993, 2382 (2383 ff.); Schlochauer, FS Hromadka, S. 379 (390 ff.); Wilhelm/Dannhorn, NZA 2006, 466 (471); a.A. Thüsing/Stelljes, ZfA 2005, 527 (551 ff.). 4 BVerfG v. 1.12.2010 – 1 BvR 2593/09, NZA 2011, 60. 5 BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366; BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 316/07, AP TVG § 3 Nr. 37; BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 111/08, NZA 2010, 105; BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 179/08, NZA 2010, 102; BAG v. 15.12.2010 – 4 AZR 256/09, AP TVG § 3 Nr. 50. 6 Zu deren Zulässigkeit ausdrücklich BAG v. 21.1.2015 – 4 AZR 797/13, NZA 2015, 1521 Rz. 28. 7 BAG v. 21.1.2015 – 4 AZR 797/13, NZA 2015, 1521 Rz. 36; Gaul/Jessen/Müller, ArbRB 2015, 372 (374). 8 BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1370); BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 316/07, AP TVG § 3 Nr. 37; BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 111/08, NZA 2010, 105 (108); BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 179/08, NZA 2010, 102 (103); BAG v. 15.12.2010 – 4 AZR 256/09, AP TVG § 3 Nr. 50; BAG v. 21.1.2015 – 4 AZR 797/13, NZA 2015, 1521 Rz. 19. 9 BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1370); BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 316/07, AP TVG § 3 Nr. 37; BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 111/08, NZA 2010, 105 (108); BAG v. 21.1.2015
112 Hçpfner
Tariffhigkeit
Rz. 159a Teil 2
Das BAG erstreckt das Trennungsgebot auch auf alle Fragen des Arbeitskampfes und 158 seiner Gestaltung. Insb. dürfen OT-Mitglieder keinen Zugriff auf den Streik- oder Aussperrungsfonds haben1. Da OT-Mitglieder regelmäßig Beiträge in derselben oder ähnlicher Höhe wie Vollmitglieder zu entrichten haben, tragen sie zur Finanzierung des Arbeitskampffonds bei. Jedenfalls in den Fällen, in denen die Satzung einen Anspruch des OT-Mitglieds auf Unterstützung in Auseinandersetzungen um einen HausTV vorsieht, wird man daher entgegen der Rechtsprechung ein Mitentscheidungsrecht zumindest über die Höhe des Arbeitskampffonds annehmen müssen2. Für unzulässig hält das BAG auch das sog. „Fachgruppenmodell“, wonach die Mitglie- 159 der nur dann tarifgebunden sind, wenn sie zusätzlich Mitglied einer Fachgruppe des Verbandes werden3. Im konkreten Fall hatte der 4. Senat Zweifel daran, dass die Organisationsstruktur der Fachgruppen in der Satzung hinreichend eigenständig geregelt und eine unzulässige Einflussnahme von Verbandsmitgliedern ohne Tarifbindung ausgeschlossen sei. Darauf kam es aber letztlich nicht an. Denn der Senat beanstandete schon, dass die Existenz der Fachgruppen selbst in den Händen aller Verbandsmitglieder lag und der von allen Mitgliedern gewählte Vorstand des Verbandes die laufenden Geschäfte der Fachgruppen führte4. Gleiches gilt, wenn die konkrete Besetzung tarifpolitischer Gremien (z.B. Tarifkommissionen) durch ein anderes Vereinsorgan (z.B. Mitgliederversammlung oder Vorstand) vorgenommen werden. In diesem Fall dürfen die nicht tarifgebundenen Verbandsmitglieder auf die Auswahlentscheidung keinen Einfluss haben. Nicht nur die Wählbarkeit (passives Wahlrecht), sondern auch das aktive Wahlrecht ist insoweit allein den tarifgebundenen Mitgliedern des Verbandes vorbehalten, weil nur sie von den zu verhandelnden und abzuschließenden Tarifverträgen betroffen sind5. Bisher nicht geklärt ist, ob OT-Mitglieder an der verbandsinternen Abstimmung über 159a die gemeinsame Stellung eines Antrags auf Allgemeinverbindlicherklärung eines VerbandsTVs teilnehmen dürfen. Auf den ersten Blick könnte man dies mit dem Argument rechtfertigen, dass die Wirkung der Allgemeinverbindlicherklärung gerade die tarifrechtlichen Außenseiter (d.h. Nichtmitglieder und OT-Mitglieder) betrifft. Richtigerweise ist ein Mitwirkungsrecht der OT-Mitglieder jedoch abzulehnen. Der Antrag nach § 5 Abs. 1 TVG ist eine Verfahrens- und Sachentscheidungsvoraussetzung im Verfahren nach §§ 4 ff. DVO-TVG6. Antragsbefugt sind allein die tarifschließenden Verbände, nicht aber die von der Allgemeinverbindlicherklärung betroffenen Dritten7. Es handelt sich bei der Antragstellung also trotz der beabsichtigten Tarifgeltung für Dritte um eine tarifpolitische Angelegenheit des tarifschließenden Verbands,
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– 4 AZR 797/13, NZA 2015, 1521 Rz. 19; Deinert, RdA 2007, 83 (86); a.A. Danz, Mitgliedschaft ohne Tarifbindung, S. 90 f. BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 111/08, NZA 2010, 105 (109); BAG v. 15.12.2010 – 4 AZR 256/09, AP TVG § 3 Nr. 50; BAG v. 21.1.2015 – 4 AZR 797/13, NZA 2015, 1521 Rz. 19. S.-J. Otto, NZA 1996, 624 (627 f.); Thüsing, ZTR 1996, 481 (484); Thüsing/Stelljes, ZfA 2005, 527 (553); Jacobs/Krois, AP TVG § 3 Nr. 38; ähnlich auch Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 111; a.A. Deinert, RdA 2007, 83 (87); Röckl, DB 1993, 2382 (2384). BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 111/08, NZA 2010, 105. BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 111/08, NZA 2010, 105 (108 ff.). BAG v. 21.1.2015 – 4 AZR 797/13, NZA 2015, 1521 Rz. 34. Vgl. Löwisch/Rieble, § 5 TVG Rz. 140; Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 71. Vgl. ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 20; Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 72; Löwisch/Rieble, § 5 TVG Rz. 141.
Hçpfner 113
Teil 2 Rz. 160
Tarifvertragsparteien
der seine tarifgebundenen Mitglieder vor Außenseiterkonkurrenz schützen will1. Entsprechendes gilt für Anträge nach § 7 Abs. 1 AEntG bzw. § 7a Abs. 1 AEntG. 160 Nach der Rechtsprechung setzt die Begründung der OT-Mitgliedschaft voraus, dass es für diese Mitgliedschaftsform zu dem Zeitpunkt, in dem ein Vollmitglied in die OTMitgliedschaft wechseln will, eine wirksame satzungsmäßige Grundlage gibt2. Entsprechendes muss für den Beitritt eines Nichtmitglieds in die OT-Mitgliedschaft gelten. Dazu ist die Eintragung der Satzungsänderung in das Vereinsregister notwendig. Das gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 BGB konstitutive Eintragungserfordernis schließt eine rückwirkende Begründung der OT-Mitgliedschaft aus. Die Satzungsänderung wird erst am Tag der Eintragung wirksam; die Eintragung wirkt nicht auf den Tag der Beschlussfassung zurück3. Eine zwar beschlossene, aber nicht eingetragene Satzungsänderung entfaltet weder gegenüber Dritten noch im Rahmen der internen Vereinsverfassung Wirkung4. Das gilt auch dann, wenn die tarifschließende Gewerkschaft zu Unrecht von einer Wirksamkeit der OT-Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband ausgeht5. 161 Der Rechtsprechung ist im Grundsatz zuzustimmen. Der geforderte „Gleichlauf von Verantwortlichkeit und Betroffenheit“ kann zwar nicht mit dem Erfordernis einer demokratischen Binnenstruktur der Koalition begründet werden6. Denn dabei geht es nicht um eine echte demokratische Organisationsstruktur im staatsrechtlichen Sinne7. Nach der Rechtsprechung des 1. Senats müssen lediglich gewisse Mindestanforderungen erfüllt sein: die Gleichheit der Mitglieder im Grundsatz und deren Teilnahme am innerverbandlichen Willensbildungsprozess (vgl. Rz. 85, 114)8. Das Erfordernis einer Trennung der Befugnisse von Mitgliedern mit und ohne Tarifbindung folgt jedoch aus dem Gebot der Unabhängigkeit9. Ein Verband ist nur dann Koalition i.S.d. Art. 9 Abs. 3 GG und damit gemäß § 2 Abs. 1 TVG tariffähig, wenn er unabhängig von Weisungen Dritter ist10. In tarif- und arbeitskampfpolitischen Angelegenheiten gelten OTMitglieder, obgleich sie verbandsrechtlich „echte“ Mitglieder sind, als „Dritte“, da sie von der Normsetzung des Verbandes gerade nicht betroffen sind. 162 Entgegen der h.M. führt jedoch allein die von der Satzung eröffnete Möglichkeit der OT-Mitglieder, an tarif- und arbeitskampfpolitischen Abstimmungen teilzunehmen, nicht zu einem Verstoß gegen das Unabhängigkeitsgebot. Es muss vielmehr zu einer 1 Vgl. zum Zweck der Allgemeinverbindlicherklärung nach Einführung des MiLoG und der Reform des § 5 TVG Höpfner, RdA 2015, 94 (98 f.). 2 BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 294/08, NZA-RR 2010, 305; BAG v. 21.1.2015 – 4 AZR 797/13, NZA 2015, 1521 Rz. 17; ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 9a. 3 BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 294/08, NZA-RR 2010, 305 (307 f.); BAG v. 21.1.2015 – 4 AZR 797/13, NZA 2015, 1521 Rz. 38; MünchKomm/Arnold, § 71 BGB Rz. 5. 4 BGH v. 17.1.1957 – II ZR 239/55, NJW 1957, 497; BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 294/08, NZA-RR 2010, 305 (307). 5 BAG v. 21.1.2015 – 4 AZR 797/13, NZA 2015, 1521 Rz. 34. 6 Höpfner, ZfA 2009, 541 (547 ff.); Thüsing/Stelljes, ZfA 2005, 527 (533); a.A. Deinert, RdA 2007, 83 (86); Löwisch, ZfA 1974, 29 (40); Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 107 f. 7 ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 46; MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 6. 8 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112; vgl. auch Schüren, S. 275. 9 Deinert, RdA 2007, 83 (86); Höpfner, ZfA 2009, 541 (549 f.); vgl. auch Moll, S. 70; a.A. Thüsing/Stelljes, ZfA 2005, 527 (553). 10 BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, NJW 1979, 699 (710); HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 11; HWK/Hergenröder, Art. 9 GG Rz. 42; Brox/Rüthers/Henssler, Rz. 633.
114 Hçpfner
Tariffhigkeit
Rz. 163 Teil 2
tatsächlichen Beeinträchtigung der Willensbildung des Verbandes kommen1. Eine solche setzt in der Regel einen verhältnismäßig hohen Anteil an Mitgliedern ohne Tarifbindung voraus, die an der tarifpolitischen Abstimmung auch tatsächlich teilnehmen. Das Mitwirken eines einzelnen OT-Mitglieds reicht dafür nicht aus. Die Unabhängigkeit des Verbandes ist aber jedenfalls dann beeinträchtigt, wenn OT-Mitglieder so zahlreich vertreten sind, dass sie tarifpolitische Entscheidungen der Vollmitglieder überstimmen oder blockieren können und damit eine meinungsbildende Funktion einnehmen. Entsprechendes gilt für die Vertretungsbefugnis eines OT-Mitglieds. Richtigerweise führt nicht bereits die von der Satzung eröffnete abstrakte Möglichkeit, dass der Verband durch ein dem Vorstand angehörendes OT-Mitglied in tarifpolitischen Angelegenheiten nach außen vertreten werden kann, zur Unwirksamkeit der OT-Mitgliedschaft, sondern erst das tatsächliche Auftreten des OT-Mitglieds als (Abschluss-)Vertreter beim Tarifabschluss2. e) Rechtsfolgen einer unzulässigen Satzungsgestaltung Noch nicht abschließend geklärt sind die Konsequenzen einer satzungsrechtlich un- 163 wirksamen OT-Mitgliedschaft. Hierbei ist zu differenzieren zwischen dem Beitritt eines bisherigen Nichtmitglieds und dem Wechsel eines Vollmitglieds in die OT-Mitgliedschaft. Das BAG hatte bisher lediglich letzteren Fall zu entscheiden. Wird die Satzung den Anforderungen des Trennungsprinzips nicht gerecht, so soll der Statuswechsel unwirksam sein. Das Mitglied ist dann weiter als Vollmitglied gemäß §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG unmittelbar und zwingend an den VerbandsTV gebunden3. Im Grundsatz ist dies folgerichtig (vgl. aber Rz. 168). Sieht die Satzung keine wirksame OT-Mitgliedschaft vor, so kann eine Willenserklärung, die auf einen derartigen Statuswechsel gerichtet ist, keine Rechtswirkung entfalten. Es bleibt daher beim status quo ante4. Auch eine Teilnichtigkeit der Erklärung kommt nicht in Betracht. Das BAG geht zu Recht davon aus, dass der Statuswechsel ein einheitliches Rechtsgeschäft darstellt und nicht bloß eine Zusammenfassung von Verbandsaustritt und anschließendem Neu-Eintritt als OT-Mitglied5. Auch eine Auslegung oder Umdeutung in eine Austrittserklärung wird regelmäßig nicht möglich sein6. Es ist nämlich völlig offen, ob das Mitglied, wenn es die Unzulässigkeit der OT-Mitgliedschaft gekannt hätte, tatsächlich aus dem Verband ausgetreten wäre. Wer sichergehen will, die Tarifbindung in jedem Falle abzustreifen, sollte daher für den Fall der Unwirksamkeit des Statuswechsels hilfsweise den Austritt aus dem Verband erklären7. 1 Vgl. Höpfner, ZfA 2009, 541 (550); Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 101. 2 Zutreffend LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 20.2.2013 – 2 Sa 102/12, NZA-RR 2013, 247 (248); näher zu Einschränkungen der Stellvertretung beim Abschluss von TVen Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, S. 271 ff.; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 46 f. 3 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 111/08, NZA 2010, 105 (111); BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 294/08, NZA-RR 2010, 305 (308); BAG v. 21.1.2015 – 4 AZR 797/13, NZA 2015, 1521 Rz. 59; ebenso HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 5a; Bayreuther, BB 2007, 325 (326); Deinert, RdA 2007, 83 (87, 90). 4 Thüsing/Stelljes, ZfA 2005, 527 (571). 5 BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 294/08, NZA-RR 2010, 305 (308). 6 BAG v. 21.1.2015 – 4 AZR 797/13, NZA 2015, 1521 Rz. 52 ff.; Thüsing/Stelljes, ZfA 2005, 527 (571 f.); eine Umdeutung generell ablehnend BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 294/08, NZA-RR 2010, 305 (308); anders aber Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 136 f. 7 Vgl. zur Zulässigkeit von Rechtsbedingungen bei an sich bedingungsfeindlichen Rechtsgeschäften MünchKomm/Westermann, § 158 BGB Rz. 55.
Hçpfner 115
Teil 2 Rz. 164
Tarifvertragsparteien
164 Umstritten ist die Rechtslage im Fall des Beitritts als OT-Mitglied, wenn die Verbandssatzung nicht hinreichend zwischen den Befugnissen der Voll- und der OT-Mitglieder trennt. Zum Teil wird vorgeschlagen, das vermeintliche OT-Mitglied in diesem Falle wie ein Vollmitglied zu behandeln1. Der mit dem Verband verhandelnde Sozialpartner dürfe davon ausgehen, dass sämtliche Mitglieder des Verbandes sich der Tarifbindung gemäß §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG unterwerfen wollten. Eine Anfechtung der Beitrittserklärung scheide regelmäßig aus, da der Beitretende nur einem Rechtsirrtum unterlegen sei. Dogmatisch stützt sich diese Auffassung auf eine entsprechende Anwendung der §§ 133, 157, 171 ff. BGB2. 165 Andere sind der Meinung, die Erklärung zum Beitritt bzw. Statuswechsel sei in sich widersprüchlich und daher wegen Perplexität nichtig3. Der Beitretende wolle zwar Verbandsmitglied werden, aber gerade nicht von der Tarifmacht des Verbandes erfasst werden. Eine Auslegung der Willenserklärung helfe nicht weiter. Dem Beitretenden könne weder unterstellt werden, er wolle die Tarifbindung vermeiden, noch, dass er dem Verband notfalls unter Inkaufnahme der Tarifbindung beitreten wolle. Folge der unwirksamen Beitrittserklärung ist danach, dass der Beitretende nicht Mitglied des Verbandes wird, ohne dass es hierfür einer Anfechtung bedarf4. 166 Beide Auffassungen greifen zu kurz5. Zunächst kann dem beitretenden OT-Mitglied regelmäßig nicht der Wille unterstellt werden, im Falle der Unzulässigkeit der OTMitgliedschaft als Vollmitglied beitreten zu wollen. Da bereits in der Beitrittserklärung die Tarifbindung ausgeschlossen wird, fehlt dem Verband die mitgliedschaftliche Legitimation zur Normsetzung mit Wirkung für den Beitretenden. Nach den allgemeinen Grundsätzen der Rechtsgeschäftslehre kann sich auch der Sozialpartner als außenstehender Dritter nicht auf die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit der Beitrittserklärung stützen. Für die Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont ist ein objektiver Dritter in der Stellung des Erklärungsempfängers maßgebend. Die Beitrittserklärung ist daher aus Sicht des Verbandes auszulegen und nicht aus Sicht des Sozialpartners6. Ein Rückgriff auf die §§ 171 ff. BGB ist nicht möglich. Da der Beitretende die Tarifbindung ausdrücklich ablehnt, setzt die Erklärung zum Beitritt in die OT-Mitgliedschaft gerade keinen Rechtsschein einer Tarifbindung, auf den sich ein gutgläubiger Dritter berufen könnte. Auch die Lehre vom fehlerhaften Verbandsbeitritt7 vermag lediglich eine wirksame vereinsrechtliche Mitgliedschaft, aber keine Tarifbindung des vermeintlichen OT-Mitglieds zu begründen. Denn tarifrechtlich ist diese fehlerhafte Mitgliedschaft nur OT8. Aus einem „Minus an Beitrittswillen“ kann sich kein „Plus an Mitgliedschaft“ ergeben9. Wer sich erkennbar niemals tariflich binden wollte und aus allen tariflichen Angelegenheiten heraushält, dem darf ohne ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung auch keine Tarifbindung auferlegt werden. 1 2 3 4 5 6 7 8 9
Bayreuther, BB 2007, 325 (326); Deinert, RdA 2007, 83 (87). Bayreuther, BB 2007, 325 (326). Thüsing/Stelljes, ZfA 2005, 527 (570 f.). Thüsing/Stelljes, ZfA 2005, 527 (570); i.E. ebenso Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 90 f. Vgl. Höpfner, ZfA 2009, 541 (551 ff.). Vgl. Höpfner, ZfA 2009, 541 (552). Vgl. zu dieser MünchKomm/Arnold, § 38 BGB Rz. 62. Höpfner, in: Latzel/Picker, Neue Arbeitswelt, S. 115 (120 f.). So treffend Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 52, 91.
116 Hçpfner
Tariffhigkeit
Rz. 168 Teil 2
Doch auch die Perplexität der Beitrittserklärung führt zu untragbaren Konsequenzen 167 für die Praxis. Im Falle der Unwirksamkeit des Beitritts wirken Nichtmitglieder am Zustandekommen von TVen mit. Sofern hierdurch die Unabhängigkeit des Verbandes beeinträchtigt ist (dazu Rz. 162), führt dies zu dessen Tarifunfähigkeit und in der Folge zur Unwirksamkeit aller bereits abgeschlossenen VerbandsTVe. Anstelle eines derartigen „Radikalschnitts“ bietet sich eine deutlich flexiblere Lösung über das Verbot widersprüchlichen Verhaltens an1. Durch den Erwerb der OT-Mitgliedschaft erklärt der Beitretende seinen Willen, gerade nicht von den vom Verband geschlossenen TVen erfasst zu werden. Die Tarifpolitik des Verbandes berührt seine rechtlich schutzwürdigen Interessen nicht. Nimmt er in der Folge dennoch an tarifpolitischen Entscheidungen des Verbandes teil, die für ihn keine unmittelbaren Auswirkungen haben, so setzt er sich in Widerspruch zu der Wahl der OT-Mitgliedschaft. Dabei ist es nicht erforderlich, dass das OT-Mitglied unredlich handelt oder die Widersprüchlichkeit seines Verhaltens schuldhaft erkennt2. Einer Anwendung des § 242 BGB steht auch nicht entgegen, dass durch die Wahl der OT-Mitgliedschaft kein schutzwürdiges Vertrauen des Sozialpartners auf den Verzicht der Teilnahme an tarifpolitischen Entscheidungen des Verbandes begründet wird. Ein widersprüchliches Verhalten liegt bereits dann vor, wenn der Beitretende bei der Ausübung der Mitgliedschaft ohne Tarifbindung nicht konsistent handelt3. Das ist hier der Fall, weil das OT-Mitglied die Vorteile aus der fehlenden Tarifbindung für sich beansprucht, aber dennoch auf die Tarifpolitik des Verbandes Einfluss nimmt. Das OT-Mitglied verhält sich also nicht schon durch die Wahl der OT-Mitgliedschaft, sondern erst durch die Teilnahme an der Tarifpolitik gegenüber dem Verband widersprüchlich4. Zugleich verletzt es dadurch seine verbandsrechtliche Treuepflicht, weil es sein Stimmrecht gerade nicht zur Förderung des Verbandszwecks (Abschluss wirksamer TVe) einsetzt5, sondern im Gegenteil seine Mitwirkung ohne Rückgriff auf § 242 BGB die Tarifunfähigkeit des Verbandes zur Konsequenz haben kann. Weil der Beitrittsakt nach der hier vertretenen Lösung vereinsrechtlich wirksam ist und über § 242 BGB lediglich die Tarifbindung im Einzelfall einer Mitwirkung an tarifpolitischen Abstimmungen begründet werden kann, geht auch das Argument fehl, dass über eine Vertrauenshaftung keine Vereinsmitgliedschaft simuliert werden könne6. Folge dieses venire contra factum proprium ist, dass das OT-Mitglied sich nicht auf die 168 fehlende Tarifbindung berufen kann. Das bedeutet jedoch nicht, dass die OT-Mitgliedschaft im Zeitpunkt der Teilnahme an tarifpolitischen Entscheidungen zur Vollmitgliedschaft erstarkt. Gemäß § 242 BGB muss sich das OT-Mitglied vielmehr (nur) an denjenigen Entscheidungen festhalten lassen, an deren Zustandekommen es selbst als stimmberechtigtes Mitglied beteiligt war. Bei einer Teilnahme an einer Tarifabstimmung wird das OT-Mitglied bezüglich dieses TVs wie ein Vollmitglied behandelt. Was künftige TVe betrifft, kann das OT-Mitglied dagegen jederzeit die Tarifbindung vermeiden, indem es an den Abstimmungen nicht teilnimmt. Diese Wertungen lassen sich übertragen auf den unwirksamen Wechsel eines Vollmitglieds in die OT-Mitglied1 Vgl. Höpfner, ZfA 2009, 541 (553 f.); a.A. Wilhelm/Dannhorn, NZA 2006, 466 (471); Rieble, FS Reuter, S. 805 (822). 2 Vgl. allgemein MünchKomm/Schubert, § 242 BGB Rz. 313. 3 Vgl. allgemein MünchKomm/Schubert, § 242 BGB Rz. 344, 348. 4 Aus diesem Grunde geht die Kritik von Wilhelm/Dannhorn, NZA 2006, 466 (471) fehl. 5 Vgl. dazu MünchKomm/Arnold, § 34 BGB Rz. 22; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 38 Rz. 27. 6 So aber Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 297.
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Teil 2 Rz. 169
Tarifvertragsparteien
schaft. Die Lösung des BAG, das Mitglied generell als Vollmitglied zu behandeln, schießt über das Ziel hinaus. Angesichts des Erfordernisses einer mitgliedschaftlichen Legitimation tariflicher Normsetzung ist es überzeugender, eine Bindung allein an denjenigen TV anzunehmen, über den das Mitglied tatsächlich mitentschieden hat. 169 Die Anwendung des § 242 BGB führt schließlich dazu, dass der Verband seine Tariffähigkeit nicht wegen Verstoßes gegen das Unabhängigkeitsgebot verliert1. Denn im Falle der Mitwirkung eines OT-Mitglieds an einer tarifpolitischen Entscheidung tritt dessen Tarifbindung nach § 242 BGB ein. Er ist diesbezüglich einem Vollmitglied gleichgestellt und daher gerade kein „Dritter“. Ein Verstoß gegen das Unabhängigkeitsgebot liegt somit nicht vor, weshalb der Verband seine Tariffähigkeit behält. f) Voraussetzungen und Rechtsfolgen des Wechsels in die OT-Mitgliedschaft 170 Hat ein Verband die OT-Mitgliedschaft wirksam eingeführt, so können Vollmitglieder entsprechend der Satzung durch einseitige Erklärung oder durch Vereinbarung mit dem zuständigen Verbandsorgan in die OT-Mitgliedschaft wechseln. Der Verband kann wie für den Austritt auch für den Statuswechsel eine Wechselfrist bestimmen. Eine gesetzliche Höchstfrist für den Wechsel gibt es nicht. Insb. ist § 39 BGB nicht anwendbar2, da das wechselwillige Mitglied keinen Austritt aus dem Verband anstrebt, sondern sich lediglich der Tarifbindung entledigen will. Vereinsrechtlich ist der Statuswechsel neutral, da die Mitgliedschaft fortbestehen bleibt. Umgekehrt muss der Verband keine Mindestwechselfrist beachten3. Denn Austritts- und Wechselfristen dienen allein dem Schutz des Verbandes4. Sie entfalten keine Schutzwirkung zugunsten Dritter5. Eine Mindestfrist lässt sich auch nicht mit Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG i.V.m. § 134 BGB begründen, um etwaige Störungen der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie infolge fristloser Statuswechsel zu vermeiden6. Es trifft zwar zu, dass strategisch eingesetzte „Blitzwechsel“ zur Schädigung des Verhandlungspartners in Ausnahmefällen rechtsmissbräuchlich sein können (vgl. Rz. 177). Missbräuchlich ist dann allerdings erst der Wechsel als solcher und nicht bereits die Regelung in der Satzung, die einen fristlosen Wechsel erlaubt7. Die Satzungsautonomie des Verbandes umfasst schließlich auch das Recht, für den Austritt und den Statuswechsel unterschiedliche Fristen vorzusehen8. Damit steht dem Verband ein Instrument zur Verfügung, mit dem er austrittswilligen Mitgliedern einen Anreiz für die 1 Darauf läuft die Lösung von Rieble, FS Reuter, S. 805 (820 ff.) hinaus; vgl. auch Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 53. 2 Unklar BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1370). 3 BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1370); Buchner, NZA 2006, 1377 (1381); Jacobs/Krois, AP TVG § 3 Nr. 38. 4 Vgl. zuletzt BAG v. 18.5.2011 – 4 AZR 457/09, NZA 2011, 1378 (1380). 5 BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1370); BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 179/08, NZA 2010, 102 (104); generell zur Verbandssatzung BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734 (737); Bauer/Rolf, DB 2003, 1519. 6 So aber Franzen, FS Picker, S. 929 (940). 7 Zudem wäre eine Mindestfrist nicht geeignet, strategische Blitzwechsel stets zu vermeiden. Wenn nämlich der Zeitpunkt von Tarifverhandlungen rechtzeitig bekannt ist, kann das Verbandsmitglied ohne weiteres „vorsorglich“ den Wechsel erklären, ohne dies der Gewerkschaft mitzuteilen. 8 BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1370); BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 179/08, NZA 2010, 102 (104).
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Tariffhigkeit
Rz. 173 Teil 2
Wahl der OT-Mitgliedschaft liefern und so zumindest den Fortbestand der Beitragszahlung sichern kann. Neben dem einseitigen Statuswechsel ist auch ein Wechsel durch Vereinbarung zwi- 171 schen Verband und Mitglied möglich. Ein solcher „Statuswechselvertrag“ kann nur mit Wirkung ex nunc geschlossen werden, da eine bereits bestehende Tarifbindung nicht nachträglich unter Umgehung der §§ 3 Abs. 3, 4 Abs. 5 TVG beseitigt werden kann1. Ein einvernehmlicher Wechsel ist vor allem dann von Bedeutung, wenn die Parteien die satzungsmäßige Wechselfrist abkürzen wollen2 oder wenn das in der Satzung geregelte einseitige Wechselrecht mangels Eintragung in das Vereinsregister unwirksam ist. In diesem Fall kann der unwirksam erklärte Wechsel des Mitglieds gemäß § 140 BGB in ein Angebot zum Statuswechsel umgedeutet werden3. Dieses Angebot kann anschließend durch das nach der Satzung vertretungsberechtigte Organ des Verbandes angenommen werden. Der Wechsel eines Verbandsmitglieds von der Voll- in die OT-Mitgliedschaft hat in 172 Bezug auf die Tarifgebundenheit dieselben Rechtswirkungen wie der Austritt aus dem Verband4. Das OT-Mitglied behält zwar vereinsrechtlich seine Mitgliedschaft im Verband. Tarifrechtlich ist es aber kein Mitglied mehr i.S.d. § 3 Abs. 1 TVG5. An die Stelle der Tarifbindung gemäß §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG treten daher die Nachbindung an den VerbandsTV gemäß § 3 Abs. 3 TVG bis zum Ende des TVs6 sowie anschließend die Nachwirkung der Tarifnormen gemäß § 4 Abs. 5 TVG7. g) Transparenzanforderungen und „Blitzwechsel“ Für die Wirksamkeit des Statuswechsels kommt es nicht darauf an, ob der Arbeit- 173 geber den Arbeitnehmer über den Wechsel informiert hat8. Das BAG hat offengelassen, ob eine derartige Informationspflicht des Arbeitgebers aus § 2 Abs. 1 Nr. 10 NachwG folgt9. Jedenfalls führe eine unterbliebene Information nicht zur Unwirksamkeit des Statuswechsels, da die Wirksamkeit des Wechsels einer etwaigen Informationspflicht zeitlich vorgehe10. Richtigerweise wird man schon eine Informationspflicht als solche ablehnen müssen, da es aufgrund der sich an den Statuswechsel anschließenden Nachbindung des OT-Mitglieds an die VerbandsTVe, die ebenso wie die ursprüngliche Tarifbindung unmittelbar und zwingend wirkt11, nicht zu einer wesentlichen Änderung der Tarifbindung kommt. 1 Vgl. zum Aufhebungsvertrag Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 55; Oetker, ZfA 1998, 41 (50 f.); Plander, NZA 2005, 897 (902); Bauer/Haußmann, RdA 2009, 99 (101). 2 Vgl. zum Parallelproblem des Verbandsaustritts Teil 6 Rz. 45. 3 Vgl. Bauer/Haußmann, RdA 2009, 99 (101); Höpfner, ZfA 2009, 541 (559); zum entsprechenden Problem beim Verbandsaustritt BAG v. 20.2.2008 – 4 AZR 64/07, NZA 2008, 946 (948). 4 BAG v. 25.2.2009 – 4 AZR 986/07, AP TVG § 3 Nr. 40; Besgen, Mitgliedschaft ohne Tarifbindung, S. 104 ff. 5 BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1368). 6 Zur zeitlichen Begrenzung der Nachbindung vgl. BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53; Höpfner, NJW 2010, 2173. 7 BAG v. 18.3.1992 – 4 AZR 339/91 und st. Rspr. 8 BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 179/08, NZA 2010, 102. 9 BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 179/08, NZA 2010, 102 (105). 10 Richtig BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 179/08, NZA 2010, 102 (105). 11 Vgl. nur HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 41.
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Teil 2 Rz. 174
Tarifvertragsparteien
174 Erfolgt der Wechsel in die OT-Mitgliedschaft in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Abschluss eines TVs, so stellt das BAG allerdings erhöhte Anforderungen an die Wirksamkeit des Statuswechsels. Ein sog. „Blitzwechsel“ des Arbeitgebers in die OT-Mitgliedschaft während laufender Tarifverhandlungen oder in der Phase zwischen dem Abschluss der Verhandlungen und dem endgültigen Vertragsschluss1 soll in Bezug auf den betreffenden TV tarifrechtlich unwirksam sein, wenn er für die an den Tarifverhandlungen beteiligte Gewerkschaft nicht rechtzeitig erkennbar sei2. Da die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie infolge der fehlenden Transparenz gestört werde, sei der Statuswechsel gemäß Art. 9 Abs. 3 GG i.V.m. § 134 BGB unwirksam. Die Nichtigkeitsfolge soll aber nur soweit gelten, wie die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie auch tatsächlich beeinträchtigt werde. Daher werde die vereinsrechtliche Wirksamkeit des Statuswechsels nicht berührt. Lediglich tarifrechtlich sei der Wechsel unwirksam. Im Ergebnis wird so eine „Vorbindung“ an die während des Wechsels in die OT-Mitgliedschaft verhandelten oder abgeschlossenen VerbandsTVe statuiert3. 175 Im Schrifttum ist diese Rechtsprechung zu Recht auf heftige Kritik gestoßen4. Es ist nicht einzusehen, weshalb gerade die fehlende Offenlegung des Statuswechsels die Tarifautonomie gefährden soll. Allein darauf stellt das BAG aber ab. Es hält einen kurzfristigen Statuswechsel während laufender Tarifverhandlungen ausdrücklich für zulässig, sofern er der Gegenseite so rechtzeitig mitgeteilt wird, dass sie darauf reagieren kann5. Doch auch wenn diese (formlose)6 Information zeitnah erfolgt, bleiben die Reaktionsmöglichkeiten der Gewerkschaft überschaubar. Sie kann darüber entscheiden, ob sie in Tarifauseinandersetzungen mit dem vom VerbandsTV nicht erfassten Arbeitgeber tritt oder nicht. Wird der Statuswechsel vor Abschluss des VerbandsTVs nicht mitgeteilt, stünde sie vor derselben Entscheidung7. Hinzu kommt, dass auch bei langfristig herbeigeführten Veränderungen im Mitgliederbestand eines Verbandes Informationsdefizite bestehen, was bisher einhellig akzeptiert wurde8. 1 BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 285/08, NZA 2010, 230 (234); enger demgegenüber noch BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1371): „während laufender Tarifverhandlungen“; näher dazu Bauer, FS Picker, S. 889 (902 ff.). 2 BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1367, 1371 ff.); BAG v. 19.6.2012 – 1 AZR 775/10, NZA 2012, 1372 Rz. 30, 37; BAG v. 21.11.2012 – 4 AZR 27/11, NZA-RR 2014, 545 Rz. 29; vgl. zum Blitzwechsel in die Gastmitgliedschaft BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 285/08, NZA 2010, 230 (233); zustimmend Krause, GS Zachert, S. 605 (614 ff.). 3 Bauer, FS Picker, S. 889 (896); Krause, GS Zachert, S. 605 (614); Rieble, RdA 2009, 280 (281 f.). 4 Vgl. Bauer, FS Picker, S. 889 (895 ff.); Bauer/Haußmann, RdA 2009, 99 (104 ff.); Franzen, FS Picker, S. 929 (936 ff.); Höpfner, ZfA 2009, 541 (561 ff.); Jacobs/Krois, AP TVG § 3 Nr. 38; Jacobs/ Krois, FS Reuter, S. 555 (566 ff.); Konzen, FS Bauer, S. 559 (565 ff.); Willemsen/Mehrens, NJW 2009, 1916 (1917 ff.); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 239 ff. 5 BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1373); BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 285/08, NZA 2010, 230 (234); ebenso zum Blitzaustritt BAG v. 20.2.2008 – 4 AZR 64/07, NZA 2008, 946 (950). 6 Vgl. BAG v. 19.6.2012 – 1 AZR 775/10, NZA 2012, 1372 Rz. 35; Meyer, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 177. 7 Höpfner, ZfA 2009, 541 (563 f.); zustimmend Franzen, FS Picker, S. 929 (937); Jacobs/Krois, FS Reuter, S. 555 (567 f.); a.A. Kocher/Sudhof, NZA 2013, 875 (876). 8 Vgl. auch Bauer, FS Picker, S. 889 (899); Franzen, FS Picker, S. 929 (937 f.); Jacobs/Krois, AP TVG § 3 Nr. 38; Konzen, FS Bauer, S. 559 (574 ff.); Rieble, RdA 2009, 280 (283); Willemsen/ Mehrens, NJW 2009, 1916 (1918).
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Tariffhigkeit
Rz. 176 Teil 2
Auch rechtsdogmatisch ist die Rechtsprechung nicht haltbar1. Mit der Ausgangsthe- 175a se, wonach ein Blitzwechsel nach Art. 9 Abs. 3 GG i.V.m. § 134 BGB tarifrechtlich unwirksam sein soll, lässt sich die Beschränkung der Tarifbindung an den während des Blitzwechsels verhandelten TV nicht vereinbaren. Auch wenn man die Rechtsfolge des § 134 BGB mit dem BAG auf die tarifrechtliche Ebene begrenzt, bleibt es doch insoweit bei der Nichtigkeit des Statuswechsels. Aus tarifrechtlicher Sicht müsste man daher konsequenterweise von einer fortbestehenden Vollmitgliedschaft auch für spätere Tarifabschlüsse ausgehen. Wenn der 4. Senat die Tarifgebundenheit gleichwohl – und zu Recht2 – auf den im Wechselzeitpunkt verhandelten TV begrenzt, nähert er sich im Ergebnis stark dem hier vertretenen Modell einer Missbrauchskontrolle im Einzelfall an (vgl. Rz. 177). Im Übrigen betrifft das Transparenzproblem nicht allein Gewerkschaften. Auch ein 175b Arbeitgeber kann während der Tarifverhandlungen um einen SanierungsTV nie wissen, ob seine Arbeitnehmer bei Abschluss des TVs noch Mitglieder der tarifschließenden Gewerkschaft sind3. Sollte das BAG seine Rechtsprechung konsequent fortführen, so müsste man neben dem (umstrittenen)4 Fragerecht des Arbeitgebers nach der Gewerkschaftszugehörigkeit eine entsprechende Informationsobliegenheit der verhandelnden Gewerkschaft erwägen5. Eine derartige Auskunftspflicht über die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft hat das BAG jedoch ausdrücklich als Verstoß gegen Art. 9 Abs. 3 GG abgelehnt.6 Selbst wenn man mit dem BAG eine Informationspflicht der „Arbeitgeberseite“ an- 176 nehmen wollte, kann deren Verletzung unter keinen Umständen eine Tarifbindung des Mitglieds nach § 3 Abs. 1 TVG begründen. Unklar ist zunächst, wer Adressat der Informationspflicht sein soll. Das BAG spricht unpräzise von einer „Obliegenheit der Arbeitgeberseite“. Das ist gleich mehrfach missverständlich7. Erstens besteht ein Schuldverhältnis nur zwischen den Parteien des TVs. Eine Informationspflicht der Verbandsmitglieder ist als Vertrag zu Lasten Dritter unzulässig. In Betracht kommt daher allenfalls eine Informationspflicht des Verbandes. Deren Verletzung kann aber niemals als Sanktion eine Tarifbindung des Mitglieds zur Folge haben8. Zweitens führt die Verletzung einer Informationspflicht nach den allgemeinen Grundsätzen des Leistungsstörungsrechts lediglich zu einem Anspruch auf Schadensersatz neben der Leistung. Der Geschädigte ist so zu stellen, wie er stünde, wenn ihm die richtige Auskunft erteilt worden wäre. Selbst wenn der Verband und/oder das Mitglied die Gewerkschaft rechtzeitig über den Blitzwechsel informiert hätten, hätte dies jedoch keine Tarifbindung des OT-Mitglieds zur Folge gehabt9. 1 Höpfner, in: Latzel/Picker, Neue Arbeitswelt, S. 115 (122 f.). 2 A.A. nur Deinert/Walser, AuR 2015, 386 (389), allerdings ohne Begründung. 3 Bauer, FS Picker, S. 889 (908 f.); Bauer/Haußmann, RdA 2009, 99 (104); Willemsen/Mehrens, NJW 2009, 1916 (1917). 4 Vgl. nur BAG v. 27.1.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 645 (653); BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, NZA 2002, 634 (635); BAG v. 28.3.2000 – 1 ABR 16/99, NZA 2000, 1294; Franzen, RdA 2008, 193 (195 f.); HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 57; Staudinger/Richardi/Fischinger, § 611 BGB Rz. 558 ff. 5 Vgl. Bauer/Haußmann, RdA 2009, 99 (104). 6 BGH v. 18.11.2014 – 1 AZR 257/13, NZA 2015, 306 Rz. 28 ff. 7 Vgl. Höpfner, ZfA 2009, 541 (565 ff.); zustimmend Bauer, FS Picker, S. 889 (896). 8 Ebenso Rieble, RdA 2009, 280 (284 f.). 9 Ebenso Bauer/Haußmann, RdA 2009, 99 (105); Franzen, FS Picker, S. 929 (939).
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Teil 2 Rz. 177
Tarifvertragsparteien
177 Festzustellen ist somit: Die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie kann nicht durch die fehlende Transparenz eines Statuswechsels, sondern allenfalls durch den kurzfristigen Statuswechsel an sich beeinträchtigt werden1. Das wird man allerdings nur in äußerst seltenen Ausnahmefällen annehmen können, wenn der gesamte Verband oder eine maßgebende Gruppe von Mitgliedern das Instrument des Blitzwechsels rechtsmissbräuchlich zur gezielten Schädigung der Gegenseite nutzt2. Solche Fälle sind bisher nicht bekannt, und es ist auch nicht zu erwarten, dass ein Verband zu einer solchen, letztlich selbstschädigenden3 Taktik greifen wird. 2. Tarifgemeinschaft a) Grundlagen und Begriff der Tarifgemeinschaft 178 Mit dem Begriff „Tarifgemeinschaft“ werden ganz unterschiedliche Sachverhalte bezeichnet4. In der frühen Weimarer Republik verstand man darunter den Zusammenschluss von Arbeitnehmern und Arbeitgebern oder deren Verbänden zu einer Organisation, die Arbeitsnormen kraft Verbandsbeschluss festsetzen konnte (z.B. die „Tarifgemeinschaft deutscher Buchdrucker“)5. Heute bezeichnen sich teilweise Verbände selbst als Tarifgemeinschaft, etwa die „Tarifgemeinschaft deutscher Länder“ (TdL) oder die „Tarifgemeinschaft der Deutschen Rentenversicherung“ (TgDRV). Darüber hinaus wird im Zusammenhang mit der OT-Mitgliedschaft sowohl im Aufteilungs- wie im Stufenmodell die Gruppe der tarifgebundenen Mitglieder als Tarifgemeinschaft bezeichnet6. In beiden Fällen ist die Terminologie unglücklich. Denn sowohl die TdL und die TgDRV als auch der tariffähige Arbeitgeberverband beim Aufteilungsmodell sind „echte“, d.h. tariffähige und tarifwillige, Vereinigungen von Arbeitgebern i.S.d. § 2 Abs. 1 TVG7, die TVe im eigenen Namen abschließen8. Die Verwendung des Begriffs Tarifgemeinschaft (im weiteren Sinne) ist insoweit überflüssig und irreführend.
1 Ebenso im Ausgangspunkt Franzen, FS Picker, S. 929 (940); a.A. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 239. 2 Höpfner, ZfA 2009, 541 (565). 3 Die Auffassung von Franzen, FS Picker, S. 929 (939 f.), der Verband habe kein Interesse, Blitzwechsel zu vermeiden, da sie für ihn „mit keinerlei Nachteilen“ verbunden seien, überzeugt nicht. Jeder Verlust eines tarifgebundenen Mitglieds schwächt das tarifpolitische Gewicht des Verbandes. Darüber hinaus können Massenstatuswechsel eine „Sogwirkung“ für andere Mitglieder entfalten, vgl. nur Stumpfe, NZA-Beil. 24/2000, 1 (2). 4 Vgl. dazu schon Hanxleden, Tarifgemeinschaften, S. 9 ff.; aus jüngerer Zeit Ricken, Autonomie, S. 284 f. 5 Hueck, Das Tarifrecht, S. 100 f.; Ricken, Autonomie, S. 284; Rieble, ZfA 2000, 5 (10). 6 Vgl. Löwisch, ZfA 1974, 29 (40); Däubler, NZA 1996, 225 (232); Besgen, Mitgliedschaft ohne Tarifbindung, S. 15; S.-J. Otto, NZA 1996, 624; Röckl, DB 1993, 2382; Höpfner, ZfA 2009, 541 (544, 548); Oetker, in: Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 2 Rz. 10; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 21 f. 7 Vgl. Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 398; unklar Kittner/Zwanziger/Deinert/Deinert, § 8 Rz. 17. 8 Entsprechendes gilt für die „Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen“ (CGZP), die entgegen ihrer Bezeichnung nach Ziff. 1 der Satzung eine Spitzenorganisation i.S.d. § 2 Abs. 3 TVG darstellt; zur Tariffähigkeit vgl. BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289.
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Tariffhigkeit
Rz. 181 Teil 2
Nach dem heute überwiegenden Sprachgebrauch versteht man unter einer Tarif- 179 gemeinschaft einen Zusammenschluss von Arbeitgebern, Arbeitgeberverbänden oder Gewerkschaften zum Zweck des gemeinsamen Abschlusses von TVen im Namen ihrer Mitglieder1. Im Gegensatz zur Gewerkschaft und zum Arbeitgeberverband wird die Tarifgemeinschaft nicht Partei des TVs. Nach außen treten als Rechtssubjekte allein ihre Mitglieder auf. So hat etwa die „Tarifgemeinschaft Zeitarbeit“ mehrere TVe sowohl mit dem „Bundesverband Zeitarbeit Personal-Dienstleistungen e.V.“ (BZA)2 als auch mit dem „Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen e.V.“ (iGZ) verhandelt, die jeweils von ihren Mitgliedsgewerkschaften3 unterzeichnet wurden. Die Tarifgemeinschaft ist eine Zwischenlösung zwischen dem unkoordinierten Auf- 180 treten einzelner TV-Parteien und dem Zusammenschluss zu einem (Spitzen-)Verband4. Der Zweck der Tarifgemeinschaft ist das gemeinsame Auftreten bei Tarifverhandlungen mit dem Ziel der gemeinschaftlichen Interessendurchsetzung. Die Tarifmacht ihrer Mitglieder soll gebündelt werden, um bestimmte, tariflich regelbare Ziele durchsetzen zu können. Man wird die vorherrschende Definition daher in einem Punkt präzisieren müssen: Der Zweck des Zusammenschlusses ist nicht der gemeinsame Abschluss, sondern die einheitliche Verhandlung von TVen5. Insofern ist die Tarifgemeinschaft eine Verhandlungsgemeinschaft, die den Abschluss inhaltsgleicher TVe anstrebt. Wenn zum Teil vorgeschlagen wird, Tarif- und Verhandlungsgemeinschaft voneinander abzugrenzen6, so kann dies nicht überzeugen. Denn es ist nicht einzusehen, weshalb die eher zufällige und willkürliche Frage, ob die Unterzeichnung der TVe nach Abschluss der einheitlich geführten Verhandlungen gemeinsam an einem Ort erfolgt oder ob die einzelnen TVe zeitlich und/oder örtlich getrennt unterschrieben werden, auf die Eigenschaft der Gruppe als Tarifgemeinschaft einen Einfluss haben soll. Ferner ist es für den Begriff der Tarifgemeinschaft ohne Bedeutung, ob die abgeschlossenen TVe rechtlich selbständig sind oder ob sie eine „geschlossene Einheit“ bilden7. Keine Tarifgemeinschaft, sondern (nur) ein mehrgliedriger TV8 liegt jedoch vor, wenn ein AnerkennungsTV auf einen anderen TV verweist, ohne dass beide Verträge zuvor gemeinsam verhandelt worden sind9. Als mögliche Rechtsform der Tarifgemeinschaft kommen sowohl die GbR als auch der nicht eingetragene Verein in Betracht10. In der Regel erfüllt die Tarifgemeinschaft als Verhandlungsgemeinschaft nur einen vorübergehenden Zweck. Sie wird daher 1 Ricken, Autonomie, S. 284; Dymke, Tarifgemeinschaft, S. 9. 2 Bzw. nach der Verschmelzung von AMP und BZA am 16.7.2011 der „Bundesarbeitgeberverband der Personaldienstleister“ (BAP). 3 IG BCE, NGG, IG Metall, GEW, ver.di, IG BAU und GdP. 4 Höpfner, in: Arbeitsrecht im Konzern, S. 113 (130). 5 Vgl. Höpfner, in: Arbeitsrecht im Konzern, S. 113 (130). 6 So Ricken, Autonomie, S. 285, 289 (in der Sache freilich übereinstimmend); wie hier Dymke, Tarifgemeinschaft, S. 9. 7 HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 11; BKS/Heilmann/Schoof, § 1 TVG Rz. 28 f.; Ricken, Autonomie, S. 285 f.; a.A. LAG Nürnberg v. 11.10.2013 – 3 Sa 699/10, n.v. (Rev. anhängig unter 4 AZR 995/13); Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 400; Thüsing/Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 157, wonach der TV einer Tarifgemeinschaft stets ein EinheitsTV sein soll. 8 Vgl. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1300; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 214; a.A. AnwArbR/Friedrich, § 1 TVG Rz. 30; Däubler/Reim/Nebe, § 1 TVG Rz. 79. 9 So aber wohl Ricken, Autonomie, S. 285. 10 Dymke, Tarifgemeinschaft, S. 105 ff.; Ricken, Autonomie, S. 286 ff.
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Teil 2 Rz. 182
Tarifvertragsparteien
häufig keine gegenüber ihren Mitgliedern verselbständigte Organisation mit korporativem Charakter aufweisen. Die übliche Rechtsform der Tarifgemeinschaft ist aus diesem Grunde die Gesellschaft bürgerlichen Rechts1. Da die Tarifgemeinschaft nicht selbst TV-Partei ist, tritt sie „als solche“ nicht nach außen im Rechtsverkehr auf und soll dies nach dem Willen der Beteiligten auch nicht. Zudem hat sie in der Regel weder Geschäftsführungsorgane noch ein Gesellschaftsvermögen2. Die Tarifgemeinschaft ist somit grundsätzlich eine reine Innen-GbR3 und als solche nicht rechtsfähig (vgl. aber Rz. 191). b) Tarifgemeinschaft und mehrgliedriger TV 182 Schließen die Mitglieder einer Tarifgemeinschaft nach gemeinsamer Verhandlung inhaltsgleiche TVe ab, so handelt es sich dabei um einen mehrgliedrigen TV4. Ein solcher liegt vor, wenn der TV nicht nur von einer Gewerkschaft und einem Arbeitgeber(verband), sondern auf mindestens einer Seite von mehreren TV-Parteien unterzeichnet wird5. Mehrgliedrige TVe treten in zwei Arten auf, für die das BAG (in unglücklicher Formulierung) den Oberbegriff mehrgliedriger TV im weiteren Sinne verwendet6. 183 Dabei kann es sich zunächst um eine bloße Zusammenfassung mehrerer rechtlich selbständiger TVe in einer einzigen Urkunde handeln (sog. mehrgliedriger TV im engeren Sinne). In diesem Fall bestehen keine Besonderheiten gegenüber einem getrennten Vertragsschluss. Der mehrgliedrige TV im engeren Sinne ist rechtlich genauso zu behandeln, als ob jeder TV in einer eigenen Urkunde abgefasst worden wäre. Jede Partei kann „ihren“ TV ohne Mitwirkung der anderen Mitglieder der Tarifgemeinschaft kündigen oder – im Einvernehmen mit dem Vertragspartner – aufheben oder abändern, ohne dass dies Auswirkungen auf die übrigen TVe hat7. 184 Davon zu unterscheiden ist der sog. EinheitsTV8. Dabei schließt zwar ebenfalls jedes Mitglied der Tarifgemeinschaft einen eigenen TV mit dem Tarifpartner ab. Die TVe 1 Allg. Auffassung, vgl. Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 400, 406 ff.; Dymke, Tarifgemeinschaft, S. 116; Ricken, Autonomie, S. 287; Rieble, FS Otto, S. 471 (482). 2 Zur Bedeutung dieser Kriterien für die Abgrenzung von Innen- und Außengesellschaft vgl. nur K. Schmidt, JuS 1988, 444 (445); K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, §§ 43 II 3 a, 58 II 2 a; Wiedemann, Gesellschaftsrecht II, § 7 I 4 a; MünchKomm/Ulmer/Schäfer, § 705 BGB Rz. 254, 275. 3 Dymke, Tarifgemeinschaft, S. 114; Höpfner, in: Arbeitsrecht im Konzern, S. 113 (131); Ricken, Autonomie, S. 287 f.; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 397 (a.A. noch die Vorauflage); für AußenGbR dagegen HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 11; Thüsing/Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 148. 4 A.A. offenbar Thüsing/Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 151, wonach Tarifgemeinschaft und mehrgliedriger TV einander ausschließen sollen. 5 BAG v. 7.5.2008 – 4 AZR 229/07, AP TVG § 1 Nr. 45; BAG v. 8.11.2006 – 4 AZR 590/05, NZA 2007, 576; BAG v. 10.11.1993 – 4 AZR 198/93, AP TVG § 1 Tarifverträge: Einzelhandel Nr. 42; Nikisch, Arbeitsrecht II, § 72 II 1; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 503; Wiedemann/ Thüsing, § 1 TVG Rz. 209; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 9; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1289; Ricken, Autonomie, S. 285. 6 BAG v. 8.11.2006 – 4 AZR 590/05, NZA 2007, 576 (577); ebenso BKS/Heilmann/Schoof, § 1 TVG Rz. 29; abweichend Höpfner, in: Arbeitsrecht im Konzern, S. 113 (127 ff.). 7 Vgl. BAG v. 8.11.2006 – 4 AZR 590/05, NZA 2007, 576 (577); HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 9; Thüsing/Braun/Lembke, 9. Kap. Rz. 71 f. 8 BAG v. 29.6.2004 – 4 AZR 143/03, AP TVG § 1 Nr. 36; BAG v. 8.11.2006 – 4 AZR 590/05, NZA 2007, 576 (577).
124 Hçpfner
Tariffhigkeit
Rz. 186 Teil 2
bilden jedoch als „geschlossene Einheit“ ein einheitliches „Schuldverhältnis höherer Ordnung“1: Das rechtliche Schicksal der einzelnen TVe ist dergestalt miteinander verknüpft, dass eine Kündigung, Aufhebung oder Änderung des EinheitsTVs nur durch gemeinsame Erklärung aller auf einer Seite beteiligten TV-Parteien möglich ist2. Darüber hinaus haften die Mitglieder der Tarifgemeinschaft gesamtschuldnerisch für die Erfüllung tarifvertraglicher Pflichten, sofern der TV nichts anderes bestimmt3. Welche Art von TV vorliegt, ist im Einzelfall durch Auslegung zu ermitteln4. Hierbei 185 ist zu beachten, dass die Tarifmacht der Parteien beim EinheitsTV stark eingeschränkt ist, weil die Herrschaft über das tariflich Geregelte durch Gestaltungsmittel wie Kündigung, Aufhebung etc. nur gemeinsam mit den anderen auf ihrer Seite am Tarifabschluss beteiligten TV-Parteien ausgeübt werden kann5. Aus diesem Grunde geht das BAG (im Anschluss an Hueck und Nipperdey)6 davon aus, dass im Zweifel mehrere selbständige TVe vorliegen, die nur äußerlich in einer Urkunde zusammengefasst sind7. Wollen die Parteien die TVe zu einer rechtlichen Einheit zusammenfassen, so müssen sie dies nach der Rechtsprechung des BAG8 explizit vereinbaren, etwa durch eine Formulierung wie: „Eine Kündigung ist nur gemeinschaftlich möglich.“ Andere Umstände, z.B. die einheitliche Benennung der unterzeichnenden Mitgliedsverbände als „eine TV-Partei“, können dagegen nicht als Indiz für den Willen zu einem einheitlichen TV gewertet werden. Nach diesen Grundsätzen handelt es sich etwa bei den TVen der „Tarifgemeinschaft 186 Zeitarbeit“ mit dem iGZ (vgl. Rz. 179) nicht um EinheitsTVe mit der Folge, dass jede unterzeichnende Gewerkschaft den TV selbständig kündigen kann. Entsprechendes gilt für die TVe der Tarifgemeinschaft Zeitarbeit mit dem BZA, die ebenfalls keine Einschränkung des Kündigungsrechts der Einzelgewerkschaften vorsehen9. Auch die am 15.3.2010 von der CGZP und dem „Arbeitgeberverband Mittelständischer Personaldienstleister“ (AMP), heute BAP, geschlossenen TVe sind, wie die Präambel klarstellt, 1 Vgl. dazu Larenz, Schuldrecht I, § 37 II. 2 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 212. 3 Höpfner, in: Arbeitsrecht im Konzern, S. 113 (129); wohl auch HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 9; a.A. Ricken, Autonomie, S. 287 f.; Stein, Tarifvertragsrecht, Rz. 53; Dymke, Tarifgemeinschaft, S. 46 f., der eine ausdrückliche Haftungsvereinbarung verlangt. 4 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 213; Kittner/Zwanziger/Deinert/Deinert, § 8 Rz. 17. 5 BAG v. 8.11.2006 – 4 AZR 590/05, NZA 2007, 576 (577); BAG v. 7.5.2008 – 4 AZR 229/07, AP TVG § 1 Nr. 45. 6 Hueck, Das Tarifrecht, S. 39; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II/1, § 21 II 1; ebenso Nikisch, Arbeitsrecht II, § 72 II 2. 7 BAG v. 29.6.2004 – 4 AZR 143/03, AP TVG § 1 Nr. 36; BAG v. 8.11.2006 – 4 AZR 590/05, NZA 2007, 576 (577); ebenso Oetker, RdA 1995, 82 (100 f.); MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 165 Rz. 6; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 9; ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 22; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 213; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 27; Däubler/Reim/Nebe, § 1 TVG Rz. 82; Ricken, Autonomie, S. 286; zweifelnd Rieble, FS Otto, S. 471 (481); Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1295. 8 BAG v. 8.11.2006 – 4 AZR 590/05, NZA 2007, 576 (577). 9 LAG Hessen v. 16.1.2014 – 9 TaBV 127/13, n.v. (Rechtsbeschwerde anhängig unter 1 ABR 13/14); LAG Baden-Württemberg v. 4.6.2013 – 22 Sa 73/12, ArbRB 2014, 300; Boemke/Lembke/ Lembke, § 9 AÜG Rz. 202, 216, 323; Bayreuther, NZA 2012, 14; Stoffels/Bieder, RdA 2012, 27 (28 f.); a.A. LAG Nürnberg v. 11.10.2013 – 3 Sa 699/10, n.v. mit dem wenig überzeugenden Argument, dass der TV ein Kündigungsrecht „beider“ TV-Parteien vorsehe. Tatsächlich gibt es auch beim mehrgliedrigen TV i.e.S. jeweils nur zwei TV-Parteien.
Hçpfner 125
Teil 2 Rz. 187
Tarifvertragsparteien
mehrgliedrige TVe, die von jeder der vertragsschließenden Gewerkschaften jeweils selbständig gekündigt werden können. Im Verhältnis zu den übrigen Mitgliedsgewerkschaften bleiben sie trotz der fehlenden Tariffähigkeit der CGZP1 wirksam2. 187 Etwas anderes gilt jedoch, wenn an einem mehrgliedrigen TV ausschließlich Konzernunternehmen beteiligt sind3. In diesem Fall handelt es sich nicht um zwei in ihrer Tarifpolitik freie TV-Parteien, sondern um einen zentral gesteuerten Unternehmensverbund, der mithilfe einer sog. „Konzern-Tarifgemeinschaft“ eine konzerneinheitliche Tarifpolitik verfolgt (vgl. dazu Teil 15 Rz. 186 ff.). Das Argument, dass die Tarifmacht der einzelnen Unternehmen eingeschränkt werde, überzeugt jedenfalls im Beherrschungskonzern4 nicht. Da das Tochterunternehmen an Weisungen der Obergesellschaft gebunden ist, steht seine eigene Tarifmacht von vornherein unter dem Vorbehalt des Einvernehmens mit der Konzernleitung5. Bei einem mehrgliedrigen TV, der auf Arbeitgeberseite ausschließlich von Konzerngesellschaften abgeschlossen wird, spricht daher eine Vermutung für den EinheitsTV6. Will die Tarifgemeinschaft ein selbständiges Kündigungsrecht der tarifschließenden Konzerngesellschaften durchsetzen, so muss sie dies im TV ausdrücklich vereinbaren. Mit der Rechtsprechung des BAG ist dies zu vereinbaren, da der Konzernsachverhalt eine „besondere Fallgestaltung“ darstellt, für die das BAG ausdrücklich eine „andere Auslegung nicht ausgeschlossen“ hat7. c) Tariffähigkeit der Tarifgemeinschaft 188 Die Tarifgemeinschaft ist grundsätzlich nicht tariffähig. Das folgt zwar nicht bereits aus der fehlenden Rechtsfähigkeit der Innen-GbR8, aber aus dem fehlenden Willen der Tarifgemeinschaft, TVe im eigenen Namen abzuschließen9. Für die Gültigkeit der TVe ist somit ausschließlich die Tariffähigkeit der Mitglieder der Tarifgemeinschaft entscheidend. Diese richtet sich nach den allgemeinen Grundsätzen (vgl. Rz. 45 ff., 96 ff.). Bei Gewerkschaften ist nach h.M. insb. eine überbetriebliche Organisation erforderlich10. Da die Mitgliedschaft in einer Tarifgemeinschaft bereits die Tariffähigkeit voraussetzt, kann eine fehlende Überbetrieblichkeit nicht durch das Mitwirken
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Vgl. BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289. Neef, NZA 2011, 615 (618). Dazu Höpfner, in: Arbeitsrecht im Konzern, S. 113 (129 f.). Zur Situation im faktischen Konzern vgl. Höpfner, in: Arbeitsrecht im Konzern, S. 113 (126). Ähnlich Rieble, Der Konzern 2005, 475 (481). So i.E. auch Windbichler, Arbeitsrecht im Konzern, S. 471; in diese Richtung auch Rieble, Der Konzern 2005, 475 (482): „insbesondere bei unternehmensübergreifenden Regelungen“. BAG v. 8.11.2006 – 4 AZR 590/05, NZA 2007, 576 (577). Zum Verhältnis von Rechts- und Tariffähigkeit vgl. nur Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 10 ff.; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 2. Vgl. Dymke, Tarifgemeinschaft, S. 183; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 416; Thüsing/Braun/ Emmert, 2. Kap. Rz. 148; Rieble, FS Otto, S. 471 (481 f.). Vgl. BVerfG v. 6.5.1964 – 1 BvR 79/62, NJW 1964, 1267 (1268); BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77 u.a., NJW 1979, 699 (709); BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289 (295); BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112 (1114); BAG v. 14.12.2004 – 1 ABR 51/03, NZA 2005, 697; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 12; a.A. ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 6; Löwisch/ Rieble, § 2 TVG Rz. 133.
126 Hçpfner
Tariffhigkeit
Rz. 190 Teil 2
der Gewerkschaft in der Tarifgemeinschaft ausgeglichen werden1. Entsprechendes gilt für die Durchsetzungskraft von Gewerkschaften. Nach der Rechtsprechung des BAG gelten Tarifabschlüsse einer Tarifgemeinschaft nicht als Indiz für die Durchsetzungsfähigkeit der Mitgliedsgewerkschaften (vgl. Rz. 68)2. Sind nicht alle Mitglieder der Tarifgemeinschaft tariffähig, so stellt sich die Frage, 189 welche Auswirkungen dies auf die Wirksamkeit der abgeschlossenen TVe hat. Zum Teil wird unter Hinweis auf das Verbot der Fremdbestimmung verlangt, dass stets alle Mitglieder einer Tarifgemeinschaft tariffähig sein müssten. Anderenfalls seien die abgeschlossenen TVe unwirksam3. Das kann nicht überzeugen. Diese Auffassung geht von der unzutreffenden Prämisse aus, dass die als Tarifgemeinschaft auftretenden TVParteien notwendig nur EinheitsTVe abschließen können4. Nach dem hier zugrundeliegenden Verständnis der Tarifgemeinschaft als Verhandlungsgemeinschaft (vgl. Rz. 180) spricht nichts für eine derartige Beschränkung der tariflichen Gestaltungsmacht der Parteien. Es ist vielmehr auch bei den Mitgliedern einer Tarifgemeinschaft im Zweifel nicht davon auszugehen, dass sie ihr Recht, den TV zu kündigen oder abzuändern, von der Mitwirkung der anderen Mitglieder abhängig machen wollen5. Bei der Mitwirkung einer tarifunfähigen Partei in einer Tarifgemeinschaft ist daher zu differenzieren: Handelt es sich um mehrere rechtlich selbständige TVe, die nur in einer einzigen Urkunde zusammengefasst wurden, so ist die Wirksamkeit jedes TVs getrennt zu prüfen. Die fehlende Tariffähigkeit eines Mitglieds der Tarifgemeinschaft betrifft nur dessen eigenen TV. Die Wirksamkeit der übrigen TVe bleibt unberührt. Anders ist die Rechtslage beim EinheitsTV. Dieser setzt die Tariffähigkeit aller TVParteien voraus6. Die Mitwirkung einer tarifunfähigen Partei führt dann zur Nichtigkeit des gesamten TVs7. d) Tarifzuständigkeit der Tarifgemeinschaft Mangels Tariffähigkeit hat die Tarifgemeinschaft auch keine eigene Tarifzuständig- 190 keit. Der maximale tarifliche Geltungsbereich der von den Mitgliedern der Tarifgemeinschaft abgeschlossenen TVe bemisst sich allein nach der Tarifzuständigkeit der Mitglieder8. Anders als bei Spitzenorganisationen, deren Tariffähigkeit nach der neueren (zweifelhaften) Rechtsprechung des BAG9 u.a. eine „vollständige Übertragung der Organisationsbereiche“ ihrer Mitgliedsverbände voraussetzt, stellt sich das 1 A.A. Kempen/Zachert/Kempen, § 2 TVG Rz. 78. 2 BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300 (305); ebenso Greiner, NZA 2011, 825. 3 Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 419; MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 165 Rz. 6; Thüsing/Braun/ Emmert, 2. Kap. Rz. 147. 4 So Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 400; Rieble, FS Otto, S. 471 (481); Kempen/Zachert/Schubert/ Zachert, § 1 TVG Rz. 51; Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 102; Thüsing/Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 157. 5 Ebenso HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 9; BKS/Heilmann/Schoof, § 1 TVG Rz. 29; Ricken, Autonomie, S. 285 f.; Kittner/Zwanziger/Deinert/Deinert, § 8 Rz. 17; Stein, Tarifvertragsrecht, Rz. 53. 6 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 17; Oetker, in: Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 2 Rz. 8. 7 BAG v. 15.11.2006 – 10 AZR 665/05, NZA 2007, 448 (451). 8 Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 417; Thüsing/Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 159. 9 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289; vgl. zur Kritik nur Henssler/Höpfner/Orlowski, Der CGZP-Beschluss des BAG, S. 16 ff.; Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, S. 267 ff.
Hçpfner 127
Teil 2 Rz. 191
Tarifvertragsparteien
Problem einer abgeleiteten Tariffähigkeit und -zuständigkeit bei Tarifgemeinschaften nicht. Es begegnet keinen rechtlichen Bedenken, wenn der Geltungsbereich des von einer Tarifgemeinschaft verhandelten TVs nicht die gesamte Tarifzuständigkeit aller ihrer Mitglieder ausfüllt1. Bleibt im umgekehrten Fall die Tarifzuständigkeit eines Verbandes hinter dem verhandelten Geltungsbereich des TVs zurück, so ist der TV jeweils nur insoweit und nicht vollständig unwirksam. e) Tarifgemeinschaft als Tarifpartei 191 Problematisch sind die (seltenen) Fälle, in denen eine Tarifgemeinschaft ausnahmsweise einmal einen TV im eigenen Namen unterzeichnet. So hat z.B. die „Tarifgemeinschaft des Großhandels, Außenhandels und der Dienstleistungen in Nordrhein-Westfalen“ jeweils im eigenen Namen einen Mantel- und einen LohnTV mit den Gewerkschaften ver.di und DHV geschlossen2. In diesem Fall tritt die Tarifgemeinschaft „als solche“3 nach außen im Rechtsverkehr auf. Es handelt sich dann um eine rechtsfähige Außen-GbR4. Damit ist jedoch ein weiteres Problem verbunden: Die Tarifgemeinschaft, die TVe im eigenen Namen schließt, ist faktisch nichts anderes als ein (Spitzen-)Verband in der Rechtsform der GbR. Über dessen Zulässigkeit wird im Schrifttum seit langem gestritten. Überwiegend wird eine körperschaftliche Struktur der Vereinigung verlangt, um sicherzustellen, dass die Existenz der Tarifpartei und damit auch des TVs von Veränderungen des Mitgliederbestandes unabhängig ist5. Folgt man dem, ist die GbR keine taugliche Rechtsform für einen (Spitzen-)Verband6. Doch auch wenn man das anders beurteilen wollte, wird regelmäßig die Tarifzuständigkeit der Tarifgemeinschaft mangels einer den Bestimmtheitsanforderungen des BAG (vgl. Rz. 16) gerecht werdenden Regelung im Gesellschaftsvertrag fehlen7. Schließlich wird regelmäßig die vom BAG für Spitzenorganisationen geforderte Zuständigkeitskongruenz8 fehlen. Ein von der Tarifgemeinschaft im eigenen Namen abgeschlossener TV ist daher grundsätzlich unwirksam. Eine Umdeutung in einen mehrgliedrigen TV mit den Mitgliedern der Tarifgemeinschaft als Vertragsparteien scheitert jedenfalls9 am Schriftformerfordernis des § 1 Abs. 2 TVG.
1 So ausdrücklich BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289 (298). 2 Vgl. die Eintragung im Tarifregister Nordrhein-Westfalen, abrufbar unter: www.tarifregister. nrw.de/material/gross_aussen.pdf (Stand: 16.11.2015). 3 Dazu K. Schmidt, JuS 1988, 444. 4 Insoweit zutreffend HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 11; Henssler, FS ARGE Arbeitsrecht, S. 37 (38). 5 Vgl. nur HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 8; Wiedemann/Oetker, TVG, § 2 TVG Rz. 235 m.w.N. 6 Vgl. MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 18; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 236; Stöhr, Jura 2016, 58 (60); a.A. HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 11; Henssler, FS ARGE Arbeitsrecht, S. 37 (38); Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 51 sowie für den Fall einer Fortsetzungsklausel auch Rieble, Der Konzern 2005, 475 (479 f.). 7 Enthält die Satzung dagegen entsprechende Regelungen, so handelt es sich ohnehin regelmäßig um einen „echten“ Verband in der Rechtsform des nicht eingetragenen Vereins (vgl. Rz. 178). 8 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289. 9 Zweifelhaft ist schon, ob eine Umdeutung einen Parteiwechsel zur Folge haben kann. Das BAG bejaht dies im Grundsatz, stellt aber hohe Anforderungen an einen entsprechenden hypothetischen Parteiwillen, vgl. BAG v. 24.1.1996 – 1 AZR 597/95, NZA 1996, 948 (949 f.).
128 Hçpfner
Tariffhigkeit
Rz. 195 Teil 2
3. Tariffähigkeit von Spitzenorganisationen a) Begriff und tarifliche Wirkungsmöglichkeiten der Spitzenorganisation Bei Spitzenorganisationen handelt es sich um verfasste Zusammenschlüsse von Koali- 192 tionen auf Arbeitgeber- oder Arbeitnehmerseite. Prominenteste Beispiele sind DGB und BDA. Auch die Tarifgemeinschaft der Christlichen Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen (CGZP) ist als Spitzenorganisation konstituiert; sie war für das BAG Anlass, sich in einer grundlegenden Entscheidung vom 14.12.2010 mit der Tariffähigkeit der Spitzenorganisationen zu befassen1. Unter bestimmten Voraussetzungen ist den Spitzenorganisationen die Tariffähigkeit gemäß § 2 Abs. 2, 3 TVG eröffnet. Insofern sind zwei Fälle zu unterscheiden2: Zum einen kann die Spitzenorganisation 193 gemäß § 2 Abs. 2 TVG durch ihre Mitgliedsverbände zum Abschluss von TVen bevollmächtigt werden und in deren Namen handeln. In diesem Fall handelt es sich um Stellvertretung i.S.v. § 164 BGB. TV-Partei wird dann „nicht die Spitzenorganisation, sondern die von ihr vertretene TV-Partei“3. In diesem Fall kommt es unmittelbar auf die Tariffähigkeit der jeweiligen Mitgliedsorganisation an – ebenso wie es auch im Übrigen bei Stellvertretung auf die Geschäftsfähigkeit4 des Vertretenen ankommt (vgl. § 165 BGB). In den Fällen des § 2 Abs. 3 TVG wird die Spitzenorganisation hingegen selbst Partei des TVs. Hierzu muss der Abschluss von TVen zu ihren satzungsmäßigen Aufgaben gehören. Auch durch einen derartigen TV-Abschluss werden die Mitglieder der in der Spitzen- 194 organisation zusammengeschlossenen Koalitionen normativ gemäß § 4 Abs. 1 TVG berechtigt und verpflichtet5. Die der Spitzenorganisation angehörenden Koalitionen verlieren durch die Vermittlung der Tarifnormsetzungskompetenz an die Spitzenorganisation derselben nicht die Möglichkeit, selbst TVe in demselben Zuständigkeitsbereich zu schließen. Ihre Tariffähigkeit bleibt somit ungeschmälert bestehen6. Nur im Innenverhältnis von Koalition und Spitzenorganisation können sich Beschränkungen – etwa durch die Satzung der Spitzenorganisation – ergeben, denen freilich keine Außenwirkung zukommt. b) Voraussetzung: Tariffähigkeit der Mitgliedskoalitionen Die Spitzenorganisation ist nicht originär tariffähig, sondern leitet ihre Tariffähigkeit 195 in beiden Fällen von den Mitgliedskoalitionen ab7. Somit ist die Tariffähigkeit der Mitgliedskoalitionen Voraussetzung. Auch bei der zweiten Variante, dem eigenständigen TV-Abschluss durch die Spitzenorganisation in eigenem Namen (§ 2 Abs. 3 TVG) ist dieses Erfordernis unverzichtbar: Mitglieder der Spitzenorganisation sind le1 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289; dazu ausf. Greiner, Gemeins. Anm. EzA § 2 TVG Nr. 30, 31. 2 Vgl. Franzen, BB 2009, 1472 (1474); BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 69. 3 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 69. 4 Vgl. MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 1 (Tariffähigkeit als „spezielle Art der Geschäftsfähigkeit“); dagegen Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 13. 5 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 70. 6 BAG v. 22.2.1957 – 1 AZR 426/56, SAE 1957, 119. 7 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 74.
Greiner
129
Teil 2 Rz. 196
Tarifvertragsparteien
diglich die ihr angeschlossenen Verbände. Ihre Durchsetzungsfähigkeit kann sich daher nur aus der Durchsetzungsfähigkeit ihrer Mitgliedsorganisationen speisen1; ihre Zuverlässigkeit resultiert allein aus der Zuverlässigkeit der Mitgliedsorganisationen. Daraus folgt zwangsläufig, dass die Mitgliedsorganisationen nur im Rahmen ihrer eigenen Tariffähigkeit der Spitzenorganisation die Tariffähigkeit vermitteln können2. 196 In der Literatur umstritten ist, ob lediglich zwei Mitglieder der Spitzenorganisation tariffähig sein müssen oder ob sämtliche Mitglieder der Spitzenorganisation tariffähig sein müssen3. Das BAG wählt einen Mittelweg und verlangt, dass alle das Tarifgeschehen der Spitzenorganisation prägenden Mitgliedsorganisationen ihrerseits tariffähig sein müssen4. Dem ist zu folgen: Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb Zuverlässigkeit und Tariffähigkeit der Spitzenorganisation entfallen sollten, wenn ihr einzelne tarifunfähige Organisationen angehören. Andererseits muss gewährleistet sein, dass diese tarifunfähigen Organisationen keinen maßgeblichen Einfluss auf die Tarifnormsetzung der Spitzenorganisation haben. Dieser Mittelweg fügt sich in die Rechtsprechung zur „OT-Mitgliedschaft“5 ein. c) Prinzip der Zuständigkeitskongruenz 197 Im CGZP-Beschluss statuiert das BAG im Wege richterlicher Rechtsfortbildung ein weiteres Erfordernis: Die Zuständigkeitsbereiche von Spitzenorganisation und Mitgliedsorganisationen müssen exakt übereinstimmen, sog. Prinzip der Zuständigkeitskongruenz6. Demnach darf zum einen die der Spitzenorganisation übertragene Zuständigkeit nicht über die Tarifzuständigkeiten der Mitgliedsorganisationen hinausgehen, zum anderen darf sie dahinter auch nicht zurückbleiben. aa) Keine Überschreitung der Tarifzuständigkeiten 198 Geht man davon aus, dass Spitzenorganisationen über keine originäre, sondern lediglich über eine abgeleitete Tariffähigkeit verfügen7, erschließt sich die Validität des 1 Vgl. Franzen, BB 2009, 1472 (1474); Jacobs, ZfA 2010, 27 (41). Systematisch spricht auch die Haftungsregelung in § 2 Abs. 4 TVG für diese Perspektive; dazu Buchner, FS 50 Jahre Arbeitsgerichtsbarkeit Rheinland-Pfalz, 1999, S. 331 (340). 2 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 71; ebenso Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 55; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 437; Wiedemann/Thüsing, RdA 1995, 280 (281); Jacobs, ZfA 2010, 27 (41); Franzen, BB 2009, 1472 (1474). 3 Für die erstgenannte Auffassung: LAG Niedersachsen v. 25.8.1998 – 11 Sa 1455/97, LAGE § 2 TVG Nr. 5, Rz. 31; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 432; Lembke, NZA 2007, 1333 (1135); Jacobs, ZfA 2010, 27 (46); Franzen, BB 2009, 1472 (1474 f.); für die letztgenannte Auffassung insbesondere: Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 56; D. Ulber, NZA 2008, 439 (441). 4 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 72 ff. mit ausf. Begründung. In diese Richtung bereits Wiedemann/Thüsing, RdA 1995, 280 (282); Rolfs/Witschen, DB 2010, 1180; offen gelassen bei Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 426; dezidiert dagegen Jacobs, ZfA 2010, 27 (45). 5 Auf diesen Konnex verweisen auch Franzen, BB 2009, 1472 (1475); Jacobs, ZfA 2010, 27 (43). 6 Vgl. BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 76: „Die zu einer Spitzenorganisation (…) zusammengeschlossenen Gewerkschaften müssen dieser ihre Tariffähigkeit vollständig vermitteln. Dies setzt voraus, dass sich die einer Spitzenorganisation angeschlossenen Gewerkschaften in ihrem Organisationsbereich nicht nur teilweise, sondern vollständig miteinander verbinden.“ 7 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 71.
130 Greiner
Tariffhigkeit
Rz. 202 Teil 2
erstgenannten Aspekts nahezu von selbst: Da die Mitgliedskoalitionen außerhalb des selbst gewählten Zuständigkeitsbereichs nicht tariffähig sind, kommt auch eine abgeleitete Tariffähigkeit der Spitzenorganisation insofern nicht in Betracht1. Zutreffend scheint somit, Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit gleichermaßen von 199 den Mitgliedsorganisationen abzuleiten. Die teilweise vertretene Entkoppelung beider Aspekte – die Tarifzuständigkeit sei autonom der Satzung der Spitzenorganisation, die Tariffähigkeit hingegen der Durchsetzungskraft der Mitgliedsorganisationen zu entnehmen –2, verkennt die innere Verknüpfung beider Aspekte. Ferner würde dadurch eine legitimationslose und missbrauchsanfällige Tarifnormsetzung in Zuständigkeitsbereichen ermöglicht, für welche die tariffähigen Mitgliedskoalitionen keinerlei Normsetzungskompetenz haben3. Bemerkenswert ist freilich, dass nach dem CGZP-Beschluss die Rechtsfolge einer 200 (auch nur marginalen) Überschreitung des Kongruenzbereichs der vollständige Entfall der Tariffähigkeit der Spitzenorganisation sein soll, nicht lediglich ein auf den Bereich der Überschreitung beschränkter Entfall. Dies steht in Kontrast zur genau gegenteiligen Sichtweise auf Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit einer einzelnen Koalition: Hier steht das Fehlen von Durchsetzungskraft in einem kleineren Teilbereich der Tarifzuständigkeit der (absoluten) Tariffähigkeit nicht entgegen (s. Rz. 87). Diese scharfe Rechtsfolge kommt einer Sanktion nahe und ist deutlicher Ausdruck einer skeptisch-distanzierten Sichtweise des BAG auf tarifpolitische Aktivitäten von Spitzenorganisationen auf Gewerkschaftsseite4. bb) Kein Zurückbleiben hinter den Tarifzuständigkeiten Die Validität des zweiten Aspekts des Kongruenzprinzips bedarf einer eingehenderen 201 Begründung. Demnach steht eine nur partielle Übertragung der Tarifzuständigkeiten der Mitgliedskoalitionen an die Spitzenorganisation gleichfalls deren Tariffähigkeit entgegen. Zutreffend stellt das BAG auf Aspekte der Rechtssicherheit und der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie ab5. Aus Sicht des BAG folgt diese Ausprägung des Kongruenzprinzips aus dem absoluten, „unteilbaren“ Verständnis der Tariffähigkeit (s. Rz. 86 ff.). Hinsichtlich der Tariffähigkeit von Spitzenorganisationen führt die Absage an eine relative Tariffähigkeit in der Tat zu notwendigen Restriktionen: Können Mitgliedskoalitionen auch für Tarifgebiete tariffähig sein, auf denen sie für sich genommen über keine hinreichende, durch Mitglieder gestützte Durchsetzungskraft verfügen (s. Rz. 87), muss eine punktuelle Verlagerung dieser schwach legitimierten Betätigungsfelder auf eine Spitzenorganisation unterbunden werden. Andernfalls könnten die Mitgliedsorganisationen soziale Mächtigkeit durch ihre Mit- 202 gliederstärke in anderen Tarifgebieten begründen, um die daraus resultierende absolute Tariffähigkeit für weitere Betätigungsfelder, in denen sie über keinerlei Mitglieder, 1 So bereits vor dem CGZP-Beschluss Franzen, BB 2009, 1472 (1475); D. Ulber, NZA 2008, 438 (439). 2 Lembke, NZA 2007, 1133. 3 D. Ulber, NZA 2008, 438 (442). 4 Ausf., auch zu den dogmatischen Hintergründen Greiner, Gemeins. Anm. EzA § 2 TVG Nr. 30, 31, S. 29 ff. 5 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289, Rz. 83.
Greiner
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Teil 2 Rz. 203
Tarifvertragsparteien
wohl aber über eine satzungsautonom definierbare Tarifzuständigkeit verfügen, der Spitzenorganisation zu vermitteln. Die Mitgliedskoalitionen hätten auf diese Weise einen Anreiz, die Zuständigkeit auf weitere Betätigungsfelder auszudehnen, ohne jedoch eine Mitgliedergewinnung durch eigenverantwortliche Tarifaktivitäten dort auch nur anzustreben1. Zugleich distanzieren sie sich gewissermaßen durch die Verlagerung der Tarifaktivitäten auf die Spitzenorganisation von der Tarifnormsetzung für diesen Bereich. Die „Bewährung“ einer Mitgliedskoalition in anderen Bereichen ihrer Tarifzuständigkeit trägt in diesem Fall den Rückschluss auf die Zuverlässigkeit der Spitzenorganisation nicht, da die Einheitlichkeit des infolge der Bewährung in anderen Zuständigkeitsbereichen für zuverlässig befundenen Normgebers durchbrochen ist2. cc) Praktische Konsequenzen 203 Durch die Einführung des Kongruenzprinzips dürften Spitzenorganisationen als eigenständige Tarifakteure auf Gewerkschaftsseite künftig keine bedeutende Rolle mehr spielen; sie behalten freilich ihre Bedeutung als nicht tariffähige Dachverbände einander nahestehender Gewerkschaften. Konsequenzen für Spitzenorganisationen auf Arbeitgeberseite sind hingegen nicht ersichtlich: Weil Geltungsgrund des „Kongruenzprinzips“ allein der Schutz der durch die Mächtigkeitsprüfung angestrebten Zuverlässigkeit zur Tarifnormsetzung ist und bei Arbeitgeberverbänden auf die Mächtigkeitsprüfung ohnehin mit Recht verzichtet wird (s. Rz. 105 ff.)3, scheint eine Übertragung des Kongruenzprinzips auf Spitzenorganisationen der Arbeitgeberverbände nicht begründbar.
C. Tarifzuständigkeit Literatur: Bayreuther, Tarifzuständigkeit beim Abschluss mehrgliedriger Tarifverträge im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung, NZA 2012, 14; Blank, Tarifzuständigkeiten nach der Gründung von ver.di, in: Festschrift 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, 2004, S. 597; Buchner, Bestätigung der OT-Mitgliedschaft durch das BAG – Grundsätzliche Anerkennung – Offene Folgefragen, NZA 2006, 1377; Deinert, Schranken der Satzungsgestaltung beim Abstreifen der Verbandstarifbindung durch OT-Mitgliedschaften, RdA 2007, 83; Deinert, Arbeitsrechtliche Herausforderungen einer veränderten Gewerkschaftslandschaft, NZA 2009, 1176; Ebert, Die Zuständigkeit der Tarifvertragsparteien zum Abschluss von Verbands- und Firmentarifverträgen, 2003; Ewer, Aushöhlung von Grundrechten der Berufs-, Spartengewerkschaften – das Tarifeinheitsgesetz, NJW 2015, 2230; Feudner, Tarifzuständigkeit der Gewerkschaften, BB 2004, 2297; Greiner, Das Tarifeinheitsgesetz, NZA 2015, 769; Greiner, Das Tarifeinheitsgesetz – ein „Brandbeschleuniger“ für Tarifauseinandersetzungen?, RdA 2015, 36; Heinze, Tarifzuständigkeit von Gewerkschaften und Arbeitgebern/Arbeitgeberverbänden, DB 1997, 2122; Henssler, Firmentarifverträge und unternehmensbezogene Verbandstarifverträge als Instrument einer „flexiblen“, betriebsnahen Tarifpolitik, ZfA 1998, 517; Höpfner, Blitzaustritt und Blitzwechsel in die OT-Mitgliedschaft, ZfA 2009, 541; Junker, Die Tarifzuständigkeit als Wirksamkeitserfordernis des Tarifvertrages, ZfA 2007, 229; Kempen, „Ein Betrieb – eine Gewerkschaft“ Tarifeinheit als verbandliches StrukturPrinzip im DGB, in: Festschrift Hoyningen-Huene, 2014, 191; Konzen, Die Tarifzuständigkeit im 1 S. Greiner, Gemeins. Anm. EzA § 2 TVG Nr. 30, 31, S. 25. 2 Ausf. Greiner, Gemeins. Anm. EzA § 2 TVG Nr. 30, 31, S. 24 ff. 3 H.M.; vgl. BVerfG v. 20.10.1981 – 1 BvR 404/78, EzA § 2 TVG Nr. 13; BAG v. 20.11.1990 – 1 ABR 62/89, EzA § 2 TVG Nr. 20; Kempen/Zachert/Stein, § 2 TVG Rz. 90; a.A. insbesondere Müller, RdA 1990, 322.
132 Greiner/Sittard
Tarifzustndigkeit
Rz. 205 Teil 2
Tarif- und Arbeitskampfrecht, in: Festschrift Kraft, 1998, 291; Lehmann, Tarifeinheitsgesetz – Die neue Unordnung in der gewillkürten Ordnung (Teil 1), BB 2015, 2229; Lembke, Die Aussetzung von Verfahren zur Prüfung der Tariffähigkeit einer Organisation, NZA 2008, 451; Mückl/ Koddenbrock, Gesetzliche Regelung der Tarifeinheit oder: Nach dem Streik ist vor dem Streik, GWR 2015, 6; Preis, Der Preis der Koalitionsfreiheit – Weshalb das Tarifeinheitsgesetz scheitern wird, FA 2014, 354; Ricken, Autonomie und tarifliche Rechtsetzung, 2006; Ricken, Neues zur Tarifzuständigkeit?, RdA 2007, 35; Wiedemann, Zur Tarifzuständigkeit, RdA 1975, 78.
I. Begriff der Tarifzuständigkeit 1. Definition Die Tarifzuständigkeit ist nach der ständigen Rechtsprechung des BAG die Fähigkeit 204 eines an sich tariffähigen Verbands, TVe für einen bestimmten Geltungsbereich abzuschließen1. Die Tarifzuständigkeit ist eine rechtliche Eigenschaft der Arbeitgeberoder Arbeitnehmervereinigung bzw. des einzelnen Arbeitgebers. Sie kommt bei Verbänden dem Verband als solchem und nicht dessen einzelnen Mitgliedern zu2. Mit der Tarifzuständigkeit besteht neben der Tariffähigkeit eine weitere Vorausset- 205 zung für das wirksame Zustandekommen eines TVs. Trotz der fehlenden ausdrücklichen Erwähnung im TVG ist sie als eigenständige Wirksamkeitsvoraussetzung von TVen nahezu allgemein anerkannt3. Durch die prozessuale Regelung in den §§ 2a Abs. 1 Nr. 4, 97 ArbGG hat die Tarifzuständigkeit zudem eine einfachgesetzliche Anerkennung erfahren. Anders als die Tariffähigkeit legen die Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften diese grds. durch ihre Satzung selbst und autonom fest. Die Tarifzuständigkeit eines tariffähigen Verbandes bestimmt den Geschäftsbereich, in dem der Verband TVe abschließen kann und stellt damit die äußerste Grenze für die Tarifnormsetzung eines Verbandes dar4. Die Tarifzuständigkeit begrenzt daher den Bereich, in dem eine TV-Partei Regelungsbefugnis beansprucht. Daraus folgt aber zugleich, dass durch diese Selbsteinschränkung auch der maximale Geltungsbereich eines TVs in räumlicher, fachlicher und persönlicher Hinsicht umschrieben wird, den der Verband abschließen kann.
1 St. Rspr., vgl. nur BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 ff. m.w.N. 2 BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 (1227). 3 BAG v. 19.12.1958 – 1 AZR 109/58, AP Nr. 3 zu § 2 TVG; BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 (1228); Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 164; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 39; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 180 f.; Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 2 TVG Rz. 211 f.; ausführlich mit historischer Darstellung Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 52, 60 f. m.w.N.; krit. Gamillscheg, S. 535 f.; a.A. Richardi, Anm. zu BAG v. 22.2.1957 – 1 AZR 426/56, AP Nr. 2 zu § 2 TVG Tarifzuständigkeit, der annimmt, dass die Tarifzuständigkeit dogmatisch ein Teil der Tariffähigkeit sei. 4 BAG v. 17.2.1970 – 1 ABR 14/69, AP Nr. 2 zu § 2 TVG; BAG v. 19.11.1985 – 1 ABR 37/83, NZA 1986, 480 (482); BAG v. 20.4.1988 – 4 AZR 646/87, AP Nr. 95 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG v. 22.11.1988 – 1 ABR 6/87, NZA 1989, 561 (562); BAG v. 24.7.1990 – 1 ABR 46/89, NZA 1991, 21 (22); BAG v. 12.11.1996 – 1 ABR 33/96, NZA 1997, 609 (611); BAG v. 10.2.2009 – 1 ABR 36/08, NZA 2009, 908 (911) m. Anm. Franzen, ZfA 2010, 723 (842); Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 164; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 38; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 177 f.; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 56.
Sittard
133
Teil 2 Rz. 206
Tarifvertragsparteien
2. Zweck 206 Der Zweck der Tarifzuständigkeit besteht im Kern in der Abgrenzung der Kompetenzbereiche verschiedener Verbände auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite1. Da der Staat sich mit Regelungen im Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen zurückhält, überlässt er die Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche der autonomen Regelungsbefugnis der TV-Parteien. Das Inkrafttreten des Tarifeinheitsgesetzes hat daran nichts geändert (vgl. Rz. 208a). Hinter dieser Zuständigkeitsautonomie steht die Erwartung, dass auf diese Weise ein funktionales Tarifvertragssystem ermöglicht wird und Kompetenzstreitigkeiten zwischen ebenbürtigen Organisationen vermieden werden2. Zugleich dient die Tarifzuständigkeit damit auch der Gewährleistung der Richtigkeitsgewähr von TVen3, da durch die Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche zumindest im Ansatz sichergestellt wird, dass die Koalitionen TVe jeweils nur für einen Bereich schließen, in dem sie besonders kompetent sind; aufgrund der weitgehenden Satzungsautonomie der Koalitionen wird dieses Ziel indes nur eingeschränkt zu erreichen sein. 207 Allerdings nimmt aufgrund des zuletzt stärker werdenden Koalitionspluralismus in der Bundesrepublik die Ordnungsfunktion der Tarifzuständigkeit ab, da – insbesondere auf Seiten der (konkurrierenden) Gewerkschaften – für immer mehr Zuständigkeitsbereiche überlappende Kompetenzen bestehen. Ursache dafür ist, dass es zunehmend mehr (und vor allem stärkere) Gewerkschaften außerhalb des DGB gibt, die – ganz bewusst – ihre Zuständigkeiten nicht mit anderen Gewerkschaften abstimmen, sondern als Konkurrenzgewerkschaften auftreten4. In diesem Bereich ist – insbesondere nach Ablauf der Übergangsregelung des § 13 Abs. 3 TVG – ein mittelbarer Einfluss der Regelungen des Tarifeinheitsgesetzes zugunsten der großen Gewerkschaften zu erwarten (vgl. Rz. 232b), wenn dieses nicht vom BVerfG für verfassungswidrig erklärt wird. Momentan sind aber gerade zwischen den Berufsgewerkschaften (Cockpit, GdL, Marburger Bund etc.) und den nach dem Industrieverbandsprinzip (vgl. Rz. 222 f.) organisierten Gewerkschaften überlappende Kompetenzbereiche beinahe zwingend. 208 Trotz der damit einhergehenden Probleme ist eine gesetzliche Regulierung der Tarifzuständigkeit rechtspolitisch nicht wünschenswert, überdies wäre sie verfassungsrechtlich vor dem Hintergrund der Koalitionsfreiheit wohl kaum zulässig. Würde der Staat die Tarifzuständigkeiten selbst regeln, griffe er elementar in die kollektive Koalitionsfreiheit der Verbände ein, da es gerade Kern des verfassungsrechtlich geschützten Freiheitsrechts des Art. 9 Abs. 3 GG ist, dass die Koalitionen selbst entscheiden können, für welchen Bereich sie zuständig sein wollen5. Aus dieser Erwägung folgt im Übrigen auch, dass keine Koalition Unterlassungs- oder Abwehransprüche gegen die Tarifzuständigkeit regelnde Satzungsstatuten anderer Koalitionen geltend machen kann. 208a Der im Rahmen des Tarifeinheitsgesetzes eingeführte § 4a TVG berührt dabei nicht die Möglichkeit der Gewerkschaften ihre Tarifzuständigkeiten autonom festzulegen. 1 Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 2 TVG Rz. 201; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 178 f.; Jacobs, Tarifeinheit, S. 123 f. 2 S. nur HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 40; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 58. 3 Ricken, RdA 2007, 35 (36 f.). 4 Eingehend Deinert, NZA 2009, 1176. 5 S. hierzu auch Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 165.
134 Sittard
Tarifzustndigkeit
Rz. 211 Teil 2
Die Norm will zwar innerhalb eines Betriebes die Geltung mehrere TVe verschiedener Gewerkschaften für eine Berufsgruppe vermeiden, knüpft dazu aber nicht bei der Tarifzuständigkeit an, sondern löst eine bestehende Tarifkollision auf. Der § 4a TVG kommt nur zur Anwendung, wenn die Gewerkschaften ihr Zuständigkeiten (bewusst oder unbewusst) nicht abstimmen1 und es deshalb zu kollidierenden TVen kommt. Würde das Gesetz bereits die Zuständigkeit der Gewerkschaft einschränken, wäre der von einer unzuständigen Gewerkschaft abgeschlossene TV unwirksam (vgl. Rz. 205, 233). Rechtsfolge des § 4a Abs. 2 TVG ist im Falle einer Tarifkollusion jedoch die Verdrängung des MinderheitsTVs2. Zu einem möglichen mittelbaren Einfluss des Gesetzes auf die Tarifzuständigkeit, vgl. Rz. 232b. 3. Ermittlung der Tarifzuständigkeit Für welche Branchen bzw. Arbeitnehmer die Tarifparteien zuständig sind, ist durch 209 Auslegung der Satzung zu ermitteln. Dabei wird auf den objektivierten Willen des Satzungsgebers und somit die allgemeinen Grundsätze der Gesetzesauslegung abgestellt3. Maßgeblich sind insbesondere der Wortlaut, der Sinn und Zweck, die Entstehungsgeschichte und der Gesamtzusammenhang der Satzung. Die Herangehensweise überzeugt vor dem Hintergrund der Normwirkung von TVen, die mit einer Auslegung am (subjektiveren) Maßstab von Willenserklärungen nicht vereinbar ist. Im Rahmen des Gesamtzusammenhangs ist es zulässig, auch satzungsmäßige Ver- 210 pflichtungen zu beachten, die die Koalition gegenüber Dritten (z.B. einem Dachverband) eingegangen ist. So ist es bspw. nach der BAG-Rechtsprechung geboten, bei der Auslegung einer Satzung einer DGB-angehörigen Gewerkschaft die DGB-Satzung in die Betrachtung einzubeziehen4. Dies betrifft insbesondere das (ungeschriebene) Prinzip „Ein Betrieb – eine Gewerkschaft“. Wenn allerdings erkennbar ist, dass die Gewerkschaft die Organisationsprinzipien des DGB (bewusst) nicht einhalten wollte, dann gilt der Wille des Satzungsgebers ohne Rücksicht auf die DGB-Satzung5. 4. Abgrenzung der Tarifzuständigkeit von der Tariffähigkeit Die Tarifzuständigkeit ist von der Tariffähigkeit abzugrenzen. Bei der Tariffähigkeit 211 handelt es sich – stark vereinfacht – um eine objektive Bewertung, ob ein Verband (oder auch ein einzelner Arbeitgeber, der jedoch gemäß § 2 Abs. 1 TVG stets tariffähig ist) in der Lage ist, TVe abzuschließen. Die Tarifzuständigkeit setzt einen Schritt später an und beantwortet nach der bejahten Frage nach der generellen Kompetenz zum Abschluss von TVen (Tariffähigkeit) die Frage, für welchen Bereich der jeweilige Ver-
1 Vgl. zu dieser Möglichkeit ausdrücklich, BT-Drucks. 18/4062, S. 9. 2 BT-Drucks. 18/4062, S. 13. 3 BAG v. 14.12.1999 – 1 ABR 74/98, NZA 2000, 949; BAG v. 27.9.2005 – 1 ABR 41/04, NZA 2006, 273 (277); BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 (1228); BAG v. 10.2.2009 – 1 ABR 36/08, NZA 2009, 908 (911) m. Anm. Franzen, ZfA 2010, 723 (842); BAG v. 17.4.2012 – 1 ABR 5/11, NZA 2012, 1104 (1108); BAG v. 11.6.2013 – 1 ABR 32/12, NZA 2013, 1363 (1366); zustimmend m.w.N. Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 2 TVG Rz. 223 ff. 4 BAG v. 27.9.2005 – 1 ABR 41/04, NZA 2006, 273; kritisch aber Ricken, RdA 2007, 35 (39 ff.). 5 Vertiefend Ricken, RdA 2007, 35 (40 ff.).
Sittard
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Teil 2 Rz. 212
Tarifvertragsparteien
band bzw. der betroffene Arbeitgeber TVe abschließen kann. Bei der Tarifzuständigkeit geht es also um die Frage nach dem Umfang des Geltungsbereiches der tariflichen Regelungsbefugnis1. Der Teil eines TVs, der die Tarifzuständigkeit als äußerste Grenze für die Tarifnormsetzung nicht beachtet und darüber hinausgeht, ist unwirksam2. Im Gegensatz zur Tariffähigkeit einer Partei, über die diese nicht selbst entscheiden kann, sondern die sich nach objektiven Merkmalen richtet (vgl. Rz. 45 ff.), bestimmt sich das Regelungsterrain der Tarifzuständigkeit allein durch die jeweilige Satzung.
II. Festlegung der Tarifzuständigkeit 1. Regelung durch Satzung bei Verbänden 212 Für die Regelung des Umfangs der Tarifzuständigkeit gewährt Art. 9 Abs. 3 GG den Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften Satzungsautonomie und damit die Befugnis zur unabhängigen Festlegung der Tarifzuständigkeit über die Verbandssatzung. Diese ist mithin verfassungsrechtlich geschützt3. Sie darf nicht fremdbestimmt werden und ist zwingend der Mitglieder- oder Vertreterversammlung vorbehalten4. Insbesondere durch das Tarifeinheitsgesetz findet kein Eingriff in die Tarifzuständigkeit statt (vgl. Rz. 208a). Wegen des Verbots der Fremdbestimmung ist auch eine dynamische Verweisung in einer Satzung hinsichtlich der Tarifzuständigkeit, bspw. auf den Geltungsbereich eines Mantel-TVs, unwirksam. Die Tarifzuständigkeit bemisst sich ausschließlich nach der statutarischen Festlegung. Allerdings schließt die Organisationsund Satzungsautonomie das Recht ein, den Zuständigkeitsbereich jederzeit neu zu bestimmen, zu begrenzen oder zu erweitern, wenn dies zweckmäßig erscheint5. Die Festlegung der Tarifzuständigkeit, ihre Grenzen und (eventuelle) Erweiterungen müssen dabei in der Satzung wegen der Normsetzungsbefugnis der TV-Parteien und der damit verbundenen Außenwirkung hinreichend deutlich bestimmt sein6. Dies schließt allerdings nicht aus, dass die Satzung Interpretationsspielraum bietet und z.B. Zuständigkeitsregelungen wie „[…] zuständig für Betriebe anverwandter Industriezweige […]“ enthält. Ebenfalls zulässig, und im Übrigen hilfreich, sind Regelbeispiele für Tätigkeitsmerkmale oder Berufsgruppen, an die die Zuständigkeit anknüpft, wobei diese aber nicht abschließend sein müssen. Wegen fehlender Bestimmtheit unzulässig ist hingegen eine Satzungsbestimmung, wonach eine Gewerkschaft für Unternehmen oder Branchen tarifzuständig ist, in denen sie eine „hinreichende Repräsentativität“ besitzt7. 1 Ähnlich ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 33. 2 BAG v. 19.11.1985 – 1 ABR 37/83, NZA 1986, 480 (481 f.); Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 177; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 44. 3 Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 165, 172; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 38; Thüsing/Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 82. 4 Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 229 ff.; MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 85; Ricken, RdA 2007, 35 (39 f.). 5 Vgl. BAG v. 12.12.1995 – 1 ABR 27/95, NZA 1996, 1042 (1043); BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613 (615); BAG v. 14.12.1999 – 1 ABR 74/98, NZA 2000, 949 (952). 6 BAG v. 19.11.1985 – 1 ABR 37/83, NZA 1986, 480 (482); BAG v. 10.2.2009 – 1 ABR 36/08, NZA 2009, 908 (911) m. Anm. Eberling, BB 2009, 2432; BAG v. 17.4.2012 – 1 ABR 5/11, NZA 2012, 1104 (1108 f.); BAG v. 11.6.2013 – 1 ABR 32/12, NZA 2013, 1363 (1366). 7 BAG v. 17.4.2012 – 1 ABR 5/11, NZA 2012, 1104.
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Tarifzustndigkeit
Rz. 215 Teil 2
Neben der Festlegung der Tarifzuständigkeit von Arbeitnehmervereinigungen durch 213 Satzung wird vertreten, dass sich diese auch aus Vereinsgewohnheitsrecht (sog. Observanz) ergeben kann; unabhängig von anderweitigen Satzungsbestimmungen könne sich die Änderung der Vereinsverfassung aus lang andauernder Übung ergeben1. Zwar gelte dies wegen § 71 Abs. 2 BGB nur für nicht-rechtsfähige Arbeitnehmervereinigungen, jedoch könnten sich diese, so z.B. die DGB-Gewerkschaften, bei der Begründung ihrer Tarifzuständigkeit auf eventuelle Oberservanztatbestände berufen. Diese Auffassung ist abzulehnen. Es wäre mit der Normsetzungskompetenz der TV-Parteien nicht vereinbar, den Zuständigkeitsbereich von Gewohnheitsrecht abhängig zu machen. Eine solche Annahme widerspricht auch den Bestimmtheitsanforderungen an die Satzung2. Bspw. müssen neu in einer Branche oder Region tätige Arbeitnehmer schon anhand der Satzung erkennen können, ob die ihnen entgegentretende (und ggf. einen Streik androhende) Gewerkschaft tarifzuständig ist. Dies schließt es allerdings nicht aus, Verpflichtungen der Koalition gegenüber einem Dachverband (z.B. dem DGB) bei der Auslegung zu berücksichtigen (vgl. Rz. 209). Keinesfalls erweitert das bloße Tätigwerden außerhalb des satzungsgemäßen Regelungswillens die Tarifzuständigkeit. Der tatsächliche Abschluss von TVen bietet somit keine Indizwirkung für den Inhalt der Satzung3. Die Übertragung der Regelungsbefugnis zur Festlegung der Tarifzuständigkeit auf ei- 214 nen Dachverband für seine Mitgliedsverbände ist unzulässig, da ansonsten die verfassungsrechtlich geschützte Koalitionszweckautonomie des Verbandes unterlaufen würde. Gleiches gilt, sofern die Bestimmung oder Veränderung der Tarifzuständigkeit unter einen Genehmigungsvorbehalt des Dachverbandes gestellt wird4. Das BAG vertritt in Hinblick auf einen Zustimmungsvorbehalt (eines Dachverbandes) aber eine andere Auffassung5. Eine solche Selbstbeschränkung der Satzungsautonomie sei zulässig, solange die eigene Willensbestimmung des Verbandes nicht vollständig zum Erliegen gebracht werde. Allerdings führe ein Verstoß gegen einen derartigen Zustimmungsvorbehalt im Außenverhältnis nicht notwendig zur Unwirksamkeit der entsprechenden Satzungsänderung des Verbandes6. 2. Regelung bei Spitzenorganisationen und Tarifgemeinschaften Hinsichtlich der Tarifzuständigkeit von Spitzenorganisationen und Tarifgemeinschaften ist zwischen beiden hinsichtlich der Frage der Tarifzuständigkeit bei Abschluss eines TVs zu unterscheiden: Handelt eine Spitzenorganisation bei Abschluss eines
1 Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 235, 108; MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 86; Thüsing/ Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 84, 221. 2 BAG v. 19.11.1985 – 1 ABR 37/83, NZA 1986, 480 (482); BAG v. 10.2.2009 – 1 ABR 36/08, NZA 2009, 908 (911) m. Anm. Eberling, BB 2009, 2432; ähnlich HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 44. 3 BAG v. 24.7.1990 – 1 ABR 46/89, NZA 1991, 21 (23); BAG v. 17.4.2012 – 1 ABR 1, NZA 2012, 1104 (1108); Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 165; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 235; Thüsing/ Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 83. 4 MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 87 ff.; Thüsing/Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 82; Ricken, RdA 2007, 35 (40); vgl. aber BAG v. 27.9.2005 – 1 ABR 41/04, NZA 2006, 273 (277 f.). 5 BAG v. 27.9.2005 – 1 ABR 41/04, NZA 2006, 273 (277 f.). 6 BAG v. 27.9.2005 – 1 ABR 41/04, NZA 2006, 273 (277 f.).
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Teil 2 Rz. 216
Tarifvertragsparteien
TVs in eigenem Namen (§ 2 Abs. 3 TVG), so kommt es auf ihre Tarifzuständigkeit an, die sich aus der Satzung der Spitzenorganisation ergeben muss. Dabei ist es aber unproblematisch möglich, dass die Tarifzuständigkeit der Spitzenorganisation gegenüber der der Mitgliedsverbände eingeschränkt ist1. Eine Erweiterung über die Tariffähigkeit der Mitgliedsverbände hinaus ist jedoch nicht zulässig. Handelt die Spitzenorganisation aber im Namen ihrer Mitglieder (§ 2 Abs. 2 TVG), so ist die Tarifzuständigkeit der Mitgliedsverbände maßgeblich. 216 Für Tarifgemeinschaften scheidet eine eigene Tarifzuständigkeit bereits aufgrund der mangelnden Tariffähigkeit aus. Ihre tarifliche Regelungsmacht statuiert sich nur nach der Tarifzuständigkeit ihrer Mitglieder oder der durch sie vertretenen Verbände bzw. Arbeitgeber, welche nach der Rspr. bereits zwingende Voraussetzung zur wirksamen Bildung einer Tarifgemeinschaft ist2. Daraus folgt, dass sich die Tarifzuständigkeit einer Tarifgemeinschaft nach der Tarifzuständigkeit ihrer Mitglieder richtet. Deshalb kann über die Bildung einer Tarifgemeinschaft keine Ausweitung der Tarifzuständigkeit auf Mitglieder der Tarifgemeinschaft erfolgen, die kraft eigener Satzung keine Organisationszuständigkeit besitzen. Die Mitgliedschaft in einer Tarifgemeinschaft hat keine Auswirkungen auf die eigene Tariffähigkeit und -zuständigkeit. Deshalb kann das Mitglied der Tarifgemeinschaft mit einer Koalition einen TV abschließen, der dann dem TV der Tarifgemeinschaft als speziellere Regelung vorgehen kann3. 3. Regelung bei einzelnen Arbeitgebern und Gewerkschaften 217 Dem einzelnen Arbeitgeber, der gemäß § 2 Abs. 1 TVG tariffähig ist, kommen bei der Bestimmung der Tarifzuständigkeit allenfalls geringfügige Gestaltungsmöglichkeiten zu. Der jeweilige Arbeitgeber, d.h. der Rechtsträger, ist zwingend für das Unternehmen bzw. seine Betriebe tarifzuständig; diese Zuständigkeit bestimmt sich grundsätzlich (ebenso in Mischbetrieben) im Rahmen von FirmenTVen über den überwiegenden Gegenstand des Unternehmens, also die Tätigkeit, die dem Unternehmen das Gepräge verleiht4. Die dem Arbeitgeber gewährte Tariffähigkeit würde leerlaufen, wenn sich der Arbeitgeber durch eine engere Bestimmung seiner Tarifzuständigkeit TVen bzw. Arbeitskämpfen entziehen könnte. Die neuere Rechtsprechung des BAG lehnt darüber hinaus die selbstständige Festlegung einer einzelnen Tarifzuständigkeit eines individuellen Arbeitgebers anhand von dessen primärer Tätigkeitsausrichtung ab, da dieser für alle seine Betriebe tarifzuständig sei und damit auch gegen seinen Willen gezwungen werden könne, für jeden seiner Betriebe unterschiedliche TVe abzuschließen5. An dieser Rechtsprechung bestehen Zweifel: Der Arbeitgeber hat ein
1 Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 314. 2 BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613 (617 f.); BAG v. 27.9.2005 – 1 ABR 41/04, NZA 2006, 273 (280); Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 417; Ricken, Tarifliche Rechtsetzung, S. 292; Ricken, RdA 2007, 35 (43); a.A. Blank, FS 50 Jahre BAG, S. 597 (610). 3 MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 73. 4 HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 43; Gamillscheg, § 14 II 2d; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 68; so früher auch das BAG: BAG v. 22.11.1988 – 1 ABR 6/87, NZA 1989, 561 (562). 5 BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613 (618); differenzierend und auf den Betriebszweck abstellend Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 168; Däubler, Tarifvertragsrecht, S. 93 f.; Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 2 TVG Rz. 219.
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Tarifzustndigkeit
Rz. 220 Teil 2
verfassungsrechtlich geschütztes Interesse daran, sein Unternehmen einer einheitlichen Tarifordnung zu unterwerfen. Hinzu kommt, dass zwar die Gewerkschaftsseite bei Festlegung der Tarifzuständigkeit völlig frei ist, der einzelne Arbeitgeber aber überhaupt keine Gestaltungsmöglichkeit hat1. Auf Gewerkschaftsseite ist grundsätzlich diejenige Gewerkschaft tarifzuständig, die 218 in der Branche tätig ist, der das Unternehmen seinem Gesamtgepräge nach angehört2. Auf Seiten der Gewerkschaften gestattet die Vereinsautonomie wiederum, die Tarifzuständigkeit betriebs- oder berufsbezogen auszugestalten: Eine Gewerkschaft kann bei einer entsprechenden Regelung in der Satzung einen FirmenTV abschließen, ohne für das gesamte Unternehmen oder sein wirtschaftliches Gesamt-/Hauptgepräge zuständig zu sein – der TV erfasst dann aber nur die von der Zuständigkeit gedeckten Bereiche (z.B. Betriebe) des Unternehmens3. Ebenso ist es möglich, TVe für einzelne Berufsgruppen unabhängig vom Gesamtgepräge des Unternehmens abzuschließen. Keine Bedeutung für die Tarifzuständigkeit bei einem FirmenTV hat die gleichzeitige Mitgliedschaft des Arbeitgebers in einem nicht tarifzuständigen Arbeitgeberverband bzw. die Mitgliedschaft der Arbeitnehmer in einer unzuständigen Gewerkschaft4.
III. Inhaltliche Freiheiten und Begrenzungen der Zuständigkeitsregelung in der Verbandssatzung 1. Räumliche Zuständigkeit Die räumliche Festlegung bzw. die Begrenzung oder Erweiterung der eigenen Tarif- 219 zuständigkeit steht im Ermessen der Verbände. Es kommt nicht darauf an, ob der Verband in der jeweiligen Region stark vertreten oder repräsentativ ist. Bei Arbeitgeberverbänden muss die Satzung regeln, ob Anknüpfungspunkt für den räumlichen Geltungsbereich ihrer Mitglieder deren Unternehmenssitz oder der konkrete Ort einer ihrer Betriebsstätten ist. Auf Gewerkschaftsseite ist der Tarifbereich in der Regel das gesamte Bundesgebiet. Bei einer hohen geographischen Konzentration einzelner Unternehmen aus einer bestimmten Branche kann es jedoch vorkommen, dass sich lokal begrenzte Arbeitnehmervertretungen als zuständig konstituieren. Grundsätzlich dürfte es außerdem zulässig sein, dass eine Koalition ihre Tarifzustän- 220 digkeit auch auf Gebiete außerhalb der Bundesrepublik ausdehnt. Es ist deshalb anerkannt, dass auch Betriebsstätten im Ausland von der Tarifzuständigkeit umfasst sein können5, hierfür bedarf es jedoch einer ausdrücklichen Regelung in der Satzung6. Davon zu trennen ist allerdings die Frage, ob die TVe dieser Koalition im Ausland dann auch tatsächlich Anwendung finden und normative Wirkung entfalten. Dies beurteilt sich nach dem internationalen Privatrecht (vgl. unten Teil 17).
1 HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 43; vgl. auch Henssler, ZfA 1998, 517 (523). 2 BAG v. 27.11.1964 – 1 ABR 13/63, AP Nr. 1 zu § 2 TVG Tarifzuständigkeit; Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 168; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 68. 3 BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613 (618). 4 BAG v. 24.7.1990 – 1 ABR 46/89, NZA 1991, 21 (22). 5 BAG v. 19.11.1985 – 1 ABR 37/83, NZA 1986, 480 (483). 6 Vgl. Bsp. aus Satzungen bei Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 202.
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Teil 2 Rz. 221
Tarifvertragsparteien
2. Fachliche Zuständigkeit 221 Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände können ihre Tarifzuständigkeit in fachlicher Hinsicht autonom festlegen. Dabei stellt weder der Zusammenschluss nach dem Industrieverbandsprinzip noch nach dem Berufsverbandsprinzip eine zwingende Bestimmung der Zuständigkeit dar1. Vielmehr muss bzgl. der Tarifzuständigkeit keines dieser beiden Prinzipien eingehalten werden – es existiert kein „Koalitionstypenzwang“2. So ist das Industrieverbandsprinzip, das mit dem Grundsatz „Ein Betrieb – eine Gewerkschaft“ einhergeht, nur ein Organisationsgrundsatz des DGB, dem richtigerweise allein interne Bedeutung zukommt3. Insbesondere existiert im geltenden Tarifrecht kein Verbot der Doppelzuständigkeit von Koalitionen für bestimmte Branchen/Unternehmen oder Betriebe4. Es ist gerade Bestandteil der Koalitionsfreiheit, die Tarifzuständigkeit auch in die Bereiche anderer Koalitionen auszudehnen und somit mit diesen in Konkurrenz zu treten. Soweit es durch sich überschneidende Tarifzuständigkeiten zu sich überschneidenden TVen kommt, finden die Prinzipien der Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität (vgl. Teil 9 Rz. 92 ff., Rz. 101 ff.) Anwendung. Für kollidierende TVe innerhalb eines Betriebes, die nach dem 10.7.2015 abgeschlossen wurden, gilt nun § 4a Abs. 2 TVG (vgl. Teil 9 Rz. 109 ff.). Da die Grundsätze des Industrie- und Berufsverbandsprinzips insbesondere die Gewerkschaftslandschaft in der Bundesrepublik bestimmen, werden sie – obwohl sie keinen rechtlich zwingenden Charakter haben – im Folgenden dargestellt: a) Industrieverbandsprinzip 222 Das Industrieverbandsprinzip findet sich insbesondere in den Satzungen der DGB-Gewerkschaften und der christlichen Gewerkschaften. Dieses Prinzip knüpft an alle Unternehmen oder Betriebe in einem bestimmten Wirtschaftszweig (Branche) an. Es kommt dann nicht darauf an, ob einzelne Arbeitnehmer in einem solchen Unternehmen/Betrieb branchenfremde Tätigkeiten wahrnehmen (Bsp: Kantinenmitarbeiter in der Automobilindustrie). 223 Knüpft die Satzung für den fachlichen Geltungsbereich der Tarifzuständigkeit an die Branchenzugehörigkeit des Unternehmens an, so ist – vorbehaltlich einer anderweitigen Regelung in der Satzung – derjenige Verband zuständig, dessen satzungsmäßiger Organisationsbereich der Tätigkeit entspricht, die dem Unternehmen seinen maßgeblichen Gegenstand gibt5. Maßgebend ist hierbei ebenfalls das Gesamtgepräge des Unternehmens und nicht dasjenige einzelner Betriebe. Alternativ oder kumulativ kann aber auch an den Betrieb oder selbständige Betriebsabteilungen angeknüpft werden. 224 Bei Mischunternehmen und -betrieben ist maßgebliche Eigenschaft für die Zuständigkeitsbestimmung, welches Merkmal dem Unternehmen/dem Betrieb/der selbständigen Betriebsabteilung sein Gepräge verleiht, sofern nicht bereits durch die Sat-
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Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 166. BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613 (615). BAG v. 19.11.1985 – 1 ABR 37/83, NZA 1986, 480 ff. BAG v. 27.9.2005 – 1 ABR 41/04, NZA 2006, 273 (279). Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 168; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 41; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 56.
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Tarifzustndigkeit
Rz. 225 Teil 2
zung der Koalition eine explizite Regelung über die Branchenzuordnung für ein konkretes Unternehmen insgesamt oder den betroffenen Betrieb(-steil) getroffen wurde; Indizwirkung haben dann z.B. der arbeitstechnische Zweck, die Anzahl an entsprechenden Facharbeitern eines speziellen Bereichs oder der proportionale Anteil der Sparte am Umsatz und Erfolg des Gesamtunternehmens1. Zudem bietet es sich an, wie auch bei der Frage, ob ein Betrieb in den Geltungsbereich eines TVs fällt, auf die überwiegende Arbeitszeit der Arbeitnehmer im Unternehmen bzw. im Betrieb abzustellen2. Die Tarifzuständigkeit kann durch Satzung auf eine bestimmte Branche oder einen 225 Teilbereich eines Wirtschaftssektors beschränkt werden; andersherum kann die Zuständigkeitserklärung ebenso mehrere Wirtschaftssektoren umfassen. Branchenfremde Betriebe können durch die Satzung von der Zuständigkeit ausgenommen werden3. Ferner können sich Arbeitgeberverbände wie Gewerkschaften innerhalb derselben Branche auf bestimmte Unternehmen oder Betriebe beschränken, also z.B. nur einzelne Betriebseinheiten von der Tarifzuständigkeit erfassen lassen4. Einer Koalition steht aber auf der anderen Seite das Recht zu, ihre Tarifzuständigkeit mit der Branchenzugehörigkeit eines einzelnen Betriebes zu verknüpfen, unabhängig davon, welchem Wirtschaftszweig das Unternehmen an sich angehört5. Ebenso dürfen auch (auf einen neuen Rechtsträger) ausgegliederte Unternehmensteile und (branchenfremde) Nebenbetriebe von der Tarifzuständigkeit erfasst werden. Damit können Gewerkschaften erreichen, auch für Unternehmen/Betriebe zuständig zu sein, obwohl das konkrete Unternehmen/der konkrete Betrieb branchenmäßig eigentlich außerhalb der Tarifzuständigkeit liegt6. Praktische Relevanz erlangt dies in Ausgliederungsfällen, in denen arbeitgeberseitig versucht wird, durch Gründung einer (neuen) Tochtergesellschaft mit eigenem Tätigkeitsschwerpunkt außerhalb der klassischen Tarifzuständigkeit der Gewerkschaft aus dem „Machtbereich“ der Gewerkschaft „herauszuwachsen“. Darauf kann die Gewerkschaft grundsätzlich durch eine entsprechende Ausweitung ihrer Tarifzuständigkeit reagieren. Zudem kann durch Änderung des Unternehmenszwecks oder Verlegung eines Betriebes die Tarifzuständigkeit enden7. 1 Sog. „Geprägetheorie“, vgl. BAG v. 22.11.1988 – 1 ABR 6/87, NZA 1989, 561 (562); BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613 (617); in den Kriterien differenzierend Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 210; Thüsing/Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 224; Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 2 TVG Rz. 218. 2 BAG v. 12.12.2007 – 10 AZR 995/06, AP Nr. 299 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau m. Anm. Sittard, RdA 2009, 259; vgl. zur Bestimmung des betrieblichen Geltungsbereichs von TVen außerdem BAG v. 27.11.1963 – 4 AZR 486/62, AP Nr. 3 zu § 1 Tarifverträge: Bau; BAG v. 17.2.1971 – 4 AZR 62/70, AP Nr. 8 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG v. 19.7.2000 – 10 AZR 918/98, AP Nr. 232 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG v. 25.1.2005 – 9 AZR 258/04, AP Nr. 20 zu § 1 AEntG; BAG v. 23.2.2005 – 10 AZR 382/04, AP Nr. 270 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; ebenso HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 17 f.; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 150. 3 BAG v. 19.11.1985 – 1 ABR 37/83, NZA 1986, 480 (483); BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613 (615); Thüsing/Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 224. 4 BAG v. 20.4.1988 – 4 AZR 646/87, AP Nr. 95 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau. 5 BAG v. 19.11.1985 – 1 ABR 37/83, NZA 1986, 480 (483); BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613 (618); Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 212; Thüsing/Braun/Emmert, 2. Kap. Rz. 224. 6 Vgl. dazu ausführlich Ricken, RdA 2007, 35 ff. 7 Vgl. BAG v. 22.11.1988 – 1 ABR 6/87, NZA 1989, 561 (563); Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 267.
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Teil 2 Rz. 226
Tarifvertragsparteien
226 Grenze der Satzungsautonomie ist sowohl bezüglich der Ausgrenzung bestimmter Unternehmen/Betriebe als auch bezüglich deren Einbeziehung das Willkürverbot1. Liegt mithin ein sachlicher Grund für die Differenzierung vor, ist gegen die Satzungsgestaltung nichts einzuwenden. Das BAG hat eine Grenze dort gezogen, wo die Satzungsgestaltung in vorsätzlicher und sittenwidriger Schädigungsabsicht (§ 826 BGB) vollzogen wird2. b) Berufsverbandsprinzip 227 Das Berufsverbandsprinzip, das insbesondere bei „Spezialistengewerkschaften“ (Vereinigung Cockpit für Piloten, Gewerkschaft der Lokomotivführer (GdL) für Lokomotivführer, Marburger Bund für Ärzte, etc.) anzutreffen ist, stellt auf die Zugehörigkeit der Arbeitnehmer zu einer Berufsgruppe ab. Derart organisierte Gewerkschaften wollen nur für diese Gruppe von Arbeitnehmern in einem Unternehmen TVe abschließen. Konsequenz dessen ist natürlich, dass die Solidarität der Arbeitnehmer innerhalb des Unternehmens leidet, weil Berufsgewerkschaften regelmäßig (nur) für ihre Klientel „das Beste herausholen“ wollen. Auch die Unternehmen werden durch die dadurch ggf. eintretende Tarifpluralität im Unternehmen/Betrieb vor das Problem gestellt, u.U. mehrere TVe anwenden zu müssen. Daran ändert im Übrigen auch das Tarifeinheitsgesetz nichts, solange die verschiedenen Gewerkschaften verschiedenen Arbeitnehmergruppen vertreten und es insofern nicht zu einer Tarifkollision kommt. 3. Sachliche Zuständigkeit 228 Der sachliche Geltungsbereich der Zuständigkeitserklärung muss die Regelung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen i.S.v. Art. 9 Abs. 3 GG umfassen. Nach herrschender Auffassung dürfen einzelne Regelungsbereiche, die nach allgemeiner Ansicht Gegenstand der Tarifautonomie sind (z.B. vermögenswirksame Leistungen), nicht von der satzungsmäßigen Zuständigkeit ausgenommen werden, da Verbände ansonsten in der Folge TV-Verhandlungen und Arbeitskämpfe über bestimmte Bereiche mangels erforderlicher Tarifzuständigkeit verhindern könnten3. Vor dem gleichen Hintergrund soll die Satzung die tarifliche Zuständigkeit nicht auf bestimmte Gegner reduzieren oder TV-Verhandlungen und Vertragsabschlüsse mit gegnerischen Verbänden ausschließen dürfen, sofern diese ihrerseits tariffähig und tarifzuständig sind. Da mit der Einschränkung der Satzungsautonomie ein Eingriff der verfassungsrechtlich gewährten Koalitionsfreiheit verbunden ist, stellt sich die Frage, ob diese Beschränkung der Satzungsautonomie aus Gründen der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie tatsächlich zwingend erforderlich ist. Denn die Begrenzung der eigenen Tarifzuständigkeit schränkt die „gegnerische“ Koalition nicht erheblich in ihren Kompetenzen ein. Ist ein Verband für bestimmte Regelungsmaterien nicht tarifzuständig, so entfalten dessen TVe insoweit auch keine Friedenspflicht. So wäre es bspw. einer Gewerkschaft, die einem Arbeitgeberverband mit eingegrenzter Tarifzuständigkeit gegenüber steht, uneingeschränkt möglich, auch gegenüber Verbandsmitgliedern dieses Arbeitgeberverbandes FirmenTVe zu den mit dem Arbeitgeberverband nicht regelbaren Arbeitsbedingungen zu erstreiken. 1 Henssler, ZfA 1998, 517 (529). 2 BAG v. 19.11.1985 – 1 ABR 37/83, NZA 1986, 480 ff. 3 HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 45; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 81 f.
142 Sittard
Tarifzustndigkeit
Rz. 232 Teil 2
4. Personelle Zuständigkeit a) In personeller Hinsicht muss die Tarifzuständigkeit mit den tatsächlich im sat- 229 zungsgemäßen Wirtschaftszweig arbeitenden Mitgliedern korrespondieren1. Von der h.M. wird verlangt, dass die Koalition in der Branche oder Berufsgruppe zumindest in geringer Zahl durch Mitglieder vertreten ist; fehlt es in einem Branchenzweig ausnahmslos an derartigen Mitarbeitern, bestehe keine Zuständigkeit des Verbandes für diesen Zweig2. Diese Voraussetzung darf jedoch nicht überspannt werden, weil Koalitionen ansonsten die „Expansion“ auf neue Branchen und Berufsgruppen unverhältnismäßig erschwert werden würde. Durch die grundsätzliche Freiheit bei der Festlegung ihrer Zuständigkeit können die Verbände ihre Tarifzuständigkeit auch für Branchen und Regionen beanspruchen, in denen sie (bislang) nicht stark vertreten oder gar repräsentativ sind. Die Koalitionen dürfen demnach nicht gezwungen sein, ihre Tarifzuständigkeit nach ihrer Mitgliederstärke ausrichten zu müssen. Zulässig ist – wie oben bereits geschildert (vgl. Rz. 227) – die Begrenzung der Tarif- 230 zuständigkeit auf bestimmte Arbeitnehmer einer Branche, z.B. Piloten in der Luftfahrt (Berufsverbandsprinzip). Stellt eine Satzung für die Luftfahrtbranche bspw. nur auf Piloten ab, fehlt es an der Tarifzuständigkeit für Flugbegleiter, obwohl auch diese in der gleichen Branche tätig sind. Die personelle Tarifzuständigkeit kann jedoch immer nur im Hinblick auf die eigenen Mitglieder, nicht bezüglich derer der Gegenseite festgelegt werden3. b) Eine Begrenzung der Regelungsmöglichkeit der personellen Zuständigkeit ergibt 231 sich nach der Rechtsprechung des BAG aus § 3 Abs. 1 und 2 TVG, die vor allem bei der sog. OT-Mitgliedschaft (vgl. Rz. 148 ff.) relevant wird: Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände können ihre Tarifzuständigkeit nicht allein auf ihre (Voll-)Mitglieder beschränken. Die Tarifzuständigkeit muss vielmehr so abstrakt definiert werden, dass diese nicht von der Entscheidung der Mitglieder über einen jeweiligen Ein- oder Austritt aus dem Verband abhängig ist4. Durch eine Satzungsbestimmung, nach welcher der Verband ausschließlich für seine jeweiligen Mitglieder tarifzuständig wäre, würde er seine Tarifzuständigkeit nicht unmittelbar selbst regeln, sondern letztlich von einer im Willen der aktuellen oder potentiellen Mitglieder stehenden „Potestativbedingung“ abhängig machen. Umfang und Reichweite der Tarifzuständigkeit des Verbands wären damit nicht festgelegt, sondern änderten sich mit jeder Veränderung des Mitgliederbestands5. Eine dahingehende Satzungsbestimmung gefährdet nach der Rechtsprechung des BAG die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie und ist mit §§ 3 Abs. 3, 5 Abs. 4 TVG und § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG inkompatibel. Unabhängig davon besteht jedoch für Verbände die Möglichkeit, durch Satzungs- 232 bestimmungen OT-Mitgliedschaftsformen zu schaffen, wonach Verbandsmitglieder der Tarifbindung nach § 3 Abs. 1 TVG nicht unterliegen. Nach richtiger und vom 1 HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 44; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 77; Wiedemann, RdA 1975, 78. 2 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 77. 3 Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 190. 4 BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 (1228 f.); HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 41, 44. 5 BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 (1228 f.); vgl. auch Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 2 TVG Rz. 222.
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Teil 2 Rz. 232a
Tarifvertragsparteien
BAG bestätigter Auffassung knüpft die OT-Mitgliedschaft dabei aber nicht an die Tarifzuständigkeit des Verbandes an, sondern betrifft die Tarifgebundenheit der Verbandsmitglieder: Die Herausnahme der OT-Mitglieder aus der Tarifwirkung über eine entsprechende Beschränkung der Tarifzuständigkeit würde ansonsten notwendigerweise dazu führen, dass die OT-Mitglieder aus dem persönlichen Geltungsbereich der von ihrem Tarifverband abgeschlossenen TVe herausfallen, weil die Tarifzuständigkeit über den den Tarifparteien zur Normierung offen stehenden Geltungsbereich bestimmt1. Praktische Konsequenzen hätte dies u.a. bei der Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, wo nur die fehlende Tarifbindung, nicht auch die fehlende Tarifzuständigkeit durch den staatlichen Erstreckungsakt kompensiert wird, sowie für den Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG. 232a c) Für den Abschluss von betriebsverfassungsrechtlichen StrukturTVen nach § 3 Abs. 1 Nr. 1–3 BetrVG erfordert der betriebsübergreifende Geltungsanspruch, dass die Tarifzuständigkeit der Gewerkschaft sich auf alle Beschäftigten des Betriebes erstreckt2. Das BAG begründet dies mit § 3 Abs. 2 TVG, welcher zwar unabhängig von der Organisation der Arbeitnehmer, die betriebsbezogene Geltung von betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Normen anordne, allerdings keine Erweiterung der Tarifzuständigkeit der abschließenden Gewerkschaft darstelle3. Die Gegenauffassung argumentiert, dass auch Gewerkschaften, die nicht alle Arbeitnehmer als Mitglieder haben bündeln können, ein berechtigtes Interesse an der Mitgestaltung von Normen i.S.d. § 3 BetrVG haben4. 5. Einfluss des Tarifeinheitsgesetzes auf die Tarifzuständigkeit 232b Vielfach wird befürchtet, dass die durch das Tarifeinheitsgesetz in § 4a TVG gesetzlich normierte Tarifeinheit und das dort verankerte Mehrheitserfordernis gerade kleinere Gewerkschaften dazu veranlassen werden, ihre Zuständigkeiten auszudehnen und neue Mitglieder zu werben5. Wendet man den Blick von den großen DGB-Gewerkschaften hin zu den Berufs- und Spartengewerkschaften, so erscheint diese Befürchtung keineswegs in jedem Bereich zwingend. Kleinere Gewerkschaften haben zum einen deutlich weniger Mitglieder und vertreten zum anderen auch speziellere Berufsgruppen (Ärzte, Piloten, Zugführer usw.), die im Gegensatz zu allen anderen Berufsgruppen im Betrieb regelmäßig in der Minderheit sein werden. Allein mit der Ausdehnung der Tarifzuständigkeit auf weitere Berufsgruppen ist diesen Gewerkschaften meist nicht geholfen. Bevor es zu einer aggressiven Ausdehnung der Zuständigkeitsbereiche kommt, werden sie jedenfalls zum Teil versuchen, kollidierende TVe durch eine Abstimmung der Zuständigkeiten zu vermeiden. Zu befürchten 1 BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 (1228, 1230); im Ansatz bereits BAG v. 22.3.2005 – 1 ABR 64/03, NZA 2006, 383 (386); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 5 f.; a.A. noch BAG v. 23.10.1996 – 4 AZR 409/95, NZA 1997, 383 (384); BAG v. 23.2.2005 – 4 AZR 186/04, AP Nr. 42 zu § 4 TVG Nachwirkung; Deinert, RdA 2007, 83 (85); krit. auch Buchner, NZA 2006, 1377 (1379); zum Streitstand insgesamt Höpfner, ZfA 2009, 541 (545 f.). 2 BAG v. 14.1.2014 – 1 ABR 66/12, NZA 2014, 910; zuvor bereits BAG v. 29.7.2009 – 7 ABR 27/08, NZA 2009, 1424 (1427). 3 BAG v. 14.1.2014 – 1 ABR 66/12, NZA 2014, 910 (914). 4 Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 188. 5 Preis, FA 2014, 354 (356); Mückl/Koddenbrock, GWR 2015, 6 (8); Greiner, NZA 2015, 769 (778); Greiner, RdA 2015, 36 (43); Lehmann, BB 2015, 2229 (2233).
144 Sittard
Tarifzustndigkeit
Rz. 233 Teil 2
bleibt allerdings, dass die mitgliederstärkeren DGB-Gewerkschaften zu einer solchen Abstimmung der Zuständigkeiten nur eingeschränkt bereit sein werden. Sie haben als Mehrheitsgewerkschaft eine bessere Verhandlungsbasis, da ihr TV im Kollisionsfall nach § 4a Abs. 2 TVG regelmäßig vorgehen würde1. Nur wenn eine Zuständigkeitsabstimmung nicht gelingt, werden die Minderheitsgewerkschaften versuchen Mitglieder zu werben und ihre Zuständigkeiten zu erweitern, zweifelsohne werden damit auch Arbeitskämpfe zu befürchten sein. Ebenfalls denkbar wären Zusammenschlüsse von Gewerkschaften unter Bündelung ihrer Zuständigkeiten, um so dem Mehrheitserfordernis gerecht zu werden. Wie sich die gesetzlichen Neuregelungen tatsächlich auf die Tarifzuständigkeiten der Gewerkschaften auswirken, bleibt abzuwarten und wird von den Gegebenheiten und dem Organisationsgrad im jeweiligen Betrieb abhängen. Erste Reaktionen der Gewerkschaften auf die gesetzlich geregelte Tarifeinheit zeigen 232c sich – neben den zahlreichen erhobenen Verfassungsbeschwerden – dabei vor allem im Bahn- und Luftverkehr. Während sich Bahn und GDL am 30.6.2015 in ihrem TV zur Regelung von Grundsatzfragen darauf geeinigt haben, dass der § 4a TVG bis zum Ablauf dieses TVs keine Anwendung finden soll2 (vgl. Teil 5 (20)), gehen die Berufsgewerkschaften im Luftverkehr aggressiver vor. So wurde im September 2015 die Industriegewerkschaft Luftverkehr (IGL) gegründet3. Neben der Unabhängigen Flugbegleiter Organisation (UFO) gehören der Dachorganisation noch weitere kleinere Gewerkschaften an. Durch diesen Zusammenschluss will die Gewerkschaft mitgliederstärker werden und ihre Zuständigkeiten ganz bewusst auf das bislang überwiegend von Ver.di vertretene Bodenpersonal ausdehnen4.
IV. Tarifzuständigkeit als Wirksamkeitsvoraussetzung des Tarifvertrages 1. Korrespondierende Tarifzuständigkeit Das wirksame Zustandekommen eines TVs bedarf (neben der Tariffähigkeit beider 233 TV-Parteien) der Tarifzuständigkeit, wobei diese in doppelter Hinsicht gegeben sein muss. Erforderlich ist nämlich die beiderseitige Tarifzuständigkeit für die Regelungsgegenstände des zu vereinbarenden TVs bei seinem Abschluss5. Die Tarifzuständigkeiten beider TV-Parteien müssen für die Wirksamkeit des normativen Teils des TVs miteinander korrespondieren, d.h. der Geltungsbereich des TVs ist auf die Bereiche zu beschränken, für die sich beide Seiten zuständig erklären. Nicht erforderlich ist hingegen eine gänzliche Deckungsgleichheit der beiderseitigen Tarifzuständigkeiten, beide Vertragsparteien müssen lediglich eine gemeinsame Zuständigkeit für den an-
1 Zu dieser Befürchtung auch Greiner, NZA 2015, 770. 2 Tarifvertrag zur Regelung von Grundsatzfragen, Abschnitt II. Nr. 1, abrufbar unter: http:// uploads.gdl.de/Service/Download-1436456477.pdf. 3 Vgl. Pressemitteilung der IGL: http://www.igl.aero/assets/pm-igl.pdf (zuletzt abgerufen am 9.12.2015). 4 Vgl. Pressemitteilung der IGL, abrufbar unter: http://www.igl.aero/ (zuletzt abgerufen am 9.12.2015). 5 BAG v. 19.12.1958 – 1 AZR 109/58, AP Nr. 3 zu § 2 TVG; BAG v. 27.11.1964 – 1 ABR 13/63, AP Nr. 1 zu § 2 TVG Tarifzuständigkeit; BAG v. 22.11.1988 – 1 ABR 6/87, NZA 1989, 561 (562); BAG v. 24.7.1990 – 1 ABR 46/89, NZA 1991, 21 (22); Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 172.
Sittard
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Teil 2 Rz. 234
Tarifvertragsparteien
gestrebten Geltungsbereich des TVs haben1. Weichen die Tarifzuständigkeiten voneinander ab, kann der TV im Umkehrschluss nur im Regelungsbereich der gemeinsamen Tarifzuständigkeit gelten2. 234 Hinsichtlich des schuldrechtlichen Teils eines TVs sprechen gute Argumente dafür, dass dieser trotz fehlender korrespondierender Tarifzuständigkeit wirksam ist3. Denn der schuldrechtliche Teil begründet keine normative Außenwirkung, so dass es des besonderen Erfordernisses der Tarifzuständigkeit nicht bedarf. 2. Fehlen der korrespondierenden Tarifzuständigkeit a) Anfängliches Fehlen der Tarifzuständigkeit 235 Fehlt die Tarifzuständigkeit bei Abschluss des TVs vollständig oder teilweise, so ist der normative Teil des TVs insoweit wegen des Fehlens einer Wirksamkeitsvoraussetzung rechtsunwirksam4. Eine nur teilweise fehlende beiderseitige Tarifzuständigkeit führt aber nicht zur Gesamtnichtigkeit des TVs. 236 Eine nachträgliche Satzungsänderung kann die fehlende Tarifzuständigkeit einer TVPartei bei Vertragsschluss nicht rückwirkend heilen5. Ebenso erlangt der TV nach wohl herrschender Meinung keine Wirksamkeit durch die beiderseitige Gutgläubigkeit der TV-Parteien bezogen auf ihre Tarifzuständigkeit bei Vertragsschluss6. Dieser Auffassung ist zuzustimmen, denn im Bereich der Normsetzung kann die Gutgläubigkeit bezüglich der Normsetzungskompetenz die fehlende Rechtsetzungsmacht nicht mit Wirkung für Dritte herstellen. Entsprechend ist von der Teilnichtigkeit des TVs für den Fall auszugehen, dass sich die gemeinsame Zuständigkeit beider TV-Parteien nur auf einen Teil des Geltungsbereichs des TVs erstreckt. b) Nachträglicher Wegfall der Tarifzuständigkeit 237 Sofern die Tarifzuständigkeit nachträglich wegfällt, der TV aber bereits angewandt wurde und gleichsam keine Übergangsregelung in der Satzung des Verbandes getroffen wurde, wird der TV nach herrschender Meinung nicht automatisch unwirksam. Hauptargument dieser Auffassung ist, dass ein Verband ansonsten die Wirksamkeit eines TVs durch bloße Satzungsänderung einseitig beenden könnte und die negativen Folgen des tariflosen Zustands beim ersatzlosen Wegfall der TV-Wirkung die betroffe-
1 Vgl. BAG v. 19.12.1958 – 1 AZR 109/58, AP Nr. 3 zu § 2 TVG; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 39; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 180; Konzen, FS Kraft, S. 291 (292). 2 Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 180; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 59. 3 Vgl. Ricken, Tarifliche Rechtsetzung, S. 273 ff. 4 BAG v. 27.11.1961 – 1 ABR 13/63, AP Nr. 1 zu § 2 TVG Tarifzuständigkeit; zuletzt BAG v. 29.7.2009 – 7 ABR 27/08, NZA 2009, 1424 (1427); ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 38; MünchArbR/ Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 96; Schaub/Treber, ArbRHdb, § 198 Rz. 14; für den Fall eines mehrgliedrigen TVs Bayreuther, NZA 2012, 14 (17). 5 BAG v. 24.7.1990 – 1 ABR 46/89, NZA 1991, 21; BAG v. 29.6.2004 – 1 ABR 14/03, NZA 2004, 1236 (1238); HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 47; Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 2 TVG Rz. 238; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 42; Konzen, FS Kraft, S. 291 (292); Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 172, 183; a.A. Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 89 ff. 6 Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 172; a.A. Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 89 ff.
146 Sittard
Tarifzustndigkeit
Rz. 239 Teil 2
nen Arbeitnehmer einseitig belasten würden1. Allerdings könne der Wegfall der Tarifzuständigkeit zur ordentlichen, nach teils vertretener Auffassung auch zur außerordentlichen, Kündigung des TVs berechtigen, wenn dieser Wegfall mit dem Geltungsbereich eines TVs deckungsgleich ist, die Zuständigkeit also für den gesamten Geltungsbereich des TVs entfällt2. Betreffe der Wegfall der Tarifzuständigkeit hingegen nur einen Teil des TVs, bleibe der Wegfall der Tarifzuständigkeit für die Wirksamkeit des weiter reichenden TVs ohne Auswirkungen3. Falls ein TV ohne die notwendige Tarifzuständigkeit geschlossen, aber faktisch nie angewandt wurde, sei von dessen Nichtigkeit von vorneherein auszugehen. Ggf. ist dann gemäß § 4 Abs. 5 TVG der vorangegangene TV anzuwenden, sofern dieser einmal gültig war4. Gegen die herrschende Auffassung bestehen hingegen erhebliche Bedenken. Beim 238 nachträglichen Wegfall von Wirksamkeitsvoraussetzungen eines TVs sprechen die überzeugenderen Argumente für den sofortigen Eintritt der Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG und zwar insoweit, wie die Wirksamkeitsvoraussetzungen entfallen sind. Für den Wegfall der Tarifzuständigkeit folgt daraus, dass der TV mit Inkrafttreten der die Tarifzuständigkeit verkleinernden Satzungsänderung insoweit in die Nachwirkung geht, wie die Tarifzuständigkeit aufgehoben wurde. Es erscheint nicht überzeugend, für den Fall einer nachträglichen Satzungsänderung zur Beendigung der Tarifwirkungen eine Kündigung zu verlangen, wenn eine TV-Partei insoweit ihre Regelungskompetenz für den Geltungsbereich des TVs verloren hat. Rieble und Klumpp betonen zu Recht, dass die Mitglieder der ehemals tariffähigen Partei so tarifgebunden blieben, ohne die Tarifgeltung beeinflussen zu können. Eine solche von der Herrschaft der TV-Parteien abgelöste Tarifgeltung ist durch die Mitgliedschaft für diesen Fall nicht mehr legitimiert5. Im Übrigen erscheint es überzeugend, alle Fälle des Wegfalls von Wirksamkeitsvoraussetzungen eines TVs dogmatisch gleich zu behandeln und daher auch beim nachträglichen Wegfall der Tarifzuständigkeit vom Eintritt der Nachwirkung auszugehen. 3. Konsequenzen für das Arbeitskampfrecht Die Tarifzuständigkeit kann schon vor dem Tarifabschluss von Bedeutung sein, wenn 239 ein TV durch einen Arbeitskampf durchgesetzt werden soll. Ein Streik ist rechtswidrig, wenn die Streik führende Gewerkschaft tarifunzuständig ist. So muss bei den Verhandlungen um einen FirmenTV die den Streik führende Gewerkschaft für die Arbeitnehmer des bestreikten Unternehmens bzw. Betriebs tarifzuständig sein6. Umgekehrt 1 HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 47; Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 2 TVG Rz. 243 ff.; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 55; a.A. Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 272; für einen darüber hinaus gehenden Ausschluss der Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG zudem KassArbR/Dörner, Gruppe 8.1 Rz. 100; Ricken, Tarifliche Rechtsetzung, S. 305 ff.; zum Verlust der Tarifzuständigkeit durch Satzungsänderung allgemein Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 175 ff. 2 HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 47; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 55. 3 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 55; Konzen, FS Kraft, S. 291 (303). 4 So auch Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 50; Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 174a; Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 2 TVG Rz. 248, die wegen der Eigenschaft der Tarifzuständigkeit als Wirksamkeitsvoraussetzung des TVs den Wegfall der gesamten Zuständigkeit dann bereits ipso iure annimmt. 5 MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 98. 6 Vgl. hierzu Richardi, Anm. zu BAG v. 17.2.1970 – 1 ABR 14/69 u. 1 ABR 15/69, AP Nr. 2 u. 3 zu § 2 TVG Tarifzuständigkeit.
Sittard
147
Teil 2 Rz. 239a
Tarifvertragsparteien
scheiden Arbeitskampfmaßnahmen um einen VerbandsTV aus, wenn der Arbeitgeberverband keine Mitglieder hat, für deren Arbeitnehmer die Gewerkschaft zuständig wäre1. 239a Etwaige Konsequenzen des Tarifeinheitsgesetzes für das Arbeitskampfrecht stehen in keinem Zusammenhang mit der Tarifzuständigkeit. Zwar wird diskutiert, ob eine Gewerkschaft für einen Tarifvertrag streiken darf, der voraussichtlich nach § 4a Abs. 2 TVG verdrängt wird2. Dies ist aber eine Frage der Verhältnismäßigkeit des Streiks und nicht der Tarifzuständigkeit3. Unabhängig davon lässt sich aber an der tatsächlichen Bereitschaft der Gewerkschaftsmitglieder zu Arbeitskämpfen zweifeln, wenn zu erwarten ist, dass ihr TV von der Mehrheitsgewerkschaft verdrängt wird4 (vgl. ausführlich Teil 9 Rz. 159 ff.).
V. Flucht aus dem Tarifvertrag über die Tarifzuständigkeit? 240 Durch die Rechtsprechung nicht abschließend geklärt sind die Folgen, die sich ergeben, wenn ein Unternehmen durch eine Umstrukturierung den Tarifzuständigkeitsbereich der Tarifparteien verlässt, welche den vor der Umstrukturierungsmaßnahme in diesem Unternehmen geltenden TV abgeschlossen haben. Regelmäßig wird mit dem Verlassen des Tarifzuständigkeitsbereichs auch ein Herauswachsen aus dem Geltungsbereich des abgeschlossenen TVs verbunden sein (denn die Tarifzuständigkeit der beteiligten Koalitionen stellt die äußerste Grenze des zulässigen Geltungsbereichs eines TVs dar), was zur Nachwirkung analog § 4 Abs. 5 TVG führt5. Aber auch unabhängig vom konkreten Geltungsbereich des TVs ist bei dem Herauswachsen eines Arbeitgebers aus der Tarifzuständigkeit im Fall eines VerbandsTVs von einer (analogen) Anwendung des § 4 Abs. 5 TVG auszugehen6. Denn mit dem nachträglichen Wegfall der Tarifzuständigkeit entfällt eine Geltungsvoraussetzung des TVs, sodass ein Rückgriff auf die Nachwirkung geboten erscheint. Aus Arbeitgebersicht ist es sinnvoll, nicht nur allein aus dem Geltungsbereich des TVs herauszuwachsen, sondern zugleich auch die Tarifzuständigkeit (insbesondere der Gewerkschaft) zu verlassen. Denn dadurch verhindert der Arbeitgeber, dass die Gewerkschaft das Unternehmen unmittelbar nach Herauswachsen aus dem Geltungsbereich des TVs z.B. durch Forderung nach Abschluss eines FirmenTVs wieder „einfängt“7. Dies ist dann erst möglich, wenn die Satzung der Gewerkschaft entsprechend erweitert wird8.
1 Vgl. Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 173. 2 Vgl. Begründung zum Referentenentwurf des BMAS zum Tarifeinheitsgesetz, dort S. 11; vgl. dazu u.a. Greiner, RdA 2015, 36 (41). 3 A.A. Ewer, NJW 2015, 2230 (2232), der bereits an der Tariffähigkeit der Gewerkschaft zweifelt. 4 Greiner, RdA 2015, 36 (41). 5 HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 6. 6 Ebenso Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 2 TVG Rz. 246; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 96; ähnlich: Hromadka/Maschmann/Wallner, Tarifwechsel, Rz. 258 ff.; aus BAG v. 26.9.1979 – 4 AZR 819/77, AP Nr. 17 zu § 613a BGB ergibt sich nichts Gegenteiliges, da es sich dort gerade nicht um eine unternehmensinterne Umstrukturierungsmaßnahme handelte. 7 Ricken, RdA 2007, 35 (36); Rieble/Klebeck, BB 2006, 885 (888). 8 Rieble/Klebeck, BB 2006, 885 (888).
148 Sittard
Tarifzustndigkeit
Rz. 242 Teil 2
Schwieriger ist die Rechtslage, wenn ein FirmenTV oder ein unternehmensbezogener 241 VerbandsTV betroffen ist. Wenn in einem FirmenTV der Geltungsbereich mit „für den Betrieb XY am Standort XY“ beschrieben ist, wächst der Betrieb bei einer Umstrukturierung (Verlagerung des Schwerpunkts der Tätigkeit in eine andere Branche) nicht aus dem Geltungsbereich des TVs, aber u.U. aus der Tarifzuständigkeit der Gewerkschaft bzw. (beim unternehmensbezogenen VerbandsTV) des Arbeitgeberverbandes heraus. Dann ist die Tarifzuständigkeit der beteiligten Koalitionen entfallen, jedoch könnte der TV aufgrund seines Geltungsbereiches weiterhin Anwendung finden. Auch für diesen Fall lässt sich vertreten, dass der TV wegen des Wegfalls einer Geltungsvoraussetzung in die Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG geht. Alternativ wäre zu überlegen, den TVParteien ein Kündigungsrecht hinsichtlich des TVs einzuräumen1. Durch die Umstrukturierung hat sich das von den Regelungen des TVs erfasste Objekt derartig geändert, dass es dem Zuständigkeitsbereich der zuvor zuständigen Gewerkschaft bzw. des Arbeitgeberverbandes nicht länger untersteht (vgl. ausführlich Teil 15 Rz. 7 ff.) und deshalb ein (außerordentliches) Kündigungsrecht bestehen muss. Überzeugender ist es jedoch – wie auch bei einer nachträglichen Satzungsänderung (vgl. Rz. 238) – den sofortigen Eintritt der Nachwirkung anzunehmen, da auf diese Weise alle Fälle des Wegfalls von Wirksamkeitsvoraussetzungen einheitlich gehandhabt werden könnten.
VI. Feststellung der Tarifzuständigkeit 1. Gerichtliche Klärung Den Arbeitsgerichten obliegt gemäß §§ 2a Abs. 1 Nr. 4, 97 ArbGG im Wege des Be- 242 schlussverfahrens die Feststellung über das Bestehen bzw. das Nichtbestehen von Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit; zu- oder aberkannt werden sie hingegen nicht. Inhaltlich betrifft das Verfahren, welches gemäß §§ 97 Abs. 2a, 81 ArbGG eines Antrags bedarf, die Frage, ob eine grundsätzlich tariffähige Vereinigung zuständig ist, TVe für einen bestimmten Geltungsbereich abzuschließen. Sofern der Ausgang eines anderen Verfahrens von der Tarifzuständigkeit einer TV-Partei abhängt, ist dieses gemäß § 97 Abs. 5 ArbGG auszusetzen2. Ein solcher anderweitig anhängiger Rechtsstreit kann insofern auch das Beschlussverfahren über die Tarifzuständigkeit initiieren; die Gerichte sind in diesem Fall gar zur Aussetzung des anderen Rechtsstreits verpflichtet3. Die Aussetzungsentscheidung erfolgt somit von Amts wegen. Kann hingegen auch ohne Klärung der Frage der Tarifzuständigkeit in der Sache entschieden werden, was durch eine vorherige Prüfung der Schlüssigkeit und der Erheblichkeit des Parteivorbringens in Bezug auf die Klageforderung festzustellen ist, so hat kein Aussetzungsbeschluss nach § 97 Abs. 5 ArbGG zu erfolgen, bzw. dieser ist umgehend wieder auf-
1 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 95 f.; a.A. Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 2 TVG Rz. 247, die für eine analoge Anwendung des § 4 Abs. 5 TVG plädiert; Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 178 nimmt eine Fortgeltung gemäß § 3 Abs. 3 TVG an. 2 BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 25/96, NZA 1997, 668 (670); BAG v. 28.1.2008 – 3 AZB 30/07, NZA 2008, 489; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 48; zum Verfahren ausführlich GMP/Schlewing, § 97 ArbGG Rz. 11 ff. 3 Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 189; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 507 ff.; Lembke, NZA 2008, 451.
Sittard
149
Teil 2 Rz. 243
Tarifvertragsparteien
zuheben1. Diese Prüfung kann sogar durch die Durchführung einer Beweisaufnahme unterstützt werden2. 243 Antragsberechtigt sind gemäß § 97 Abs. 1 ArbGG räumlich und sachlich zuständige Vereinigungen von Arbeitnehmern oder von Arbeitgebern, ein einzelner betroffener Arbeitgeber3 sowie die oberste Arbeitsbehörde des Bundes (BMAS) bzw. des Landes (Landesarbeitsministerium) wegen ihrer Befugnisse im Rahmen des § 5 TVG. Umfasst werden mithin alle tariffähigen Vereinigungen sowie Spitzenorganisationen i.S.d. § 2 Abs. 2 und 3 TVG4. Auch die betroffene Koalition, deren Tarifzuständigkeit in Frage gestellt wird, ist antragsberechtigt. Ferner sind antragsberechtigt die Parteien des Verfahrens, dessen Ausgang von der Feststellung der Tarifzuständigkeit abhängt und welches daher auszusetzen ist, § 97 Abs. 5 Satz 2 ArbGG. Der Betriebsrat eines einzelnen Arbeitgebers besitzt hingegen kein Antragsrecht5. Im Rahmen eines Verfahrens um die Feststellung der Tarifzuständigkeit einer Gewerkschaft sind die tariflichen Spitzenorganisationen der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite nicht anzuhören und besitzen auch keine Mitwirkungsrechte im Verfahren6. 244 Für die Antragsbefugnis ist auf ein konkretes Rechtsschutzbedürfnis des antragstellenden Beteiligten abzustellen, also darauf, ob seine Tarifzuständigkeit bestritten wird oder er selbst die Zuständigkeit einer (konkurrierenden) Gewerkschaft bzw. eines Arbeitgeberverbandes festgestellt haben möchte7. Das Antragsrecht eines einzelnen Arbeitgebers wird in § 97 Abs. 1 ArbGG nicht erwähnt, es ist jedoch auch von dessen Rechtschutzbedürfnis auszugehen, wenn eine Gewerkschaft ihn aufgrund seiner in § 2 Abs. 1 TVG begründeten Tariffähigkeit auf Abschluss eines TVs in Anspruch nimmt oder gar mit Streik droht8. Örtlich zuständig ist gem. § 97 Abs. 2 ArbGG das Landesarbeitsgericht am Sitz der betroffenen Koalition9. Da es sich bei den Verfahren zur Feststellung der Tarifzuständigkeit regelmäßig um Verfahren von grundsätzlicher Bedeutung handelt10, wurden sie häufig über alle drei Instanzen geführt. Im Zuge des Tarifautonomiestärkungsgesetz hat der Gesetzgeber 2014 der Kritik an der langen Verfahrensdauer Rechnung getragen und das Landesarbeitsgericht gem. § 97 Abs. 2 ArbGG für erstinstanzlich zuständig erklärt. 1 2 3 4 5 6 7
8 9 10
BAG v. 24.7.2012 – 1 AZB 47/11, NZA 2012, 1061; ErfK/Koch, § 97 ArbGG Rz. 6. BAG v. 24.7.2012 – 1 AZB 47/11, NZA 2012, 1061. BAG v. 27.9.2005 – 1 ABR 41/04, NZA 2006, 273. BAG v. 15.11.1963 – 1 ABR 5/63, AP Nr. 14 zu § 2 TVG; Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 186. BAG v. 13.3.2007 – 1 ABR 24/06, NZA 2007, 1069 (1071); BAG v. 17.4.2012 – 1 ABR 5/11, NZA 2012, 1104 (1105 f.). BAG v. 11.6.2013 – 1 ABR 32/12, NZA 2013, 1363 (1366). BAG v. 19.1.1962 – 1 ABR 14/60, AP Nr. 13 zu § 2 TVG; BAG v. 10.9.1985 – 1 ABR 32/83, NZA 1986, 332 (333); BAG v. 25.11.1986 – 1 ABR 22/85, NZA 1987, 492 (493); BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613; BAG v. 11.6.2013 – 1 ABR 32/12, NZA 2013, 1363 (1366); GMP/Schlewing, § 97 ArbGG Rz. 24; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 91. BAG v. 17.2.1970 – 1 ABR 14/69, AP Nr. 2 zu § 2 TVG; GMP/Schlewing, § 97 ArbGG Rz. 24; GWBG/Greiner, § 97 Rz. 19. HWK/Bepler, § 97 ArbGG Rz. 10. Vgl. BAG v. 25.11.1986 – 1 ABR 22/85, NZA 1987, 492; BAG v. 10.5.1989 – 4 AZR 80/89, NZA 1989, 687; BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613.
150 Sittard
Tarifzustndigkeit
Rz. 249 Teil 2
Die rechtskräftige Entscheidung im Verfahren gilt gem. § 97 Abs. 3 Satz 1 ArbGG für und gegen jedermann; auch deshalb sind andere Verfahren nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG auszusetzen (vgl. Rz. 242). Diese Rechtskraft hinsichtlich der Tarifzuständigkeit beurteilt sich in Bezug auf die jeweilige Satzung, weshalb sie bei einer Satzungsänderung entfällt1.
245
Ebenfalls neu eingeführt wurde der § 97 Abs. 2a ArbGG. Diese Vorschrift verweist da- 246 bei auf zahlreiche allgemeine Normen zum Beschlussverfahren. Ausnahmen von der Anwendbarkeit sollen der Eigenart des Streitgegenstandes und den Charakteristika des Verfahrens vor den Landesarbeitsgerichten Rechnung tragen2. So ist etwa die Möglichkeit zum Erlass einer einstweiliger Verfügung gem. § 85 Abs. 2 ArbGG nicht in Bezug genommen, und eine Präklusion von Vorbringen nach § 83 Abs. 1a ArbGG findet nicht statt. Auch wenn auf den § 83a ArbGG verwiesen wird, dürfte zumindest der Abschluss eines Vergleichs mangels Dispositionsbefugnis der Parteien über den Streitgegenstand ebenfalls nicht in Betracht kommen3. 2. Verbandsinterne Klärung Zwischen den dem DGB angehörenden Gewerkschaften sind die Tarifzuständigkei- 247 ten gemäß § 15 der Satzung des DGB aufeinander abzustimmen, um Kompetenzstreitigkeiten zu vermeiden. Durch Änderungen von Unternehmensstrukturen oder neuerliche Festlegungen von Zuständigkeiten der Einzelgewerkschaften können sich dennoch Streitigkeiten und Überschneidungen der Zuständigkeitsbereiche ergeben4. Dies betraf z.B. im Fall IBM das Herauswachsen eines Unternehmens aus der Metallin die Dienstleistungsbranche5. Nach § 15 Nr. 2 der DGB-Satzung bedarf jede Satzungsänderung einer Einzelgewerk- 248 schaft hinsichtlich deren Tarifzuständigkeit der einstimmigen Zustimmung des DGB-Bundesvorstands; sofern dies nicht gelingt, ist die Zustimmung des Bundesausschusses einzuholen. Soweit eine einvernehmliche Lösung dennoch nicht gelingt, sind die Gewerkschaften gehalten, ein Schiedsverfahren gemäß § 16 der DGB-Satzung durchzuführen (sog. DGB-Clearingverfahren), für das der DGB-Bundesausschuss eigens eine Schiedsgerichtsordnung und entsprechende Richtlinien erlassen hat. Die Schiedsstelle des DGB ist kein Schiedsgericht i.S. der §§ 1025 ff. ZPO. Es handelt 249 sich nicht um eine Schiedsgerichtsbarkeit, da es zu deren Wesen gehört, dass sie von unbeteiligten Dritten ausgeübt wird, die dem Gebot der Distanz und Neutralität genügen müssen. Diese Voraussetzungen sind nach den DGB-Richtlinien über die Durchführung des Schiedsverfahrens nicht gegeben6. Die Schiedsstelle ist nach der Rechtsprechung des BAG vielmehr als zusätzliches Vereinsorgan zu betrachten, dessen Einrichtung dem Verein grundsätzlich freisteht und mit einem Vereinsgericht zu ver1 BAG v. 19.11.1985 – 1 ABR 37/83, NZA 1986, 480; BAG v. 11.6.2013 – 1 ABR 33/12, NZA-RR 2013, 641 (643); ErfK/Koch, § 98 ArbGG Rz. 5. 2 BT-Drucks. 18/1558, S. 44. 3 Schwab/Weth/Walker, § 97 ArbGG, Rz. 30. 4 Vgl. Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 170; HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 46; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 75 ff.; Feudner, BB 2004, 2297. 5 Vgl. dazu ausführlich Ricken, RdA 2007, 35 ff. 6 BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613 (616).
Sittard
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Teil 2 Rz. 250
Tarifvertragsparteien
gleichen ist. Es geht um die Befugnis zur Durchsetzung der vom Verband selbst gesetzten Grundsätze bezüglich der Abgrenzung von Organisationsbereichen unter Berücksichtigung des Industrieverbandsprinzips. Die Zuständigkeit der Schiedsstelle findet ihre Grundlage in der Satzung und den darin vorgesehenen und gesetzten Richtlinien1. 250 Solange das Schiedsverfahren zur verbindlichen Klärung einer Konfliktsituation noch nicht durchgeführt ist, besteht nach den Vorgaben des DGB die Alleinzuständigkeit derjenigen Gewerkschaft fort, die vor Entstehen der Konkurrenzlage als zuständig angesehen wurde, sodass die Beteiligten bis zu einem Spruch oder einer Einigung Klarheit über die Zuständigkeitsverhältnisse haben (vgl. § 15 Nr. 2 DGB-Satzung)2. Es ist allerdings fraglich, ob diese Begrenzung der Tarifzuständigkeit durch die DGB-Satzung tatsächlich Außenwirkung entfaltet. Der Rechtsprechung des BAG kann zum Teil entnommen werden, dass dies nicht ohne weiteres der Fall ist, sondern eine explizite Regelung hierzu erforderlich wäre. Dann wäre – entgegen § 15 Nr. 2 der DGBSatzung – jedenfalls bis zu einer Klärung eine Doppelzuständigkeit anzunehmen3. Es käme dann zu einer Tarifpluralität, die ggf. über § 4a Abs. 2 TVG aufzulösen ist. 251 Die Streitigkeit wird im Schiedsverfahren durch einen Schiedsspruch beendet, der von den in Konflikt stehenden Gewerkschaften anzuerkennen ist; zudem ist jederzeit eine einvernehmliche Lösung zwischen den Parteien möglich, die dann das Verfahren beendet und wie ein Schiedsspruch wirkt4. Die Einigung muss sich dabei allerdings in den Grenzen der jeweiligen Satzungsregelung halten5. Das BAG und Teile der Literatur gehen davon aus, dass der Spruch der Schiedsstelle verbindliche Außenwirkung für anderweitig Beteiligte wie den Arbeitgeberverband bzw. den Arbeitgeber hat6. Teilweise wird im Schrifttum sogar eine Bindung der Arbeitsgerichte angenommen7, oder jedenfalls im Falle eines Schiedsspruchs das Rechtsschutzinteresse für ein arbeitsgerichtliches Verfahren verneint8. Nach der Rechtsprechung des BAG kann der Schiedsspruch die in Konflikt stehenden Satzungen dabei nicht im Sinne einer Zuständigkeitserweiterung ergänzen oder berichtigen, jedoch verbindlich, d.h. auch für Dritte, auslegen9. Diese Begrenzung auf die Auslegung muss auch für eine Einigung 1 BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613 (616). 2 Zur alten Satzungsregelung bereits BAG v. 12.11.1996 – 1 ABR 33/96, NZA 1997, 609 (612); HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 46. 3 BAG v. 27.9.2005 – 1 ABR 41/04, NZA 2006, 273; ähnlich auch LArbG Hamburg v. 21.5.2014 – 5 SaGa 1/14, ArbRAktuell 2015, 30. 4 BAG v. 14.12.1999 – 1 ABR 74/98, NZA 2000, 949 (952); vgl. auch BAG v. 27.9.2005 – 1 ABR 41/04, NZA 2006, 273; Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 170; Blank, FS 50 Jahre BAG, S. 597 (599); siehe dazu auch Dieterich, RdA 2003, 59. 5 LArbG Berlin-Brandenburg v. 12.6.2012 – 7 TaBV 151/12. 6 BAG v. 17.2.1970 – 1 ABR 15/69, AP Nr. 3 zu § 2 TVG Tarifzuständigkeit; BAG v. 22.11.1988 – 1 ABR 6/87, NZA 1989, 561 (562); BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613 (615); Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 171; Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 2 TVG Rz. 227; Junker, ZfA 2007, 229 (242). 7 Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 171; Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 2 TVG Rz. 230. 8 Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 2 TVG Rz. 230; ErfK/Koch, § 97 ArbGG Rz. 3; GMP/ Schlewing, § 97 ArbGG Rz. 24; Schwab/Weth/Walker, § 97 ArbGG Rz. 28. 9 BAG v. 17.2.1970 – 1 ABR 15/69, AP Nr. 3 zu § 2 TVG Tarifzuständigkeit; BAG v. 19.11.1985 – 1 ABR 37/83, NZA 1986, 480 (482); BAG v. 14.12.1999 – 1 ABR 74/98, NZA 2000, 949 (952); Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 171; Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 2 TVG Rz. 227; Kempen, FS Hoyningen-Huene, 2014, S. 191 (198); ähnlich Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 70.
152 Sittard
Tarifzustndigkeit
Rz. 253 Teil 2
der Gewerkschaften im Rahmen des Clearingverfahrens gelten. Der Schiedsstelle wird dabei von der Rechtsprechung ein bindender Beurteilungsspielraum zugebilligt1. Für ein derartiges Ermessen der Schiedsstelle existiert jedoch in der DGB-Satzung keinerlei Rechtsgrundlage2. Es ist auch fraglich, ob einem Schiedsgericht einer privatrechtlichen Vereinigung die Kompetenz zur verbindlichen Auslegung der Satzung zugebilligt wird. Keinesfalls kann das Schiedsgericht die staatlichen Gerichte binden. Dafür fehlt es an einer Grundlage im Gesetzesrecht. Insgesamt muss das DGB-Clearingverfahren und insbesondere die angenommene Au- 252 ßenwirkung des Spruchs der DGB-Schiedsstelle äußerst kritisch gesehen werden3. Das ArbGG weist die Kompetenz insoweit eindeutig den Arbeitsgerichten zu. Die Schiedsgerichte des DGB würden auf Grundlage der Rechtsprechung des BAG das arbeitsgerichtliche Beschlussverfahren zur Klärung der Tarifzuständigkeit hingegen bei Beteiligung von DGB-Gewerkschaften größtenteils überflüssig machen. Gelingt eine verbandsinterne Klärung nicht und kommt es deshalb zu kollidierenden TVen, findet auch zwischen mehreren DGB-Gewerkschaften der § 4a TVG Anwendung und die Tarifkollision ist ggf. über das Mehrheitsprinzip aufzulösen.
1 BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613 (616). 2 Gänzlich ablehnend Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 242 f.; MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 91 ff.; Ricken, Tarifliche Rechtsetzung, S. 195; ebenso kritisch Feudner, BB 2004, 2297 (2301); Heinze, DB 1997, 2122 (2126); Junker, ZfA 2007, 229 (243); Konzen, FS Kraft, 1998, S. 291 (314); instruktiv Jacobs, Tarifeinheit, S. 209 ff. 3 Vgl. Ricken, RdA 2007, 35 ff.
Sittard
153
253
Teil 3 Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages Rz.
Rz. A. Der Weg zum Tarifabschluss I. Gesetzlicher und/oder gewillkürter Verhandlungsanspruch? 1. Die rechtstatsächliche Ausgangslage . 2. Verhandlungsanspruch kraft Gesetzes? a) Die Position des Bundesarbeitsgerichts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Literaturauffassungen . . . . . . . . . . c) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Tarifvertraglich begründeter Verhandlungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . II. Tarifschlichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die (Zwangs-)Schlichtung in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schlichtung im Tarifvertragssystem der Bundesrepublik Deutschland a) Tarifautonome, freiwillige Schlichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gesetzliche Schlichtungsangebote. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Tarifverhandlungen 1. Verhandlungsführung . . . . . . . . . . . . . 2. Abschlussbefugnis. . . . . . . . . . . . . . . .
1
4 9 13 20 21 22
26 31 33 35 36
3. Rückwirkende Inkraftsetzung . . . . . . 4. Erklärungsfristen für Tarifvertragsparteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Abgeschwächte Inkraftsetzung (ERA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73 81 89
D. Die Publizität tariflicher Regelungswerke I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92
II. Tarifregister und Tarifarchiv 1. Eintragung und Archivierung. . . . . . . 94 2. Mitwirkungspflichten der Tarifvertragsparteien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 3. Zweck und Wirkung der Registrierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 4. Reformüberlegungen. . . . . . . . . . . . . . 103 III. Die Auslegungspflicht nach § 8 TVG 1. Zweck und Inhalt der Auslegungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 2. Wirkung der Auslegung und Rechtsfolge ihres pflichtwidrigen Unterlassens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 IV. Transparenz durch das Nachweisgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 V. Keine Transparenz durch § 305 Abs. 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
B. Schriftformzwang für Tarifverträge (§ 1 Abs. 2 TVG) I. Normzweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
II. Erfüllung der Schriftform . . . . . . . . . .
43
III. Anwendungsbereich des Schriftformgebots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
IV. Rechtsfolge eines Formverstoßes . . .
53
C. Verhandlungsergebnisse . . . . . . . . . . .
55
I. Ergebnisniederschriften, Vorverträge, sonstige schuldrechtliche Koalitionsverträge . . . . . . . . . . . . . . . .
56
II. Der Inhalt schuldrechtlicher Koalitionsvereinbarungen . . . . . . . . . 155
II. Protokollnotizen, Fußnoten, Anlagen und Anhänge . . . . . . . . . . . . . . . . .
62
III. Zuordnung und Qualifikation durch Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
III. Regelungen über Inkrafttreten und hinausgeschobene Fälligkeit 1. Tarifwirkung mit Inkrafttreten . . . . . 2. Verzögerte Inkraftsetzung und Stufentarifverträge. . . . . . . . . . . . . . . .
66 70
E. Inhaltsermittlung von Tarifverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 I. Die Auslegung des normativen Teils 1. Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 2. Ergänzende und konkretisierende Auslegungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . 140 3. Lückenschließung . . . . . . . . . . . . . . . . 151
F. Anfechtbarkeit und Nichtigkeit von Tarifverträgen I. Anfechtbarkeit 1. Mit Wirkung für den normativen Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
Bepler 155
Teil 3
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages Rz.
Rz. 2. Anfechtung schuldrechtlicher Koalitionsvereinbarungen . . . . . . . . . 163 II. Unwirksamkeit und Teilunwirksamkeit 1. Mängel des Tarifvertrags als solchem a) Nichtigkeitsgründe. . . . . . . . . . . . . b) Vertrauensschutz . . . . . . . . . . . . . . c) Weitergeltung als vertraglich in Bezug genommenes Regelwerk . . . 2. Kontrolle tariflicher Regelungen anhand höherrangigen Rechts a) Verstoß gegen zwingendes Gesetzesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verstoß gegen Grundrechte und Europarecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Folgen der Unwirksamkeit von Tarifnormen für den Tarifvertrag a) Teilunwirksamkeit. . . . . . . . . . . . . b) Rechtsfolgen bei Verstößen gegen Gleichbehandlungsgebote und Diskriminierungsverbote . . . .
G. Das Ende der zwingenden Tarifgeltung I. „Automatische“ Beendigungen durch Veränderungen bei den Tarifvertragsparteien? . . . . . . . . . . . . . 200
165 167 169
170 176
186
II. Die ordentlichen Beendigungsformen 1. Ordentliche Kündigung und Befristung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kündigungszuständigkeit . . . . . . . b) Kündigungsfristen. . . . . . . . . . . . . . c) Schriftform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Vertreterkündigungen . . . . . . . . . . 2. Beendigung durch Aufhebungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wirkungsbeendigung durch anderweitigen Tarifabschluss . . . . . . . . . . .
207 209 212 213 214 215 216
III. Beendigung durch außerordentliche Kündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
187
Literatur: Ahrendt, Firmentarifvertrag und firmenbezogener Verbandstarifvertrag, RdA 2012, 129; Arnold, Die tarifrechtliche Dauerrechtsbeziehung, 1996; Bauer/Krieger, Altersdiskriminierende Tarifverträge und ihre Rechtsfolgen, in: Festschrift für Klaus Bepler, 2012, S. 1; Bender, Der Wegfall der Geschäftsgrundlage bei arbeitsrechtlichen Kollektivverträgen am Beispiel des Tarifvertrages und des Sozialplans, 2005; Bepler, Transparenz im Arbeitsrecht, in: Festschrift für Franz Josef Düwell, 2011, S. 307; Bepler, Stärkung der Tarifautonomie – Welche Änderungen des Tarifvertragsrechts empfehlen sich?, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag; Berg, Streikverbot durch Verfahren – „Tariffrieden“ statt Tarifautonomie in der Daseinsvorsorge, in Festschrift für Otto Ernst Kempen, 2013, S. 278; Berg, Gesetzlich verordnete Tarifeinheit reloaded – das Streikrecht in Gefahr, KJ 2014, 72; Coester, Zur Verhandlungspflicht der Tarifvertragsparteien, ZfA 1977, 87; Creutzfeldt, Die „Tarifauskunft“ im Arbeitsgerichtsverfahren, in: Festschrift für Franz Josef Düwell, 2011, S. 286; Däubler/Bepler, Das neue Tarifeinheitsrecht, 2016; Dieterich, Die Grundrechtsbindung von Tarifverträgen, in Festschrift für Günter Schaub, 1998, 117; Dieterich, Die grundrechtsdogmatischen Grenzen der Tarifautonomie in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, in Festschrift für Herbert Wiedemann, 2002, S. 229; Dieterich, Gesetzliche Tarifeinheit als Verfassungsproblem, AuR 2011, 46; Franzen/Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge – Vorschläge zur gesetzlichen Regelung von Streik und Aussperrung in Unternehmen der Daseinsvorsorge, 2012; Greiner, Das Tarifeinheitsgesetz – ein Brandbeschleuniger für Tarifauseinandersetzungen?, RdA 2015, 36; Hanau, Späte Vor- und Nachwirkungen von Tarifverträgen, in Festschrift für Rolf Wank, 2014, S. 129; Hanau/Strauß, Die neue Rechtsprechung zur Kündigung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang, in Festschrift für Klaus Bepler, 2012, S. 207; Henssler, Ende der Tarifeinheit – Eckdaten eines neuen Arbeitskampfrechts, RdA 2011, 65; Henssler, Caveat legis lator – fünf Kardinalfehler des Gesetzgebers bei der Verabschiedung des Tarifeinheitsgesetzes, RdA 2015, 222; Henssler/Höpfner/Orlowski, Der CGZP-Beschluss des Bundesarbeitsgerichts und seine tarifrechtlichen Folgen – Zugleich ein Beitrag zur Lehre vom fehlerhaften Tarifvertrag, 2012; Hottgenroth, Die Verhandlungspflicht der Tarifvertragsparteien, 1990; Houben, Die Rückwirkung von Tarifverträgen, 2006; Jacobs/Krois, Die Auflösung von Tarifkonkurrenzen, in Festschrift für Klaus Bepler, 2012, S. 249; Lieb, Vorbeugende Schlichtung unter Beteiligung Dritter, in: Festschrift für Peter Hanau, S. 561; Mayer-Maly, Der Verhandlungsanspruch tariffähiger Verbände, RdA 1966, 201; Mikosch, Vertrauensvolle Zusammenarbeit der
156 Bepler
Rz. 2 Teil 3
Der Weg zum Tarifabschluss
Tarifvertragsparteien, in: Festschrift für Thomas Dieterich, 1999, S. 365; Scholz/Lingemann/ Ruttloff, Tarifeinheit und Verfassung, NZA Beilage 1/2015, S. 3; Seiter, Dauerrechtsbeziehungen zwischen Tarifvertragsparteien?, ZfA 1989, 283; Stegmüller, Einschränkungen des Streikrechts in der Daseinsvorsorge, NZA 2015, 723; Waas, Der Verhandlungsanspruch tariffähiger Verbände und schuldrechtliche Dauerrechtsbeziehungen zwischen den Tarifvertragsparteien, AuR 1991, 334; Wank, Kündigung und Wegfall der Geschäftsgrundlage bei Tarifverträgen, in Festschrift für Günter Schaub zum 65. Geburtstag, 1998; Wiedemann/Thüsing, Die Tariffähigkeit von Spitzenorganisationen und der Verhandlungsanspruch der Tarifvertragsparteien, RdA 1995, 280; Wißmann, Unionsrechtskonforme Auslegung von Tarifverträgen, in: Festschrift für Klaus Bepler, 2012, S. 657.
A. Der Weg zum Tarifabschluss I. Gesetzlicher und/oder gewillkürter Verhandlungsanspruch? 1. Die rechtstatsächliche Ausgangslage Ein TV ist ein formbedürftiger privatschriftlicher Vertrag, dessen Zustandekommen 1 und Beendigung sich grundsätzlich nach den Regeln des bürgerlichen Rechts richtet. Seine normative Wirkung, also seine Fähigkeit, auf Arbeitsverhältnisse Dritter, nicht selbst am Tarifabschluss beteiligter Personen, unabhängig von deren aktuellem Wissen und Wollen einzuwirken und einseitig, als Mindestarbeitsbedingung, verbindlich zu sein, setzt voraus, dass er von tariffähigen Parteien in ihrem autonom festgelegten Zuständigkeitsbereich abgeschlossen wurde. Aus der vom Gesetzgeber festgelegten Normwirkung ergeben sich Besonderheiten sowohl, was den Abschluss des TVs und dessen Beendigung angeht, als auch bei der Ermittlung seines für die Normunterworfenen maßgebenden Inhalts. Typischerweise kommt es zu Tarifverhandlungen, weil der bisher maßgebende TV 2 ausgelaufen ist oder kurz vor seinem Ende steht und eine oder beide TV-Parteien ein erhebliches Eigeninteresse an einer Neuregelung haben. Auf Seiten der Gewerkschaft geht es regelmäßig darum, an die Stelle des nur noch nachwirkenden TVs (§ 4 Abs. 5 TVG), der in jede Richtung abweichende einzelvertragliche Vereinbarungen zulässt, eine neue, zu Gunsten des mitgliedschaftlich verbundenen Arbeitnehmers einseitig zwingende Ordnung zu setzen. Die Arbeitgeberseite wird vielfach ein Interesse daran haben, dass ein neues, Friedenspflicht begründendes und deshalb Kalkulationssicherheit schaffendes Regelwerk zustande kommt, das ohne Verhandlungsaufwand in jedem einzelnen Arbeitsverhältnis zur Mitgestaltung der betrieblichen Abläufe und Festlegung der Rechte und Pflichten einheitlich einsetzbar ist. Die Frage danach, ob es einen Rechtsanspruch einer Seite darauf gibt, dass die andere Seite sich auf Verhandlungen mit einem derartigen Regelungsziel einlässt, stellt sich deshalb typischerweise nicht. Anders kann es sich aber verhalten, wenn sich eine neu gegründete oder sich neu „in das Tarifgeschäft“ begebende Organisation um den Abschluss von TVen bemüht und erfahren muss, dass keiner der potentiellen Vertragspartner mit ihr hierüber verhandeln will. Vergleichbares erleben gelegentlich auch alt eingesessene Gewerkschaften, wenn es ihnen darum geht, mit einzelnen tariffähigen, aber nicht oder nicht mehr tarifwilligen und deshalb auch nicht (mehr) verbandsgebundenen Arbeitgebern zu TVen
Bepler 157
Teil 3 Rz. 3
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
zu kommen. Hier könnte ein angesichts des Schweigens des einfachen Gesetzgebers wohl nur auf Art. 9 Abs. 3 GG oder allgemeine Rechtsgrundsätze zu stützender Verhandlungsanspruch bessere Startbedingungen schaffen. Ihn müsste man wohl, damit er einen zumindest vordergründigen Sinn macht, inhaltlich ähnlich § 74 Abs. 1 Satz 2 BetrVG verstehen, also als Pflicht, „mit dem ernsten Willen zur Einigung zu verhandeln und Vorschläge für die Beilegung von Meinungsverschiedenheiten zu machen“. 3 Auch in weiteren Fallkonstellationen kann man an einen solchen Verhandlungsanspruch denken: Ein Spitzenverband beschließt, seine Mitgliedsverbände aufzufordern, mit bestimmten, in wichtigen Teilen der öffentlichen Meinung schlecht beleumundeten Organisationen keine TVe mehr abzuschließen. Können Mitgliedsunternehmen, die sich hieran halten wollen, und sich deshalb weigern, mit den betreffenden Organisationen auch nur zu verhandeln, hierzu gerichtlich gezwungen werden? Haben diese Organisationen in Konsequenz eines ihnen eingeräumten Verhandlungsanspruchs auch einen Anspruch gegen den Spitzenverband, die entsprechende Aufforderung zu unterlassen? Oder: Kurz vor dem Auslaufen eines befristet und unter dem Ausschluss jeder Nachwirkung vereinbarten SanierungsTVs kommt der beteiligte Arbeitgeber zu dem Schluss, für eine Sanierung seines Unternehmens bedürfe es der Verlängerung der getroffenen Regelungen um sechs Monate. Kann er von der am ursprünglichen TV-Schluss beteiligten Gewerkschaft verlangen, dass sie mit ihm in Verhandlungen hierüber eintritt, auch wenn der Organisation dies vor dem Hintergrund des Druckes von Mitgliedern, die in anderen Unternehmen beschäftigt sind und um ihre Arbeitsplätze dort fürchten, nicht opportun erscheint? Weiter: Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, von denen die TV-Parteien bei Abschluss eines TVs ausgegangen sind, verändern sich ganz grundlegend. Hat bei einer dramatisch sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage der Branche der beteiligte Arbeitgeberverband einen Rechtsanspruch darauf, dass die beteiligte Gewerkschaft Verhandlungen mit dem Ziel aufnimmt, eine Anpassung des Geregelten an die veränderten Umstände zu vereinbaren? Kann die beteiligte Gewerkschaft während der Laufzeit eines TVs eine Verhandlung über Nachbesserungen verlangen, wenn an die Stelle der bei Tarifabschluss prognostizierten wirtschaftlichen Notlage überraschend eine sehr günstige Ertragslage getreten ist mit entsprechenden Ausschüttungen an die Kapitaleigner? Beide Situationen hat es gegeben. Schließlich: Die rechtlichen Bewertungen, die beide TV-Parteien beim Tarifabschluss zu Grunde gelegt und von der ausgehend sie bestimmte Regelungen getroffen haben, erweisen sich als rechtsirrig. Das Kostenvolumen des Tarifabschlusses verändert sich auf der Grundlage der – z.B. vom Europäischen Gerichtshof erkannten und nun von den nationalen Gerichten exekutierten – wahren Rechtslage grundlegend. Kann die hiervon nachteilig betroffene Seite die Aufnahme von Anpassungsverhandlungen verlangen? 2. Verhandlungsanspruch kraft Gesetzes? a) Die Position des Bundesarbeitsgerichts 4 Das BAG lehnt es in ständiger Rechtsprechung ab, ohne eine gesonderte Anspruchsgrundlage einen eigenständigen einklagbaren Anspruch darauf zuzuerkennen, dass Tarifverhandlungen zu einem bestimmten Verhandlungsgegenstand überhaupt aufgenommen werden. Dabei sind die ersten Entscheidungen zu sehr unterschiedlichen
158 Bepler
Der Weg zum Tarifabschluss
Rz. 8 Teil 3
und eher singulären Fallkonstellationen ergangen1. In jüngerer Zeit hat das BAG seine ablehnende Position gegenüber einem Verhandlungsanspruch aber deutlich als allgemeine Aussage formuliert2. Nach Auffassung des BAG lässt sich ein Anspruch auf Führung von TV-Verhandlun- 5 gen nicht nur nicht aus Art. 9 Abs. 3 GG herleiten. Ein solcher Anspruch stehe vielmehr sogar mit der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie im Widerspruch, wonach die TV-Parteien frei über den Inhalt ihrer TVe entscheiden. Denn ein Verhandlungsanspruch müsse auch zum Inhalt haben, dass die Verhandlungen mit dem Ziel der Einigung geführt würden. Er könne sich nicht in einer Pflicht zu bloß förmlichem Verhandeln erschöpfen. Hiervon ausgehend hingen ein Verhandlungsanspruch und dessen Vollstreckung im gerichtlichen Verfahren letztlich daran, ob das Gericht die strikte Ablehnung einer bestimmten Forderung als Ausdruck genereller Verhandlungsunwilligkeit, also als bloßes Pro-forma-Verhandeln, oder als sachlich begründet ansehe. Dies laufe letztlich auf eine Inhaltskontrolle von Tarifforderungen hinaus. Aus der Aufgabe, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu ordnen, könne kein 6 Anspruch darauf hergeleitet werden, sich auf Tarifverhandlungen einzulassen und Forderungen mit dem sozialen Gegenspieler zu erörtern. Diese Aufgabe werde nicht durch die Verhandlung über, sondern durch den Abschluss von TVen wahrgenommen. Für einen Verhandlungsanspruch könne auch nicht ins Feld geführt werden, es müsse 7 kleineren Arbeitnehmerkoalitionen die Chance gegeben werden, auf diesem Weg zum Abschluss von TVen zu kommen. Wenn es eines dahin gehenden Rechtsanspruchs bedürfe, fehle der betreffenden Koalition offenbar die für die allein Gewerkschaften im Rechtssinne vorbehaltene Tariffähigkeit wesentliche Mächtigkeit. Diese Voraussetzung jedes Tarifabschlusses sei aber unverzichtbar. Auch aus dem Ultima-Ratio-Grundsatz des Arbeitskampfrechts könne ein Verhand- 8 lungsanspruch nicht hergeleitet werden. Dieser Grundsatz sage etwas darüber, wann vor dem Hintergrund der Interessen der Allgemeinheit frühestmöglich Tarifauseinandersetzungen von kampfweisen Arbeitsniederlegungen oder Aussperrungen begleitet sein dürften. Aus ihm lasse sich nichts dafür herleiten, dass Verhandlungsmöglichkeiten von der verhandlungswilligen Seite erst mit gerichtlicher Hilfe erzwungen werden müssten. Der Ultima-Ratio-Grundsatz verlange auch nicht, dass stets verhandelt worden sein müsse, bevor es zu Kampfmaßnahmen kommen dürfe. Er gestatte Kampfmaßnahmen vielmehr auch mit dem Ziel, einen Tarifgegner, der jede Verhandlung verweigert, an den Verhandlungstisch zu bringen.
1 BAG v. 2.8.1963 – 1 AZR 9/63, NJW 1963, 228 = AP GG Art. 9 Nr. 5 mit abl. Anm. Mayer-Maly; BAG v. 14.7.1981 – 1 AZR 159/78, NJW 1982, 2395 = AP TVG § 1 Verhandlungspflicht Nr. 1 mit abl. Anm. Wiedemann = EzA GG Art. 9 Nr. 33 mit Anm. Konzen; BAG v. 19.6.1984 – 1 AZR 361/82, NZA 1984, 79 = AP TVG § 1 Verhandlungsanspruch Nr. 3 mit abl. Anm. Wiedemann; kurz bestätigt durch BAG v. 14.2.1989 – 1 AZR 142/88, NZA 1989, 601. 2 BAG v. 25.9.2013 – 4 AZR 173/12, Rn. 23, BAGE 146, 133 = AP TVG § 1 Tarifverträge: Musiker Nr. 26 mit Anm. Wiedemann im Anschluss an BAG v. 9.12.2009 – 4 AZR 190/08, Rn. 51, NZA 2010, 712.
Bepler 159
Teil 3 Rz. 9
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
b) Literaturauffassungen 9 Die Auffassung des BAG hat in der Literatur vielfach Zustimmung gefunden1. Es gibt aber auch einige gewichtige Gegenstimmen, die in unterschiedlichem Umfang und auf voneinander abweichenden Wegen zu einem Anspruch insbesondere von Gewerkschaften darauf kommen, dass Tarifverhandlungen auf Anforderung tatsächlich aufgenommen werden. 10
Nur für einen Teil der aufgezeigten Konfliktlagen führt ein konstruktiver Weg weiter, der insbesondere von Theo Mayer-Maly2 und Markus Arnold3 für richtig gehalten wurde: Aus dem mehrfachen Abschluss von TVen mit demselben Tarifpartner erwachse eine Dauerrechtsbeziehung mit der Pflicht, sich auf vom Tarifpartner gewünschte Tarifverhandlungen einzulassen. Weitergehend wird ein allgemeiner Verhandlungsanspruch angenommen, der soweit er überhaupt im Einzelnen hergeleitet wird, überwiegend auf Art. 9 Abs. 3 GG, teilweise im Zusammenhang mit § 242 BGB, gestützt wird4. Ein Zusammenschluss zur Ausübung des Koalitionsgrundrechtes, dessen Ziel mit dem Abschluss von Kollektivverträgen erreicht werde, müsse auch einen Anspruch darauf haben, dass hierüber Verhandlungen mit dem Ziel einer sinnvollen Regelung des Arbeitslebens aufgenommen werden. Die Pflicht, sich auf eine solche Tarifverhandlung einzulassen, sei letztlich die Kehrseite der Tariffähigkeit und ihrer Voraussetzungen: Die hier erforderliche Tarifwilligkeit liege nur dann vor, wenn man sich auch auf Tarifverhandlungen einzulassen bereit sei. Es müsse auch berücksichtigt werden, dass eine Verweigerung von Tarifverhandlungen die hiervon betroffene Koalition in ihrem Bestand gefährden könne5. Darüber hinaus spreche für einen allgemeinen Verhandlungsanspruch auch das Allgemeininteresse, dass jede Seite vor etwaigen kampfweisen Auseinandersetzungen einen Versuch konsensualer Lösung erzwingen könne6. Insbesondere Herbert Wiedemann und Gregor Thüsing ziehen auch die ausdrückliche Konsequenz, dem von ihnen angenommenen Verhandlungsanspruch gerichtliche Durchsetzbarkeit zuzubilligen. Hier müsse ein präziser, auf ein bestimmtes Verhandlungsverhalten gerichteter Antrag gestellt werden, der nach § 888 Abs. 1 ZPO vollstreckbar sei. Im Falle der Verweigerung von Tarifverhandlungen trotz anstehender Tarifrunde könne insoweit sogar einstweiliger Rechtsschutz nach §§ 935, 938 ZPO in Anspruch genommen werden7.
1 Z.B. Heilmann/Schoof in Berg/Kocher/Schumann, § 1 TVG Rz. 34; Coester, ZTR 1977, 87; Däubler, Das Arbeitsrecht 1, 2006, Rz. 215; Löwisch/Rieble, TVG, Grundl. Rz. 226 ff.; C. Schubert in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 3 Rz. 18; Stein, Tarifvertragsrecht, Rz. 72; v. SteinauSteinrück in Thüsing/Braun, Tarifrecht, 3. Kap. Rz. 15; Waas, AuR 1991, 334; J. Schubert/Zachert in Kempen/Zachert, § 1 TVG Rz. 27; im Grundsatz auch HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 12; Däubler/Reim/Nebe, § 1 TVG Rz. 121 ff. 2 Mayer-Maly, RdA 1966, 201; Anm. zu BAG AP GG Art. 9 Nr. 5. 3 Arnold, Die tarifrechtliche Dauerrechtsbeziehung, 1996. 4 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Band I, S. 276 ff.; Hottgenroth, Die Verhandlungspflicht der Tarifvertragsparteien, 1990; Lieb, FS Hanau, S. 561, 574 f.; Löwisch, ZfA 1971, 319, 339; Mikosch, FS Dieterich, S. 365, 380 f.; Seiter, ZfA 1989, 283; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 216 ff.; Wiedemann/Thüsing, RdA 1995, 280; Zöllner/Loritz/Hergenröder, Arbeitsrecht, § 33 III 4. 5 So insbesondere Hottgenroth, Die Verhandlungspflicht der Tarifvertragsparteien, S. 76 ff. 6 Z.B. Lieb, FS Peter Hanau, S. 566, 574; Heinze, FS Molitor, 1988, S. 159. 7 Wiedemann/Thüsing, RdA 1995, 280 (286).
160 Bepler
Der Weg zum Tarifabschluss
Rz. 14 Teil 3
Ernst Mikosch1 geht vom Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit aus, der 11 auch für die TV-Parteien gelte und sich nach Treu und Glauben aus ihrer gemeinsamen Aufgabe und der Bedeutung der verwirklichten Tarifautonomie für das Gemeinwesen ergebe. Es führe zu einer unnötigen Ausdehnung der Kampfphase einer Tarifauseinandersetzung, wenn man schon das Ob von Tarifverhandlungen der Mächtigkeit der jeweils Beteiligten überlasse und letztlich so die Koalition zum Beweis ihrer Mächtigkeit in den Arbeitskampf zwinge. Ein Verhandlungsanspruch sei ein Wert an sich; es gehe nicht darum, hierdurch unter Verstoß gegen die grundrechtlich garantierte Tarifautonomie inhaltliche Vorgaben zum Verhandlungsinhalt zu machen. Es genüge, sei aber auch erforderlich, die Beteiligten „an einen Tisch“ zu bringen. De lege ferenda forderte schließlich unter dem Eindruck der durch die Rechtspre- 12 chung im Jahre 20102 wiederhergestellten Möglichkeit von Tarifpluralitäten im Betrieb Martin Henssler, der einen allgemeinen Verhandlungsanspruch auf der Grundlage des geschriebenen Rechts ablehnt, eine umfassende Verhandlungspflicht der Arbeitgeberseite, mit der eine Verhandlungs-, besser: Mitverhandlungspflicht, und entsprechende Ansprüche aller im Betrieb vertretenen Gewerkschaften korrespondieren. Ergänzt um einen Zwang zur Teilnahme an einem gemeinsam durchzuführenden Schlichtungsverfahren in Pluralitätssituationen sieht er eine Möglichkeit, die aus seiner Sicht hier bestehende Gefahr übermäßiger, die Tarifautonomie gefährdender Streikaktivitäten zu beherrschen3. Diesen Weg ist der Gesetzgeber nicht gegangen. Er versucht vielmehr durch das am 10. Juli 2015 in Kraft getretene Tarifeinheitsgesetz und § 4a TVG die Pluralität nicht inhaltsgleicher Tarifverträge zu verhindern und räumt nicht einmal der nach der dortigen Kollisionsregel verdrängten Gewerkschaft einen Verhandlungs- oder auch nur Mitverhandlungsanspruch ein; der in § 4a Abs. 5 TVG vorgesehene Anhörungsanspruch ist etwas grundsätzlich anderes (vgl. näher Rz. 18a). c) Stellungnahme Für die Beantwortung der aufgeworfene Frage muss deutlich zwischen einem klagbaren Verhandlungsanspruch und einer die einzelne TV-Partei treffenden Verhandlungsobliegenheit unterschieden werden, die diese zwingt, sich auf Verhandlungen über den Abschluss von TVen einzulassen, um rechtliche und/oder tatsächliche Nachteile zu vermeiden.
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Diese Unterscheidung ist insbesondere vor dem Hintergrund des von der höchstrich- 14 terlichen Rechtsprechung geprägten Arbeitskampfrechts4 von entscheidender Bedeutung. Es ist im hier interessierenden Zusammenhang immer noch vom Ultima-RatioGrundsatz geprägt, demzufolge der Schäden verursachende Arbeitskampf mit dem Ziel, einen bestimmten Tarifabschluss zu erzwingen – oder zu verhindern –, erst dann rechtmäßig ist und sanktionslos bleibt, wenn andere zumutbare Wege, ohne Streik 1 2 3 4
Mikosch, FS Dieterich, S. 380 f. BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, BAGE 135, 80 = NZA 2010, 1068. Henssler, RdA 2011, 72. Zum aktuellen, vielfach umstrittenen Stand des Arbeitskampfrechts vgl. etwa Däubler, Arbeitskampfrecht; ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 94 ff.; Gagel/Bepler, SGB II/SGB III, Vor § 160 SGB III; HWK/Hergenröder, Art. 9 GG Rz. 146 ff.; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., §§ 191 ff.
Bepler 161
Teil 3 Rz. 15
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
und Aussperrung zu angemessenen Verhandlungsergebnissen zu kommen, gescheitert sind1. Zwar hat das BAG zu Recht angenommen, dass in der tatsächlichen Einleitung von Arbeitskampfmaßnahmen die freie und nicht überprüfbare Entscheidung der TV-Parteien liege, die Verhandlungsmöglichkeiten als ausgeschöpft anzusehen2. Es hat jedoch in derselben Entscheidung festgehalten, das Ultima-Ratio-Prinzip behalte seine Gültigkeit für die Frage, ob und ab wann Arbeitskampfmaßnahmen zulässig seien. Die Zulässigkeit jeder Arbeitskampfmaßnahme setze nämlich voraus, dass zuvor Forderungen für den Inhalt des abzuschließenden TVs erhoben und dass über diese Forderungen auch Tarifverhandlungen geführt worden seien, es sei denn, die andere Seite habe Verhandlungen über eine Forderung überhaupt abgelehnt3. 15
Von Bedeutung für das Bestehen einer Verhandlungsobliegenheit ist der Ultima-RatioGrundsatz auch, soweit er das Recht der außerordentlichen Kündigung beherrscht: Wer meint, die Geschäftsgrundlage des abgeschlossenen TVs sei durch nachträgliche, nicht vorhersehbare und schwerwiegende tatsächliche oder rechtliche Entwicklungen gestört, muss über Anpassungen zu verhandeln versuchen, um eine Änderung der Vertragslage herbeizuführen, und kann sich nicht sofort vom TV durch dessen fristlose Kündigung lossagen (§§ 313, 314 BGB)4. Umgekehrt muss sich auf Verhandlungen mit einem anpassungswilligen TV-Partner einlassen, wer in einer solchen Situation die sofortige fristlose Kündigung eines TVs wegen Störung der Geschäftsgrundlage und den Verlust eines Kalkulationssicherheit vermittelnden und arbeitnehmerschützenden, zwingend wirkenden und Friedenspflicht vermittelnden TVs vermeiden will.
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Wer sich vor diesem Hintergrund für einen klagbaren Verhandlungsanspruch ausspricht, fordert zugleich, dass Arbeitskampfmaßnahmen erst dann rechtmäßig sein sollen, wenn der betreffende Anspruch auch gerichtlich durchgesetzt und erfolglos realisiert ist. Damit würde aber insbesondere das Recht auf Streik ganz wesentlich eingeschränkt und eine Ausweitung des betreffenden Konflikts eher befördert. Denn es würden sogar dort, wo es normalerweise aufgrund der bestehenden Kooperationsstruktur oder auch nur des wechselseitigen Drohpotentials an sich ohne Weiteres zur Aufnahme von Verhandlungen kommt, also im Normalfall, Anreize gesetzt, den Tarifkonflikt durch Verhandlungsverweigerung und anschließende gerichtliche Klärung eines Verhandlungsanspruchs, in die mit hoher Wahrscheinlichkeit inhaltliche Fragen eingespeist würden (Anspruch auf Verhandlung über – z.B. diskriminierende – Tarifforderungen?), zur Abschwächung bereits erfolgter Mobilisierungserfolge zu verzögern. Dort, wo es möglicherweise eines Anspruchs bedürfte, um die „Beteiligten“ an einen Tisch zu bringen, würde sich der Konflikt in vielen Fällen in eine Auseinandersetzung über die Tariffähigkeit verlagern (§ 97 Abs. 5 ArbGG!).
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Es ist auch nicht einsichtig, warum es – gar unter dem Gesichtspunkt der Koalitionsrechtsgarantie – bedenklich sein und zu der geforderten Konsequenz eines allgemeinen Verhandlungsanspruchs führen soll, wenn eine Koalition mit einer anderen nicht oder nicht mehr in Tarifverhandlungen eintreten will. Das Erfordernis der Tarifwilligkeit verpflichtet nur dazu, sich überhaupt auf das TV-System aktiv einzulassen und 1 2 3 4
BAG GS v. 21.4.1971 – GS 1/68, BB 1971, 701. BAG v. 21.6.1988 – 1 AZR 651/86, NZA 1988, 846. BAG v. 21.6.1988 – 1 AZR 651/86, NZA 1988, 846 unter A I 3 d) der Gründe. BAG v. 18.12.1996 – 4 AZR 129/96, NZA 1997; BAG v. 18.6.1997 – 4 AZR 710/95, NZA 1997, 1234; vgl. auch Belling, NZA 1996, 906; Däubler, ZTR 1996, 241.
162 Bepler
Der Weg zum Tarifabschluss
Rz. 19 Teil 3
gegenüber anderen Koalitionen um der Gestaltung des Wirtschafts- und Arbeitslebens willen verhandlungsbereit zu sein. Ein Rechtsanspruch für bestimmte Koalitionen, vom sozialen Gegenspieler an der Regelungsaufgabe beteiligt zu werden, ergibt sich daraus nicht. Der Staat hat auch keine verfassungsrechtliche Schutzpflicht gegenüber kleinen Organisationen, ihnen die Teilnahme am Tarifgeschehen zu ermöglichen. Das richtige Verständnis der Tarifautonomie dahin, dass durch sie autonom eine sozial angemessene und wirtschaftlich ausgewogene Regelung des Arbeitslebens herbeigeführt werden soll, spricht vielmehr dagegen, jeder Organisation zu jedem Zeitpunkt unabhängig von ihren realen Durchsetzungschancen einen Rechtsanspruch auf Teilnahme an Tarifverhandlungen einzuräumen. Ob man an eine solche Rechtseinräumung in tarifpluralen Situationen zur Domesti- 18 zierung für die Akzeptanz des TV-Systems besonders gefährlich erscheinender Arbeitskampfsituationen hätte denken sollen, kann unerörtert bleiben. Der Gesetzgeber hat sich mit dem Tarifeinheitsgesetz1 ausdrücklich anders entschieden: Er ist zunächst in § 4a Abs. 2 und 3 TVG den verfassungsrechtlich diskussionswürdi- 18a gen Weg gegangen, nach einem auf den einzelnen Betrieb bezogenen Mehrheitsprinzip als Kollisionsregel das Nebeneinander von nicht inhaltsgleichen TVen mit zumindest teilweise sich überschneidendem Geltungsbereich zu unterbinden und nur dem MehrheitsTV die normative Anwendbarkeit zu belassen. Um verfassungsrechtlichen Bedenken hiergegen entgegenzuwirken, sieht § 4a Abs. 5 TVG für den Fall der Konkurrenz mehrerer für einen Betrieb tarifzuständiger Gewerkschaften für jede dieser Gewerkschaften ein klagbares Recht auf Anhörung durch die Arbeitgeberseite vor, wenn diese mit einer konkurrierenden Gewerkschaft in Verhandlungen über den Abschluss eines TVs eintritt. Selbst in dieser besonderen Situation räumt das Gesetz der Gewerkschaft aber nur das Recht ein, der Arbeitgeberseite ihre Vorstellungen und Forderungen mündlich vorzutragen. Dieses Recht soll nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers „kein Erörterungs- beziehungsweise Verhandlungsrecht“ umfassen. Rechtsfolgen aus einer Verletzung dieses Recht will das Gesetz nach seiner amtlichen Begründung zudem ausdrücklich nicht2. Ein allgemeiner Verhandlungsanspruch für Gewerkschaften dürfte damit bis zu einer neuen gesetzlichen Regelung ausgeschlossen sein. Ist hiernach ein klagbarer Verhandlungsanspruch im TV-System jedenfalls auf der 19 Grundlage des geschriebenen Rechts grundsätzlich abzulehnen, bleibt doch nach dem Ultima-Ratio-Grundsatz in den bereits angesprochenen Fällen eine Pflicht, sich im wohlverstandenen Eigeninteresse auf Tarifverhandlungen einzulassen, um Nachteile zu vermeiden3. Ein Arbeitgeber, der Verhandlungen über Tarifforderungen von vornherein verweigert, riskiert den sofortigen Ausbruch eines Streiks und die sich daraus ergebenden Schäden. Eine Gewerkschaft, die ihre Tarifforderungen mit Kampfmaßnahmen durchzusetzen versucht, ohne auch nur einmal hierüber verhandelt zu haben, streikt in der Regel rechtswidrig und macht sich gegebenenfalls schadensersatzpflichtig. Kommt es einmal zu einer schwerwiegenden Störung der Geschäfts-
1 Hierzu im Einzelnen Teil 9 Rz. 101 ff. sowie Däubler/Bepler, Das neue Tarifeinheitsrecht, 2016. 2 BT-Drucks. 18/4062, S. 15. 3 So zutreffend ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 24; Löwisch/Rieble, TVG, Grundl. Rz. 226 ff.
Bepler 163
Teil 3 Rz. 20
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
grundlage des bestehenden TVs, sind beide Vertragsparteien ebenfalls im bereits beschriebenen Eigeninteresse gehalten, über eine Anpassung vorab zunächst zu verhandeln. Ein klageweise durchsetzbarer Anspruch des Arbeitgebers oder Arbeitgeberverbandes auf Durchführung von Tarifverhandlungen besteht aber nicht. 3. Tarifvertraglich begründeter Verhandlungsanspruch 20
Ein Anspruch auf Aufnahme von Tarifverhandlungen kann sich allerdings aus einer entsprechenden tarifvertraglichen Vereinbarung ergeben. Dies steht dem Grunde nach außer Streit1. Denkbar sind etwa Regelungen in befristeten HausTVen zur Beschäftigungssicherung, in denen sich die TV-Parteien verpflichten, in einem bestimmten Zeitraum vor dem Ende der Tarifgeltung Verhandlungen über einen AnschlussTV aufzunehmen2. Es kommt aber auch vor, dass unter der Voraussetzung, dass bestimmte externe Bedingungen eintreten, z.B. eine Tarifentgelterhöhung in einem BezugsTV, ein Nachverhandlungsanspruch zur Anpassung der Entgeltregelungen vorgesehen wird3. In solchen Fällen wird vielfach von einem gerichtlich durchsetzbaren Verhandlungsanspruch auch schon während noch bestehender Friedenspflicht mit dem Inhalt des § 74 Abs. 1 Satz 2 BetrVG auszugehen sein. Anders kann es sich bei entsprechenden Festlegungen in TVen verhalten, die dauerhaft regelungsbedürftige Gegenstände betreffen. Hier wird es sich nicht selten um bloße Absichts- oder Good-Will-Erklärungen oder auch nur die deklaratorische Wiedergabe der geschilderten Obliegenheit handeln, also nicht um die Begründung eines gerichtlich einklagbaren Anspruchs. Was genau gewollt ist, ist aber in jedem Streitfall durch Auslegung der betreffenden, zum schuldrechtlichen Teil eines TVs zu zählenden Tarifklausel zu klären4.
II. Tarifschlichtung 21
Der vielfach wahrgenommenen, wenn auch nicht statistisch absicherbaren Gefahr, dass es in einem die Tarifautonomie gefährdenden Übermaß zu Arbeitskämpfen kommen könnte, ist danach von einem allgemeinen Verhandlungsanspruch der TV-Parteien aus über den Ultima-Ratio-Grundsatz in aller Regel nicht wirksam zu begegnen. Anders verhält es sich, wenn man davon ausgeht, dass vor Streikmaßnahmen ein förmliches Schlichtungsverfahren durchlaufen werden muss5. In der jüngeren Vergangenheit ist mehrfach eine modifizierende Verstärkung eines Arbeitskämpfe verhindernden oder doch zumindest zeitlich hinausschiebenden tariflichen Schlichtungs1 Vgl. nur Heilmann/Schoof in Berg/Kocher/Schumann, § 1 TVG Rz. 34; MünchArbR/Rieble/ Klumpp, § 187 Rz. 37. 2 Beispiel in BAG v. 16.5.2012 – 4 AZR 366/10, NZA 2013, 220. 3 So etwa in BAG v. 25.9.2013 – 4 AZR 173/12, BAGE 146, 133 = AP TVG § 1 Tarifverträge: Musiker Nr. 26 mit Anm. Wiedemann. Dort hatte die Gewerkschaft auf eine solche Nachverhandlungsklausel – erfolglos – einen Anspruch auf Abschluss eines bestimmten Nachfolgetarifvertrages zu stützen versucht. 4 Es ist zweifelhaft, ob hier wirklich für den Regelfall nur von einer bloßen Absichtserklärung auszugehen ist, wie dies Wankel/Schoof in Berg/Kocher/Schumann, § 1 TVG Rz. 436, annehmen. 5 So zumindest tendenziell BAG v. 21.4.1971 – GS 1/68, unter Teil III, A 2 a) der Gründe, BAGE 23, 292 = BB 1971, 701.
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Der Weg zum Tarifabschluss
Rz. 24 Teil 3
wesens gefordert worden1, das ja auch unabhängig von seinen arbeitskampfrechtlichen Folgen wesentliche Bedeutung für Zustandekommen und Inhalt von TVen haben kann. Deshalb soll der Ist-Zustand insoweit und sein historischer Hintergrund, der auf die Notwendigkeit gesetzgeberischer Zurückhaltung hinweisen könnte, im Folgenden dargestellt werden2. 1. Die (Zwangs-)Schlichtung in der Weimarer Republik In den tarifvertraglich geregelten Arbeitsbeziehungen wird in Deutschland seit weit 22 mehr als einhundert Jahren versucht, durch ein strukturiertes Schlichtungsverfahren das Zustandekommen kollektiver Neuregelungen der Löhne und sonstigen Arbeitsbedingungen zwischen Gewerkschaften auf der einen und Arbeitgeberverbänden oder einzelnen Arbeitgebern auf der anderen Seite zu fördern3. Dabei ging und geht es immer auch darum, Arbeitskämpfe durch kollektive Arbeitsniederlegungen und Aussperrungen zu verhindern oder doch zumindest einzudämmen, die bei den an der Auseinandersetzung Beteiligten zu oft recht erheblichen Schäden führen und typischerweise im Verhältnis der am Arbeitsleben Beteiligten wie auch im Verhältnis zum sozialen Umfeld starke Irritationen bis hin zu nachhaltigen persönlichen Verletzungen zur Folge haben, die in der Folgezeit eine befriedigende und produktive Zusammenarbeit erschweren. Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten die Gewerbegerichte als sogenannte Einigungsämter die Aufgabe der – verbindlichen – Schlichtung in Regelungsstreitigkeiten. Während des Ersten Weltkrieges, im Jahre 1916, folgte eine unter starkem staatlichem Einfluss stehende Schlichtung auf der Grundlage des Gesetzes über den vaterländischen Hilfsdienst, die in den kriegswichtigen Betrieben und Unternehmen mit ihren Schiedssprüchen für ungestörte Produktivität unter vertretbaren Arbeitsbedingungen sorgen sollten.
23
Die auch für die Arbeitsbeziehungen höchst unruhigen Zeiten nach dem Ende des 24 Ersten Weltkrieges haben dann Pate gestanden für eine besondere Form der Zwangsschlichtung, die Michael Kittner sehr nachvollziehbar als die Epoche prägende Eigenart der Weimarer Arbeitsverfassung4 bezeichnet hat: Die Tarifvertragsverordnung vom 23. Dezember 1918 sah sie zwar noch nicht vor; hier war nur geregelt, dass ein Schlichtungsverfahren vor einem Schlichtungsausschuss zu durchlaufen war; der hier zustande gekommene Schiedsspruch konnte aber ohne Zustimmung der beiden Verhandlungspartner nicht verbindlich werden. Dies wurde aber mit der Demobilmachungsverordnung vom 3. September 1919 anders. Der hierdurch installierte Demobilmachungskommissar bekam in § 26 der Verordnung auch die Befugnis, bei 1 Z.B. durch Heinze, FS Molitor, S. 159; Lieb, FS Hanau, S. 561; Gentz, FS Däubler, S. 421; Henssler, RdA 2011, 65 (70); in jüngerer Zeit wird die Frage insbesondere im Zusammenhang mit Arbeitskämpfen in der Daseinsvorsorge diskutiert: Franzen/Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, 2012, insbes. S. 73 ff.; in ähnliche Richtung aber weitergehend bis zur Möglichkeit einer Zwangsschlichtung nach Weimarer Modell Stegmüller, NZA 2015, 723, 726 f.; dagegen Berg, FS Kempen, S. 278. 2 Zum tariflichen Schlichtungswesen schon Bepler, FS Grädler, 2012, S. 44, 52 ff. 3 Hierzu im Einzelnen höchst instruktiv Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Band I, S. 1298 ff.; Kittner, Arbeitskampf, S. 454 ff. 4 Kittner, Arbeitskampf, S. 454.
Bepler 165
Teil 3 Rz. 24
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
Streitigkeiten über Löhne, Gehälter und sonstige Arbeitsbedingungen ergangene Schiedssprüche des Schlichtungsausschusses für verbindlich zu erklären. Diese Verordnung wurde durch die Verordnung für das Schlichtungswesen vom 30. Oktober 1923 bestätigt und weiterentwickelt. Danach konnten Schlichtungsausschüsse und Schlichter nicht nur „auf Anruf“ einer Streitpartei, sondern auch von Amts wegen tätig werden und hatten zum Abschluss von Gesamtvereinbarungen Hilfe zu leisten, soweit eine autonom vereinbarte Schlichtungsstelle nicht bestand. Das Verfahren verlief dann in drei Schritten: zunächst hatten die Streitparteien zu versuchen, vor der Schlichtungsstelle eine Einigung zu finden; gelang das nicht, machte die Schlichtungsstelle einen Vorschlag für den Abschluss einer Gesamtvereinbarung, der wie die Vereinbarung selbst wirkte, wenn er von beiden Parteien angenommen wurde. Geschah dies nicht, konnte der Schiedsspruch mit der Wirkung einer Gesamtvereinbarung, also insbesondere mit der Wirkung, Friedenspflicht zu begründen und Arbeitskämpfe zu verhindern oder zu beenden1, für verbindlich erklärt werden, „wenn die in ihm getroffene Regelung bei gerechter Abwägung der Interessen beider Teile der Billigkeit entspricht und ihre Durchführung aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen erforderlich ist.“2 Der Schiedsspruch konnte zwar an sich nur mit – einfacher – Stimmenmehrheit der Mitglieder der Schlichtungsstelle ergehen; für den Fall, dass sich bei der Abstimmung aber mehr als zwei Meinungen bildeten, von denen auch nach einer Nachverhandlung keine die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen konnte, entschied die Stimme des Vorsitzenden. Ihn bestellten der Reichsarbeitsminister oder die jeweils zuständigen Landesminister zumindest mittelbar, in wichtigen Angelegenheiten unmittelbar. Die Hürden für eine Verbindlicherklärung waren mit den Maßstäben der Billigkeit und der Erforderlichkeit aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen nicht gerade unüberwindbar. Auf diese Weise war mit der Einführung dieses während der gesamten folgenden Zeit der Weimarer Republik praktizierten Konfliktlösungsverfahrens zwar nicht notwendig die Aufgabe des in der Weimarer Reichsverfassung vorgezeichneten Modells eines verbandsautonom und verbandsverantwortlich geregelten Arbeitslebens verbunden. Die TV-Parteien hätten durch tarifautonome Regelungen ihren Gestaltungsraum bewahren können, wenn sie in diesem Ziel einig gewesen wären. Die Machtverteilung zwischen den Beteiligten und das wechselseitige Verhältnis zueinander waren aber nicht so, dass beiderseits ein starkes Interesse an autonom geschaffenen Regelungen und hinreichendes Vertrauen auf deren soziale Qualität bestand. Damit dürfte es zu erklären sein, dass mit fortschreitender Zeit die angesichts der tatsächlichen Durchführung im Schwerpunkt staatlichen Vorgaben und Bedürfnissen entsprechende Zwangsschlichtung den frei vereinbarten TV zumindest in den wichtigsten Regelungsmaterien fast völlig verdrängte und dies nicht selten vor dem Hintergrund schwieriger wirtschaftlicher Bedingungen um einer Absenkung der Arbeitsbedingungen willen3. Das Verhältnis
1 Däubler/Däubler, Arbeitskampfrecht, § 4 Rz. 21. 2 § 6 SchlichtungsVO. 3 Die zentrale, weit über die Regelung eines Arbeitskonfliktes hinausgehende Bedeutung des Schlichtungswesens in der Weimarer Republik verdeutlicht eine Einschätzung von Hugo Sinzheimer, Die Justiz 1930/31 (Band VI Heft 3) S. 164, 167: „Der Zwangstarifvertrag ist ein Mittel, zwangsweise in das Lohnniveau einzudringen, ohne dass ihm auf anderen Gebieten des Sozialund Wirtschaftslebens ähnliche Einrichtungen entsprechen.“ Eine aus Gewerkschaftssicht deutlich erwartungsvollere Bewertung des Schlichtungswesens findet sich nur wenige Jahre zuvor bei Clemens Nörpel, Schlichtungsergebnisse, in Gewerkschaftszeitung v. 18. April 1925
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Der Weg zum Tarifabschluss
Rz. 26 Teil 3
staatlicher Schiedssprüche zu autonomen tarifvertraglichen Abschlüssen betrug schließlich 73 zu 171. Franz Gamillscheg resümiert die Erfahrungen mit der Zwangsschlichtung in der Wei- 25 marer Republik dahin, es habe sich gezeigt, dass dann, wenn ein staatlicher Zwangsschlichter bereit stehe, der Wille zum Ausgleich erlahme, weil jede Seite schon um der eigenen Mitglieder willen auf ihren Höchstforderungen beharre. Die Verantwortung liege ja beim Schlichter. Die bereitstehende Zwangsschlichtung sei so eine Erziehung oder Einladung zur Verantwortungslosigkeit2. Hinzufügen lässt sich die Vermutung, die bei vielen fehlende Bereitschaft, den Staat von Weimar in seinem Bestand und seiner (auch: Arbeits-)Verfassungsordnung zu schützen und zu bewahren, könnte auch etwas damit zu tun gehabt haben, dass bei vielen der Eindruck entstand, die ohne maßgebenden Einfluss der Verbände letztlich staatlich geschaffenen Arbeitsbedingungen und damit auch Lebensbedingungen hätten mit den eigenen Interessen und Bedürfnissen, wie sie von den Verbänden erfolglos (gelegentlich auch: über-)artikuliert worden waren, grundsätzlich nicht in Übereinstimmung gestanden. 2. Schlichtung im Tarifvertragssystem der Bundesrepublik Deutschland a) Tarifautonome, freiwillige Schlichtung Auch wenn nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges durch Art. 9 Abs. 3 des Grund- 26 gesetzes Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie verfassungsrechtlich gewährleistet wurden, erwog man zunächst durchaus, wieder ein staatliches Schlichtungs- bis hin zum Zwangsschlichtungssystem zur Sicherung eines möglichst arbeitskampfarmen Wiederaufbaus zu errichten. Anders als in der Republik von Weimar3 gelang es hier jedoch den Sozialpartnern, dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), sich im Jahre 1954 im sogenannten Margarethenhof-Abkommen4 auf eine Musterschlichtungsvereinbarung zu einigen, die den Vorrang der tariflichen, zwischen den TV-Parteien vereinbarten Schlichtung5 vor jeder Form von staatlich beeinflusster Schlichtung festschrieb.
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Nr. 16 (bei Flemming/Krohn/Stegmann/Witt, Die Republik vom Weimar, Band 2: Das sozialökonomische System, 1979, S. 270 f.). Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Band I, S. 1301. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Band I, S. 1303; eine in diese Richtung gehende, die eigene Existenz gefährdende Tendenz des (Zwangs-)Schlichtungswesen sah der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB) im März 1924 voraus, ohne daraus letztlich die gebotenen Konsequenzen zu ziehen; in einer Verlautbarung heißt es: „Wenn es Übung wird, dass die Behörde aus Schiedssprüchen Tarifverträge macht, so werden damit die Gewerkschaften ausgeschaltet und nach vieler Meinung entbehrlich gemacht. Sie tragen für die geltenden Arbeitsbedingungen keine Verantwortung und der Arbeitnehmer glaubt, es ginge auch ohne Gewerkschaften, Beiträge und Disziplin; es genüge, Forderungen zu erheben, und zwar möglichst viel zu fordern, sodass der Schlichter weit genug entgegen kommt, und alles übrige besorgt die Schlichtungsbehörde. Eine solche Entwicklung des künftigen Schlichtungswesens wäre der Ruin der Gewerkschaften.“ (zitiert nach Kittner, Arbeitskampf, S. 460 f.). Zu dem hier erfolglosen Versuch Kittner, Arbeitskampf, S. 461 f. Abgedruckt in RdA 1954, 383. Im vorliegenden Zusammenhang geht es um die Schlichtung zur Herbeiführung tariflicher Regelungen im Sinne einer Vertragshilfe. TV-Parteien verwenden den Begriff gelegentlich auch in ihren TVen, um paritätisch besetzte Einrichtungen zu schaffen und ihr Verfahren zu regeln. Deren Aufgabe ist es, bei Meinungsverschiedenheiten der TV-Parteien über den Inhalt des
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Teil 3 Rz. 27
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
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In den meisten wichtigen Branchen wurde diese Mustervereinbarung modifiziert vereinbart, so etwa im Baugewerbe, in der Chemischen und in der Metallindustrie sowie im Öffentlichen Dienst1. Einige Branchen, wie etwa die Banken oder der Groß- und der Einzelhandel, haben zwar keine solchen auf Dauer angelegten Schlichtungsvereinbarungen getroffen. Dies schließt aber nicht aus, dass sie sich im einzelnen Konfliktfall auf ein Schlichtungsverfahren unter dem Vorsitz von einem oder zwei externen Schlichtern verständigen. Zudem gibt es auch einzelne TVe, die speziell für einen abzuschließenden NachfolgeTV ein Schlichtungsverfahren vorsehen.
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Die als schuldrechtliche Vereinbarungen zu qualifizierenden und deshalb bei einer etwaigen Kündigung nicht nach § 4 Abs. 5 TVG nachwirkenden2 Schlichtungsvereinbarungen legen grundsätzlich fest, dass eine gleich große Zahl von Arbeitgeberverbands- und Gewerkschaftsvertretern Mitglieder der „Schlichtungsstelle“ oder „Schlichtungskommission“ genannten Einrichtung werden. Außerdem steht die Schlichtungsstelle häufig unter dem Vorsitz eines stimmberechtigten unparteiischen Vorsitzenden. Anders ist es bei der Chemischen Industrie, die ganz ohne unparteiischen Vorsitzenden auskommt – und gleichwohl eine der Bereiche mit den geringsten Arbeitsausfällen infolge von Arbeitskämpfen ist –, und in einigen anderen Branchen wie der Metallindustrie, bei der Bahn oder beim Deutschen Roten Kreuz, bei der von jeder Seite eine oder ein Vorsitzender benannt wird. Auch dann ist es wieder unterschiedlich, ob einer der Vorsitzenden – entweder einvernehmlich oder aufgrund eines Losentscheids festgelegt – stimmberechtigt ist oder ob sich beide Vorsitzenden auf einen Schlichtungsvorschlag einigen müssen.
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Die Schlichtungsvereinbarungen sehen ein Tätigwerden der Schlichtungsstelle nur nach vorheriger erfolgloser Verhandlung der TV-Parteien und auch dann nicht von Amts wegen, sondern nur nach Anrufung durch eine der Parteien vor. Ganz überwiegend begründen sie nach einer solchen einseitigen Anrufung einen Einlassungszwang der anderen TV-Partei. Nur in der Metallindustrie findet eine Schlichtung nicht statt, wenn die Schlichtungsstelle nicht einvernehmlich, sondern nur von einer Partei angerufen wurde und die andere Partei sich nicht binnen zwei Werktagen dieser Anrufung angeschlossen hat. Die nicht öffentliche Verhandlung vor der Schlichtungsstelle endet – im Einzelnen unterschiedlich geregelt – mit der Feststellung des Scheiterns der Schlichtung oder der Einigung der TV-Parteien, einem beiderseits angenommenen Einigungsvorschlag der Schlichtungsstelle oder deren mehrheitlich gefälltem Spruch. Wird ein Einigungsvorschlag angenommen, haben die TV-Parteien die Pflicht, ihn in einen formgerechten TV umzusetzen. Durch einen Spruch der Schlichtungsstelle wird zwar deren Verfahren beendet; der Tarifkonflikt ist damit aber nicht notwendig zu Ende. Nur wenn der Spruch die Qualität eines TVs erreicht hat, weil er auch förmlich verbindlich geworden ist, ist dies der Fall. Dazu kommt es nach den branchenspezifischen Regelungen unter unterschiedlichen Voraussetzungen: Bedingung kann von ihnen Vereinbarten Klarheit zu schaffen oder ein übereinstimmendes Normverständnis zu erreichen. Solche Schlichtungs- oder Schiedsstellen gibt es beispielsweise in der Metallindustrie, bei den privaten Eisenbahnen und in der Systemgastronomie. 1 Texte sind abgedruckt bei Löwisch/Rumler, Schlichtungs- und Arbeitskampfrecht, S. 503 ff.; teilweise sind die dortigen Texte aber überholt. Die Schlichtungsabkommen sind in ihren aktuellen, immer wieder einmal abgeänderten Fassungen üblicherweise zumindest über die daran beteiligten Gewerkschaften im Internet recherchierbar. 2 Dazu Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 863.
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Der Weg zum Tarifabschluss
Rz. 31 Teil 3
eine nachträgliche schriftliche Annahme des Spruchs durch beide Parteien sein, aber auch die schriftliche Vorabunterwerfung unter den bevorstehenden Spruch. Einige Schlichtungsvereinbarungen verzichten auch auf eine solche ausdrücklich Annahme des Spruchs und lassen ihn bereits dann verbindlich werden, wenn er entweder einvernehmlich (Baugewerbe) oder mit einer qualifizierten Mehrheit (Druckgewerbe) zustande gekommen ist. In allen diesen Fällen dürfte es aber einer Umsetzung in einen formgerechten TV im Sinne des § 1 Abs. 2 TVG bedürfen, dem allein der Gesetzgeber Normwirkung verliehen hat. Den hier bekannten Schlichtungsvereinbarungen ist gemeinsam, dass sie in unter- 30 schiedlicher Regelungstechnik für die Zeit der Durchführung des Schlichtungsverfahrens, also bis zu dessen Scheitern oder seinem Erfolg, eine Friedenspflicht hinsichtlich der Verhandlungsgegenstände festlegen. Teilweise sind auch nur sog. Abkühlungsphasen nach Auslaufen des betreffenden TVs vorgesehen, die aber zeitlich so dimensioniert sind, dass vor ihrem Ablauf ein Schlichtungsverfahren durchgeführt werden kann. Auch wenn eine ausdrückliche Festlegung der Friedenspflicht während der Dauer der Schlichtungsverhandlungen fehlen sollte, würde die höchstrichterliche Rechtsprechung eine kampfweise Arbeitsniederlegung während laufender Schlichtung wohl als unverhältnismäßig und rechtswidrig ansehen, wenn sie mehr ist als eine kurze demonstrative Solidarisierung mit den Verhandlungszielen der Gewerkschaft. Die Warnstreikentscheidung des BAG, die es nach Aufnahme der Tarifverhandlungen in das freie Ermessen der Gewerkschaft stellt, ob sie ausschließlich friedliche Verhandlungen nicht mehr für aussichtsreich und deshalb gescheitert hält1, steht dem nicht entgegen. Denn eine Gewerkschaft, die unter Einschaltung Dritter in die Schlichtung geht, bringt damit zum Ausdruck, dass sie friedliche Verhandlungen noch nicht für ausgereizt hält. b) Gesetzliche Schlichtungsangebote Soweit ersichtlich ohne wesentliche praktische Bedeutung sind einige ältere landes- 31 gesetzliche Regelungen, die überwiegend als dessen Ausführungsbestimmungen auf das wohl immer noch förmlich geltende Kontrollratsgesetz Nr. 35 vom 20.8.1946 zurückgehen und die es deshalb auch nur in der alten Bundesrepublik überhaupt noch gibt2. Sie bieten die – kaum in Anspruch genommenen – Dienste von Landesschlichtern oder Landesschlichtungsstellen an, die aber nur von beiden TV-Parteien übereinstimmend angerufen werden können und deren Spruch auch nur Verbindlichkeit erlangt, wenn er im Vorhinein oder nachträglich beiderseits angenommen wurde.
1 BAG v. 21.6.1988 – 1 AZR 651/86, NZA 1988, 846. 2 Der begründete Entwurf eines Gesetzes zur Regelung kollektiver Arbeitskonflikte durch prominente deutsche Hochschullehrer (Rolf Birk, Horst Konzen, Manfred Löwisch, Thomas Raiser und Hugo Seiter), der dem Schlichtungsverfahren einen eigenen Gesetzesabschnitt mit immerhin acht von 40 Paragrafen widmete (Tübingen 1988), blieb ohne erkennbaren Widerhall in der neueren Gesetzgebung; in jüngerer Zeit haben aber Franzen/Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, 2012, S. 73 ff. und Stegmüller, NZA 2015, 723, 727, die Möglichkeit einer staatlichen Schlichtungsstelle gegenüber Arbeitskämpfen, die Unternehmen aus dem – sehr weit gefassten – Bereich der Daseinsvorsorge drohen, wieder aufgegriffen. Stegmüller will hier sogar wieder an die Zwangsschlichtung aus der Weimarer Zeit anknüpfen. Für eine obligatorische Schlichtung vor Arbeitskämpfen in der Daseinsvorsorge auch ein Entschließungsantrag des Freistaats Bayern vom 16.6.2015, BR-Drucks. 294/15.
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Teil 3 Rz. 32 32
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
Eine eher exotische Besonderheit gilt im Landesteil Baden des Landes Baden-Württemberg mit der Badischen Schlichtungsordnung. Hier kann der Schlichter nach dem Gesetzeswortlaut nicht nur auf Antrag einer Partei, sondern sogar von Amts wegen tätig werden kann; sein Spruch soll durch Entscheidung des zuständigen Landesministers für verbindlich erklärt werden können. Gegen diese gesetzlich eingeräumte und praktisch wohl nicht in Anspruch genommene Möglichkeit der staatlichen Zwangsschlichtung werden gut nachvollziehbare verfassungsrechtliche Bedenken unter dem Gesichtspunkt eines Verstoßes gegen die positive Koalitionsfreiheit erhoben1. 3. Würdigung
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Insgesamt lässt sich zum heute erreichten Stand des Schlichtungswesens im deutschen TV-Recht sagen: Es gibt kein staatlich beherrschtes, autoritäres Schlichtungswesen mehr, das die Regelungsautonomie der TV-Parteien überwinden könnte. Es wäre wohl auch verfassungsrechtlich kaum zu halten2. Da es für eine teure Arbeitskämpfe vermeidende Schlichtung aber offenbar bei beiden Beteiligten des kollektiven Gestaltungsprozesses im Arbeitsleben ein Bedürfnis gibt, haben die Koalitionen fast durchgängig tarifautonom ein Schlichtungsverfahren eingeführt – oder praktizieren es zumindest –. Hier sind in mehreren hintereinander geschalteten Verfahrensschritten bis hin zur Einschaltung eines unparteiischen Dritten mit besonderer Sachkunde oder besonderer sozialer Autorität auch ohne vorherige Arbeitskämpfe eine Vielzahl allseits akzeptierter Tarifeinigungen gelungen und gelingen auch weiterhin. Arbeitskämpfe und – in einigen Branchen heute praktisch vielleicht mindestens ebenso bedeutsam: das In-Aussicht-Stellen von Arbeitskampfmaßnahmen – sind nicht durchgängig zu vermeiden. Die Streikstatistik, die Deutschland unter den vergleichbaren Staaten immer noch als eine der am wenigsten von Streiks betroffenen Gesellschaften und Volkswirtschaften ausweist3, belegt indes anschaulich, dass der Weg zum Tarifabschluss, wie er sich in Deutschland eingebürgert und durchgesetzt hat, eher konsensual als konfrontativ geprägt ist.
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Für eine verfassungskonforme Reform, welche die Möglichkeit einer inhaltlichen Zwangsschlichtung wohl aussparen müsste, ist danach ein Bedarf nicht zu erkennen, nimmt man nur die Eindämmung von Arbeitskämpfen als solche als Regelungsziel in den Blick. Bei den in jüngerer Zeit mit besonderer Aufmerksamkeit beobachteten Arbeitskämpfen in der Daseinsvorsorge könnte sich allerdings eine Sonderentwicklung ergeben4, wenn das Tarifeinheitsgesetz die vom Gesetzgeber erhoffte Befriedung der Arbeitskonflikte – was zu erwarten ist – nicht bewirken wird.
1 Schumann in Berg/Kocher/Schumann, AKR Rz. 423 m.w.N. 2 A.A. Stegmüller, NZA 2015, 723, 727, der nur verfassungsrechtliche Vorgaben für die Voraussetzungen sieht, unter denen es zu einer Zwangsschlichtung durch staatliche Verbindlicherklärung von Schlichtungssprüchen kommen kann. 3 Zur Streikstatistik vgl. etwa aus jüngerer Zeit die Zusammenstellungen bei Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 191 Rz. 4; Däubler/Däubler, Arbeitskampfrecht, § 8 Rz. 30 ff. jeweils m.w.N. 4 Vgl. hierzu den Entschließungsantrag des Freistaates Bayern vom 16.6.2015, BR-Drucks. 294/15.
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Der Weg zum Tarifabschluss
Rz. 37 Teil 3
III. Die Tarifverhandlungen 1. Verhandlungsführung Verantwortlich für die eigentlichen TV-Verhandlungen und deren Abschluss sind die 35 Organe der Verbände, die in den jeweiligen Satzungen bestimmt sind. Üblicherweise werden die Verhandlungen von Verhandlungskommissionen geführt, die auf Gewerkschaftsseite von den den Gewerkschaftsvorstand beratenden Tarifkommissionen gebildet werden1. In den Satzungen oder in auf Satzungsgrundlage erlassenen Richtlinien, die hierzu oft Näheres bestimmen, finden sich insbesondere bei Großgewerkschaften, die für sehr unterschiedliche Arbeitnehmergruppen verhandeln, auch Regelungen über die Zusammensetzung dieser Kommissionen oder Ausschüsse. Insbesondere wird dann, wenn ein TV für eine bestimmte Beschäftigtengruppe verhandelt wird, angeordnet, dass diese Gruppe in der Tarifkommission oder der Verhandlungskommission in bestimmter Weise vertreten sein muss. Werden solche Bestimmungen verletzt, kann dies innerverbandliche Folgen nach sich ziehen; ein derartiger Fehler bleibt aber ohne Einfluss auf die Wirksamkeit des dann zustande gekommenen TVs2. 2. Abschlussbefugnis Über das wirksame Zustandekommen entscheidet, was die am Abschluss Beteiligten 36 angeht, das Satzungsrecht mit seinen Regelungen über Organschaft und Außenvertretung, weshalb typischerweise für bundesweite Tarifabschlüsse auf Seite der beteiligten Gewerkschaft deren Hauptvorstand zuständig ist, für den dann letztlich der oder die Vorsitzende oder ein oder mehrere andere die erforderlichen Erklärungen abgeben, was ebenfalls häufig schon in den Satzungen entsprechend festgelegt ist. Für regionale Abschlüsse sind vielfach eine eigene Abschlusskompetenz der gewerkschaftlichen Bezirksleitungen und eine Vertretungsbefugnis bestimmter Funktionsträger satzungsmäßig bestimmt. Soweit die Abschlusskompetenz in der Satzung insoweit nicht eingeschränkt ist, können für den konkreten Tarifabschluss auch rechtsgeschäftliche (Unter-)Vertreter bevollmächtigt werden, was insbesondere bei HausTVen häufiger geschieht. Insoweit gilt das allgemeine Vertretungsrecht, das eine Bevollmächtigung durch eine herfür kompetente Person oder ein solches Gremium verlangt, einschließlich der Möglichkeit einer nachträglichen Genehmigung vollmachtlosen Handelns (§ 177 BGB)3. Es gelten auch die Grundsätze der Anscheins- und Duldungsvollmacht, die ausnahmsweise ohne weitere Aufklärung über das Vorliegen einer Vollmacht für die Wirksamkeit eines TVs streiten können4. Dies wird insbesondere dann in Frage kommen, wenn ein TV über längere Zeiträume durch die nach außen vertretene Partei unbeanstandet umgesetzt worden ist.
1 Däubler, Arbeitsrecht, Leitfaden für Arbeitnehmer Band 1, 2006, Rz. 211. 2 BAG v. 16.11.2011 – 4 AZR 856/09, NZA-RR 2012, 308. 3 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 120/09, DB 2011, 600; BAG v. 9.9.2010 – 2 AZR 936/08, ZTR 2011, 296. 4 BAG v. 13.7.1994 – 4 AZR 699/93, NZA 1995, 79; BAG v. 12.12.2007 – 4 AZR 996/06, NZA 2008, 892.
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Teil 3 Rz. 38
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
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Die Anwendung der genannten Grundsätze setzt allerdings voraus, dass der formbedürftige TV (§ 1 Abs. 2 TVG) ohne weiteres erkennbar für einen anderen abgeschlossen worden ist. Dies ist dann nicht der Fall, wenn das Mutterunternehmen eines Konzerns – offenbar in Verkennung der Grenzen der eigenen Tariffähigkeit1 – TVe in eigenem Namen abgeschlossen hat und lediglich bei der Bestimmung von deren Geltungsbereich angegeben wird, für welche Konzernunternehmen das Geregelte auch gelten soll. Hier werden die TVe nur zwischen den Parteien des TVs wirksam2.
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Ein konzerneinheitliches Tarifrecht ist hiernach nicht ausgeschlossen. Es muss nur § 2 Abs. 1 und § 1 Abs. 2 TVG berücksichtigen. Die konzernangehörigen Unternehmen, in denen der TV gelten soll, können im Rahmen eines mehrgliedrigen TVs selbst – mit – als TV-Partei auftreten und sich dabei auch durch die Konzernobergesellschaft rechtsgeschäftlich vertreten lassen, wobei deren im TV schriftlich dokumentiertes Handeln als Vertreter zumindest einen einer ausdrücklichen Nennung des Vertretenen als TV-Partei gleichwertigen Grad an Klarheit und Eindeutigkeit haben muss. Aus § 1 Abs. 2 TVG folgt auch, dass für die Tarifunterworfenen aus dem TV selbst ersichtlich sein muss, ob der betreffende TV überhaupt für sie gelten kann; dies setzt die eindeutige Erkennbarkeit voraus, wer Partei des TVs ist3.
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Ein konzerneinheitliches Tarifrecht auch für künftige konzernangehörige Unternehmen lässt sich allerdings auf diese Weise nicht erreichen. Zu diesem Ziel kann man auch nicht mit Hilfe der rechtlichen Konstruktion gelangen, eine Konzernobergesellschaft als eine Art Spitzenverband anzusehen, der analog § 2 Abs. 2 TVG für die jeweiligen Konzernunternehmen TVe abschließen könne4. Spitzenverbände sind Organisationen, in denen sich Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbände zusammengeschlossen haben; in Konzernen sind Unternehmen miteinander verbunden, wobei nicht deren Eigenschaft als Arbeitgeber im Vordergrund steht. § 2 Abs. 2 TVG kann deshalb von vornherein nicht als Legitimationsgrundlage für „KonzernTVe“ herangezogen werden. Im Übrigen: Spitzenverbände sind nicht durch die Mitgliedschaft von Arbeitnehmern oder Arbeitgebern legitimiert. Die von ihnen abgeschlossenen TVe haben von vornherein ein Transparenzdefizit, weil die Verbindung zwischen Regelungsgebern und Regelungsunterworfenen nur vermittelt ist. Die für Spitzenverbände geltenden tarifvertragsgesetzlichen Ermächtigungen sind vor diesem Hintergrund als Ausnahme zu sehen. Sie können deshalb grundsätzlich nicht mit Hilfe einer extensiven Analogie erweitert werden. Auch eine Erweiterung de lege ferenda sollte unterbleiben5. 1 Die irrige Vorstellung, es sei über die Grenzen des § 2 Abs. 1 TVG hinaus möglich, auch als solche bezeichnete KonzernTVe abzuschließen, ist erkennbar auch unter Gewerkschaften verbreitet. Ein einzelnes Konzernunternehmen kann nur TVe zur Regelung auch der in anderen Konzernunternehmen tatsächlich durchgeführten Arbeitsverhältnisse abschließen, wenn es als Personalführungsgesellschaft fungiert, also von Rechts wegen Arbeitgeber aller Beschäftigten ist; insoweit zutreffend Kocher/Berg in Berg/Kocher/Schumann, § 2 TVG Rz. 76. 2 BAG v. 17.7.2007 – 4 AZR 1005/06, NZA 2008, 713; BAG v. 18.11.2009 – 4 AZR 491/08, NZA 2010, 835; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 120/09, NZA-RR 2011, 137. 3 BAG v. 12.2.1997 – 4 AZR 419/95, NZA 1997, 1064; BAG v. 29.6.2004 – 1 AZR 143/03, NZA 2005, 600; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 120/09, NZA-RR 2011, 137. 4 So Kocher/Berg in Berg/Kocher/Schumann, § 2 TVG Rz. 77, im Anschluss an Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 96, die unter Rz. 93 auf besondere Schwierigkeiten hinweist, einen TV mit allen konzernangehörigen Unternehmen durchzusetzen. 5 Zur Tariffähigkeit von Spitzenorganisationen BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289; hierzu nur D. Ulber, RdA 2011, 353; Schüren, RdA 2011, 368; Lunk/Rodenbusch, RdA
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Schriftformzwang fr Tarifvertrge (§ 1 Abs. 2 TVG)
Rz. 44 Teil 3
B. Schriftformzwang für Tarifverträge (§ 1 Abs. 2 TVG) I. Normzweck TVe, die nicht notwendig in deutscher Sprache abgefasst sein müssen1, bedürfen nach 41 § 1 Abs. 2 TVG der Schriftform, damit die tarifvertraglichen Regelungen insbesondere für die am Tarifabschluss nicht unmittelbar beteiligten, aber den dortigen Regelungen unterworfenen Dritten jederzeit feststellbar klargestellt werden können und die Normurheber zweifelsfrei feststehen2. Dem Schutz der TV-Parteien vor Übereilung dient der Schriftformzwang nach allgemeiner Meinung nicht3. Die angesprochenen, in erster Linie den schützenswerten Interessen der Tarifunterworfenen dienenden Zwecke des § 1 Abs. 2 TVG sprechen in jedem Falle dafür, diese Bestimmung nicht restriktiv, sondern in einem der tarifautonomen Gestaltung des Arbeitslebens dienenden Sinn anzuwenden.
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II. Erfüllung der Schriftform § 1 Abs. 2 TVG verweist nicht auf § 126 BGB. Diese Bestimmung ist jedoch grund- 43 sätzlich entsprechend den § 1 Abs. 2 TVG zu Grunde liegenden tarifrechtlichen Zwecken anzuwenden. Dies bedeutet, dass jeder TV von den an seinem Abschluss Beteiligten oder ihren Vertretern eigenhändig zu unterschreiben ist; eine Paraphe genügt nicht4. Darüber hinaus ist erforderlich, dass die in der Unterschrift liegende Vertragsannahmeerklärung dem jeweils anderen Vertragspartner im Original zugehen muss, wenn die Unterschriften in Abwesenheit der Gegenseite geleistet werden. Die Mitteilung an diese, man habe den übersandten TV unterzeichnet, reicht ebenso wenig aus, wie eine Übermittlung des unterschriebenen TVs per Fax5. Jeder TV wird erst dann wirksam, wenn diese Voraussetzungen vollständig und von und gegenüber allen Beteiligten erfüllt worden sind. Nach der Rechtsprechung des BAG und einem großen Teil der Literatur reicht es für 44 die Formwirksamkeit eines TVs aus, wenn mehrere gleich lautende TV-Urkunden aufgenommen wurden und jede TV-Partei die für die andere Seite bestimmte Urkunde unterzeichnet und das von ihr unterschriebene Exemplar der Gegenseite im Original zugeleitet hat6. Dies ist schon auf den ersten Blick kaum verständlich, weil ein
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2011, 375; Lembke, FS Bepler, 2012, S. 345; jeweils m.z.w.N. Bedenken gegen deren intransparente Rechtssetzungsmacht bei Bepler, Gutachten zum 70. DJT, B 16 f. Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 312; Däubler/Reim/Nebe, § 1 TVG Rz. 163; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1448. Zuletzt BAG v. 15.4.2008 – 1 AZR 86/07, NZA 2008, 1074; ebenso Heilmann/Schoof in Berg/ Kocher/Schumann, § 1 TVG Rz. 46; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 198 Rz. 7; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 310. Z.B. C. Schubert in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 3 Rz. 19; Däubler/Reim/Nebe, § 1 TVG Rz. 166; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 310; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 198 Rz. 7. Statt aller Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 3 Rz. 55 m.z.w.N. BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 1023/08, NZA-RR 2011, 30. BAG v. 9.7.1997 – 4 AZR 635/95, NZA 1998, 49; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 1023/08, NZA-RR 2011, 30; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 199 Rz. 11; Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 3 Rz. 55; Däubler/Reim/Nebe, § 1 TVG Rz. 160, jeweils m.w.N.
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Teil 3 Rz. 45
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
derartiger Austausch einseitig unterzeichneter Urkunden, wenn es um Betriebsvereinbarungen geht, dem Schriftformerfordernis des § 77 Abs. 2 Satz 2 BetrVG nach allgemeiner Auffassung nicht genügt1. Man mag sich für diesen Unterschied noch auf den Wortlaut des § 77 Abs. 2 Satz 1 BetrVG stützen können, wonach Betriebsvereinbarungen gemeinsam zu beschließen und schriftlich niederzulegen sind. Eine vergleichbare Umschreibung des Zustandekommens eines TVs hat der weit ältere § 1 Abs. 2 TVG nicht vorgenommen. Man muss aber mit bedenken, dass nach der eben dargelegten, ganz überwiegend vertretenen Auffassung für die Wirksamkeit eines TVs keine TV-Urkunde existieren müsste, die von allen tarifschließenden Parteien unterzeichnet ist. Deshalb lässt sich hiervon ausgehend das wirksame Zustandekommen eines solchen TVs im Streitfall möglicherweise nur dadurch feststellen, dass darüber Zeugenbeweis erhoben werden muss, ob wechselseitig einseitig unterzeichnete TV-Urkunden zugegangen sind und ob diese gleichlautend waren. Die hier bestehenden Unsicherheiten liegen auf der Hand. Sie sind in einem die Rechtsverhältnisse vieler Dritter betreffenden Regelungssystem nicht hinnehmbar. Es spricht deshalb nach dem tarifvertragsrechtlichen Regelungszweck des § 1 Abs. 2 TVG alles dafür, eine solche Möglichkeit gar nicht erst zu eröffnen. Für das TV-Recht ist deshalb ebenso wie für das Betriebsverfassungsrecht zu verlangen, dass Vereinbarungen mit normativer Regelungsmacht nur dann formwirksam sind, wenn sich auf derselben Urkunde die Unterschriften aller Beteiligten befinden2. 45
Der Gesamtzusammenhang des Tarifvertragsgesetzes spricht auch entgegen der überwiegenden Literaturmeinung3 dagegen, für einen formgerechten TV die elektronische Form nach §§ 126 Abs. 3, 126a BGB ausreichen zu lassen. § 7 TVG verlangt grundsätzlich die Übersendung der „Urschrift“ eines jeden TVs zum Tarifregister. § 14 TVGDV in der Fassung vom 11. März 2014 lässt zwar auch die Übermittlung einer Fassung des TVs in elektronischer Form zu, verlangt aber für diesen Fall, dass eine Erklärung abgegeben wird, dass diese Fassung mit der „Urschrift“, also offenbar etwas anderem, übereinstimmt. Solange danach das TVG nicht ausdrücklich die §§ 126 ff. BGB zur Konkretisierung des Schriftformzwangs in Bezug nimmt, kommen TVe nur als verkörperte Willenserklärungen formgerecht zustande4.
III. Anwendungsbereich des Schriftformgebots 46
Dem Schriftformgebot muss jeder TV als Ganzer und in allen seinen Teilen genügen. Es gilt auch für die mit einem normativ wirkenden TV im unmittelbaren sachlichen Zusammenhang stehenden schuldrechtlichen Vereinbarungen der TV-Parteien. Formfreiheit besteht allerdings für sonstige schuldrechtliche Koalitionsverträge, wel1 BAG v. 21.8.1990 – 3 AZR 422/89, NZA 1991, 675; Fitting, § 77 BetrVG Rz. 21; WPK/Preis, § 77 BetrVG Rz. 9. Thüsing (Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 311) begründet seine Bedenken gegen die andere herrschende Meinung im TV-Recht zu Recht auch mit diesem Gesichtspunkt. 2 Dafür – zumindest – de lege ferenda Bepler, Gutachten 70. DJT, B 14 f. 3 Heilmann/Schoof in Berg/Kocher/Schumann, § 1 TVG Rz. 47; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1447; Däubler/Reim/Nebe, § 1 TVG Rz. 162; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 313; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 16; Kempen/Zachert/Zachert, § 1 TVG Rz. 766; jetzt auch C. Schubert in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 3 Rz. 20. 4 Ebenso noch zu Recht Oetker in Jacobs/Krause/Oetker, § 3 Rz. 55.
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Schriftformzwang fr Tarifvertrge (§ 1 Abs. 2 TVG)
Rz. 49 Teil 3
che sich nicht auf den Abschluss, den Inhalt oder die Beendigung von TVen mit Normwirkung beziehen, sondern allein Verhaltensweisen und Verpflichtungen im Gegenseitigkeitsverhältnis regeln. Nach Sinn und Zweck des Formgebots müssen nicht nur die normativen Regelungen 47 und schuldrechtliche Vereinbarungen eines TVs schriftlich und eigenhändig unterzeichnet vorliegen. Auch die tarifschließenden Parteien müssen schriftlich niedergelegt dem formgerechten TV-Text zu entnehmen sein. Deshalb müssen auch etwaige Vertretungsverhältnisse und die einzelnen Mitglieder einer Tarifgemeinschaft formgerecht offengelegt sein. Der Tarifunterworfene muss die am TV-Schluss beteiligten Parteien ohne weiteres feststellen und so ermitteln können, welches Tarifrecht für ihn durch einen der erkennbar Verantwortlichen vermittelt als unter den Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 TVG zwingend gilt. Auch die Normtexte, die durch die Unterschrift legitimiert werden sollen, müssen 48 sich aus dem Zusammenhang der Urkunde zweifelsfrei ergeben. Das BAG geht von einem Gebot der Rechtsquellenklarheit aus, das insbesondere dann greift, wenn, etwa in Standort- und Arbeitsplatzsicherungsvereinbarungen, Regelungen, bei denen man von einem TV-Charakter ausgehen könnte, solche mit möglicherweise betriebsverfassungsrechtlichem Inhalt und eher politische Willensäußerungen in einer Urkunde zusammengefasst und von allen denkbaren Urhebern, also Betriebsrat, Arbeitgeber, Verbandsvertretern und politischen Mandatsträgern gemeinsam unterzeichnet werden. Es muss sich aus der unterzeichneten Urkunde ergeben, wer für welchen Regelungsteil die Verantwortung übernimmt und welche Rechtsqualität mit welchen Rechtsfolgen die betreffenden Regelungsteile deshalb haben sollen. Nur so kann das jeweils maßgebende Recht, was Regelungskompetenz, Zustandekommen, Normwirkung und Geltungsende angeht, ermittelt und angewendet werden. Soweit eine solche Erkennbarkeit fehlt, ist die Vereinbarung unwirksam1. Protokollnotizen, ergänzenden Erläuterungen oder Anlagen, wie z.B. Zuordnungs- 49 matrices zu ÜberleitungsTVen in ein neues tarifliches Eingruppierungssystem2, können nur dann verbindliche normative Wirkung haben, wenn sie § 1 Abs. 2 TVG genügen oder in einer dieser Bestimmung genügenden Form Teil des betreffenden TVs geworden sind. Fehlt es daran, handelt es sich um Meinungs- oder Willensäußerungen der TV-Parteien ohne Regelungswirkung3. Ob man sich ihrer in Zweifelsfällen zur Unterstützung eines bestimmten Ergebnisses der Auslegung des TVs, auf den sie sich beziehen, bedienen kann, ist eine Frage des Einzelfalles. Eine darüber hinausgehende Wirkung für den Geltungsbereich des BezugsTVs ist ausgeschlossen.
1 BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 602/06, AP TVG § 3 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 63; BAG v. 15.4.2008 – 1 AZR 86/07, NZA 2008, 1074; kritisch zur Rechtsprechung des 1. Senats Benrath/ Thau, FS Bauer, 2010, S. 147; grundsätzlich zustimmend demgegenüber C. Schubert in Jacobs/ Krause/Oetker/Schubert, § 3 Rz. 26; Heilmann/Schoof in Berg/Kocher/Schumann, § 1 TVG Rz. 53. 2 BAG v. 19.10.2011 – 4 AZR 643/09, AP TVG § 1 Tarifverträge: Lufthansa Nr. 50. 3 Im Ergebnis ebenso C. Schubert in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 3 Rz. 29; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1456; Heilmann/Schoof in Berg/Kocher/Schumann, § 1 TVG Rz. 52; Schaub/ Treber, ArbR-Hdb., § 198 Rz. 7; in der Unwirksamkeitsfolge zutreffend präzisierend Däubler/ Reim/Nebe, § 1 TVG Rz. 175.
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Teil 3 Rz. 50
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
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Die genannten Übereinkünfte entsprechen dem Formgebot, wenn sie selbst schriftlich niedergelegt und eigenhändig unterzeichnet sind. Es genügt aber auch, wenn zweifelsfrei feststeht, dass sie – inhaltlich, nicht notwendig auch körperlich, verknüpft – Teil eines formgerechten TVs sind. Dies kann sich z.B. aus einer durchgehenden Paginierung, aus einer wechselseitigen Inbezugnahme von TV und weiterer Übereinkunft in den jeweiligen Texten oder auch einer seitenweisen Paraphierung von Anlagen durch die TV-Parteien ergeben1.
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Bezugnahmen auf andere Regelwerke, auch TVe, genügen dem Formgebot, wenn sie nur selbst in der gehörigen Form vereinbart wurden. Die TV-Parteien der Bezug nehmenden Tarifregelung müssen nicht auch noch selbst die Form für das in Bezug Genommene wahren, indem sie den Text des Verweisungsobjekts jeweils eigenhändig unterzeichnen. Hier genügt es für dessen Anwendbarkeit im Geltungsbereich des verweisenden TVs, wenn die in Bezug genommene Regelung die für sie geltenden Anforderungen im Verhältnis zwischen den dortigen Regelungsgebern erfüllt und wirksam ist2. Das Problem der hier angesprochenen Bezugnahmen liegt gelegentlich in der nicht hinreichenden Bestimmtheit oder darin, dass die TV-Parteien sich allzu weit ihrer originären Rechtssetzungsaufgabe entledigen. Die Rechtsprechung verlangt, dass der TV das Bezugnahmeobjekt so präzise kennzeichnet, dass es jederzeit zweifelsfrei feststellbar ist3. Sie begrenzt die Möglichkeit, durch umfassende Verweisung auf ein anderes Tarifwerk in seiner jeweiligen Fassung (Blankettverweisung), die grundsätzlich eng auszulegen ist4, die eigene Rechtssetzungsaufgabe auf andere TV-Parteien zu delegieren. Nur die Inbezugnahme von TVen derselben TV-Parteien oder von solchen TVen anderer TV-Parteien ist rechtlich möglich, mit denen ein enger sachlicher Zusammenhang zum VerweisungsTV besteht. Auf diese Weise soll gewährleistet werden, dass auch bei einer Übertragung der Rechtssetzungsbefugnis auf andere TV-Parteien, die in jeder Blankettverweisung liegt, dem Ziel der Sachgerechtigkeit der tariflichen Regelungen im Sinne eines angemessenen Interessenausgleichs Rechnung getragen wird5.
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Auch alle Änderungen, Ergänzungen von TVen und der Abschluss von AnschlussTVen sowie der Beitritt einer neuen TV-Partei zu einem bereits formwirksam existierenden TV bedürfen der Schriftform des § 1 Abs. 2 TVG.
IV. Rechtsfolge eines Formverstoßes 53
Ein den dargelegten Formanforderungen nicht genügender TV ist unheilbar nichtig. Es ist von Rechts wegen ausgeschlossen, gegenüber der Berufung auf die Formnichtig-
1 Statt aller Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 198 Rz. 9. 2 C. Schubert in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 3 Rz. 22; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1453; Däubler/Reim/Nebe, § 1 TVG Rz. 168 jeweils m.w.N. 3 BAG v. 9.7.1980 – 4 AZR 564/78, NJW 1981, 1574 = AP TVG § 1 Form Nr. 7 mit Anm. Wiedemann = DB 1981, 374; BAG v. 10.11.1982 – 4 AZR 1203/79, DB 1983, 717. 4 BAG v. 16.6.2010 – 4 AZR 944/08, NZA 2011, 480. 5 BAG v. 4.4.2001 – 4 AZR 215/00, NZA 2002, 104; BAG v. 25.7.2006 – 3 AZR 134/05, NZA 2007, 578; BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 561/06, AP TVG § 4 Nr. 27; BAG v. 22.2.2012 – 4 AZR 8/10.
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Rz. 56 Teil 3
Verhandlungsergebnisse
keit eines TVs den Einwand unzulässiger Rechtsausübung zu erheben (§ 242 BGB)1. Verbreitet wird angenommen, ein formnichtiger Tarifvertrag könne in einen Vorvertrag auf Abschluss eines entsprechenden TVs umgedeutet werden2. Dies erscheint zwar bedenklich, weil damit die Formnichtigkeit nichts an der Verbindlichkeit des Vereinbarten zwischen den am – nichtigen – Tarifabschluss Beteiligten ändert. Waren diese aber an sich befugt, einen derartigen TV abzuschließen, ist eine Umdeutbarkeit des formnichtigen TVs in einen Vorvertrag nur die Konsequenz der allgemeinen Auffassung, dass es beim Schriftformzwang des § 1 Abs. 2 TVG nicht um einen Übereilungsschutz geht, sondern nur um das Klarstellungsinteresse der betroffenen Dritten3. Die Gesamtnichtigkeit eines TVs wegen Formverstoßes ist nur dann ausgeschlossen, 54 wenn der Formverstoß nur bei einzelnen, typischerweise gesondert als Anlage oder Anhang erstellten Teilen festzustellen ist und der formgerechte TV im Übrigen aus sich heraus eine sinnvoll anwendbare Regelung darstellt4.
C. Verhandlungsergebnisse Erst in Zusammenschau mit dem Formzwang, dem die TV-Parteien unterliegen, können manche Verhandlungsergebnisse richtig eingeordnet werden.
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I. Ergebnisniederschriften, Vorverträge, sonstige schuldrechtliche Koalitionsverträge Üblicherweise steht am Ende der eigentlichen Tarifverhandlungen jedenfalls dann, 56 wenn komplexere Regelwerke verhandelt worden sind, eine Ergebnisniederschrift, in der die wesentlichen Verhandlungsergebnisse zusammengefasst werden, die dann in einen präzise regelnden und deshalb auch praktisch umsetzbaren TV-Text gefasst werden sollen5. Solche Ergebnisniederschriften, die üblicherweise nicht von allen Beteiligten förmlich unterzeichnet, sondern nur von den jeweiligen Verhandlungsführern unterschrieben oder auch nur paraphiert werden, sind schon wegen des Formmangels noch keine TVe, die für die hieran Beteiligten, ihre Verbände und deren Mitglieder Rechte und Pflichten begründen können, es sei denn, man kann sie zweifelsfrei als Vorverträge qualifizieren, was aber eine dem genügende Bestimmtheit dessen voraussetzt, was für eine Anwendbarkeit in den einzelnen Arbeitsverhältnissen vorgesehen ist6. Es kann aber auch einmal sein, dass eine als „Ergebnisprotokoll über Tarifverhandlungen“ überschriebene und formgerecht von Seiten aller TV-Parteien unterzeichnete Urkunde als TV im Rechtssinne zu bewerten ist. Dies kommt ins1 BAG v. 21.3.1973 – 4 AZR 225/72, NJW 1973, 1343; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 323; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 198 Rz. 7; C. Schubert in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 3 Rz. 28; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1456. 2 Heilmann/Schoof in Berg/Kocher/Schumann, § 1 TVG Rz. 52; Däubler/Reim/Nebe, § 1 TVG Rz. 146; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 198 Rz. 7. 3 Anders noch Vorauflage. 4 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 323. 5 Hierzu näher Däubler/Reim/Nebe, § 4 TVG Rz. 112. 6 Vgl. auch BAG v. 25.9.2013 – 4 AZR 173/12, Rz. 21, 29, BAGE 146, 133 = AP TVG § 1 Tarifverträge: Musiker Nr. 26 mit Anm. Wiedemann.
Bepler 177
Rz. 56 Teil 3
Verhandlungsergebnisse
keit eines TVs den Einwand unzulässiger Rechtsausübung zu erheben (§ 242 BGB)1. Verbreitet wird angenommen, ein formnichtiger Tarifvertrag könne in einen Vorvertrag auf Abschluss eines entsprechenden TVs umgedeutet werden2. Dies erscheint zwar bedenklich, weil damit die Formnichtigkeit nichts an der Verbindlichkeit des Vereinbarten zwischen den am – nichtigen – Tarifabschluss Beteiligten ändert. Waren diese aber an sich befugt, einen derartigen TV abzuschließen, ist eine Umdeutbarkeit des formnichtigen TVs in einen Vorvertrag nur die Konsequenz der allgemeinen Auffassung, dass es beim Schriftformzwang des § 1 Abs. 2 TVG nicht um einen Übereilungsschutz geht, sondern nur um das Klarstellungsinteresse der betroffenen Dritten3. Die Gesamtnichtigkeit eines TVs wegen Formverstoßes ist nur dann ausgeschlossen, 54 wenn der Formverstoß nur bei einzelnen, typischerweise gesondert als Anlage oder Anhang erstellten Teilen festzustellen ist und der formgerechte TV im Übrigen aus sich heraus eine sinnvoll anwendbare Regelung darstellt4.
C. Verhandlungsergebnisse Erst in Zusammenschau mit dem Formzwang, dem die TV-Parteien unterliegen, können manche Verhandlungsergebnisse richtig eingeordnet werden.
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I. Ergebnisniederschriften, Vorverträge, sonstige schuldrechtliche Koalitionsverträge Üblicherweise steht am Ende der eigentlichen Tarifverhandlungen jedenfalls dann, 56 wenn komplexere Regelwerke verhandelt worden sind, eine Ergebnisniederschrift, in der die wesentlichen Verhandlungsergebnisse zusammengefasst werden, die dann in einen präzise regelnden und deshalb auch praktisch umsetzbaren TV-Text gefasst werden sollen5. Solche Ergebnisniederschriften, die üblicherweise nicht von allen Beteiligten förmlich unterzeichnet, sondern nur von den jeweiligen Verhandlungsführern unterschrieben oder auch nur paraphiert werden, sind schon wegen des Formmangels noch keine TVe, die für die hieran Beteiligten, ihre Verbände und deren Mitglieder Rechte und Pflichten begründen können, es sei denn, man kann sie zweifelsfrei als Vorverträge qualifizieren, was aber eine dem genügende Bestimmtheit dessen voraussetzt, was für eine Anwendbarkeit in den einzelnen Arbeitsverhältnissen vorgesehen ist6. Es kann aber auch einmal sein, dass eine als „Ergebnisprotokoll über Tarifverhandlungen“ überschriebene und formgerecht von Seiten aller TV-Parteien unterzeichnete Urkunde als TV im Rechtssinne zu bewerten ist. Dies kommt ins1 BAG v. 21.3.1973 – 4 AZR 225/72, NJW 1973, 1343; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 323; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 198 Rz. 7; C. Schubert in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 3 Rz. 28; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1456. 2 Heilmann/Schoof in Berg/Kocher/Schumann, § 1 TVG Rz. 52; Däubler/Reim/Nebe, § 1 TVG Rz. 146; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 198 Rz. 7. 3 Anders noch Vorauflage. 4 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 323. 5 Hierzu näher Däubler/Reim/Nebe, § 4 TVG Rz. 112. 6 Vgl. auch BAG v. 25.9.2013 – 4 AZR 173/12, Rz. 21, 29, BAGE 146, 133 = AP TVG § 1 Tarifverträge: Musiker Nr. 26 mit Anm. Wiedemann.
Bepler 177
Teil 3 Rz. 57
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
besondere dann in Betracht, wenn die Formulierungen dort bereits den Willen der Verhandlungspartner deutlich werden lassen, Normen zu setzen, und die Niederschrift keine Hinweise darauf enthält, dass das hier Niedergelegte selbst noch in die ansonsten übliche Form eines TVs umgesetzt werden soll1; die Absicht, das Vereinbarte ändernd in andere, bereits vorhandene TVe einarbeiten zu wollen, hindert eine Qualifikation der Niederschrift als TV nicht2. 57
Nach entsprechenden Kriterien richtet sich die Entscheidung, ob ein normativ wirkender TV oder ein schuldrechtlicher Koalitionsvertrag vorliegt. Auch aus letzterem können sich, wenn man ihn als Vertrag zu Gunsten Dritter auszulegen hat, – individualvertraglich abdingbare – Rechte Dritter ergeben. Es handelt sich indes hier nie um Mindestarbeitsbedingungen, wie sie ein TV schafft3.
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Genügt eine Ergebnisniederschrift den Formanforderungen an einen TV nicht, und tun sich bei der Feinarbeit am Tariftext Schwierigkeiten auf, die verhindern, dass ein formgerechter TV entsteht, kann fraglich sein, ob die Ergebnisniederschrift als Vorvertrag interpretiert werden kann, aus dem die daran interessierte TV-Partei im Streitfall einen formgerechten Tarifabschluss mit dem – im Klageantrag wiederzugebenden – Inhalt des niedergelegten Verhandlungsergebnisses gerichtlich durchsetzen kann. Eine entsprechende Frage kann sich stellen, wenn, was schon vorgekommen ist4, Regelungen oder Regelungskomplexe aus der Ergebnisniederschrift nicht in das dann erstellte Tarifwerk – möglicherweise versehentlich – übernommen worden sind.
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Die hier anstehende Auslegungsfrage stellt sich nur dann, wenn ein auf Abschluss eines bestimmten TVs gerichteter Vorvertrag überhaupt ohne Einhaltung der Form des § 1 Abs. 2 TVG wirksam zustande kommen kann. Die ältere Rechtsprechung hat dies mit Unterstützung der Literatur angenommen5. In neueren Entscheidungen hat das BAG Zweifel an dieser Rechtsprechung artikuliert6: Der normative Charakter von TVen gebiete es möglicherweise, für Erklärungen, die im Rahmen eines Tarif-Vorvertrages abgegeben würden, aus dem eine Verpflichtung zum Abschluss eines vollgültigen TVs abgeleitet werde, eine diesem Verbindlichkeitsgrad entsprechende Formstrenge zu verlangen. Das BAG hat die aufgeworfene Frage letztlich offengelassen, weil es auf deren Beantwortung für die Entscheidung nicht ankam. Die aufgeworfenen Bedenken sollten letztlich nicht durchgreifen, weil mit der Formvorschrift des § 1 Abs. 2 TVG kein Übereilungsschutz bezweckt wird. Es spricht deshalb nichts da1 Eine im Ergebnis nicht unproblematische Qualifizierung als – obwohl § 1 Abs. 2 TVG genügend – bloße Ergebnisniederschrift ohne Normcharakter in BAG v. 26.1.1983 – 4 AZR 224/80, DB 1983, 2146. 2 BAG v. 25.6.2003 – 4 AZR 405/02, NZA 2004, 215. 3 Vgl. BAG v. 14.4.2004 – 4 AZR 232/03, NZA 2005, 178 = AP TVG § 1 Auslegung Nr. 188 mit Anm. Kamanabrou. 4 Vgl. hierzu BAG v. 5.7.2006 – 4 AZR 381/05, BB 2007, 556. 5 BAG v. 19.10.1976 – 1 AZR 611/75, DB 1977, 405 = AP TVG § 1 Form Nr. 6 mit Anm. Wiedemann; BAG v. 26.1.1983 – 4 AZR 224/80, DB 1983, 2146; ebenso Däubler/Reim/Nebe, § 1 TVG Rz. 174; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 18; J. Schubert/Zachert in Kempen/Zachert, § 1 TVG Rz. 33; Oetker in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 4 Rz. 157; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 322; a.A. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1444. 6 BAG v. 5.7.2006 – 4 AZR 381/05, ZTR 2007, 248; BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 285/08, NZA 2010, 230; ebenso schon Mangen, RdA 1982, 229 (231 ff.); den Zweifeln beitretend Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 198 Rz. 3; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1444.
178 Bepler
Verhandlungsergebnisse
Rz. 63 Teil 3
gegen, TV-Parteien im Innenverhältnis an einem formfehlerhaft geäußerten Regelungswillen festzuhalten. Ein Vorvertrag, aus dem auf Abschluss eines TVs geklagt werden kann, setzt in jedem 60 Falle den abschließend gebildeten Willen aller an den Verhandlungen als zukünftige TV-Parteien Beteiligten voraus, einen TV mit einem bestimmten Inhalt1 abzuschließen. Daran fehlt es, wenn die beabsichtigten Regelungsinhalte nicht zweifelsfrei und mit der Bestimmtheit festgelegt sind, dass sie ohne Weiteres in eine Tarifregelung umgesetzt werden können. Darüber hinaus muss, wenn die hierzu nach Satzung Befugten nicht selbst gehandelt haben, der Wille erkennbar sein, die für den Tarifabschluss Verantwortlichen zu binden, und die Fähigkeit, dies zu tun. Allerdings genügt insoweit, wenn die übrigen Voraussetzungen vorliegen, auch ein Zustimmungsvorbehalt zu Gunsten der Zuständigen und deren später erklärte Zustimmung, nach der ein Vorvertrag über den Abschluss eines TVs zustande gekommen sein kann. Vorverträge über den Abschluss von Folge-TVen können im Übrigen bei hinreichen- 61 der Bestimmtheit ohne weiteres auch in TVen enthalten sei. Dies kommt etwa in Betracht, wenn sich der Arbeitgeber in einem HausTV gegenüber der tarifschließenden Gewerkschaft verpflichtet, bevorstehende Verbandstarifabschlüsse in HausTVe zu übernehmen.
II. Protokollnotizen, Fußnoten, Anlagen und Anhänge Aus Anlass von TV-Abschlüssen kommt es immer wieder auch zur Formulierung und 62 schriftlichen Niederlegung von Protokollnotizen, in denen übereinstimmende Vorstellungen der TV-Parteien davon zum Ausdruck gebracht werden, was unter bestimmten Regelungen oder in Regelungen verwendeten Begriffen zu verstehen oder auch nur nicht zu verstehen ist2. Ähnliche Klarstellungs- oder Konkretisierungsziele werden üblicherweise mit Fußnoten verfolgt, während Anlagen und Anhänge häufig eigenständige, strukturell nachrangige Regelungsabsichten verfolgen, etwa in Form von die allgemeinen Entgeltbestimmungen konkretisierenden Eingruppierungsbestimmungen oder von Überleitungsregelungen zur Besitzstandswahrung aus dem bisherigen in das neue Regelwerk3. Solche Festlegungen oder Klarstellungen hätten auch in den TVText selbst aufgenommen werden können, was aber wohl um einer Entlastung des eigentlichen TV-Textes willen unterblieben ist. Die genannten Texte haben materiell dieselbe Normqualität wie die Tariftexte selbst, 63 wenn in ihnen die Absicht zum Ausdruck kommt, Regelungen für die Arbeitsverhältnisse der Tarifunterworfenen zu treffen, und sie in der hierfür gebotenen Form niedergelegt und/oder in der gebotenen Art und Weise zu unselbständigen Teilen des TVs gemacht wurden, dessen Anwendbarkeit sie dienen sollen. Ist dies der Fall, können 1 Hierzu BAG v. 5.7.2006 – 4 AZR 381/05, ZTR 2007, 248; BAG v. 25.9.2013 – 4 AZR 173/12, Rz. 23, BAGE 146, 133 = AP TVG § 1 Tarifverträge: Musiker Nr. 26 mit Anm. Wiedemann; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 198 Rz. 3. 2 Z.B. BAG v. 17.9.2003 – 4 AZR 540/02, ZTR 2004, 478. Wegen sonstiger im Zuge der Tarifverhandlungen entstehender schriftlicher Unterlagen, bei denen eine TV-Qualität meist aber nur theoretisch in Betracht kommt, Heilmann/Schoof in Berg/Kocher/Schumann, § 1 TVG Rz. 15. 3 Beispiel in BAG v. 19.10.2011 – 4 AZR 643/09, AP TVG § 1 Tarifverträge: Lufthansa Nr. 50.
Bepler 179
Teil 3 Rz. 64
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
sie den Inhalt des eigentlichen Tariftextes über die Grenzen von dessen Wortlaut hinaus bestimmen. Sie sind Teil des Gesamttextes, mit dem sich der Tarifanwender im Wege der Auslegung zu befassen hat. 64
Dies gilt allerdings nur dann, wenn die Anhänge usw. auch von den tariffähigen TVParteien herrühren, die den ergänzten Tariftext geschaffen haben. Wenn einem mehrgliedrigen HausTV, der unter Beratung durch einen Interessenverband zustande gekommen ist, eine Überleitungserläuterung als Anhang beigegeben wird, den der beratende Verband, der selbst nicht tarifwillig ist, in eigenem Namen mit der tarifschließenden Gewerkschaft schriftlich niedergelegt hat, kann diesem Text jedenfalls keine eigene normativ wirkende, über den TV-Wortlaut hinausgehende Ergänzungsregelung entnommen werden1.
65
Auch sonstige Ergänzungstexte, bei denen die genannten Formerfordernisse nicht erfüllt wurden, haben keine Normwirkung. Durch sie kann im Einzelfall ein anhand des TV-Textes gefundenes Auslegungsergebnis seine Bestätigung finden. Was dem Tariftext aber nicht entnommen werden kann, kann auch nicht mit Hilfe von noch so eindeutigen, dem Schriftformzwang für TVe aber nicht genügenden Begleittexten zu einem tariflichen Regelungsgehalt werden, der die tarifunterworfenen Arbeitsverhältnisse nach § 4 Abs. 1 TVG normativ beherrscht.
III. Regelungen über Inkrafttreten und hinausgeschobene Fälligkeit 1. Tarifwirkung mit Inkrafttreten 66
Mit Abschluss des TVs oder mit einem hiervon abweichenden von den TV-Parteien autonom festgelegten Termin für das Inkrafttreten beginnt die normative Wirkung des Regelwerks. Es entstehen tarifvertraglich geregelte Rechte und Pflichten für die zu diesem Zeitpunkt in einem Arbeitsverhältnis im tariflichen Geltungsbereich stehenden tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien und diejenigen, die in der Folgezeit ein solches Arbeitsverhältnis begründen.
67
Umstritten ist, wie es sich mit tarifvertraglichen Neuregelungen verhält, die an einen tatsächlichen Vorgang anknüpfen, der im konkreten Arbeitsverhältnis bereits abgeschlossen in der Vergangenheit liegt. Hinsichtlich der hier diskutierten Abschlussnormen (Schriftform des Arbeitsvertrages; kein Arbeitsvertragsschluss mit Personen, die bestimmte persönliche Eigenschaften aufweisen2) wird vertreten, sie begründeten eine Pflicht des Arbeitgebers oder beider tarifgebundener Arbeitsvertragsparteien, die zwischen ihnen bestehende Vertragsrechtslage an die neue Tariflage anzupassen3. Dieser Ansatz ist abzulehnen, wobei allerdings die gesetzliche Entwicklung die Problematik vielfach überholt haben könnte:
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Ist der Arbeitsvertrag einmal nach der zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses geltenden (Tarif-)Rechtslage wirksam zustande gekommen, kann eine spätere Rechtsände1 BAG v. 21.9.2011 – 4 AZR 828/09, ZTR 2012, 221. 2 Soweit solche Regelungen vor dem Hintergrund des AGG oder sonstiger zwingender gesetzlicher Vorgaben überhaupt wirksam sind! 3 Näher Jacobs in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 5 Rz. 85; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 636, jeweils m.w.N. zu den hier vertretenen Auffassungen.
180 Bepler
Verhandlungsergebnisse
Rz. 70 Teil 3
rung hieran nichts mehr ändern. Eine etwa tarifvertraglich neu eingeführte Pflicht, die Arbeitsbedingungen zu dokumentieren, an deren Unterlassung die TV-Parteien anders als der Gesetzgeber des Nachweisgesetzes Rechtsfolgen knüpfen, hätte nichts mit dem Vertragsschluss zu tun. Sie begründete eine mit dem Nachweisgesetz abzustimmende Dauerpflicht, und würde als Inhaltsnorm auch auf Altarbeitsverhältnisse einwirken. Die Vorstellung, ein neues Abschlussverbot wegen Gefährlichkeit führe in einem Alt-Arbeitsverhältnis zu einem Kündigungsgebot, kollidiert mit dem Grundsatz, dass es keine verbindlich festlegbaren tarifvertraglichen Kündigungsgründe geben kann, die Wirksamkeit einer Kündigung sich vielmehr stets erst nach einer Abwägung der beteiligten Interessen im Einzelfall entscheidet. Ein TV kann dem Arbeitgeber deshalb auch nicht die Aufgabe abnehmen, vor seiner Entscheidung, eine Kündigung auszusprechen, eine solche Abwägung ergebnisoffen durchzuführen. Eine Ausnahme kommt grundsätzlich auch dann nicht in Betracht, wenn nach Ab- 69 schluss eines ohne Sachgrund befristeten Arbeitsvertrages (§ 14 Abs. 2 TzBfG) eine tarifvertragliche Neuregelung wirksam wird, die – zulässigerweise1 – nur befristete Arbeitsverträge zulässt, für die es einen Sachgrund im Sinne von § 14 Abs. 1 TzBfG gibt. Hier mag es sich, da die Befristungskontrolle nach ständiger Rechtsprechung eine Vertragsabschluss- und keine Beendigungskontrolle ist, um eine Abschlussnorm2 handeln; sie will den Vertragsschluss regeln. Dieser ist in dem hier angesprochenen Fall aber bereits rechtmäßig erfolgt, ohne dass es für die Befristung eines Sachgrundes bedurfte. Eine nachträgliche Anpassung an die neue Rechtslage ist hier ausgeschlossen. Man könnte zwar möglicherweise daran denken, dem Arbeitgeber in einem solchen Fall aufgrund der neuen Tariflage die Berufung auf § 14 Abs. 2 TzBfG zu versagen. Dies käme aber allenfalls in Betracht, wenn der Arbeitgeber bei Arbeitsvertragsschluss sicher damit rechnen musste, dass alsbald aufgrund einer tariflichen Neuregelung sachgrundlose Befristungen nicht mehr möglich sein werden, und die TV-Parteien eine Rückwirkung ihrer Neuregelung auf bei Inkrafttreten des TVs bereits abgeschlossene befristete Arbeitsverträge in den Grenzen des hierfür gebotenen Vertrauensschutzes ausdrücklich angeordnet haben. 2. Verzögerte Inkraftsetzung und Stufentarifverträge Weil erst mit Inkrafttreten eines TVs aus ihm Rechte und Pflichte entstehen können, kann allerdings auch erst von diesem Termin an – bei beiderseitiger Tarifgebundenheit – die Kontinuitätswahrung aus § 3 Abs. 3 TVG oder § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB greifen3. Auch wenn zu diesem Zeitpunkt der TV-Text schon vollständig ausgehandelt und 1 H.M., vgl. nur APS/Backhaus, § 14 TzBfG Rz. 406; Annuß/Thüsing/Maschmann, § 14 TzBfGRz. 67; Dörner, Der befristete Arbeitsvertrag, 2011, Rz. 490. 2 Streitig; wie hier BAG v. 14.2.1990 – 7 AZR 68/89, NZA 1990, 737; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 636; es spricht aber auch einiges dafür, von einer den einzelnen Arbeitnehmer nicht unmittelbar berechtigenden Betriebsnorm auszugehen, die das angesprochene Problem nicht entstehen ließe; so BAG v. 28.6.1994 – 1 ABR 59/93, NZA 1995, 387. 3 BAG v. 20.2.2008 – 4 AZR 64/07, NZA 2008, 946; BAG v. 16.5.2012 – 4 AZR 321/10, NZA 2012, 923; a.A. Peter Hanau, FS Wank, S. 129, der für eine „Vorwirkung“ von abgeschlossenen, aber noch nicht in Kraft gesetzten TVen plädiert, der einen Austritt oder Statuswechsel nach Tarifabschluss tarifrechtlich unwirksam macht, es sei denn, die TV-Parteien hätten eine solche Vorwirkung ausdrücklich oder konkludent ausgeschlossen. Letzteres wird man aber zumindest dann annehmen müssen, wenn die TV-Parteien in Kenntnis der Rechtsprechung einen längeren Zeitraum als einige wenige Tage zwischen Tarifabschluss und Inkrafttreten gelegt haben.
Bepler 181
70
Teil 3 Rz. 71
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
formgerecht unterzeichnet, von den TV-Parteien aber noch nicht in Kraft gesetzt ist, führt das Wirksamwerden1 eines Austritts eines Arbeitgebers aus dem tarifschließenden Arbeitgeberverband oder ein Statuswechsel in die OT-Mitgliedschaft dazu, dass dieser TV für ihn nie gilt; dasselbe gilt, wenn in diesem Zeitraum der Gewerkschaftsaustritt eines Arbeitnehmers wirksam wird. Bei der Veräußerung eines Betriebs oder Betriebsteils von einem Verbandsmitglied auf einen nicht tarifgebundenen Erwerber vor dem förmlichen Inkrafttreten eines TVs existieren insoweit noch keine „Rechte und Pflichten“, die „durch Rechtsnormen eines Tarifvertrages … geregelt“ wären; sie können deshalb auch nicht durch Transformation nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB Inhalt der Arbeitsverhältnisse zwischen dem Erwerber und den übernommenen gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern werden2. Ein Herausschieben des Wirksamwerdens eines bereits formgerecht zustande gekommenen TVs räumt stets die Möglichkeit zur Tarifflucht ein. 71
Anders verhält es sich, wenn die TV-Parteien ihr Tarifwerk zwar mit sofortiger Wirkung in Kraft setzen, in ihm aber vorsehen, dass bestimmte Regelungen, insbesondere (weitere) Erhöhungen der Tarifvergütung, erst zu herausgeschobenen Fälligkeitszeitpunkten Rechte der Arbeitnehmer begründen3 (sog. StufenTVe). Bei solchen, inzwischen weit verbreiteten und tarifrechtlich unbedenklichen4 Regelungen sind die betreffenden Rechte mit dem Tarifabschluss bereits dem Grunde nach entstanden. Die Möglichkeit, sie mit Erfolg geltend machen zu können, hängt dann nur noch vom Zeitablauf ab. Hier genügt es dafür, dass dem Arbeitnehmer die Rechte auf die späteren Vergütungsstufen zustehen, dass der betreffende TV als solcher im Arbeitsverhältnis bei Inkrafttreten des TVs kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit galt. Entfällt erst im Anschluss die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers aufgrund Wegfalls der Vollmitgliedschaft im Arbeitgeberverband, umfasst die Nachbindung aus § 3 Abs. 3 TVG auch die späteren Vergütungsansprüche; wird der Beschäftigungsbetrieb nach Inkrafttreten eines solchen TVs auf einen nicht tarifgebundenen Arbeitgeber übertragen, gehören die später fällig werden Rechte auf die nächste Vergütungsstufe zu den nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB transformierten, auch gegenüber dem Betriebserwerber fällig werdenden Ansprüchen5. 1 Zu den Transparenzanforderungen an die tarifrechtliche Wirksamkeit eines Verbandsaustritts oder Statuswechsels BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366; BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 285/08, NZA 2010, 230; BAG v. 18.5.2011 – 4 AZR 457/09, NZA 2011, 1378. Zu den satzungsmäßigen Voraussetzungen einer als solcher wirksamen, also keine Tarifgebundenheit vermittelnden OT-Mitgliedschaft BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366; BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 111/08, NZA 2010, 105 (hierzu BVerfG v. 1.12.2010 – 1 BvR 2593/09, DB 2011, 361); BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 294/08, DB 2010, 344; BAG v. 15.12.2010 – 4 AZR 256/09, AP TVG § 3 Nr. 50; BAG v. 21.1.2015 – 4 AZR 797/13, ZTR 2015, 638. 2 BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 294/08, ZTR 2010, 288; BAG v. 16.5.2012 – 4 AZR 320/10, NZA 2012, 923; ebenso Jacobs in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 5 Rz. 82; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 4. 3 Z.B. Tariflohnerhöhung zum Inkrafttreten des TVs am 1. Januar um 1 %, weitere Erhöhung um 1, 5 % zum 1. Juli, letzte festgelegte Tariflohnerhöhung um 1 % zum 1. März des Folgejahres. 4 BAG v. 10.11.1982 – 4 AZR 1203/79, DB 1983, 717; BAG v. 17.5.2000 – 4 AZR 363/99, NZA 2001, 453. 5 BAG v. 19.9.2007 – 4 AZR 711/06, NZA 2008, 241; BAG v. 14.11.2007 – 4 AZR 828/06, NZA 2008, 420; ebenso Jacobs in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 5 Rz. 82; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 4; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 387. Zur Rechtslage bei der Nachwirkung von TVen, die ihre Stufungen durch Verweisungen auf fremde TVe in ihrer jeweiligen Fassung herbeiführen, vgl. Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 823 m.w.N.
182 Bepler
Verhandlungsergebnisse
Rz. 74 Teil 3
Voraussetzung für eine derartige unbeschränkte Wirkung über die unmittelbare Tarif- 72 geltung hinaus ist allerdings, dass der TV die Stufen selbst vollständig regelt. Ergibt sich eine materielle Regelung erst durch Einbeziehung eines fremden TVs in seiner jeweiligen Fassung1, endet die eigene Dynamik des selbst Geregelten mit jeder Änderung des Bezugsobjekts. Im Falle eines Betriebsübergangs auf einen nicht tarifgebundenen Erwerber oder bei Austritt oder Statuswechsel des bis dahin tarifgebundenen Arbeitgebers versteinern die Rechte aus dem TV in dem Stand, den sie beim Ende oder der ersten Änderung des in Bezug genommenen Tarifwerkes erreicht hatten2. 3. Rückwirkende Inkraftsetzung Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage, ob und ggf. wie weit die TV-parteien 73 bei ihrer Regelung der Inkraftsetzung eines TVs Rückwirkung vorsehen und dadurch Ansprüche beseitigen oder kürzen können3, ist die Feststellung, dass die TV-Parteien auch im Verhältnis zu den Tarifunterworfenen das Recht haben, die von ihnen geschaffenen Regelungen jederzeit abzuändern. Tarifvertragliche Regelungen stehen auch während ihrer Laufzeit stillschweigend unter Abänderungsvorbehalt durch die TV-Parteien4. Ein Vertrauensschutz, dass nichts nachteilig geändert wird, besteht grundsätzlich nicht5. Dies gilt im Prinzip auch für tarifliche Neuregelungen, die zu einem in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt in Kraft gesetzt wurden und in bereits entstandene, „wohlerworbene“ Rechte eingreifen wollen6. Wenn sie eine derartige Neuregelung wollen, müssen die TV-Parteien allerdings ebenso wie der Gesetzgeber die Grundsätze des Vertrauensschutzes berücksichtigen7. Maßgeblicher Stichtag für die Frage, ob eine rückwirkend belastende Regelung vor- 74 liegt, die nur wirksam werden kann, wenn sie Vertrauensschutzgesichtspunkte hinreichend berücksichtigt, ist der Zeitpunkt der Anspruchsentstehung. Auch wenn der betreffende (alt-)tarifvertragliche Anspruch vor Inkrafttreten der Neuregelung schon entstanden, aber noch nicht fällig geworden ist, genießt er Vertrauensschutz. Der Be-
1 Z.B. 85 %, dann 88 % dann 92 % des jeweiligen Tarifentgelts eines anderen Tarifgebiets. 2 Ebenso HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 41; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 80 f.; Jacobs in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 5 Rz. 82; auch BAG v. 17.5.2000 – 4 AZR 363/99, NZA 2001, 453 = AP TVG § 3 Verbandsautritt Nr. 8 mit Anm. Zachert. 3 Hierzu umfassend Houben, Die Rückwirkung von Tarifverträgen, 2006. 4 BAG v. 2.2.2006 – 2 AZR 58/05, NZA 2006, 868; teilweise a.A. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 245. 5 BAG v. 22.10.2003 – 10 AZR 152/03, NZA 2004, 444; BAG v. 23.3.2005 – 4 AZR 203/04, NZA 2005, 1003 = AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 29 mit Anm. Waas; BAG v. 17.7.2007 – 9 AZR 1089/06, ZTR 2008, 161. 6 BAG v. 23.11.1994 – 4 AZR 879/93, NZA 1995, 844; BAG v. 17.5.2000 – 4 AZR 216/99, NZA 2000, 1297. 7 Z.B. BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, NZA 2007, 634; BAG v. 17.7.2007 – 9 AZR 1089/06, ZTR 2008, 161; BAG v. 17.10.2007 – 4 AZR 812/06, BB 2008, 1121; BAG v. 9.9.2010 – 2 AZR 936/08, ZTR 2011, 936. Dies gilt für Verbands-, Haus- und firmenbezogene VerbandsTVe, wenn und soweit sie von der Gewerkschaft mit abgeschlossen wurden, die auch die verschlechterte Tarifregelung mit geschaffen hat. Ist diese Gewerkschaft beteiligt, öffnet das Tarifrecht die von dieser abgeschlossenen TVe für abändernde, auch verschlechternde, Neuregelungen. Die Fallkonstellation tritt in der Hauptsache im Verhältnis zwischen Verbands- und HausTV, insbesondere zu einem SanierungsTV auf; vgl. hierzu ausführlich auch Bepler, AuR 2010, 234 ff., auch zur Rückwirkungsproblematik.
Bepler 183
Teil 3 Rz. 75
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
günstigte hat einen Rechtsanspruch, über den er verfügen kann1. Dies gilt auch dann, wenn eine Sonderzuwendung tarifvertraglich versprochen worden ist, die pro rata temporis erdient wird. Der diesbezügliche Anspruch entsteht jeden Monat im Umfang eines Zwölftels des Vollanspruchs. Er kann ohne Begrenzung durch die Grundsätze des Vertrauensschutzes nur insoweit beseitigt werden, wie er erst nach Inkrafttreten des verschlechternden TVs erdient wird2. 75
Fraglich ist, ob es für den Umfang des Vertrauensschutzes von Bedeutung ist, ob der betreffende Anspruch auch schon tatsächlich erfüllt worden ist. Der 4. Senat des BAG hat dies verneint. Es komme lediglich auf den Zeitpunkt der Anspruchsentstehung an. Sei zu diesem Zeitpunkt bereits das Vertrauen auf den Bestand eines Anspruchs beseitigt, komme der bloßen Erfüllung keine das schützenswerte Vertrauen wiederbelebende Wirkung zu. Wollte man anders entscheiden, würde der säumige Arbeitgeber in seinen Gestaltungsmöglichkeiten gegenüber dem Arbeitgeber zu Unrecht besser gestellt, der seine Verpflichtungen rechtzeitig erfüllt hat3. Der 10. Senat hat demgegenüber mehrfach, zuletzt am 24. Oktober 20074, die Gewährung von Vertrauensschutz in vergleichbaren Fällen auch mit der Begründung verneint, es habe sich insoweit zwar um entstandene, aber noch nicht abgewickelte Ansprüche gehandelt.
76
Gab es zum Zeitpunkt der Entstehung des betreffenden tarifvertraglichen Anspruchs keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass dieser Anspruch auch bestehen bleiben wird, scheidet ein nachträglicher rückwirkender Eingriff zum Nachteil der Anspruchsinhaber aus. Anders verhält es sich, wenn zu diesem Zeitpunkt das schützenswerte Vertrauen auf den Bestand der Rechtslage bereits nachhaltig erschüttert war5, weil die Normunterworfenen mit einer auch rückwirkenden Änderung rechnen mussten6.
77
Es spielt eine entscheidende Rolle für die Beantwortung der Frage, ob die TV-Parteien Vertrauensschutz gewähren müssen und erworbene Rechte nicht mehr entziehen können, ob und wenn ja wann die TV-Parteien oder eine von ihnen im beabsichtigten Geltungsbereich der Neuregelung bekannt gemacht hat, dass Verhandlungen über Regelungsverschlechterungen, z.B. zu einer Unternehmenssanierung, stattfinden. Liegt eine derartige Publizierung erst nach dem Zeitpunkt des Rechtserwerbs oder Teil-
1 BAG v. 22.10.2003 – 10 AZR 152/03, NZA 2004, 444; BAG v. 6.6.2007 – 4 AZR 573/06, ZTR 2007, 551; BAG v. 17.7.2007 – 9 AZR 1089/06, ZTR 2008, 161. 2 BAG v. 22.10.2003 – 10 AZR 152/03, NZA 2004, 444. 3 BAG v. 5.7.2006 – 4 AZR 381/05, ZTR 2007, 551. 4 BAG v. 24.10.2007 – 10 AZR 878/06, NZA 2008, 131. 5 Angesichts der im Tarifrecht fehlenden praktischen Bedeutung werden die für die Gesetzgebung bedeutsamen Fälle für eine Rechtfertigung rückwirkender Normsetzung: unklare oder verworrene bestehende Rechtlage und zwingende Gründe des Gemeinwohls; hier nicht weiter behandelt; vgl. hierzu auch Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 244 m.w.N. 6 BAG v. 24.10.2007 – 10 AZR 878/06, NZA 2008, 131; hier bleiben die einen scheinbar rückwirkenden Eingriff eröffnenden Entscheidungen außer Betracht, in denen nach einer Störung der Geschäftsgrundlage eine Ersetzung des Geregelten durch eine Neuregelung auch mit Wirkung für Zeiten vor der Neuregelung für zulässig gehalten wurde. Es kann jedenfalls grundsätzlich kein schützenswertes Vertrauen in den Bestand einer Regelung geben, deren Geschäftsgrundlage gestört ist. Man kann hier allenfalls an eine zeitliche Begrenzung der Rückwirkung auf den Zeitpunkt denken, in dem die Störung der Geschäftsgrundlage für jeden Kundigen erkennbar geworden ist.
184 Bepler
Verhandlungsergebnisse
Rz. 79 Teil 3
rechtserwerbs aus dem alten TV, scheidet ein Eingriff in entstandene Rechte durch die Neuregelung unter Vertrauensgesichtspunkten aus. Informationen, die vor diesem Zeitpunkt liegen, eröffnen den TV-Parteien die Möglichkeit zu wirksamen, rückwirkend verschlechternden Regelungen1. Der 4. Senat des BAG hat für eine Publizierung von auf Verschlechterungen auch für die Vergangenheit gerichteten Tarifverhandlungen eine zusätzliche Voraussetzung aufgestellt, damit sie Unsicherheit über den Fortbestand des Rechts begründet und einen rückwirkenden Eingriff ohne Verletzung schutzwürdigen Vertrauens ermöglicht: Die Mitteilung an die Belegschaft(en) muss sich auf die konkreten Ansprüche beziehen, die später durch rückwirkende tarifliche Neuregelung beseitigt werden sollen. Die Mitteilung, es werde über Einschnitte in das bisherige Tarifniveau verhandelt, um das betroffene Unternehmen oder auch die gesamte notleidende Branche zu sanieren, reicht danach nicht aus2. Sehr zweifelhaft ist, ob diese strengen Regeln auch dann gelten, wenn die zwingende 78 Wirkung eines TVs in Folge von Kündigung oder Fristablauf geendet hat und der TV nur noch nachwirkt, aber auch in der Nachwirkungsphase natürlich Rechte oder Teilrechte begründet. Wenn die TV-Parteien vor Eintritt der Nachwirkung nicht zum Abschluss ihrer Verhandlungen gekommen sind, liegt es nahe, dass sie ihre Neuregelung auf den Zeitpunkt des Außer-Kraft-Tretens der Altregelung zurückwirken lassen. Es erscheint naheliegend, ist aber soweit ersichtlich noch nicht entschieden3, in einem solchen Fall anzunehmen, dass jeder Rechtserwerb im Nachwirkungszeitraum zumindest dann unter dem Vorbehalt einer abweichenden, auch verschlechternden, tarifvertraglichen Neuregelung steht, wenn der Umstand, dass der Altvertrag nur noch nachwirkt und über – gegebenenfalls auch verschlechternde – Neuregelungen von den TV-Parteien verhandelt wird, allgemein bekannt ist. Mit dem in einem solchen Fall typischerweise fehlenden Vertrauensschutz hängt es zusammen, dass es allgemein als unproblematisch angesehen wird, wenn TV-Parteien eine Entgelterhöhung rückwirkend auf den Zeitpunkt des Endes des VorgängerTVs in Kraft setzen, obwohl sie auch hier – diesmal den Arbeitgeber – rückwirkend belasten, also schlechter stellen, als es die aktuelle Rechtslage aus dem nachwirkenden Alt-TV vorsah. Die Frage, auf wessen Kenntnis von möglicherweise bevorstehenden Verschlechterun- 79 gen es ankommt, ist aus kollektiver Sicht zu beantworten. Es geht schließlich darum, inwieweit ein kollektives Regelwerk in aus einem anderen kollektiven Regelwerk begründete Rechte insgesamt rechtsbeseitigend eingreifen kann, ohne schützenswertes Vertrauen zu verletzen. Es kommt deshalb nicht darauf an, ob der einzelne Arbeitnehmer, der sich dann in einem späteren Prozess auf die Unwirksamkeit einer verschlechternden Ablösung beruft, Kenntnis von den vorangegangenen Verhandlungen hierüber hat oder nicht. Dies hat das BAG in beide Richtungen entschieden: Vertrauensschutz in den Bestand von Rechtspositionen besteht bei fehlenden Hinweisen an die betroffe1 BAG v. 17.7.2007 – 9 AZR 1089/06, ZTR 2008, 161. 2 BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, NZA 2007, 634 = AP TVG § 1 Rückwirkung Nr. 24 mit Anm. Houben. 3 Vergleichbar erscheint aber immerhin die Rechtslage, wenn die Allgemeinverbindlichkeit eines TVs geendet hat und dessen NachfolgeTV erneut für allgemeinverbindlich erklärt wird. Hier hat das BAG angenommen, die Betroffenen müssten damit rechnen, dass der AnschlussTV rückwirkend auf den Zeitpunkt des Auslaufens der vorangegangenen Allgemeinverbindlichkeitserklärung für allgemeinverbindlich erklärt werde: BAG v. 20.3.2013 – 10 AZR 744/11, AP TVG § 1 Tarifverträge: Bau Nr. 346.
Bepler 185
Teil 3 Rz. 80
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
nen Arbeitnehmer auch dann, wenn der sich konkret auf die betreffende abgelöste Tarifnorm stützende Kläger Mitglied der Tarifkommission war, in der über den Fortbestand des betreffenden Rechts verhandelt worden war1. Umgekehrt fehlt es aber auch dann an schützenswertem Vertrauen in eine Altregelung, wenn der im Einzelfall klagende Arbeitnehmer bereits aus dem Betrieb, für den ein HausTV verhandelt und später abgeschlossen worden war, ausgeschieden war und an den betriebsinternen Informationsveranstaltungen über die Verhandlungen nicht teilgenommen hatte2. Entscheidend ist stets, ob die betroffene Betriebs-, Unternehmens- oder Branchenöffentlichkeit, „die betroffenen Kreise“3, in geeigneter Form über die stattfindenden Absenkungsverhandlungen der hierfür zuständigen Verhandlungspartner und deren konkreten Verhandlungsgegenstand rechtzeitig, also vor Anspruchsentstehung, informiert worden sind. Eine hierfür geeignete Information an den Kreis der von der Neuregelung Betroffenen als Kollektiv ist stets erforderlich, reicht aber auch aus. 80
Deshalb kann von den TV-Parteien eine Verschlechterung durch eine tarifliche Neuregelung auch mit Wirkung für einen bereits Ausgeschiedenen vereinbart werden. Voraussetzung ist allerdings hier ebenso wie überhaupt für die Geltung rückwirkender Tarifregelungen, dass sowohl zum Zeitpunkt des rückwirkend angeordneten Inkrafttretens der Regelung als auch zum Zeitpunkt von deren Vereinbarung beiderseitige Tarifgebundenheit, sowohl des Arbeitgebers als auch des ausgeschiedenen Arbeitnehmers, bestand4. In diesem Fall entscheidet allein, ob nach den allgemeinen Regeln gegenüber der Abänderung schützenswertes Vertrauen der Gruppe der belasteten Arbeitnehmer bestand oder nicht, darüber, ob der bereits ausgeschiedene Arbeitnehmer für die Zeit, in der er noch im Arbeitsverhältnis stand, die vereinbarte Verschlechterung, wenn sie denn ihre Wirkung insoweit nicht ausdrücklich beschränkt, hinnehmen muss oder nicht5. 4. Erklärungsfristen für Tarifvertragsparteien
81
Eine weitere nicht selten gewählte Regelung kann zum Herausschieben der Vollwirksamkeit eines TVs führen: Insbesondere bei dezentral abgeschlossenen TVen, die nicht von den Spitzen der jeweiligen Gewerkschaft mit ausgehandelt wurden, kommt es häufig vor, dass sich in einem schriftlich niedergelegten Regelungstext ein Vorbehalt findet, wonach dem Verhandlungsergebnis noch Personen oder Gremien der TV-Parteien zustimmen müssen. Findet sich eine solche Festlegung in einer Ergebnisniederschrift, die von vornherein als normativ wirkender TV ausscheidet, sei es, weil § 1 Abs. 2 TVG nicht eingehalten wurde, sei es, weil sich aus der Niederschrift im Übrigen ergibt, dass es noch zu einer förmlichen Tarifregelung kommen soll, ist dies ohne Außenwirkung. Ein solcher Vorbehalt beschreibt nur den weiteren Ablauf bis zu einem beabsichtigten Tarifabschluss.
1 BAG v. 17.7.2007 – 9 AZR 1089/06, ZTR 2008, 161. 2 BAG v. 24.10.2007 – 10 AZR 878/06, NZA 2008, 131. 3 Hierauf stellt die ständige Rechtsprechung des BAG ab seit BAG v. 23.11.1994 – 4 AZR 879/93, NZA 1995, 844 = AP TVG § 1 Rückwirkung Nr. 12 mit Anm. Buchner. 4 BAG v. 13.9.1994 – 3 AZR 148/94, NZA 1995, 740; Jacobs in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 5 Rz. 87; Stein in Kempen/Zachert, § 4 TVG Rz. 165. 5 BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, NZA 2007, 634; BAG v. 24.10.2007 – 10 AZR 878/06, NZA 2008, 264.
186 Bepler
Verhandlungsergebnisse
Rz. 84 Teil 3
Auch für die Tarifunterworfenen bedeutsam wird es aber, wenn sich die Regelung zur 82 Erklärungsfrist in einem formgerechten TV befindet, der selbst bereits Rechte und Pflichten begründen will. Man könnte daran denken, eine solche Regelung als schriftliche Niederlegung des Umstandes zu bewerten, dass hier ein Vertrag durch Erklärung eines Vertreters ohne Vertretungsmacht zustande gekommen ist, und als Regelung, bis wann, durch wen und in welcher Form die hiernach erforderliche Genehmigung der Vertretenen (§ 177 Abs. 1 BGB) mit der Genehmigungswirkung des § 184 BGB erklärt werden kann. Dies entspricht aber rein tatsächlich in aller Regel nicht den Gegebenheiten. Die am förmlichen Tarifabschluss Beteiligten sind hierzu grundsätzlich an sich vertretungsbefugt. Sie sind nur im Innenverhältnis, verbandsintern, verpflichtet, Personen und/oder Gremien einzuschalten und deren Zustimmung einzuholen. Um dies sicherzustellen, also auch um sich innerhalb des Verbandes abzusichern, vereinbaren sie deshalb mit dem TV-Partner, dass der TV unter der Bedingung im Sinne von § 158 BGB stehen soll, dass die benannten Dritten innerhalb einer bestimmten Frist zustimmen oder nicht widersprechen. Die TV-Parteien wählen hier höchst unterschiedliche Formulierungen, denen im 83 Hinblick auf die unterschiedliche Wirkung nach § 158 Abs. 1 oder Abs. 2 BGB im Wege der Auslegung entnommen werden muss, ob sie das endgültige Wirksamwerden des vereinbarten TVs von einer aufschiebenden oder einer auflösenden Bedingung abhängig machen wollten1. Haben sie bestimmt, dass die betreffenden Gremien oder Personen bis zu einem bestimmten Termin befugt sein sollen, dem abgeschlossenen TV zu widersprechen, besteht der TV vom Zeitpunkt seines Abschlusses an als Vertrag2 vollwirksam. Er erlischt, wenn und sobald die Dritten von ihrer Befugnis im Rahmen der ihnen tarifvertraglich eingeräumten Möglichkeiten zu Widerspruch oder Widerruf Gebrauch machen (§ 158 Abs. 2 BGB). Haben die TV-Parteien demgegenüber geregelt, dass der TV erst wirksam werden soll, wenn Zustimmungen der betreffenden Personen in bestimmter Weise erfolgt sind, liegt eine aufschiebende Bedingung (§ 158 Abs. 1 BGB) vor. Der abgeschlossene TV wird als Vertrag erst wirksam, wenn die Zustimmung vorliegt. Setzen die TV-Parteien zusätzlich eine Frist, innerhalb deren die Zustimmung erklärt werden muss, ist der Vertrag nach fruchtlosem Fristablauf endgültig unwirksam, weil die Bedingung nicht mehr eintreten kann. Geht eine Zustimmung verspätet zu, wird man § 150 Abs. 1 BGB entsprechend anzuwenden haben: Die andere TV-Partei kann nun durch eine weitere Genehmigungserklärung den TV zustande bringen, muss dies aber nicht. Ihre eigene rechtzeitige Genehmigungserklärung bindet sie jedenfalls gegenüber einer verspäteten Erklärung der Gegenseite nicht. Wegen der fehlenden Transparenz bedenklich, aber durchaus verbreitet ist die Praxis, 84 dass im Falle eines befristeten Genehmigungsvorbehaltes entgegen der genannten Rechtsfolge das Schweigen innerhalb der zur Verfügung stehenden Genehmigungsfrist als Zustimmung gelten soll. Diese einem Widerrufsvorbehalt angenäherte, aber gleichwohl die Wirkungen des § 158 Abs. 1 BGB auslösende Regelung steht zwar mit dem allgemeinen Verständnis vom Zustandekommen von Verträgen im Widerspruch,
1 Heilmann/Schoof in Berg/Kocher/Schumann, § 1 TVG Rz. 32; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 198 Rz. 1. 2 Ob er bereits „gilt“, hängt davon ab, ob die TV-Parteien sein Inkrafttreten entsprechend der vereinbarten Erklärungsfrist hinausgeschoben haben oder nicht.
Bepler 187
Teil 3 Rz. 85
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
dürfte aber angesichts der entsprechenden Praxis der TV-Parteien und des Umstandes, dass es sich hier nicht um die eigentlichen Vertragserklärungen handelt, statthaft sein. 85
In allen behandelten Auslegungsvarianten entstehen keine wirklichen Schwierigkeiten, wenn die vorgesehenen Erklärungsfristen enden, bevor der von den TV-Parteien vorgesehene Zeitpunkt des Inkrafttretens erreicht ist. Entweder es fehlt an der vorgesehenen Genehmigung durch das benannte Gremium oder die benannten Personen oder es liegt ein form- und fristgerechter Widerspruch vor, dann kommt es nicht zu einem normativ wirksamen TV. Oder aber es wird innerhalb der zuvor ablaufenden Frist genehmigt oder nicht widerrufen, dann tritt der TV wie vereinbart in Kraft.
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Schwierig wird es nur in dem auch schon vorgekommenen Fall, dass die TV-Parteien das Inkrafttreten des TVs nicht entsprechend der Erklärungsfrist hinausgeschoben haben und auch eine dahin gehende Auslegung nicht möglich ist, oder wenn sie gar ausdrücklich bestimmt haben, dass der TV zu einem bestimmten vor Ablauf der Erklärungsfristen liegenden Zeitpunkt in Kraft treten solle. In einem solchen Fall muss differenziert werden:
87
Haben die TV-Parteien insoweit einen Genehmigungsvorbehalt, also eine aufschiebende Bedingung, vereinbart, besteht bis zu der Genehmigung, auch wenn der vereinbarte Termin des Inkrafttretens bereits überschritten ist, kein wirksamer TV. Rechte und Pflichten entstehen bis dahin noch nicht. Die Kontinuitätsregeln der § 3 Abs. 3 TVG und § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB greifen nicht. Tarifflucht ist bis zum Wirksamwerden nach § 158 Abs. 1 BGB möglich. Wird der TV in einem solchen Fall genehmigt, tritt der TV rückwirkend in Kraft. Die zum Zeitpunkt der Genehmigung beiderseits Tarifgebundenen unterliegen dann ab Inkrafttreten dem genehmigten TV1.
88
Wurde der TV demgegenüber unter einer auflösenden Bedingung, also beispielsweise einem Widerrufsvorbehalt, abgeschlossen, entstanden mit seinem Inkrafttreten tarifliche Rechte und Pflichten, die auch nicht mit form- und fristgerechter Ausübung des Widerrufs erlöschen. Eine Tarifflucht ist hier nicht möglich; § 3 Abs. 3 TVG und § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB gelten zu Recht von Anfang an. Auch ein später ausgeschiedenes Mitglied einer tarifschließenden Partei hat den Tarifabschluss und das frühzeitige Wirksamwerden des Regelwerks legitimiert. Fraglich könnte allenfalls sein, ob mit der allgemeinen Nachwirkungslehre des BAG2 auch im Falle eines – kurzfristigen – Endes des TVs durch Ausübung eines vorbehaltenen Widerrufsrechts der widerrufene TV nachwirkt. Die Frage ist eindeutig zu verneinen, selbst wenn man die Nachwirkungslehre über die Fälle des Wegfalls der Tarifgebundenheit hinaus anwenden wollte. Man kann diese Antwort auf einen Vorrang des § 158 Abs. 2 BGB gegenüber einer erweiternden Auslegung des § 4 Abs. 5 TVG stützen oder auch damit begründen, dass TV-Parteien, die ihre Übereinkunft unter den wie auch immer konstruierten Vorbehalt einer Mitwirkung interner Gremien oder Personen stellen, jedenfalls nicht wollen, dass das so im Innenverhältnisintern nur unvollkommen zustande Gekommene über den Zeitpunkt der Ablehnung durch die genannten Personen hinaus gilt. Da die TV-Parteien
1 Vgl. hierzu auch BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 294/08, ZTR 2010, 188. 2 Dazu Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 879 ff.
188 Bepler
Verhandlungsergebnisse
Rz. 91 Teil 3
auch ganz allgemein über den Eintritt der Nachwirkung disponieren können1, ist eine dahin gehende Auslegung rechtsverbindlich. 5. Abgeschwächte Inkraftsetzung (ERA) Eine neue Form abgeschwächter Inkraftsetzung von tariflichen Regelwerken haben 89 die TV-Parteien der Metall- und Elektroindustrie in verschiedenen regionalen Regelungen zur Überleitung in das grundlegend neu strukturierte Entgeltrahmenabkommen (ERA) entwickelt. So bestimmen beispielsweise § 16 des für Norddeutschland geltenden EntgeltrahmenTVs (TV ERA-Nord) sowie ähnlich auch § 2 Abs. 1 des ÜberleitungsTVs hierzu, dass das neue Tarifrecht „zum Zwecke der Überleitung auf die neue Entgeltstruktur“ am 1. September 2003 in Kraft trete. Ab diesem Zeitpunkt könne der TV ERA-Nord auf freiwilliger Basis im Betrieb eingeführt werden. Ab dem 1. Januar 2008 sollen die Bestimmungen dieses TVs dann in allen verbandsangehörigen Betrieben gelten. Ab diesem Einführungsstichtag gelte der TV ERA-Nord dann mit unmittelbarer und zwingender Wirkung. Gleichzeitig, so wird weiter angeordnet, sollen die bis dahin nachwirkenden Lohn- und GehaltsTVe außer Kraft treten. Das BAG sah keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken gegen diese in der Tarif- 90 geschichte soweit ersichtlich ganz außergewöhnliche Einführungsregelung2. Führt man sie auf den Kern zurück, haben die TV-Parteien hier mit ihrer ersten Inkraftsetzung zunächst nur eine Option für ein übliches, unmittelbar und zwingend wirkendes tarifliches Regelwerk geschaffen. Die verbandsangehörigen Arbeitgeber haben vom 1. September 2003 bis zum 31. Dezember 2007 die Möglichkeit, ERA im Betrieb einzuführen. Wählen sie sie, wirkt das neue Tarifrecht, der TV ERA-Nord, ab diesem Zeitpunkt unmittelbar und zwingend und löst das nachwirkende alte tarifliche Vergütungsrecht als andere Abmachung ab3. Sie haben aber auch die Freiheit, hiervon abzusehen, dann gilt für sie bis zum 31. Dezember 2007 das nachwirkende alte Tarifrecht weiter. Erst ab dem 1. Januar 2008 müssen sie dann das nun auch für sie unmittelbar und zwingend geltende neue Tarifrecht anwenden. Wohl bewusst in Kauf genommene Konsequenz dieser besonderen Regelungstechnik 91 zur Einführung einer in vieler Hinsicht höchst innovativen neuen Vergütungsstruktur war allerdings, dass sich verbandsgebundene Arbeitgeber in der Zeit zwischen dem 1. September 2003 und dem 31. Dezember 2007 durch Verbandsaustritt oder Wechsel in eine OT-Mitgliedschaft der Anwendung des TV ERA-Nord entziehen konnten. § 3 Abs. 3 TVG fand, was diesen TV angeht, in diesem Zwischenzeitraum, solange nicht eine freiwillige ERA-Einführung gewählt wurde, ebenso wenig Anwendung wie § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB auf den Fall eines Betriebsinhaberwechsel auf einen nicht tarifgebundenen Betriebserwerber. Wenn dieser TV für den aus der Tarifbin1 Allgemeine Meinung seit BAG v. 8.5.1974 – 4 AZR 288/73, DB 1974, 1918; zuletzt BAG v. 16.5.2012 – 4 AZR 366/10, NZA 2013, 220; vgl. auch Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 362; Oetker in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 8 Rz. 65 ff.; Schumann in Berg/Kocher/Schumann, § 4 TVG Rz. 308; Kempen in Kempen/Zachert, § 4 TVG Rz. 736; Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 828. 2 BAG v. 6.7.2011 – 4 AZR 424/09, NZA 2012, 281; BAG v. 19.10.2011 – 4 ABR 116/09, NZA-RR 2012, 417. 3 BAG v. 6.7.2011 – 4 AZR 424/09, NZA 2012, 281 für eine entsprechende Regelung in einem anderen Tarifbezirk.
Bepler 189
Teil 3 Rz. 92
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
dung ausscheidenden Arbeitgeber nicht unmittelbar und zwingend galt, schied auch eine Nachbindung an ihn oder eine Transformation von sich aus ihm ergebenden Rechten und Pflichten aus1.
D. Die Publizität tariflicher Regelungswerke I. Überblick 92
TVe kommen wie Gesetze ohne die unmittelbare Mitwirkung der diesen Regelwerken Unterworfenen zustande. Die an die TVe Gebundenen sollen aber genau wie die den Gesetzen unterworfenen Bürger die dort festgelegten Pflichten erfüllen und die eingeräumten Rechte wahrnehmen. Beide Normgeber streben auf diese Weise, indem sie das eine Verhalten mit einem Rechtserwerb, ein anders mit einem Rechtsverlust verknüpfen, eine Steuerung des Verhaltens der Normunterworfenen an. Das legte es an sich nahe, auch für die von den TV-Parteien geschaffenen Normen durch Publizierung eine vergleichbare Regelungstransparenz zu schaffen, wie sie für Gesetze und Rechtsverordnungen des Bundes Art. 82 Abs. 1 GG2 trifft: Diese Normen werden überhaupt erst rechtlich existent, wenn sie – im Regelfall – im Bundesgesetzblatt verkündet sind. Erst im Anschluss daran treten sie nach Maßgabe des Art. 82 Abs. 2 GG in Kraft3. Damit hängt das Wirksamwerden der getroffenen staatlichen Regeln nicht nur von ihrer schriftlichen Niederlegung, sondern auch davon ab, dass ihre Inhalte in einer für eine allgemeine Zugänglichkeit geeigneten Form verlautbart werden. Nur so können die getroffenen Bestimmungen auch inhaltlich Wirksamkeit erlangen4.
93
Aufgrund des häufig kleinteiligen Geltungsbereichs von TVen und deren kaum mehr überschaubarer Zahl schied für sie die Festlegung einer gleichwertigen Publizierungspflicht aber wohl schon aus Praktikabilitätserwägungen aus5. Stattdessen wurde im TVG selbst mit der Einführung von Tarifregister und Tarifarchiv (§§ 6, 7 TVG) eine besondere Rechtslage für TVe geschaffen, die durch §§ 14 ff. der Durchführungsverordnung zum TVG (TVGDV)6 weiter konkretisiert wird. Den Arbeitgebern hat der Gesetzgeber in § 8 TVG außerdem die Pflicht auferlegt, die für ihren Betrieb maßgebenden TVe an geeigneter Stelle auszulegen. Auch das allgemeine Vertragsrecht hält an sich Regelungen bereit, die die gebotene Regelungstransparenz im Tarifrecht fördern könnten. Gleichwohl ist die aktuelle Rechtslage insgesamt unbefriedigend7.
1 BAG v. 6.7.2011 – 4 AZR 424/09, NZA 2012, 281. 2 Vergleichbare Regelungen finden sich für die Rechtsakte der Union in Art. 297 Abs. 1 III Sätze 1 und 2 AEUV, für Landesrecht in den Landesverfassungen und für kommunales Satzungsrecht im Kommunalrecht. 3 Statt aller Dreier/Bauer, Art. 82 GG Rz. 16. 4 BVerfG v. 22.11.1983 – 2 BvL 25/81, BVerfGE 65, 283 (291). 5 Däubler/B. Reinecke, § 6 TVG Rz. 2 m.w.N. 6 In der Fassung der Bekanntmachung vom 16.1.1989 (BGBl. I S. 76) zuletzt geändert durch Art. 1 der VO v. 11.3.2014 (BGBl I S. 263). 7 Kritisch auch Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 518 („Trübes Kapitel“); HWK/Henssler, § 8 TVG Rz. 9 („Verbesserung der Publizität von Tarifverträgen überfällig“); Däubler/B. Reinecke, § 6 TVG Rz. 9 ff.; Bepler, FS Düwell, 2011, S. 307 ff.; Bepler, Gutachten 70. DJT, B 18 ff.
190 Bepler
Teil 3 Rz. 92
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
dung ausscheidenden Arbeitgeber nicht unmittelbar und zwingend galt, schied auch eine Nachbindung an ihn oder eine Transformation von sich aus ihm ergebenden Rechten und Pflichten aus1.
D. Die Publizität tariflicher Regelungswerke I. Überblick 92
TVe kommen wie Gesetze ohne die unmittelbare Mitwirkung der diesen Regelwerken Unterworfenen zustande. Die an die TVe Gebundenen sollen aber genau wie die den Gesetzen unterworfenen Bürger die dort festgelegten Pflichten erfüllen und die eingeräumten Rechte wahrnehmen. Beide Normgeber streben auf diese Weise, indem sie das eine Verhalten mit einem Rechtserwerb, ein anders mit einem Rechtsverlust verknüpfen, eine Steuerung des Verhaltens der Normunterworfenen an. Das legte es an sich nahe, auch für die von den TV-Parteien geschaffenen Normen durch Publizierung eine vergleichbare Regelungstransparenz zu schaffen, wie sie für Gesetze und Rechtsverordnungen des Bundes Art. 82 Abs. 1 GG2 trifft: Diese Normen werden überhaupt erst rechtlich existent, wenn sie – im Regelfall – im Bundesgesetzblatt verkündet sind. Erst im Anschluss daran treten sie nach Maßgabe des Art. 82 Abs. 2 GG in Kraft3. Damit hängt das Wirksamwerden der getroffenen staatlichen Regeln nicht nur von ihrer schriftlichen Niederlegung, sondern auch davon ab, dass ihre Inhalte in einer für eine allgemeine Zugänglichkeit geeigneten Form verlautbart werden. Nur so können die getroffenen Bestimmungen auch inhaltlich Wirksamkeit erlangen4.
93
Aufgrund des häufig kleinteiligen Geltungsbereichs von TVen und deren kaum mehr überschaubarer Zahl schied für sie die Festlegung einer gleichwertigen Publizierungspflicht aber wohl schon aus Praktikabilitätserwägungen aus5. Stattdessen wurde im TVG selbst mit der Einführung von Tarifregister und Tarifarchiv (§§ 6, 7 TVG) eine besondere Rechtslage für TVe geschaffen, die durch §§ 14 ff. der Durchführungsverordnung zum TVG (TVGDV)6 weiter konkretisiert wird. Den Arbeitgebern hat der Gesetzgeber in § 8 TVG außerdem die Pflicht auferlegt, die für ihren Betrieb maßgebenden TVe an geeigneter Stelle auszulegen. Auch das allgemeine Vertragsrecht hält an sich Regelungen bereit, die die gebotene Regelungstransparenz im Tarifrecht fördern könnten. Gleichwohl ist die aktuelle Rechtslage insgesamt unbefriedigend7.
1 BAG v. 6.7.2011 – 4 AZR 424/09, NZA 2012, 281. 2 Vergleichbare Regelungen finden sich für die Rechtsakte der Union in Art. 297 Abs. 1 III Sätze 1 und 2 AEUV, für Landesrecht in den Landesverfassungen und für kommunales Satzungsrecht im Kommunalrecht. 3 Statt aller Dreier/Bauer, Art. 82 GG Rz. 16. 4 BVerfG v. 22.11.1983 – 2 BvL 25/81, BVerfGE 65, 283 (291). 5 Däubler/B. Reinecke, § 6 TVG Rz. 2 m.w.N. 6 In der Fassung der Bekanntmachung vom 16.1.1989 (BGBl. I S. 76) zuletzt geändert durch Art. 1 der VO v. 11.3.2014 (BGBl I S. 263). 7 Kritisch auch Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 518 („Trübes Kapitel“); HWK/Henssler, § 8 TVG Rz. 9 („Verbesserung der Publizität von Tarifverträgen überfällig“); Däubler/B. Reinecke, § 6 TVG Rz. 9 ff.; Bepler, FS Düwell, 2011, S. 307 ff.; Bepler, Gutachten 70. DJT, B 18 ff.
190 Bepler
Die Publizitt tariflicher Regelungswerke
Rz. 97 Teil 3
II. Tarifregister und Tarifarchiv 1. Eintragung und Archivierung Das für das Arbeitsrecht zuständige Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat 94 das Tarifregister zu führen, in das alle TVe aufzunehmen sind, was die am Abschluss beteiligten Parteien, ihren Geltungsbereich, den Zeitpunkt ihres Abschlusses und den ihres Inkrafttretens angeht. Darüber hinaus ist jede Änderung und die Aufhebung dieser TVe einzutragen (§ 6 TVG i.V.m. § 11 Nr. 1 TVG, § 14 TVGDV), wobei unter Aufhebung jede Form der Beendigung der Tarifwirkung durch Kündigung, Zeitablauf, Aufhebungsvertrag oder aus sonstigen Gründen zu verstehen ist1. Diese Registrierungsaufgabe gilt für alle TVe im Sinne von § 1 TVG, auch HausTVe, nicht nur die allgemeinverbindlichen (§ 5 TVG). Insoweit ist nach der Bekanntmachung der Allgemeinverbindlichkeit (§ 5 Abs. 7 TV) im Bundesanzeiger zusätzlich einzutragen, wann deren Allgemeinverbindlichkeit beginnt und wann sie endet. Der Text der TVe ist in das eigentliche Tarifregister nicht aufzunehmen. Die TVe 95 sind jedoch auch als Ganzes zu registrieren und als solche in dem ebenfalls beim Bundesministerium geführten Tarifarchiv zur Verfügung zu stellen, das wohl als materieller Teil des Tarifregisters zu verstehen ist. Dass auch die TV-Texte beim Bundesministerium für alle Interessierten erschließbar aufzubewahren sind, folgt schon aus § 7 Abs. 1 TVG, der nicht nur die Mitteilung der einzutragenden Daten der TVe anordnet, sondern die Übersendung der gesamten TVe verlangt. Das Erfordernis, ein Tarifarchiv zu führen, ergibt sich mittelbar aus § 11 Nr. 1 TVG sowie unmittelbar aus § 16 Satz 1 TVGDV: „Die Einsicht des Tarifregisters und der registrierten Tarifverträge ist jedem gestattet“. Tarifregister und Tarifarchive werden darüber hinaus auch in den meisten Bundeslän- 96 dern, überwiegend bei den Ministerien und Senatoren, die für Arbeit und Soziales zuständig sind, geführt2, die eigene Nutzungsregelungen schaffen können, weil § 6 TVG für sie nicht gilt. Hiervon geht auch der Gesetzgeber des TVG in § 7 Abs. 1 Satz 2 aus. Das für das Tarifregister nach § 6 TVG zuständige Bundesministerium hat grundsätz- 97 lich keine Befugnis, die Eintragung von bei ihm eingereichten TVen aus Rechtsgründen abzulehnen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn offensichtlich ist, dass es sich nicht um einen TV im Rechtssinn handelt. Eine Eintragung hat auch zu unterbleiben, wenn das Regelwerk unter Beteiligung eines Verbandes zustande gekommen ist, von dem rechtskräftig feststeht, dass er nicht tariffähig ist; bloße Zweifel des Ministeriums an der Tariffähigkeit eines Beteiligten reichen nach der klaren Wertung des § 97 Abs. 5 ArbGG nicht. Das Bundesministerium steht es in einem solchen Fall allerdings frei, nach einer Eintragung das Verfahren nach § 97 Abs. 1 ArbGG auf Feststellung der fehlenden Tariffähigkeit zu betreiben und die Eintragung nach einem entsprechenden Ergebnis des Rechtsstreits zu löschen. Auch eine wie auch immer geartete Inhaltskontrolle des TVs scheidet aus3. 1 Däubler/B. Reinecke, § 6 TVG Rz. 15; Zeibig/Zachert in Kempen/Zachert, § 6 TVG Rz. 16; Wiedemann/Oetker, § 6 TVG Rz. 20. 2 Aktuelle Aufstellung mit Anschriften bei Däubler/B. Reinecke, § 6 TVG Rz. 40. 3 Löwisch/Rieble, § 6 TVG Rz. 18; Däubler/B. Reinecke, § 6 TVG Rz. 20 ff.; weiter gehend möglicherweise Kocher in Berg/Kocher/Schumann, § 6 TVG Rz. 4.
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Teil 3 Rz. 98
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
2. Mitwirkungspflichten der Tarifvertragsparteien 98
§ 7 TVG schafft die Voraussetzungen zur Führung eines – wenn möglich – vollständigen Tarifregisters und Tarifarchivs, indem es beiden TV-Parteien als Gesamtschuldnern (§ 7 Abs. 1 Satz 3 TVG) die Pflicht auferlegt, dem Bundesministerium innerhalb eines Monats nach Tarifabschluss eine Urschrift oder beglaubigte Kopie sowie zwei weitere Abschriften eines jeden TVs und seiner Änderungen zu übersenden. Seit der Änderung der Durchführungsverordnung zum TVG am 11. März 2014 können die TVParteien nach § 14 Abs. 1 Satz 3 TVGDV einen zu registrierenden TV auch in elektronischer Form dem Register übermitteln. Dem muss aber die Erklärung beigefügt werden, die übermittelte Datei entspreche der Urschrift des mitgeteilten TV. Darüber hinaus ist von den TV-Parteien innerhalb derselben Frist das Außerkrafttreten des TVs, also das Ende von dessen zwingender Wirkung, nicht das einer etwaigen Nachwirkung, zum Tarifregister mitzuteilen. Bei einem Streit darüber, ob und gegebenenfalls wann die Tarifwirkung – z.B. nach einer fristlosen TV-Kündigung aus wichtigem Grund – geendet hat, ist die TV-Partei, die von einer Beendigung ausgeht, verpflichtet, die Beendigung und den nach ihrer Auffassung richtigen Beendigungstermin mitzuteilen sowie zugleich darauf hinzuweisen, dass hier Streit mit der anderen TV-Partei besteht1.
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Die Verpflichtung beider TV-Parteien, auch den obersten Arbeitsbehörden der Länder innerhalb eines Monats nach Abschluss der TVe drei Abschriften hiervon sowie von jeder Änderung zu übersenden und auch deren Außerkrafttreten innerhalb eines Monats mitzuteilen, bezieht sich auf die TVe, die nach den Bestimmungen über ihren räumlichen Geltungsbereich innerhalb der betreffenden Länder gelten. Das bedeutet, dass die Pflichten des § 7 Abs. 1 Satz 2 TVG sich nicht nur auf die TVe beziehen, die ausschließlich in den Landesgrenzen des jeweiligen Bundeslandes gelten wollen. Sie bestehen auch bei solchen, die zumindest auch in dem betreffenden Bundesland Geltung beanspruchen, also TVen mit bundesweitem oder Länder übergreifendem Geltungsbereich.
100 Werden die Mitwirkungspflichten der TV-Parteien aus § 7 Abs. 1 TVG vorsätzlich oder fahrlässig verletzt, handelt es sich nach Abs. 2 um eine Ordnungswidrigkeit nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG), das mit einem Bußgeld von bis zu 1000 Euro geahndet werden kann (§ 17 OWiG). Tatsächlich ist eine Geldbuße aber bis heute soweit ersichtlich nicht festgesetzt worden, obwohl gelegentlich Zweifel geäußert werden, dass das Tarifregister tatsächlich die angestrebte Vollständigkeit erreicht2. 3. Zweck und Wirkung der Registrierung 101 Zweck von Tarifregister und Tarifarchiv ist es weniger, dem Staat eine authentische Dokumentation des gegenwärtigen und früheren Tarifrechts zur Verfügung zu stellen3; gegenüber einem derartigen vorrangigen Zweck bestünden angesichts des Umstandes, dass die Mitwirkungspflichten der TV-Parteien mit Sanktionen bewehrt sind, Bedenken aus Art. 9 Abs. 3 GG, soweit es nicht um allgemeinverbindliche TVe geht. Sehr viel wesentlicher ist, dass alle hieran Interessierten, von den Gerichten bis 1 Zutreffend Däubler/B. Reinecke, § 7 TVG Rz. 7. 2 Kocher in Berg/Kocher/Schumann, § 7 TVG Rz. 2a. 3 Zurückhaltend insoweit auch Wiedemann/Oetker, § 6 TVG Rz. 6; Löwisch/Rieble, § 6 TVG Rz. 13.
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Die Publizitt tariflicher Regelungswerke
Rz. 104 Teil 3
zu jedem einzelnen betroffenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die Möglichkeit erhalten sollen, sich lückenlos über alle abgeschlossenen TVe und deren Geltungsbereich zu informieren1. Für allgemeinverbindliche TVe wird zur Begründung einer dahin gehenden Verpflichtung auch darauf hingewiesen, dass ein Veröffentlichungsverfahren mit Dokumentationswirkung rechtsstaatlich geboten ist, wenn durch Mitgliedschaft legitimierte Rechtsnormen auch auf Außenseiter angewendet werden sollen; diese Aufgabe werde durch Tarifregister und Tarifarchiv erfüllt2. Dieses rechtsstaatlich gebotene Publizitätserfordernis als Gesetzgebungsaufgabe dürfte aber auch für nicht allgemeinverbindliche TVe gelten3. Der Gesetzgeber hat auch für diese TVe, die nur durch Mitgliedschaft legitimiert sind, angeordnet, dass sie ohne konkretes Wissen über ihre Existenz und ihren Inhalt seitens der Verbandsmitglieder und ohne deren Zustimmung hierzu als Normen gelten. Er muss deshalb auch hier in irgendeiner dafür geeigneten Weise sicherstellen, dass die Normadressaten von den Normen Kenntnis nehmen und ihr Verhalten daran ausrichten können. Er hat hierfür Tarifregister und Tarifarchiv mit Einsichtsansprüchen für jedermann eingerichtet. Es ergibt sich aus dem zumindest auch öffentlich-rechtlichen Charakter der §§ 6 und 102 7 TVG zwar nicht zwingend, entspricht aber angesichts der Entstehungsgeschichte dieser Normen zu Recht allgemeiner Auffassung, dass die Meldung zum Tarifregister und die Eintragung dort nicht Wirksamkeitsvoraussetzung von TVen ist4. Dem Tarifregister kommt auch keine Publizitätswirkung ähnlich § 15 HGB zu. Man wird aber erwägen können, bei einem Streit darüber, ob eine bestimmte Einigung der TV-Parteien als TV zu bewerten ist, als Hilfstatsache auf dessen Anmeldung oder Nichtanmeldung zum Tarifregister abzustellen. Dies kommt jedenfalls bei Übereinkünften auf Verbandsebene in Betracht. 4. Reformüberlegungen Es ist offensichtlich, dass die hier bestehende Möglichkeit, vom Inhalt der einschlägi- 103 gen TVe über eine Auskunftsbitte beim Tarifregister Kenntnis zu nehmen, angesichts der Vielzahl der im Arbeitsleben alltäglich auftretenden Klärungsbedürfnisse zumindest deutlich verbesserungsfähig ist, wenn eine derartige Verbesserung nicht sogar von Rechts wegen geboten ist. Eine Arbeitsgruppe Tarifvertragsrecht hat im Jahre 2004 um einer Verbesserung des 104 Zugriffs auf die für die Arbeitsverhältnis maßgebenden TVe willen vorgeschlagen, das Tarifregister an die veränderten Informations- und Kommunikationstechniken anzupassen. In Anlehnung an den elektronischen Bundesanzeiger solle künftig auch ein elektronisches Tarifregister geführt werden, das allerdings – mit der Ausnahme von MantelTVen und allgemeinverbindlichen TVen – aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung erst ab einem zu bestimmenden Stichtag verbindlich sein solle5. 1 Däubler/B. Reinecke, § 6 TVG Rz. 5; Zeibig/Zachert in Kempen/Zachert, § 6 TVG Rz. 1; Löwisch/Rieble, § 6 TVG Rz. 13. 2 BVerfG, Kammerbeschluss v. 10.9.1991 – 1 BvR 561/89, AP TVG § 5 Nr. 27. 3 Ebenso Wiedemann/Oetker, § 6 TVG Rz. 7. 4 BAG v. 16.5.1995 – 3 AZR 535/94, AP TVG § 4 Ordnungsprinzip Nr. 15; Wiedemann/Oetker, § 6 TVG Rz. 25; Löwisch/Rieble, § 6 TVG Rz. 17; Däubler/B. Reinecke, § 6 TVG Rz. 18. 5 Dieterich/Hanau/Henssler/Oetker/Wank/Wiedemann, RdA 2004, 65 (77); ebenso auch Bepler, Gutachten 70. DJT, B 24.
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Teil 3 Rz. 105
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
105 Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat diesen Gedanken aufgegriffen, ihn aber zunächst nicht in einen Gesetz- oder Verordnungsentwurf umgesetzt, weil es schon bei den Vorarbeiten Widerstände von Seiten der Verbände gab, deren Spitzenverbände eigene Tarifregister unterhalten: Die Entscheidung, ob und in welchem Umfang TVe, für die betont wird, dass es sich hier – nur? – um eine Leistung handele, die auf die Mitglieder der Koalitionen ziele, und Urheberrechtsschutz reklamiert wird, einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht würden, müsse der jeweils zuständigen TV-Partei überlassen bleiben1. Die Stellungnahme problematisiert besonders die Möglichkeit der Einsichtnahme Dritter und den damit einhergehenden Verlust der Interpretationshoheit der TV-Parteien als „Herren“ ihrer TVe. Angesprochen ist damit aber sicher auch, dass die Werbewirkung zu Gunsten der Koalitionen erhalten bleiben soll, die damit verbunden ist, dass eine leichte und einigermaßen kurzfristige Kenntnisnahme von Tarifinhalten im Wesentlichen nur unter Einschaltung der Verbände möglich ist2. 106 Das Interesse der Koalitionen an einer effektiven Mitgliederwerbung als Teil der Koalitionsbetätigungsfreiheit ist um eines funktionierenden TV-Systems willen erheblich schutzbedürftig und auch verfassungsrechtlich abgesichert3. Im Hinblick auf gegenläufige verfassungsrechtlich geschützte Individualinteressen aus Art. 9 Abs. 3 und Art. 12 GG und die angesprochenen Gebote des Rechtsstaats ist allerdings fraglich, ob dieses Interesse ausgerechnet dadurch befriedigt werden muss, dass der – tägliche! – Zugang zu den Tarifinhalten derart schwierig gehalten werden muss, wie er sich derzeit darstellt. Denn die TV-Parteien informieren zwar ihre Mitglieder. Aber schon dies ist gegenüber einem Zugriff über Internet mit einem unvermeidbaren Zeitverlust verbunden, der den Bedürfnissen der Praxis nicht gerecht wird. Außenseiter werden zudem, soweit hier bekannt, wenn überhaupt, dann allenfalls zurückhaltend informiert. Dass es aber auch insoweit nach dem Willen des Gesetzgebers ein rechtlich zu schützendes Informationsinteresse gibt, ergibt sich ohne weiteres daraus, dass der Gesetzgeber und die höchstrichterliche Rechtsprechung zumindest von der Leitbildfunktion der TVe ausgehen, die von diesen nur ausgehen kann, wenn sie auch allgemein bekannt sein können. Der rechtlich anerkannte Schutzbedarf zeigt sich im Übrigen konkret auch daraus, dass der Gesetzgeber in einer Vielzahl von staatlichen Schutznormen eine Abweichung zu Lasten der an sich geschützten Arbeitnehmer auch dann zulässt, wenn entsprechende tarifvertragliche Regelungen nur arbeitsvertraglich in Bezug genommen werden. Die Kenntnis vom Bestehen oder Nicht-mehrBestehen solcher Regelungen ist damit auch, was Außenseiter angeht, in den Regelungsplan des Gesetzes aufgenommen. 107 Dieser Umstand spricht im Übrigen auch dafür, TVen Urheberrechtsschutz nicht zuzuerkennen. Denn die Bereichsausnahme des § 5 UrhG ist maßgebend. Nach dieser Bestimmung sind u.a. Gesetze, Verordnungen, amtliche Erlasse und Bekanntmachungen nicht urheberrechtlich geschützt. TVe sind jedenfalls in ihrem auf Betriebe und 1 Stellungnahme der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) zum Entwurf einer Verordnung zur Änderung der Durchführungsverordnung zum TVG, September 2011: „Digitales Tarifregister gestalten“, die nach Einschätzung des Verf. auch vom DGB stammen könnte. 2 Ähnlich Kocher in Berg/Kocher/Schumann, § 6 TVG Rz. 6. 3 Hierzu nur BAG v. 20.1.2009 – 1 AZR 515/08, SAE 2009, 280 mit Anm. Cord Meyer; BAG v. 22.6.2010 – 1 AZR 179/09, NZA 2010, 1365.
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Die Publizitt tariflicher Regelungswerke
Rz. 110 Teil 3
Arbeitsverhältnisse zielenden – normativen (!) – Teil Gesetze im materiellen Sinn, auch wenn sie nicht allgemeinverbindlich und deshalb im Ausgangspunkt nur Ergebnisse kollektiv ausgeübter Privatautonomie sind. Jeder TV steht nicht nur dem Grunde nach einer Allgemeinverbindlicherklärung offen; er tritt darüber hinaus potentiell in ein im Einzelfall zu seinen Gunsten aufzulösendes Konkurrenzverhältnis zu ansonsten zwingenden staatlichen Schutznormen, eine Qualität, die ein „normales“ Produkt ausgeübter Privatautonomie nicht hat1. § 14 Abs. 1 Satz 1 TVGDV i.d.F. vom 11. März 2014 hat nun geregelt, dass ein elektro- 107a nisches Tarifregister geführt werden kann. In § 14 Abs. 1 Satz 3 TVGDV ist zugleich die Möglichkeit eröffnet worden, abgeschlossene TVe auch in elektronischer Fassung beim Tarifregister einzureichen. Man kann nun zumindest für eine fernere Zukunft hoffen, dass es zu einem elektronischen Tarifregister kommt.
III. Die Auslegungspflicht nach § 8 TVG 1. Zweck und Inhalt der Auslegungspflicht Der Gesetzgeber hat weiter durch § 8 TVG und § 9 Abs. 2 der TVGDV mit der Pflicht 108 des Arbeitgebers, nach § 4 Abs. 1 TVG geltende TVe und – zusätzlich geregelt2 – allgemeinverbindliche TVe an geeigneter Stelle im Betrieb auszulegen3, eine besondere Publizierungspflicht begründet, die sehr sinnvoll und mit größerer Wahrscheinlichkeit, zur Kenntnisnahme durch die Betroffenen zu führen, als eine allgemeine Publizierungsanordnung, an den Ort anknüpft, an dem die tariflichen Verhaltensanweisungen befolgt werden sollen, nämlich den Betrieb als Ort der Arbeitsleistung. § 8 TVG, dem für das Betriebsverfassungsrecht § 77 Abs. 2 Satz 3 BetrVG entspricht, 109 wird spezialgesetzlich durch § 16 Abs. 1 ArbZG konkretisiert, der einen betrieblichen Aushang der TVe anordnet, in denen von den Öffnungsklauseln des Arbeitszeitgesetzes Gebrauch gemacht wird. § 8 TVG und § 9 TVGDV gelten für alle TVe, also auch deren schuldrechtliche Re- 110 gelungen; „maßgebend“ im Sinne des § 8 TVG sind alle diejenigen TVe, die aufgrund der Bestimmungen des TVG Anwendung finden, wobei etwaige Tarifpluralitäten zu berücksichtigen sind. Dabei genügt die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers. Schon aus Praktikabilitätserwägungen kann es nicht darauf ankommen, ob zur Zeit – zufälligerweise – ein tarifgebundener Arbeitnehmer beschäftigt wird oder dies gerade ein-
1 Im Ergebnis und Teilen der Begründung ebenso BAG v. 11.11.1968 – 1 AZR 16/68, NJW 1969, 861 (im Rahmen einer Entscheidung, die das Werberecht der Koalitionen und ihren wettbewerbsrechtlichen Schutz gegenüber konkurrierenden Organisationen gerade betont); Kocher in Berg/Kocher/Schumann, § 6 TVG Rz. 5; Franzen, RdA 2006, 1 (10); Däubler/B. Reinecke, § 6 TVG Rz. 29 m.w.N. auch zur Gegenmeinung. 2 Wobei § 9 Abs. 1 TVGDV zusätzlich einen Rechtsanspruch der einem allgemeinverbindlichen TV unterworfenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer begründet, von einer TV-Partei eine Abschrift dieses TVs gegen Erstattung der Selbstkosten (§ 5 Satz 3 TVGDV) verlangen zu können. 3 Durch das Tarifeinheitsgesetz ist § 8 TVG um die Pflicht des Arbeitgebers erweitert worden, rechtskräftige Beschlüsse nach § 99 ArbGG über den nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG anwendbaren Mehrheitstarifvertrag im Betrieb bekannt zu machen.
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Teil 3 Rz. 111
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
mal nicht der Fall ist1. Hiergegen spricht auch, dass die Pflicht des § 8 TVG nicht geltende TVe wie z.B. § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB, sondern maßgebende TVe anspricht und zum Gegenstand der Auslegungspflicht macht. Dass für einen tarifgebundenen Arbeitgeber und seine betriebliche Vertragsdurchführungspraxis in aller Regel die TVe, an die er gebunden ist, maßgebend sind, dürfte außer Streit stehen. Es genügt deshalb, dass der TV aufgrund der Tarifgebundenheit des Arbeitgebers geeignet ist, im Betrieb kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit zu gelten. 111 Die gesetzliche Auslegungspflicht besteht auch für Mindestarbeitsbedingungen nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz, weil § 7 Abs. 1 AEntG zwar nicht die Bestimmungen des TVG insgesamt in Bezug nimmt, aber doch die Anwendung der betreffenden TVe als TVe anordnet2, sowie für Mindestarbeitsentgelte nach dem Gesetz über Mindestarbeitsbedingungen, dessen § 8 Abs. 1 Satz 2 ausdrücklich auf die Bestimmungen des TVG verweist. Die Auslegungspflicht nach § 8 TVG besteht dagegen insbesondere nicht für solche TVe, an die der Arbeitgeber nicht gebunden ist, die nur aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahmen im Betrieb allgemein angewendet werden3. Andererseits sind auch TVe, die durch TVe in Bezug genommen worden sind, die im Betrieb kraft Tarifgebundenheit gelten, Teile des Bezug nehmenden TVs und als solche normativ geltendes Tarifrecht. Sie oder auch nur die dort in Bezug genommenen TV-Teile unterliegen deshalb der Auslegungspflicht4. 112 Wie die Auslegungspflicht zu erfüllen ist, ist eine Frage des Einzelfalles. Es muss für die Tarifunterworfenen jedenfalls ohne Schwierigkeiten möglich sein, die verkörperten Tarifregelungen zur Kenntnis zu nehmen. Eine Auslegung im Personal- oder Betriebsratsbüro wird jedenfalls dann ausreichen, wenn dieser Einsichtsort allgemein im Betrieb bekannt gemacht wird und während der gesamten Normalarbeitszeit dort üblicherweise eine Einsichtnahme möglich ist. Eine „Auslegung“ durch Einstellung ins Intranet entspricht zwar nicht einem sehr auf den historischen Gesetzgeber abstellenden Ver1 Däubler/B. Reinecke, § 8 TVG Rz. 8; C. Schubert in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 3 Rz. 38; Wiedemann/Oetker, § 8 TVG Rz. 14; Zeibig/Zachert in Kempen/Zachert, § 8 TVG Rz. 8; Kocher in Berg/Kocher/Schumann, § 8 TVG Rz. 3; a.A. (mindestens ein tarifgebundener Arbeitnehmer) HWK/Henssler, § 8 TVG Rz. 2; ErfK/Franzen, § 8 TVG Rz. 2; Löwisch/Rieble, § 8 TVG Rz. 10; (TV muss für den Betrieb eine gewisse Bedeutung haben) Hohenhaus, NZA 2001, 1107 (1109). 2 Ebenso Löwisch/Rieble, § 8 TVG Rz. 12. Die Rechtslage ist hier anders als zu der Frage, ob durch Rechtsverordnung nach § 7 Abs. 1 AEntG erstreckte TVe nach § 4 Abs. 5 TVG über den Wirkungszeitraum der Rechtsverordnung hinaus nachwirken; denn dort geht es um die Geltung des Tarifrechts, die nicht, was ihren Beginn und die Geltung dem Grunde nach angeht, von einer hoheitlichen Entscheidung in einer Rechtsverordnung abhängig gemacht werden kann, sich dann aber, was ihre Beendigung angeht, von einer solchen Entscheidung unabhängig nach allgemeinem Recht für autonom geschaffene Rechtsnormen richten soll, vgl. BAG v. 20.4.2011 – 4 AZR 467/09, NZA 2011, 1105. 3 ErfK/Franzen, § 8 TVG Rz. 1; Däubler/B. Reinecke, § 8 TVG Rz. 10; Wiedemann/Oetker, § 8 TVG Rz. 14; Kocher in Berg/Kocher/Schumann, § 8 TVG Rz. 3; Zeibig/Zachert in Kempen/Zachert, § 8 TVG Rz. 10; offen gelassen von BAG v. 23.1.2002 – 4 AZR 56/01, AP NachwG § 3 Nr. 5; a.A. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 520, der § 8 TVG aber auch nicht unmittelbar anwenden will, sondern die dort festgelegte Pflicht als mit der Bezugnahme nach Treu und Glauben mit vereinbart ansieht. 4 Ebenso Wiedemann/Oetker, § 8 TVG Rz. 10; HWK/Henssler, § 8 TVG Rz. 2; Däubler/B. Reinecke, § 8 TVG Rz. 7; a.A. Hohenhaus, NZA 2001, 1107 (1108); BAG v. 10.11.1982 – 4 AZR 1203/79 – DB 1983, 717, soweit es um in Bezug genommene Teile eines TVs geht.
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Die Publizitt tariflicher Regelungswerke
Rz. 115 Teil 3
ständnis des Gesetzeswortlauts. Sie genügt aber nach Sinn und Zweck des § 8 TVG nach deren vorheriger Bekanntmachung bei einem Betrieb, in dem das Intranet allgemein als „Schwarzes Brett“ genutzt wird und auch genutzt werden kann1. Der zeitliche Umfang der Auslegungspflicht umfasst den Zeitraum, in welchem der 113 betreffende TV „maßgebend“ im Betrieb ist. Dies ist die Zeit vom Inkrafttreten des TVs bis zum Ende von dessen normativer Geltung. Darauf, dass der TV noch zwingend gilt, kommt es nicht an. Hat er einmal gegolten, gilt er nach § 4 Abs. 5 TVG bis zu einer anderen Abmachung. Deshalb ist jeder TV bis zum Ende seiner Nachwirkung im Betrieb auszulegen2. 2. Wirkung der Auslegung und Rechtsfolge ihres pflichtwidrigen Unterlassens Dass die Erfüllung der Auslegungspflicht aus § 8 TVG, § 9 Abs. 2 TVGDV nicht Wirk- 114 samkeitsvoraussetzung der „maßgebenden“ TVe für die in dem betreffenden Betrieb angesiedelten Arbeitsverhältnisse ist, entspricht zu Recht allgemeiner Auffassung3. Fraglich und höchst umstritten ist, ob sich aus einer Verletzung der Auslegungspflicht für den insoweit verpflichteten Arbeitgeber negative Auswirkungen ergeben4. § 8 TVG und § 9 Abs. 2 TVGDV sind, wenn sich die hierzu verpflichteten Arbeitgeber 115 an ihre Auslegungspflicht halten, an sich gut geeignet, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer „vor etwaiger Unkenntnis ihrer Rechte zu schützen“5, soweit diese sich aus normativ geltenden TVen ergeben. Der Umstand, dass die Rechtsprechung des BAG es bisher mit Zustimmung eines Teils der Literatur ablehnt, irgendwelche Rechtsfolgen an eine Verletzung der Auslegungspflicht zu knüpfen, nimmt diesen Bestimmungen aber viel von ihrer praktischen Wirksamkeit bei der Erfüllung ihrer auch von der Nachweis-Richtlinie 91/533/EWG vorgegebenen Aufgabe, ein Mindestmaß von Regelungstransparenz im TV-Recht herbeizuführen. Im Anschluss an ältere Rechtsprechung hat der 4. Senat des BAG am 23. Januar 2002 ausdrücklich darauf erkannt, es handele sich bei § 8 TVG um eine sanktionslose Ordnungsvorschrift oder eine Norm, die zwar eine Schutzfunktion aufweise, deren Nichtbeachtung aber keine Folgen zeitige6. Damit ist die betriebliche Publizierung der tarifvertraglichen Normen gegenüber den nicht an deren Zustandekommen beteiligten Arbeitnehmern letztlich in das Belieben des vom Gesetzgeber hiermit betrauten Arbeitgebers gestellt. Er kann, wie dies typischerweise auch geschieht, die Regelungen im Betrieb an geeigneter Stelle auslegen. 1 Wiedemann/Oetker, § 8 TVG Rz. 7; Löwisch/Rieble, § 8 TVG Rz. 18. 2 HWK/Henssler, § 8 TVG Rz. 6; Wiedemann/Oetker, § 8 TVG Rz. 18; Däubler/B. Reinecke, § 8 TVG Rz. 11; Löwisch/Rieble, § 8 TVG Rz. 15a. 3 Löwisch/Rieble, § 8 TVG Rz. 5; Däubler/B. Reinecke, § 8 TVG Rz. 15; Wiedemann/Oetker, § 8 TVG Rz.; Zeibig/Zachert in Kempen/Zachert, § 8 TVG Rz. 13. 4 Hierzu eingehend Bepler, FS Düwell, 2011, S. 307 (314 ff.). 5 So der 2. Erwägungsgrund der Richtlinie 91/533/EWG des Rates vom 14.10.1991 über die Pflicht des Arbeitgebers zur Unterrichtung des Arbeitnehmers über die für seinen Arbeitsvertrag oder sein Arbeitsverhältnis geltenden Bedingungen (Nachweis-Richtlinie), der auch bei geltenden Rechten und Pflichten eine Schutzaufgabe der Mitgliedstaaten, den Arbeitnehmern die Kenntnisnahme der Rechtslage zu erleichtern, beschreibt. 6 BAG v. 23.1.2002 – 4 AZR 56/01, NZA 2002, 800 m.z.w.N.; die etwas merkwürdige Gegenüberstellung findet sich unter 5b aa bbb der Gründe. In seinem Urteil BAG v. 21.2.2007 – 4 AZR 258/06, AP TVG § 1 TVe: Dachdecker Nr. 8, hat der 4. Senat betont offen gelassen, ob an der hier referierten Rechtsprechung festzuhalten ist.
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Teil 3 Rz. 116
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
Er kann, erfährt die bisherige Rechtsprechung keine Änderung, dies aber auch unterlassen, ohne dass ihm hieraus Rechtsnachteile drohen. In seinem ausführlichen Urteil vom 23. Januar 2002 hat sich das BAG mit der in diesem Zusammenhang typischen Fragestellung befasst, ob der Anspruch eines Arbeitnehmers auch dann mit Fristablauf ohne weiteres verfallen ist, wenn der TV, in dem sich die Ausschlussfristbestimmung befindet, nicht im Betrieb ausgelegt worden war. Es hat diese Frage bejaht. Weder sei dem Arbeitgeber in einem solchen Fall die Berufung auf den fruchtlosen Ablauf der Ausschlussfrist von vornherein versagt, noch schulde er es dem Arbeitnehmer, bei Erfüllung der weiteren Anspruchsvoraussetzungen im Wege des Schadensersatzes so gestellt zu werden, als hätte er die Ausschlussfrist eingehalten. Nach dem Willen des historischen Gesetzgebers diene § 8 TVG im Interesse der Öffentlichkeit der Information der Arbeitnehmer über die für den Betrieb maßgeblichen TVe und dem Publizitätsbedarf von Tarifnormen. Das BAG nimmt auf die Entscheidung des BVerfG zu allgemeinverbindlichen TVen Bezug, wonach das Bekanntgabesystem nach dem TVG zwar nicht zu befriedigen vermöge, es aber der verfassungsrechtlichen Nachprüfung unter dem Aspekt des Rechtsstaatsprinzips noch stand halte, auch weil es dem Arbeitnehmer möglich sei, Einsicht in den TV zu nehmen, wenn ihn sein Arbeitgeber an geeigneter Stelle im Betrieb auslege1. Es nimmt im Anschluss hieran an, § 8 TVG als nicht mit einer Rechtsfolgenanordnung versehene Publizitätsvorschrift sei eine Ordnungsvorschrift, die keinen Individualschutz bezwecke und deshalb auch nicht als Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB in Betracht komme. Es sei auch nicht möglich, an eine Verletzung einer im Arbeitsverhältnis geltenden Nebenpflicht die Rechtsfolge eines Schadensersatzanspruchs zu knüpfen. § 8 TVG habe nicht den für die Annahme einer Nebenpflicht im Arbeitsverhältnis erforderlichen Zweck, dem Schutz des Einzelnen zu dienen. Sie konkretisiere deshalb auch nicht die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers gegenüber dem einzelnen Arbeitnehmer2. 116 Diese Rechtsprechung hat vielfach Kritik erfahren. Ulrich Koch hat sich auf der Grundlage einer an die strukturelle Ungleichgewichtslage im Arbeitsverhältnis anknüpfenden verfassungskonformen Auslegung des § 8 TVG dafür ausgesprochen, tarifvertragliche Ausschlussfristregelungen nicht anzuwenden, solange der Arbeitgeber den betreffenden TV nicht in geeigneter Form bekannt gegeben hat3. Überwiegend wird dafür plädiert, dem Arbeitnehmer bei einer Verletzung der Auslegungspflicht einen Schadensersatzanspruch aus einer durch § 8 TVG konkretisierten vertraglichen Nebenpflichtverletzung zu geben. Dieser auf § 280 Abs. 2, § 241 Abs. 1 BGB zu stützende 1 BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, DB 1977, 1249. 2 Ebenso ErfK/Franzen, § 8 TVG Rz. 4; Krebber in Dornbusch/Fischermeier/Löwisch, Fachanwaltskommentar Arbeitsrecht, 4. Aufl. 2011, § 8 TVG Rz. 4; AnwK-ArbR/Besgen, § 8 TVG Rz. 8; auch Löwisch/Rieble, § 8 TVG Rz. 32 ff., die ihre gegenüber der ersten Auflage geänderte Auffassung wie Franzen auf § 2 NachwG stützen, dem sie eine abschließende Regelung der Individualinteressen der Arbeitnehmer entnehmen. Im Ergebnis auch Oetker in Wiedemann, § 8 TVG Rz. 19 ff., 24 f., der § 8 keinen Schutzgesetzcharakter beimisst, dem Arbeitgeber nach Inkrafttreten des NachwG aber gleichwohl eine Pflicht zur Auslegung zuweist; deren Verletzung führe aber nicht zu einem Schadensersatzanspruch aus § 280 Abs. 1 BGB, weil der Schutzzweck des § 8 TVG nicht auch darin liege, den Arbeitnehmer vor Rechtsnachteilen aus der Unkenntnis von Rechtsnormen zu bewahren; ebenso C. Schubert in Jacobs/Krause/ Oetker/Schubert, § 3 Rz. 39. Zu der § 8 TVG entsprechenden Bestimmung des § 77 Abs. 2 Satz 3 BetrVG auch WPK/Preis, § 77 BetrVG Rz. 11; GK-BetrVG/Kreutz, § 7 Rz. 52; Richardi, § 77 BetrVG Rz. 41. 3 Koch, FS Schaub, S. 421 (434 ff.); kritisch dazu Löwisch/Rieble, § 8 TVG Rz. 6.
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Die Publizitt tariflicher Regelungswerke
Rz. 119 Teil 3
Anspruch stellt den Arbeitnehmer so, als hätte der Arbeitgeber ihm durch Auslegung des TVs die Möglichkeit gegeben, sich über den Inhalt des TVs zu informieren1. Ähnlich der Problematik in Arzthaftpflichtprozessen nach fehlerhafter Aufklärung muss einem betroffenen Arbeitnehmer hinsichtlich des Nachweises der Ursächlichkeit der Pflichtverletzung des Arbeitgebers für die eingetretene Fristversäumnis oder das sonstige rechtsbeeinträchtigende Verhalten2 dann die – widerlegliche – Vermutung zu Gute kommen, dass er sich bei richtiger und vollständiger Unterrichtung nach Maßgabe der Aufklärung sachgerecht verhalten hätte. Die gegenteilige Rechtsprechung des BAG überzeugt schon bei der vermeintlichen 117 „Weichenstellung“ mit Hilfe der Qualifizierung des § 8 TVG als Ordnungsvorschrift nicht. Birgit Reinecke3 hat überzeugend begründet darauf hingewiesen, dass dieser Begriff im verwendeten Zusammenhang ohne jede Aussagekraft ist. Ordnungen werden u.a. zur Gewährleistung bestimmter Rechte oder Interessen geschaffen. Dafür, dass es sich dabei nur um überindividuelle Interessen handeln muss, spricht nichts, schon gar nicht, wenn es um die „Ordnung“ von TVen geht, die im Regelfall nur das Ergebnis der Wahrnehmung kollektiver Privatautonomie sind. Aber selbst im Bereich der allgemeinverbindlichen TVe hat das BVerfG4 die zentrale Bedeutung des § 8 TVG mit der sich aus dieser Vorschrift ergebenden Möglichkeit der betroffenen Arbeitnehmer begründet, von den Tarifinhalten Kenntnis zu nehmen. Darüber hinaus wird die Bedeutung von Nachweisrichtlinie und Nachweisgesetz 118 nicht ausreichend berücksichtigt. Spätestens auf der Grundlage der hierdurch entstandenen Rechtslage muss der gesetzgeberische Wille verbindlich zugrunde gelegt werden, dass der Arbeitnehmer alle – auch kollektivrechtlich begründeten – Rechte und Pflichten, die er kennen oder doch zumindest aufgrund eigener Bemühungen kennen lernen kann, nicht allein von sich aus auch kennen oder doch zumindest ermitteln muss. Die Rechtsordnung weist dem Arbeitgeber hier eine fürsorgliche, die Rücksichtnamepflicht aus § 241 Abs. 2 BGB konkretisierende Mitwirkungsaufgabe zu. Den Schöpfern des TVG mag die Einführung einer derartigen Mitwirkungspflicht fern 119 gelegen haben. Für sie stand bei § 8 (damals § 7) TVG möglicherweise wirklich dessen 1 Kocher in Berg/Kocher/Schumann, § 8 TVG Rz. 4; Zeibig/Zachert in Kempen/Zachert, § 8 TVG Rz. 19.; Däubler/B. Reinecke, § 8 TVG Rz. 18 ff.; Henssler (HWK/Henssler, § 8 TVG Rz. 9) stützt sich für seine Annahme eines Schadensersatzanspruchs ausdrücklich auf das Inkrafttreten des NachwG und den damit deutlich gewordenen individualschützenden Charakter von Informationsnormen; ähnlich auch Bepler, ZTR 2001, 241 ff.; Bepler, FS Düwell, S. 307, 316 f.; im Ergebnis ebenso für § 77 Abs. 2 Satz 3 BetrVG Fitting, 25. Aufl. 2010, § 77 BetrVG Rz. 26; DKKW/Berg, § 77 BetrVG Rz. 33; Lorenz in Düwell (Hrsg.), HaKo-BetrVG, 3. Aufl. 2010, § 77 Rz. 14; de lege ferenda auch Dieterich/Hanau/Henssler/Oetker/Wank/Wiedemann, RdA 2005, 65 (77), sowie Hanau, SR [Soziales Recht] 2011, 3 (13). 2 Z.B.: Ein TV räumt einen Anspruch auf eine Abfindung für den Fall einer betriebsbedingten Kündigung ein, verlangt dafür aber, dass der Gekündigte nicht klageweise gegen die Kündigung vorgehe. Erhebt der Arbeitnehmer gleichwohl Kündigungsschutzklage, weil er die tarifliche Vorschrift nicht kannte, und war sie auch nicht im Betrieb ausgelegt, dürfte der Arbeitnehmer ein Wahlrecht haben, ob er die Kündigungsschutzklage weiterverfolgt oder die tarifliche Abfindung in Anspruch nimmt; vgl. hierzu BAG v. 3.5.2006 – 4 AZR 189/05, NZA 2006, 1420; BAG v. 6.12.2006 – 4 AZR 798/05, NZA 2007, 576. 3 Däubler/B. Reinecke, § 8 TVG Rz. 18 ff.; ebenso DKKW/Berg, § 77 BetrVG Rz. 33. 4 BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, DB 1977, 1249.
Bepler 199
Teil 3 Rz. 120
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
Publizierungsfunktion im Mittelpunkt. Aber: auch eine solche Funktion ist bei privatautonom gesetztem Recht ohne individualschützende Komplementärfunktion kaum denkbar und wird auch nicht gedacht. Und: spätestens mit dem Nachweisgesetz ist deutlich geworden, dass Normen, die zur Publizität arbeitsrechtlicher Rechte und Pflichten führen, nicht die individualschützende Funktion abgesprochen werden kann1. 120 Das Nachweisgesetz hat sich auch nicht dadurch, dass es sich mit der Festlegung der Pflicht begnügt hat, auf einschlägige TVe – und nicht auch auf ihre wesentlichen Inhalte – hinzuweisen, und für dort eintretende Änderungen keinen „Nachtragsnachweis“ verlangt hat, die restriktive Rechtsprechung zu § 8 TVG zu eigen gemacht und die Absicht verfolgt, mit der Erfüllung der Pflichten des Nachweisgesetzes einen im vorliegenden Zusammenhang ausreichenden Individualschutz zu installieren. Einem solchen Regelungswillen stehen die Motive des Nachweisgesetzes entgegen. Die Entbehrlichkeit einer detaillierten Auflistung des Regelungsgehaltes von TVen im vom Arbeitgeber zu erstellenden Nachweis wird ausdrücklich mit einem Hinweis auf die Auslegungspflicht nach § 8 TVG begründet2, der hier offenbar eine Art Lückenschließungsfunktion zugewiesen wird. Man greift zu kurz, wenn man meint, die Verkennung der Reichweite einer Norm, auf die in einer Begründung für eine andere gesetzliche Regelung Bezug genommen werde, ändere nicht die Reichweite dieser Norm; eine solche Änderung bleibe dem Gesetzgeber vorbehalten. Ausgangspunkt der hier vertretenen Gegenauffassung ist die Feststellung, dass die Auslegung eines sehr knapp gehaltenen, in einem bestimmten historischen Kontext geschaffenen Gesetzes aus der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht bei der Würdigung der damaligen Umstände und einem nicht im Gesetz selbst zum Ausdruck gekommenen Willen des historischen Gesetzgebers stehen bleiben darf. Kommt es im arbeitsrechtlichen Kontext zu grundlegenden gesetzgeberischen Neubewertungen, müssen diese im Rahmen der nach Wortlaut und Gesetzessystematik möglichen Gesetzesauslegung mit berücksichtigt werden, es sei denn, der für die neuen gesetzgeberischen Grundwertungen verantwortliche Gesetzgeber hätte etwas anderes zum Ausdruck gebracht, den Einwirkungsbereich seiner Grundentscheidung also abschließend und § 8 TVG ausschließend beschrieben. Dies ist nicht nur nicht geschehen. Der Gesetzgeber des Nachweisgesetzes hat vielmehr ausdrücklich § 8 TVG in das von ihm geschaffene System individualschützender Regeln zur Förderung der Regelungstransparenz im Arbeitsrecht eingebunden.
IV. Transparenz durch das Nachweisgesetz 121 Durch das bereits mehrfach angesprochene Nachweisgesetz hat der Gesetzgeber, von dem europäischen Richtliniengeber dazu angehalten (RL 91/533/EWG3), auch für das individuelle Arbeitsverhältnis einen kleinen Schritt getan, um Arbeitnehmern Klar1 Die Bedeutung des Inkrafttretens des Nachweisgesetzes für die vorzunehmende Grundwertung betonen mit unterschiedlichem Ergebnis auch HWK/Henssler, § 8 TVG Rz. 9; ErfK/Franzen, § 8 TVG Rz. 4; Löwisch/Rieble, § 8 TVG Rz. 34; und Wiedemann/Oetker, § 8 TVG Rz. 24 f. 2 BT-Drucks. 13/668, S. 11. 3 Richtline 91/533/EWG des Rates vom 14. Oktober 1991 über die Pflicht des Arbeitgebers zur Unterrichtung des Arbeitnehmers über die für seinen Arbeitsvertrag oder sein Arbeitsverhältnis geltenden Bedingungen (ABl. Nr. L 288 S. 32).
200 Bepler
Die Publizitt tariflicher Regelungswerke
Rz. 123 Teil 3
heit über das für sie geltende Tarifrecht zu verschaffen. § 2 Abs. 1 Satz 1 NachwG gibt dem Arbeitnehmer einen Anspruch gegen seinen Arbeitgeber, innerhalb eines Monats nach dem vereinbarten Arbeitsbeginn einen schriftlichen Nachweis über die wesentlichen Vertragsbedingungen ausgehändigt zu erhalten. Zu den hiernach erforderlichen Angaben gehört nach § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 NachwG unter anderem ein „in allgemeiner Form gehaltener Hinweis auf die Tarifverträge, …, die auf das Arbeitsverhältnis anzuwenden sind“. Bereits der Wortlaut dieser Bestimmung zeigt, dass die hiernach herbeizuführende Transparenz begrenzt ist. Es ist auf die anzuwendenden TVe, nicht deren Inhalt im Einzelnen hinzuweisen. Ihn muss sich der Arbeitnehmer anderweit erschließen, wofür er dringend eines durch die Erfüllung des § 8 TVG vermittelten Zugangs zum Tariftext bedarf. Hinsichtlich der Einzelheiten des § 2 Abs. 1 Nr. 10 NachwG ist vieles umstritten; das 122 hat nicht zur Effektivität der Norm beigetragen: So ist fraglich, wie konkret und wie umfassend das anzuwendende Tarifrecht nachzuweisen ist. Weiter ist umstritten, ob nur TVe nachzuweisen sind, die im Betrieb aufgrund beiderseitiger, gegebenenfalls aufgrund gesetzlicher Anordnung zu unterstellender, Tarifgebundenheit gelten (§ 4, § 5 TVG) oder alle, die aus welchem Rechtsgrund auch immer im Betrieb allgemein angewendet werden. Damit hängt die Frage zusammen, welche Rolle § 2 Abs. 3 NachwG spielt, wonach bestimmte, in den Nachweis mindestens aufzunehmende wesentliche Vertragsbedingungen „durch einen Hinweis auf die einzelnen Tarifverträge …, die für das Arbeitsverhältnis gelten“ ersetzt werden können: Handelt es sich um eine – beschränkte – Ausnahme vom Grundsatz, dass alle wesentlichen Arbeitsbedingungen im Nachweis selbst im Einzelnen anzugeben sind, auch diejenigen, deren Geltung sich aus einem angewendeten TV ergeben, oder sind mit dem Nachweis der anzuwendenden TVe auch dessen inhaltliche Angaben insgesamt pauschal nachgewiesen mit Ausnahme der in § 2 Abs. 3 NachwG genannten, bei denen gesondert angegeben werden muss, dass gerade sie sich nach bestimmten tarifvertraglichen Bestimmungen richten sollen? Hinsichtlich des Umfangs der nachzuweisenden TVe geht der nationale Gesetzgeber 123 davon aus, mit dem „in allgemeiner Form gehaltenen Hinweis“ deutlich gemacht zu haben, dass es einer detaillierten Auflistung aller auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren TVe nicht bedürfe1. Damit wird allerdings der Vorgabe von Art. 2 Abs. 2j i RL 91/533/EWG2 nicht genügt3. Eine Korrektur durch den Europäischen Gerichtshof droht. Deshalb wird zu Recht empfohlen, dem Arbeitnehmer eine Liste aller maßgebenden TVe auszuhändigen4, auch wenn nicht zu übersehen ist, dass – etwa in einigen Großunternehmen wie der Deutschen Post, der Deutschen Telekom oder Deutschen Lufthansa – eine namentliche Aufzählung aller anwendbaren TVe eher zur Verwirrung führen als die Transparenz des anzuwendenden Tarifrechts fördern dürfte. Die Annahme, es genüge für den Nachweis nach § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 NachwG, wenn sich im – dafür dem Grunde nach ausreichenden (§ 2 Abs. 4 NachwG) – Arbeits1 BT-Drucks. 13/668 S. 10 f. 2 „Angabe der Tarifverträge und/oder der kollektiven Vereinbarungen, in denen die Arbeitsbedingungen des Arbeitnehmers geregelt sind, …“ 3 Lörcher, AuR 1994, 450 (454); Müller-Glöge, RdA 2001, Sonderbeilage S. 46, 48; tendenziell auch ErfK/Preis, § 2 NachwG Rz. 23. 4 HWK/Kliemt, § 2 NachwG Rz. 40; Wank, RdA 1996, 21 (23), verneint eine dahin gehende Pflicht.
Bepler 201
Teil 3 Rz. 124
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
vertrag die Klausel finde „Im Übrigen finden auf das Arbeitsverhältnis die einschlägigen Tarifverträge Anwendung“1, dürfte allerdings schon im Widerspruch zum nationalen Recht auch ohne europarechtskonforme erweiternde Auslegung stehen. Eine derartige, vielfach als Tarifwechselklausel bewertete Angabe genügt dem Nachweisgesetz nur, wenn sie z.B. um den Halbsatz ergänzt wird „das sind derzeit die Tarifverträge für die Metallindustrie in Nordrhein-Westfalen“. Besteht in der Branche oder im einzelnen Unternehmen tarifrechtlich eine noch nicht nach Maßgabe des § 4a TVG nach außen hin in einem Beschlussverfahren (§ 99 ArbGG) aufgelöste Pluralitätssituation, müssen für eine ausreichende Kennzeichnung zusätzlich die TV-Parteien angegeben werden, es sei denn, bereits aus der Geltungsbereichsangabe wird deutlich, welche TVe gemeint und welche nicht gemeint sind (z.B. TVe für Ärzte oder Lokführer). 124 Eine Differenzierung der Nachweispflicht nach dem Geltungsgrund der TVe lehnt die Rechtsprechung zu Recht ab. Jeder TV, der im Betrieb aus welchem Rechtsgrund auch immer angewendet wird, sei es aufgrund TV-Rechts, sei es aufgrund einzelvertraglicher Vereinbarung, sei es aufgrund betrieblicher Übung, ist nachzuwiesen. Dass darin eine Privilegierung der Arbeitgeber und eine Einschränkung der Nachweispflicht liegen, wird allerdings deutlich, wenn man die weitere Annahme des BAG hinzunimmt, dass mit dem Nachweis eines anzuwendenden TVs auch alle sonst im TV aufgeführten wesentlichen Arbeitsbedingungen nachgewiesen seien mit Ausnahme der in § 2 Abs. 3 NachwG speziell aufgeführten. Dort bedürfe es eines bestimmten, auf die betreffende Vertragsbedingung bezogenen Hinweises auf die Maßgeblichkeit des konkret zu benennenden Tarifrechts2. Demgegenüber vertritt insbesondere Ulrich Preis, der eine Nachweispflicht für nicht auf tarifrechtlicher Grundlage geltende TVe ablehnt, die praktisch entgegengesetzte Auffassung3: Alle in § 2 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 9 NachwG genannten und die sonstigen wesentlichen Vertragsbedingungen, die nach § 2 Abs. 1 Satz 1 NachwG nachzuweisen seien, bedürften eines schriftlichen Nachweises, gleichgültig, ob sie aufgrund TVs oder kraft einzelvertraglicher Vereinbarung gelten. Der Nachweis nach § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 NachwG hat damit nur Bedeutung für nicht wesentliche Vertragsbedingungen. § 2 Abs. 3 NachwG ergebe nur bei einem solchen Normverständnis einen Sinn. Die Bestimmung eröffne als Ausnahmeregelung für die dort genannten Regelungsthemen die Möglichkeit, durch die – im Zweifel dynamische – Verweisung auf das insoweit einschlägige Tarifrecht den konkreten und damit notwendig statischen Nachweis zu ersetzen4. 125 Angesichts des Diskussionsstandes ist es auch hier nachvollziehbar, wenn empfohlen wird, in den Nachweis neben der Angabe der maßgebenden TVe auch die Angabe aller wesentlichen Vertragsbedingungen aufzunehmen, aus welchem Rechtsgrund auch immer sie im Arbeitsverhältnis gelten sollen5. 1 So ErfK/Preis, § 2 NachwG Rz. 23; dies ist allerdings konsequent, wenn man wie Preis (aaO Rz. 25 f.) durch den allgemeinen Hinweis auf die anwendbaren Tarifverträge noch nicht die Pficht als erfüllt ansieht, die dort enthaltenen wesentlichen Vertragsbedingungen nachzuweisen. 2 BAG v. 23.1.2002 – 4 AZR 56/01, NZA 2002, 800; BAG v. 17.4.2002 – 5 AZR 89/01, NZA 2002, 1096; BAG v. 29.5.2002 – 5 AZR 105/01, NZA 2002, 1360; ebenso AnwK-ArbR/Nuria Schaub, § 2 NachwG Rz. 40; HWK/Kliemt, § 2 NachwG Rz. 40 ff. 3 ErfK/Preis, § 2 NachwG Rz. 22 ff. 4 Dagegen unter Verteidigung der Rechtsprechung HWK/Kliemt, § 2 NachwG Rz. 41 ff. 5 AnwK-ArbR/Nuria Schaub, § 2 NachwG Rz. 42.
202 Bepler
Inhaltsermittlung von Tarifvertrgen
Rz. 128 Teil 3
Die nach alledem nur eingeschränkt durch das Nachweisgesetz geförderte Trans- 126 parenz des Tarifrechts für die ihm unterworfenen Arbeitnehmer wird weiter durch § 3 Satz 2 NachwG abgeschwächt, wonach alle Änderungen wesentlicher Vertragsbedingungen, die auf TV beruhen, nicht in einem „Nachtragsnachweis“ ergänzend nachgewiesen werden müssen1. Andererseits können aber aufgrund der Rechtsprechung des BAG zumindest soweit, wie die Nachweispflichten reichen, diese auch praktische Wirksamkeit erlangen: Wird die Geltung eines TVs nicht nachgewiesen, liegt hierin eine Vertragsverletzung, die nach § 280 BGB zu einem Schadensersatzanspruch führt. Ist der Arbeitnehmer unter Verstoß gegen das Nachweisgesetz nicht auf die Anwendbarkeit eines TVs hingewiesen worden, in dem sich eine Ausschlussfristregelung befindet, und hat er die dortige Frist zur Geltendmachung seines Anspruchs versäumt, kann er einen Anspruch haben, so gestellt zu werden, als wäre der Anspruch nicht erloschen. Es wird zu seinen Gunsten – widerleglich – vermutet, dass er die tarifliche Ausschlussfrist gewahrt hätte, wenn er auf die Geltung des betreffenden TVs hingewiesen worden wäre2.
V. Keine Transparenz durch § 305 Abs. 2 BGB Insbesondere für diejenigen, bei denen TVe nur kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme 127 gelten und der Arbeitgeber nicht tarifgebunden ist, sodass zu ihren Gunsten nicht einmal § 8 TVG gilt, gibt auch die nach ihrem Sinn und Zweck an sich passende und den dominierenden Vertragsteil treffende Offenlegungsvorschrift des § 305 Abs. 2 BGB keine Hilfe, das anwendbare Tarifrecht im Betrieb zur Kenntnis nehmen zu können. Der Gesetzgeber hat die Anwendbarkeit dieser für jeden Verbraucher geltenden Bestimmung für den Bereich des Arbeitsrechts aus welchen Gründen auch immer insgesamt ausgeschlossen (§ 310 Abs. 4 Satz 2 Halbs. 2)3.
E. Inhaltsermittlung von Tarifverträgen TVe sind ungewöhnliche Rechtsquellen: Sie entstehen als Vertrag, durch den wech- 128 selseitigen Zugang übereinstimmender Willenserklärungen der Verhandlungspartner; und sie sind, zumindest was den größten Teil des Geregelten angeht, in den auf Dauer angelegten Arbeitsverhältnissen von Dritten als für den täglichen Austausch von Leistung und Gegenleistung maßgebende Normen anzuwenden, die im gesetzlichen Regelfall des § 4 Abs. 1 TVG zwar mit den TV-Parteien mitgliedschaftlich verbunden sind, am Tarifabschluss selbst aber nicht beteiligt waren. Diese Besonderheit legt von vornherein die Frage nahe, nach welchen Rechtsregeln sich die Ermittlung des TV-Inhalts richtet. Sind die Regeln der Vertragsauslegung mit ihren besonderen auf das Wissen und Verständnis der vertragschließenden Personen abstellenden Bestimmun1 Eine Bestimmung, die gegen die umfassende konkrete Nachweispflicht von durch TV geregelten wesentlichen Vertragsbedingungen spricht, weil ein derartiger Nachweis wegen der hier nicht erforderlichen Berichtigungspflicht mit Zeitablauf eher täuscht als klärt. 2 BAG v. 17.4.2002 – 5 AZR 89/01, NZA 2002, 1096; es erscheint auch angesichts dieser Rechtsprechung schwer begründbar, an einen Verstoß gegen die mit dem Nachweisgesetz inhaltlich verbundene Auslegungspflicht nach § 8 TVG keine Rechtsfolgen im Arbeitsverhältnis zu knüpfen. 3 Kritisch hierzu Bepler, FS Düwell, S. 307 (321).
Bepler 203
Inhaltsermittlung von Tarifvertrgen
Rz. 128 Teil 3
Die nach alledem nur eingeschränkt durch das Nachweisgesetz geförderte Trans- 126 parenz des Tarifrechts für die ihm unterworfenen Arbeitnehmer wird weiter durch § 3 Satz 2 NachwG abgeschwächt, wonach alle Änderungen wesentlicher Vertragsbedingungen, die auf TV beruhen, nicht in einem „Nachtragsnachweis“ ergänzend nachgewiesen werden müssen1. Andererseits können aber aufgrund der Rechtsprechung des BAG zumindest soweit, wie die Nachweispflichten reichen, diese auch praktische Wirksamkeit erlangen: Wird die Geltung eines TVs nicht nachgewiesen, liegt hierin eine Vertragsverletzung, die nach § 280 BGB zu einem Schadensersatzanspruch führt. Ist der Arbeitnehmer unter Verstoß gegen das Nachweisgesetz nicht auf die Anwendbarkeit eines TVs hingewiesen worden, in dem sich eine Ausschlussfristregelung befindet, und hat er die dortige Frist zur Geltendmachung seines Anspruchs versäumt, kann er einen Anspruch haben, so gestellt zu werden, als wäre der Anspruch nicht erloschen. Es wird zu seinen Gunsten – widerleglich – vermutet, dass er die tarifliche Ausschlussfrist gewahrt hätte, wenn er auf die Geltung des betreffenden TVs hingewiesen worden wäre2.
V. Keine Transparenz durch § 305 Abs. 2 BGB Insbesondere für diejenigen, bei denen TVe nur kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme 127 gelten und der Arbeitgeber nicht tarifgebunden ist, sodass zu ihren Gunsten nicht einmal § 8 TVG gilt, gibt auch die nach ihrem Sinn und Zweck an sich passende und den dominierenden Vertragsteil treffende Offenlegungsvorschrift des § 305 Abs. 2 BGB keine Hilfe, das anwendbare Tarifrecht im Betrieb zur Kenntnis nehmen zu können. Der Gesetzgeber hat die Anwendbarkeit dieser für jeden Verbraucher geltenden Bestimmung für den Bereich des Arbeitsrechts aus welchen Gründen auch immer insgesamt ausgeschlossen (§ 310 Abs. 4 Satz 2 Halbs. 2)3.
E. Inhaltsermittlung von Tarifverträgen TVe sind ungewöhnliche Rechtsquellen: Sie entstehen als Vertrag, durch den wech- 128 selseitigen Zugang übereinstimmender Willenserklärungen der Verhandlungspartner; und sie sind, zumindest was den größten Teil des Geregelten angeht, in den auf Dauer angelegten Arbeitsverhältnissen von Dritten als für den täglichen Austausch von Leistung und Gegenleistung maßgebende Normen anzuwenden, die im gesetzlichen Regelfall des § 4 Abs. 1 TVG zwar mit den TV-Parteien mitgliedschaftlich verbunden sind, am Tarifabschluss selbst aber nicht beteiligt waren. Diese Besonderheit legt von vornherein die Frage nahe, nach welchen Rechtsregeln sich die Ermittlung des TV-Inhalts richtet. Sind die Regeln der Vertragsauslegung mit ihren besonderen auf das Wissen und Verständnis der vertragschließenden Personen abstellenden Bestimmun1 Eine Bestimmung, die gegen die umfassende konkrete Nachweispflicht von durch TV geregelten wesentlichen Vertragsbedingungen spricht, weil ein derartiger Nachweis wegen der hier nicht erforderlichen Berichtigungspflicht mit Zeitablauf eher täuscht als klärt. 2 BAG v. 17.4.2002 – 5 AZR 89/01, NZA 2002, 1096; es erscheint auch angesichts dieser Rechtsprechung schwer begründbar, an einen Verstoß gegen die mit dem Nachweisgesetz inhaltlich verbundene Auslegungspflicht nach § 8 TVG keine Rechtsfolgen im Arbeitsverhältnis zu knüpfen. 3 Kritisch hierzu Bepler, FS Düwell, S. 307 (321).
Bepler 203
Teil 3 Rz. 129
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
gen oder die der objektiven Gesetzesauslegung maßgebend? Gilt in jedem Falle – im Grundsatz: nur – das von den Regelungsurhebern wirklich und übereinstimmend Gewollte, auch wenn es nicht, ganz unzureichend oder anders im schriftlich Niedergelegten zum Ausdruck gekommen ist, oder kommt es auf die objektivierte Sicht der den tarifvertraglichen Regelungen Unterworfenen an?
I. Die Auslegung des normativen Teils 1. Grundsätze 129 Als Methode zur Bestimmung des Inhalts der Tarifregelungen, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen ordnen, also der Tarifnormen, hat sich das BAG schon früh und zu Recht für die grundsätzliche Maßgeblichkeit der Regeln der objektiven Gesetzesauslegung entschieden und einen „Urteilsbaustein“ entwickelt und im Laufe der vergangenen Jahre immer wieder ergänzt, der zunächst mehr oder weniger wörtlich in vielen älteren Urteilen wiederholt wurde, bis man sich heute häufig nur noch mit Verweisungen auf eine solche Passage aus einem oder mehreren älteren Urteilen begnügt: 130 „Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages folgt nach ständiger Rechtsprechung des BAG den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Wortlaut. Zu erforschen ist der maßgebende Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Dabei sind der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können weitere Kriterien wie Tarifgeschichte, praktische Tarifübung und Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge berücksichtigt werden. Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt.“1 131 Teile der Literatur stehen dem Ansatz der Rechtsprechung, die den maßgebenden Willen der TV-Parteien jedenfalls im Grundsatz aus objektiven Gegebenheiten erschließt, kritisch gegenüber2. Es wird gefordert, stärker auf den nach Art. 9 Abs. 3 GG als maßgeblich anzusehenden tatsächlichen Willen der TV-Parteien abzustellen. Dabei wird insbesondere auf das neuere Verständnis vom TV als Ergebnis kollektiv ausgeübter Privatautonomie verwiesen und der Rechtsprechung vorgehalten, es entscheide auf der Grundlage ihres methodischen Ansatzes entgegen der grundgesetzlichen Vorgabe über den maßgebenden Inhalt des TVs nicht der Wille der TV-Parteien, sondern die Interpre-
1 Etwa BAG v. 21.7.1993 – 4 AZR 468/92, NZA 1994, 181; BAG v. 7.7.2004 – 4 AZR 433/03, AP § 1 TVe: Verkehrsgewerbe Nr. 10; BAG v. 19.9.2007 – 4 AZR 670/06, NZA 2008, 950, jeweils m.w.N.; zuletzt BAG v. 14.7.2015 – 3 AZR 903/13, NZA 2015, 1152. 2 Däubler/Däubler, TVG Einleitung Rz. 499 ff.; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 77 ff.; Wiedemann/ Wank, § 1 TVG Rz. 991 ff.; Brecht-Heitzmann/Zachert in Kempen/Zachert, TVG, Grundlagen, Rz. 507; dagegen im Grundsatz zustimmend Krause in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 4 Rz. 169; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1459 ff.; alle m.z.w.N.
204 Bepler
Inhaltsermittlung von Tarifvertrgen
Rz. 135 Teil 3
tation der Gerichte. Darüber hinaus wird bisweilen geltend gemacht, die Umstände bei der Entstehung des TVs führten gelegentlich zu begrifflichen Unklarheiten und Formelkompromissen. Diese müssten durch eine Auslegungsmethode überwunden werden, die weniger an den bloßen Wortlaut als an den tatsächlichen Willen der TV-Parteien anknüpfe. Die Einwände überzeugen weder im Grundsatz noch im Rechtstatsächlichen: Dass 132 TVe das Ergebnis kollektiv ausgeübter Privatautonomie sind, erklärt ihre Entstehung und begründet ihre Legitimität. Für die richtige Anwendung der zustande gekommenen TVe gibt diese Herleitung wenig her. In der Sache geht es darum, dass die TVParteien die grundgesetzlich geschützte Freiheit haben, autonom und mit Hilfe ihrer überlegenen Sachkunde das Arbeitsleben in der ihnen angemessen erscheinenden Weise zu regeln. Auf ihren Regelungswillen kommt es deshalb im Grundsatz in gleicher Weise an, wie hinsichtlich der staatlichen Gesetze auf den des demokratisch legitimierten Gesetzgebers. TVe müssen indes ihrer Regelungsaufgabe täglich in einer kaum überschaubaren Viel- 133 zahl von Fällen, nicht selten im Vorhinein Verhalten steuernd, erfüllen. Sie sollen als schriftlich niedergelegter Ausgleich der strukturell widerstreitenden Interessen zugleich die Entstehung von Konflikten im Arbeitsleben für die Dauer ihrer Geltung verhindern. Zur Erfüllung dieser Aufgaben kann es vom Grundsatz her nur darum gehen, dass die den Rechtsnormen Unterworfenen aus dem Produkt kollektiv ausgeübter Privatautonomie, dem TV selbst, erkennen können und müssen, was sie tun und was sie unterlassen sollen, was ihnen zusteht und worauf sie keinen Rechtsanspruch haben. Der Hinweis auf die Möglichkeit, bei ihren Verbänden um Auskunft nachzusuchen1, greift zu spät, weil er typischerweise erst nach Entstehung eines Konflikts Hilfe verspricht. Er führt letztlich auch nicht zu seinem Ziel, den Tarifinhalt, also den übereinstimmenden Willen der TV-Parteien, zu erfahren, weil regelmäßig nur der eigene Verband um Information gebeten werden und auch nur zur Auskunft bereit sein wird2. Die Verständnismöglichkeit der Normunterworfenen müssen auch die Gerichte zu 134 Grunde legen. Es ist ausgeschlossen und wäre für die Akzeptanz von Tarifnormen in höchstem Maße gefährlich, würden die Gerichte für Arbeitssachen bei der Inhaltsermittlung von TVen auf subjektive Erkenntnisquellen zurückgreifen, die dem Tarifunterworfenen im Normalfall verschlossen sind oder auf die er zumindest typischerweise nicht zurückgreift. Wenn sich der Normunterworfene nicht auf das verlassen kann, „was da steht“, weil er wenig später durch ein Gericht erfährt, dass die TV-Parteien es ganz anders gemeint haben, wird er im täglichen Arbeitsleben jede den eigenen Interessen zuwiderlaufende Tarifnormanwendung verweigern, solange er hierzu nicht durch ein Gericht gezwungen wird. Dem kann nicht entgegengehalten werden, auch die Ergebnisse der vom Grundansatz 135 her objektiv anknüpfenden Auslegung durch die Rechtsprechung seien für den nor1 So Zöllner, RdA 1964, 443 (449). 2 Lässt man hier einmal außer Betracht, dass dieser Weg in einem Arbeitsverhältnis von vornherein ohnehin nicht eröffnet ist, in dem beide Arbeitsvertragsparteien nicht tarifgebunden sind, sondern sich – anerkannt und gewünscht durch den Gesetzgeber, der die TVe als umfassende Leitlinie des Arbeitslebens will – vertraglich den einschlägigen TVen unterworfen haben.
Bepler 205
Teil 3 Rz. 136
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
malen Tarifunterworfenen vielfach nicht vorhersehbar1. Dies mag darauf hindeuten, dass gelegentlich und im Einzelfall zu konstruiert und lebensfremd „objektive“ Gesichtspunkte gesucht und mit ihrer Hilfe nicht plausible Auslegungsergebnisse ermittelt worden sind. Man wählt jedoch einen Weg in die falsche Richtung, wenn man hierauf mit der Forderung reagiert, stärker auf einen schriftlich nicht zum Ausdruck gekommenen Willen der TV-Parteien zu reagieren. 136 Soweit auf Unzulänglichkeiten der TV-Verhandlungen verwiesen wird, die gelegentlich zu unzureichenden Verhandlungsergebnissen führen sollen, die den wirklichen Willen der TV-Parteien nicht präzise zum Ausdruck bringen, spricht dies nicht gegen, sondern für eine objektiv anknüpfende Auslegungsmethode in der abgeschwächten Form der als „Andeutungstheorie“ bezeichneten Auslegungsmethode der Gerichte für Arbeitssachen. Die gerichtliche Erfahrung nicht nur mit den vielfach erfolglos eingeholten Tarifauskünften zeigt, dass unvollkommene Verhandlungsergebnisse weniger durch schwierige Verhandlungsumstände als vielmehr dadurch verursacht werden, dass sich die an den Verhandlungen Beteiligten nicht hinreichend und schon gar nicht übereinstimmend klargemacht haben, was sie schriftlich niedergelegt geregelt haben. Es ist auch nicht selten, dass sie etwas – offen gelegt oder auch nicht – so gefasst haben, dass aus ihrer jeweiligen Sicht die Chance bestand, dass die Rechtsprechung schon das für sie und ihre Mitglieder Günstige „daraus machen wird“. 137 Die Forderung nach einer Auslegungsmethode, die noch stärker als nach der Formel des BAG geboten unabhängig vom schriftlich Niedergelegten auf den tatsächlichen Willen der TV-Parteien abstellt, übersieht im Grundsatz, dass TVe Ergebnis eines kämpferischen Ringens um einen Ausgleich strukturell gegenläufiger Interessen sind. Unter diesen Bedingungen ist das schriftlich Niedergelegte jedenfalls in den seltenen Fällen, in denen sich dessen Inhalt nicht auf den ersten Blick erschließt, oft ein Formelkompromiss oder auch ein um eines baldigen Abschlusses der Verhandlungen willen gefundener erster Regelungsversuch. 138 Ausgehend von dem dargestellten Regelungsziel und der grundgesetzlich vorgegebenen Aufgabe, den tatsächlichen Willen der TV-Parteien entscheiden zu lassen und nicht ein Angemessenheitsverständnis der Gerichte für Arbeitssachen, muss die Regelung der Arbeitsbedingungen durch die TV-Parteien letztlich in einem Dialog zwischen ihnen und den Tarifanwendern, auch den Gerichten, optimiert werden. Die Rechtsanwender müssen den aus dem Willen der TV-Parteien erwachsenen Inhalt der Tarifnormen so, wie sie ihn nach der eingangs wiedergegebenen anwendungsorientierten Methode der schriftlichen Niederlegung entnehmen können, ermitteln, anwenden und bekannt machen. Wird damit der übereinstimmende tatsächliche Regelungswille der TV-Parteien verfehlt, haben diese jederzeit die rechtliche Möglichkeit, durch eine dies klärende Festlegung in der Form des § 1 Abs. 2 TVG das tatsächlich Gewollte in das Arbeitsleben mit Wirkung für die Zukunft zwingend und für die Gerichte verbindlich einzuführen. Dass dies relativ selten geschieht, zeigt, dass die Gerichte das von den TV-Parteien übereinstimmend Gewollte in Anwendung der „Andeutungstheorie“ in aller Regel nicht verfehlen. Sicherlich werden gelegentlich Auslegungsergebnisse gefunden, an die die TV-Parteien nicht gedacht haben. Dies liegt aber in der Natur jeder
1 Däubler/Däubler, TVG, Einleitung Rz. 500.
206 Bepler
Inhaltsermittlung von Tarifvertrgen
Rz. 142 Teil 3
Normsetzung, die nicht alle letztlich von der Norm zu beherrschenden Fallkonstellationen vorhersehen kann. Der Einwand gegen eine Optimierung von TVen durch Dialog, derjenige, der durch ei- 139 ne gerichtliche Interpretation zu seiner eigenen Überraschung „beschenkt“ worden sei, werde das so Erreichte nicht mehr aufgeben, mag in der Theorie etwas für sich haben. In der Praxis wird ein solches Festhalten zwischen langjährig und immer wieder sich in Verhandlungen treffenden TV-Parteien aber nur dort stattfinden, wo ursprünglich ein übereinstimmender Regelungswille tatsächlich nicht gefunden worden war. In einem solchen Fall führt aber auch eine andere, stärker subjektiv orientierte Auslegungsmethode nicht zu mehr effektiver Tarifautonomie. 2. Ergänzende und konkretisierende Auslegungsregeln Praktisch alle der Rechtsprechungsformel gegenüber kritischen Literaturstimmen ge- 140 hen davon aus, dass es nur selten allein aufgrund der Methodenwahl zu unterschiedlichen Auslegungsergebnissen kommt. Insbesondere will soweit ersichtlich niemand vor dem Hintergrund der Regelungsaufgabe der TV-Parteien im TV-Recht die Falsademonstratio-Regel oder die Bestimmungen über den Dissens angewendet wissen. Angesichts dessen werden im Folgenden nur ergänzend zu der für die tägliche Hand- 141 habung grundsätzlich ausreichenden Formel des BAG für die Auslegung von Tarifnormen einige weitere Auslegungsregeln aus der jüngeren Rechtsprechung und zusätzlich auftretende Fragen behandelt (zu den prozessualen Besonderheiten bei der Durchsetzung tariflicher Ansprüche und zu dem besonderen Verfahren nach § 9 TVG bei einem Streit der TV-Parteien über Bestand und Inhalt von TVen siehe unten Teil 16). Dabei ist zunächst festzuhalten, dass gerade in jüngerer Zeit eine stärker an der Regelungsaufgabe der TV-Parteien ausgerichtete Auslegung, die die Tarifunterworfenen in den Blick nimmt, Platz zu greifen scheint. In diese Richtung deutet jedenfalls die Aussage, bei der Auslegung eines TVs sei davon auszugehen, dass die TVParteien es den Tarifunterworfenen ermöglichen wollten, grundsätzlich auch ohne Rückfrage bei ihren Koalitionen den Inhalt der ihre Arbeitsverhältnisse bestimmenden Tarifnormen dem TV entnehmen zu können1. In dieselbe Richtung geht auch eine Auslegungsregel, wonach dann, wenn bei der Auslegung einer tarifvertraglichen Regelung alle nach den anerkannten Auslegungsregeln heranzuziehenden Gesichtspunkte zu keinem eindeutigen Ergebnis führen, letztlich der Auslegung der Vorzug zu geben ist, die bei einem unbefangenen Durchlesen der Regelung als näher liegend erscheint und folglich von den Normadressaten typischerweise als maßgeblich empfunden wird2. Mit dieser anwendungsorientierten Auslegung korrespondiert es, wenn die Rechtsprechung betont, dass auf die Entstehungsgeschichte des TVs erst zurückgegriffen werden kann, wenn nach einer Tarifauslegung nach Wortlaut, Wortsinn und tariflichem Gesamtzusammenhang Zweifel am wirklichen im TV zumindest andeutungsweise zum Ausdruck gekommenen Willen der TV-Parteien bleiben. Der Entstehungsgeschichte ist dann mit dem Ziel, die vorhandenen Zweifel auszuräumen, nachzugehen, wenn ei-
1 BAG v. 19.9.2007 – 4 AZR 670/06, NZA 2008, 950. 2 BAG v. 22.4.2010 – 6 AZR 962/08, NZA 2011, 1293.
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Teil 3 Rz. 143
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
ne Partei insoweit Tatsachen vorträgt, die hierzu geeignet sind. Im Falle eines Bestreitens der Gegenseite ist hierüber Beweis zu erheben1. 143 Zu diesem Verständnis von der gerichtlichen Aufgabenstellung bei der Ermittlung des Regelungsinhalts von Tarifnormen passt die zuletzt von Malte Creutzfeldt2 zutreffend geäußerte Kritik an der Praxis mancher Instanzgerichte, Auskünfte der TVParteien über den von diesen angezielten Tarifinhalt einzuholen. Ein solches gerichtliches Verhalten ist nur dann unbedenklich zulässig, wenn es darum geht, ob TVe (noch) gelten und welchen Wortlaut das gemeinsam Vereinbarte hat. Sehr zweifelhaft ist demgegenüber, ob auf diesem Weg Hilfe bei der Rechtsanwendung, der Auslegung tarifvertraglicher Normen, gesucht werden darf. Dies ist allenfalls dann nach entsprechendem Parteivortrag statthaft, wenn auch unter Heranziehung aller dargelegten Auslegungsregeln Zweifel bleiben, welchem von mehreren hiernach an sich möglichen Auslegungsergebnissen der Vorrang gebührt. 144 In dieselbe Richtung geht auch die Regel, dass Rechtsbegriffe, die von den TV-Parteien verwendet werden, im Zweifel im allgemein anerkannten fachlichen Sinn zu verstehen sind3. Dies ändert natürlich nichts daran, dass hier wie überhaupt bei der Wortlautauslegung ein vom herkömmlichen oder allgemein anerkannten Begriffsinhalt abweichendes Verständnis der TV-Parteien maßgebend ist, wenn es im TV im Übrigen oder in einer ergänzenden Festlegung (Protokollnotiz; nachträglicher verdeutlichender gemeinsamer Hinweis der TV-Parteien o.ä.) in der Form des § 1 Abs. 2 TVG hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht worden ist4. 145 Mit der grundsätzlichen Maßgeblichkeit des Willens der TV-Parteien ist es auch zu begründen, wenn die Rechtsprechung davon ausgeht, eine tarifvertragliche Verweisung auf einen anderen TV, an dessen Zustandekommen (auch) andere TV-Parteien beteiligt waren und sind, sei im Zweifel eng auszulegen5. Denn mit dieser Regelungstechnik wird die eigene autonome Rechtsetzung teilweise zurückgenommen, was im Zweifel nicht gewollt ist. 146 Fraglich ist, inwieweit die Praxis der Tarifanwendung durch die Mitglieder der TVParteien Auslegungshilfe dafür sein kann, wie Tarifnormen von den TV-Parteien verstanden worden sind6; zumindest wird man nur eine von den TV-Parteien selbst gebilligte Tarifpraxis der Normanwender berücksichtigen können und dies auch nur dann, wenn es auf sie auch im Tarifwortlaut einen ausreichenden Hinweis gibt7. Bei Zweifeln über den Inhalt von branchenbezogenen Fachbegriffen wird aber auch die 1 BAG v. 24.2.2010 – 10 AZR 1035/08, ZTR 2010, 361. 2 Creutzfeldt, FS Düwell, 2011, S. 286 (293 ff.). 3 BAG v. 14.12.2004 – 9 AZR 33/04, NZA 2005, 1319; BAG v. 13.11.2011 – 8 AZR 514/10, DB 2012, 1104. 4 BAG v. 17.9.2003 – 4 AZR 540/02, DB 2004, 769. 5 BAG v. 16.6.2010 – 4 AZR 944/08, NZA 2011, 480. 6 Vgl. BAG v. 7.6.2006 – 4 AZR 272/05, ZTR 2007, 187; BAG v. 27.8.2008 – 4 AZR 485/07, AP TVG § 1 Auslegung Nr. 212, wo jeweils eine derartige Hilfsfunktion nur für die Auslegung schuldrechtlicher Vereinbarungen der TV-Parteien anerkannt, im Übrigen aber unentschieden gelassen wird. 7 BAG v. 25.11.1987 – 4 AZR 403/87, ZTR 1998, 142; für eine weitergehende Berücksichtigung im Rahmen der Entstehungsgeschichte Brecht-Heitzmann/Zachert in Kempen/Zachert, TVG, Grundlagen, Rz. 522 ff.; auch Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1490 f.
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Inhaltsermittlung von Tarifvertrgen
Rz. 148 Teil 3
Tarifpraxis der Normunterworfenen für sich allein Hinweise auf das zutreffende Begriffsverständnis geben können. In der Folgezeit nicht mehr aufgegriffen wurden zwei Entscheidungen des 3. Senats 147 des BAG, wonach bei einem HausTV aus der Tarifpraxis des Arbeitgebers, die ihn belastete und die Arbeitnehmer begünstigte, ein entsprechender Regelungswille entnommen wurde, der auch dann zu berücksichtigen sei, wenn er im TV nur unzureichend zum Ausdruck gekommen ist1. Es ist zwar denkbar, in einem solchen, sich selbst belastenden Verhalten des Arbeitgebers eine Art authentische Interpretation des Inhalts des unter seiner Mitwirkung zustande gekommenen TVs zu sehen. Es ist aber fraglich, ob daraus auf den für die Normwirkung allein maßgeblichen übereinstimmenden Willen der TV-Parteien geschlossen werden kann. In solchen Fällen spricht mehr dafür zu prüfen, ob eine normüberschreitende betriebliche Übung vorliegt, statt grundsätzlich von den Regeln der Tarifauslegung abzuweichen. Nicht in allen Einzelheiten abschließend geklärt ist das Regel/Ausnahme-Verhältnis, 148 wenn es darum geht, wie die tarifvertragliche Verweisung auf ein Gesetz oder eine mehr oder weniger wörtliche Gesetzeswiederholung auszulegen ist. Wird auf Gesetzesrecht verwiesen, das zwar nicht auf das geregelte Arbeitsverhältnis anwendbar ist, aber mit ihm in einem engen sachlichen Zusammenhang steht, wird dieses Gesetzesrecht, angepasst an das geregelte Rechtsverhältnis, Inhalt des TVs2, wobei dieses im Zweifel dynamisch, in seiner jeweiligen Fassung, als Tarifrecht anzuwenden ist3. Wird auf Gesetzesrecht verwiesen, das ohnehin auf das geregelte Rechtsverhältnis anzuwenden ist, ohne es inhaltlich zu wiederholen oder zu ergänzen, wird in aller Regel nur eine klarstellende Information der Tarifunterworfenen, kein eigenes zwingendes Tarifrecht gewollt sein. Umgekehrt bringen TV-Parteien, die einschlägiges Gesetzesrecht im TV inhaltlich wiederholen und es in Einzelheiten modifizieren oder ergänzen, zum Ausdruck, dass sie das übernommene Gesetzesrecht mit ihren Ergänzungen und Veränderungen als eigenes Recht wollen. Änderungen der Gesetzeslage schlagen in solchen Fällen nicht auf das anwendbare Tarifrecht durch. Umstritten ist, wie im Normalfall eine wörtliche oder zumindest inhaltliche Wiederholung eines von vornherein einschlägigen Gesetzestextes in einem TV ohne weitere Bestimmungen zu verstehen ist. Die Rechtsprechung geht davon aus, regelmäßig handele es nur um einen der Erläuterung dienenden, deklaratorischen Teil des TVs. Die TV-Parteien könnten zwar insoweit auch eine eigenständige, „konstitutive“, Regelung treffen. Dies setze jedoch voraus, dass ein dahin gehender Regelungswille im TV einen ausreichenden Niederschlag gefunden hat4. Demgegenüber wird aber mit guten Gründen vertreten, dass eine Aufnahme von Gesetzestext in einen TV an sich überflüssig ist, wenn die TV-Parteien nicht deren Geltung als Tarifrecht wollen, was sie deshalb zum Ausdruck bringen müssten, ansonsten sei eine Gesetzeswiederholung im TV konstitu-
1 BAG v. 22.1.2002 – 3 AZR 554/00, NZA 2002, 1224; BAG v. 30.7.2002 – 3 AZR 471/01, AP TVG § 1 Auslegung Nr. 180. 2 BAG v. 18.3.2010 – 6 AZR 434/07, NZA-RR 2010, 664. 3 A.A. Däubler/Däubler, TVG Einleitung Rz. 534, der eine statische Inbezugnahme für typischerweise gewollt hält. 4 BAG v. 16.6.1998 – 5 AZR 688/97, NZA 1998, 1062; BAG v. 12.4.2000 – 5 AZR 228/98, NZA 2001, 1028; BAG v. 22.4.2010 – 10 AZR 308/09, AP TVG § 1 TVe: Metallindustrie Nr. 212; zustimmend Thüsing/Braun/Wißmann, 4. Kap. Rz. 160; Kamanabrou, RdA 1997, 22 (27).
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Teil 3 Rz. 149
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
tiv1. Die praktische Bedeutung dieses Meinungsstreits zeigt sich besonders in zwei Punkten: Zum einen wird die Auslegung eines Gesetzes als Teil eines TV regelmäßig ergeben, dass es sich hier auch dann um zwingendes Tarifrecht handeln soll, wenn das übernommene Gesetzesrecht zur Disposition der Arbeitsvertragsparteien steht. Zum anderen führt eine Änderung der betreffenden gesetzlichen Regelung zum Nachteil der Arbeitnehmer2 nur dann auch zur Veränderung der Rechtslage für die tarifunterworfenen Arbeitnehmer, wenn es nur deklaratorisch in den TV-Text aufgenommen worden ist. 149 Hinsichtlich des Verhältnisses von Tarifrecht zu höherrangigem zwingendem nationalem Recht geht die Rechtsprechung schließlich grundsätzlich davon aus, dass die TVParteien wirksames, und damit notwendig gesetzeskonformes Recht wollen. Sie legt tarifliche Regelungen im Zweifel in diese Richtung aus, wenn dies nach den grundlegenden Auslegungsregeln möglich ist3. Dies gilt in aller Regel auch für das Verhältnis von Tarifrecht zu Richterrecht. Es steht den TV-Parteien aber frei, durch eine Normsetzung, die mit richterlichen Rechtssätzen zweifelsfrei im Widerspruch steht, die Voraussetzung für eine Überprüfung überkommenen, aber für unrichtig gehaltenen Richterrechts zu schaffen4. Nichts grundlegend anderes gilt auch für das Verhältnis von Tarifrecht zu einfach dispositivem oder tarifdispositivem Gesetzesrecht. Es gibt keinen Anlass davon auszugehen, im Zweifel wollten TV-Parteien gesetzlich eingeräumte Dispositionsmöglichkeiten nutzen. Ein darauf gerichteter Wille muss im TV mit hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck kommen5. Eine Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung eines TVs gibt es demgegenüber grundsätzlich nicht. Die TV-Parteien sind nicht Adressat der sich an die hoheitlichen Normgeber wendenden Richtlinien. Anderes gilt nur dort, wo Richtlinien Arbeitnehmer unmittelbar berechtigen, also im Verhältnis zu einem öffentlichen Arbeitgeber. Unionskonforme Auslegung ist deshalb geboten, wenn es um die Auslegung von TVen für den öffentlichen Dienst geht. Ergäbe sich bei einer anderen Auslegung ein Verstoß gegen unmittelbar geltendes Unionsrecht, ist in aller Regel um der Geltungserhaltung des Tarifrechts willen wenn möglich ein unionsrechtskonformes Auslegungsergebnis zu wählen6. 150 Die nach den dargestellten Grundsätzen ermittelten Auslegungsergebnisse sind im Einzelfall mehr oder auch weniger „arbeitnehmerfreundlich“. Für einen Grundsatz, wonach bei verbleibenden Zweifeln am gewollten Tarifinhalt aufgrund des arbeitsrechtlichen Schutzprinzips das arbeitnehmerfreundlichere Auslegungsergebnis zu wählen sei7, gibt es indes keine rechtliche Grundlage. Das arbeitsrechtliche Schutzprinzip gilt unmittelbar im Individualarbeitsrecht. Es knüpft an die strukturelle Un1 Däubler/Däubler, TVG, Einleitung Rz. 534; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1504; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 202, Rz. 17; Preis, FS Schaub, 1998, S. 592; Rieble, RdA 1997, 134; Wedde, AuR 1996, 421. 2 Wird sie zu deren Vorteil verändert, tritt der ungünstigere TV im Zweifel demgegenüber zurück. 3 Zuletzt BAG v. 17.2.2009 – 9 AZR 611/07, ZTR 2009, 435. 4 Z.B. die qualifizierte Differenzierungsklausel, die Gegenstand von BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920, war. 5 BAG v. 10.8.1967 – 5 AZR 81/67, DB 1967, 1462; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1502. 6 Näher Wißmann, FS Bepler, S. 659; Brecht-Heitzmann/Zachert in Kempen/Zachert, TVG, Grundlagen Rz. 529; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1497 ff. 7 So Däubler/Däubler, TVG, Einleitung Rz. 520, m.z.w.N. auch zu der überwiegend vertretenen Gegenauffassung.
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Inhaltsermittlung von Tarifvertrgen
Rz. 152 Teil 3
gleichgewichtslage im einzelnen Arbeitsverhältnis an und nimmt von hier aus über §§ 305 ff., 310 Abs. 3 BGB eine Inhaltskontrolle der Arbeitsverträge oder eine Beschränkung der Arbeitsvertragsfreiheit durch zwingende gesetzliche Vorgaben vor. Auf die eine Korrektur durch das Recht gebietende strukturelle Ungleichgewichtslage reagiert das kollektive Arbeitsrecht aber anders. Es geht hier nicht um eine Inhaltskorrektur, sondern darum, Verfahren zu schaffen oder vorgefundene Verfahren zu garantieren und auszugestalten, in denen diese individuelle Ausgangsposition, die einen angemessenen Interessenausgleich oft verhindert, typischerweise nicht besteht. Ein in solchen Verfahren erwartbarer angemessener Interessenausgleich ist im Tarifvertragssystem typischerweise gewährleistet, weil sich nur Kollektive mit bestimmten Eigenschaften an den Verfahren beteiligen können1 und die teilnehmenden Akteure hierbei rechtlich abgesichert und mit Verfahrensrechten ausgestattet sind. Entsprechend sind die kollektiven Verfahren, die zum Abschluss von TVen führen, ausgestaltet. Danach wirkt sich das arbeitsrechtliche Schutzprinzip im kollektiven Arbeitsrecht nicht mehr dahin aus, dass es dort als Auslegungsregel für die Verfahrensergebnisse fortzuschreiben wäre. Als seine Konsequenz liegen Rechtsanwendungsgrundsätze wie „im Zweifel für die Betriebsverfassung“ oder „im Zweifel für ein funktionierendes Tarifvertragssystem“ nahe. Einen Anlass, die in den kollektiven Verfahren zustande gekommenen Übereinkünfte und Verträge zusätzlich noch nach der Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB im Zweifel zu Gunsten der Arbeitnehmer auszulegen, besteht von Rechts wegen nicht2. Dies verstieße gegen Art. 9 Abs. 3 GG. In einem funktionierenden TV-System ist die das Arbeitsleben prägende strukturelle Ungleichgewichtslage zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern bereits beim Tarifabschluss kompensiert. 3. Lückenschließung Die Maßgeblichkeit des nach Art. 9 Abs. 3 GG entscheidenden Willens der TV-Partei- 151 en für das von ihnen geschaffene Regelwerk wird dann besonders deutlich, wenn der Tariftext für eine bestimmte Frage oder Fallgestaltung auch nach Ausschöpfung aller Auslegungsmittel keine Regelung bereit hält, also insoweit aus der Sicht der Rechtsanwender lückenhaft ist. Die Rechtsprechung unterscheidet hier zwischen einer planmäßigen und einer plan- 152 widrigen Tariflücke, ohne dass sich das in den meisten entschiedenen Fällen im Ergebnis ausgewirkt hätte: Liegt eine planmäßige Lücke vor, ergibt die Auslegung des TVs also, dass die TV-Parteien die betreffende Frage oder Fallkonstellation bewusst nicht geregelt haben, scheidet eine Lückenfüllung durch die Gerichte von vornherein aus. Die Gerichte für Arbeitssachen sind nicht befugt, die vorhandenen Regelungen entgegen dem Regelungswillen der TV-Parteien daraufhin zu überprüfen, ob es in Betracht kommt, sie entsprechend anzuwenden oder von ihnen aus weiterzudenken, um einem vom Gericht gesehenen Regelungsbedarf zu genügen3. Keine Frage der – er1 Dazu zuletzt BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 39. 2 BAG v. 15.1.2015 – 6 AZR 650/13, Rz. 18, NZA 2015, 1139. 3 Z.B. BAG v. 16.6.2010 – 4 AZR 924/08, ZTR 2010, 642; BAG v. 11.11.2010 – 8 AZR 392/09, NZA 2011, 763; BAG v. 12.12.2013 – 8 AZR 942/12, AP TVG § 1 Tarifverträge: Banken Nr. 15; Däubler/Däubler, TVG, Einleitung, Rz. 522; Krause in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 4 Rz. 194; Brecht-Heitzmann/Zachert in Kempen/Zachert, TVG, Grundlagen Rz. 542; Löwisch/ Rieble, § 1 TVG Rz. 1519; Wiedemann/Wank, § 1 TVG Rz. 1038; Schaub, NZA 1994, 597 (601).
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Teil 3 Rz. 153
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
gänzenden – Vertragsauslegung, sondern ein Fall der Inhaltkontrolle von TVen anhand höherrangigen Rechts ist die im Einzelfall angezeigte Untersuchung, ob die in einer planmäßigen Lücke möglicherweise gegenüber einer bestimmten Personengruppe liegende Vorenthaltung von Rechten als diskriminierende Ungleichbehandlung zu bewerten und gegebenenfalls durch hoheitlichen – gerichtlichen – Eingriff zu korrigieren ist. 153 Vom Ansatz her anders sieht es bei planwidrigen Regelungslücken in TVen aus, also dann, wenn die TV-Parteien einen Regelungsbedarf nicht gesehen, eine Regelungsmöglichkeit nicht erwogen haben. Hier kommt – gleichgültig ob es sich um eine anfängliche oder um eine nachträglich entstandene Regelungslücke handelt – an sich eine Fortschreibung des Regelungsplans der TV-Parteien in Betracht. Sie wird von der Rechtsprechung jedoch nur in seltenen Fällen vorgenommen. Mit Rücksicht auf die den TV-Parteien vorbehaltene Aufgabe, das Arbeits- und Wirtschaftsleben nach den ihnen angemessen erscheinenden Vorgaben zu gestalten, kommt eine Lückenfüllung durch die Gerichte für Arbeitssachen durch eine bestimmte Ergänzung nur dann in Betracht, wenn nach dem tariflichen Gesamtzusammenhang und/oder zwingenden rechtlichen Vorgaben1 zweifelsfrei davon auszugehen ist, dass die TV-Parteien bei Kenntnis der Lücke insoweit überhaupt eine Regelung2 und dann auch genau diese getroffen hätten3. 154 Die tatsächliche Schwierigkeit festzustellen, ob eine bewusste oder unbewusste Regelungslücke vorliegt4, wird in vielen Entscheidungen deutlich, in denen eine abschließende Bewertung mit der Begründung unterbleibt, selbst wenn eine unbewusste Regelungslücke vorliegen sollte, sei eine Schließung ohne Verstoß gegen die Tarifautonomie nicht möglich, weil ein hypothetischer Wille der TV-Parteien, die Lücke in einer bestimmten Weise zu schließen, nicht zu ermitteln sei.
II. Der Inhalt schuldrechtlicher Koalitionsvereinbarungen 155 Es steht vom Ausgangspunkt her außer Streit, dass der Inhalt der Regelungen, die nur Rechte und Pflichten von Koalitionen im Verhältnis zueinander festlegen, nach den Re-
1 Ausgehend von dem Grundsatz, dass TV-Parteien im Zweifel rechtskonform regeln wollen. 2 Diese Voraussetzung betonen Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1522 f. und meinen, es bleibe stets die der Entscheidung der TV-Parteien vorbehaltene Alternative, keine Regelung zu treffen, weshalb eine Lückenschließung grundsätzlich ausscheide. Diese Position ist zu rigoros, weil sie zu Unrecht die Möglichkeit ausschließt, dass dem Geregelten der Wille der TV-Parteien bei Tarifabschluss entnommen werden kann, nach einem bestimmten Regelungsplan lückenlos zu regeln. Späteres Verhalten der TV-Parteien hat demgegenüber keine Aussagekraft. 3 BAG v. 11.11.2010 – 8 AZR 392/09, NZA 2011, 763; BAG v. 16.12.2010 – 6 AZR 423/09, DB 2011, 766; BAG v. 20.6.2012 – 6 AZR 745/10, AP BGB § 611 Fleischbeschauer-Dienstverhältnis Nr. 24; BAG v. 12.12.2013 – 8 AZR 942/12, AP TVG § 1 Tarifverträge: Banken Nr. 15; Krause in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 4 Rz. 195; Brecht-Heitzmann/Zachert in Kempen/Zachert, TVG, Grundlagen, Rz. 543; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 202 Rz. 18 ff.; Wiedemann/ Wank, § 1 TVG Rz. 1040; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 84 ff.; differenzierend Däubler/Däubler, TVG, Einleitung, Rz. 523 ff. 4 Vgl. dazu etwa BAG v. 12.12.2013 – 8 AZR 942/12, AP TVG § 1 Tarifverträge: Banken Nr. 15.
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Inhaltsermittlung von Tarifvertrgen
Rz. 158 Teil 3
geln über die Vertragsauslegung zu ermitteln ist. Gilt das Vereinbarte nur zwischen den am Vertragsabschluss Beteiligten, gibt es keinen Anlass für eine anwenderorientierte Auslegung. Auch die Falsa-demonstratio-Regel kann hier eine Rolle spielen1. Anders soll es sich nach einer anderen Auffassung verhalten, wenn die unmittelbar 156 nur zwischen den TV-Parteien geltenden Vereinbarungen sich auf die Rechte Dritter prägend auswirken, was insbesondere, aber nicht nur, bei Koalitionsverträgen zu Gunsten Dritter2 oder vergleichbar tarifvertragsersetzenden Regelungen der Fall sein soll. Zu denken sein könnte hier auch an herkömmlich zum schuldrechtlichen Teil eines TVs gezählten Bestimmungen zur Befristung oder zur Kündbarkeit von TVen. Für das richtige Verständnis von solchen schuldrechtlichen Regelungen mit engem Bezug zu Dritten könnte es geboten sein, auf die allgemeinen Regeln zur Auslegung des normativen Teils eines TVs zurückzugreifen3. Dem ist nicht zu folgen. Auch solche Vereinbarungen sind vertragsrechtlich auszulegen. Die nur mittelbar Betroffenen können nicht mehr, länger wirkende oder andere Rechte erwerben, als sie der Hauptgläubiger für sie in einer ausschließlich schuldrechtlichen Beziehung erworben hat4.
III. Zuordnung und Qualifikation durch Auslegung Vor der Aufgabe, den Inhalt eines TVs in seinem schuldrechtlichen und normativen 157 Teil zu ermitteln, ist nicht selten zu klären, welche Qualität eine bestimmte Regelung in einem „TV“ oder eine „Ergebnisniederschrift“, ein „Sozialvertrag“ oder eine sonstige nicht einschlägig überschriebene Koalitionsvereinbarung hat. Ähnlich verhält es sich mit der gelegentlich auftretenden Frage, ob ein mehrgliedriger TV ein aus mehreren selbständig zu behandelnden TVen zusammengesetztes Regelwerk oder ein EinheitsTV ist, dessen Rechte und Pflichten grundsätzlich nur gemeinsam ausgeübt werden können. Auch hier geht es nicht um den Inhalt von Tarifnormen, sondern um den Umfang des Bindungswillens der TV-Parteien. Die überwiegende Zahl der Senate des BAG nimmt an, hier werde das Verhältnis der TV-Parteien zueinander geklärt. Es sei deshalb nach den uneingeschränkt anzuwendenden Regeln der Vertragsauslegung (§§ 133, 157 BGB) vorzugehen5.
1 Wiedemann/Wank, § 1 TVG Rz. 984; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1529; Brecht-Heitzmann/ Zachert in Kempen/Zachert, TVG Grundlagen Rz. 500; Däubler/Däubler, TVG Einleitung Rz. 536. 2 Hierzu BAG v. 5.11.1997 – 4 AZR 872/95, NZA 1998, 654 (658); ebenso HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 75. 3 ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 95; Däubler/Däubler, TVG, Einleitung Rz. 536; Thüsing/Braun/ Wißmann, 2. Kap. Rz. 168. 4 Wiedemann/Wank, § 1 TVG Rz. 984; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1530; für tarifvertragliche Kündigungsbestimmungen BAG v. 27.2.2013 – 4 AZR 78/11, NZA 2013, 1026. 5 Für die Klärung, ob es um eine nur schuldrechtlich wirkende Regelung oder eine Tarifnorm geht: BAG v. 14.4.2004 – 4 AZR 232/03, NZA 2005, 178; BAG v. 24.8.2011 – 4 AZR 717/10, DB 2012, 444; BAG v. 14.4.2008 – 9 AZR 159/07, NZA-RR 2008, 586; BAG v. 13.10.2011 – 8 AZR 514/10, DB 2012, 1104; BAG v. 8.12.2011 – 6 AZR 291/10; zustimmend HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 76; Krause in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 4 Rz. 198; Schaub/Treber, ArbRHdb., § 202 Rz. 2; für die Klärung, ob ein EinheitsTV und ein gebündeltes Tarifwerk vorliegt: BAG v. 29.6.2004 – 1 AZR 143/03, ZTR 2005, 141.
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Teil 3 Rz. 159
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
159 Diese Auffassung ist nicht unangefochten. Sowohl in der Literatur als auch in Teilen der höchstrichterlichen Rechtsprechung gibt es die Auffassung, hier seien die Regeln zur Bestimmung des Inhalts von Tarifnormen heranzuziehen1. Ihr ist beizutreten. Ausgehend von dem hier vertretenen Standpunkt einer anwendungsorientierten Auslegung von Verträgen, die von TV-Parteien stammen, muss die Frage, ob eine von diesen herrührende schriftliche Übereinkunft oder ein Teil von ihr Normcharakter hat, also den Tarifunterworfenen unmittelbar Rechte gibt oder nimmt, oder ob dies nicht der Fall ist, weil es nur um die Rechtsbeziehungen der Vertragsparteien zueinander geht, aus der objektivierten Sicht der – möglicherweise – Tarifunterworfenen und deshalb Berechtigten und Verpflichteten beantwortet werden. Die potentielle Betroffenheit Dritter, nicht am Tarifabschluss Beteiligter reicht aus, auf ihre Sicht bei der Auslegung abzustellen.
F. Anfechtbarkeit und Nichtigkeit von Tarifverträgen I. Anfechtbarkeit 1. Mit Wirkung für den normativen Teil 160 Die Besonderheit des TVs als eines Normenvertrages, der auf die Rechtsverhältnisse der Tarifunterworfenen einwirkt und bei dem die Vorschriften über den Dissens (§§ 154, 155 BGB) deshalb unstreitig keine Anwendung finden, hat nach richtiger Auffassung auch zur Folge, dass TVe nicht wegen Irrtums, arglistiger Täuschung oder widerrechtlicher Drohung angefochten werden können2. Im Falle einer arglistigen Täuschung wird stattdessen eine außerordentliche Kündigung des so zustande gekommenen TVs in Betracht kommen. Geht man davon aus, dass ein mit einer solchen Begründung außerordentlich gekündigter TV nicht nachwirkt3, kommt die Gegenauffassung, die Willensmängel der TV-Parteien grundsätzlich4 oder zumindest in den Fällen des § 123 BGB5 für beachtlich hält, letztlich nicht zu einem anderen Ergebnis. Denn sie schließt aus dem Normcharakter eines TVs, dass eine rückwirkende Vertragsauflösung, wie sie § 142 BGB vorsieht, bei der Anfechtung von TVen ausscheidet6. 161 Wird nach einer Drohung mit einem rechtswidrigen Streik ein TV formgerecht abgeschlossen, kommt zwar ebenfalls eine darauf gestützte außerordentliche Kündigung 1 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1463; BAG v. 18.3.2008 – 1 ABR 81/06, NZA 2008, 832; BAG v. 8.12.2010 – 7 ABR 98/09, NZA 2011, 751; in der Sache auch BAG v. 16.5.2012 – 4 AZR 366/10, Rz. 23 ff., NZA 2013, 220, 222. 2 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 245; Stein in Kempen/Zachert, § 4 TVG Rz. 193; Däubler/ Reim/Nebe, § 1 TVG Rz. 179 f.; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 198 Rz. 6; offengelassen in BAG v. 19.10.1976 – 1 AZR 611/75, DB 1977, 405. 3 Anders aber z.B. Däubler/Reim/Nebe, § 1 TVG Rz. 180. 4 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1339 f.; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 20; ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 26. 5 So Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht Band I, S. 773. 6 Eine Ausnahme macht Gamillscheg (Kollektives Arbeitsrecht Band I, S. 513) für den Fall, dass der mit Willensmängeln behaftete TV bis zur Anfechtungserklärung noch nicht umzusetzen war. Er hält andererseits (S. 773) § 124 BGB für unanwendbar und verlangt eine unverzügliche Anfechtung.
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Anfechtbarkeit und Nichtigkeit von Tarifvertrgen
Rz. 164 Teil 3
oder – nach der Gegenauffassung – eine Anfechtung des TVs mit Wirkung für die Zukunft in Betracht1. Es wird hier aber stets im Einzelfall zu fragen sein, ob die Drohung ursächlich für den Tarifabschluss war. Dies ist bei einem derart effektiv ausgestalteten Rechtsbehelfssystem wie dem der Bundesrepublik Deutschland nicht selbstverständlich. Es müsste gegebenenfalls wohl plausibel gemacht werden, warum der von der Drohung mit einem rechtswidrigen Streik ausgehende Druck nicht mit Hilfe einstweiligen Rechtsschutzes aufgefangen werden konnte, sondern ihm ohne weiteres mit der Unterzeichnung eines formwirksamen TVs nachgegeben wurde. Die Besonderheit des normativ wirkenden TVs wirkt sich auch aus, prüft man die 162 vielfach angesprochene Möglichkeit, dass eine Anfechtung eines mit Willensmängeln behafteten TVs ausgeschlossen sein kann, wenn dieser vom Anfechtungsberechtigten bestätigt wird (§ 144 Abs. 1 BGB)2. Zwar handelt es sich bei der Bestätigung um ein einseitiges, nicht empfangsbedürftiges und formfreies (§ 144 Abs. 2 BGB) Rechtsgeschäft. Das, was im TV festgelegt ist, wird aber zumindest bei einem VerbandsTV im Wesentlichen nicht von den TV-Parteien selbst, sondern von den Tarifunterworfenen vollzogen. Da aber jedem TV die schuldrechtliche Durchführungspflicht immanent ist3, genügt deren einmalige Erfüllung seitens des anfechtungsberechtigten Verbandes, um die Rechtsfolge des § 144 Abs. 1 BGB auszulösen. Hiervon wird man etwa auszugehen haben, wenn der Verband seine Mitglieder ohne Vorbehalt in der hierfür üblichen Form über den Abschluss des TVs unterrichtet und dessen Inhalt im Einzelnen mitgeteilt hat. In einem solchen Fall schließt § 144 Abs. 1 BGB auch eine außerordentliche Kündigung des TV wegen Drohung aus. 2. Anfechtung schuldrechtlicher Koalitionsvereinbarungen Die gesonderte Anfechtung einzelner schuldrechtlicher Regelungen eines auch nor- 163 mativ wirkenden TVs scheidet grundsätzlich aus. Eine Teilanfechtung ist bei derartigen TVen ebenso ausgeschlossen wie eine Teilkündigung4. Die gegenüber der Anfechtbarkeit von TVen allgemein geltend gemachten Einwände 164 gelten allerdings nicht bei rein schuldrechtlichen Koalitionsvereinbarungen. Auch wenn sie, etwa weil ein Vertrag zu Gunsten Dritter abgeschlossen wurde, Wirkungen außerhalb des Vertragsverhältnisses haben, sind sie unter den Voraussetzungen der §§ 119, 123, 142, 144 BGB anfechtbar. Wird ein solcher Koalitionsvertrag erfolgreich angefochten, nachdem der Dritte bereits die versprochene Leistung empfangen hat, ohne dass dadurch die Voraussetzungen des § 144 BGB erfüllt wurden, kommt es zur Rückabwicklung im Dreiecksverhältnis nach § 812 BGB, es sei denn, man geht auch in einem solchen Fall im Hinblick auf die Einwirkung des Vertrags zu Gunsten Dritter auf ein Dauerschuldverhältnis nur von einer Anfechtungswirkung für die Zukunft aus.
1 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht Band I, S. 773; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1345. 2 HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 20; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 198 Rz. 6; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1343. 3 Z.B. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1001. 4 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1342.
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Teil 3 Rz. 165
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
II. Unwirksamkeit und Teilunwirksamkeit 1. Mängel des Tarifvertrags als solchem a) Nichtigkeitsgründe 165 Ein nach Maßgabe des allgemeinen Vertragsrechts zustande gekommener TV ist jedenfalls als TV, als – auch – normativ wirkender Koalitionsvertrag, unwirksam, wenn er in seiner Entstehung im Übrigen unheilbare tarifvertragsrechtliche Mängel aufweist. Dies ist der Fall, wenn er nicht dem Formgebot des § 1 Abs. 2 TVG entsprechend abgeschlossen wurde, wenn nicht auf beiden Seiten tariffähige Koalitionen Vertragsparteien waren (§ 2 TVG), oder wenn eine der Vertragsparteien oder beide ihre durch ihre Satzung autonom vorgegebene Normsetzungszuständigkeit1 überschritten haben2. Da es keine relative, aufteilbare Tariffähigkeit3 gibt, kommt es beim Fehlen der Tariffähigkeit stets zur Unwirksamkeit eines als TV geschlossenen, aber nicht schließbaren Vertrags als Ganzem. Tarifzuständigkeit ist demgegenüber ein gewissermaßen auf der Fläche wirkender Begriff. Deshalb ist ein TV, der nicht für einen fremden, sondern für einen über den eigenen Zuständigkeitsbereich hinausgehenden Geltungsbereich abgeschlossen wurde, immerhin teilweise durch die betreffende Organisation legitimiert. Die Rechtsprechung geht deshalb in einem solchen Fall zu Recht davon aus, der betreffende TV sei nur insoweit (teil-)nichtig, wie sein Geltungsbereich über die satzungsmäßige Zuständigkeit der tariffähigen Organisation hinausgehe4. Etwas anderes kann nur gelten, wenn der TV ohne seinen wegen der Unzuständigkeit einer oder beider TVParteien unwirksamen Teil kein als solches taugliches Regelwerk mehr ist oder den ursprünglichen Regelungsplan verfälscht. 166 Zu den tarifvertragsrechtlichen Unwirksamkeitsgründen, die hier aber einzelne Regelungen betreffen und deshalb in aller Regel auch nur für einen Teil des jeweiligen TVs zu dessen Nichtigkeit führen, gehören Überschreitungen der den TV-Parteien eingeräumten Normsetzungsbefugnis durch Regelungen – auch – des außertariflichen Bereichs. Hierzu zählen nach der Rechtsprechung des BAG normativ regelnde qualifizierte Differenzierungsklauseln in der Form von Spannenklauseln und Effektivklauseln. Mit Spannenklauseln wollen die TV-Partei über ihre Rechtssetzungsmacht hinaus arbeitsvertragliche Vereinbarungen verhindern, die Nichtorganisierte in jedem Falle so stellen als seien sie Mitglieder der tarifschließenden Gewerkschaft5. Ins-
1 Hierzu etwa BAG v. 27.9.2005 – 1 ABR 41/04, NZA 2006, 273; BAG v. 10.2.2009 – 1 ABR 36/08, NZA 2009, 908. 2 Zur Tarifzuständigkeit als Wirksamkeitsvoraussetzung grundlegend BAG v. 27.11.1964 – 1 ABR 13/63, DB 1965, 479 = SAE 1965, 201 mit Anm. Isele; BAG v. 24.7.1990 – 1 ABR 46/89, NZA 1991, 21; BAG v. 29.7.2009 – 7 ABR 27/08, NZA 2009, 1424; BAG v. 17.4.2012 – 1 ABR 5/11, BAGE 141, 110 = NZA 2012, 1104; jedenfalls im hier interessierenden Zusammenhang zustimmend Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 172, 180; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 271 ff.; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 54. 3 BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 19; Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, 1999, S. 147; a.A. Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 127 ff. 4 BAG v. 29.7.2009 – 7 ABR 27/08, NZA 2009, 1424 unter B II.4.a) der Gründe m.w.N. 5 BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920 = AP GG Art. 9 Nr. 147 mit Anm. Neumann = EzA GG Art. 9 Nr. 104 mit Anm. Ulber/Strauß; ausführlich und kritisch auch Däubler/Hensche/Heuschmid, § 1 TVG Rz. 989 ff.
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Anfechtbarkeit und Nichtigkeit von Tarifvertrgen
Rz. 168 Teil 3
besondere Effektivgarantieklauseln1 versuchen in den außertariflichen Bereich einzugreifen, indem sie einen übertariflich vereinbarten Entgeltbestandteil als dessen Teil in den tariflichen Mindestlohn übernehmen und dieses Entgelt dann erhöhen. b) Vertrauensschutz Im Bereich der gewerblichen Arbeitnehmerüberlassung ist bekanntlich in den letzten 167 Jahren auf Arbeitnehmerseite eine Organisation als TV-Partei aufgetreten, von der das BAG2 und im Anschluss daran das LAG Berlin-Brandenburg3 angenommen haben, sie sei in dem maßgeblichen Zeitraum bei Abschluss der betreffenden TVe nicht tariffähig gewesen. Im Zusammenhang mit dieser Entscheidung und den Folgeverfahren, in denen es insbesondere um die Entgeltansprüche nach dem Equal-Treatment-Prinzip (§ 10 Abs. 4 Satz 1 AÜG) und daraus erwachsene Verpflichtungen geht, dem entsprechende Beiträge an die Sozialversicherungsträger abzuführen, ist eine Frage aufgekommen: Muss den Arbeitgebern Vertrauensschutz zu gewähren ist, die versucht haben, mithilfe der betreffenden „Tarifverträge“ die in § 10 Abs. 4 Satz 2 i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 3, § 9 Nr. 2 AÜG eröffnete Möglichkeit zu nutzen, die Gleichstellung der Leiharbeitnehmer mit vergleichbaren Stammarbeitnehmern zu vermeiden. Dabei ist teilweise auch auf die Grundsätze über die fehlerhafte Gesellschaft verwiesen worden. Es wurde deshalb gefordert, die Nichtigkeit der betreffenden TVe dürfe sich von Rechts wegen erst für die Zeit von deren Rechtserkenntnis an für die Zukunft auswirken4. Die nach hier vertretener Auffassung durchschlagenden Bedenken gegenüber dieser 168 Rechtsauffassung ergeben sich zumindest aus der besonderen Normqualität gerade der für den Bereich der Arbeitnehmerüberlassung abgeschlossenen TVe: Es geht hier nicht nur darum, TVe zu bewerten, die zwischen beiderseits Tarifgebundenen und solchen Teilnehmern am Arbeitsleben Anwendung finden, die sich privatautonom in arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln hierfür entschieden haben; schon in solchen Fällen kann man zweifeln, ob es so etwas wie ein von Rechts wegen schützenswertes Vertrauen in die Tariffähigkeit eines autonom ausgewählten TV-Partners geben kann. Hier geht es aber sogar darum, dass der Gesetzgeber für die in § 10 Abs. 4 Satz 2 i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 3, § 9 Nr. 2 AÜG genannten TVe die Möglichkeit eröffnet hat, von der übergeordneten sozialpolitischen Grundentscheidung des „equal treatment“ durch „Tarifvertrag“ zu Lasten der zu schützenden Arbeitnehmergruppe abzuweichen5. Hier muss es in dem durch Vertrauensschutzerwägungen nicht reduzier1 Hierzu grundlegend BAG v. 14.2.1968 – 4 AZR 275/67, DB 1968, 1133; zustimmend etwa Jacobs in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 7 Rz. 80 ff.; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 113 f.; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1893 f.; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 529 ff.; kritisch Stein in Kempen/Zachert, § 4 TVG Rz. 502 ff.; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 791 ff.; ob für einfache Effektivklauseln, die nur für den Zeitpunkt einer Tarifentgelterhöhung deren Verrechnung mit übertariflichen Entgeltbestandteilen untersagen, dieselbe Bewertung gelten muss (für eine Korrektur de lege ferenda Bepler, Gutachten 70. DJT, B 76 ff.), bleibe hier dahingestellt (dazu Teil 5 (10)). 2 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289. 3 LAG Berlin-Brandenburg v. 9.1.2012 – 24 TaBV 1285/11 u.a.; rkr. nach Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde durch BAG v. 22.5.2012 – 1 ABN 27/12. 4 So insbesondere Henssler/Höpfner/Orlowski, Der CGZP-Beschluss des Bundesarbeitsgerichts und seine tarifrechtlichen Folgen, 2012, passim. 5 Wegen der Bedenken gegen diese der Tarifautonomie schädliche Regelungstechnik vgl. Bepler, Gutachten 70. DJT, B 61 f.
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Teil 3 Rz. 169
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
baren Risikobereich derer, die diese Möglichkeit nutzen wollen, bleiben, ob die Vertragspartei, die sie sich zu diesem Zweck ausgesucht haben, für die gemeinsame Erreichung dieses Zieles überhaupt geeignet ist. c) Weitergeltung als vertraglich in Bezug genommenes Regelwerk 169 Soweit ersichtlich nur für den Bereich der LeiharbeitsTVe geklärt ist das vertragsrechtliche Schicksal von arbeitsvertraglich in Bezug genommenen Regelwerken, die als TVe aus einem der kurz angesprochenen Gründe unwirksam sind. Es versteht sich von selbst, dass sie keine der mit der Eigenschaft als TV verbundenen Privilegierungen genießen (z.B. Freiheit von der Kontrolle als Allgemeine Geschäftsbedingung, Fähigkeit, eine Tariföffnungsklausel zu nutzen). Es ist aber wohl nicht selbstverständlich, aus der in diesem Zusammenhang immer wieder so genannten Nichtigkeit als TV ohne weiteres zu schließen, sie könnten damit auch nicht Teil des Arbeitsvertrages sein, der sie durch Inbezugnahme inkorporiert hat. Vielfach wird dies so sein, z.B. dann, wenn die Vertragsauslegung ergibt, die Bezugnahme des betreffenden TVs oder Tarifwerks sei – etwa zur Nutzung von Tariföffnungsklauseln – vorrangig um seiner Eigenschaft als TV willen erfolgt1. Die hier maßgeblichen Grundsätze der Individualvertragsauslegung können aber im Einzelfall auch einmal dazu führen anzunehmen, es sei den Vertragsparteien nur darum gegangen, ein als passend angesehenes einheitliches Regelwerk vergleichbar einer vom Arbeitgeber erlassenen und uneingeschränkt kontrollfähigen Betriebsordnung dem Arbeitsverhältnis zu Grunde zu legen; hieran wird insbesondere in Bereichen des Arbeits- und Wirtschaftslebens zu denken sein, in denen die Akteure nicht auf TVe von in ihrer Tariffähigkeit unangreifbaren Organisationen zurückgreifen können, was etwa – bedauerlicherweise – für einige Bereiche des Handwerks in den jungen Bundesländern gilt. 2. Kontrolle tariflicher Regelungen anhand höherrangigen Rechts a) Verstoß gegen zwingendes Gesetzesrecht 170 Die TV-Parteien genießen den Schutz der Verfassung bei der kollektiv und autonom wahrgenommenen Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch TVe. Sie haben bei dieser Ausgestaltung aber kein Normsetzungsmonopol2, sondern sind mit ihren Normen Teil der Gesamtrechtsordnung im Arbeitsrecht. Dabei ist ihr Verhältnis zum einfachen staatlichen Gesetzgeber zumindest dogmatisch-theoretisch noch nicht abschließend geklärt3. 171 Unproblematisch ist das Verhältnis zu für jedermann dispositiven Gesetzen oder Gesetzesrecht, das der Gesetzgeber zur Disposition der TV-Parteien gestellt hat4. Dassel-
1 So zu Recht BAG v. 13.3.2013 – 5 AZR 954/11, Rz. 35, NZA 2013, 680, 684, zu den CGZPTVen. 2 Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 199 Rz. 9. 3 Vgl. hierzu z.B. ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 82 ff.; Kempen in Kempen/Zachert, TVG Grundlagen Rz. 352 ff.; Henssler, ZfA 1998, 1 ff.; Krause in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 1 Rz. 123 ff. 4 Z.B. § 622 Abs. 4 BGB für Kündigungsfristbestimmungen, § 8 Abs. 4, § 12 Abs. 3 und § 13 Abs. 4 TzBfG für das Recht der Teilzeitbeschäftigten sowie § 3 Abs. 1 Nr. 3, § 9 Nr. 2 und § 10 Abs. 4 AÜG für den Equal-treatment-Grundsatz. Soweit gesetzliche Regelungen nur für einen
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Anfechtbarkeit und Nichtigkeit von Tarifvertrgen
Rz. 174 Teil 3
be gilt in aller Regel für gesetzesvertretendes Richterrecht, das ebenfalls grundsätzlich zur Disposition der TV-Parteien steht1. Durch eine solche Rechtssetzung wird die Gestaltungsfreiheit der TV-Parteien grundsätzlich nicht eingeschränkt. Jede Abweichung von Gesetz oder gesetzesvertretendem Richterrecht ist ihnen eröffnet. Solange die TV-Parteien hiervon keinen äußerlich erkennbaren Gebrauch machen, bietet das von den TV-Parteien vorgefundene dispositive Recht als Ausgangsrechtslage Hilfestellung für die Auslegung des TV-Textes (vgl. Rz. 149). Das seltene zweiseitig zwingende Gesetzesrecht erlaubt den TV-Parteien demgegen- 172 über keinerlei Abweichungen. Hiermit sind insbesondere das Organisationsrecht für die Beschäftigtenvertretungen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst angesprochen sowie einige wenige Regelungen des materiellen Arbeitsrechts wie etwa § 626 BGB, § 107 Abs. 2 GewO, § 113 InsO und – mit einer ausdrücklichen Einschränkung in Satz 3 der Bestimmung – § 1 des Gesetzes über befristete Arbeitsverhältnisse in der Wissenschaft (WissZeitVG). In diesen Gesetzen konkurrieren Schutzgüter von besonderem Wert, bei denen es dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben muss, eine abschließende Abwägung vorzunehmen; dies in der Regel auch deshalb, weil die Rechtsgutinhaber an der tariflichen Normsetzung nicht beteiligt sind und sich auch nicht beteiligen können. Weichen die TV-Parteien mit ihren Normen von dem auf diese Weise gerechtfertigten, beiderseitig zwingend ausgestalteten Gesetzesrecht auf dem Gebiet des Arbeitsrechts ab, sind ihre Bestimmungen unwirksam, wobei es nicht darauf ankommt, ob die TVe in Kenntnis des anderslautenden Gesetzesbefehls oder erst nach dessen Erlass geschlossen worden sind2. Dieselbe Rechtsfolge tritt ein, soweit der Gesetzgeber einseitig – zu Gunsten der Ar- 173 beitnehmer – zwingend ausgestaltetes Gesetzesrecht geschaffen hat und die TV-Parteien das durch dieses Gesetzesrecht geschaffene Niveau nicht überschreiten, was ihnen frei steht, sondern zu Lasten der geschützten Arbeitnehmer unterschreiten. Solche einseitig zwingenden Arbeitnehmerschutzbestimmungen sind z.B. die gesetzliche Regelungen zum materiellen Kündigungsschutz, zum Schutz vor Diskriminierungen, zur Dauer des Erholungsurlaubs oder auch zur Arbeitszeit nach dem Arbeitszeitgesetz, soweit die dortigen Festlegungen nicht in § 7 und § 12 ArbZG zur Disposition der TVParteien gestellt sind. Mit solchen Regelungen greift der Gesetzgeber in Bereiche des Arbeitsrechts ein, die 174 auch durch die TV-Parteien in Wahrnehmung ihres verfassungsrechtlich geschützten Freiheitsrechts abschließend geregelt werden könnten. Wählt er hier nicht die Technik von Tariföffnungsklauseln, räumt den Koalitionen also keinen Regelungsvorrang ein, wird deren geschützter Freiheitsraum jedenfalls berührt, gleichgültig, ob man hier von einem Eingriff in die oder einer Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit spricht.
Teil des Regelungsbereichs Öffnungen vornehmen, wie etwa in § 13 BUrlG, handelt es sich im nicht freigegebenen Teil um einseitig zwingendes Recht. 1 Also zur Rechtsprechung über Rückzahlungsklauseln für Sonderzuwendungen (BAG v. 23.2.1967 – 5 AZR 234/66, DB 1967, 778; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 136) und Ausbildungsvergütungen (BAG v. 6.9.1995 – 5 AZR 174/94, NZA 1996, 437; ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 442). Hinsichtlich der rechtsfortbildend entwickelten Grundsätze zur Arbeitnehmerhaftung geht Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 199 Rz. 14, offenbar trotz BAG v. 27.1.2000 – 8 AZR 876/98, NZA 2000, 727, von einer einseitig zwingenden Rechtslage aus. 2 Richtig Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 578.
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Teil 3 Rz. 175
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
In jedem Falle wird danach im Grundsatz stets eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen sein, inwieweit es einer solchen, die Koalitionsfreiheit beeinträchtigenden Rechtssetzung um des Zieles willen bedarf, übergeordnete Interessen zur Geltung zu bringen1. 175 Die besondere verfassungsrechtlich geschützte Stellung der TV-Parteien ist der Grund dafür, dass es auf der einfachgesetzlichen Ebene über die Inhaltskontrolle anhand zumindest einseitig zwingender Gesetze hinaus keine Angemessenheits- oder Billigkeitskontrolle von TVen gibt, wie auch § 310 Abs. 4 BGB zeigt. TVe sind angesichts der Sachnähe und der Ausgewogenheit der Verhandlungssituation auch nicht von den Gerichten für Arbeitssachen darauf hin zu überprüfen, ob die von ihnen gefundene Lösung die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste ist2. b) Verstoß gegen Grundrechte und Europarecht 176 Dass tarifvertragliche Regelungen im Ergebnis gegen Grundrechte verstoßen können und dann unwirksam sind, steht außer Frage. Bei der Diskussion, auf welchem rechtlich-konstruktiven Weg, auf der Grundlage einer wie intensiven und wie umfassenden Prüfung ein solches Ergebnis zu Stande kommen kann, gibt es allerdings einigen Streit in der Wissenschaft und – im Wesentlichen – früher auch in der Rechtsprechung. Ihm liegt ein grundlegender Wertungsunterschied zu Grunde: Diejenigen, die jeder kollektiven Ordnung mit einigem Misstrauen begegnen, streben zum Individualschutz eine staatlicher Eingriffskontrolle möglichst gleichstehende Intensität und Breite der Grundrechtsprüfung an3. Die Gegenmeinung belässt den mit dem Freiheitsrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG begabten Kollektiven, deren Mitglied man werden kann, aber nicht muss, demgegenüber einen größeren Regelungsspielraum, der von der Regelungsautonomie auf der Grundlage einer ungestörten individuellen Vertragsfreiheit ausgeht4. 177 Die aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung, die in der Vergangenheit gelegentlich durch voneinander abweichende Ansätze den Eindruck fehlender Einheitlichkeit gemacht hat, ist heute durch das zweitgenannte Vorverständnis geprägt. Es entspricht der historischen Herkunft des TV-Systems als Arbeitnehmerschutz durch (Kollektiv-)Verfahren und sieht deshalb die Kollektivierung stärker als Chance zu angemessener Interessenwahrnehmung denn als Gefährdung der Möglichkeiten individueller Freiheitsbehauptung. Der Satz „So wie die Vertragskontrolle im Dienst der richtig verstandenen Vertragsfreiheit steht, so steht die Tarifkontrolle im Dienst der richtig verstandenen Tarifautonomie“5 ist zwar griffig, aber falsch. Er blendet aus, dass die 1 So BVerfG v. 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, NZA 1996, 1157; BVerfG v. 3.4.2001 – 1 BvL 32/97, NZA 2001, 777, das aber bislang in den einschlägigen Fällen noch nicht zu einem Vorrang der TV-Parteien gekommen ist; kritisch gegenüber der Uferlosigkeit dieser Rechtsprechung zu Lasten der TV-Parteien ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 85. 2 Allg. Meinung HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 88; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 199 Rz. 15, jeweils m.w.N. 3 Beispielhaft etwa Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 581 ff.; Picker, Die Tarifautonomie in der deutschen Arbeitsverfassung, 2000. 4 Besonders ausgeprägt bei Dieterich, FS Schaub, 1998, S. 117 ff.; Schliemann, FS Hanau, 1999, S. 583 ff.; Kempen in Kempen/Zachert, Grundlagen Rz. 263 ff. 5 So Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 582 unter Bezugnahme auf Gamillscheg, AuR 2001, 226 (227 f.).
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Anfechtbarkeit und Nichtigkeit von Tarifvertrgen
Rz. 180 Teil 3
Individualvertragskontrolle der Kompensation möglicher Angemessenheitsdefizite in strukturell gestörten Vertragssituationen dient, während die TVe als Ergebnis ausgewogener kollektiver Interessenwahrnehmung, die im Normalfall durch freiwillig begründete Mitgliedschaften legitimiert ist, idealiter diese strukturelle Ungleichgewichtslage im Individualverhältnis gerade überwinden. Dies ändert nichts daran, dass es Defizite bei der verbandlichen Willensbildung geben 178 kann, die auch eines im Notfall eingreifenden Schutzsystems auf der Grundlage der in den Grundrechten niedergelegten Werteordnung bedürfen. Hierfür reichen aber die insbesondere vom 6. Senat des BAG1 zuletzt mehrfach ausformulierte Grundsätze für eine Grundrechtsprüfung von TVen in aller Regel aus, die missverstanden wird, wenn man sie auf eine grobe Willkürkontrolle reduziert: Ausgangspunkt ist die Grundwertung, dass TV-Parteien als Vereinigungen privaten 179 Rechts nicht unmittelbar grundrechtsgebunden sind. Die Schutzfunktion der Grundrechte verpflichtet jedoch die Gerichte darauf, Tarifregelungen insbesondere dann die Durchsetzung zu verweigern, wenn sie zu gleichheits- und sachwidrigen Differenzierungen führen und deshalb im Ergebnis Art. 3 GG verletzen; eine derartige Gleichheitsverletzung kann dann auch darin liegen, dass TVe bei der Festlegung des persönlichen Geltungsbereichs Arbeitnehmergruppen von der Normsetzung ausnehmen, für deren Herausnahme keine sachbezogenen Gruppenunterschiede erkennbar sind. Die höchstrichterliche Rechtsprechung misst bei der Anwendung der Gleichheitsgebote und Diskriminierungsverbote den TV-Parteien als selbständigen Grundrechtsträgern aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie einen nicht unerheblichen Gestaltungsspielraum zu. Diesen bemisst sie im Einzelfall danach, nach welchen Differenzierungsmerkmalen die Ungleichbehandlung vorgenommen wurde. Die Einschätzungsprärogative der TV-Parteien bezieht sie auf die Bewertung der tatsächlichen Gegebenheiten und der betroffenen Interessen der unterschiedlich Behandelten. Die besonders herausgehobene Bedeutung von Gleichheitsgeboten und Diskrimi- 180 nierungsverboten erklärt sich aus der Kollektivität der Willensbildung auf Seiten der TV-Parteien und der gerichtlichen Erfahrungen, dass sich fast alle Gerechtigkeitsbedenken, die im ersten Zugriff gegenüber tarifvertraglichen Regelungen empfunden werden, auf tatsächliche oder vermeintliche Verstöße gegen Gleichheitsgebote oder Diskriminierungsverbote zurückführen lassen. Grundrechtlich geschützte Freiheitsrechte, die bei der Individualvertragskontrolle unter dem Gesichtspunkt von deren Schutzfunktion eine nicht unerhebliche Rolle spielen, prägen die Rechtsprechung bei der TV-Kontrolle nicht wesentlich. Dies hat auch mit der Grundannahme zu tun, dass im TV-System das Vertragsmodell mit seiner durch gleichstarke Wahrnehmung gesicherten, im Gegenseitigkeitsverhältnis optimal angemessenen Interessendurchsetzung idealtypisch verwirklicht ist. Da es im Einzelfall aber auch einmal zu deutlich defizitären Umsetzungen kommen kann, bedarf es neben der auf strukturelle Defizite2 1 BAG v. 27.5.2004 – 6 AZR 129/03, NZA 2004, 1399; BAG v. 28.5.2009 – 6 AZR 144/08, DB 2009, 1769; BAG v. 8.12.2011 – 6 AZR 319/09, NZA 2012, 275; speziell für die Festlegung von Vergütungsdifferenzen BAG v. 17.12.2009 – 6 AZR 665/08, ZTR 2010, 190; ebenso auch schon BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 352/00, NZA 2002, 863. 2 Angesprochen ist hiermit die in der unterschiedlich starken Repräsentation einzelner Arbeitnehmergruppen liegende Gefahr unterschiedlich intensiver Interessenwahrnehmung.
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Teil 3 Rz. 181
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
reagierenden Kontrolle anhand der Gleichbehandlungsgebote nur eines Rückgriffs auf eine Vertragskontrolle anhand des § 138 BGB, mit dem die Einhaltung elementarer Gerechtigkeitsanforderungen1 durch die TV-Parteien sichergestellt werden kann. 181 Einen strengeren Prüfungsmaßstab hat der 7. Senat des BAG am 8. Dezember 2010 angelegt2. Er hat bei der Überprüfung von Betriebsnormen angenommen, dass TV-Parteien, die durch solche Bestimmungen in grundrechtlich geschützte Rechtspositionen von Arbeitnehmern und Arbeitsplatzbewerbern eingreifen, ihre Regelungen an den Maßstäben zu messen haben, die auch für den Gesetzgeber oder andere fremd bestimmende Normgeber gelten. In diesem Zusammenhang sei sogar der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz anwendbar, dessen Anwendung ansonsten bei der TV-Kontrolle grundsätzlichen Bedenken begegnet; sie führt letztlich zu einer Tarifzensur, weil sie nur über eine Kontrolle der Bewertung der tatsächlichen Regelungsgrundlagen und beteiligten Interessen durch die TV-Parteien möglich ist. 182 Bei dieser Rechtsprechung des 7. Senats handelt es sich jedoch nicht um eine Ausnahme von oder gar eine Gegenposition zu den bisher referierten Leitlinie der Rechtsprechung des BAG. Sie stellt zur Begründung auf eine Besonderheit ab, die für die Inhaltsnormen eines TVs nicht gilt. Betriebsnormen erstrecken ihre Wirkung über den Kreis der Gewerkschaftsmitglieder hinaus, weil sie schon dann im einzelnen Betrieb gelten, wenn nur dessen Inhaber tarifgebunden ist. Die weitere Rechtsprechungsentwicklung wird zeigen, ob diese Besonderheit die gezogenen Konsequenzen bei der Inhaltskontrolle trägt3. 183 Eine ähnliche Frage, wie sie der Siebte Senat des BAG für Betriebsnormen behandelt hat, könnte sich auch im Bereich der allgemeinverbindlichen TVe stellen. Auch hier ist durch eine wie immer zu qualifizierende hoheitliche Erstreckungsmaßnahme bestimmt, dass auch in Bereichen ohne mitgliedschaftliche Legitimation Normwirkung eintritt. Ginge man auch hier grundsätzlich von einer intensiveren Bindung an die Grundfreiheiten und den Gleichheitssatz aus, stellte sich die Folgefrage, wo und mit welcher Wirkung die Prüfung einzusetzen hat. Geht es um eine Kontrolle des Rechtsaktes der Allgemeinverbindlicherklärung, die die Normerstreckung herbeiführt, oder um eine Inhaltskontrolle des erstreckten Rechts? Folgt man der ersten Alternative, die eine Spaltung der Tarifkontrolle verhinderte4, stellt sich weiter die Frage, ob im Falle eines etwaigen Verstoßes von einer Teilbarkeit der Allgemeinverbindlicherklärung ausgegangen werden kann oder ob dieser Rechtsakt bei einem entsprechenden Rechtsverstoß gegebenenfalls insgesamt unwirksam wäre.
1 Dass es auf sie bei der TV-Kontrolle neben der Gleichbehandlungskontrolle ankommen kann, betont auch BAG v. 28.5.2009 – 6 AZR 144/08, DB 2009, 1769. 2 BAG v. 8.12.2010 – 7 ABR 98/09, NZA 2011, 751. 3 Wobei nicht zu verkennen ist, dass der Prüfungsansatz hier „nur“ inhaltlich von der überkommenen Qualifikationsfrage, ob etwas Betriebsnorm sein will und sein kann, auf die Ebene der Inhaltskontrolle verlagert worden ist. 4 Diese Gefahr sehen Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 588, wenn man die „normale“ Inhaltskontrolle im Hinblick auf die mit der freiwilligen Begründung der Mitgliedschaft verbundene „Belastungseinwilligung“ (Dieterich) so wie die Rechtsprechung des BAG zurücknimmt, weil man diesen Gesichtspunkt für eine entsprechend zurückgenommene Kontrolle allgemeinverbindlicher TVe nicht heranziehen kann.
222 Bepler
Anfechtbarkeit und Nichtigkeit von Tarifvertrgen
Rz. 186 Teil 3
Der Blick auf das Recht der Europäischen Union braucht nur kurz zu sein; dies nicht 184 deshalb, weil es bei der TV-Kontrolle keine Bedeutung hätte. Seine wesentliche Rolle hat das Recht der Europäischen Union hier jedoch inzwischen bei der Auslegung der zumindest einseitig zwingenden nationalen Umsetzungsgesetze, insbesondere des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG), die unter dem Gebot der Gemeinschaftsrechtskonformität steht. In diesem Zusammenhang, in dem es immer wieder auch zu einer Anrufung des Ge- 185 richtshofs der Europäischen Union kommt und kommen muss, zeigt sich hinsichtlich des Vorverständnisses mit Konsequenzen für die Rechtsanwendung im Einzelfall ein merkbarer Unterschied zwischen dem Gerichtshof und der nationalen Arbeitsgerichtsbarkeit: der Gerichtshof billigt den TV-Parteien bei der Regelsetzung erkennbar nicht den Vertrauensvorschuss zu, wie er Grundlage der zurückgenommenen nationalen Rechtskontrolle ist, und erkennt ihnen auch nicht in vergleichbarer Weise wie die nationalen Gerichten eine daraus folgende Einschätzungsprärogative zu. Er betont zwar in den bekannten Fällen zur Altersdiskriminierung stets, die Sozialpartner hätten ebenso wie die Mitgliedstaaten selbst ein weites Ermessen auf dem Gebiet und der Sozial- und Beschäftigungspolitik; sie könnten entscheiden, welches der nach Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 RL 2000/78/EG legitimen Ziele für eine Ungleichbehandlung von mehreren sie mit welchen Mitteln verfolgen wollten1. Er weist dabei zunächst nur darauf hin, dass sich die Normsetzung im Rahmen des vorgegebenen europarechtlichen Rahmens halten müsse. Er untersucht die tarifvertraglichen Regeln aber dann im Einzelnen darauf, ob sie aus gerichtlicher Sicht angemessen und erforderlich zur Erreichung des angestrebten Ziels seien2. Es bleibt abzuwarten, ob und wie sich diese Rechtsprechung auf die Rechtskontrolle von TVen durch die nationalen Gerichte auswirken wird. 3. Folgen der Unwirksamkeit von Tarifnormen für den Tarifvertrag a) Teilunwirksamkeit Sind einzelne Bestimmungen eines TVs aus welchen Gründen auch immer rechtsunwirksam, ist damit nur ausnahmsweise der betreffende TV insgesamt unwirksam. Die widerlegliche Vermutung des § 139 BGB gilt im TV-Recht im Hinblick auf den Normcharakter der TVe und deren auf Dauer angelegte Regelungsaufgabe nicht. Der betroffene TV bleibt ohne die unwirksamen Bestimmungen regelmäßig wirksam und regelt in seinem verbleibenden Teil weiterhin. Nur dann, wenn das „bereinigte“ Regelwerk aus sich heraus nicht mehr sinnvoll angewendet, also seiner Regelungsaufgabe nicht mehr gerecht werden kann, tritt Gesamtnichtigkeit ein3.
1 Z.B. EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09, NZA 2010, 1167 – Rosenbladt; EuGH v. 8.9.2011 – Rs. C-297 und 298/10, NZA 2011, 1100 – Hennigs und Mai. 2 Besonders ausgeprägt EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09, NZA 2011, 1039 – Prigge, wo auch von einer „Ermächtigung“ des staatlichen Gesetzgebers an die TV-Parteien die Rede ist. 3 BAG v. 9.5.2007 – 4 AZR 275/06, NZA 2007, 1439; BAG v. 12.12.2007 – 4 AZR 996/06, NZA 2008, 892; BAG v. 16.11.2011 – 4 AZR 856/09; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 245; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 503; Däubler/Reim/Nebe, § 1 TVG Rz. 186 f.
Bepler 223
186
Teil 3 Rz. 187
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
b) Rechtsfolgen bei Verstößen gegen Gleichbehandlungsgebote und Diskriminierungsverbote 187 Besonders bei tarifvertraglichen Verstößen gegen Gleichbehandlungsgebote und Diskriminierungsverbote ist mit der Aussage, dass die Unwirksamkeit einzelner Bestimmungen in aller Regel nicht zur Unwirksamkeit des TVs als Ganzem führt, noch nicht viel gewonnen. Schwierig wird es, wenn zu ermitteln ist, welche Rechtsfolgen sich aus einer derartigen Rechtsverletzung ergeben, die ja typischerweise von jemandem gerügt wird, der sich zu Unrecht benachteiligt fühlt: – Bis vor wenigen Jahren stellte die unterschiedliche Behandlung von Arbeitern und Angestellten den Normalfall dar. Vermutlich gab es auch Versorgungstarifverträge, die eine deutlich höhere Versorgung für Angestellte als für Arbeiter vorsahen; unterstellt, es gab hierfür keine sachliche Rechtfertigung, konnte der Arbeiter „Angestelltenversorgung“ verlangen?1 – Wenn ein TV nur Ehegatten bestimmte Ortszuschläge zuerkennt, eine entsprechende Rechtseinräumung für eingetragene Lebenspartner aber nicht vorsieht, erhält auch der Lebenspartner den höheren Ortszuschlag, wenn diese Ungleichbehandlung eine Diskriminierung wegen der sexuellen Identität darstellt?2 – Unterstellt, ein TV sehe für Witwen eine Hinterbliebenenversorgung vor, für Witwer aber nicht oder nur unter einer von ihm nicht erfüllten besonderen Bedingung, kann auch der Witwer Hinterbliebenenversorgung verlangen?3 – Ein TV sehe für im Einzelnen benannte sogenannte leichteste Tätigkeiten ein Entgelt der Eingangsentgeltgruppe vor und bewerte andere Tätigkeiten, die er nur als leicht bezeichnet, die indes nach den Regeln der Arbeitsbewertung als den erstgenannten gleichwertig anzusehen sind, höher; kann eine mit „leichtesten“ Tätigkeiten befasste Frau die höhere Vergütung für „leichte“ Tätigkeiten beanspruchen, wenn in ihrer tariflich definierten Beschäftigtengruppe signifikant mehr Frauen vertreten sind als in der Gruppe, nach deren Vergütungsgruppe sie vergütet werden will?4 – Eine TV-Bestimmung sah für Beschäftigte bis zum vollendeten 30. Lebensjahr einen Erholungsurlaub von 26 Arbeitstagen, bis zum vollendeten 40. Lebensjahr von 29 Arbeitstagen und nach dem vollendeten 40. Lebensjahr von 30 Arbeitstagen vor; kann ein 31jähriger unter dem Gesichtspunkt der Altersdiskriminierung 29 oder gar 30 Arbeitstage Tarifurlaub verlangen?5 – Schließlich: Ein tarifliches Vergütungssystem sah eine Vergütung vor, die sich nach Lebensaltersstufen steigerte; kann ein Arbeitnehmer, der gerade einmal die 1 Vgl. BAG v. 10.12.2002 – 3 AZR 3/02, NZA 2004, 321; BAG v. 16.2.2010 – 3 AZR 216/09, NZA 2010, 701; BAG v. 17.6.2014 – 3 AZR 757/12, AP BetrAVG § 1 Gleichbehandlung Nr. 70. 2 BAG v. 18.3.2010 – 6 AZR 434/07, NZA-RR 2010, 664, im Anschluss an BAG v. 29.4.2004 – 6 AZR 101/03, NZA 2005, 57; kritisch Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1523. 3 Vgl. BAG v. 5.9.1989 – 3 AZR 575/88, NZA 1990, 271; Rolfs in Blomeyer/Rolfs/Otto, Anh. § 1 BetrAVG Rz. 206 m.w.N. 4 Vgl. hierzu immerhin BAG v. 15.10.1986 – 4 AZR 572/85, AP TVG § 1 Tarifverträge: Metallindustrie Nr. 27 (a.E.); sowie EuGH v. 27.10.1993 – Rs. C-127/92, NZA 1994, 797; Däubler/ Winter, § 1 TVG Rz. 508, 528. 5 BAG v. 20.3.2012 – 9 AZR 529/10, BAGE 141, 73 = NZA 2012, 803.
224 Bepler
Anfechtbarkeit und Nichtigkeit von Tarifvertrgen
Rz. 191 Teil 3
erste Lebensaltersstufen erreicht hat, gleichwohl Vergütung nach der höchsten Altersstufe verlangen, weil die Differenzierung nach Alter bei der Vergütung generell nicht gerechtfertigt ist?1 Das BAG hat bekanntlich alle aufgeworfenen Fragen bereits entschieden, oder es lassen sich seine Antworten aus seinen bisherigen Judikaten zumindest relativ sicher prognostizieren. Dabei ist im behandelten Zusammenhang nicht von Interesse, ob die angesprochenen tarifvertraglichen Regelungen tatsächlich ohne sachlichen Grund ungleich behandelten oder gar diskriminierten; dies wird unterstellt. Wesentlich ist die Frage, welche Rechtsfolge sich nach der Rechtsprechung hieraus ergibt. Ihr allein soll hier kurz nachgegangen werden.
188
Die Analyse erscheint richtig, dass das BAG nach seiner bisherigen Rechtsprechung 189 sowohl bei Gleichheitsverstößen als auch bei Diskriminierungen eine Anpassung oder Angleichung „nach oben“ vornimmt; der Angehörige der Arbeitnehmergruppe, der im Verhältnis zu einer anderen bestimmte Rechte nicht oder nicht in gleicher Qualität eingeräumt oder ausdrücklich ganz oder teilweise vorenthalten werden, erhält die Rechte, die der begünstigten Gruppe tariflich zuerkannt werden2. Die bisherigen Ergebnisse der Rechtsprechung beruhen auf der Grundüberlegung, 190 dass ohne die von ihr vorgenommene Anpassung nach oben kein dem Gleichheitsgebot oder den Diskriminierungsverboten entsprechender Zustand herbeigeführt werden kann. Die beiden grundlegenden Einwände hiergegen werden gesehen aber nicht als durchschlagend bewertet: Es wird zu Recht betont, dass die TV-Parteien einen Normsetzungsvorrang haben und 191 ihn grundsätzlich auch behalten müssen3. Eine Regelungslücke, die aufgrund der festgestellten Nichtigkeit einer gleichheitswidrigen oder diskriminierenden tarifvertraglichen Rechtsvorenthaltung entstanden sei, müsse ebenso durch die TV-Parteien selbst geschlossen werden, wie es ihre Sache sei, auf einen neu unter dem Gesichtspunkt der Gleichstellungspflicht erkannten Regelungsbedarf zu reagieren. Es gebe für diese Regelungsaufgabe stets mehrere Regelungsalternativen, nämlich neben der Anpassung nach oben zumindest auch eine Regelung auf mittlerer Ebene und auch die Entscheidung, die bisherige Regelung, die die eine Arbeitnehmergruppe diskriminiert und eine andere begünstigt, zum Beispiel bei der Gewährung familienbezogener Ortszuschläge, ersatzlos entfallen zu lassen. Angesichts dessen scheide eine Lückenfüllung durch die Rechtsprechung in den hier behandelten Fällen stets aus4. 1 BAG v. 10.11.2011 – 6 AZR 148/09, NZA 2012, 161, im Anschluss an EuGH v. 8.9.2011 – Rs. C-297 und 298/10, NZA 2011, 1100 – Hennigs und Mai. 2 Der Analyse der Rechtsprechung zustimmend und deren bisherigen älteren Ergebnissen – teilweise widerstrebend – beitretend: Däubler/Winter, § 1 TVG Rz. 544; Wiedemann/Thüsing, TVG, Einleitung Rz. 166; Schleusener in Schleusener/Suckow/Voigt, § 7 AGG Rz. 44; Meinel/ Heyn/Helms, § 7 AGG Rz. 46; Wendeling-Schröder/Stein, § 7 AGG Rz. 20; Wiedemann/Wiedemann, TVG Einleitung Rz. 246 ff., der seine Zustimmung auf die Fälle der Diskriminierung durch TV beschränkt; kritisch demgegenüber insbesondere Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1518 ff.; Adomeit/Mohr, § 7 AGG Rz. 21; Bauer/Göpfert/Krieger, § 7 AGG Rz. 27; Bauer/ Krieger in FS Bepler, S. 8 ff. 3 Z.B. Wiedemann/Thüsing, TVG Einleitung Rz. 166; Wiedemann/Wiedemann, TVG, Einleitung Rz. 247; Adomeit/Mohr, § 7 AGG Rz. 21; Bauer/Krieger, FS Bepler, S. 10 f. 4 So prononciert Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1518 ff., 1523.
Bepler 225
Teil 3 Rz. 192
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
192 Eine Lückenfüllung im Sinne einer Anpassung nach oben aufgrund einer gleichheitswidrigen oder diskriminierenden Gruppenbildung komme im Übrigen auch deshalb in aller Regel nicht in Betracht, weil damit normalerweise die Belastungen aus den betreffenden TV in erheblichem Umfang erhöht würden gegenüber dem ursprünglichen Regelungsplan beider TV-Parteien1. Es entspreche deshalb in aller Regel gerade nicht dem für eine Lückenfüllung im Wege ergänzender Vertragsauslegung erforderlichen mutmaßlichen Willen beider TV-Parteien bei Tarifabschluss, die von ihnen vorgenommene Differenzierung im Wege einer Anpassung nach oben zu beseitigen. 193 Daneben wird auch beispielhaft auf höchst zweifelhafte bis absurde Ergebnisse einer „Anpassung nach oben“ hingewiesen2. 194 Andererseits weist insbesondere Herbert Wiedemann3 überzeugend auch auf die beteiligten Gegeninteressen hin, die für eine „Anpassung nach oben“ streiten: Neben den berechtigten Interessen der betroffenen Arbeitnehmer in Vergangenheit und Zukunft nicht sachwidrig ungleich oder diskriminierend, sondern so wie die Begünstigten behandelt zu werden, muss berücksichtigt werden, dass ein den gesellschaftlichen Zielvorstellungen entsprechender Zustand nicht erreicht werden wird, wenn es sich „nicht lohnt“, auf eine sachwidrige Ungleichbehandlung oder eine Diskriminierung mit einem Gang vor Gericht zu reagieren. 195 In seiner Entscheidung zu der BAT-Vergütungsordnung nach Altersstufen, in der die angeordnete „Anpassung nach oben“ wohl die bisher am weitesten gehenden tatsächlichen Konsequenzen hatte, hat sich der 6. Senat des BAG4 sowohl mit dem Normsetzungsvorrang der TV-Parteien als auch mit der durch eine „Anpassung nach oben“ eintretenden Mehrbelastung auseinandergesetzt. Im Ergebnis hat er angenommen, dass eine andere Lösung des Gleichheitsproblems im Sinne einer Herbeiführung eines diskriminierungsfreien Zustandes nicht möglich gewesen sei und auch nicht in Aussicht gestanden habe: Den begünstigten älteren Arbeitnehmern habe man den Anspruch auf ihr höchstes Grundgehalt nicht rückwirkend entziehen können: Die TV-Parteien hätten auch keine Anstalten gemacht, rückwirkend ein diskriminierungsfreies Vergütungssystem zu installieren. Eine gerichtlich verordnete Verpflichtung der TV-Parteien scheide schon angesichts von Art. 9 Abs. 3 GG aus. Durch eine Fristsetzung zu irgendeiner Neuregelung hätte den TV-Parteien auch nur eine Neuregelung für die Zukunft nahegelegt werden können. Die vorgenommene „Anpassung nach oben“ stehe im Übrigen auch in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, wenn dieser bisher auch im Wesentlichen nur auf Anpassungen der Rechte von Minderheiten an die besseren Rechte der Mehrheit gedrungen habe. Sie werde auch in der vorliegenden Fallkonstellation einer insgesamt altersdiskriminierenden Vergütungsregelung „der Vorgabe des Gerichtshofs, die diskriminierende Regelung außer Acht zu lassen und auf die durch die Diskriminierung benachteiligten Arbeitnehmer die gleiche Regelung wie auf die nicht benachteiligten 1 Auf die planwidrig erhöhten Kosten und Belastungen weisen neben den Genannten auch Meinel/Heyn/Helms, § 7 AGG Rz. 44 f. und Wendeling-Schröder/Stein, § 7 AGG Rz. 22 hin. 2 Bauer/Göpfert/Krieger, § 7 AGG Rz. 32; wobei allerdings Zweifel angebracht sind, ob alle dort aufgeführten Regelungen wirklich gerichtlich als altersdiskriminierend bewertet würden mit der Folge einer „Anpassung nach oben“. 3 Wiedemann/Wiedemann, TVG, Einleitung Rz. 246. 4 BAG v. 10.11.2011 – 6 AZR 148/09, NZA 2012, 161.
226 Bepler
Anfechtbarkeit und Nichtigkeit von Tarifvertrgen
Rz. 197 Teil 3
Arbeitnehmer anzuwenden, jedenfalls dann am ehesten gerecht, wenn die Tarifvertragsparteien von einer rückwirkenden Ersatzregelung absehen und von den nicht diskriminierten Arbeitnehmern deshalb und auf Grund tariflicher Ausschlussfristen sowie aus Gründen des Vertrauensschutzes Leistungen nicht mehr mit Aussicht auf Erfolg zurückgefordert werden“1 könnten. Auch die wirtschaftliche Mehrbelastung des verklagten Arbeitgebers durch die „Anpassung nach oben“ wird gesehen. Der Senat lässt aber offen, ob dieser Gesichtspunkt überhaupt im Ergebnis eine Rolle spielen kann. Angesichts eines Anteils der Mehrbelastungen von 1,8 % der gesamten Personalkosten hätten diese in keinem Falle ein hierfür ausreichendes Gewicht. Die Entscheidung stellt schließlich klar, dass es nicht deshalb ausgeschlossen ist, eine Diskriminierung mit der Rechtsfolge einer Anpassung nach oben anzunehmen, weil die benachteiligte Arbeitnehmergruppe groß und die Gruppe der gleichheitswidrig Begünstigten klein ist Das Urteil vom 10. November 2011 ist sicherlich nicht das letzte Wort zu der an- 196 gesprochenen Problematik in all ihren auch tatsächlich und regelungstechnisch sehr unterschiedlichen Konstellationen. Sie macht jedoch zumindest zwei wichtige Punkte deutlich: – Die Vorstellung, den TV-Parteien eine Frist zu einer den Gleichbehandlungsgeboten entsprechenden Neuregelung zu setzen und von ihr eine abschließende Entscheidung abhängig zu machen, führt schon rechtlich nicht zum Ziel. Sie bietet darüber hinaus nach aller Erfahrung angesichts der beteiligten Interessen auch keine hinreichend Wahrscheinlichkeit, dass es innerhalb einer angemessenen Frist zu einer solchen Neuregelung kommt. Dann steht aber das Gericht nach Fristablauf ebenso, wie es bei Fristsetzung stand. – Zu Recht hat das BAG nicht angenommen, eine ergänzende TV-Auslegung vorgenommen zu haben. Sie ist in Fällen wie dem vorliegenden aus den von den Rechtsprechungskritikern zutreffend genannten Gründen zumindest nicht mit dem von der Rechtsprechung gefundenen Ergebnis möglich. Die Rechtsprechung, die in Fällen von Gleichheitsverstößen der TV-Parteien eine „Anpassung nach oben“ anordnet, beruht auf dem durch das nationale wie das Unionsrecht vorgegebenen Rechtsbefehl, eine den Gleichstellungsgeboten entsprechende Ordnung herzustellen. Dieser überwindet den Normsetzungsvorrang der TV-Parteien jedenfalls dann, wenn diese nicht von sich aus gemeinsame und ernsthafte Anstrengungen unternehmen, zu einer entsprechenden tariflich geregelten Ordnung zu gelangen. Es spricht einiges dafür, dass die Frage der wirtschaftlichen Mehrbelastungen auch in 197 Zukunft nur selten eine Rolle spielen wird. Stellt man sie in Relation zu den gesamten Personalkosten, was dann richtig ist, wenn es um die Beseitigung einer Diskriminierung durch eine überkommene Vergütungsordnung geht, wird man kaum je eine Kostensteigerung feststellen können, die eine rechtserhebliche Störung der Geschäftsgrundlage bei Tarifabschluss ausmacht. Anders kann es sich verhalten, wenn eine bestimmte differenzierende Neuregelung im Mittelpunkt eines ändernden TVs stand, die sich im Nachhinein als gleichheitswidrig erweist. Hier könnte das Kostenvolumen dieses TVs der Vergleichsmaßstab sein.
1 BAG v. 10.11.2011 – 6 AZR 148/09, NZA 2012, 165, Rz. 32.
Bepler 227
Teil 3 Rz. 198
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
198 Die Überlegung, im Falle einer altersdiskriminierenden Vergütungsordnung eine mittlere Vergütung zu ermitteln1, indem man die altersbedingten Differenzierungen herausrechnet, hat nicht nur praktische Bedenken gegen sich. Sie entfernt sich – zwar nicht im Volumen, wohl aber in der Regelung – ebenso weit wie eine Anpassung nach oben vom gemeinsamen Regelungskonzept der TV-Parteien. Darüber hinaus – und dies spricht letztlich gegen alle einer Anpassung nach oben entgegengestellten Lösungsmodelle – erweitert sie die gesetzliche Anordnung, wonach die Bestimmungen, die gegen das Benachteiligungsverbot verstoßen, unwirksam sind, dahin, ein Regelwerk, das nach verpönten Merkmalen differenziert, sei als Ganzes unwirksam; auch der Begünstigte habe im Hinblick auf eine Verletzung des Diskriminierungsverbotes keinen gesicherten Rechtsanspruch. Entsprechendes gilt im Verhältnis zur Anwendung des Gleichheitssatzes: Auch hier geht es nicht darum, eine günstige Behandlung der einen zu verhindern, sondern die anderen unter im Übrigen gleichen Bedingungen nicht ohne sachlichen Grund schlechter zu stellen. Beide Einschätzungen hindern nicht, ein sachwidrig differenzierendes System „auf mittlerer Ebene“ neu zu justieren. Es sind aber keine rechtlichen Gesichtspunkte dafür erkennbar, den besonders günstig Behandelten bis zu einer Neuregelung etwas wegzunehmen. 199 Nach alledem spricht viel dafür, es in den typischen, aber nicht gerade täglich vorkommenden Fällen eines Gleichheitsverstoßes der TV-Parteien grundsätzlich bei einer „Anpassung nach oben“ zu belassen und bei hierdurch nach Qualität und Quantität besonders gewichtigen Veränderungen des ursprünglich übereinstimmend Gewollten die Möglichkeit der außerordentlichen fristlosen TV-Kündigung zu eröffnen, wenn Anpassungsverhandlungen in angemessener Zeit nicht zum Erfolg geführt haben (vgl. näher Rz. 231 ff.). Das Problem der Nachwirkung des nach oben angepassten TVs muss im (Massen-)Änderungskündigungsrecht bewältigt werden. Hier wird man, was die Angemessenheit des Änderungsangebots angeht, dem Arbeitgeber einen gewissen Freiraum lassen müssen, wenn er nur das ursprünglich angestrebte TV-Volumen nicht unterschreitet und nicht erneut Gleichbehandlungs- oder Diskriminierungsverbote verletzt.
G. Das Ende der zwingenden Tarifgeltung I. „Automatische“ Beendigungen durch Veränderungen bei den Tarifvertragsparteien? 200 Es ist grundsätzlich ausgeschlossen, dass TVe allein deshalb enden, weil es zu Veränderungen auf Seiten einer oder beider TV-Parteien gekommen ist. Dies kann im Einzelfall zur Einschränkung oder zum Wegfall des Anwendungsbereichs solcher TVe führen; sie werden gegenstandslos. Eine außerordentliche Beendigung des auf Zeit abgeschlossenen, normativ wirkenden TVs ergibt sich daraus nicht. 201 Dies gilt zunächst für den Fall, dass ein Unternehmen, sei es an einen Flächen-, sei es an einen HausTV gebunden, seine Geschäftstätigkeit völlig einstellt und sich wirksam von allen Beschäftigten trennt. Hier werden die tarifvertraglichen Regelungen,
1 So der Vorschlag von Bauer/Krieger, FS Bepler, S. 12.
228 Bepler
Teil 3 Rz. 198
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
198 Die Überlegung, im Falle einer altersdiskriminierenden Vergütungsordnung eine mittlere Vergütung zu ermitteln1, indem man die altersbedingten Differenzierungen herausrechnet, hat nicht nur praktische Bedenken gegen sich. Sie entfernt sich – zwar nicht im Volumen, wohl aber in der Regelung – ebenso weit wie eine Anpassung nach oben vom gemeinsamen Regelungskonzept der TV-Parteien. Darüber hinaus – und dies spricht letztlich gegen alle einer Anpassung nach oben entgegengestellten Lösungsmodelle – erweitert sie die gesetzliche Anordnung, wonach die Bestimmungen, die gegen das Benachteiligungsverbot verstoßen, unwirksam sind, dahin, ein Regelwerk, das nach verpönten Merkmalen differenziert, sei als Ganzes unwirksam; auch der Begünstigte habe im Hinblick auf eine Verletzung des Diskriminierungsverbotes keinen gesicherten Rechtsanspruch. Entsprechendes gilt im Verhältnis zur Anwendung des Gleichheitssatzes: Auch hier geht es nicht darum, eine günstige Behandlung der einen zu verhindern, sondern die anderen unter im Übrigen gleichen Bedingungen nicht ohne sachlichen Grund schlechter zu stellen. Beide Einschätzungen hindern nicht, ein sachwidrig differenzierendes System „auf mittlerer Ebene“ neu zu justieren. Es sind aber keine rechtlichen Gesichtspunkte dafür erkennbar, den besonders günstig Behandelten bis zu einer Neuregelung etwas wegzunehmen. 199 Nach alledem spricht viel dafür, es in den typischen, aber nicht gerade täglich vorkommenden Fällen eines Gleichheitsverstoßes der TV-Parteien grundsätzlich bei einer „Anpassung nach oben“ zu belassen und bei hierdurch nach Qualität und Quantität besonders gewichtigen Veränderungen des ursprünglich übereinstimmend Gewollten die Möglichkeit der außerordentlichen fristlosen TV-Kündigung zu eröffnen, wenn Anpassungsverhandlungen in angemessener Zeit nicht zum Erfolg geführt haben (vgl. näher Rz. 231 ff.). Das Problem der Nachwirkung des nach oben angepassten TVs muss im (Massen-)Änderungskündigungsrecht bewältigt werden. Hier wird man, was die Angemessenheit des Änderungsangebots angeht, dem Arbeitgeber einen gewissen Freiraum lassen müssen, wenn er nur das ursprünglich angestrebte TV-Volumen nicht unterschreitet und nicht erneut Gleichbehandlungs- oder Diskriminierungsverbote verletzt.
G. Das Ende der zwingenden Tarifgeltung I. „Automatische“ Beendigungen durch Veränderungen bei den Tarifvertragsparteien? 200 Es ist grundsätzlich ausgeschlossen, dass TVe allein deshalb enden, weil es zu Veränderungen auf Seiten einer oder beider TV-Parteien gekommen ist. Dies kann im Einzelfall zur Einschränkung oder zum Wegfall des Anwendungsbereichs solcher TVe führen; sie werden gegenstandslos. Eine außerordentliche Beendigung des auf Zeit abgeschlossenen, normativ wirkenden TVs ergibt sich daraus nicht. 201 Dies gilt zunächst für den Fall, dass ein Unternehmen, sei es an einen Flächen-, sei es an einen HausTV gebunden, seine Geschäftstätigkeit völlig einstellt und sich wirksam von allen Beschäftigten trennt. Hier werden die tarifvertraglichen Regelungen,
1 So der Vorschlag von Bauer/Krieger, FS Bepler, S. 12.
228 Bepler
Das Ende der zwingenden Tarifgeltung
Rz. 204 Teil 3
soweit sie nicht über das Arbeitsvertragsende hinaus wirken sollen, gegenstandslos; die tarifvertraglich begründeten Normen als solche bleiben bestehen1. Ob bei der Auflösung eines von mehreren Unternehmen gebildeten Gemeinschafts- 202 betriebes nach § 1 Abs. 2 BetrVG ein auf den Gemeinschaftsbetrieb bezogener und unter Beteiligung dieser Unternehmen abgeschlossener TV anwendbar bleibt, ist keine Frage der – fortbestehenden – Tarifgeltung, sondern der Auslegung der Geltungsbereichsregelungen des betreffenden TVs: Wollten die TV-Parteien den TV nur für den Gemeinschaftsbetrieb und die dort zu vollziehenden Arbeitsverhältnisse schaffen, hat der TV mit der Auflösung des Gemeinschaftsbetriebes keinen Anwendungsbereich mehr; der TV selbst erlischt deshalb aber nicht; bei Wiederbegründung des Gemeinschaftsbetriebes, ohne dass zwischenzeitlich der TV ausgelaufen wäre, wird dieser wieder anwendbar. Ging es den TV-Parteien aber darum, für die Arbeitnehmer der am Gemeinschaftsbetrieb beteiligten Unternehmen unabhängig von ihrem aktuellen Beschäftigungsbetrieb tarifliche Mindestarbeitsbedingungen zu schaffen, handelt es sich zumindest auch um einen echten mehrgliedrigen TV, der in den fortbestehenden Arbeitsverhältnissen auch nach Auflösung des Gemeinschaftsbetriebes weiter gilt. Für ein dahingehendes Verständnis spricht etwa, wenn die am Gemeinschaftsbetrieb beteiligten Arbeitgeber nur dort, im Gemeinschaftsbetrieb, Arbeitnehmer beschäftigten, wenn es für jeden am Tarifabschluss beteiligten Arbeitgeber ein eigenes Kündigungsrecht hinsichtlich dieses TVs gibt, und wenn der TV im Wesentlichen allgemeine, nicht speziell auf die Besonderheiten der Zusammenarbeit in Gemeinschaftsbetrieb gerichtete Bestimmungen enthält2. Der Wegfall der Tariffähigkeit oder der Tarifzuständigkeit eines an Tarifabschlüssen be- 203 teiligten Verbandes führt nicht ohne weiteres zum Erlöschen der von ihm abgeschlossenen TVe; es ist erforderlich, aber auch ausreichend, wenn TVe von tariffähigen Verbänden im Rahmen ihrer satzungsmäßigen Zuständigkeit abgeschlossen wurden3. Die spätere Entwicklung bei den tarifschließenden Verbänden ändert nichts daran, dass einem derart zustande gekommenen TV unverändert die hinter den genannten Abschlussvoraussetzungen stehende Angemessenheitsvermutung zukommt. Es gibt auch beide Vertragsparteien des TVs noch. Eine von ihnen ist lediglich nicht mehr in der Lage, einen ablösenden TV im Rechtssinne abzuschließen. Ob sich allein daraus ein Recht der anderen TV-Partei ergibt, den TV außerordentlich zu kündigen, mag man erwägen können4. Die spätere Entwicklung allein ist jedenfalls ebenso unerheblich für den Fortbestand 204 eines ordnungsgemäß zustande gekommenen TVs wie das Abstreifen der Tarifgebundenheit durch den einzelnen Arbeitgeber nach Tarifabschluss durch Verbandsaustritt oder Statuswechsel in die OT-Mitgliedschaft. Insoweit bestimmt § 3 Abs. 3 TVG ausdrücklich, dass die bei Ende der Tarifgebundenheit bestehenden TVe bis zu ihrem En-
1 Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 208 Rz. 10; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 14; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 77. 2 Für ein generelles Fortbestehen in solchen Fällen Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 77; ausnahmslos für ein Ende des betreffenden TVs Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 385. 3 C. Schubert in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 2 Rz. 32; a.A. HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 27 [Fn. 6]; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 168, § 1 TVG Rz. 1398. 4 So C. Schubert in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 2 Rz. 32 und – hilfsweise – Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 168, § 1 TVG Rz. 1398.
Bepler 229
Teil 3 Rz. 205
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
de – zwingend – weitergelten. Auf diese Weise wird die Kontinuität der auch durch die später ausgetretenen Mitgliedsunternehmen legitimierten TVe sichergestellt. Gelegentlich wird die Möglichkeit angesprochen, es könne zu einem automatischen Wegfall eines HausTVs führen, wenn der am Tarifabschluss beteiligte Arbeitgeber ersatzlos, d.h. insbesondere ohne Rechtsnachfolger, wegfalle1. Dazu mag es in ganz außergewöhnlichen Fallkonstellationen kommen. Für den Normalfall gilt aber im deutschen Recht, dass Rechtssubjekte nicht ohne weiteres ersatzlos erlöschen. Als natürliche Person werden sie beerbt. Juristische Personen müssen als Liquidationsgesellschaften abgewickelt werden. Ein Erlöschen wegen Wegfalls eines Vertragspartners eines HausTVs, bei dem die Wertung des § 3 Abs. 3 TVG keine Rolle spielt, kommt deshalb nur dann in Betracht, wenn eine juristische Person, die als Partei des HausTVs bisher einen Betrieb unterhielt, diesen stilllegt und sodann liquidiert wird. 205 Auf vergleichbaren Erwägungen, die hier aber um die Grundwertung aus § 3 Abs. 3 TVG angereichert sind, beruht die Annahme der neueren Rechtsprechung, die Auflösung eines Arbeitgeberverbandes führe nicht ohne Weiteres zur Beendigung der von dem Verband abgeschlossenen und für die Mitgliedsunternehmen nach § 3 Abs. 1 TVG und § 4 Abs. 1 TVG normativ wirkenden TVe2. Der Verband muss – notfalls im Zuge seiner Liquidation – die unter seiner Beteiligung abgeschlossenen TVe kündigen. Bis zum Wirksamwerden der Kündigung gilt der TV nach § 3 Abs. 1 TVG weiter, es sei denn, das Liquidationsverfahren wäre vorher beendet worden. In diesem Falle gilt der TV bis zum Ablauf der Kündigungsfrist vollwirksam nach § 3 Abs. 3 TVG. Die an der Liquidation beteiligten Verbandsmitglieder werden im Ergebnis so behandelt, als wären sie jeweils einzeln aus dem Tarifbindung vermittelnden Arbeitgeberverband ausgetreten3. Ein anderes Ergebnis stünde im Wertungswiderspruch zu § 3 Abs. 3 TVG. 206 Die bei der Gründung von ver.di als Fusion vorher selbstständiger Einzelgewerkschaften unter Ausschluss von Auflösung und Abwicklung aufgetretene Frage, was aus den von diesen Einzelgewerkschaften abgeschlossenen TVen wird, hat das BAG mit der ganz herrschenden Meinung in der Literatur dahin entschieden, dass diese TVe fortgelten; bei den an sie gebundenen Mitgliedern der Gründungsgewerkschaften setzt sich die Tarifgebundenheit aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der aufnehmenden Gewerkschaft ver.di fort4. 1 Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 81 m.w.N. 2 BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 312/01, NZA 2008, 774, unter Aufgabe seiner gegenteiligen Rechtsprechung (BAG v. 15.10.1986 – 4 AZR 289/85, NZA 1987, 246 = AP TVG § 3 Nr. 4 mit Anm. Wiedemann, und BAG v. 28.5.1997 – 4 AZR 545/95, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 27 und 4 AZR 546/95, NZA 1998, 40); zustimmend C. Schubert in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 2 Rz. 22 ff. m.w.N. 3 Ebenso auch Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 84; Kempen in Kempen/Zachert, § 3 TVG Rz. 85; C. Schubert in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 2 Rz. 22 ff. m.w.N.; Schumann in Berg/Kocher/Schumann, § 4 TVG Rz. 297; Dierßen in Berg/Kocher/Schumann, § 3 Rz. 82. 4 BAG v. 11.5.2005 – 4 AZR 315/04, NZA 2005, 1362 = AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 30 mit Anm. Jacobs = RdA 2007, 47 mit Anm. Moll; im Ergebnis ebenso Rieble, AuR 1990, 365; sowie Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 87 f., dessen Auffassung überzeugt, eine Gewerkschaftsfusion unterliege im Hinblick auf den besonderen Bestandschutz für Koalitionen in ihrer historisch gewachsenen Form aus Art. 9 Abs. 3 GG in entsprechender Anwendung der §§ 99 ff. UmwG keinem Zwang zu vorheriger Selbstauflösung und Begründung neuer Mitgliedschaften, auch wenn es sich um den Zusammenschluss nicht rechtsfähiger Vereine handele.
230 Bepler
Das Ende der zwingenden Tarifgeltung
Rz. 208 Teil 3
II. Die ordentlichen Beendigungsformen 1. Ordentliche Kündigung und Befristung TVe sind in aller Regel „Friedensverträge auf Zeit“. Sie regeln aktuell und für einen 207 von den TV-Parteien festgelegten Zeitraum in der Zukunft in beiderseits tarifgebundenen Arbeitsverhältnissen, was dort zwingend als Mindestarbeitsbedingungen gelten und was für diese Zeit schuldrechtlich zwischen den TV-Parteien maßgebend sein soll. Dabei werden die TVe in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle nicht einfach befristet oder auch auflösend bedingt1 abgeschlossen („Der Tarifvertrag endet am 31. Dezember 2013“ oder „Der Tarifvertrag endet mit der Veröffentlichung einer Feststellung des Statistischen Bundesamtes, wonach seit Inkrafttreten des Tarifvertrages eine allgemeine Preissteigerung um mehr als 5,0 % eingetreten ist.“2). Sehr viel häufiger dürften TVe auf unbestimmte Zeit sein, die eine bestimmte Kündigungsfrist festlegen und zu einem bestimmten Zeitpunkt erstmals ordentlich kündbar gestellt werden (z.B. § 39 Abs. 2 TVöD: „Dieser Tarifvertrag kann von jeder Tarifvertragspartei mit einer Frist von drei Monaten zum Schluss eines Kalenderhalbjahres schriftlich gekündigt werden, frühestens jedoch zum 31. Dezember 2009.“). Solche Regelungen können auch mit einer Verlängerungsklausel versehen sein, die für den Fall, dass von dem eingeräumten Kündigungsrecht kein Gebrauch gemacht wird, eine Verlängerung der durch ordentliche Kündigung nicht abkürzbaren Mindestlaufzeit vorsehen3. Umgekehrt ist insbesondere für (Haus-)SanierungsTVe aber auch denkbar, TVe für eine bestimmte – in der Sache dann – Höchstlaufzeit abzuschließen und während der Laufzeit eine Kündigungsmöglichkeit zu eröffnen4. Auf einzelne Regelungsbereiche bezogene Teilkündigungen sind bei TVen grundsätz- 208 lich ausgeschlossen, es sei denn, der TV eröffnet selbst eine solche an sich zulässige Gestaltungsmöglichkeit5, was nicht selten geschieht. So hat etwa der TV für den öffentlichen Dienst (TVöD) in § 39 für eine Vielzahl von Regelungen, insbesondere zur Arbeitszeit, Teilkündigungsrechte eröffnet. 1 Zu dieser selten praktizierten, aber in den dem allgemeinen Recht zu entnehmenden Grenzen zulässigen Beendigungsform vgl. nur Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 18 f.; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1357 ff.; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 75. 2 Hierzu etwa Oetker in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 8 Rz. 4 m.w.N.; es liegt allerdings näher, das hier angestrebte Regelungsziel über eine Revisionsklausel, also ein vorherige Anpassungsverhandlungen voraussetzendes Lossagungsrecht zu verfolgen; eine haustarifvertragliche Revisionsklausel mit Nachverhandlungspflicht behandelt BAG v. 14.11.1958 – 1 AZR 247/57, DB 1959, 114. 3 Die in die Literatur häufiger erörterte Frage, für welchen Zeitraum höchstens man auf diese Weise einen TV ordentlich unkündbar stellen kann, ohne dass die TV-Parteien, was ihnen nicht eröffnet ist, den Kernbereich ihrer Normsetzungsbefugnis aufgeben (vgl. hierzu auch BAG v. 10.11.1982 – 4 AZR 1203/79, DB 1983, 717), dürfte nur selten praktisch werden. Die hier erwogene, an § 624 BGB orientierte Höchstfrist von fünf Jahren (Hanau/Kania, DB 1995, 1229 [1230]; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 107b) erscheint aber zur Sicherung einer ausreichenden Handlungsfähigkeit bei der Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen plausibel. 4 So der HausTV, der Gegenstand des Urteils des BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, NZA 2010, 238, war. 5 BAG v. 3.5.2006 – 4 AZR 795/05, NZA 2006, 1125 m.w.N.; BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, NZA 2007, 987; Oetker in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 8 Rz. 15; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 25; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1385 f.
Bepler 231
Teil 3 Rz. 209
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
a) Kündigungszuständigkeit 209 Befugt, einen TV zu kündigen oder eine TV-Kündigung entgegenzunehmen, sind grundsätzlich nur die im TV selbst benannten TV-Parteien und ihre Gesamtrechtsnachfolger1. Bei mehrgliedrigen TVen, bei denen am Tarifabschluss auf einer oder beiden Seiten mehrere Verbände oder Arbeitgeber beteiligt gewesen sind, ist im Zweifel jeder von ihnen zur Kündigung befugt2. Eine derartige Kündigung kann dann aber auch nur für den gekündigten TV wirken, der im Verhältnis zwischen dem Kündigenden und der Gegenseite gilt. Die übrigen, im mehrgliedrigen TV gebündelten TVe bleiben vollwirksam bestehen. Die TV-Parteien können die Ausübung des Kündigungsrechts aber auch den TV-Parteien einer Seite nur gemeinsam zuweisen; in einem solchen Fall spricht man von einem EinheitsTV. Eine solche Regelung, die typischerweise schon deshalb die Ausnahme darstellt, weil eine TV-Partei sich im Zweifel bei ihrer tariflichen Rechtssetzungsaufgabe auch nicht auf Zeit an die Mitwirkung Dritter bindet, ist verbindlich und beschränkt die Kündigungsbefugnis auch im Außenverhältnis wirksam. 210 Dass die Kündigungszuständigkeit sich nur auf die am Tarifabschluss Beteiligten und ihre Gesamtrechtsnachfolger erstreckt, ist für VerbandsTVe insgesamt unstrittig. Dies gilt auch dann, wenn ein an einen Verbandstarif gebundener Arbeitgeber seinen Betrieb auf einen nicht tarifgebundenen Betriebserwerber überträgt. Hier entsteht für den Betriebserwerber kein besonderes, sich auf die nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB transformierten Tarifregelungen beziehendes Kündigungsrecht. Fraglich ist geworden, ob dies auch dann gilt, wenn es sich bei den transformierten Tarifregelungen um solche eines HausTVs handelt. Das BAG hat dies bejaht3. Peter Hanau und Sandy Strauß4 nehmen demgegenüber an, das tarifliche Kündigungsrecht, das auf den normativen Tarifbestand einwirke, gehöre als solches auch zum normativen Teil eines TVs. Es werde deshalb auch Teil des in das Arbeitsverhältnis transformierten normativen Tarifrechts (§ 613a Abs. 1 Satz 2 BGB). Als solches könne es dann aber auch von und gegenüber dem Erwerber ausgeübt werden, auch wenn dieser nicht Gesamtrechtsnachfolger des Betriebsveräußerers sei. 211 Es bleibt abzuwarten, ob das BAG sich dieser Rechtsauffassung, die den Vorteil der einfacheren Handhabung für sich hat, anschließt. Dies dürfte allerdings nur für den – vom BAG anders entschiedenen – Fall in Betracht kommen, dass der Erwerber die gesamten betrieblichen Aktivitäten der ursprünglichen HausTV-Partei übernimmt. Bleibt bei einem Betriebsteil-Veräußerer ein Anwendungsbereich für den HausTV, dürften die Gesichtspunkte, die Hanau und Strauß gegen eine Kündigungsbefugnis des Erwerbers bei ursprünglicher Bindung an einen VerbandsTV angeführt haben, entsprechend gelten.
1 Statt aller Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 21; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 110. 2 BAG v. 8.11.2006 – 4 AZR 590/05, NZA 2007, 576; BAG v. 7.5.2008 – 4 AZR 229/07, ZTR 2008, 615; Oetker, RdA 1995, 82 (100 f.); Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 16, 27. 3 BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, AP BGB § 613a Nr. 376; zustimmend Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 110a. 4 Hanau/Strauß, FS Bepler, 2012, S. 199 (202 ff.).
232 Bepler
Das Ende der zwingenden Tarifgeltung
Rz. 213 Teil 3
b) Kündigungsfristen Eine Mindestkündigungsfrist ist für eine Beendigung durch ordentliche Kündigung 212 von Gesetzes wegen ebenso wenig ausdrücklich vorgeschrieben wie eine besondere Kündigungsform. Üblicherweise bestimmen die TV-Parteien selbst, dass Kündigungen innerhalb einer bestimmten Frist und schriftlich oder auch durch eingeschriebenen Brief erfolgen müssen. Fehlt ausnahmsweise eine ausdrückliche Regelung zur Kündigungsfrist, tendiert die Rechtsprechung im Einklang mit der Wissenschaft dazu, eine ordentliche Kündigungsmöglichkeit stets zuzulassen und die Regelkündigungsfrist von drei Monaten für Betriebsvereinbarungen aus § 77 Abs. 5 BetrVG entsprechend heranzuziehen1, wobei mangels dort festgelegtem Kündigungstermin der Fristablauf nach § 187 Abs. 1 BGB zu ermitteln ist. Wird die Kündigungsfrist in der Erklärung nicht eingehalten, ergibt sich aber durch Auslegung der Kündigungserklärung, dass eine ordentliche Kündigung des TVs beabsichtigt war, wirkt die Kündigung im Zweifel ohne weiteres zum richtigen Zeitpunkt2. Einer Umdeutung bedarf es nicht, weil die Angabe eines Kündigungsendtermins im Zweifel nur eine – unrichtige – Wissenserklärung ist, was das vermeintliche Ende der ordentlichen Kündigungsfrist angeht. Sie ist nicht Teil der rechtsgeschäftlichen ordentlichen Kündigungserklärung3. c) Schriftform Eine im TV vorgesehene Schriftform für die TV-Kündigung, die keiner Begründung 213 bedarf, ist im Zweifel Wirksamkeitsbedingung (§ 125 Satz 2 BGB)4. Aber auch wenn sie nicht ausdrücklich vorgesehen ist, bedürfen TV-Kündigungen grundsätzlich der Schriftform. Zwar mag beim Schriftformgebot des § 1 Abs. 2 TVG die Publizitätsfunktion nicht im Vordergrund stehen5. Die Bestimmung ist jedoch auch hier zu Grunde zu legen. Die Beweisprobleme, die sich aus einer Möglichkeit ergeben, TVe auch nur mündlich wirksam zu kündigen, und der Schwebezustand, der während eines Konflikts über eine derartige Kündigung einträte, können im Interesse einer funktionsfähigen Tarifautonomie mit ihrer Wirkung in Rechtsverhältnissen Dritter grundsätzlich nicht hingenommen werden. Das Schriftformgebot des § 1 Abs. 2 TVG ist als eine das TV-Recht prägende und für eine funktionierende Tarifautonomie notwendige Grundentscheidung zu verstehen und deshalb entsprechend auch als Gebot für den 1 Zuletzt BAG v. 18.6.1997 – 4 AZR 710/95, NZA 1997, 1234; siehe auch BAG v. 15.4.2008 – 9 AZR 159/07, DB 2009, 800; Däubler/Deinert, § 1 TVG Rz. 109; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht Band I, S. 770; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 25; Stein in Kempen/Zachert, § 4 TVG Rz. 178; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1383; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 24; es kann in Einzelfällen aber auch Ergebnis der Auslegung von TVen mit besonderem Regelungsgehalt sein, dass eine entfristete Vertragsaufsage möglich sein soll, vgl. dazu Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1435. 2 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 23; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 115. 3 Dies ist allerdings im arbeitsvertraglichen Kündigungsrecht nicht geklärt; wie hier BAG v. 15.12.2005 – 2 AZR 148/05, BAGE 116, 336; BAG v. 9.9.2010 – 2 AZR 714/08, BAGE 135, 278 = NZA 2011, 343; vom umgekehrten Regel/Ausnahmeverhältnis als Grundlage der Auslegung einer die gebotene Frist unterschreitenden Kündigungserklärung BAG v. 15.5.2013 – 5 AZR 130/12, NZA 2013, 1076. 4 A.A. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 23. 5 Thüsing (Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 319) spricht der Bestimmung sogar jede Publizitätsfunktion ab.
Bepler 233
Teil 3 Rz. 214
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
Ausspruch von TV-Kündigungen heranzuziehen1. Die Gegenauffassung geht davon aus, es handele sich bei § 1 Abs. 2 TVG um eine abschließende Regelung der Formbedürftigkeit nur des TVs selbst, die keine ausweitende Anwendung erlaube, sondern einen Umkehrschluss nahelege2. d) Vertreterkündigungen 214 Kündigungen von TVen unterliegen den Bestimmungen des BGB. Sie sind als auslegungsbedürftige (§§ 133, 157 BGB) Gestaltungserklärungen bedingungsfeindlich und können durch Vertreter erklärt werden. Die Zurückweisung einer in Vertretung ausgesprochenen TV-Kündigung nach § 174 BGB ist an sich möglich, wenn der Kündigungserklärung eine Vollmachturkunde nicht beigelegt worden ist. Regelmäßig wird die Erklärung zwar im laufenden Tarifgeschäft durch eine für die Gegenseite erkennbar berechtigte Person erfolgen; der Erklärungsgegner wird im Allgemeinen vorab über die erklärungsbefugten Personen der gegenüber stehenden zuständigen Organisation oder Unterorganisation hinreichend informiert sein. Auch ohne eine solche förmliche Information wird eine Zurückweisung nach § 174 BGB wegen Fehlens einer Vollmachturkunde in aller Regel ausscheiden, wenn die Person, die für die gegnerische Organisation den TV abgeschlossen hat, auch die Kündigung erklärt. Gleichwohl sollte wegen der Bedeutung einer TV-Kündigung für Dritte einer Kündigungserklärung durch einen Vertreter grundsätzlich eine Vollmachturkunde beigefügt werden. 2. Beendigung durch Aufhebungsvertrag 215 Als Herren ihres Vertrages können die TV-Parteien dessen zwingende Wirkung auch jederzeit und ohne Einhaltung einer Frist einvernehmlich, also durch Aufhebungsvertrag, beenden. In einer älteren Entscheidung hatte das BAG angenommen, ein solcher Aufhebungsvertrag sei formfrei möglich3. Es hat angenommen, wenn die Kündigung eines TVs ohne Einhaltung einer Form erfolgen könne, könne auch dessen einvernehmliche Beendigung keinem Formzwang unterliegen. Das überzeugt schon vom Ansatz her nicht, folgt man der hier vertretenen Auffassung, dass auch TV-Kündigungen entsprechend § 1 Abs. 2 TVG formbedürftig sind. Aber selbst wenn man mit der Gegenmeinung von der Formfreiheit von Kündigungserklärungen ausgeht, spricht alles dafür, für Aufhebungsverträge zur Beendigung der zwingenden Tarifgeltung einen Formzwang nach § 1 Abs. 2 TVG anzunehmen: § 6 und § 7 TVG verlangen ausdrücklich für Aufhebungsverträge der TV-Parteien ebenso wie für den Abschluss und die Änderung von TVen, dass sie zum Tarifregister gemeldet werden müssen. Angesichts der äußerst zurückhaltenden Regelung von Publizitätspflichten im TV-Recht spricht bereits diese gesetzliche Gleichstellung dafür, sie auch bei § 1 Abs. 2 TVG vorzunehmen4. Darüber 1 Ebenso Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1443; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 111; Däubler/Reim/ Nebe, § 1 Rz. 171 f.; Zeibig/Zachert in Kempen/Zachert, § 1 Rz. 1014; in der Tendenz auch Schaub/Treber ArbR-Hdb., § 208 Rz. 7. 2 So etwa Wiedemann/Thüsing, § 1 Rz. 319; Wank in FS Schaub, S. 761, 775; Heilmann/Schoof in Berg/Kocher/Schumann, § 1 Rz. 92; Stein in Kempen/Zachert, § 4 Rz. 189 m.w.N. 3 BAG v. 8.9.1976 – 4 AZR 359/75, BB 1977, 94 = AP TVG § 1 Form Nr. 5 mit Anm. Wiedemann. 4 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 15; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 97; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1442; Stein in Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 190; Oetker in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 8 Rz. 7.
234 Bepler
Das Ende der zwingenden Tarifgeltung
Rz. 219 Teil 3
hinaus stellt normalerweise jeder Aufhebungsvertrag zumindest insoweit auch einen Abänderungsvertrag dar, der unstreitig dem Schriftformzwang unterfällt1, als er die Laufzeitbestimmungen des aufgehobenen TVs einvernehmlich abändert, weshalb er im Interesse der Tarifunterworfenen einer unproblematischen Beweisbarkeit bedarf. 3. Wirkungsbeendigung durch anderweitigen Tarifabschluss In einem schon länger tariflich geregelten Bereich beenden neu abgeschlossene TVe 216 regelmäßig die Geltung von Vorgängernormen. War die Vorgängerregelung bereits gekündigt und war die Kündigungsfrist abgelaufen, sind von den Parteien dieses TVs abgeschlossene Neuverträge „andere Abmachungen“ i.S.v. § 4 Abs. 5 TVG und beenden dessen normative, aber abdingbare Nachwirkung. War der VorgängerTV nicht gekündigt worden, ist der NachfolgeTV im Zweifel zugleich als Aufhebungsvertrag für die Vorgängerregelung auszulegen2, ein Ergebnis, das man begrifflich aus der Anwendung des im Verhältnis zwischen denselben TV-Parteien geltenden Ablösungs- bzw. Ordnungsprinzips oder der Zeitkollisionsregel herleiten kann3. Das Günstigkeitsprinzip ist im Verhältnis zweier von denselben Vertragsparteien stammenden TVen nicht anwendbar4. Im Einzelfall kann problematisch sein, in welchem Umfang ein vorausgegangener TV 217 durch eine Neuregelung tatsächlich in der beschriebenen Weise beendigt wird. Auch dies muss durch Auslegung des neuen TVs geklärt werden: Haben die TV-Parteien ihren TV in gleicher Weise wie eine ältere Regelung bezeichnet (z.B. MantelTV, EntgeltrahmenTV o.Ä.), sind, wenn sie in ihrem neuen Regelwerk nichts Abweichendes festgelegt haben, alle Bestimmungen der Vorgängerregelung aufgehoben. Schweigt die Neuregelung zu einem Regelungskomplex, der bisher behandelt worden war, ist dieses Schweigen im Zweifel beredt, die Vorgängerbestimmungen hierzu sind aufgehoben. Schwieriger wird es, wenn die TV-Parteien ihrer Neuregelung eine neue, bislang so 218 nicht verwendete Bezeichnung vorangestellt haben, oder wenn sie erkennbar mehrere Regelungskomplexe, die bisher in verschiedenen TVen behandelt worden waren, in einem Normenwerk zusammengefasst haben. Hier ist, wenn ausdrückliche Festlegungen der TV-Parteien fehlen, nach Regelungsbereichen, ähnlich der Aufteilung für den Sachgruppenvergleich bei der Anwendung des Günstigkeitsprinzips, zu entscheiden. Im Zweifel wollen TV-Parteien nicht innerhalb desselben Sachbereichs Regelungen aus unterschiedlichen Regelwerken zur Anwendung gebracht wissen. Neuregelungen in einem Sachbereich heben die hierauf bezogenen Altregelungen, in welchem von den TV-Parteien abgeschlossenen TV auch immer sie sich zuvor fanden, auf. Nicht behandelte Regelungskomplexe aus Altverträgen bleiben bei dieser Fallgestaltung im Zweifel voll wirksam bestehen. Dass Neuregelungen derselben TV-Parteien deren Altregelungen aufheben, ist das 219 wohl typische Ergebnis der Tarifauslegung. Es sind aber auch andere Regelungsinhal1 So auch BAG v. 21.3.1973 – 4 AZR 225/72, AP TVG § 4 Geltungsbereich Nr. 12 mit Anm. Kraft. 2 Zu einer besonderen Fallkonstellation BAG v. 22.1.2003 – 10 AZR 227/02, ZTR 2003, 292. 3 So etwa Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1367. 4 Statt aller BAG v. 14.10.2003 – 9 AZR 678/02, unter A II 3a) der Gründe, AP TVG § 1 TVe: Lufthansa Nr. 31; Ahrendt, RdA 2012, 129 (133); Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 77.
Bepler 235
Teil 3 Rz. 220
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
te denkbar. Es steht den TV-Parteien frei, Normenwerke für einen vorübergehenden Zeitraum zu schaffen, mit der erkennbaren Absicht, dass nach diesem Zeitraum die alte Regelung wieder wirken soll. In einem solchen Fall, der durch einen tarifvertraglichen Ausschluss der Nachwirkung in der Neuregelung eindeutig indiziert ist, findet entsprechend dem Willen der TV-Parteien keine Aufhebung der Altregelung statt, sondern lediglich deren Verdrängung auf Zeit. Die Altregelung bleibt als solche wirksam. Die dort geregelten Rechte und Pflichten werden deshalb auch zusammen mit denen aus der Neuregelung im Zuge eines Betriebsüberganges auf einen nicht tarifgebundenen Betriebserwerber in die Arbeitsverhältnisse der übernommenen Arbeitnehmer transformiert; nach Ablauf der Neuregelung werden sie im übergegangenen Arbeitsverhältnis wieder voll wirksam1. 220 Zu den zuletzt angesprochenen Fallgestaltungen wird es insbesondere im Zuge haustarifvertraglicher Regelungen kommen. Hier ist die Rechtslage im Ausgangspunkt etwas anders: Ein Arbeitgeber, der an einen FlächenTV durch Verbandsmitgliedschaft gebunden ist, verliert hierdurch jedenfalls im hier allein interessierenden Außenverhältnis zum sozialen Gegenspieler nicht seine Fähigkeit, in eigenem Namen HausTVe abzuschließen2. Er bleibt aber auch nach Abschluss eines HausTVs mit der am FlächenTV beteiligten Gewerkschaft auch an diesen gebunden. Eine Aufhebung des FlächenTVs durch die neue Regelung scheidet angesichts der Verschiedenheit der Vertragsparteien auf Arbeitgeberseite aus. Da aber in einer solchen Situation für alle Arbeitsverhältnisse, wenn sie denn überhaupt kraft beiderseitiger Tarifbindung tariflichen Regelungen unterliegen, sowohl der FirmenTV als auch der HausTV Geltung beanspruchen, kommt es hier zu einer echten Tarifkonkurrenz3. Sie muss aufgelöst werden. Dabei ist unstrittig, dass für die Dauer der Geltung des HausTVs dieser den FlächenTV verdrängt, soweit er zu bestimmten Regelungskomplexen dort besondere Regelungen enthält4. Ganz überwiegend wird zur Begründung auf den Spezialitätsgrundsatz abgestellt, der hier, bei fehlender Identität beider Regelungsgeber, nur als rechtsfortbildend zu Grunde gelegtes besonderes Ordnungsprinzip verstanden werden kann, das aber mit der Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit eigentlich seine Grundlage verloren hatte und mit dem Tarifeinheitsgesetz und dem danach maßgebenden Mehrheitsprinzip nicht wiederhergestellt worden ist; Matthias Jacobs und Christopher Krois5 begründen ihr hiermit übereinstimmendes Ergebnis statt dessen mit der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübter Privatautonomie, nach der der individuellen Mitgestaltungsentscheidung des einzelnen Arbeitgebers der Vorrang einzuräumen sei. 221 Ist im HausTV die Nachwirkung ausgeschlossen, was insbesondere für SanierungsTVe typisch ist, endet die Verdrängungswirkung mit Wirksamwerden der Kündigung des HausTVs ohne weiteres. Strittig ist, ob dies auch bei HausTVen gilt, bei denen die TV-Parteien die Nachwirkung nicht ausgeschlossen haben. Überwiegend wird wohl – mit unterschiedlicher dogmatischer Begründung – angenommen, auch in einem solchen Fall ende der HausTV ohne weiteres; der FlächenTV lebe wieder 1 2 3 4 5
BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 unter B I 3 der Gründe. BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734 m.z.w.N. BAG v. 19.11.2014 – 4 AZR 761/12, NZA 2015, 950. Statt aller Ahrendt, RdA 2012, 129 (133 m.z.w.N. [Fn. 67]). Jacobs/Krois, FS Bepler, 2012, S. 241 (246) m.w.N.; ebenso Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, 2005, S. 360.
236 Bepler
Das Ende der zwingenden Tarifgeltung
Rz. 222 Teil 3
auf1. Die TV-Parteien des ohne Ausschluss der Nachwirkung abgeschlossenen HausTVs haben aber mit einer derartigen Regelung ihre grundsätzliche Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass sie in dem betreffenden Betrieb oder Unternehmen eine spezielle Normsetzung auf unbestimmte Zeit für geboten halten. Dies spricht dafür, in solchen Fällen auch den nur nachwirkenden HausTV den FlächenTV zumindest so lange verdrängen zu lassen, wie noch offen ist, ob es zum Abschluss eines AnschlussHausTVs zwischen denselben TV-Parteien kommen wird2. Dies ist nicht mehr der Fall, wenn eine der TV-Parteien ernsthaft und endgültig Verhandlungen über einen solchen TV verweigert; danach gilt bei beiderseitiger Tarifgebundenheit wieder der FlächenTV. Dieselbe Rechtsfolge tritt ein, wenn der am spezielleren HausTV beteiligte Arbeitgeber wegen Verschmelzung als Partei eines AnschlussTVs nicht mehr in Betracht kommt3. Vorübergehend galt, dass die Inhaltsnormen eines TVs nicht ohne weiteres allein da- 222 durch enden, dass ein Arbeitgeberverband oder ein einzelner tarifgebundene Arbeitgeber mit einer anderen Gewerkschaft einen weiteren TV abschließt. Das BAG hatte den rechtsfortbildend entwickelten, mit dem geschriebenen einfachen und dem Verfassungsrecht nach seiner Auffassung aber unvereinbaren Grundsatz der Tarifeinheit4, nach dem die in einem solchen Fall entstehende Tarifpluralität zu Gunsten eines dieser TVe aufgelöst werden sollte, aufgegeben5. In der dadurch wiederhergestellten Tarifpluralität galten die jeweiligen TVe in den Arbeitsverhältnissen je nach dem, in welcher der an den Tarifabschlüssen beteiligten Gewerkschaften der Arbeitnehmer organisiert war. Diese Rechtslage hat der Gesetzgeber durch das am 10. Juli 20156 in Kraft getretene Tarifeinheitsgesetz7 und den hierdurch in das TVG eingefügten § 4a grundlegend geändert: Gelten in einem Betrieb kraft Tarifgebundenheit des Arbeitgebers nach § 3 1 So wohl BAG v. 4.9.1996 – 4 AZR 135/95, NZA 1997, 271; BAG v. 28.5.1997 – 4 AZR 546/95, NZA 1998, 40 = AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 26 mit Anm. Kania; ebenso Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 938; Wendeling-Schröder in Kempen/Zachert, § 4 TVG Rz. 200; Wiedemann/ Wank, § 4 TVG Rz. 290; mit teilweise entgegengesetzter Tendenz BAG v. 4.7.2007 – 4 AZR 491/06, NZA 2008, 307. 2 Berg in Berg/Kocher/Schumann, § 4 TVG Rz. 73; Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 861; Jacobs in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 7 Rz. 226; offengelassen in BAG v. 4.7.2007 – 4 AZR 439/06, ZTR 2008, 278, für den Fall, dass der FlächenTV bereits galt, als der HausTV in den Zustand der Nachwirkung trat; nach dieser Entscheidung soll allerdings ein neu abgeschlossener FlächenTV stets einen nachwirkenden HausTV ablösen. Nach hier vertretener Auffassung ist es eine Frage der Auslegung, ob in dem Abschluss des FlächenTVs zum Ausdruck kommt, dass zumindest die beteiligte Gewerkschaft eine haustarifvertragliche Regelung nicht mehr will. 3 BAG v. 4.7.2007 – 4 AZR 491/06, NZA 2008, 307. 4 Seit BAG v. 29.3.1957 – 1 AZR 208/55, BAGE 4, 37 = AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 4; noch einmal ausführlich begründet von BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, BAGE 67, 330 = NZA 1991, 736. 5 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, BAGE 135, 80 = NZA 2010, 1068; hierzu Bepler, Jahrbuch des Arbeitsrechts, Band 48 (2011), S. 23 m.z.w.N.; zu den Vorschlägen zur gesetzlichen Wiederherstellung des Grundsatzes der Tarifeinheit Franzen, FS Bepler, 2012, S. 1712 ff.; umfassend zu Problemen bei grundsätzlich fortbestehender Tarifpluralität Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, 2010; Benedikt Schmidt, Tarifpluralität im System der Arbeitsrechtsordnung, 2011. 6 Vorbehaltlich der Übergangsregelung in § 13 Abs. 3 TVG! 7 Aus der umfangreichen, überwiegend kritischen Literatur hierzu nur Berg, KJ 2014, 72; Dieterich, AuR 2011, 2011, 44; Greiner, RdA 2015, 36; Henssler, RdA 2015, 222; Däubler/Bepler, Das neue Tarifeinheitsrecht, 2016 m.z.w.N.; das Gesetz demgegenüber verteidigend insbesondere Scholz/Lingemann/Ruttloff, NZA Beilage 1/2015, S. 3.
Bepler 237
Teil 3 Rz. 223
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
TVG mehrere, mit unterschiedlichen Gewerkschaften abgeschlossene TVe, welche sich in ihren Geltungsbereichen überschneiden und nicht inhaltgleich sind, entsteht eine sog. Tarifkollision. Sie ist nach dem Willen des Gesetzgebers nach einem auf den einzelnen Betrieb bezogenen Mehrheitsprinzip aufzulösen: der TV der Gewerkschaft, welche die meisten Mitglieder im betreffenden Betrieb hat, verdrängt alle übrigen kollidierenden TVe von dem Zeitpunkt an, zu dem es zu einer Tarifkollision gekommen ist, also bei nur zwei kollidierenden TVen: wenn der zweite TV in Kraft getreten ist. Von diesem Zeitpunkt an endet der MinderheitsTV zwar nicht, der Arbeitgeber ist aber von Rechts wegen nicht mehr verpflichtet, ihn anzuwenden. Dabei umfasst die Verdrängungswirkung grundsätzlich einen MinderheitsTV unabhängig davon, ob es auch hinsichtlich seiner einzelnen Bestimmungen zu einer Überschneidung mit dem MehrheitsTV gekommen ist. Gegen die Bestimmungen des Tarifeinheitsgesetzes sind mehrere Verfassungsbeschwerden anhängig. Es bleibt abzuwarten, ob das Gesetz Bestand haben wird. 223 Die genannte Kollisionsregel des § 4a Abs. 2 TVG, das betriebsbezogene Mehrheitsprinzip, gilt für die miteinander kollidierenden TVe umfassend; die in § 4a TVG angeordnete Verdrängung von MinderheitsTVen greift also grundsätzlich auch bei Betriebsnormen oder betriebsverfassungsrechtlichen Tarifbestimmungen, gleichgültig ob sich auch im MehrheitsTV hierzu Bestimmungen finden. Eine Ausnahme gilt nach § 4a Abs. 3 TVG nur für ZuordnungsTVe nach § 3 Abs. 1 BetrVG. Hier kommt es um der Kontinuität der Betriebsratsarbeit willen nur dann zu einer Verdrängung einer in einem MinderheitsTV getroffenen Regelung, wenn auch ein MehrheitsTV von § 3 Abs. 1 BetrVG Gebrauch macht.
III. Beendigung durch außerordentliche Kündigung 224 Es entspricht allgemeiner Auffassung, dass ein TV grundsätzlich auch außerordentlich, ohne Einhaltung einer im TV festgelegten Kündigungsfrist, kündbar ist1. Soweit als außerordentlicher Beendigungsgrund auch eine schwerwiegende Störung der bei Tarifabschluss zugrunde gelegten Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) angesprochen wird, handelt es sich nach richtiger Auffassung im Ergebnis nur um einen Unterfall der außerordentliche Kündigung, die bei Dauerrechtsverhältnissen das vorrangige Gestaltungsmittel ist2. Liegt eine solche Störung der tarifvertraglichen Geschäftsgrundlage vor, kann der TV außerordentlich gekündigt werden, wenn sich eine TV-Partei hierauf berufen und vergeblich versucht hat, mit der anderen TV-Partei eine ihnen beiden vorbehaltene Anpassung des Tarifinhalts an die grundlegend veränderten Umstände zu vereinbaren3. Die letzte einschlägige Rechtsprechung ist in diesem Zusammenhang nicht ganz klar. Während in einem Urteil vom 18. Dezember 19964 noch ausdrücklich 1 Statt aller BAG v. 15.4.2008 – 9 AZR 159/07, DB 2009, 800. 2 Grundsätzlich a.A. Bender, Der Wegfall der Geschäftsgrundlage …, 2005, der das Rechtsinstitut des § 313 BGB auch im Tarifvertragsrecht anwenden will. Seine Ausführungen sind aber auch dann weiter führend, wenn man dem Kündigungsrecht hier den förmlichen Gestaltungsvorrang einräumt. 3 Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 119; Henssler, ZfA 1994, 487 (494); Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1406 ff.; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 65 m.z.w.N. auch zur Gegenauffassung. 4 BAG v. 18.12.1996 – 4 AZR 129/96, NZA 1997, 830 = AP TVG § 1 Kündigung Nr. 1 mit Anm. Löwisch.
238 Bepler
Das Ende der zwingenden Tarifgeltung
Rz. 226 Teil 3
offen gelassen wurde, „ob überhaupt und unter welchen Voraussetzungen die Unwirksamkeit eines TVs wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage eintreten kann“ heißt es wenig später1, es könne „dahin gestellt bleiben, ob und unter welchen Voraussetzungen eine außerordentliche Kündigung wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage in Betracht kommen“ könne. Im Ergebnis haben beide Entscheidungen die ausgesprochenen außerordentlichen Kündigungen zu Recht für unwirksam gehalten, weil die kündigende TV-Partei nicht vorab versucht hatte, den umstrittenen TV tarifautonom auf dem Verhandlungswege anzupassen. In den angesprochenen Entscheidungen kommt eine sehr zurückhaltende Tendenz 225 der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Ausdruck, in sinngemäßer Anwendung des § 626 Abs. 1 BGB eine einseitige außerordentliche Beendigung von TVen zuzulassen. Hiernach käme sie im Hinblick auf Tatsachen in Betracht, auf Grund deren dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände und nach umfassender Interessenabwägung nicht zugemutet werden kann, am TV bis zur ersten Möglichkeit einer ordentlichen TV-Beendigung festgehalten zu werden. Die Zurückhaltung der Rechtsprechung wird verständlich, wenn man mögliche Kündigungsgründe im Einzelnen durchgeht. Herkömmlich wird darauf hingewiesen, wichtige Gründe könnten in der schwerwiegenden Verletzung schuldrechtlicher TV-Pflichten durch die andere TVPartei liegen, etwa was Friedens- und Durchführungspflichten angeht2; darüber hinaus könnte eine Aufrechterhaltung der zwingenden Tarifwirkung auch dadurch unzumutbar werden, dass sich die tatsächlichen oder rechtlichen Rahmenbedingungen nach Tarifabschluss grundlegend verändert hätten3. In allen angesprochenen Fällen gibt es rechtliche und tatsächliche Schwierigkeiten, 226 die erklären, warum es soweit ersichtlich noch nicht zu einer höchstrichterlich anerkannten fristlosen TV-Kündigung gekommen ist: Eine Friedenspflichtverletzung kommt als Kündigungsgrund von vornherein nur in Betracht, wenn sie von der am Tarifabschluss beteiligten Gewerkschaft ausgegangen ist. Es ist indes wenig wahrscheinlich, dass eine derartige Pflichtverletzung einmal zum Anlass für eine fristlose TV-Kündigung genommen wird. Wäre doch die Folge, dass die offenbar in Belegschaften drohenden kampfweisen Arbeitsniederlegungen nunmehr sanktionslos möglich würden, weil mit Wegfall des TVs auch die durch ihn vermittelte Friedenspflicht entfiele. Vergleichbares gilt für eine Verletzung der den TV betreffenden schuldrechtlichen Durchführungspflicht. Wenn eine TV-Partei Interesse an einer lückenlosen Umsetzung des tariflich Geregelten hat, wird sie kaum je auf die Idee kommen, dieses bislang zwingend Geregelte mit sofortiger Wirkung zu beseitigen, zumindest mit sofortiger Wirkung zur Disposition der Arbeitsvertragsparteien zu stellen. Denkbar erscheint in diesem Zusammenhang allenfalls, dass ein überregionaler TV außerordentlich gekündigt werden könnte, wenn der tarifschließende Dachverband sich nachhaltig weigert, auf seine regionalen Mitgliedsverbände einzuwirken, die im TV vorgesehenen regionalen UmsetzungsTVe abzuschließen; auch hier wird aber eine
1 BAG v. 18.6.1997 – 4 AZR 710/95, NZA 1997, 1234. 2 Diese Beispiele werden vielfach genannt, seit sie das BAG am 14.11.1958 (1 AZR 247/57, AP TVG § 1 Friedenspflicht Nr. 4) in einem Schadenersatzprozess wegen eines rechtswidrigen Streiks obiter dictum angesprochen hat. 3 Z.B. Oetker in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 8 Rz. 17; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 27 f.; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 56 ff.
Bepler 239
Teil 3 Rz. 227
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
Einwirkungsklage der Interessenlage eher entsprechen, möglicherweise sogar nach dem Ultima-Ratio-Gebot erforderlich sein1. 227 Es kann im Einzelfall auch durchaus zweifelhaft sein, ob mit einer von einer TV-Partei als erheblich störend empfundene Verhaltensweise auch wirklich eine schuldrechtliche Nebenpflicht der anderen TV-Partei verletzt wurde: Im Oktober 2009 kündigte ein Arbeitgeberverband FlächenTVe zu Entgelt- und allgemeinen Arbeitsbedingungen aus wichtigem Grund fristlos, weil die tarifschließende Gewerkschaft trotz vorheriger „Abmahnungen“ mit einem Mitgliedsunternehmen, wohl dem Marktführer, einen SanierungsTV abgeschlossen hatte, wodurch die Arbeitsbedingungen dort erheblich kostengünstiger waren als in der übrigen Branche. Der Verband, der sich zwischenzeitlich auch von diesem Mitgliedsunternehmen getrennt hatte, wies zur Begründung darauf hin, durch den Abschluss des SanierungsTVs werde die Wettbewerbssituation der übrigen Mitgliedsunternehmen stark beeinträchtigt. Man kann schon darüber streiten, ob dem TV tatsächlich wie vielfach angenommen eine Kartellfunktion zukommt und wenn ja, ob sie derart weit ginge; es könnte sich insoweit auch um eine bloß tatsächliche Folge der hier bestehenden Regelungswirkungen handeln2. Jedenfalls ist aber höchst fraglich, dass die TV-Partei auf Arbeitnehmerseite ohne eindeutige dahin gehende tarifvertragliche Übereinkunft allein deshalb, weil sie auch einen FlächenTV geschlossen hat, in ihrer Koalitionsbetätigungsfreiheit durch die Pflicht gegenüber der anderen TV-Partei eingeschränkt ist, die Wettbewerbssituation in der geregelten Branche mit zu berücksichtigen. Es spricht mehr dafür, dass insoweit allenfalls eine nicht justiziable Obhutspflicht der Gewerkschaft gegenüber ihren in den anderen Unternehmen der Branche beschäftigten Arbeitnehmern besteht. Der betreffende Arbeitgeberverband wäre danach allein auf die Durchsetzung mitgliedschaftlicher Pflichten verwiesen3. 228 Damit bleiben als gewissermaßen verhaltensbedingte wichtige Kündigungsgründe nur solche – theoretisch – übrig, die außerhalb des TV-Rechts eine Vertragsanfechtung wegen arglistiger Täuschung durch die andere TV-Partei oder einer rechtswidrigen Drohung mit einem empfindlichen Übel rechtfertigen. Die deutsche TV-Wirklichkeit ist nicht so, dass hierzu eine ausgefeilte Rechtsprechung erwartet werden könnte4. 229 Wendet man sich den nachträglichen grundlegenden Veränderungen der rechtlichen und/oder tatsächlichen Rahmenbedingungen zu, wird die Rechtslage nicht klarer: Zunächst steht außer Frage, dass die Veränderungen, geht es um einen FlächenTV, dessen gesamten Anwendungsbereich und nicht nur einen einzelnen Betrieb oder ein einzelnes Unternehmen betreffen müssen. Darüber hinaus müssen bei Haus- wie bei FlächenTVen die Veränderungen sowohl qualitativ als auch quantitativ außergewöhnlich und erheblich sein: TVe regeln nicht einen bekannten Ist-Zustand, sondern ungewisse Zukunft. Sie sind Risikogeschäfte, bei denen jede Seite einen Wechsel auf die Zukunft zieht. Die sich daraus ergebenden Risiken können nur ganz ausnahmsweise mit der Eröffnung einer einseitigen außerordentlichen Lösungsmöglich1 Vgl. BAG v. 25.1.2006 – 4 AZR 552/04, DB 2006, 2017. 2 Dazu nur Löwisch/Rieble, TVG, Grundl. Rz. 32 ff. 3 Zu der hier angesprochenen Kündigung: Hessisches LAG v. 5.4.2012 – 9 Sa 1748/11 (Revision ohne Sachentscheidung erledigt); hierzu Ahrendt, jurisPR-ArbR 2/2013 Anm. 3. 4 Ebenso Stein in Kempen/Zachert, § 4 TVG Rz. 185.
240 Bepler
Das Ende der zwingenden Tarifgeltung
Rz. 231 Teil 3
keit auf eine Seite verlagert werden. Hierzu bedarf es einer so auch unter Kundigen nicht zu erwartenden außerordentlichen Entwicklung und einer sich hieraus ergebenden ganz unverhältnismäßigen Schieflage des Verhältnisses von Leistung und Gegenleistung aus der Sicht bei TV-Abschluss. Dabei kann der jeweils nachteilig betroffenen TV-Partei helfen, wenn die Vorstellun- 230 gen über die künftige Entwicklung bei Tarifabschluss im TV oder in Protokollnotizen niedergelegt worden sind. Als Grenzfall könnte man die Kündigung der StufenTVe in den jungen Bundesländern Anfang der neunziger Jahre bewerten: An sich war für manche vorhersehbar, dass im Zusammenhang mit der bevorstehenden Auflösung des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) auf viele vom Ost-Export abhängige ostdeutsche Unternehmen harte Zeiten zukommen würden. Dies hätte man wohl bei den dortigen Tarifabschlüssen berücksichtigen müssen, weshalb der Eintritt dieses Risikos an sich nicht geeignet war, eine außerordentliche Kündigung der damaligen TVe zu rechtfertigen. Andererseits hatten die TV-Parteien durch die von ihnen vereinbarten sehr großzügigen Stufenregelungen beim Entgelt zur Anpassung an das Entgeltniveau West übereinstimmend deutlich gemacht, dass sie von einer bestimmten positiven Entwicklung ausgingen. Angesichts dessen hätte man die damals ausgesprochenen fristlosen Kündigungen auch als materiell begründet ansehen können. Tatsächlich ist es auch zu nach unten anpassenden tariflichen Neuregelungen gekommen. Umgekehrt kommen auch überraschende und angesichts der getroffenen tariflichen Regelungen ganz unverhältnismäßige Konjunkturaufschwünge – nach erfolglosem Anpassungsversuch auf dem Verhandlungswege – als außerordentliche Kündigungsgründe in Betracht. In beiden Fällen spricht indes mehr für den Weg über eine hinreichend bestimmte Revisionsklausel, will man sich, was dem Institut des TVs sicherlich einen Teil seiner Attraktivität nimmt, eine Anpassung an veränderte Umstände auch während des Laufs des TVs vorbehalten. Noch ungeklärt ist es, wie sich für die TV-Parteien überraschende rechtliche Entwick- 231 lungen auf deren Kündigungsmöglichkeiten auswirken. Eine außerordentliche Kündigungsmöglichkeit dürfte sich von vornherein nur dann ergeben, wenn es infolge der Rechtsentwicklung auch zu wesentlichen, das ursprüngliche Verhandlungsergebnis grob verfälschenden wirtschaftlichen Mehr- oder Minderbelastungen kommt. So mag die – richtige – Erkenntnis, dass eine mit der Vollendung des 30. Lebensjahres beginnende Staffelung des Urlaubsanspruchs, wie sie sich in § 26 TVöD findet, altersdiskriminierend ist, und allen Tarifunterworfenen unabhängig vom Lebensalter den gleichen Höchsturlaub von 30 Arbeitstagen gibt1, für die TV-Parteien überraschend gewesen sein – ob sie für einen Kundigen unvorhersehbar war, lässt sich schon in Frage stellen – Die wirtschaftlichen Folgen dieser Rechtserkenntnis reichen indes in keinem Falle aus, eine außerordentliche Kündigung des TVöD zu rechtfertigen. Anders hätte es sich etwa nach der Erkenntnis des Europäischen Gerichtshofs verhalten können, wonach die überkommenen Regelungen über Entgeltsteigerungen nach Altersstufen nicht nur altersdiskriminierend sind, sondern dass dem auch nur durch eine „Anpassung nach oben“ begegnet werden kann2. Hier hätte man nach den wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Erkenntnis eher an einen wichtigen Grund denken können, hätte es sich 1 BAG v. 20.3.2012 – 9 AZR 529/10. 2 EuGH v. 18.9.2011 – Rs. C-297/10 und Rs. C-298/10, NZA 2011, 1100; BAG v. 10.11.2011 – 9 AZR 148/09, NZA 2012, 161.
Bepler 241
Teil 3 Rz. 232
Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages
nicht ohnehin um bereits ausgelaufenes Tarifrecht gehandelt; ob eine derartige Rechtserkenntnis nicht vorhersehbar war, ist allerdings auch hier zweifelhaft. Auch in diesem Zusammenhang können die TV-Parteien aber im TV selbst klarstellen, dass für sie eine bestimmte Rechtslage gemeinsame Geschäftsgrundlage ist und eine Veränderung dort Verhandlungspflichten über eine Anpassung auslöst. 232 Der Umstand, dass sich Mitglieder der TV-Parteien, die von planwidrigen und unverhältnismäßigen Kostensteigerungen gegenüber dem tarifvertraglich Vereinbarten oder auch – seltener, aber vorstellbar – einem nicht vorhersehbaren Verlust von tariflich festgelegten Ansprüchen betroffen sind, von dem einmal Vereinbarten nicht einseitig lösen können (§ 3 Abs. 3 TVG), spricht jedenfalls bei den zuletzt behandelten Konstellationen dafür, die Möglichkeit einer fristlosen TV-Kündigung nach dem Scheitern von Anpassungsverhandlungen nicht von vornherein auszuschließen. 233 Ob es sich bei der außerordentlichen TV-Kündigung wirklich um ein probates Mittel handelt, die angesprochenen Probleme zu bewältigen, ist allerdings zweifelhaft. Jedenfalls dann, wenn man davon ausgeht, dass TVe auch nach einer außerordentlichen Kündigung – zumindest im Regelfall – nachwirken1 (siehe dazu unten Teil 9), hängt eine interessengerechte Aufarbeitung von Geschäftsgrundlagenstörungen letztlich doch – und dies prinzipiell zu Recht – von der Fähigkeit der TV-Parteien ab, den ihnen überlassenen gesellschaftlichen Bereich angemessen zu gestalten.
1 Dazu Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 853 ff. m.w.N.
242 Bepler
Teil 4 Inhalt des Tarifvertrages Rz.
Rz. aa) Befristungskontrolle . . . . . . . . bb) Altersgrenzen . . . . . . . . . . . . . .
A. Einleitung I. Der Inhalt von Tarifverträgen – § 1 Abs. 1 TVG. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
II. Das Arbeitsverhältnis als zentraler Anknüpfungspunkt für die Normen von Tarifverträgen . . . . . . . . . . . . . . . .
3
B. Normativer Teil – Inhalte von Arbeitsverhältnissen und betriebliche Fragen I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
II. Inhaltsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. (Auch) individualvertraglich regelbare Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Arbeitszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Geschuldete Arbeitszeit . . . . . bb) Verteilung der Arbeitszeit . . . . b) Arbeitsentgelt . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Grundentgelt . . . . . . . . . . . . . . bb) Eingruppierung in Entgeltgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Sonderzahlungen . . . . . . . . . . . c) Urlaub, Bildungsurlaub . . . . . . . . . d) Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Vorübergehende Verhinderung, Arbeitsausfall, Annahmeverzug . . f) Sonstige Arbeitgeberleistungen. . . g) Direktionsrecht. . . . . . . . . . . . . . . . h) Nebenpflichten des Arbeitnehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Ausschlussklauseln . . . . . . . . . . . . 2. Nicht individualvertraglich regelbare Inhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
III. Abschluss- und Beendigungsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Abschlussnormen . . . . . . . . . . . . . . . . a) Formerfordernisse. . . . . . . . . . . . . . b) Abschlussgebote . . . . . . . . . . . . . . . c) Abschlussverbote . . . . . . . . . . . . . . 2. Beendigungsnormen . . . . . . . . . . . . . . a) Formerfordernisse. . . . . . . . . . . . . . b) Regelungen zur Kündigung . . . . . . aa) Kündigungsfristen . . . . . . . . . . bb) Kündigungsgründe . . . . . . . . . . cc) Besonderer Kündigungsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Regelungen zur Befristung. . . . . . .
13 14 15 18 21 24 25 29 30 32 34 36 37 38 39 40 42 43 44 46 54 61 62 64 65 69 71 73
74 79
IV. Normen über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen . . 84 1. Normen über betriebliche Fragen a) Restriktive Auslegung . . . . . . . . . . 86 b) Besetzungsregelungen . . . . . . . . . . 87 c) Organisationsregelungen . . . . . . . . 89 d) Notwendiger Regelungswille . . . . 91 2. Normen über betriebsverfassungsrechtliche Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 a) Vorrang der Betriebsverfassung . . . 93 b) Regelungen zur Betriebsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 c) Erweiterung von Mitbestimmungsrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 d) Unternehmensmitbestimmung und wirtschaftliche Angelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 V. Normen über Gemeinsame Einrichtungen (§ 4 Abs. 2 TVG). . . . . 104 1. Merkmale der Gemeinsamen Einrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 2. Gemeinsame Einrichtungen und sonstiges Tarifrecht . . . . . . . . . . . . . . . 108 C. Obligatorischer Teil I. Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien (Obligatorischer Teil) . . 113 II. Normen mit Bezug auf die Tarifinhalte (Friedenspflicht, Durchführungspflicht) 1. Regelungen zur Friedenspflicht a) Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erweiterung der Friedenspflicht . . c) Einschränkung der Friedenspflicht. 2. Regelungen zu Durchführungs- und Einwirkungspflichten a) Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausgestaltung der Durchführungs-/Einwirkungspflichten . . . . 3. Schiedsvereinbarungen . . . . . . . . . . . .
124 126
III. Weitere schuldrechtliche Vereinbarungen 1. Vertragsfreiheit im Tarifrecht . . . . . . 2. Schlichtungsvereinbarungen . . . . . . . 3. Arbeitskampfregelungen . . . . . . . . . . 4. Prozessuale Vereinbarungen. . . . . . . .
128 130 135 138
Hexel
117 118 120
122
243
Teil 4 Rz. 1
Inhalt des Tarifvertrages
Literatur: Adomeit, Grenzen der Tarifautonomie – neu gezogen, NJW 1984, 595; Beckmann, Zur Einstufung von tarifvertraglichen Verboten als Verbotsgesetze, JZ 2001, 150; Bepler, Tarifeinheit im Betrieb, NZA-Beilage 3/2010, 99; Bepler, Die Rechtsprechung des BAG zur Tarifeinheit und Gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, NZA-Beilage 2/2011, 73; Boecken, Probleme der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, NZA 1999, 673; Broers, Der Übernahmeanspruch von Leiharbeitnehmern nach den Tarifverträgen Leih-/Zeitarbeit in der Metall- und Elektroindustrie, ArbuR 2014, 258; Forst, Der Regierungsentwurf zur Regelung des Beschäftigtendatenschutzes, NZA 2010, 1043; Franzen, Arbeitnehmerdatenschutz – rechtspolitische Perspektiven, RdA 2010, 257; Frey, Die Rechtsnatur tarifvertraglicher Lehrlingsskalen, zugleich ein Beitrag zur Tarifvertragssystematik, RdA 1970, 182; Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, 2002; Griebeling, Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes – Auswirkungen eines Branchenwechsels des Arbeitgebers durch Fusion, Lösung aus dem bisherigen Tarifrecht, EWiR 1994, 325; Hanau, Tarifverträge über die Organisation der Betriebsverfassung, RdA 2010, 313; Hanau, Sicherung unternehmerischer Mitbestimmung, insbesondere durch Vereinbarung, ZGR 2001, 75; v. Hoyningen-Huene, Die Einführung und Anwendung flexibler Arbeitszeiten im Betrieb, NZA 1985, 9; Hromadka, Gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, NJW 1970, 1441; Kirchner, Möglichkeiten und Grenzen der tarifvertraglichen Gestaltung des Arbeitskampfes, RdA 1986, 159; Knevels, Das Schlichtungswesen in der Bundesrepublik – Instrument der Tarifpolitik, Möglichkeiten und Grenzen, ZTR 2008, 408; Krause, Gewerkschaften und Betriebsräte zwischen Kooperation und Konfrontation, RdA 2009, 129; Krause, Neue tarifvertragliche Regeln für die Leiharbeit in der Metallindustrie, NZA 2012, 830; Lembke, Staatliche Schlichtung in Arbeitsstreitigkeiten nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 35 – Relikt der Besatzungszeit oder Modell für Mediation im Arbeitsrecht?, RdA 2000, 223; Lingemann/Gotham, AGG – Benachteiligungen wegen des Alters in kollektivrechtlichen Regelungen, NZA 2007, 663; Link, Der neue Chemietarifvertrag, AuA 2009, 410; Löwisch, Arbeitsrechtliche Fragen der Rente mit 67, ZTR 2011, 78; Löwisch, Arbeitsfrieden nach Schweizer Vorbild?, BB 1988, 1333; Löwisch, Fragen des schiedsrichterlichen Verfahrens zwischen Tarifvertragsparteien nach § 101 Abs. 1 ArbGG, ZZP 103 (1990), 22; Petrak, Kurzarbeit, NZA-Beilage 2/2010, 44; Salamon, Fortbestand der Betriebsidentität trotz Entstehung betrieblicher Organisationseinheiten nach § 3 BetrVG?, NZA 2009, 74; Schulz/Ruf, Zweifelsfragen der neuen Regelungen über die Geschlechterquote im Aufsichtsrat und die Zielgrößen für die Frauenbeteiligung, BB 2015, 1155; Stamer, Die Relativität der Friedenspflicht, ArbR 2010, 646; Temming, Diskriminierende Beendigung der Arbeitsverträge von Piloten bei Vollendung des 60. Lebensjahres, EuZA 2012, 205; Thüsing/v. Hoff, Differenzierungsklauseln und Gemeinsame Einrichtungen, ZfA 2008, 77; Wendeling-Schröder, Der Prüfungsmaßstab bei Altersdiskriminierungen, NZA 2007, 1399; Wiesehügel, Schlusswort, NZABeilage 2/2011, 88; Zeiss, Die gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien in Praxis und Rechtsprechung, JR 1970, 201.
A. Einleitung I. Der Inhalt von Tarifverträgen – § 1 Abs. 1 TVG 1 Die Fragen und Materien, die nach der Vorstellung des Gesetzgebers in einem TV geregelt werden können, lassen sich dem Gesetzestext entnehmen. In § 1 Abs. 1 TVG sind die Inhalte eines TVs beschrieben. Das Gesetz enthält an dieser Stelle zwar keine echte Legaldefinition des Begriffs „Tarifvertrag“1; ungeachtet dessen lässt sich dem Gesetzestext jedoch eine recht klare Beschreibung der Regelungsgegenstände entnehmen, durch die ein „typischer“ TV gekennzeichnet ist. In seinem sog. obligatorischen Teil (auch: schuldrechtlicher Teil) regelt der TV Rechte und Pflichten der TV-Parteien untereinander. In dem sog. normativen Teil finden sich demgegenüber
1 Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 1 TVG Rz. 1.
244 Hexel
Einleitung
Rz. 3 Teil 4
Rechtsnormen, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen regeln. Sie entfalten, wie sich aus § 4 Abs. 1 TVG ergibt, wie gesetzliche Regelungen unmittelbare und zwingende Wirkung zwischen den Tarifgebundenen. Zu den Regelungen, die dem normativen Teil des TVs zuzuordnen sind, zählen auch solche zur Ordnung betrieblicher und betriebsverfassungsrechtlicher Fragen. Aus dieser Inhaltsbeschreibung in § 1 Abs. 1 TVG, die auf entsprechende Formulie- 2 rungen von Nipperdey zurückzuführen ist, ergibt sich die Doppelnatur des TVs. Dass ein TV gleichzeitig das Verhältnis der TV-Parteien untereinander regelt und verbindliche Normen für die Tarifgebundenen aufstellt, wird seit langem als prägendes Element des Grundtypus eines TVs hervorgehoben1. Die TV-Parteien vereinbaren Rechte und Pflichten untereinander, setzen darüber hinaus aber auch normatives Recht für Dritte. Es muss aber nicht zwingend jeder TV beide Elemente enthalten. In der Praxis gibt es durchaus auch TVe, die sich entweder ausschließlich auf normative Regelungen oder alleine auf schuldrechtliche Absprachen beschränken oder die sich zumindest ganz schwerpunktmäßig auf einen der beiden Komplexe konzentrieren. Ein Beispiel für rein obligatorisch wirkende TVe sind die häufig zu findenden SchlichtungsTVe (s. unten Rz. 130 ff.) und SchiedsTVe (s. unten Rz. 126), die oft nur das Verhältnis der TV-Parteien untereinander regeln.
II. Das Arbeitsverhältnis als zentraler Anknüpfungspunkt für die Normen von Tarifverträgen Im Zentrum des Agierens der TV-Parteien und der Regelungen von Tarifwerken in ih- 3 rer Gesamtheit stehen die der Tarifbindung unterliegenden Arbeitsverhältnisse. Auch die Regelungen im obligatorischen Teil eines TVs dienen nicht bloßem Selbstzweck. Sie zielen darauf ab, das gemeinsame Wirken der TV-Parteien, die dabei als kollektive Interessenvertreter sowie als Träger und Umsetzer der Tarifautonomie handeln, zu fördern. Die Schaffung normativer Regelungen in Bezug auf Arbeitsverhältnisse steht im Mittelpunkt der tariflichen Betätigung der Koalitionen. Die rechtliche Möglichkeit der Koalitionen zur unmittelbaren Gestaltung von Arbeitsbedingungen stellt einen wesentlichen Bestandteil der Koalitionsfreiheit dar, wie sie in Art. 9 Abs. 3 GG geschützt ist (vgl. Teil 1 A Rz. 8). Das BVerfG hat dies bei seiner Beurteilung der einschlägigen verfassungsrechtlichen Regelungen von Beginn an erkannt. Es hat bereits in einem frühen Urteil aus dem Jahr 1954 hervorgehoben, dass das Grundrecht der Koalitionsfreiheit nicht nur den Zusammenschluss als solchen betreffe, sondern den Zusammenschluss zu dem im Grundgesetz bestimmten Gesamtzweck. Dies bedeute zugleich, dass frei gebildete Organisationen unter anderem auch auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen Einfluss nehmen und zu diesem Zweck Gesamtvereinbarungen treffen können müssten2. Auch das BAG hebt seit jeher heraus, dass ein TV-System, zu dessen Kernbereich das Recht zur normativen Gestaltung von Arbeitsbedingungen gehört, die Basis der Funktionsgarantie der Koalitionen bildet. Es sieht die Regelung der Arbeitsbedingungen als eine den Gewerkschaften gemeinsam mit den Arbeitgebern und den Arbeitgeberverbänden obliegende sozialpolitische Ordnungs1 Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 199 Rz. 1; BAG v. 15.1.1955 – 1 AZR 305/54, NJW 1955, 684. 2 BVerfG v. 18.11.1954 – 1 BvR 629/52, NJW 1954, 1881; s. auch BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, NJW 1977, 2255.
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Teil 4 Rz. 4
Inhalt des Tarifvertrages
aufgabe an1. Der Gesetzgeber hat den Koalitionen danach das Mittel des TVs an die Hand gegeben, damit sie die von Art. 9 Abs. 3 GG intendierte autonome Ordnung des Arbeitslebens verwirklichen können. 4 Die im TVG mehrfach verwendeten Begriffe „Arbeitsverhältnis“, „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmer“ haben im TVG keine eigene Definition erfahren. Damit gilt für das TVG der einheitliche Arbeitnehmerbegriff, wie er auch sonst für das Arbeitsrecht maßgeblich ist. Arbeitnehmer ist nach ständiger Rechtsprechung des BAG derjenige, der aufgrund eines privatrechtlichen Vertrags im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener fremdbestimmter Tätigkeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet ist2. Arbeitgeber ist, wer (mindestens) einen Arbeitnehmer auf Grund eines Arbeitsverhältnisses abhängig beschäftigt. Der Begriff des Arbeitsverhältnisses nach dem TVG schließt damit jede Form eines Arbeitsverhältnisses im engeren Sinne ein. Dass der Gesetzgeber z.B. die Regelungsmacht der TV-Parteien für Teilzeitarbeitsverhältnisse voraussetzt, ist aufgrund der in § 12 Abs. 3 und § 13 Abs. 4 TzBfG vorgesehenen Öffnung für tarifliche Regelungen ersichtlich. Gleiches gilt für befristete Arbeitsverhältnisse, für deren Ausgestaltung durch TVe gemäß § 14 Abs. 2 und § 15 Abs. 3 TzBfG ein bestimmter Regelungsspielraum eröffnet wird. Auch eine nur geringfügige Beschäftigung im Sinne der einschlägigen Vorschriften der Sozialversicherung ist ein tariflich regelbares Arbeitsverhältnis. Soweit die TV-Parteien sich vor diesem Hintergrund dazu entschließen, geringfügig Beschäftigte von den Regelungen eines TVs auszunehmen, bedarf es dafür nach dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz eines sachlichen Grundes3. Auch Leiharbeitsverhältnisse sind einer tariflichen Regelung zugänglich, was spätestens seit der Einfügung der gesetzlichen Regelungen zum „Equal Pay“-Gebot in § 3 und § 9 AÜG feststeht. 5 Wie das BAG inzwischen klargestellt hat, können TVe auch Regelungen für ehemalige Arbeitnehmer enthalten, die zu ihrem vormaligen Arbeitgeber noch in einem Ruhestands- oder Anwartschaftsverhältnis stehen. Nach der Auffassung des für Fragen des BetrAVG zuständigen 3. Senats ist von einer Regelungskompetenz der TV-Parteien für Betriebsrentner auszugehen, weil die Tarifautonomie hinsichtlich ihres persönlichen Anwendungsbereichs, wie sich aus der Formulierung „jedermann“ in Art. 9 Abs. 3 GG ergebe, nicht auf aktive Arbeitsverhältnisse beschränkt sei, sondern auch darüber hinaus bestehe. Wenn deshalb § 1 Abs. 1 TVG Normen über den Inhalt von Arbeitsverhältnissen ermögliche, so betreffe dies auch solche auf das Arbeitsverhältnis bezogene Rechtsnormen, die erst nach dessen Ende wirken oder wirksam werden. Dazu gehörten auch Normen, die die betriebliche Altersversorgung regeln4. Schon früher hatte das BAG erklärt, dass es aufgrund der Tariföffnungsklausel in § 17 BetrAVG davon ausgehe, dass der Gesetzgeber für die Regelungsbefugnis der TV-Parteien das betriebsrentenrechtliche Versorgungsverhältnis und das Vorruhestandsverhältnis wie ein Arbeitsverhältnis behandele. Aus § 17 Abs. 3 BetrAVG ergebe sich, dass die TV-Parteien das sich an das Arbeitsverhältnis anschließende Versorgungsverhältnis regeln könnten5. 1 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028. 2 Vgl. BAG v. 11.11.2008 – 1 ABR 68/07, NZA 2009, 450; BAG v. 16.2.2000 – 5 AZB 71/99, NZA 2000, 385 m.w.N. 3 Vgl. BAG v. 25.4.2007 – 6 AZR 746/06, NZA 2007, 881; BAG v. 22.2.2000 – 3 AZR 845/98, NZA 2000, 659. 4 BAG v. 17.6.2008 – 3 AZR 409/06, NZA 2008, 1244. 5 BAG v. 5.12.1995 – 3 AZR 226/95.
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Normativer Teil – Inhalte von Arbeitsverhltnissen und betriebliche Fragen
Rz. 9 Teil 4
Allgemein anerkannt ist, dass auch Berufsausbildungsverhältnisse tariflich geregelt 6 werden können. Das BBiG bringt dies in seiner heutigen Fassung schon dadurch zum Ausdruck, dass es gemäß § 11 den Ausbilder unter anderem verpflichtet, bei der schriftlichen Niederlegung der wesentlichen Inhalte des Berufsausbildungsvertrages einen allgemeinen Hinweis auf die TVe, die auf das Berufsausbildungsverhältnis anzuwenden sind, aufzunehmen, vgl. § 11 Abs. 1 Satz 2 Nr. 9 BBiG. Das BAG hatte die Möglichkeit der TV-Parteien, normative Regelungen in Bezug auf Berufsausbildungsverhältnisse zu vereinbaren, bereits vor Inkrafttreten des BBiG in seiner ersten Fassung (1969) anerkannt1. Das Recht der TV-Parteien zur Normsetzung ist indes nicht auf den Bereich der Ar- 7 beitsverhältnisse im engeren Sinne beschränkt. Aus § 12a TVG ergibt sich, dass das Gesetz analog auch auf die Gruppe der sog. arbeitnehmerähnlichen Personen und auf die von ihnen durch Dienst- oder Werkverträge begründeten Rechtsverhältnisse anzuwenden ist. TVe über die materiellen Vertragsbedingungen dieses Personenkreises finden sich vornehmlich im Bereich der Rundfunk- und Fernsehanstalten. So sind die Rechtsverhältnisse der bei den öffentlichen Rundfunkanstalten beschäftigten freien Mitarbeiter umfassend tariflich geregelt2. Inhaltlich unterscheiden sich diese TVe im Hinblick auf Aufbau und Regelungsgehalt regelmäßig nicht nachhaltig von den Tarifwerken, wie sie typischerweise für Arbeitnehmer vereinbart werden. Eine Sonderregelung für Heimarbeiter enthält § 17 Abs. 1 HAG. Vereinbarungen zwischen Gewerkschaften und Auftraggebern oder deren Vereinigungen über Inhalt, Abschluss oder Beendigung von Vertragsverhältnissen der in Heimarbeit Beschäftigten gelten danach als TVe und unterfallen dem TVG, das insoweit ergänzend gilt3. Die sog. bindenden Festsetzungen nach § 19 HAG haben die gleiche Wirkung wie ein für allgemeinverbindlich erklärter TV, vgl. § 19 Abs. 3 Satz 1 HAG.
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B. Normativer Teil – Inhalte von Arbeitsverhältnissen und betriebliche Fragen I. Vorbemerkung § 1 Abs. 1 TVG, der die Normsetzungskompetenz der TV-Parteien (vgl. Teil 1 A 9 Rz. 16) gesetzlich festschreibt, nennt die Ordnung des Inhalts, des Abschlusses und der Beendigung von Arbeitsverhältnissen nicht an erster Stelle, sondern erwähnt die Regelung der Rechte und Pflichten der Tarifparteien zuerst. Ungeachtet dessen werden in dieser Darstellung die Ausführungen über den normativen Teil von TVen vorangestellt. Erst dann ist auf den obligatorischen Teil von TVen einzugehen (vgl. Rz. 113 ff.). Rein quantitativ überwiegen die normativen Tarifregelungen, wie ein Blick in die Tariflandschaft zeigt. Der ganz überwiegende Teil der bisher in Kraft gesetzten TVe enthält vorwiegend Regelungen mit unmittelbarer normativer Wirkung in Bezug auf Arbeitsverhältnisse. Zuvorderst zu nennen sind die in zahlreichen Bran-
1 BAG v. 12.3.1962 – 1 AZR 4/61, NJW 1962, 1222. 2 Kempen/Zachert/Stein, § 12a TVG Rz. 4 f. 3 BVerfG v. 27.2.1973 – 2 BvL 27/69, NJW 1973, 1320; BAG v. 5.5.1992 – 9 AZR 447/90, NZA 1993, 315.
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Normativer Teil – Inhalte von Arbeitsverhltnissen und betriebliche Fragen
Rz. 9 Teil 4
Allgemein anerkannt ist, dass auch Berufsausbildungsverhältnisse tariflich geregelt 6 werden können. Das BBiG bringt dies in seiner heutigen Fassung schon dadurch zum Ausdruck, dass es gemäß § 11 den Ausbilder unter anderem verpflichtet, bei der schriftlichen Niederlegung der wesentlichen Inhalte des Berufsausbildungsvertrages einen allgemeinen Hinweis auf die TVe, die auf das Berufsausbildungsverhältnis anzuwenden sind, aufzunehmen, vgl. § 11 Abs. 1 Satz 2 Nr. 9 BBiG. Das BAG hatte die Möglichkeit der TV-Parteien, normative Regelungen in Bezug auf Berufsausbildungsverhältnisse zu vereinbaren, bereits vor Inkrafttreten des BBiG in seiner ersten Fassung (1969) anerkannt1. Das Recht der TV-Parteien zur Normsetzung ist indes nicht auf den Bereich der Ar- 7 beitsverhältnisse im engeren Sinne beschränkt. Aus § 12a TVG ergibt sich, dass das Gesetz analog auch auf die Gruppe der sog. arbeitnehmerähnlichen Personen und auf die von ihnen durch Dienst- oder Werkverträge begründeten Rechtsverhältnisse anzuwenden ist. TVe über die materiellen Vertragsbedingungen dieses Personenkreises finden sich vornehmlich im Bereich der Rundfunk- und Fernsehanstalten. So sind die Rechtsverhältnisse der bei den öffentlichen Rundfunkanstalten beschäftigten freien Mitarbeiter umfassend tariflich geregelt2. Inhaltlich unterscheiden sich diese TVe im Hinblick auf Aufbau und Regelungsgehalt regelmäßig nicht nachhaltig von den Tarifwerken, wie sie typischerweise für Arbeitnehmer vereinbart werden. Eine Sonderregelung für Heimarbeiter enthält § 17 Abs. 1 HAG. Vereinbarungen zwischen Gewerkschaften und Auftraggebern oder deren Vereinigungen über Inhalt, Abschluss oder Beendigung von Vertragsverhältnissen der in Heimarbeit Beschäftigten gelten danach als TVe und unterfallen dem TVG, das insoweit ergänzend gilt3. Die sog. bindenden Festsetzungen nach § 19 HAG haben die gleiche Wirkung wie ein für allgemeinverbindlich erklärter TV, vgl. § 19 Abs. 3 Satz 1 HAG.
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B. Normativer Teil – Inhalte von Arbeitsverhältnissen und betriebliche Fragen I. Vorbemerkung § 1 Abs. 1 TVG, der die Normsetzungskompetenz der TV-Parteien (vgl. Teil 1 A 9 Rz. 16) gesetzlich festschreibt, nennt die Ordnung des Inhalts, des Abschlusses und der Beendigung von Arbeitsverhältnissen nicht an erster Stelle, sondern erwähnt die Regelung der Rechte und Pflichten der Tarifparteien zuerst. Ungeachtet dessen werden in dieser Darstellung die Ausführungen über den normativen Teil von TVen vorangestellt. Erst dann ist auf den obligatorischen Teil von TVen einzugehen (vgl. Rz. 113 ff.). Rein quantitativ überwiegen die normativen Tarifregelungen, wie ein Blick in die Tariflandschaft zeigt. Der ganz überwiegende Teil der bisher in Kraft gesetzten TVe enthält vorwiegend Regelungen mit unmittelbarer normativer Wirkung in Bezug auf Arbeitsverhältnisse. Zuvorderst zu nennen sind die in zahlreichen Bran-
1 BAG v. 12.3.1962 – 1 AZR 4/61, NJW 1962, 1222. 2 Kempen/Zachert/Stein, § 12a TVG Rz. 4 f. 3 BVerfG v. 27.2.1973 – 2 BvL 27/69, NJW 1973, 1320; BAG v. 5.5.1992 – 9 AZR 447/90, NZA 1993, 315.
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Teil 4 Rz. 10
Inhalt des Tarifvertrages
chen verhandelten MantelTVe, die zahlreiche Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis wie auch Details seiner Begründung und Beendigung regeln, sowie die regelmäßig neu zu verhandelnden Lohn- und GehaltsTVe. Ergänzt werden diese TVe in vielen Branchen durch besondere TVe zu Einmalzahlungen (häufig: tarifliches 13. Monatsgehalt), zur betrieblichen Altersversorgung (häufig: flankierende Regelungen zum Anspruch auf Entgeltumwandlung aus § 1a BetrAVG), zur Qualifizierung von Arbeitnehmern oder zur Beschäftigungssicherung, um nur einige Beispiele zu nennen. Die TV-Parteien machen von ihrer Normsetzungsbefugnis regen Gebrauch1 und kommen so ihrem Auftrag zur Ordnung des Arbeitslebens nach. 10
Im Bereich der normativen Regelungen gibt § 1 Abs. 1 TVG den Koalitionen darüber hinaus die Möglichkeit, auch betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen mit unmittelbarer Wirkung zu ordnen. Die existierenden tariflichen Regelungen, die sich mit solchen Fragen befassen, machen in quantitativer Hinsicht nicht den wesentlichen Teil der zwischen TV-Parteien getroffenen Vereinbarungen aus. Es wäre aber verfehlt, alleine deswegen davon auszugehen, dass sie nur eine untergeordnete Rolle spielen. Betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Regelungen kommt qualitativ eine besondere Bedeutung zu. Dies liegt zum einen darin begründet, dass sich ihre Wirkung auch auf die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer des Betriebes erstreckt. Losgelöst von diesem möglichen Spannungsfeld im Hinblick auf Außenseiter ist zum anderen zu berücksichtigen, dass das BetrVG viele zwingende Regelungen enthält. Im Hinblick auf die Möglichkeit der Koalitionen zur Regelung betriebsverfassungsrechtlicher Fragen ist deswegen immer zu prüfen, inwieweit die jeweils einschlägigen gesetzlichen Normen des BetrVG überhaupt zur Disposition der TV-Parteien gestellt sind.
II. Inhaltsnormen 11
Angesichts der Vielschichtigkeit der Inhalte von Arbeitsverhältnissen und deren unterschiedlicher Ausgestaltung gibt es naturgemäß eine Vielzahl unterschiedlichster Inhaltsnormen in den TVen der verschiedenen Branchen. Eine abschließende Definition oder eine vollständige Liste aller zulässigen Inhaltsnormen gibt es nicht. Die Inhalte von Arbeitsverhältnissen unterliegen einem ständigen Wandel, der den Bedarf nach neuen tariflichen Normen mit sich bringt. Wegen des zunehmenden Einflusses elektronischer Medien und der immer größer werdenden Bedeutung des Internets für die Arbeitswelt werden beispielsweise aller Voraussicht nach tarifliche Regelungen zum Beschäftigtendatenschutz in Zukunft häufiger zu finden sein als bisher. Schon jetzt wird befürwortet, in ein neues Gesetz zum Beschäftigtendatenschutz ausdrücklich aufzunehmen, dass „andere Rechtsvorschriften“ im Sinne des heutigen § 4 BDSG neben Betriebsvereinbarungen auch TVe sein können2. Ungeachtet der Vielfalt denkbarer Regelungsgegenstände haben sich in der Tarifpraxis bestimmte Regelungsbereiche herauskristallisiert, die typischerweise für einen großen Teil der Arbeitsverhältnisse in einer Vielzahl von Branchen Bedeutung haben. Eine Beschreibung einiger solcher typischen Inhaltsnormen, die sich in den TVen insbesondere derjenigen Branchen finden, in denen eine große Zahl von Arbeitnehmern tätig ist, findet sich in unten in Teil 5. 1 Vgl. zur Zahl der TVe: Wiedemann/Thüsing, § 4 TVG Rz. 28 ff. 2 Franzen, RdA 2010, 257 (260); Forst, NZA 2010, 1043 (1044).
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Normativer Teil – Inhalte von Arbeitsverhltnissen und betriebliche Fragen
Rz. 15 Teil 4
Kennzeichnendes Element aller Inhaltsnormen ist die Intention der TV-Parteien, 12 durch ihre Vereinbarung unmittelbar Rechte und Pflichten im Rahmen der Durchführung von Arbeitsverhältnissen zu regeln, die von dem TV erfasst werden1. Daher können die TV-Parteien jedenfalls Regelungen über all diejenigen Inhalte eines Arbeitsverhältnisses verabreden, über die auch Arbeitgeber und Arbeitnehmer in einem Individualarbeitsvertrag Vereinbarungen treffen könnten. Mit solchen Regelungen ersetzen die TV-Parteien – soweit nicht das Günstigkeitsprinzip vorgeht (vgl. Teil 9 Rz. 181 ff.) – die individualvertraglichen Absprachen der Arbeitsvertragsparteien. Sie können von ihren besonderen Privilegien als Koalitionspartner Gebrauch machen und unterliegen dabei weniger strengen Vorgaben als die Parteien des einzelnen Arbeitsvertrages und auch nur einer eingeschränkten Rechtskontrolle. 1. (Auch) individualvertraglich regelbare Normen Zu den zentralen Regelungen vieler TVe zählen naturgemäß diejenigen Bestandteile 13 arbeitsvertraglicher Vereinbarungen, die typischerweise auch im Zentrum der Verhandlungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer über den Inhalt des Arbeitsvertrages stehen, weil sie von herausgehobener (wirtschaftlicher) Bedeutung sind. Zu nennen sind hier insbesondere Regelungen über wesentliche wechselseitige Hauptleistungspflichten, allen voran die Vereinbarungen zur geschuldeten Arbeitszeit und zur Höhe des Arbeitsentgelts. a) Arbeitszeit In den meisten Branchen, in denen TVe existieren, gehören Fragen der Arbeitszeit zu 14 den mit geregelten Materien. Dabei spiegelt sich in den verschiedenen tariflichen Regelungen wider, dass der Begriff „Arbeitszeit“ im Arbeitsrecht unter ganz verschiedenen Gesichtspunkten relevant sein kann und dass es vor diesem Hintergrund im Arbeitsrecht keine allgemein gültige Definition der Arbeitszeit gibt2. Deswegen regeln TVe typischerweise verschiedene Aspekte der Arbeitszeit, wobei es im alleinigen Ermessen der TV-Parteien steht, ob sie alle denkbaren Fragen zur Arbeitszeit oder nur bestimmte Aspekte regeln. aa) Geschuldete Arbeitszeit Zu den Fragen der Arbeitszeit, welche die TV-Parteien fast immer regeln, gehört die 15 Festlegung des Arbeitszeitvolumens, das der Arbeitnehmer im Gegenzug für die – typischerweise korrespondierend mit der tariflich vorgesehenen Arbeitszeit gleichermaßen tariflich geregelte – Tarifvergütung zu erbringen hat. Heute wird branchenübergreifend in fast allen Fällen zumindest die Grundvergütung der Arbeitnehmer als Gegenleistung für die erbrachte Arbeitszeit gezahlt, ohne sie von bestimmten Arbeitserfolgen abhängig zu machen. Aus diesem Grund gehört die Bestimmung der Arbeitszeit, die mit der vereinbarten bzw. durch TV geregelten Vergütung abgegolten ist, zu den zentralen Fragen der Tarifpolitik. Sie steht im Kern des arbeitsrechtlichen Synallagmas zwischen Leistung und Gegenleistung. Meist ist deswegen in den Man1 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 409; Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 1 TVG Rz. 73. 2 HWK/Thüsing, § 611 BGB Rz. 303; Küttner/Poeche, Arbeitszeit Rz. 1.
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Teil 4 Rz. 16
Inhalt des Tarifvertrages
telTVen, die die grundlegenden Rahmenbedingungen in einer Branche langfristig fixieren sollen und die typischerweise nur relativ selten geändert werden, eine tarifliche Regelarbeitszeit festgelegt. Davon, dass gerade die Festlegung der regelmäßigen Arbeitszeit in einer Branche zu den zentralen Themen der Tarifpolitik gehört, zeugen nicht zuletzt die Anfang der 1980er-Jahre geführten Arbeitskämpfe um die Einführung einer 35-Stunden-Woche in der Metallindustrie1 und die damit einhergehende Ablösung der bis dahin üblichen 40-Stunden-Woche. 16
Neben der Festlegung einer tariflichen Regelarbeitszeit enthalten TVe regelmäßig damit korrespondierende Regelungen zum Umgang mit Mehrarbeit bzw. Überstunden. Der Begriff der Mehrarbeit ist in diesem Kontext nicht fest vorgegeben. Allgemein wird Mehrarbeit mit Blick auf das ArbZG häufig als diejenige Arbeitszeit bezeichnet, die über die gesetzlich in § 3 ArbZG vorgesehene regelmäßige Arbeitszeit von acht Stunden pro Tag und 48 Stunden pro Woche hinaus geleistet wird2. Die TV-Parteien bezeichnen mit Mehrarbeit hingegen häufig die Arbeit, die über die tarifvertraglich vereinbarte regelmäßige Arbeitszeit hinaus geleistet und sonst häufig unter den Begriff Überstunden gefasst wird. Die tariflichen Regelungen definieren also meist in einem ersten Schritt einen eigenen, tarifvertragsspezifischen Mehrarbeitsbegriff und regeln darüber hinaus, unter welchen Voraussetzungen und ggf. innerhalb welcher Grenzen Mehrarbeit in diesem Sinne zulässig ist. Speziell in Branchen, in denen TVe flexible Arbeitszeitmodelle mit Arbeitszeitkonten und Freizeitausgleichsregelungen vorsehen, wird von den TV-Parteien Mehrarbeit meist abgegrenzt von der im Rahmen der flexiblen Arbeitszeit gegebenenfalls an einem Tag abgeleisteten zusätzlichen Arbeitszeit, die durch vorher oder später angefallene „Minusstunden“ zu kompensieren ist. Während die innerhalb des vorgegebenen flexiblen Rahmens geleistete zusätzliche oder verringerte tägliche Arbeitszeit keiner besonderen zusätzlichen Beschränkung (oder Bezahlung) bedarf, wollen viele TV-Parteien „echte“ Mehrarbeit, also außerhalb des vorgesehenen Rahmens geleistete Arbeitszeit, nicht unbeschränkt zulassen. Entsprechende Mehrarbeitsregelungen sind beispielhaft unten in Teil 5 (15) kommentiert.
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Nicht nur das Thema Mehrarbeit wird von vielen TV-Parteien geregelt. Besondere Bedeutung kommt tariflichen Regelungen auch im Zusammenhang mit der Möglichkeit der Einführung von Kurzarbeit zu. Gerade in den Zeiten der Krise der Jahre 2009 und 2010 konnte dem Vernehmen nach durch die vorübergehende Ausweitung der sozialversicherungsrechtlichen Vorgaben zu den Voraussetzungen und Grenzen der Kurzarbeit3 ein noch massiverer Abbau von Arbeitsplätzen verhindert werden. Die Voraussetzungen, unter denen Arbeitgeber Leistungen der Agentur für Arbeit in Phasen der Kurzarbeit beanspruchen können, sind nach der am 1.4.2012 in Kraft getretenen Novelle des SGB III nunmehr in §§ 95 ff. SGB III geregelt4. Selbst bei Erfüllung der gesetzlichen Förderungsvoraussetzungen bedarf der Arbeitgeber im Verhältnis zum Arbeitnehmer zur Einführung von Kurzarbeit einer Rechtsgrundlage. Das Direktionsrecht des Arbeitgebers reicht dafür nach ständiger Rechtsprechung des BAG nicht5. In Ar-
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S. dazu Adomeit, NJW 1984, 595; Kirchner, RdA 1986, 159. Heiden/Rinck in Tschöpe, AHB-Arbeitsrecht, Teil 2 A Rz. 82; ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 486. S. zum sog. Konjunkturpaket: Petrak, Kurzarbeit, NZA Beilage 2/2010, 44. S. zur Kurzarbeit: Heiden in Tschöpe, AHB-Arbeitsrecht, Teil 2 A Rz. 763 ff. Vgl. nur BAG v. 17.1.1995 – 1 AZR 283/94, n.v., m.w.N.; BAG v. 16.12.2008 – 9 AZR 164/08, NZA 2009, 689.
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Normativer Teil – Inhalte von Arbeitsverhltnissen und betriebliche Fragen
Rz. 19 Teil 4
beitsverträgen sind entsprechende Regelungen nach wie vor eher selten zu finden. Nach der Auffassung des LAG Berlin-Brandenburg, zu der eine Äußerung des BAG noch nicht vorliegt, sind an formularvertragliche Klauseln mit Blick auf die §§ 305 ff. BGB und das dort verankerte Transparenzgebot hohe Anforderungen zu stellen1. Bisher werden zumindest in Teilen der Literatur geringere Anforderungen gestellt. So werden Standardklauseln für zulässig erachtet, die einerseits die Einführung von Kurzarbeit an die Erfüllung der Voraussetzungen des SGB III knüpfen und darüber hinaus eine angemessene Ankündigungsfrist vorsehen2. Da TVe nicht der AGB-Kontrolle unterliegen, haben jedenfalls die TV-Parteien bei der Schaffung von Regelungen zur Einführung von Kurzarbeit mehr Gestaltungsfreiheit. Das BAG hat aber auch insoweit gewisse Mindestanforderungen entwickelt. Einige typische Formulierungsbeispiele für Regelungen zur Einführung von Kurzarbeit werden unten in Teil 5 behandelt (vgl. Teil 5 (13)). bb) Verteilung der Arbeitszeit In den meisten Branchen beschränken die TV-Parteien sich nicht darauf, das regulär 18 geschuldete Arbeitsvolumen zu bestimmen und Regelungen zu Mehrarbeit bzw. Überstunden zu schaffen. Spätestens seit den 1990er-Jahren ist neben der Frage, welche Arbeitszeit mit welchem (Tarif-)Entgelt abgegolten ist, mehr und mehr auch die individuelle Flexibilität bei der Vereinbarung des geschuldeten Arbeitszeitvolumens als neuer eigenständiger Wert in den Vordergrund gerückt. Immer mehr TVe enthalten heute Regelungen über Möglichkeiten der Arbeitsvertragsparteien, Vereinbarungen über die Arbeitszeit zu treffen, die von der jeweiligen regelmäßigen tariflichen Arbeitszeit abweichen. So sehen viele TVe Rahmenbedingungen für die Ausgestaltung von Teilzeitarbeit vor; tarifvertraglich begründete Ansprüche auf Teilzeitarbeit waren bekanntlich in nicht wenigen Branchen schon lange vor der Einführung der gesetzlichen Ansprüche nach dem TzBfG geschaffen worden. Manche TVe, wie beispielsweise in der Metallindustrie, gestatten aber auch ausdrücklich – wenn auch nur innerhalb vorgegebener Grenzen –, dass die Vertragsparteien individualvertraglich Vereinbarungen über eine längere Wochenarbeitszeit treffen können3. In jüngerer Zeit finden sich auch TVe mit Modellen zur Einführung einer sog. Lebensarbeitszeit4. Nähere Ausführungen zu Arbeitszeitmodellen und Beispiele für tarifliche Regelungen zur Flexibilisierung der Verteilung der Arbeitszeit finden sich unten in Teil 5 (5). Bei der Vereinbarung von tariflichen Vorgaben zur Verteilung der Arbeitszeit können 19 die TV-Parteien von ihrem Privileg Gebrauch machen, sich auf Regelungen verständigen zu dürfen, die von den ansonsten zwingend geltenden öffentlich-rechtlichen Arbeitszeitbeschränkungen abweichen. In diesem Kontext erlangen die zu Gunsten der TV-Parteien vorgesehenen Öffnungsklauseln in § 7 und § 12 ArbZG Bedeutung. In vielen TVen finden sich nicht nur detaillierte Bestimmungen zur Verteilung der regelmäßigen Arbeitszeit innerhalb einer Kalenderwoche. Vielmehr ermöglichen zahlrei1 LAG Berlin-Brandenburg v. 7.10.2010 – 2 Sa 1230/10, NZA-RR 2011, 65; LAG Berlin-Brandenburg v. 19.1.2011 – 17 Sa 2153/10, ArbRB 2011, 169. 2 Preis/Preis, Der Arbeitsvertrag, Teil II A 90 Rz. 79. 3 Vgl. zum MantelTV für Arbeiter und Angestellte in der Metallindustrie in NordwürttembergNordbaden v. 5.5.1990: BAG v. 17.6.1997 – 1 ABR 3/97, NZA 1998, 213. 4 Vgl. z.B. zum ChemieTV „Lebensarbeitszeit und Demografie“ v. 16.4.2008: Link, AuA 2009, 410.
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Teil 4 Rz. 20
Inhalt des Tarifvertrages
che TVe ausdrücklich flexible Arbeitszeitmodelle, bei denen die regelmäßige tarifliche Arbeitszeit nur im Durchschnitt längerer Zeiträume erreicht wird. Hier wird häufig von den Möglichkeiten nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b und Nr. 4 Buchst. b ArbZG Gebrauch gemacht, die ansonsten vorgesehenen gesetzlichen Ausgleichszeiträume zu verlängern. 20
Soweit es um die konkrete Lage der täglichen Arbeitszeit geht, halten sich die TV-Parteien regelmäßig mit Regelungen eher zurück. Regelungen darüber, an welchen Wochentagen die Arbeit zu leisten ist, insbesondere, ob auch an Samstagen und Sonntagen regelmäßig zu arbeiten ist, finden sich in verschiedenen TVen. Detaillierte Regelungen zu Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit sowie in Bezug auf Pausenzeiten sind demgegenüber selten. Die meisten tariflichen Regelungen zur Flexibilisierung der Arbeitszeit beschränken sich auf die Festlegung von Rahmenvorgaben. Häufig wird nur generell bestimmt, dass flexible Arbeitszeitmodelle – durch Betriebsvereinbarung oder arbeitsvertraglich – vereinbart werden dürfen. Zum Teil eröffnen die TV-Parteien auch konkret den Betriebsparteien die Möglichkeit, bestimmte, dann aber meist nur rahmenartig vorgegebene Modelle zur Arbeitszeitflexibilisierung betrieblich einzuführen. Diese Zurückhaltung der TV-Parteien wäre nicht zwingend geboten, weil es durchaus zu den von den Tarifpartnern regelbaren Arbeitsbedingungen gehört, spezifische Regelungen zur Lage der Arbeitszeit zu treffen1. Ungeachtet dessen besteht offenbar bei den TV-Parteien ganz überwiegend die Auffassung, dass es in erster Linie die Sache der Arbeitsvertragsparteien, insbesondere im Rahmen des § 87 Abs. 1 Nr. 2 und 3 BetrVG auch der betrieblichen Sozialpartner, sein soll, die konkrete Lage der nach dem Tarif geschuldeten Arbeitszeit unter Berücksichtigung der spezifischen betrieblichen Bedürfnisse und etwaiger sonstiger Besonderheiten weitestgehend autonom festzulegen. Soweit sich die TV-Parteien vor diesem Hintergrund auf Rahmenregelungen beschränken, obliegt die nähere Ausfüllung des festgelegten Rahmens den Betriebsparteien. Die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG greift nach der Vorrangtheorie des BAG2 aufgrund des zu berücksichtigenden Vorrangs des Eingangssatzes von § 87 Abs. 1 BetrVG insoweit nicht. Einige TVe stärken sogar ganz gezielt die Position des Betriebsrats, indem sie z.B. die Einführung flexibler Arbeitszeitmodelle ausschließlich auf der Basis einer Betriebsvereinbarung und damit nicht durch bloße Individualabrede zulassen. In Betrieben ohne Betriebsrat kann der Arbeitgeber in diesen Fällen keine flexiblen Modelle einführen. b) Arbeitsentgelt
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Neben der Arbeitszeit gehört das den Arbeitnehmern geschuldete Arbeitsentgelt ohne Zweifel zu den wichtigsten Vertragskonditionen überhaupt. Es ist abgesehen von der Beschäftigung des Arbeitnehmers als solcher die wesentliche Hauptleistungspflicht des Arbeitgebers. Das Tarifentgelt schreibt regelmäßig die an die Tarifmitarbeiter zu zahlende Mindestvergütung verbindlich vor und lässt davon in aller Regel zu Lasten der Arbeitnehmer keine Ausnahmen zu. Selbst für Arbeitsverhältnisse von Vertragsparteien, die keiner Tarifbindung unterliegen, kann das Tarifentgelt einer Branche 1 BAG v. 18.8.1987 – 1 ABR 30/86, NZA 1987, 779; Richardi/Richardi, § 87 BetrVG Rz. 323; s. auch Käppler, Tarifvertragliche Regelungsmacht, NZA 1991, 745 (748). 2 BAG v. 3.12.1991 – GS 2/90, NZA 1992, 749 (zuletzt bestätigt durch BAG v. 27.6.2006 – 3 AZR 255/05, NZA 2006, 1285).
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Normativer Teil – Inhalte von Arbeitsverhltnissen und betriebliche Fragen
Rz. 25 Teil 4
von Bedeutung sein. So sind existierende Tarife entscheidend, wenn eine (wirksame) Vereinbarung der Vertragsparteien über die Vergütung fehlt, weil Tarifgehälter zur Bestimmung des „üblichen Entgelts“ nach § 612 Abs. 2 BGB herangezogen werden können1. Das BAG hat dies zuletzt nochmals in Entscheidungen bestätigt, in denen eine arbeitsvertragliche umfassende Abgeltungsklausel hinsichtlich der Bezahlung von Überstunden für unwirksam befunden wurde, sodass sich die Frage stellte, ob der Arbeitnehmer nach § 612 BGB eine Überstundenvergütung verlangen konnte2. Auch bei der Feststellung, ob eine einzelvertraglich vereinbarte Vergütung angesichts ihrer geringen Höhe sittenwidrig ist, stellt das BAG entscheidend auf eine für vergleichbare Tätigkeiten üblicherweise gezahlte tarifliche Vergütung ab3. Angesichts der besonderen Bedeutung der tariflichen Vergütung verwundert es nicht, 22 dass in fast allen Branchen die Regelungen zum Arbeitsentgelt in eigenen Lohn- und GehaltsTVen bzw. Entgeltabkommen vereinbart werden. Wegen der mitunter sehr großen Zahl von verschiedenen Arbeitsplätzen und Tätigkeiten, für welche die Bezahlung geregelt werden soll, und der sich daraus ergebenden Komplexität werden in den meisten Branchen in einem ersten Schritt EntgeltrahmenTVe entwickelt, in denen bestimmte Grundzüge des tariflichen Vergütungssystems festgeschrieben sind. Detailregelungen, insbesondere auch zur konkreten Höhe der verschiedenen Tarifentgelte, werden sodann zum Gegenstand „ausfüllender“ EntgeltTVe gemacht. Beispielhaft beschrieben und kommentiert ist dies für wichtige Branchen unten in Teil 5 (3). Tarifliche Vergütungsregelungen betreffen im Übrigen nicht nur die zu zahlenden 23 Grundgehälter, sondern regeln umfassend auch verschiedenste Vergütungselemente, wie z.B. die Leistung von Zulagen für besondere Tätigkeiten (Schichtarbeit, schwere Arbeiten), in vielen Fällen auch die Grundzüge von variablen Vergütungskomponenten wie Akkord- oder Prämienlöhnen, Leistungsentgelten oder (Vertriebs-)Provisionen, die Bezahlung von Mehrarbeit (Zuschläge für Überstunden und für Arbeit zu besonderen Zeiten – z.B. nachts oder an Wochenend- bzw. Feiertagen) und schließlich verschiedenste Arten von sonstigen Leistungen. aa) Grundentgelt Wesentliches Element eines tariflichen Vergütungssystems ist regelmäßig die Fest- 24 legung eines tariflichen Grundentgelts, das häufig den wesentlichen Anteil der tariflich geregelten Vergütung ausmacht. Fast ausnahmslos wird dieses tarifliche Grundentgelt von den Tarifpartnern für verschiedene Arbeitnehmergruppen in tariflichen Entgelttabellen festgelegt. bb) Eingruppierung in Entgeltgruppen Die Festlegung der Tarifentgelte für verschiedene Arbeitnehmergruppen wird zumeist 25 in erster Linie in Abhängigkeit von der Tätigkeit der Arbeitnehmer, also nach arbeits1 BAG v. 26.5.1993 – 4 AZR 461/92, NZA 1993, 1049; kritisch: HWK/Thüsing, § 612 BGB Rz. 40 m.w.N. 2 BAG v. 17.8.2011 – 5 AZR 406/10, NZA 2011, 1335; BAG v. 21.9.2011 – 5 AZR 629/10, NZA 2012, 145 (unter Bezugnahme auf BAG v. 11.10.2000 – 5 AZR 122/99, NZA 2001, 458). 3 BAG v. 24.3.2004 – 5 AZR 303/03, NZA 2004, 971; BAG v. 22.4.2009 – 5 AZR 436/08, NZA 2009, 837.
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Teil 4 Rz. 26
Inhalt des Tarifvertrages
platzbezogenen Merkmalen, bestimmt. Zu diesem Zweck verständigen sich die TVParteien typischerweise auf ein bestimmtes Tarifgruppensystem. Für jede dieser Tarifgruppen legen sie dann das maßgebliche Tarifentgelt fest. Hinsichtlich der Frage, wonach sich die Zuordnung eines bestimmten Arbeitsplatzes zu einer Tarifgruppe richtet, gehen die unterschiedlichen Tarifparteien verschiedene Wege. In einigen Fällen werden die in der Branche maßgeblichen Positionen den jeweiligen Tarifgruppen gezielt zugeordnet1. In den meisten Fällen werden demgegenüber – schon weil sich dies in der Praxis als flexibler erweist – die Tarifgruppen anhand abstrakter, tätigkeitsübergreifender Beschreibungen so definiert, dass sich die zu einer Tarifgruppe gehörenden Arbeitsplätze aufgrund bestimmter Merkmale den einzelnen Gruppen zuordnen lassen. Die Zuordnung erfolgt in diesem Fall meist zum einen in Abhängigkeit von Art und Umständen der von den Arbeitnehmern auf einem bestimmten Arbeitsplatz zu erbringenden Tätigkeiten, beispielsweise im Hinblick auf Selbständigkeit, Eigenverantwortung und Führungsaufgaben. Zusätzlich wird in vielen TVen bei der Zuordnung eines Arbeitsplatzes zu einer Tarifgruppe auch darauf abgestellt, welche Vorbildung und Qualifikation üblicherweise von einem Mitarbeiter, der die fragliche Position besetzt, erwartet wird. Als Hilfestellung für die Eingruppierung listen viele TVe zu den einzelnen Tarifgruppen bestimmte Arbeitsplätze auf, die nach dem Willen der TV-Parteien dieser Gruppe zugehören (Regelbeispiele). Unten in Teil 5 (11) sind beispielhaft einige Eingruppierungssysteme beschrieben. 26
Vor der Geltung des AGG haben TVe vielfach innerhalb verschiedener Tarifgruppen unterschiedliche Entgeltstufen festgelegt, bei deren Erreichen sich jeweils ein erhöhter Entgeltanspruch ergab. Nach welcher Stufe ein Mitarbeiter zu bezahlen war, richtete sich dann häufig unter anderem nach seiner Beschäftigungszeit, teilweise auch nach seinem Lebensalter. Inzwischen steht fest, dass eine nach Lebensaltersstufen gestaffelte Vergütung gegen das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters verstößt, das in Art. 21 GrCh verankert und durch die Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf konkretisiert worden ist. Sie stellt gleichzeitig eine unmittelbare Diskriminierung wegen des Alters im Sinne von Art. 2 der Richtlinie dar, die nicht nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie gerechtfertigt ist2. Die den Entscheidungen zugrunde liegenden Übergangsregelungen des TVÜ-Bund zeigen einen zulässigen Weg auf, wie die TV-Parteien eine Überleitung von diskriminierenden und damit unzulässigen Tarifen, die eine Staffelung nach dem Lebensalter vorsehen, auf ein nicht diskriminierendes Entgeltgruppensystem bewerkstelligen können3.
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Nach wie vor zulässig sein können, wie der EuGH in seiner Entscheidung ausdrücklich ausgeführt hat, Entgeltsysteme, die innerhalb einer nach Tätigkeitsmerkmalen bestimmten Tarifgruppe die zu gewährende Vergütung in Abhängigkeit von Zeiten der Berufserfahrung nach unterschiedlichen Stufen bestimmen4. Solche dienstzeitabhängigen Entgeltstufen, wie sie sich beispielsweise im Entgeltsystem des TVöD 1 Vgl. z.B. Tarifvertrag für Ärztinnen und Ärzte an kommunalen Krankenhäusern im Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeber (TV-Ärzte/VKA); s. dazu: LAG Hamm v. 20.1.2009 – 12 Sa 1163/08. 2 EuGH v. 8.9.2011 – Rs. C-297/10 und Rs. C-298/10, NZA 2011, 1100 – Hennigs; BAG v. 10.11.2011 – 6 AZR 481/09, NZA-RR 2012, 100. 3 BAG v. 8.12.2011 – 6 AZR 319/09, NZA 2012, 275. 4 EuGH v. 8.9.2011 – Rs. C-297/10 und Rs. C-298/10, NZA 2011, 1100 – Hennigs.
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Normativer Teil – Inhalte von Arbeitsverhltnissen und betriebliche Fragen
Rz. 29 Teil 4
finden, können also auch nach Einführung des AGG und unter Berücksichtigung der Vorgaben der Richtlinie 2000/78/EG wirksam vereinbart werden1. Der tarifgebundene Arbeitgeber, in dessen Betrieb ein auf einem TV basierendes Ent- 28 geltgruppensystem anzuwenden ist, hat die Arbeitnehmer des Betriebs (mindestens) so zu vergüten, wie es nach dem System vorgesehen ist. Um dieser Verpflichtung nachkommen zu können, muss der Arbeitgeber jeden Mitarbeiter dementsprechend in das Entgeltsystem eingruppieren. Diese Eingruppierung ist Gegenstand der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats nach §§ 95, 99 BetrVG2. Für den tarifgebundenen Arbeitgeber stellt das Entgeltsystem des einschlägigen TVs gleichzeitig auch das im Betrieb maßgebliche Entlohnungssystem im Sinne von § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG dar. Nach Auffassung des BAG ist deswegen der Arbeitgeber betriebsverfassungsrechtlich zur Eingruppierung auch von nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern verpflichtet, obwohl es sich bei den Tarifnormen zum Entgeltsystem nicht um Betriebsnormen handele.3 Die Transparenz der betrieblichen Lohngestaltung und die Beachtung der Verteilungsgerechtigkeit erforderten eine vergleichende Bewertung des gesamten betrieblichen Entgeltgefüges4. Ein individualrechtlicher Anspruch des einzelnen nicht tarifgebundenen Mitarbeiters auf die tarifliche Vergütung geht damit, wie das BAG in seiner Entscheidung ausdrücklich betont, nicht einher. Besondere Grundsätze gelten nach der Rechtsprechung des BAG für Fälle einer fehlerhaften Eingruppierung. Einzelheiten dazu sind im Rahmen der beispielhaften Kommentierung der EntgeltTVe der Chemieindustrie unten in Teil 5 (11) beschrieben. cc) Sonderzahlungen Viele TVe beschränken sich in Bezug auf die Entgeltansprüche der Tarifmitarbeiter 29 nicht auf die Festlegung eines tariflichen Grundentgelts und anderer regelmäßiger, meist monatlich zu zahlender Vergütungselemente (Zulagen, Leistungslöhne etc.). Neben diesen Entgelten, die in erster Linie in Ansehung der Arbeitsleistung der Mitarbeiter gezahlt werden und im vertraglichen Synallagma stehen, sehen seit jeher viele TVe die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Leistung von Sonderzuwendungen (z.B. Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld, sonstige Gratifikationen) vor. Typisch sind dabei auch tarifliche Regelungen, nach denen bestimmte Zahlungen gezielt auch der Honorierung der Betriebstreue dienen sollen (Stichtagsklauseln, Rückzahlungsklauseln). In formularmäßigen Individualverträgen sind bei solchen Vereinbarungen – seit der Geltung des AGB-Rechts im Arbeitsrecht – besondere, den Arbeitnehmer schützende Vorgaben zu beachten5. Die TV-Parteien unterliegen demgegenüber nach der Rechtsprechung des BAG weniger strengen Vorgaben, wenngleich auch sie das Grundrecht der Arbeitnehmer auf freie Berufswahl nicht gänzlich aushöhlen dürfen6. 1 EuGH v. 3.10.2006 – Rs. C-17/05, NJW 2007, 47 – Cadman; BAG v. 27.1.2011 – 6 AZR 526/09, NZA 2011, 1361. 2 Vgl. zur Eingruppierung HWK/Ricken, § 99 BetrVG Rz. 24 ff.; Fitting, § 99 BetrVG Rz. 79 ff. 3 BAG v. 14.4.2015 – 1 ABR 66/13, BB 2015, 2044. 4 BAG v. 18.10.2011 – 1 ABR 25/10, NZA 2012, 392. 5 BAG v. 28.3.2007 – 10 AZR 261/06, NZA 2007, 687; BAG v. 24.10.2007 – 10 AZR 825/06, NZA 2008, 40; Heiden in Tschöpe, AHB-Arbeitsrecht, Teil 2 A Rz. 465 ff. 6 BAG v. 25.4.2007 – 10 AZR 634/06, NZA 2007, 875; BAG v. 23.5.2007 – 10 AZR 363/06, AP Nr. 24 zu § 1 TVG Tarifverträge: Großhandel; vgl. auch Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 518 ff.
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Teil 4 Rz. 30
Inhalt des Tarifvertrages
c) Urlaub, Bildungsurlaub 30
Zu typischen Regelungsgegenständen in TVen gehören über die zentralen Fragen von Arbeitszeit und Arbeitsentgelt hinaus auch Fragen des Umfangs von Urlaubsansprüchen sowie der Verpflichtung des Arbeitgebers zur Gehaltsfortzahlung trotz nicht erbrachter Arbeitsleistung in anderen Fällen. Neben dem Anspruch auf Erholungsurlaub sehen TVe vielfach auch Ansprüche der Arbeitnehmer auf Bildungsurlaub vor, die über die gesetzlich geregelten Ansprüche hinausgehen. In Bezug auf Urlaubsansprüche werden außer der Festlegung der Zahl von Urlaubstagen, die den Arbeitnehmern jährlich zustehen, häufig tarifliche Regeln zur Übertragbarkeit von Urlaubsansprüchen oder zum Entstehen von Teilurlaubsansprüchen bei unterjährigem Ein- oder Austritt vereinbart. Hier machen sich die Koalitionspartner häufig die Tariföffnungsklausel des § 13 Abs. 1 BUrlG zunutze. Angesichts der Entwicklungen in der Rechtsprechung des EuGH zum Schutz des Mindesturlaubsanspruchs nach der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 im Falle von langzeiterkrankten Mitarbeitern in den Entscheidungen „Schultz-Hoff“ und „Schulte“1 kommt TVen, die Regelungen über den Verfall von tariflich normierten Urlaubstagen beinhalten, wieder eine größere Bedeutung zu. So hat inzwischen das BAG nochmals ausdrücklich bestätigt, dass die TV-Parteien Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüche, die den von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG gewährleisteten und gemäß den §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG begründeten Anspruch auf Mindestjahresurlaub von vier Wochen übersteigen (Mehrurlaub), abweichend von den Grundsätzen, die der EuGH aufgestellt hat, frei regeln können2.
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Dass die TV-Parteien im Übrigen, auch wenn ihnen weniger enge Grenzen gesetzt sind als den Arbeitsvertragsparteien, an Recht und Gesetz gebunden sind, hat das BAG am Beispiel tariflicher Urlaubsregelungen nochmals deutlich gemacht. Es hat eine Staffelung von Urlaubsansprüchen in Abhängigkeit vom Lebensalter der Arbeitnehmer, wie sie in § 26 Abs. 1 Satz 2 TVöD-VKA (in der Fassung vom 13. September 2005) mit unterschiedlichen Ansprüchen für Mitarbeiter bis zur Vollendung des 30., des 40. Lebensjahres und darüber hinaus geregelt war, wegen Verstoßes gegen das Verbot der Altersdiskriminierung nach §§ 1, 7 AGG für unwirksam erachtet. Insbesondere sah das Gericht nicht, dass ein gesteigertes Erholungsbedürfnis von Beschäftigten bereits ab dem 30. bzw. 40. Lebensjahr eine Ungleichbehandlung rechtfertigen könne. Im Ergebnis sollten demnach alle Mitarbeiter unabhängig von ihrem Alter die tariflich vorgesehene Höchstzahl von 30 Urlaubstagen beanspruchen können3. Die TVParteien haben auf dieses Urteil umgehend reagiert und in der Tarifrunde 2012 unter Berücksichtigung der Hinweise des BAG den TVöD mit Wirkung ab Januar 2013 angepasst und die Urlaubsstaffelung abweichend geregelt4.
1 EuGH v. 20.1.2009 – Rs. C-350/06, NZA 2009, 135 – Schultz-Hoff; EuGH v. 22.11.2011 – Rs. C-214/10, NZA 2011, 1333 – KHS. 2 BAG v. 22.5.2012 – 9 AZR 618/10, NZA 2012, 987. 3 BAG v. 20.3.2012 – 9 AZR 529/10, NZA 2012, 803. 4 Nunmehr sind für Mitarbeiter bis zur Vollendung des 55. Lebensjahres 29, danach 30 Urlaubstage vorgesehen.
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Normativer Teil – Inhalte von Arbeitsverhltnissen und betriebliche Fragen
Rz. 34 Teil 4
d) Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall Im Hinblick auf sonstige Fälle der Gehaltsfortzahlung finden sich in TVen insbeson- 32 dere Regelungen zur erweiterten Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Historisch war dies insbesondere von Bedeutung, als der Gesetzgeber noch unterschiedliche Regelungen zur Entgeltfortzahlung für Arbeiter und für Angestellte vorsah. Zahlreiche TVe sahen seinerzeit Regelungen vor, die die Rechtsposition und den Schutz von Arbeitern im Krankheitsfall verbesserten und auf die Beseitigung der Unterschiede im Vergleich zu den Ansprüchen der Angestellten abzielten. In der jüngeren Zeit kam tariflichen Regelungen zur Entgeltfortzahlung nochmals eine besondere Bedeutung zu, als die Höhe der gesetzlichen Entgeltfortzahlung nach dem EFZG vorübergehend auf 80 % beschränkt war (EFZG i.d.F. vom 1.10.1996 bis 31.12.1998). Je nachdem, wie die Regelungen eines TVs auszulegen waren, konnte sich daraus für die Mitarbeiter ungeachtet der geänderten Gesetzeslage weiterhin ein Anspruch auf 100 % Entgeltfortzahlung ergeben. Nach der Rechtsprechung des BAG galt dies immer dann, wenn davon auszugehen war, dass die TV-Parteien eine selbständige, d.h. in ihrer normativen Wirkung von der gesetzlichen Norm unabhängige Regelung getroffen hatten1. Heute sehen tarifliche Regelungen zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall in Ergän- 33 zung zu den vereinheitlichten Regelungen des EFZG manchmal noch Ansprüche der Arbeitnehmer auf Zuschüsse zum gesetzlichen Krankengeld für Zeiten nach Ende des Entgeltfortzahlungszeitraums vor. Außerdem sind tarifvertragliche Regelungen zur Entgeltfortzahlung weiterhin mit Blick auf die Tariföffnungsklausel in § 4 Abs. 4 EFZG von Bedeutung. Gerade in Branchen, in denen das Entgelt der Arbeitnehmer viele leistungs- oder ergebnisabhängige Elemente beinhaltet, kann sich die Handhabung der gesetzlichen Regelungen in § 4 Abs. 1a EFZG zur Ermittlung der Höhe des fortzuzahlenden Entgelts als kompliziert erweisen. Die Idee des EFZG, nach der in erster Linie das tatsächlich in der Zeit der Abwesenheit nicht erzielte prognostizierte Entgelt ausgeglichen werden soll (Entgeltausfallprinzip), stößt dabei häufig an ihre Grenzen. Als besser praktikabel erweist sich oft eine Bemessung des Entgelts nach einem vor der Zeit der Arbeitsunfähigkeit liegenden Zeitraum in der Vergangenheit (Referenzprinzip)2. Die Tarifpartner können im Rahmen der ihnen gegebenen Regelungsmacht nicht zuletzt speziell für die von ihnen eingeführten variablen Vergütungselemente auch deren Berücksichtigung bei der Ermittlung der Höhe der Entgeltfortzahlung regeln. Einige Entgeltfortzahlungsklauseln verschiedener Branchen sind exemplarisch unten in Teil 5 (12) kommentiert. e) Vorübergehende Verhinderung, Arbeitsausfall, Annahmeverzug Die gesetzliche Regelung in § 616 BGB zum Anspruch des Arbeitnehmers auf unbe- 34 zahlte Freistellung in Fällen unverschuldeter Dienstverhinderung für verhältnismäßig kurze Zeiträume, die nicht auf eine Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers zurückzuführen sind, ist durch die Rechtsprechung bisher nur für wenige Fallgruppen durch verallgemeinerungsfähige Grundsätze konturiert worden. Dies gilt zum Bei1 Vgl. BAG v. 16.6.1998 – 5 AZR 638/97, NZA 1998, 1062; BAG v. 16.6.1998 – 5 AZR 67/97, NZA 1998, 1288; BAG v. 16.6.1998 – 5 AZR 728/97, NZA 1998, 1343; s. auch Boecken, NZA 1999, 673 (677 f.). 2 HWK/Schliemann, § 4 EFZG Rz. 33 ff.
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Teil 4 Rz. 35
Inhalt des Tarifvertrages
spiel für die Fälle der Stellensuche nach § 629 BGB1 oder für Fehlzeiten aufgrund von Arztbesuchen2. Außerdem geht das BAG davon aus, dass regelmäßig eine besonders stark ausgeprägte sittliche Verpflichtung besteht, an der Familienfeier der Goldenen Hochzeit der Eltern teilzunehmen, sodass in solchen Fällen § 616 Abs. 1 Satz 1 BGB greift3. Eine umfassende Kasuistik, anhand derer sich die Arbeitsvertragsparteien bei der Bestimmung der Reichweite von § 616 BGB orientieren könnten, fehlt hingegen. Viele TVe präzisieren vor diesem Hintergrund die – dispositive – Regelung des § 616 BGB und stellen recht umfassende Kataloge von Ereignissen auf, bei denen den Mitarbeitern ein oder zwei Tage bezahlten Sonderurlaubs zustehen (z.B. eigene Hochzeit, Geburt eines Kindes, Todesfall im Familienkreis, Umzug). Einige typische Klauseln, die Fälle der Arbeitsverhinderung zum Gegenstand haben, sind nachfolgend in Teil 5 (4) beschrieben. 35
Einige TVe enthalten Regelungen, die sich mit dem Verdienstausfallrisiko bei einem Arbeitsausfall befassen und damit die Vorschriften zum Annahmeverzug nach § 615 BGB konkretisieren oder modifizieren. Neben den oben schon angesprochenen Tarifregelungen zur Kurzarbeit (vgl. Rz. 17) ist denkbar, dass die TV-Parteien auch in anderen Situationen, in denen ein weder vom Arbeitgeber noch vom Arbeitnehmer verschuldeter Arbeitsausfall gegeben ist, zugunsten des Arbeitgebers Vereinbarungen treffen, die von der Betriebsrisikolehre abweichen. Ein dahin gehender Wille der TVParteien muss sich aber aus dem TV eindeutig ergeben4. Beispielhaft finden sich unten in Teil 5 (2) Kommentierungen der Klauseln ausgewählter Branchen zum Annahmeverzug. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang außerdem Klauseln über die Verteilung des Lohnrisikos in der Schlechtwetterzeit, die Gegenstand der Ausführungen unten in Teil 5 (18) sind. f) Sonstige Arbeitgeberleistungen
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Regelmäßig Gegenstand von TVen sind über Entgelt- und Entgeltfortzahlungsfragen hinaus Nebenleistungen des Arbeitgebers. So finden sich beispielsweise in verschiedenen TVen Regelungen über vermögenswirksame Leistungen des Arbeitgebers, über sog. Investivlohnmodelle oder über Ansprüche auf Gruppenversicherungen. Besondere Bedeutung haben in der jüngeren Vergangenheit angesichts der Veränderungen im gesetzlichen Rentensystem darüber hinaus TVe zu Systemen der betrieblichen Altersvorsorge erlangt. In vielen Branchen finden sich inzwischen spezielle Vereinbarungen zur Ausgestaltung der Altersvorsorge durch Entgeltumwandlungsmodelle. Die dort zu findenden Regelungen dienen häufig dem Ziel, die Rahmenbedingungen, die sich aus dem gesetzlichen Anspruch auf eine arbeitnehmerfinanzierte Versorgung gemäß § 1a BetrAVG ergeben, umzusetzen bzw. auszufüllen. Aber auch Modelle der betrieblichen Altersversorgung, die der Arbeitgeber voll finanziert – oder zumindest durch Aufstockungsbeiträge mitfinanziert –, sind in vielen Branchen durch TV eingeführt worden. Insbesondere, soweit TVe zur Stärkung der sog. „zweiten Säule“ der Altersver1 BAG v. 11.6.1957 – 2 AZR 15/57, JZ 1957, 640; BAG v. 13.11.1969 – 4 AZR 35/69, DB 1970, 211. 2 Vgl. dazu Verweise auf einschlägige Literaturstimmen in BAG v. 21.1.1997 – 1 ABR 53/96, NZA 1997, 785. 3 BAG v. 25.10.1973 – 5 AZR 156/73, NJW 1974, 663. 4 BAG v. 6.11.1968 – 4 AZR 186/68, DB 1969, 399; BAG v. 9.3.1983 – 4 AZR 301/80, DB 1983, 1496; BAG v. 30.1.1991 – 4 AZR 338/90, NZA 1991, 519.
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Normativer Teil – Inhalte von Arbeitsverhltnissen und betriebliche Fragen
Rz. 38 Teil 4
sorgung arbeitgeberfinanzierte Betriebsrentenmodelle vorsehen, sind diese häufig mit tariflichen Altersgrenzen (vgl. dazu nachfolgend Rz. 79 ff. und die Beispiele unten in Teil 5 (1)) verbunden. g) Direktionsrecht Verbreitet sind in TVen Regelungen zu finden, die das Direktionsrecht des Arbeit- 37 gebers – heute in seinen Grundzügen ausdrücklich gesetzlich normiert in § 106 GewO – regeln. Dazu gehören zum einen die oben schon erwähnten tariflichen Regelungen zur Lage der Arbeitszeit (vgl. Rz. 20). Das Weisungsrecht des Arbeitgebers bezieht sich darüber hinaus auch auf die Festlegung von Arbeitsinhalt und Arbeitsort. Insoweit finden sich in TVen nicht nur Beschränkungen des Direktionsrechts zugunsten der Arbeitnehmer, sondern – insbesondere z.B. im Bereich des öffentlichen Dienstes – auch Regelungen, die das Direktionsrecht des Arbeitgebers erweitern. Wie in verschiedenen anderen Regelungsbereichen auch besteht für die TV-Parteien in Bezug auf das Weisungsrecht des Arbeitgebers ein weiterer Regelungsspielraum als für die Parteien des Arbeitsvertrages. Dies gilt namentlich im Hinblick auf Regelungen, die es dem Arbeitgeber ermöglichen, dem Arbeitnehmer andere, gegebenenfalls auch geringerwertige Tätigkeiten zuzuweisen. Individualrechtlich sind dabei die Schranken der §§ 305 ff. BGB zu beachten. Eine formularvertragliche Erweiterung des Direktionsrechts, die die Zuweisung von nicht gleichwertigen Aufgaben ermöglichen soll, ist nach Auffassung des BAG unwirksam1. Hingegen hat das BAG schon wiederholt entschieden, dass eine Erweiterung des Leistungsbestimmungsrechts durch einen TV grundsätzlich denkbar ist. Voraussetzung dafür sei jedoch, dass dies nicht zur Umgehung zwingender Kündigungsschutzbestimmungen führen dürfe. Unter gewissen Umständen kann damit die in einem TV vorgesehene Möglichkeit der Zuweisung einer unterwertigen Beschäftigung zulässig sein. Jedoch muss die tarifliche Regelung die Voraussetzungen bestimmen und im Regelfall eine zeitliche Begrenzung der Zuweisung der geringerwertigen Tätigkeit vorsehen2. Unten in Teil 5 (9) sind einige Direktionsrechtsklauseln aus verschiedenen Branchen beispielhaft kommentiert. h) Nebenpflichten des Arbeitnehmers Verschiedene TVe enthalten neben den Normen über die synallagmatischen Haupt- 38 pflichten der Arbeitsvertragsparteien sowie über diverse Leistungspflichten des Arbeitgebers auch Regelungen, welche die Nebenpflichten der tarifgebundenen Arbeitnehmer konkretisieren. So finden sich beispielsweise Regelungen über Nebentätigkeitsverbote3, über Zustimmungserfordernisse in Bezug auf Nebentätigkeiten4 oder über Meldepflichten des Arbeitnehmers bei Arbeitsverhinderung5. In den meis1 BAG v. 9.5.2006 – 9 AZR 424/05, NZA 2007, 145. 2 BAG v. 23.9.2004 – 6 AZR 442/03, NZA 2005, 475; BAG v. 16.12.2004 – 6 AZR 658/03, ZTR 2005, 424; s. aber auch BAG v. 19.11.2002 – 3 AZR 591/01, NZA 2003, 880. 3 Vgl. z.B. Lenkzeitkontrolle nach dem MTV Nr. 6 v. 12.8.1998 für alle gewerblichen Arbeitnehmer/-innen des privaten Omnibusgewerbes in Bayern (dazu: BAG v. 26.6.2001 – 9 AZR 343/00, NZA 2002, 98). 4 Vgl. z.B. § 3 Abs. 3 Satz 2 TVöD (dazu: LAG Rheinland-Pfalz v. 4.5.2010 – 3 Sa 688/09, AE 2011, 120). 5 Vgl. zu entsprechenden Klauseln in MTVen der Klimatechnik BAG v. 27.6.1990 – 5 AZR 314/89, NZA 1991, 103.
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Teil 4 Rz. 39
Inhalt des Tarifvertrages
ten Fällen lehnen sich dabei die tariflichen Regelungen eng an bestehende gesetzliche Regelungen an oder gelangen – so z.B. verschiedene tarifliche Regelungen zu nachvertraglichen Wettbewerbsverboten – nur dann zur Anwendung, wenn die Arbeitsvertragsparteien überhaupt eine entsprechende Vereinbarung einzelvertraglich schließen möchten. Ein Blick in die zu solchen Regelungen veröffentlichte Rechtsprechung und Literatur zeigt, dass ihnen zumindest in der juristischen Praxis nur eine verhältnismäßig geringe Bedeutung zukommt. i) Ausschlussklauseln 39
Seit jeher in vielen TVen zu finden sind Regelungen über den Verfall oder Ausschluss von Ansprüchen der Arbeitsvertragsparteien, wenn solche Ansprüche nicht innerhalb bestimmter Fristen in einer bestimmten Form gegenüber dem Vertragspartner geltend gemacht werden. Häufig vereinbaren die TV-Parteien insbesondere Regelungen zu zweistufigen Ausschlussfristen, nach denen in einem ersten Schritt der Anspruch gegenüber dem Vertragspartner geltend zu machen und bei Erfolglosigkeit in einem zweiten Schritt der Klageweg zu beschreiten ist (vgl. auch Teil 16 Rz. 77 ff.). Tariflichen Verfallklauseln kommt in der Praxis nicht zuletzt deswegen eine erhebliche Bedeutung zu, weil das BAG an die Wirksamkeit der Vereinbarung von Ausschlussfristen in Formularverträgen seit Geltung des AGB-Rechts im Arbeitsrecht strenge Anforderungen stellt. Der Sache nach hält das BAG an der Möglichkeit der wirksamen Vereinbarung von Ausschlussklauseln in Formulararbeitsverträgen fest, stellt aber besondere Anforderung an deren Formulierung und Reichweite sowie an die vereinbarten Fristen1. Eine Vielzahl der Klauseln in existierenden Arbeitsverträgen hält der AGB-Kontrolle nicht stand. Die – gerade auch in zahlenmäßig bedeutsamen Branchen – existierenden tariflichen Verfallklauseln werden hingegen vom BAG überwiegend für zulässig erachtet2. Das BAG hat dies in zwei Entscheidungen jüngst nochmals für den MTV für den Einzelhandel Nordrhein-Westfallen und für den MTV für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in den bayerischen Betrieben des Großund Außenhandels bestätigt. Bemerkenswert sind diese BAG-Entscheidungen3 nicht zuletzt auch deswegen, weil sie die neue Rechtsprechung des BAG zu den Grundsätzen des Urlaubsrechts umsetzen, zu der sich das Gericht wegen verschiedener Entscheidungen des EuGH veranlasst sah. Danach kann sich aus tariflichen Regelungen nunmehr auch der Verfall von Urlaubsabgeltungsansprüchen ergeben, weil diese nach der nunmehrigen Auffassung des 9. Senats als reine Geldansprüche denselben tariflichen Bedingungen unterfallen wie alle übrigen Zahlungsansprüche der Arbeitsvertragsparteien4. Weitere allgemeine Erläuterungen zu Tarifregelungen über den Verfall und Ausschluss von Ansprüchen finden sich unten in Teil 5 (23). Dort sind die relevanten Klauseln verschiedener Branchen beispielhaft beschrieben.
1 BAG v. 25.5.2005 – 5 AZR 572/04, NZA 2005, 1111; BAG v. 28.11.2007 – 5 AZR 992/06, NZA 2008, 293; BAG v. 12.3.2008 – 10 AZR 152/07, NZA 2008, 699; BAG v. 23.10.2013 – 5 AZR 556/12, NZA 2014, 313; BAG v. 24.9.2014 – 5 AZR 506/12, NJW-Spezial 2014, 755. 2 Zuletzt nochmals BAG v. 3.7.2013 – 4 AZR 476/12, ZTR 2014, 237; BAG v. 19.11.2014 – 5 AZR 121/13, NZA-RR 2015, 255. 3 BAG v. 9.8.2011 – 9 AZR 365/10, NZA 2011, 1421; BAG v. 21.2.2012 – 9 AZR 486/10, NZA 2012, 750. 4 BAG v. 9.8.2011 – 9 AZR 365/10, NZA 2011, 1421; BAG v. 21.2.2012 – 9 AZR 486/10, NZA 2012, 750.
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Normativer Teil – Inhalte von Arbeitsverhltnissen und betriebliche Fragen
Rz. 42 Teil 4
2. Nicht individualvertraglich regelbare Inhalte Die Natur eines TVs als Kollektivvereinbarung bringt es mit sich, dass die TV-Parteien 40 bei der Regelung des Inhalts von Arbeitsverhältnissen nicht darauf beschränkt sind, Rechte und Pflichten zu regeln, welche auch die Individualvertragsparteien im einzelnen Arbeitsvertrag vereinbaren könnten. Die sich daraus ergebenden Möglichkeiten gelten nicht nur im Hinblick auf betriebliche oder betriebsverfassungsrechtliche Fragen nach § 3 Abs. 2 TVG, bei denen die mangelnde Regelungsmöglichkeit durch bloße Individualvereinbarung offenkundig ist (vgl. Rz. 86 ff.). Es gibt vielmehr Beispiele dafür, dass normativ wirkende, aber nur für die Tarifgebundenen geltende Inhaltsnormen so ausgestaltet sind, dass sie in gleicher Form nicht Gegenstand eines einzelnen Arbeitsvertrages sein könnten. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang Regelungen in TVen, die es den Tarifgebundenen untersagen, bestimmte Inhalte oder Regelungen im Arbeitsvertrag zu vereinbaren. Man bezeichnet solche tariflichen Verbotsnormen als negative Inhaltsnormen (auch: negative Ordnungsnormen)1. Ihnen wohnt, ohne dass es sich deswegen zwingend um betriebliche Normen handeln muss, ein kollektiver Charakter inne. Sie dienen der umfassenden Durchsetzung eines von den TV-Parteien verfolgten Ziels. So kann ein TV generell verbieten, bei der Vereinbarung von Teilzeitarbeitsverhältnissen eine bestimmte Mindeststundenzahl zu unterschreiten, soweit nicht besondere Gründe vorliegen2. Ein TV kann vorsehen, dass der Ausgleich bestimmter Freizeitguthaben in keinem Falle durch Abgeltung in Geld erfolgen darf3. Die TV-Parteien können auch die maximal zulässige Dauer einer Probezeitbefristung regeln4. Entgegenstehende Individualvereinbarungen sind in diesen Fällen unwirksam. Nur 41 so kann dem erkennbaren Ansinnen der TV-Parteien Rechnung getragen werden. Sie möchten offenbar die betroffenen Arbeitnehmer vor bestimmten, als objektiv nachteilig empfundenen Regelungsinhalten schützen. Auf das Günstigkeitsprinzip soll sich der Arbeitnehmer angesichts der besonderen Intention der negativen Inhaltsnormen nicht berufen können5. Die TV-Parteien haben damit ein Mittel an der Hand, die Regelungsbefugnis der tarifgebundenen Parteien des Arbeitsvertrages zu beschränken, ohne in dem fraglichen Bereich selbst eine inhaltliche Regelung zu schaffen. Eine Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG (vgl. Teil 9 Rz. 21 ff.) kommt bei negativen Inhaltsnormen freilich nicht in Betracht.
III. Abschluss- und Beendigungsnormen Der Regelungsauftrag der TV-Parteien bezieht sich gemäß § 1 Abs. 1 TVG nicht nur 42 auf den Inhalt des Arbeitsverhältnisses, sondern gleichermaßen auf seinen Abschluss und seine Beendigung. Den Koalitionen obliegt bei der Ausübung der ihnen gewährten Grundrechte nach Art. 9 Abs. 3 GG ein umfassender Ordnungsauftrag. Zu einer 1 Preis/Preis, Der Arbeitsvertrag, Teil I C Rz. 18; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 337 ff.; vgl. auch BAG v. 18.7.1978 – 1 ABR 79/75, BB 1978, 1718. 2 Vgl. BAG v. 28.1.1992 – 1 ABR 45/91, NZA 1992, 606. 3 Vgl. BAG v. 7.12.1956 – 1 AZR 480/55, BB 1957, 293. 4 Vgl. BAG v. 7.8.1980 – 2 AZR 563/78, DB 1980, 2244. 5 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 18 V 4b, S. 846; kritisch: Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 355.
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Teil 4 Rz. 43
Inhalt des Tarifvertrages
sinnvollen autonomen Ausgestaltung des Arbeitslebens gehört danach nicht lediglich eine ausgewogene Regelung der Arbeitsbedingungen derjenigen, die bereits am Berufsleben teilhaben. Der Aufgabe, vor die die TV-Parteien gestellt sind, können sie nur gerecht werden, wenn sie die Möglichkeit haben, durch Abschluss- oder Beendigungsnormen auch den Zugang zum Arbeitsleben einerseits und Fragen im Zusammenhang mit der Auflösung von Arbeitsverhältnissen andererseits verbindlich zu regeln. Eine Normsetzungsbefugnis, die auf die Regelung der Inhalte bestehender Arbeitsverhältnisse beschränkt wäre, würde dem Ordnungsauftrag der Koalitionspartner nicht angemessen Rechnung tragen. 1. Abschlussnormen 43
Abschlussnormen regeln Fragen, die im Zusammenhang mit der Eingehung eines Arbeitsverhältnisses stehen. In der Praxis häufig zu finden sind Vorschriften, die für die Begründung von Arbeitsverhältnissen – generell oder in bestimmten Fällen – eine besondere Form vorsehen. Abschlussnormen können aber auch eine weitergehende Regelungsintensität haben. Es finden sich tarifliche Gebote, nach denen bestimmte Arbeitsverhältnisse neu zu begründen oder unterbrochene Arbeitsverhältnisse fortzusetzen sind (Abschlussgebote). Umgekehrt kann eine Abschlussnorm auch die Möglichkeiten der Begründung bestimmter Arbeitsverhältnisse beschränken, indem z.B. die Anstellung bestimmter Personengruppen verboten oder die Begründung bestimmter Arten von Arbeitsverhältnissen untersagt wird (Abschlussverbote). a) Formerfordernisse
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Der Abschluss eines Arbeitsvertrages ist im deutschen Recht grundsätzlich formfrei möglich, vgl. § 105 Satz 1 GewO. Das NachwG gibt dem Arbeitnehmer zwar einen Anspruch auf eine vom Arbeitgeber unterzeichnete Niederschrift der wesentlichen Vertragsbedingungen, vgl. § 2 Abs. 1 NachwG. Die Beachtung der Vorgaben des Nachweisgesetzes durch den Arbeitgeber ist jedoch keine Voraussetzung für die Wirksamkeit des Vertrages. Die Nichtigkeitsfolge des § 125 BGB greift nicht1. Es gibt im Übrigen nur wenige gesetzliche Regelungen, welche die schriftliche Vereinbarung von Arbeitsverträgen generell oder auch nur punktuell in Bezug auf bestimmte Abreden der Vertragsparteien zur Wirksamkeitsvoraussetzung machen. Zu den wichtigsten Bestimmungen gehören insoweit § 74 Abs. 1 HGB (besondere Schriftform bei nachvertraglichem Wettbewerbsverbot) sowie §§ 14 und 21 TzBfG (Befristung, auflösende Bedingung). Regelungen über die Befristung sind unten bei den Beendigungsnormen behandelt (vgl. Rz. 73 ff.), obwohl das BAG sie zum Teil als Abschlussnormen qualifiziert (vgl. Rz. 78). Für Ausbildungsverhältnisse sieht § 11 BBiG die (nachträgliche) Unterzeichnung der Vertragsniederschrift vor. Formverstöße in den vorgenannten Fällen führen, wenn das Formerfordernis nicht ohnehin nur deklaratorischer Natur ist (so z.B. § 11 BBiG2), nach der gesetzlichen Konzeption alleine zur Nichtigkeit der formbedürftigen Vertragsabrede, nicht etwa zur Unwirksamkeit des Arbeitsvertrages an sich. Nur so kann dem Schutzbedürfnis des Arbeitnehmers, auf dessen Interessen die Schriftformerfordernisse in erster Linie abzielen, Rechnung getragen werden. Tarifvertragliche Schriftformerfordernisse, die sich auf die Begründung des Arbeitsver1 HWK/Kliemt, Vorb. NachwG Rz. 14. 2 BAG v. 21.8.1997 – 5 AZR 713/96, NZA 1998, 37.
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Normativer Teil – Inhalte von Arbeitsverhltnissen und betriebliche Fragen
Rz. 46 Teil 4
hältnisses im Ganzen beziehen (sog. globale Formvorschriften), sind vor diesem Hintergrund gleichermaßen regelmäßig deklaratorischer Natur1. Soweit sich diese Rechtsfolge eines Formverstoßes nicht unmittelbar aus den tariflichen Regelungen ergibt2, wird die dann notwendige Auslegung meist zu dem Ergebnis führen, dass ein konstitutives Schriftformerfordernis nicht gewollt war. Es dürfte selten im wohlverstandenen Interesse der TV-Parteien liegen, wegen eines Verstoßes gegen ein Schriftformerfordernis von einem unwirksamen Arbeitsverhältnis auszugehen, für das dann die Regelungen über das faktische Arbeitsverhältnis gelten würden3. Nur vereinzelt machen TVe ausdrücklich die Schriftform des Arbeitsvertrages zur Wirksamkeitsvoraussetzung4. Tariflich geregelte Formvorschriften beziehen sich vor diesem Hintergrund meist 45 auch nicht global auf das Arbeitsverhältnis als solches, sondern auf die Regelung bestimmter Vertragsinhalte (z.B. Wettbewerbsverbote, Probezeitabreden, Vereinbarung des AT-Status), auf Nebenabreden im Allgemeinen (vgl. z.B. § 2 Abs. 3 TVöD) oder auf Fragen der Vertragsbeendigung. Bei solchen Regelungen ist es durchaus denkbar, dass die TV-Parteien ihnen eine konstitutive Wirkung zukommen lassen wollten, so dass in diesen Fällen ein Formverstoß zur Unwirksamkeit der formlos getroffenen Vertragsabrede führt. b) Abschlussgebote Ein in einem TV geregeltes und an die Tarifunterworfenen gerichtetes Gebot, be- 46 stimmte Arbeitsverträge einzugehen, stellt eine wesentliche Ausnahme vom Grundsatz der Kontrahierungsfreiheit dar, die ansonsten im Arbeitsrecht besteht. Die Vertragsfreiheit bezieht sich dabei nicht nur auf die Frage, ob die Parteien überhaupt ein Arbeitsverhältnis eingehen möchten (Abschlussfreiheit) sondern auch darauf, mit wem ein Arbeitsverhältnis begründet wird (Auswahlfreiheit). Zu Lasten des Arbeitgebers finden sich in arbeitsrechtlichen Gesetzen – wenn auch nur in wenigen Fällen – verschiedene Vorschriften, die im Ergebnis zu einem Kontrahierungszwang führen, wie z.B. in § 10 AÜG, § 15 Abs. 5 TzBfG oder § 613a BGB. Auch das Richterrecht hat zugunsten der Arbeitnehmer einzelne Abschlussgebote wie den Wiedereinstellungsanspruch bei Wegfall des Kündigungsgrundes oder den allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruch entwickelt5. Es gibt jedoch keine gesetzlichen Vorgaben dahingehend, dass sich ein Arbeitgeber, dem sich für eine von ihm zu besetzende Stelle mehrere Bewerber anbieten, im Rahmen seiner Auswahl für eine bestimmte Person entscheiden müsste, oder dass er bestimmte Gesichtspunkte bei seiner Auswahl zwingend positiv zu berücksichtigen hätte6. Das in wesentlichen Teilen am 1.5.2015 in Kraft getretene „Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst“ sieht, wenn ihm auch 1 BAG v. 22.2.1995 – 5 AZR 416/94; HWK/Lembke, § 105 GewO Rz. 5. 2 Vgl. z.B. § 3 Ziff. 1 des Manteltarifvertrages für das Hotel- und Gaststättengewerbe in WestBerlin vom 1.6.1975, dazu BAG v. 24.6.1981 – 7 AZR 197/79, DB 1982, 1576. 3 BAG v. 22.2.1995 – 5 AZR 416/94; a.A. LAG Berlin v. 17.4.1978 – 9 Sa 130/77, AuR 1979, 220. 4 Vgl. z.B. § 3 Abs. 1 Satz 2 des Tarifvertrages für die Musiker in Kulturorchestern (TVK), dazu LAG Schleswig-Holstein v. 16.2.1999 – 3 Sa (1) 549c/96, LAGE § 125 BGB Nr. 9. 5 Weitere Nachweise bei HWK/Lembke, § 105 GewO Rz. 2. 6 ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 318; Boemke, NZA 1993, 532.
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Teil 4 Rz. 47
Inhalt des Tarifvertrages
unzweifelhaft eine Appellfunktion zukommt, keine rechtlich unmittelbar durchsetzbaren Abschlussgebote vor1. 47
Gänzlich frei ist der Arbeitgeber bei seiner Auswahlentscheidung dennoch insoweit nicht, als er die verschiedenen gesetzlichen Diskriminierungsverbote, insbesondere nach § 7 AGG, aber auch zugunsten Schwerbehinderter (§ 81 Abs. 2 SGB IX) oder zugunsten von Mandatsträgern (§ 78 Satz 2 BetrVG)2, zu berücksichtigen hat. Auch diese beinhalten jedoch kein konkretes Abschlussgebot zugunsten der geschützten Personengruppen. Es obliegt dem Arbeitgeber lediglich, seine – im Übrigen in seinem Ermessen stehende – Entscheidung frei von unzulässigen Beweggründen zu treffen. Im Übrigen zieht selbst eine Verletzung der Diskriminierungsverbote in aller Regel keinen Anstellungsanspruch nach sich, sondern führt allenfalls zu Ersatz- bzw. Entschädigungsansprüchen, vgl. z.B. § 15 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 6 AGG3.
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In manchen TVen finden sich weitgehende Abweichungen von der gesetzlichen Vertragsfreiheit in ihrer vorstehend erläuterten Ausgestaltung. Die Kontrahierungsfreiheit der einzelnen Arbeitnehmer können die TV-Parteien nicht wirksam beschränken, weil dem das Grundrecht auf freie Berufs- und Arbeitsplatzwahl nach Art. 12 Abs. 1 GG entgegenstünde4. Die einschlägigen TVe richten sich also an den Arbeitgeber und setzen häufig schon bei der Beschränkung seiner Abschlussfreiheit an, nicht erst bei seiner Auswahlfreiheit. Dass dabei Grundrechtspositionen des Arbeitgebers betroffen sind, liegt auf der Hand. Der mit den Abschlussgeboten einhergehende Kontrahierungszwang alleine für den Arbeitgeber und die sich daraus ergebende Beschränkung seiner Freiheitsrechte werden heute dem Grunde nach überwiegend akzeptiert, solange die TV-Parteien bei der Ausgestaltung von Abschlussgeboten zugunsten der Arbeitgeber die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und Bestimmtheit beachten5.
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Häufig zu finden sind in TVen sog. Wiedereinstellungsklauseln (vgl. im Einzelnen Teil 5 (24)). Sie gebieten dem Arbeitgeber, ausgeschiedenen Arbeitnehmern unter bestimmten Voraussetzungen erneut den Abschluss eines – regelmäßig unbefristeten – Arbeitsvertrages anzubieten. Historisch hatten Wiedereinstellungsklauseln erhebliche Bedeutung im Arbeitskampfrecht, als Arbeitgeber sich als Reaktion auf umfassende Streikmaßnahmen mit der sog. lösenden Aussperrung von Arbeitnehmern trennten6. Vereinbarungen zwischen den TV-Parteien, dass ausgesperrte Arbeitnehmer nach dem Ende des Arbeitskampfes wieder einzustellen waren, gehörten bereits zu Zeiten des Reichsgerichts in den 1920er Jahren zur gelebten Praxis7. Spätestens seit der Große Senat des BAG in seiner Leitentscheidung vom 21.4.1971 klargestellt hat, dass Aussperrungen im Allgemeinen nur suspendierenden Charakter haben und somit nicht zu einer – wenn auch nur vorübergehenden – Beendigung bzw. Unterbre-
1 Vgl. zu den neuen Regelungen Schulz/Ruf, BB 2015, 1155. 2 Vgl. zur Frage des Anspruchs eines Betriebsratsmitglieds auf ein unbefristetes Anstellungsverhältnis: LAG Berlin-Brandenburg v. 4.11.2011 – 13 Sa 1549/11, BB 2012, 380. 3 ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 318. 4 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 609. 5 Vgl. BAG v. 14.10.1997 – 7 AZR 298/96, NZA 1998, 775 m.w.N.; s. auch Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 609 ff.; kritisch: Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 321 ff. 6 Vgl. dazu Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 21 III 6a, S. 1040 ff. 7 Vgl. RG v. 30.6.1925 – III 371/24, RGZ 111, 166.
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Normativer Teil – Inhalte von Arbeitsverhltnissen und betriebliche Fragen
Rz. 52 Teil 4
chung des Arbeitsverhältnisses führen1, ist der Bedarf für Wiedereinstellungsgebote nach Arbeitskämpfen weitestgehend entfallen. Praktische Bedeutung haben Gebote zur Wiedereinstellung von Arbeitnehmern je- 50 doch nach wie vor, beispielsweise in Bezug auf Personen, die aus betriebsbedingten Gründen, beispielsweise im Rahmen einer Rationalisierungsmaßnahme, ausgeschieden sind. Zu finden sind aber auch tarifliche Regelungen, die einen Wiedereinstellungsanspruch für den Fall der Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses, z.B. für Zeiten der Kindererziehung, vorsehen. Seitdem für Erziehungszeiten gesetzliche Regelungen bestehen (BEEG bzw. früher BErzGG), spielen TVe vor allen Dingen eine Rolle, wenn sie über die gesetzlichen Ansprüche hinausgehende Möglichkeiten der Wahrnehmung von Erziehungszeiten vorsehen2. Zu den Abschlussgeboten zählen auch die verschiedentlich zu findenden tariflichen 51 Regelungen zur Verpflichtung von Arbeitgebern zur Übernahme von Auszubildenden in ein Arbeitsverhältnis nach erfolgreichem Abschluss ihrer Ausbildung3. Entsprechende Tarifklauseln sind regelmäßig so auszulegen, dass sie nicht mit Abschluss der Ausbildung automatisch zur Begründung eines Arbeitsverhältnisses führen. Sie beinhalten vielmehr eine – wenn auch normativ, d.h. zugunsten der einzelnen Auszubildenden wirkende, – Verpflichtung des Arbeitgebers, den betreffenden Auszubildenden einen (oftmals genügt: befristeten) Arbeitsvertrag anzubieten. Diese Auslegung lässt sich meist schon auf den Wortlaut der Regelungen stützen, in denen oft von einer „Verpflichtung“ des Arbeitgebers die Rede ist oder davon, dass dieser unter bestimmten Voraussetzungen (z.B. personenbedingte Gründe, akute Beschäftigungsprobleme) kein „Angebot“ eines Arbeitsverhältnisses machen müsse4. Das BAG geht außerdem davon aus, dass die Verpflichtung des Arbeitgebers aus solchen Klauseln, zumindest wenn sie von einer „Übernahme“ sprechen, nur den Abschluss eines Arbeitsvertrags für eine sich direkt an die Berufsausbildung anschließende Beschäftigung beinhaltet. Dies gebiete der regelmäßig mit solchen Klauseln verfolgte Zweck, dem Auszubildenden durch die Umsetzung seiner in der Ausbildung erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten Berufspraxis zu verschaffen sowie die Bemessungsgrundlage für die Gewährung von Arbeitslosengeld zu verbessern5. Kommt der Arbeitgeber einer tarifvertraglichen Übernahmeverpflichtung schuldhaft nicht oder nicht rechtzeitig im unmittelbaren Anschluss an die Ausbildung nach, macht er sich gegenüber dem ehemaligen Auszubildenden schadenersatzpflichtig und schuldet nach § 280 i.V.m. § 251 Abs. 1 Alt. 1 BGB eine Entschädigung in Geld6. Es wird abzuwarten bleiben, ob das BAG diese Auslegungsgrundsätze und seine wei- 52 teren Überlegungen auch auf die in der Metall- und Elektroindustrie in der Tarifrunde 2012 vereinbarte Verpflichtung zur Übernahme von Leiharbeitnehmern übertragen wird. Nach dem TV über den Einsatz von Leih-/Zeitarbeitnehmern der Metall- und 1 BAG v. 21.4.1971 – GS 1/68, NJW 1971, 1668. 2 So z.B. § 9 des Manteltarifvertrages für das private Versicherungsgewerbe. 3 Vgl. zum TV zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Nachwuchskräfte der Bundesagentur für Arbeit (TVN-BA): BAG v. 18.3.2015 – 7 AZR 115/13, ArbR 2015, 430. 4 Vgl. zu TVen in der Metall-Industrie: BAG v. 14.5.1997 – 7 AZR 159/96, NZA 1998, 50; BAG v. 29.9.2005 – 8 AZR 573/04, AP Nr. 35 zu § 611 Haftung des Arbeitgebers. 5 BAG v. 17.6.1998 – 7 AZR 443/97, NZA 1998, 1178. 6 BAG v. 29.9.2005 – 8 AZR 573/04, AP Nr. 35 zu § 611 Haftung des Arbeitgebers.
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Teil 4 Rz. 53
Inhalt des Tarifvertrages
Elektroindustrie in Baden-Württemberg haben Entleiharbeitgeber, sofern nicht in einer freiwilligen Betriebsvereinbarung etwas Abweichendes geregelt ist, nach 18-monatiger Überlassung desselben Arbeitnehmers zu prüfen, ob sie den Zeitarbeitnehmer in eine unbefristetes Arbeitsverhältnis übernehmen können. Nach insgesamt 24-monatiger Beschäftigungszeit (Zeiten vor Inkrafttreten des TVs zählen dabei nicht mit) ist der Entleiharbeitgeber sogar verpflichtet, dem Leih-/Zeitarbeitnehmer einen unbefristeten Arbeitsvertrag anzubieten1. Es dürfte davon auszugehen sein, dass eine Vielzahl der Metallarbeitgeber versuchen wird, dieser Verpflichtung durch den Abschluss einer nach dem TV ausdrücklich zugelassenen freiwilligen Betriebsvereinbarung zu entgehen oder eine nicht gewünschte Übernahmepflicht auf andere Weise – unter legitimer Ausnutzung der im TV bestimmten Voraussetzungen – zu vermeiden. So werden beispielsweise Beschäftigungszeiten im Falle einer Unterbrechung von nicht weniger als drei Monaten nach den Regelungen des TVs nicht zusammengerechnet2. 53
Fraglich ist die rechtliche Einordnung der in einigen TVen vereinbarten Regelungen, die dazu dienen, gezielt die Beschäftigung bestimmter Arbeitnehmergruppen zu fördern bzw. zu schützen. Solche Quotenregelungen, nach denen z.B. ein vereinbarter Anteil der eingestellten Arbeitnehmer aus einer bestimmten Personengruppe kommen soll (z.B. Schwerbehinderte, Arbeitslose, Jugendliche), beinhalten für den Arbeitgeber der Sache nach ein Einstellungsgebot. Sie dienen dabei zunächst dem Schutz der Mitglieder der begünstigten Gruppe. Gleichzeitig zielen sie immer auch auf eine bestimmte Belegschaftsstruktur ab und dienen so dem Schutz kollektiver Interessen. Regelmäßig geht deswegen mit quantitativen Besetzungsregelungen kein individueller Einstellungsanspruch einher3. Es fehlt aus Sicht des Arbeitgebers, dessen Grundrechte es im Rahmen der gebotenen Abwägung zu beachten gilt, an einer ausreichenden Bestimmbarkeit der potentiell Begünstigten. Während die oben angesprochenen Wiedereinstellungsklauseln oder Verpflichtungen zur Übernahme von Auszubildenden an – zumindest in der Vergangenheit schon einmal bestehende – vertragliche Bindungen mit dem Arbeitgeber anknüpfen und so zumindest eine klare Begrenzung des begünstigten Personenkreises erlauben, fehlt diese Möglichkeit bei der Umschreibung allgemeiner Personengruppen. Der Kreis derer, denen ein tariflicher Anspruch auf den Abschluss eines Arbeitsvertrages gewährt werden soll, darf aber nicht uferlos ausgeweitet werden, weil anderenfalls ein dem deutschen Recht fremdes „Recht auf Arbeit“ für eine unüberschaubar große Personengruppe geschaffen würde4. Schon deswegen ist fraglich, ob Besetzungsregelungen als Abschlussnormen zu qualifizieren sind. Zumindest qualitative Besetzungsregelungen sind jedenfalls nach h.M. Betriebsnormen (vgl. Rz. 87), weil sie gerade nicht auf das einzelne Arbeitsverhältnis abstellen, sondern auf die Besetzung eines Arbeitsplatzes als objektiven Faktor. Eine Regelung, die die Besetzung eines Arbeitsplatzes wegen seiner Anforderungen von einer bestimmten Ausbildung abhängig macht, kann sinnvollerweise nur für alle Arbeitnehmer einheitlich erfolgen5. Bedeutsam wird die Unterscheidung nach dem Normcharakter insbesondere, wenn es um die Frage der Nachwirkung und ihrer Folgen geht (vgl. Teil 9 Rz. 39 ff.). 1 2 3 4 5
Vgl. dazu Broers, ArbuR 2014, 258. S. auch Krause, NZA 2012, 830 (832 f.). Wisskirchen/Bissels in Tschöpe, AHB-Arbeitsrecht, Teil 1 C Rz. 220. Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 612 f. BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, NZA 1990, 850 m.w.N.
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Normativer Teil – Inhalte von Arbeitsverhltnissen und betriebliche Fragen
Rz. 57 Teil 4
c) Abschlussverbote Abschlussverbote spielen in der Tarifpraxis und damit auch in der einschlägigen Recht- 54 sprechung und Literatur eine eher untergeordnete Rolle. Zum einen ist nicht jede Tarifnorm, die den Abschluss bestimmter Vereinbarungen verbietet, ein Abschlussverbot. Abschlussverbote sind vielmehr abzugrenzen von negativen Inhaltsnormen (vgl. Rz. 40). Letztere richten sich gegen bestimmte Inhalte eines Arbeitsvertrages, nicht aber gegen den Abschluss des Arbeitsvertrages an sich. Demgegenüber zeichnen sich Abschlussverbote dadurch aus, dass sie den Abschluss eines Arbeitsvertrages schlechthin untersagen1. Sie haben damit auch eine andere Wirkung als bloße Beschäftigungsverbote. Diese richten sich gegen die tatsächliche Beschäftigung von Arbeitnehmern zu bestimmten Konditionen oder in bestimmten Bereichen, nicht aber auch notwendigerweise gegen das Zustandekommen eines Vertrages. Es fehlt vermutlich aus Sicht der TV-Parteien in den meisten Fällen an der Notwendigkeit, über die nicht gewünschte Beschäftigung hinaus auch den Vertragsschluss verhindern zu wollen, sodass für entsprechend weit reichende Verbote selten praktischer Bedarf besteht. Die TV-Parteien können im Übrigen mit Abschlussverboten verschiedene Zielrich- 55 tungen verfolgen. Ähnlich wie bei den oben beschriebenen Abschlussgeboten kommen grundsätzlich Verbote zum Schutz bestimmter Personengruppen (Jugendliche, Schwangere oder andere, aus gesundheitlichen Gründen gefährdete Personen) in Betracht, wie man es von gesetzlichen Beschäftigungsverboten (JArbSchG, MuSchG) kennt. Dabei steht der Schutz des Einzelnen vor Überforderung oder vor Gesundheitsgefahren im Vordergrund2. Soweit sich Rechtsprechung und Literatur bisher mit Fragen im Kontext von Abschlussverboten befasst haben, ging es überwiegend um Verbote, mit denen die TV-Parteien in erster Linie kollektive Ziele mit sozialem oder arbeitsmarktpolitischem Hintergrund verfolgten. Dazu gehörten zum einen die als „Lehrlingsskalen“ bezeichneten Tarifklauseln, die 56 darauf abzielten, für ein angemessenes Verhältnis zwischen Auszubildenden und zur Ausbildung befähigten Fachkräften zu sorgen3. Inzwischen hat der Gesetzgeber in das BBiG Vorschriften aufgenommen, nach denen sich solche tarifliche Regelungen erübrigt haben. So ist Voraussetzung für eine zulässige Ausbildung nach dem BBiG nicht nur, dass die Ausbildungsstätte generell für die Berufsausbildung geeignet ist. Darüber hinaus dürfen vielmehr Auszubildende in einem an sich geeigneten Betrieb nur eingestellt und ausgebildet werden, wenn insbesondere auch die Zahl der vorhandenen Ausbildungsplätze nicht so groß wird, dass eine Gefährdung des Berufsausbildungsziels zu besorgen ist, vgl. § 27 Abs. 1 Nr. 2 BBiG4. Auch die oben bereits erwähnten qualitativen Besetzungsregelungen, nach denen die 57 Einstellung von Personen auf bestimmten Positionen von der Erfüllung spezifischer Voraussetzungen abhängig sein soll (z.B. Fachkraft der Druckindustrie)5, werden in diesem Zusammenhang häufig angesprochen. Der Sache nach beinhalten sie das Ver1 HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 48; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 633. 2 Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 201 Rz. 12. 3 Vgl. dazu LAG Düsseldorf v. 19.9.1960 – 1 Sa 300/60, AP Nr. 1 zu § 4 TVG Lehrlingsskalen; Frey, RdA 1970, 182; Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, S. 483. 4 Vgl. dazu HWK/Hergenröder, § 27 BBiG Rz. 3. 5 Vgl. BAG v. 13.9.1983 – 1 ABR 69/81, DB 1984, 1099; BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, NZA 1990, 850 (m.w.N.).
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Teil 4 Rz. 58
Inhalt des Tarifvertrages
bot, die fraglichen Stellen nicht mit Personen zu besetzen, die die tariflich geforderten fachlichen Anforderungen nicht erfüllen. Dies dient meist weniger dem Schutz der nicht qualifizierten Kräfte vor Überforderung als vielmehr dem Beschäftigungsschutz der qualifizierten Personen und der generellen Qualitätssicherung. Deswegen handelt es sich regelmäßig um betriebliche Normen (vgl. Rz. 87)1. 58
Verstöße gegen tarifliche Abschlussverbote können unterschiedliche Rechtsfolgen nach sich ziehen. So stellen tarifliche Regelungen, die sich gegen den Abschluss des Arbeitsverhältnisses an sich wenden, regelmäßig auch Vorschriften dar, wegen deren Verletzung der Betriebsrat im Rahmen seiner Mitbestimmung bei der Einstellung gemäß § 99 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG seine Zustimmung verweigern darf. Für ein Recht zur Zustimmungsverweigerung wegen des Verstoßes gegen eine Bestimmung in einem TV ist nach der Rechtsprechung des BAG entscheidend, dass nicht nur einzelne Vertragsbestimmungen gegen den TV verstoßen, sondern dass der Verstoß nur durch das Unterbleiben der personellen Maßnahme verhindert werden kann2. Wenn die TV-Parteien sich aber mit einer Regelung gegen den Abschluss des Arbeitsvertrages an sich wenden, liegt es in aller Regel nahe, dass neben der Begründung des Arbeitsvertrages gerade auch seiner tatsächlichen Durchführung – in Form einer Einstellung oder Versetzung – entgegen gewirkt werden soll. Das BAG hat ein Zustimmungsverweigerungsrecht anerkannt bei dem Verstoß des Arbeitgebers gegen ein tarifliches Verbot, Arbeitnehmer mit einer Wochenarbeitszeit von weniger als 20 Stunden pro Woche zu beschäftigen3.
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Individualrechtlich kann ein Verstoß gegen ein tarifliches Abschlussverbot dem Anwendungsbereich von § 134 BGB unterfallen. Ob die Nichtigkeit des Arbeitsvertrages nach der Intention der TV-Parteien tatsächlich die angemessene Rechtsfolge ist, ist durch Auslegung der fraglichen TV-Klausel zu ermitteln4. Solange sich aber dem TV nicht entnehmen lässt, welche andere Rechtsfolge ein Verstoß gegen das Abschlussverbot haben soll5, bleibt nur, den Arbeitsvertrag als nichtig zu behandeln6. Soweit der Arbeitnehmer ungeachtet des Verbots dennoch tatsächlich tätig wird, wird es in aller Regel angemessen sein, die Regelungen über das faktische Arbeitsverhältnis zur Anwendung zu bringen7. Der von den TV-Parteien mit dem Abschlussverbot bezweckte Schutz dürfte in aller Regel nicht erfordern, dass der Arbeitnehmer, wenn er die verbotene Arbeitsleistung erbracht hat, dafür kein Entgelt erhalten darf.
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Die Qualifizierung von Abschlussverboten als Abschlussnormen im Sinne von § 4 Abs. 1 TVG hat Bedeutung für die Frage, zu welchem Zeitpunkt die tariflichen Regelungen Geltung beanspruchen können. Für die Beurteilung der Wirksamkeit des 1 BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, NZA 1990, 850 m.w.N.; BAG v. 18.3.2008 – 1 ABR 81/06, NZA 2008, 832; Richardi/Thüsing, § 99 BetrVG Rz. 198. 2 BAG v. 14.12.2004 – 1 ABR 54/03, NZA 2005, 424; BAG v. 18.3.2008 – 1 ABR 81/06, NZA 2008, 832; vgl. dazu auch die Rspr. zum Zustimmungsverweigerungsrecht bei nicht vorübergehender Bschäftigung von Leiharbeitnehmern entgegen § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG: BAG v. 30.9.2014 – 1 ABR 79/12, NZA 2015, 240. 3 BAG v. 28.1.1992 – 1 ABR 45/91, NZA 1992, 606. 4 BGH v. 14.12.1999 – X ZR 34/98, NJW 2000, 1186; Beckmann, JZ 2001, 150. 5 Regelmäßig soll bei einem Verstoß gegen die Norm eines TVs die von ihm gewollte Regelung gelten, vgl. BAG v. 7.8.1980 – 2 AZR 563/78, DB 1980, 2244. 6 Vgl. auch Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 639; kritisch: Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 305 ff. 7 Thüsing/Braun/Wißmann, 4. Kap. Rz. 80; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 639.
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Normativer Teil – Inhalte von Arbeitsverhltnissen und betriebliche Fragen
Rz. 62 Teil 4
Arbeitsvertrages im Hinblick auf Abschlussnormen ist der Zeitpunkt des Vertragsschlusses maßgeblich. Daraus ergibt sich zum einen, dass Abschlussnormen nur bei (beiderseitiger) Tarifgebundenheit bei Abschluss des Arbeitsvertrages die oben beschriebenen Wirkungen haben können1. Genauso dürfte in aller Regel davon auszugehen sein, dass Abschlussverbote, die erst nach dem Abschluss von – dann verbotswidrigen – Arbeitsverhältnissen in Kraft gesetzt werden, in aller Regel nicht zur Nichtigkeit der bereits bestehenden Arbeitsverträge führen sollen. Unter Umständen kann sich aus dem neu eingeführten Verbot allenfalls ein Gebot ergeben, ein nicht mit dem Verbot in Einklang stehendes Arbeitsverhältnis zu beenden2. 2. Beendigungsnormen Dass die TV-Parteien einen Ordnungsauftrag außer in Bezug auf den Abschluss von Arbeitsverträgen und deren Inhalte auch hinsichtlich der Beendigung von Arbeitsverhältnissen haben, ergibt sich aus dem Wortlaut der §§ 1 Abs. 1 und 4 Abs. 1 Satz 1 TVG. Wie die nachfolgenden Ausführungen zeigen werden, steht in vielen tariflichen Regelungen, die Fragen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses betreffen, der Schutz der Arbeitnehmer im Vordergrund. Auch wenn tarifliche Regelungen nur in seltenen Fällen einen umfassenden Schutz vor dem Verlust des Arbeitsplatzes als wirtschaftliche Existenzgrundlage bieten, so zielen sie häufig darauf ab, den Betroffenen zumindest einen gewissen Schutz zu vermitteln, wenn die Beendigung des Arbeitsverhältnisses droht oder unvermeidlich ist. Demgegenüber dienen die in verschiedenen TVen vorgesehenen Regelungen zu Altersgrenzen, deren Erreichen zu einer automatischen Vertragsbeendigung führt, nicht in erster Linie dem Schutz des Einzelnen, sondern vor allen Dingen auch übergeordneten Zielen, wie beispielsweise dem Schutz der Allgemeinheit3 oder der Sicherung einer Beschäftigungschance für die nachrückende jüngere Generation von Arbeitnehmern4.
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a) Formerfordernisse Die praktische Bedeutung von tariflich vorgesehenen Formerfordernissen für Erklä- 62 rungen oder Regelungen, die auf eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses abzielen, ist heute nur noch verhältnismäßig gering. Die gesetzlichen Anforderungen nach § 623 BGB und § 14 Abs. 4 TzBfG, welche die Schriftform für Kündigungen und Auflösungsverträge bzw. für Befristungsvereinbarungen vorschreiben, sind zwingend. Über § 21 TzBfG erstreckt sich das Schriftformerfordernis auch auf Vereinbarungen über auflösende Bedingungen für das Vertragsende. In Bezug auf das TzBfG ergibt sich aus einem Umkehrschluss zu den Regelungen in § 22 TzBfG, dass die Formvorschrift des § 14 Abs. 4 TzBfG nicht zur Disposition der TV-Parteien steht. Auch für § 623 BGB ist anerkannt, dass die Vorschrift nicht tarifdispositiv ist5. 1 BAG v. 27.4.1988 – 7 AZR 593/87, NZA 1988, 771; BAG v. 14.2.1990 – 7 AZR 68/89, NZA 1990, 737. 2 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 640; LAG Düsseldorf (Köln) v. 17.5.1966 – 8 Sa 59/65, DB 1966, 987. 3 Vgl. BAG v. 2.6.2010 – 7 AZR 904/08 (A); BAG v. 18.1.2012 – 7 AZR 211/09, NZA 2012, 691; BAG v. 15.2.2012 – 7 AZR 946/07, NZA 2012, 866. 4 Vgl. BAG v. 18.6.2008 – 7 AZR 116/07, NZA 2008, 1302; BAG v. 8.12.2010 – 7 AZR 438/09, NZA 2011, 586; BAG v. 12.6.2013 – 7 AZR 917/11, NZA 2013, 1428. 5 LAG Schleswig-Holstein v. 5.10.2010 – 2 Sa 136/10; HWK/Bittner, § 623 BGB Rz. 40.
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Teil 4 Rz. 63 63
Inhalt des Tarifvertrages
Zulässig ist es nach allgemeiner Auffassung, wenn die TV-Parteien höhere Anforderungen an die Form stellen, als sie das Gesetz vorsieht. Durchaus von praktischer Bedeutung sind damit weiterhin TVe, die die Wirksamkeit einer Kündigung davon abhängig machen, dass auch der Kündigungsgrund schriftlich mitzuteilen ist, wie es das Gesetz z.B. in § 9 Abs. 3 Satz 2 MuSchG für die Kündigungserklärung gegenüber einer Schwangeren oder in § 24 Abs. 3 BBiG für die Kündigung eines Ausbildungsverhältnisses vorsieht. Solche qualifizierten Schriftformklauseln fanden sich z.B. in der bis 2001 geltenden Fassung der Manteltariflichen Vorschriften für Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe (BMT-G-O)1 und im TV für die Arbeitnehmer bei den Stationierungsstreitkräften im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland (TV AL II)2. In Bezug auf befristete Arbeitsverhältnisse finden sich speziell in TVen im Bereich des öffentlichen Dienstes Regelungen, nach denen sich aus der schriftlichen Befristungsabrede ergeben muss, ob es sich beispielsweise um eine Befristung mit oder ohne Sachgrund handeln soll. Ein solches sog. Zitiergebot fand sich z.B. in SR 2y BAT und wurde von der Rechtsprechung wiederholt als Grund für die Unwirksamkeit einer Befristungsabrede herangezogen3. Wenn der Arbeitsvertrag nicht ausreichend deutlich zum Ausdruck bringt, dass eine sachgrundlose Befristung vereinbart war, kann sich der Arbeitgeber nach diesen Vorschriften nicht auf § 14 Abs. 2 TzBfG berufen. b) Regelungen zur Kündigung
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Ein Blick in die Tariflandschaft zeigt, dass in fast allen Branchen zwischen den TV-Parteien Regelungen vereinbart werden, die sich mit Fragen der Kündigung des Arbeitsverhältnisses befassen. Ein entsprechender Regelungsabschnitt gehört sozusagen zum „Standard“ eines typischen MantelTVs. In vielen Branchen wird dadurch das gesetzlich ohnehin aufgrund der einschlägigen Regelungen des BGB und insbesondere des KSchG bestehende Schutzniveau zugunsten der Arbeitnehmer noch weiter verbessert. Beispielhaft sind unten in Teil 5 (21) die entsprechenden Abschnitte der MTVe ausgewählter Branchen kommentiert. aa) Kündigungsfristen
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Die TV-Parteien haben die Möglichkeit, die gesetzlichen Regelungen in § 622 BGB über Kündigungsfristen umfassend zu ändern. Die Parteien des Einzelarbeitsvertrages sind insoweit im Wesentlichen auf die Option der Vereinbarung längerer Kündigungsfristen beschränkt, vgl. § 622 Abs. 5 Satz 3 BGB. Hingegen enthält § 622 Abs. 4 Satz 1 BGB zugunsten der TV-Parteien ausdrücklich eine Öffnungsklausel. Sie können fast uneingeschränkt von den gesetzlichen Regelungen der Absätze 1 bis 3 abweichen.
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In der Praxis finden sich sehr häufig Regelungen, die für eine Arbeitgeberkündigung längere Kündigungsfristen vorsehen als das Gesetz. Insbesondere wird die gesetzlich vorgesehene Staffelung von Kündigungsfristen bei längeren Beschäftigungszeiten ger-
1 Vgl. BAG v. 10.2.1999 – 2 AZR 848/98, NZA 1999, 603. 2 Vgl. LAG Hamm v. 17.3.2011 – 17 Sa 2263/10. 3 BAG v. 28.3.2007 – 7 AZR 318/06, NZA 2007, 937; BAG v. 16.7.2008 – 7 AZR 278/07, NZA 2008, 1347; BAG v. 17.6.2009 – 7 AZR 193/08, EzTöD 100 § 30 Abs 1 TVöD-AT Sachgrundlose Befristung Nr 11.
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Normativer Teil – Inhalte von Arbeitsverhltnissen und betriebliche Fragen
Rz. 69 Teil 4
ne zugunsten der Arbeitnehmer verändert. Soweit in entsprechenden TVen in Anlehnung an § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB vorgesehen ist, dass bei der Berechnung der Beschäftigungsdauer Zeiten vor Vollendung des 25. Lebensjahres nicht zu berücksichtigen sind, sind diese Regelungen wegen des Verstoßes gegen das unionsrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung bzw. gegen das entsprechende Verbot nach § 7 Abs. 1, § 1 AGG unwirksam1. Nach der zitierten Rechtsprechung des BAG bewirkt dies im Ergebnis eine „Anpassung nach oben“ dergestalt, dass bei der Berechnung der tariflichen Kündigungsfristen sämtliche im Betrieb oder Unternehmen zurückgelegten Beschäftigungszeiten Berücksichtigung finden. Die TV-Parteien weichen mitunter auch zulasten der Arbeitnehmer von den gesetz- 67 lich vorgesehenen Mindestkündigungsfristen des BGB ab. Zu finden sind tarifliche Regelungen über deutlich kürzere Kündigungsfristen insbesondere im Bereich der gewerblichen Arbeitsverhältnisse. Beispielhaft zu nennen sind hier die besonders kurzen Kündigungsfristen während der ersten sechs Beschäftigungsmonate in der Bauindustrie2 oder die entsprechenden Regelungen für Montagezeitarbeiter im Bereich der Metall- und Elektroindustrie3. Soweit die TV-Parteien von der ihnen in § 622 Abs. 4 Satz 1 BGB übertragenen Rege- 68 lungsmöglichkeit Gebrauch machen, haben sie die allgemeinen und besonderen rechtlichen Grenzen zu beachten. Dies gilt neben den oben (Rz. 66) bereits erwähnten Diskriminierungsverboten des AGG beispielsweise auch für den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz. Demnach sind insbesondere unterschiedliche Kündigungsfristen für Arbeiter und Angestellte nicht ohne weiteres zulässig. Vielmehr haben die TV-Parteien insoweit die gleichen Anforderungen zu beachten wie der Gesetzgeber4. Es ist also von Fall zu Fall zu prüfen, inwieweit sich in der fraglichen Branche unterschiedliche Fristenregelungen rechtfertigen lassen. Seit der Neufassung des § 622 Abs. 6 BGB per 15.10.1993 dürfen im Übrigen auch die TV-Parteien für die Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitnehmer keine längeren Fristen mehr vorsehen als für die Arbeitgeberkündigung. bb) Kündigungsgründe Die gesetzlichen Vorschriften des KSchG zur Beschränkung der Rechte des Arbeit- 69 gebers bei der ordentlichen Vertragskündigung sowie auch die Anforderungen nach § 626 BGB an den wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung stehen im Wesentlichen nicht zur Disposition der TV-Parteien. Auch diese sie sind vielmehr an das gesetzliche Kündigungsschutzniveau gebunden und können es nicht zulasten der Arbeitnehmer herabsenken5. Dies gilt zum Beispiel für die in § 1 KSchG enumerativ aufgezählten Kündigungsgründe, die auch durch die TV-Parteien nicht erweitert oder durch die Festlegung bestimmter absoluter Kündigungsgründe spezifiziert werden
1 2 3 4
BAG v. 29.9.2011 – 2 AZR 177/10, NZA 2012, 754. Siehe z.B. § 12 BRTV Bau. Siehe z.B. § 20 Ziff. 2 EMTV für die Metall- und Elektroindustrie NRW. Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 697 f.; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1980 f.; BAG v. 21.3.1991 – 2 AZR 616/90, NZA 1991, 803; BAG v. 29.10.1998 – 2 AZR 683/97, AuA 1999, 85. 5 So schon BAG v. 11.3.1976 – 2 AZR 43/75, DB 1976, 1387.
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Teil 4 Rz. 70
Inhalt des Tarifvertrages
können1. Tarifliche Regelungen zu bestimmten Kündigungsgründen sollen jedoch nicht völlig unbeachtlich sein, sondern vielmehr von den Gerichten im Rahmen der nach dem KSchG bei der Prüfung einer jeden Kündigung gebotenen Interessenabwägung zu berücksichtigen sein2. An einer Stelle sieht das KSchG sogar ausdrücklich die Möglichkeit der TV-Parteien vor, im Hinblick auf einen Prüfungsaspekt im Rahmen der Beurteilung der Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung gestaltend tätig zu werden. Gemäß § 1 Abs. 4 KSchG kann ein TV die Position des Arbeitgebers in einem etwaigen Kündigungsschutzprozess verbessern: Wenn die TV-Parteien festgelegt haben, wie im Rahmen der nach § 1 Abs. 3 KSchG gebotenen Sozialauswahl die dort genannten sozialen Gesichtspunkte im Verhältnis zueinander zu bewerten sind (Sozialauswahlrichtlinien), so kann diese Bewertung im Prozess nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden. Dies führt in der Praxis zu einer beachtlichen Verschiebung des Prozessrisikos zulasten der klagenden Arbeitnehmer. Nach der Rechtsprechung des BAG ist eine im Rahmen der Regelungsmöglichkeiten des § 1 Abs. 4 KSchG erstellte sog. Punktetabelle nur dann nicht anzuwenden, wenn eines der gesetzlichen Auswahlkriterien gar nicht oder so gering bewertet wird, dass es als relevantes Auswahlkriterium nicht ins Gewicht fällt und allenfalls in Ausnahmefällen eine Rolle spielt3. Allerdings gestattet die Vorschrift nicht, von den Grundvorgaben des KSchG hinsichtlich der maßgeblichen Faktoren für die soziale Auswahl abzuweichen. Es kommt allenfalls eine Ergänzung der gesetzlichen Vorschriften im Rahmen der Gewichtung der Grunddaten aus § 1 Abs. 3 KSchG in Betracht, soweit die ergänzenden Faktoren einen unmittelbaren Bezug zu diesen Grunddaten haben4. 70
Für den nach § 626 BGB erforderlichen wichtigen Grund für eine fristlose Kündigung gilt das oben Gesagte im Wesentlichen entsprechend. Abweichungen zu Lasten von Arbeitnehmern spielen in der Tarifpraxis keine Rolle. Grundsätzlich können die TVParteien aber auch das gesetzliche Schutzniveau nicht zugunsten der Arbeitnehmer in einem Maße anheben, das für den Arbeitgeber nicht mehr tragbar ist. Insbesondere können die TV-Parteien die Möglichkeit einer außerordentlichen Kündigung nicht insgesamt ausschließen5. Denkbar ist es aber, dass die TV-Parteien im Sinne einer Konkretisierung der Regelungen des § 626 BGB bestimmte Gründe als Rechtfertigung für eine außerordentliche Kündigung nicht anerkennen. Herausgearbeitet hat dies das BAG in seiner Rechtsprechung zu § 55 BAT. Die dortigen Regelungen schließen dringende betriebliche Erfordernisse als möglichen wichtigen Grund für eine Kündigung ausdrücklich aus und verweisen den Arbeitgeber auf die Möglichkeit einer Herabgruppierung. Darin kann zumindest ein partieller Ausschluss der gesetzlichen Rechte nach § 626 BGB gesehen werden. Das BAG hält die Vorschrift dennoch für grundsätzlich zulässig. Die TV-Parteien könnten eine Einschränkung auf bestimmte, fest um1 KR/Griebeling/Rachor, 11. Aufl. 2015, § 1 KSchG, Rz. 31; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1982 ff. 2 Krause in: v. Hoyningen-Huene/Linck, KSchG, 15. Aufl. 2013, § 1 KSchG Rz. 24; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1984; vgl. auch BAG v. 3.5.1978 – 4 AZR 698/76, NJW 1978, 2525. 3 BAG v. 18.10.2006 – 2 AZR 473/05, NZA 2007, 504; BAG v. 5.6.2008 – 2 AZR 907/06, NZA 2008, 1120; BAG v. 5.11.2009 – 2 AZR 676/08, NZA 2010, 457 (jeweils alle zu Richtlinien in einer Betriebsvereinbarung). 4 BAG v. 12.8.2010 – 2 AZR 945/08, NZA 2011, 460 (ebenfalls zu einer Auswahlrichtlinie nach BetrVG). 5 Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 1 TVG Rz. 103; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 686 f.; BAG v. 18.12.1961 – 5 AZR 104/61, DB 1962, 275.
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Normativer Teil – Inhalte von Arbeitsverhltnissen und betriebliche Fragen
Rz. 71 Teil 4
rissene Tatbestände zumindest dann vorsehen, wenn eine außerordentliche betriebsbedingte Kündigung nicht völlig ausgeschlossen sei, sondern eine Änderung der bisherigen Arbeitsbedingungen ermöglicht werde, sofern eine Beschäftigung zu den bisherigen Vertragsbedingungen aus dienstlichen Gründen nachweisbar nicht möglich sei. Bedenken könnten aus verfassungsrechtlicher Sicht nur insoweit bestehen, als der Ausschluss einer außerordentlichen Kündigung dazu führe, dass ein sinnentleertes Arbeitsverhältnis aufrechterhalten werden müsste1. Konsequent betont das BAG vor diesem Hintergrund, dass Fälle denkbar sind, in denen auch im Rahmen des § 55 BAT eine außerordentliche betriebsbedingte Kündigung mit notwendiger Auslauffrist nach § 626 BGB in Betracht kommen kann2, legt dabei aber einen sehr strengen Prüfungsmaßstab an. cc) Besonderer Kündigungsschutz Ohne Weiteres anerkannt ist die grundsätzliche Zulässigkeit von tariflichen Verein- 71 barungen, die die Rechte des Arbeitgebers zur ordentlichen Kündigung von Arbeitsverhältnissen einschränken3. In verschiedensten Branchen haben die TV-Parteien davon Gebrauch gemacht, indem sie z.B. bei älteren Arbeitnehmern das Recht des Arbeitgebers zur ordentlichen Kündigung insgesamt ausschließen oder von besonderen Voraussetzungen abhängig machen. Häufig greift dieser besondere Kündigungsschutz bei Arbeitnehmern ab Erreichen einer tariflich vereinbarten Altersgrenze, wobei meist als zusätzliches Kriterium auch noch eine Mindestbeschäftigungszeit vorgesehen ist. Der sich daraus ergebende Schutz für ältere Mitarbeiter kann in Fällen betriebsbedingter Kündigungen zum Nachteil jüngerer Arbeitnehmer gereichen, weil nach – zumindest bisher – h.M. die tariflich besonders geschützten Arbeitnehmer grundsätzlich nicht in eine nach § 1 Abs. 3 KSchG gebotene Sozialauswahl einzubeziehen sind4. Seit Inkrafttreten des AGG und insbesondere nach der Streichung von § 10 Satz 3 Nr. 7 AGG wird die Frage aufgeworfen, ob Regelungen zum besonderen Kündigungsschutz für ältere Arbeitnehmer eine unzulässige Altersdiskriminierung darstellen5. Das BAG hält jedoch an der grundsätzlichen Möglichkeit, solche Unkündbarkeitsregelungen zu vereinbaren, auch angesichts der gesetzlichen Regelungen im AGG fest. Gleichzeitig erkennt das BAG die Notwendigkeit, die Reichweite solcher Klauseln und deren Anwendbarkeit im konkreten Einzelfall einzuschränken, wenn bei ihrer Anwendung eine daraus resultierende Fehlgewichtung durch den wegen der ordentlichen Unkündbarkeit eingeschränkten Auswahlpool zu einer grob fehlerhaften Auswahl führen würde6. Die Rechtsprechung trägt damit den kritischen Literaturstimmen Rechnung. Eine exemplarische Kommentierung der sehr weit reichenden Regelungen zum Sonderkündigungsschutz für ältere Mitarbeiter in der Metall- und Elektroindustrie in Baden-Württemberg findet sich unten in Teil 5 (21). 1 BAG v. 31.1.1996 – 2 AZR 158/95, NZA 1996, 581; BAG v. 25.10.2001 – 2 AZR 216/00, ZMV 2002, 198. 2 BAG v. 27.6.2002 – 2 AZR 367/01, DB 2003, 102; BAG v. 6.10.2005 – 2 AZR 362/04, NZA-RR 2006, 416. 3 So bereits BAG v. 3.11.1955 – 2 AZR 39/54, BAGE 2, 214. 4 S. KR/Griebeling/Rachor, 11. Aufl. 2015, § 1 KSchG Rz. 664 ff. m.w.N. 5 Lingeman/Gotham, NZA 2007, 663 (665); Wendeling-Schröder, NZA 2007, 1399 (1404); vgl. auch Nachweise bei KR/Griebeling/Rachor, 11. Aufl. 2015, § 1 KSchG Rz. 665d. 6 BAG v. 5.6.2008 – 2 AZR 907/06, NZA 2008, 1120; BAG v. 20.6.2013 – 2 AZR 295/12 – NZA 2014, 208.
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Teil 4 Rz. 72 72
Inhalt des Tarifvertrages
Außer dem generellen und nicht anlassbezogenen besonderen Kündigungsschutz für bestimmte Arbeitnehmergruppen vereinbaren TV-Parteien häufig besonderen Kündigungsschutz im Zusammenhang mit Rationalisierungsmaßnahmen. So sehen TVe beispielsweise vor, dass Arbeitnehmer, die aufgrund von Reorganisationsmaßnahmen des Arbeitgebers nachteilige Änderungen ihrer Arbeitsbedingungen hinnehmen müssen, danach für einen bestimmten Zeitraum Schutz vor betriebsbedingten (Änderungs-)Kündigungen genießen. Eine solche Beschäftigungszusage ist ein typischer Gegenstand von SanierungsTVen (s. auch Teil 12 Rz. 34 ff.). Diese sehen häufig vor, dass die Belegschaft – meist vorübergehend – auf bestimmte Rechte verzichtet. Im Gegenzug für diesen Beitrag zur Verbesserung der Finanzsituation des Unternehmens sollen die Arbeitnehmer während der Zeit des Verzichts keine Sorge um den eigenen Arbeitsplatz haben. Die TV-Parteien können den Kündigungsschutz auch verwirklichen, indem sie zwar den Ausspruch von (betriebsbedingten) Kündigungen nicht generell untersagen, ihn aber von einer Zustimmung des Betriebsrats in entsprechender Anwendung von § 102 Abs. 6 BetrVG abhängig machen. Angesichts der Regelungsbefugnis der TV-Parteien nach § 1 Abs. 1 TVG ist es zulässig, wenn die TV-Parteien in diesem Fall bei Konflikten unmittelbar den Weg zu den Arbeitsgerichten eröffnen und nicht die Einschaltung einer Einigungsstelle vorsehen1. Beispielhafte Regelungen zum Kündigungsschutz als Teil von Standortsicherungsvereinbarungen oder Beschäftigungssicherungsprogrammen finden sich unten in Teil 5 (21). c) Regelungen zur Befristung
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Vereinbarungen der TV-Parteien in Bezug auf die Befristung von Arbeitsverhältnissen lassen sich im Wesentlichen in zwei Kategorien unterteilen. Zum einen sehen verschiedene TVe vor, dass die Befristung von Arbeitsverhältnissen nur zulässig sein soll, wenn die Arbeitsvertragsparteien dabei bestimmte Anforderungen berücksichtigen. Diese Regelungen zielen häufig darauf ab, die Ausweitung von Zeitverträgen einzudämmen und den Abschluss unbefristeter Arbeitsverträge im Sinne einer Befristungskontrolle zu fördern (vgl. Beispiele unten in Teil 5 (6)). Daneben gibt es in einigen TVen aber auch Regelungen, die ihrerseits eine normativ wirkende Befristung der tariflichen Arbeitsverhältnisse, nämlich deren automatisches Ende bei Erreichen einer von den TV-Parteien vereinbarten Altersgrenze, vorsehen (vgl. Beispiele unten in Teil 5 (1)). aa) Befristungskontrolle
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Die Befristung von Arbeitsverhältnissen und das sich daraus ergebende Spannungsverhältnis zu dem Bestandsschutz, den das Kündigungsschutzgesetz für die von ihm erfassten Arbeitsverhältnisse vorsieht, haben Gerichte und Literatur schon früh beschäftigt. Ursprünglich machte sich die Diskussion an den sog. Kettenarbeitsverhältnissen fest2. Im Jahr 1960 stellte der Große Senat des BAG den Grundsatz auf, dass befristete Arbeitsverträge daraufhin geprüft werden müssen, ob sie objektiv eine Umgehung der zwingenden Normen des Kündigungsschutzgesetzes bedeuten. Die Verträge müssten ihre sachliche Rechtfertigung in sich tragen, sodass sie mit Recht und 1 BAG v. 21.6.2000 – 4 AZR 379/99, NZA 2001, 271 zu einer entsprechenden Regelung in § 15 Nr. 5 des Manteltarifvertrages für den Einzelhandel in Rheinland-Pfalz. 2 Vgl. z.B. Molitor, Kritisches zum Problem der Kettenverträge, BB 1954, 504.
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Normativer Teil – Inhalte von Arbeitsverhltnissen und betriebliche Fragen
Rz. 76 Teil 4
aus gutem Grund von den Kündigungsschutzvorschriften nicht betroffen würden1. Seither geht es bei der Prüfung der Wirksamkeit von Befristungen regelmäßig um die Frage, ob es einen sachlichen Grund für die Befristung des konkreten Arbeitsverhältnisses gibt. Die beispielhafte Liste von Befristungsgründen, die sich heute in § 14 Abs. 1 Satz 2 TzBfG findet, spiegelt die wesentlichen anerkannten Sachgründe wider, welche das BAG in seiner Rechtsprechung seit 1960 fortlaufend herausgearbeitet und weiter entwickelt hatte2. Verschiedene TVe enthalten ihrerseits Regelungen zu sachlichen Gründen, die eine Befristung rechtfertigen können. Aus Entscheidungen des BAG aus der Zeit vor Inkrafttreten des TzBfG ist ersichtlich, 75 dass es das Gericht offenbar für zulässig erachtet, dass die TV-Parteien die gewohnheitsrechtlich entwickelten Voraussetzungen der Sachgrundbefristung beschränken, indem sie beispielsweise Befristungen nur aus bestimmten Gründen für zulässig erklären und damit die an sich nach der Rechtsprechung möglichen Befristungsgründe beschränken3. Eine restriktive Befristungskontrolle aufgrund normativer Regelungen der TV-Parteien kann sich auch ergeben, wenn ein TV eigene Befristungsgrundformen definiert und die Wirksamkeit einer Befristungsabrede davon abhängig macht, dass sich aus der Vereinbarung der Parteien im Arbeitsvertrag ergibt, welche der tariflichen Grundformen der Befristung gewählt wurde4. Seit die Voraussetzungen der Sachgrundbefristung in § 14 Abs. 1 TzBfG gesetzlich normiert sind, richtet sich die Zulässigkeit solcher tariflicher Vereinbarungen nach § 22 Abs. 1 TzBfG. Abweichende Vereinbarungen zuungunsten des Arbeitnehmers sind nicht zulässig. Eine tarifliche Beschränkung der gesetzlich vorgesehenen Befristungsmöglichkeiten dürfte aber regelmäßig als eine den Arbeitnehmer begünstigende Regelung aufzufassen sein, sodass die bisher für zulässig erachteten Regelungsmöglichkeiten weiter Bestand haben sollten5. Gleiches dürfte für von der Rechtsprechung vor Inkrafttreten des BAG anerkannte Regelungen gelten, die die Vereinbarung der Befristung eines Arbeitsverhältnisses über eine bestimmte Dauer hinaus verbieten. Da die Liste der in § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 8 TzBfG aufgezählten Sachgründe im 76 Übrigen nicht abschließend ist, können TV-Parteien grundsätzlich nicht nur die im Gesetz schon vorgesehenen Sachgründe einschränken oder präzisieren, sondern auch eigene Sachgründe definieren. Allerdings zieht das BAG der Normsetzungsbefugnis der TV-Parteien mit Blick auf § 22 TzBfG auch insoweit Schranken. Sonstige, in § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 8 TzBfG nicht genannte Sachgründe können danach die Befristung eines Arbeitsvertrags nur rechtfertigen, wenn sie den in § 14 Abs. 1 TzBfG zum Ausdruck kommenden Wertungsmaßstäben entsprechen und den in dem gesetzlichen Sachgrundkatalog genannten Sachgründen von ihrem Gewicht her gleichwertig sind6.
1 BAG v. 12.10.1960 – GS 1/59, NJW 1961, 798. 2 HWK/Schmalenberg, § 14 TzBfG Rz. 11; KR/Lipke, 11. Aufl. 2015, § 14 TzBfG Rz. 111. 3 BAG v. 7.8.1980 – 2 AZR 563/78, DB 1980, 2244; BAG v. 12.12.1985 – 2 AZR 9/85, NZA 1986, 571. 4 Vgl. zu entsprechenden Klauseln im MantelTV für die Angestellten der BA: LAG Berlin-Brandenburg v. 16.6.2009 – 16 Sa 355/09. 5 KR/Bader, 11. Aufl. 2015, § 22 TzBfG Rz. 5. 6 BAG v. 16.3.2005 – 7 AZR 289/04, NZA 2005, 923; BAG v. 9.12.2009 – 7 AZR 399/08, NZA 2010, 495.
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Teil 4 Rz. 77
Inhalt des Tarifvertrages
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Das TzBfG regelt nicht nur die Sachgrundkontrolle bei der Befristung von Arbeitsverhältnissen, sondern sieht im Sinne der Beschäftigungsförderung in § 14 Abs. 2 ausdrücklich auch die Möglichkeit vor, unter bestimmten Voraussetzungen die Arbeitsverhältnisse im Falle von Neueinstellungen auch ohne Sachgrund wirksam zu befristen. Neben der Bedingung, dass der betroffene Arbeitnehmer zuvor nicht mit demselben Arbeitgeber in einem Arbeitsverhältnis gestanden haben darf1, schreibt das Gesetz eine Höchstgrenze sowohl für die maximale Dauer einer sachgrundlosen Befristung wie auch für die Anzahl der zulässigen Verlängerungen innerhalb dieser Höchstdauer vor. Gemäß § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG hat der Gesetzgeber die beiden letzten Elemente ausdrücklich tarifdispositiv ausgestaltet. Aus § 22 Abs. 1 TzBfG ergibt sich, das die TV-Parteien insoweit auch Abweichungen zuungunsten der Arbeitnehmer, insbesondere auch eine über zwei Jahre hinaus gehende Höchstdauer der sachgrundlosen Befristung, vorsehen dürfen. Nach überwiegender Auffassung ist das Gesetz so zu verstehen, dass ein TV nicht nur alternativ entweder eine abweichende Befristungsdauer oder eine eigene Begrenzung der Anzahl der Verlängerungen vorschreiben, sondern auch beides kumulativ abweichend vom Gesetz festlegen darf2. Das BAG hat dies jüngst bestätigt3, im Anschluss aber auch gleich klargestellt, dass die Regelungsfreiheit der TV-Parteien nicht völlig unbegrenzt ist. Vielmehr erlaubt die Öffnungsklausel keine tarifvertragliche Gestaltung sachgrundloser Befristungen, die das in § 14 Abs. 1 Satz 1 TzBfG ausgedrückte gesetzgeberische Konzept konterkariert, wonach die Befristung grundsätzlich eines Sachgrundes bedarf. Auch ermöglicht die Vorschrift keine tarifvertragliche Befristung ohne Sachgrund, die nicht mehr der mit dem TzBfG verfolgten Verwirklichung der aus Art. 12 Abs. 1 GG folgenden staatlichen Schutzpflicht entspricht oder dem nach der Befristungs-Richtlinie und deren inkorporierter Rahmenvereinbarung von den Mitgliedstaaten zu verwirklichenden Ziel der Verhinderung von Missbrauch durch aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge erkennbar zuwiderläuft4.
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Nicht geklärt ist die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen es sich bei Regelungen der tariflichen Befristungskontrolle um Abschlussnormen oder um Beendigungsnormen handelt. Das BAG geht davon aus, dass tarifliche Befristungsregelungen zumindest dann Abschlussnormen sind, wenn sie ihrem Regelungsgehalt nach die Zulässigkeit befristeter Arbeitsverträge vom Vorliegen bestimmter Voraussetzungen bei Vertragsabschluss abhängig machen und insoweit die Vertragsfreiheit der tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien im Interesse eines wirksamen Bestandsschutzes beschränken5. Konsequenz einer Einordnung als Abschlussnorm ist, dass die tarifliche Regelung nur dann Wirkung entfaltet und in der Folge zu einem unbefristeten Arbeitsverhältnis führt, wenn eine beiderseitige Tarifgebundenheit schon zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses vorlag. Betrachtet man den eigentlichen Regelungsgegen1 Vgl. dazu insbesondere auch BAG v. 6.4.2011 – 7 AZR 716/09, NZA 2011, 905; BAG v. 21.9.2011 – 7 AZR 375/10, NZA 2012, 255; aufgrund der abweichenden Entscheidung des LAG Baden-Württemberg v. 21.2.2014 – 7 Sa 64/13, AE 2014, 233, wird das BAG sich im Rahmen der Revision (7 AZR 196/14) zur Frage der Zuvorbeschäftigung erneut äußern müssen. 2 So zu § 2 Abs. 6 MTV für das Wach- und Sicherheitsgewerbe für die Bundesrepublik Deutschland LAG Hessen v. 3.12.2010 – 10 Sa 659/10, NZA-RR 2011, 240 m.w.N. 3 BAG v. 15.8.2012 – 7 AZR 184/11, NZA 2013, 45. 4 BAG v. 5.12.2012 – 7 AZR 698/11, NZA 2013, 515. 5 BAG v. 14.2.1990 – 7 AZR 68/89, NZA 1990, 737; BAG v. 28.8.1996 – 7 AZR 849/95, NZA 1997, 550.
276 Hexel
Normativer Teil – Inhalte von Arbeitsverhltnissen und betriebliche Fragen
Rz. 81 Teil 4
stand und das Ziel der Befristungskontrolle, die ja die automatische Beendigung des Arbeitsverhältnisses und nicht dessen Eingehung regulieren soll, spricht einiges dafür, die entsprechenden Regelungen auch zur Anwendung zu bringen, wenn eine Tarifbindung erst nach Abschluss des Arbeitsvertrages eintritt, und sie deswegen im Regelfall den Beendigungsnormen zuzurechnen1. bb) Altersgrenzen In den TVen verschiedenster Branchen sind Altersgrenzen geregelt, bei deren Erreichen ein dem TV unterworfenes Arbeitsverhältnis automatisch endet. Zu finden sind dabei einerseits Regelungen, die in erster Linie beschäftigungspolitische Ziele verfolgen und ein Vertragsende mit Erreichen der Regelaltersrente, typischerweise also mit Vollendung des 65. Lebensjahres (s. wegen der stufenweisen Anhebung der Regelaltersgrenze Teil 5 (1) Rz. 2), vorsehen. Daneben gibt es Altersgrenzen für bestimmte Berufsgruppen, wie z.B. Piloten, die mit Blick auf die Anforderungen an die körperliche Leistungsfähigkeit schon vor Erreichen des Rentenalters greifen (vgl. die Beispiele unten in Teil 5 (1)). Die einschlägige Rechtsprechung und Literatur zu tariflichen Altersgrenzen zeugt davon, dass es zum einen entsprechende Regelungen in vielen Branchen gibt und dass zum anderen die Zulässigkeit und damit die Wirksamkeit von tariflichen Altersgrenzen unter verschiedenen Gesichtspunkten kritisch zu prüfen sind.
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Das BAG hat inzwischen seine Rechtsprechung zur Prüfung von Altersgrenzen im 80 Hinblick auf das TzBfG gefestigt und misst nicht nur individualvertragliche Vereinbarungen über Altersgrenzen, sondern auch entsprechende Regelungen in TVen unter anderem daran, ob es für die vorgesehene automatische Beendigung von Arbeitsverhältnissen einen rechtfertigenden sachlichen Grund i.S.v. § 14 Abs. 1 Satz 1 TzBfG gibt2. Ob man das Erreichen der Altersgrenze dabei mit dem BAG und der überwiegend vertretenen Auffassung als Befristung ansieht oder als Bedingung, macht wegen § 21 TzBfG keinen entscheidenden Unterschied. Aufgrund der Regelungen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes und im Lichte der Rechtsprechung des EuGH zur Richtlinie 2000/78/EG ist darüber hinaus immer die Frage zu prüfen, ob es eine ausreichende Rechtfertigung für die jeweilige Altersgrenze auch unter dem Gesichtspunkt des Verbots der Altersdiskriminierung gibt. Bei Altersgrenzen, die eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit Erreichen der Re- 81 gelaltersgrenze für eine Altersversorgung vorsehen, berücksichtigt das BAG bei der Abwägung der Interessen des Arbeitnehmers an der Fortsetzung gegenüber dem Interesse des Arbeitgebers an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ausweislich seines Urteils vom 18.6.2008 im Wesentlichen die folgenden Aspekte3: Betroffen von der Regelung seien wirtschaftlich abgesicherte Arbeitnehmer, die bereits ein langes Berufsleben hinter sich haben und deren Interesse an der Fortführung ihrer beruflichen Tätigkeit aller Voraussicht nach nur noch für eine begrenzte Zeit bestehe. Diese 1 Vgl. zur Problematik: Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 1 TVG Rz. 84 f.; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 648; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 315 f. 2 BAG v. 27.11.2002 – 7 AZR 655/01, AP Nr. 22 zu § 620 BGB Altersgrenze; BAG v. 18.6.2008 – 7 AZR 116/07, NZA 2008, 1302; BAG v. 16.10.2008 – 7 AZR 253/07 (A), NZA 2009, 378; BAG v. 23.6.2010 – 7 AZR 1021/08, NZA 2010, 1248. 3 BAG v. 18.6.2008 – 7 AZR 116/07, NZA 2008, 1302.
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Teil 4 Rz. 82
Inhalt des Tarifvertrages
Arbeitnehmer hätten typischerweise von der Anwendung der Altersgrenzenregelungen durch ihren Arbeitgeber Vorteile gehabt, weil dadurch auch ihre Einstellungsund Aufstiegschancen verbessert worden seien. Dem gegenüber stehe das Bedürfnis des Arbeitgebers nach einer sachgerechten und berechenbaren Personal- und Nachwuchsplanung. Entscheidendes Kriterium und letztlich ausschlaggebend für eine Interessenabwägung zulasten des Arbeitnehmers soll es nach dieser Rechtsprechung des BAG sein, dass der Arbeitnehmer durch den Bezug einer gesetzlichen Altersrente wegen Erreichens der Altersgrenze wirtschaftlich abgesichert ist. Unter diesen Voraussetzungen sind solche Altersgrenzen auch eine ausreichende Rechtfertigung nach § 10 Satz 3 Nr. 5 AGG1. Diese Rechtsprechung des BAG steht im Einklang mit der Rechtsauffassung des EuGH zur Rechtfertigung von Altersgrenzen, die an das Erreichen des Regelrentenalters anknüpfen2. 82
Bei Altersgrenzen, die eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses schon vor Erreichen der Regelaltersrente vorsehen, bedarf es eines anderen sachlichen Grundes, da die in diesem Fall von vornherein fragliche wirtschaftliche Absicherung des Arbeitnehmers als entscheidendes Kriterium im Sinne der vorstehend zitierten Rechtsprechung nicht herangezogen werden kann. Das BAG erkannte zum Beispiel im Falle von Flugbegleitern keine ausreichenden Gründe für eine vorzeitige Altersrente3. Seine Auffassung, dass entsprechende Altersgrenzen bei Piloten zulässig seien, musste das BAG zwischenzeitlich angesichts abweichender Vorgaben des EuGH aufgeben. Nach der Einführung des AGG sah sich das BAG veranlasst, seine Überlegungen zum Prüfungsmaßstab für die Rechtfertigung von tariflichen Altersgrenzen auszudehnen. Neben der Notwendigkeit eines sachlichen Grundes im Sinne der bisherigen, an § 14 Abs. 1 Satz 1 TzBfG orientierten Rechtsprechung, musste es sich nunmehr mit der Frage auseinandersetzen, ob mit einer an das Lebensalter anknüpfenden Tarifregelung eine unzulässige Altersdiskriminierung einhergeht. In einem Vorlagebeschluss an den EuGH vom 17.6.20094 führte das BAG aus, dass es beabsichtige, auch im Angesicht der Diskriminierungsverbote aus §§ 1, 7 AGG an einer ausreichenden Rechtfertigung einer Altersgrenze von 60 Jahren für Piloten festzuhalten. Das BAG ersuchte den EuGH um Klärung, ob das Gemeinschaftsrecht im Rahmen von Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 der Richtlinie nur Ziele sozialpolitischer Art anerkenne – wozu Gründe der Flugsicherheit nicht zu zählen wären – und ob darüber hinaus die TV-Parteien von der Angemessenheit und Erforderlichkeit der Altersgrenze für Piloten ausgehen durften. Der EuGH entschied dazu, dass die Flugsicherheit kein legitimes Ziel im Sinne von Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG sei und dass darüber hinaus die Festlegung einer Altersgrenze von 60 Jahren für Piloten unverhältnismäßig sei und deswegen nicht im Einklang mit dem EU-Recht stehe. Selbst die Lufthansa sehe für andere als die von der fraglichen Altersgrenze betroffenen Piloten eine Altersbegren1 BAG v. 8.12.2010 – 7 AZR 438/09, NZA 2011, 586; BAG v. 21.9.2011 – 7 AZR 134/10, NZA 2012, 271; BAG v. 12.6.2013 – 7 AZR 917/11, NZA 2013. 2 Vgl. EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09, NZA 2010, 1167 – Rosenbladt; EuGH v. 21.7.2011 – Rs. C-159/10, EuGRZ 2011, 486 – Fuchs; EuGH v. 5.7.2012 – Rs. C-141/1, NZA 2012, 785 – Hörnfeldt. 3 BAG v. 31.7.2002 – 7 AZR 140/01, NZA 2002, 1155; BAG v. 16.10.2008 – 7 AZR 253/07 (A), NZA 2009, 378; BAG v. 23.6.2010 – 7 AZR 1021/08, NZA 2010, 1248; BAG v. 19.10.2011 – 7 AZR 253/07, NZA 2012, 1297. 4 BAG v. 17.6.2009 – 7 AZR 112/08 (A), RIW 2010, 76; s. dazu auch Anm. von Bauer, ArbR 2010, 38 und weiteren Aussetzungsbeschluss des BAG v. 2.6.2010 – 7 AZR 904/08 (A).
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Normativer Teil – Inhalte von Arbeitsverhltnissen und betriebliche Fragen
Rz. 84 Teil 4
zung auf 65 Jahre vor1. In der Folge hat das BAG zahlreiche zur Prüfung gestellte Altersbegrenzungen für Cockpitpersonal für unwirksam erklärt2. Während sich also einige Fragen zur Rechtfertigung tariflicher Altersgrenzen inzwi- 83 schen klären ließen, hatte das BAG bisher noch keine Gelegenheit, sich nochmals zu der Frage zu äußern, ob die Regelungen des § 41 Satz 2 SBG VI auf Kollektivnormen anwendbar sind und welche Rolle sie für tarifliche Altersgrenzen noch spielen. In den 1990er-Jahren vertrat das BAG die Ansicht, die gesetzlichen Vorschriften des § 41 SGB VI in ihrer bis zum 31.7.1994 geltenden Fassung seien auch für Kollektivvereinbarungen maßgeblich, sodass tarifliche Regelungen über Altersgrenzen wegen Rentenbezugs generell unwirksam seien3. Mit überzeugenden Gründen gehen inzwischen weite Teile der Literatur davon aus, dass die Änderungen, die der Gesetzgeber per 1.8.1994 in Kraft gesetzt hat, unter anderem darauf abzielten, den Anwendungsbereich der Vorschrift auf Individualvereinbarungen zu beschränken. Somit wäre für Vereinbarungen von TV-Parteien, wenn sie eine Altersgrenze unterhalb der Regelaltersgrenze für eine gesetzliche Rente festlegen, § 41 Satz 2 SGB VI nicht maßgeblich4. Andererseits dürfte sich die Frage stellen, ob die in vorstehender Rz. 82 beschriebenen Anforderungen an die wirtschaftliche Absicherung des ausscheidenden Arbeitnehmers, die Teil der Rechtfertigung einer unterschiedlichen Behandlung wegen Alters sind, erfüllt werden können, wenn der Arbeitnehmer nur eine vorzeitige – und damit um Abschläge gekürzte – Rente beziehen kann5.
IV. Normen über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen Aus § 3 Abs. 2 und § 4 Abs. 1 Satz 2 TVG ergibt sich die Befugnis der TV-Parteien, ne- 84 ben Regelungen, die sich auf die einzelnen Arbeitsverhältnisses beziehen, auch Regelungen über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen zu treffen. Eine Besonderheit entsprechender Normen von TVen liegt darin, dass sie gemäß § 3 Abs. 2 TVG in den Betrieben der tarifgebundenen Arbeitgeber betriebsweite Geltung beanspruchen. Die Vorschrift stellt, wie das BAG jüngst nochmals klargestellt hat, eine Ausnahme von dem Grundsatz dar, wonach die Rechtsnormen eines TVs nur zwischen beiderseits Tarifgebundenen Anwendung finden, sie erweitert aber nicht die Tarifzuständigkeit der abschließenden Gewerkschaft. Deswegen ist es erforderlich, dass grundsätzlich die satzungsmäßige Tarifzuständigkeit der kontrahierenden Gewerkschaft für alle Arbeitsverhältnisse der erfassten betrieblichen Einheiten besteht6. Unter dieser Voraussetzung entfalten betriebliche oder betriebsverfassungsrechtliche Normen damit unmittelbare Wirkung auch für die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer, führen also zu einer gesetzlichen Erweiterung der Tarifgebundenheit (vgl. Teil 6 1 EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09, NZA 2011, 1039 – Prigge; s. dazu auch Temming, EuZA 2012, 205. 2 BAG v. 18.1.2012 – 7 AZR 112/08, NZA 2012, 575; BAG v. 15.2.2012 – 7 AZR 946/07, BB 2012, 1280. 3 BAG v. 20.10.1993 – 7 AZR 135/93, NZA 1994, 128; BAG v. 11.6.1997 – 7 AZR 186/96, NZA 1997, 1290. 4 Vgl. zur Problematik HWK/Ricken, § 41 SGB VI Rz. 15, ErfK/Rolfs, § 41 SGB VI Rz. 14 und Wiedemann/Thüsing § 1 TVG Rz. 650 ff. (jeweils m.w.N.). 5 Bejahend Löwisch, ZTR 2011, 78 (80). 6 BAG v. 14.1.2014 – 1 ABR 66/12, NZA 2014, 910.
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Teil 4 Rz. 85
Inhalt des Tarifvertrages
Rz. 94). Bei unbefangener Betrachtung könnte man darin eine aus Sicht der Koalitionen positive Möglichkeit sehen, ihren tarifautonomen Wirkungsbereich zu erweitern und ihnen damit zu größerer Bedeutung verhelfen. In der Praxis überwiegt demgegenüber aber offenbar das Bestreben einiger Gewerkschaften, eine Erstreckung jedenfalls von aus Arbeitnehmersicht positiven tariflichen Regelungen auf die sog. Außenseiter zu vermeiden. Der Umstand, dass betriebliche Tarifnormen unmittelbare Wirkung auch für die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer haben, bietet diesen Arbeitnehmern die Möglichkeit, die Vorzüge von für sie günstigen Tarifregelungen zu genießen, ohne selbst Mitglied der Gewerkschaft zu werden. Dies könnte Arbeitnehmer vom Beitritt zu einer Gewerkschaft abhalten1. Je nachdem, welchen Inhalt Betriebsnormen haben, können sie also in Konflikt mit der positiven oder negativen Koalitionsfreiheit stehen. Nicht zuletzt deswegen wurden frühzeitig Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit von § 3 Abs. 2 TVG mit der Koalitionsfreiheit vorgebracht. Heute ist die Verfassungsmäßigkeit der Regelung jedoch überwiegend anerkannt (vgl. Teil 6 Rz. 101). 85
Die verfassungsrechtlichen Bedenken, die gegenüber der Erweiterung der Tarifgebundenheit durch die Vorschrift vorgebracht werden, finden bei der Auslegung von Tarifnormen und bei ihrer Einordnung als Betriebsnorm letztlich insoweit Berücksichtigung, als der sachlich-gegenständliche Bereich von Betriebsnormen vom BAG restriktiv ausgelegt wird2. Im Bereich der betriebsverfassungsrechtlichen Normen ergibt sich eine Kontrolle und Begrenzung der dem Grunde nach anerkannten Normsetzungsbefugnis insoweit, als die TV-Parteien in bestimmtem Umfang die bestehenden Regelungen des BetrVG als „zweiseitig zwingend“ und damit als grundsätzlich nicht dispositiv anerkennen müssen3. 1. Normen über betriebliche Fragen a) Restriktive Auslegung
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Die Frage, ob eine TV-Norm die Rechtsqualität einer Betriebsnorm hat und damit einhergehend eine normative Wirkung auch für nicht einer Gewerkschaft angehörende Arbeitnehmer im Betrieb entfaltet, ist jeweils von Fall zu Fall zu prüfen. Es haben sich verschiedene Fallgruppen herausgebildet, die unten näher beschrieben sind (vgl. Rz. 87 f. und Rz. 89 f.). Der Rechtsprechung des BAG zu der Beurteilung, ob eine Norm als Betriebsnorm im Sinne von § 3 Abs. 2 TVG auszulegen ist, lassen sich einige allgemeine Aussagen entnehmen: Betriebsnormen haben regelmäßig eine über das einzelne Arbeitsverhältnis hinausgehende Bedeutung und können in der sozialen Wirklichkeit aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen im Betrieb nur einheitlich gelten, weswegen sie nicht lediglich als Inhalt eines Individualarbeitsvertrages regelbar sind4. Das „Nichtregelnkönnen“ ist dabei, so das BAG, nicht im Sinne einer naturwissenschaftlichen Unmöglichkeit zu verstehen. Zur Wahrung der negativen Koalitionsfreiheit der nicht gewerkschaftsangehörigen Teile der Belegschaft im Betrieb genügt es vielmehr, nur solche Normen als Betriebsnormen anzusehen, bei deren Ge-
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Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 42. BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, NZA 1990, 850. BAG v. 10.2.1988 – 1 ABR 70/86, NZA 1988, 699. BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, NZA 1990, 850; BAG v. 7.11.1995 – 3 AZR 676/94, NZA 1996, 1214.
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Normativer Teil – Inhalte von Arbeitsverhltnissen und betriebliche Fragen
Rz. 88 Teil 4
genstand eine individualvertragliche Regelung wegen evident sachlogischer Unzweckmäßigkeit ausscheidet. Gemeint ist damit die Regelung solcher Fragen, die unmittelbar die Organisation und Gestaltung des Betriebes, also der Betriebsmittel und der Belegschaft, betreffen1. Die einzelnen Arbeitnehmer sind von diesen kollektiven Vereinbarungen regelmäßig allenfalls mittelbar und reflexartig betroffen. Das BAG gesteht selbst zu, dass – zum Leidwesen derjenigen, die tarifliche Regelungen möglichst rechtssicher schaffen möchten – diese Umschreibung keine scharfe Grenze markiert; sie verdeutlicht aber nach Auffassung des BAG zumindest Funktion und Eigenart der Betriebsnormen im Sinne von § 3 Abs. 2 TVG2. b) Besetzungsregelungen Regelmäßig als Betriebsnormen auszulegen sind Regelungen der TV-Parteien, in denen 87 diese sich auf bestimmte Vorgaben für die Besetzung von Positionen innerhalb eines Betriebs einigen. Hierzu zählten z.B. die Anfang der 1980er-Jahre tariflich vereinbarten Regeln für die Druckindustrie, die beispielsweise als sog. quantitative Besetzungsregeln die Mindestanzahl der an bestimmten Maschinen zu beschäftigenden Hilfsarbeiter3 oder als sog. qualitative Besetzungsregeln die vorrangige Besetzung bestimmter Positionen mit Fachkräften der Druckindustrie4 vorsahen. Letztere dienten unter anderem dazu, im Sinne der in einem Betrieb vorhandenen qualifizierten Belegschaft zu verhindern, dass bestimmte Arbeitsplätze mit nicht gleichermaßen qualifizierten externen Kräften besetzt werden. Solche Regelungen können ihren intendierten Zweck naturgemäß nur dann erreichen, wenn sie im gesamten Betrieb und unabhängig von der Gewerkschaftszugehörigkeit einzelner Arbeitnehmer normativ gelten. Anderenfalls könnte der Arbeitgeber die Positionen ohne Rücksicht auf die Erfüllung der tariflichen Anforderungen gezielt mit nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern besetzen. Dies würde zu einer von den TV-Parteien ersichtlich nicht intendierten Benachteiligung von Gewerkschaftsmitgliedern führen, die im Rahmen von Besetzungsklauseln der Sache nach nicht gerechtfertigt wäre. Zu den Betriebsnormen zählt das BAG auch die Regelungen eines Luftfrachtunter- 88 nehmens der Lufthansa-Gruppe über ein tarifvertragliches Höchstalter für Piloten, die nach einer Ausbildung in anderen Luftfahrtunternehmen übernommen werden sollen. Das Gericht sieht die Intention dieser Regelungen darin, für die zu besetzenden Arbeitsplätze von Piloten einheitlich bestimmte Mindestqualifikationen sicherzustellen. Auch dabei würde es weder einen Sinn machen, zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und Außenseitern zu unterscheiden, noch wäre eine Schlechterstellung von Gewerkschaftsmitgliedern mit dem Willen der TV-Parteien in Einklang zu bringen5. Unten in Teil 5 (7) sind verschiedene Besetzungsregeln beispielhaft kommentiert.
1 BAG v. 17.6.1997 – 1 ABR 3/97, NZA 1998, 213; BAG v. 8.12.2010 – 7 ABR 98/09, NZA 2011, 751. 2 BAG v. 8.12.2010 – 7 ABR 98/09, NZA 2011, 751; BAG v. 26.1.2011 – 4 AZR 159/09, NZA 2011, 808; BAG v. 22.2.2012 – 4 AZR 527/10, AP Nr. 52 zu § 3 TVG. 3 Vgl. dazu BAG v. 17.6.1999 – 2 AZR 456/98, NZA 1999, 1157. 4 BAG v. 13.9.1983 – 1 ABR 69/81, DB 1984, 1099; BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, NZA 1990, 850; BAG v. 22.1.1991 – 1 ABR 19/90, NZA 1991, 675. 5 BAG v. 8.12.2010 – 7 ABR 98/09, NZA 2011, 751.
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Teil 4 Rz. 89
Inhalt des Tarifvertrages
c) Organisationsregelungen 89
Tarifliche Regelungen, die die Ordnung eines Betriebes oder seine Organisation betreffen, sind regelmäßig auch als Betriebsnormen im Sinne von § 3 Abs. 2 TVG anzusehen. Dies trifft zunächst für alle tariflichen Regelungen in Bezug auf Fragen zu, die in § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG angesprochenen sind. Hierzu können Zugangskontrollen zum Betrieb, Kleiderordnungen oder betriebliche Rauchverbote gehören1. Ebenso zu den auf die Organisation bezogenen Betriebsnormen zählen beispielsweise die in der Metall- und Elektroindustrie verbreiteten Klauseln über eine maximal zulässige Quote von Arbeitsverhältnissen, für die kraft individueller Vereinbarung eine längere als die an sich im TV geregelte regelmäßige Wochenarbeitszeit gilt. Es handelt sich dabei um einen kollektiven Tatbestand, nämlich die Verteilung des betrieblichen Arbeitszeitvolumens. Die Regelung betrifft die Zusammensetzung der Belegschaft entsprechend dem zahlenmäßigen Verhältnis der nach ihrer regelmäßigen Arbeitszeit zu unterscheidenden Arbeitnehmergruppen2. Es geht also um die Organisation des Betriebs in seiner Gesamtheit. Gleiches gilt für eine tarifliche Regelung über die Schließung von Betrieben an bestimmten Tagen (z.B. am 31. Dezember), die ebenso als Betriebsnorm einzustufen ist, sodass der Arbeitgeber an diesen Tagen nicht etwa den Betrieb mit Außenseitern aufrecht erhalten darf3.
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Keine ausreichende Notwendigkeit für eine einheitliche Geltung im Betrieb und das Gebot der Erstreckung tariflicher Regelungen auf Außenseiter sieht das BAG in tariflichen Regelungen über Entlohnungsgrundsätze wie z.B. Regelungen zur absoluten Vergütungshöhe oder über das ihnen zugrunde liegende abstrakte Vergütungsschema. Es gehe bei betrieblichen Vergütungssystemen nicht um Fragen der evident sachlogischen Zweckmäßigkeit4. Alleine das Prinzip der Lohngerechtigkeit und das Ziel einer Gleichbehandlung der Arbeitnehmer im Betrieb rechtfertigen somit nicht die Einordnung der fraglichen Tarifnormen als Betriebsnormen. d) Notwendiger Regelungswille
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Nicht alle tariflichen Regeln, bei denen sachlogische Zweckmäßigkeiten dafür sprechen, dass sie Geltung für den gesamten Betrieb beanspruchen, sind deswegen notwendigerweise als Betriebsnormen i.S.v. § 3 Abs. 2 TVG zu qualifizieren. Zusätzlich ist – wie auch sonst im Rahmen von § 1 Abs. 1 TVG – zu prüfen, ob die TV-Parteien tatsächlich den Willen hatten, eine normative Regelung zu schaffen, die unmittelbare Geltung im gesamten Betrieb beansprucht. Einen solchen normativen Regelungswillen i.S.v. § 4 Abs. 1 Satz 2 TVG vermisste das BAG beispielsweise in einem FirmenTV zur Beschäftigungssicherung, in dem die TV-Parteien die Möglichkeit eröffnet hatten, die durchschnittliche individuelle regelmäßige Arbeitszeit für Vollzeitbeschäftigte befristet auf bis zu 32 Stunden wöchentlich herabzusetzen5. Die TV-Klausel enthalte keine für alle oder für bestimmte Arbeitsverhältnisse geltende inhaltliche normative Rege1 Vgl. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 15 VI 2b, S. 589 f.; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 52. 2 BAG v. 17.6.1997 – 1 ABR 3/97, NZA 1998, 213. 3 Vgl. zu § 3 Nr. 2 Satz 2 des MTV für die Volksbanken und Raiffeisenbanken BAG v. 7.11.1995 – 3 AZR 676/94, NZA 1996, 1214. 4 BAG v. 11.11.2008 – 1 ABR 68/07, NZA 2009, 450. 5 BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 388/99, DB 2001, 2609.
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Normativer Teil – Inhalte von Arbeitsverhltnissen und betriebliche Fragen
Rz. 93 Teil 4
lung, sondern nur eine Erlaubnis für die Beklagte als TV-Partei und Arbeitgeberin, derartige Absenkungen der tarifvertraglichen regelmäßigen Arbeitszeit mit Zustimmung der ÖTV bzw. der TV-Parteien vornehmen zu dürfen. Die Norm habe den Charakter einer schuldrechtlichen Verhaltens- und Verhandlungsklausel, ggf. auch den einer Öffnungsklausel mit Zustimmungsvorbehalt i.S.v. § 77 Abs. 3 BetrVG, nicht aber den Charakter einer Betriebsnorm i.S.v. § 3 Abs. 2 TVG. Ein ausreichender Wille zur Schaffung einer normativen Regelung fehlte dem BAG auch in dem PersonalüberleitungsTV einer Klinik. Darin war vereinbart, dass Maßnahmen des Outsourcings nur ausnahmsweise möglich sein sollten, wenn sie zur Vermeidung von betriebsbedingten Kündigungen erforderlich seien; sie bedürften in diesem Fall zu ihrer Wirksamkeit der vorherigen Zustimmung der TV-Parteien. Darin sah das BAG eine schuldrechtliche Verpflichtung der TV-Parteien im Verhältnis untereinander, nicht jedoch eine Regelung mit unmittelbarer normativer Wirkung im Betrieb und gegenüber den Arbeitnehmern1. Beispiele von Öffnungsklauseln und Genehmigungsvorbehalten finden sich unten in Teil 5 (17). 2. Normen über betriebsverfassungsrechtliche Fragen Dass die TV-Parteien zur Regelung betriebsverfassungsrechtlicher Fragen ermächtigt 92 sind, steht aufgrund des Wortlauts von §§ 1 Abs. 1 und 3 Abs. 2 TVG fest. Bei den Normen über betriebsverfassungsrechtliche Fragen ergibt sich in aller Regel eine notwendige Erstreckung der normativen Wirkung des TVs auf Außenseiter bereits daraus, dass Regelungen zur Betriebsverfassung in erster Linie das Verhältnis zwischen dem Arbeitgeber und dem Betriebsrat betreffen, ohne dass dabei ein direkter Bezug zu einzelnen Arbeitsverhältnissen besteht2. Der Betriebsrat nimmt seine Rechte als Sachwalter und Vertreter der Interessen der gesamten Belegschaft wahr3. Auch wenn es theoretisch – beispielsweise in Bezug auf personelle Einzelmaßnahmen – denkbar wäre, die Ausgestaltung der Mitwirkungsrechte des Betriebsrats durch einen TV von der Gewerkschaftszugehörigkeit des jeweils betroffenen Mitarbeiters abhängig zu machen, entspricht dies nicht der Praxis. TV-Regelungen über betriebsverfassungsrechtliche Fragen sind nicht zuletzt vor diesem Hintergrund immer auch mit Blick darauf zu beurteilen, dass sie sich auf die Außenseiter erstrecken und deren negative Koalitionsfreiheit tangieren können. a) Vorrang der Betriebsverfassung Wann immer die TV-Parteien von ihrem Recht nach §§ 1 Abs. 1 und 3 Abs. 2 TVG 93 Gebrauch machen, betriebsverfassungsrechtliche Fragen zu regeln, stellt sich die Frage, inwieweit konkrete Regelungen des BetrVG zugunsten der TV-Parteien dispositiv ausgestaltet sind. Zunächst ist dabei zu beachten, dass das BetrVG vielfach als ein in sich ausgewogenes und abschließendes Regelwerk über die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats angesehen wird4. Insoweit besteht Einigkeit, dass jedenfalls im Bereich der Ausgestaltung der eigentlichen Betriebsverfassung, also der organisatori1 BAG v. 26.1.2011 – 4 AZR 159/09, NZA 2011, 808. 2 BAG v. 10.2.1988 – 1 ABR 70/86, NZA 1988, 699. 3 Fitting, § 1 BetrVG Rz. 188 ff.; Richardi/Richardi, § 1 BetrVG Rz. 13; vgl. auch Krause, RdA 2009, 129 (133). 4 Vgl. v. Hoyningen-Huene, NZA 1985, 9 (11).
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Teil 4 Rz. 94
Inhalt des Tarifvertrages
schen Bestimmungen des BetrVG (im Wesentlichen zu finden in den ersten drei Teilen des BetrVG), eine Tarifdispositivität nur gegeben ist, soweit das Gesetz ausdrücklich Öffnungsklauseln zugunsten der Koalitionen vorsieht, wie dies insbesondere in § 3 BetrVG der Fall ist1. Das BAG spricht in diesem Zusammenhang von zweiseitigzwingenden Vorschriften2. 94
Das BAG sieht demgegenüber andere Vorschriften des BetrVG, insbesondere soweit sie die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats regeln, als nur einseitig zwingend an. Der Umstand, dass das BetrVG im Bereich der Regelungen über die Organisation der Betriebsverfassung ausdrückliche Regelungen über eine Normsetzungsbefugnis der Koalitionen enthält, schließe demnach nicht aus, dass in anderen Regelungsbereichen betriebsverfassungsrechtliche Fragen auch ohne besondere Ermächtigungsnorm geregelt werden könnten. Die gesetzlichen Ausnahmevorschriften sind nach Auffassung des BAG (nur) erforderlich gewesen, weil TVe in den genannten Fällen auch von den ansonsten zweiseitig zwingenden Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes abweichen können sollten3. Insbesondere im Bereich der Mitbestimmung in sozialen, aber auch in personellen Angelegenheiten erkennt das BAG deswegen eine erweiterte Regelungskompetenz der TV-Parteien an (vgl. die Beispiele in Rz. 99 f.). Andererseits können die TV-Parteien, soweit entsprechende Möglichkeiten nicht im Gesetz vorgesehen sind (wie z.B. in sozialen Angelegenheiten durch den Tarifvorbehalt des § 87 Abs. 1 BetrVG), gesetzliche Aufgaben des Betriebsrats nicht aufheben oder einschränken, wie das BAG beispielsweise zuletzt in Bezug auf die gesetzlichen Überwachungsaufgaben des Betriebsrats aus § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG nochmals betont hat4. b) Regelungen zur Betriebsorganisation
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Eine besonders weit reichende Regelungskompetenz der TV-Parteien sieht § 3 BetrVG in seiner seit dem 28. Juli 2001 geltenden Fassung vor. Die Verfassungskonformität von § 3 BetrVG wird seit seiner Einführung kontrovers diskutiert5. Das BAG hat zwischenzeitlich in seinem Urteil vom 29. Juli 20096 ausdrücklich bestätigt, dass es die Norm für verfassungsgemäß hält und dass sie insbesondere nicht gegen die negative Koalitionsfreiheit der nicht- oder andersorganisierten Arbeitnehmer verstoße. Außerdem hat das Gericht in dieser Entscheidung klargestellt, dass eine Gewerkschaft selbst dann mit dem Arbeitgeber einen TV nach § 3 BetrVG wirksam vereinbaren kann, wenn auch noch eine oder mehrere weitere Gewerkschaften für die betroffenen betriebsverfassungsrechtlichen Einheiten tarifzuständig seien. Eine teleologische Reduktion der Vorschrift, wonach ein TV zur Vermeidung einer künftig möglichen Tarifkonkurrenz (vgl. Teil 9 Rz. 92 ff.) nur von mehreren tarifzuständigen Gewerkschaften gemeinsam abgeschlossen werden könnte, lehnt das Gericht mit ausführlicher Begründung ab7. 1 Vgl. nur GK-BetrVG/Franzen, § 3 Rz. 3 m.w.N. 2 BAG v. 10.2.1988 – 1 ABR 70/86, NZA 1988, 699; BAG v. 29.7.2009 – 7 ABR 27/08, NZA 2009, 1424. 3 BAG v. 18.8.1987 – 1 ABR 30/86, NZA 1987, 779. 4 BAG v. 21.10.2003 – 1 ABR 39/02, NZA 2004, 936 m.w.N. 5 Vgl. Annuß, NZA 2002, 290 (290 ff.); Richardi/Richardi, § 3 BetrVG Rz. 9 f. m.w.N. 6 BAG v. 29.7.2009 – 7 ABR 27/08, NZA 2009, 1424. 7 Vgl. dazu die Ausführungen von Bepler, NZA-Beilage 3/2010, 99 (102 f.) und Hanau, RdA 2010, 313.
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Normativer Teil – Inhalte von Arbeitsverhltnissen und betriebliche Fragen
Rz. 97 Teil 4
Der Gesetzgeber hat diese Auffassung des BAG im Rahmen der Neuregelung zur Auf- 95a lösung von Tarifkollisionen innerhalb eines Betriebs in § 4a TVG bestätigt. § 4a Abs. 3 sieht für TVe nach § 3 Abs. 1 TVG ausdrücklich eine Ausnahme von der neuen Kollisionsregelung vor, die der Gesetzgeber in § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG geschaffen hat (vgl. Teil 9 Rz. 113 ff.). Der Gesetzgeber geht also, wie der Wortlaut von § 4a Abs. 3 TVG zeigt, davon aus, dass in ein und demselben Betrieb unterschiedliche TVe nach § 3 Abs. 1 TVG von verschieden Gewerkschaften existieren können. Das setzt denknotwendig voraus, dass trotz der Zuständigkeit mehrerer Gewerkschaften in einem Betrieb einzelne von ihnen (alleine) wirksame TVe im Bereich des § 3 Abs. 1 TVG schließen können, wie es das BAG für zulässig erachtet hat. Falls in einem Betrieb allerdings schon ein TV nach § 3 Abs. 1 TVG existiert und eine andere Gewerkschaft einen weiteren solchen TV für diesen Betrieb mit abweichenden Inhalten abschließt, sind die neuen Regelungen des § 4a Abs. 2 Sätze 2 und 3 TVG zur Auflösung der sich daraus ergebenden Tarifkollision (vgl. Teil 9 Rz. 124 ff.) zu beachten. Außerdem ist erforderlich, dass jeweils immer die satzungsmäßige Tarifzuständigkeit der kontrahierenden Gewerkschaft für alle Arbeitsverhältnisse der erfassten betrieblichen Einheiten gegeben ist1. Arbeitgeber machen offenbar vermehrt von der Möglichkeit Gebrauch, mit den Ge- 96 werkschaften TVe nach § 3 BetrVG abzuschließen. Solche TVe sind auch schon verschiedentlich Gegenstand von Entscheidungen des BAG und einiger Landesarbeitsgerichte gewesen. Über die oben genannte Entscheidung hinaus hat das BAG beispielsweise entschieden, dass ein ZuordnungsTV nach § 3 BetrVG, der eine Bildung von Betriebsräten abweichend vom Gesetz anstrebt, selbst abschließende Regeln zur Bildung und Wahl der Betriebsräte enthalten muss. Unzulässig sei es, wenn ein solcher TV es der Entscheidung der Arbeitnehmer überlasse, in welchen Einheiten jeweils einzelne oder gemeinsame Betriebsräte gewählt würden2. Solche Abstimmungsrechte der Arbeitnehmer, wie sie etwa § 4 Abs. 1 Satz 2 oder § 3 Abs. 3 BetrVG vorsehen, seien im Rahmen einer Tarifregelung nach § 3 Abs. 1 BetrVG mangels einer entsprechenden gesetzlichen Regelung nicht gestattet. In weiteren Entscheidungen hatte sich das BAG mit Fragen im Zusammenhang mit 97 der Zusammenfassung von Betrieben durch einen TV nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b BetrVG zu befassen. Es hat sich dabei insbesondere zum Schicksal von Betriebsvereinbarungen geäußert, die in den einzelnen nach dem TV zusammengefassten Betrieben zum Zeitpunkt der Wirksamkeit des TVs galten. Demnach führt die Zusammenfassung von Betrieben für sich allein noch nicht zum Verlust der betriebsverfassungsrechtlichen Identität der zusammengefassten Einheiten. Bestehende Betriebsvereinbarungen gelten vielmehr grundsätzlich im fingierten Einheitsbetrieb – allerdings beschränkt auf ihren bisherigen Wirkungsbereich – kollektivrechtlich weiter3. Voraussetzung sei aber, dass die bisherigen Betriebe auch nach ihrer Zusammenfassung noch ihre eigene betriebsverfassungsrechtliche Identität bewahrten. Die räumliche und organisatorische Abgrenzbarkeit des bisherigen Geltungsbereichs innerhalb der neuen Organisationseinheit allein sei dafür kein taugliches Abgrenzungskriterium. Entscheidend sei vielmehr, ob die Organisation der Arbeitsabläufe, der Betriebszweck und die 1 BAG v. 14.1.2014 – 1 ABR 66/12, NZA 2014, 910. 2 BAG v. 10.11.2004 – 7 ABR 17/04, AiB 2005, 619. 3 BAG v. 18.3.2008 – 1 ABR 3/07, NZA 2008, 1259 m. Anm. Salamon, NZA 2009, 74.
Hexel
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Teil 4 Rz. 98
Inhalt des Tarifvertrages
Leitungsstruktur, welche die Betriebsidentität prägten, nach der erfolgten Zusammenfassung von Betrieben zu neuen Organisationseinheiten unverändert geblieben seien1. 98
Welche flexiblen Möglichkeiten sich den TV-Parteien bei der Ausgestaltung von TVen nach § 3 Abs. 1 BetrVG bieten, hat das BAG bei der Prüfung eines ZuordnungsTV der inzwischen insolventen Fa. Anton Schlecker e.K. aufgezeigt. Der TV sah vor, dass abweichend von § 4 BetrVG jeweils von allen Verkaufsstellen oder Filialen einer Region, die als Betriebsteile anzusehen seien, ein gemeinsamer Betriebsrat für die Region zu wählen war. Das BAG interpretierte diesen TV so, dass damit jeweils ein Betriebsrat für die Bezirksleiterregionen zu wählen war, die die Unternehmensleitung kraft der unternehmerischen Organisationsfreiheit zuschneiden konnte, und hielt dies für zulässig. Der TV könne dynamisch regeln, dass Betriebsräte jeweils in den Regionen zu wählen seien, in denen nach den organisatorischen Vorgaben des Arbeitgebers Bezirksleitungen bestünden, da dies dem Grundsatz entspreche, dass Interessenvertretungen der Arbeitnehmer dort zu bilden seien, wo sich unternehmerische Leitungsmacht konkret entfalte2.
98a Auf der anderen Seite hat das BAG den TV-Parteien zuletzt auch aufgezeigt, welche Schranken sie im Rahmen der Vereinbarung von TVen nach § 3 Abs. 1 TVG zu beachten haben. Der sog. „TV Zuordnung 2010“ der Postbank und mit ihr verbundener Unternehmen sah unter anderem vor, dass neben den jeweils lokal an verschiedenen Standorten und Betrieben sowie der Zentrale in Bonn zu errichtenden örtlichen Betriebsräten auch unternehmensübergreifend sog. „Betriebsrätegemeinschaften“ gebildet werden sollten. Die Beteiligungsrechte und Pflichten der in der Gemeinschaft vereinten Betriebsräte sollten in der Betriebsrätegemeinschaft gemeinsam wahrgenommen werden. Diese Übertragung von Beteiligungsrechten hält das BAG3 für unzulässig. Gewählt worden seien nach dem TV Zuordnung lediglich die Betriebsräte. Sie seien Repräsentant der Belegschaft der betrieblichen Einheit, von der sie gewählt worden sind. Der TV Zuordnung, der die Wahrnehmung der Beteiligungsrechte einer Betriebsrätegemeinschaft übertrage, schließe damit in unzulässiger Weise den gewählten Betriebsrat von der Wahrnehmung seiner Rechte für die von ihm repräsentierte betriebliche Einheit aus4. c) Erweiterung von Mitbestimmungsrechten 99
Die TV-Parteien haben über die im BetrVG ausdrücklich vorgesehenen Möglichkeiten zur Schaffung von Vertretungsstrukturen, die von der gesetzlich vorgesehenen Organisation der Arbeitnehmervertretungen abweichen, hinaus nach h.M. auch das Recht, durch Regelungen nach § 3 Abs. 2 TVG Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte auszudehnen. Dies kann zum einen dadurch geschehen, dass ein TV nach dem BetrVG bereits vorgesehene Mitbestimmungsrechte gegenständlich erweitert und auf Sachverhalte erstreckt, für die das BetrVG eine Mitbestimmung nicht vorsieht. So kann z.B. ein TV die Mitbestimmung des Betriebsrats in sozialen Angelegenheiten, die das Gesetz hinsichtlich der Dauer und Lage der täglichen Arbeitszeit vorsieht, zusätzlich auch auf die Regelung der Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit der Arbeit1 2 3 4
BAG v. 7.6.2011 – 1 ABR 110/09, NZA 2012, 110. BAG v. 21.9.2011 – 7 ABR 54/10, NZA-RR 2012, 186. BAG v. 18.11.2014 – 1 ABR 21/13, NZA 2015, 694. BAG v. 18.11.2014 – 1 ABR 21/13, NZA 2015, 694.
286 Hexel
Normativer Teil – Inhalte von Arbeitsverhltnissen und betriebliche Fragen
Rz. 102 Teil 4
nehmer erstrecken. Er kann bestimmen, dass im Falle der Uneinigkeit der Betriebsparteien über die Dauer der individuellen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer eine Einigungsstelle – oder eine stattdessen zu errichtende tarifliche Schlichtungsstelle – eine verbindliche Entscheidung treffen soll1. Eine solche Ausweitung der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats kommt auch im 100 Rahmen der Mitbestimmung bei personellen Angelegenheiten in Betracht. So konnte ein RahmenTV der Spielbank Berlin wirksam vorsehen, dass der Betriebsrat bei allen personellen Entscheidungen, insbesondere auch bei Beförderungen, ein volles Mitbestimmungsrecht haben und dass bei Fehlen einer Einigung eine verbindliche und endgültige Entscheidung einer Einigungsstelle gelten sollte. Das BAG sah in der tariflichen Begründung eines echten Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats bei personellen Einzelmaßnahmen keine übermäßige Einschränkung der unternehmerischen Entscheidungsfreiheit2. Dabei sei insbesondere zu berücksichtigen, dass die Einigungsstelle ihre Beschlüsse unter angemessener Berücksichtigung der Belange des Betriebs und der betroffenen Arbeitnehmer nach billigem Ermessen zu fassen habe und dass dem Arbeitgeber bei Überschreitung des Ermessens der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten offen stehe. Bestätigt hat das BAG in dieser Entscheidung in einem obiter dictum auch die bis dahin bereits herrschende Lehre, dass TV-Parteien die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses in Anlehnung an § 102 Abs. 6 BetrVG von der Zustimmung des Betriebsrats abhängig machen dürfen3 (vgl. auch das Klauselbeispiel in Teil 5 (19)). Schließlich bestehen Möglichkeiten zur Erweiterung von Mitbestimmungsrechten 101 von Arbeitnehmervertretungen auch in Bereichen, in denen das Gesetz selbst Vertretungsstrukturen und Kompetenzen gar nicht vorsieht. In solchen gesetzlich ungeregelten Bereichen können die Koalitionen im Rahmen ihrer Betätigungsfreiheit auch auf die Betriebsverfassung bezogene Beteiligungsrechte neu schaffen. Sie können nicht nur die gesetzlichen Beteiligungsrechte inhaltlich erweitern, sondern z.B. auch bestimmte Regelungsbereiche des BetrVG auf Beschäftigtengruppen ausdehnen, die von ihnen nach den gesetzlichen Regelungen nicht erfasst werden. Bestätigt hat dies das BAG zum Beispiel für einen von der Deutsche Telekom AG geschaffenen eigenständigen Ausbildungsbetrieb, für den der Arbeitgeber mit der Gewerkschaft ver.di eine eigene tarifliche Auszubildendenvertretung geschaffen hatte4. Damit sollte dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die Auszubildenden in einem solchen reinen Ausbildungsbetrieb, der keinen weitergehenden arbeitstechnischen Betriebszweck hat, von den gesetzlich vorgesehenen Gremien (insbesondere Jugend- und Auszubildendenvertretung) nicht erfasst wurden. d) Unternehmensmitbestimmung und wirtschaftliche Angelegenheiten Auch wenn der in § 1 Abs. 1 TVG verwendete Begriff der betrieblichen und betriebsver- 102 fassungsrechtlichen Fragen, wie oben aufgezeigt (Rz. 84), den Koalitionen einen recht weiten Gestaltungsspielraum eröffnet, so sind doch bestimmte Bereiche der Regelungsmacht der TV-Parteien entzogen. Ihre normative Regelungsbefugnis nach § 1 Abs. 1 i.V.m. § 3 Abs. 2 TVG gilt nach überwiegender Auffassung nicht für die Aus1 2 3 4
BAG v. 18.8.1987 – 1 ABR 30/86, NZA 1987, 779. BAG v. 10.2.1988 – 1 ABR 70/86, NZA 1988, 699. BAG v. 10.2.1988 – 1 ABR 70/86, NZA 1988, 699 (unter B II 3a der Gründe, m.w.N.). BAG v. 24.8.2004 – 1 ABR 28/03, NZA 2005, 371.
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287
Teil 4 Rz. 103
Inhalt des Tarifvertrages
gestaltung der Unternehmensverfassung. Vielmehr sind insoweit die bestehenden gesetzlichen Regelungen zur Mitbestimmung der Arbeitnehmer durch ihre Wahl in den Aufsichtsrat des Unternehmens, insbesondere das DrittelbG und das MitbestG, zwingend und nicht zur Disposition der TV-Parteien gestellt1. 103 Auch soweit es um die Frage der Mitbestimmung des Betriebsrats in wirtschaftlichen Angelegenheiten, namentlich nach den §§ 106 ff. BetrVG, geht, wird die Möglichkeit der TV-Parteien zu einer Erweiterung von Rechten, wie sie für den Bereich der sozialen und personellen Angelegenheiten befürwortet wird, überwiegend kritisch gesehen2. Regelungselemente, die wirtschaftliche Angelegenheiten und damit auch Fragen der unternehmerischen Entscheidungsfreiheit betreffen, finden sich jedoch durchaus häufig in SanierungsTVen (vgl. Teil 12 Rz. 34 ff.) oder im Kontext sog. Bündnisse für Arbeit (vgl. Teil 13 Rz. 82 ff.).
V. Normen über Gemeinsame Einrichtungen (§ 4 Abs. 2 TVG) 104 Nicht unmittelbar aus § 1 Abs. 1 TVG, sondern aus § 4 Abs. 2 TVG ergibt sich, dass ein TV auch Regelungen über abhängige Organisationen der TV-Parteien, sog. Gemeinsame Einrichtungen, enthalten kann. Ob von den Koalitionspartnern eine Gemeinsame Einrichtung im Sinne des § 4 Abs. 2 TVG geschaffen werden soll, ergibt sich aus dem TV, der die Rechtsverhältnisse einer durch ihn geschaffenen Einrichtung regelt. Mittelbar bestimmt er damit deren rechtliche Qualifizierung. 1. Merkmale der Gemeinsamen Einrichtung 105 Die Gemeinsame Einrichtung ist im Wesentlichen durch zwei Merkmale gekennzeichnet. Die Qualität einer „Einrichtung“ i.S.d. § 4 Abs. 2 TVG haben solche Einrichtungen, die im Rahmen einer eigenen Organisation von einem eigenständigen Rechtsträger gehalten werden3. Die Einrichtung muss, wie sich aus dem Gesetzestext ergibt, in der Lage sein, gleichsam als „Dritter“ ein Verhältnis sowohl zu den tarifgebundenen Arbeitnehmern wie auch zu den tarifgebunden Arbeitgebern zu begründen. Das Merkmal der „Gemeinsamkeit“ der Einrichtung verlangt, dass die Organisation so errichtet ist, dass beide TV-Parteien einen Einfluss auf sie ausüben können. Auf diese Weise ist die von § 4 Abs. 2 TVG vorausgesetzte Abhängigkeit der Einrichtung von den TV-Parteien zu gewährleisten4. Darüber hinaus ist für die Einstufung einer Organisation als Gemeinsame Einrichtung von Bedeutung, dass die Einflussmöglichkeit beider TV-Parteien paritätisch5 ist, wobei es nach Auffassung des BAG, der sich auch der BGH angeschlossen hat, nicht notwendig ist, dass der paritätische Einfluss bereits bei Errichtung der Einrichtung bestand; es genügt danach vielmehr, 1 Vgl. Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 760; Hanau, ZGR 2001, 75 (80). 2 Vgl. Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 1 TVG Rz. 835 ff.; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 771 f. 3 Wiedemann/Oetker, § 1 TVG Rz. 785 f.; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 328; vgl. auch Hromadka, NJW 1970, 1441 (1442 f.). 4 BAG v. 25.1.1989 – 5 AZR 43/88, BAGE 61, 29; BAG v. 10.8.2004 – 5 AZB 26/04, ZTR 2004, 603; Wiedemann/Oetker, § 1 TVG Rz. 787 ff. 5 Str., vgl. Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 337; a.A. Kempen/Zachert/Siefert, § 4 TVG Rz. 291 f. (jeweils m.w.N.).
288 Hexel
Normativer Teil – Inhalte von Arbeitsverhltnissen und betriebliche Fragen
Rz. 108 Teil 4
wenn die TV-Parteien sich einer existierenden Einrichtung bedienen und sie durch Bestimmungen im TV, die eine paritätische Aufsicht und Kontrolle erst ermöglichen, zu einer Gemeinsamen Einrichtung machen1. Damit kommt den genauen Inhalten der Regelungen eines TVs über eine gemein- 106 same Einrichtung, die die Qualität des § 4 Abs. 2 TVG haben soll, eine entscheidende Bedeutung zu. Regelungsbedarf besteht bei der Errichtung Gemeinsamer Einrichtungen außerhalb des eigentlichen Leistungskatalogs insbesondere im Hinblick auf ihre Rechtsform und ihre rechtsformspezifische Binnenorganisation, die namentlich die notwendigen Möglichkeiten der paritätischen Einflussnahme vorsehen muss (vgl. auch Teil 8 Rz. 100). Historisch betrachtet dienen Gemeinsame Einrichtungen in erster Linie dazu, inner- 107 halb einer Branche betriebsübergreifend Leistungen an Arbeitnehmer zu erbringen, die der einzelne Arbeitgeber alleine in dieser Form nicht erbringen könnte bzw. würde2. Damit sind durch Regelungen eines TVs neben der Organisation der Einrichtung als solcher zusätzlich die Beitragspflicht der tarifgebundenen Arbeitgeber gegenüber der Gemeinsamen Einrichtung einerseits, wie auch andererseits die typischerweise bestehende Leistungspflicht der Einrichtung gegenüber den begünstigten Arbeitnehmern zu regeln3. Zu den Gemeinsamen Einrichtungen, die von TV-Parteien bislang schon errichtet wurden, zählen neben den im Gesetz erwähnten Lohnausgleichskassen oder Urlaubskassen insbesondere auch solche zur Verbesserung der Altersversorgung (z.B. Zusatzversorgungskassen). Man kann aber, soweit sie entsprechend eigenständig organisiert und institutionalisiert sind, auch bestimmte Einrichtungen zur Fort-, Aus- und Weiterbildung von Arbeitnehmern und, je nach Ausgestaltung, auch Schlichtungsstellen und Schiedsgerichte als Gemeinsame Einrichtungen einstufen4 (vgl. auch Teil 8 Rz. 99). 2. Gemeinsame Einrichtungen und sonstiges Tarifrecht Normen über die Errichtung Gemeinsamer Einrichtungen werfen eine Reihe von Fol- 108 gefragen auf, die noch nicht alle umfassend geklärt sind. Dies beginnt damit, dass Normen über Gemeinsame Einrichtungen selbst weder als Inhaltsnormen i.S.d. § 1 Abs. 1 TVG (vgl. Rz. 11 ff.) anzusehen sind5 noch notwendigerweise als Betriebsnormen i.S.d. § 3 Abs. 2 TVG (vgl. Rz. 86 ff.) qualifiziert werden können6. Die von den TV-Parteien gemäß § 4 Abs. 2 TVG geschaffenen Institutionen sind somit nicht unmittelbar in das Arbeitsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer eingebunden, sondern treten gleichsam als Dritte hinzu. Damit bedurfte es einer über § 4 Abs. 1 TVG hinausgehenden Befugnis der Koalitionspartner, in Bezug auf Gemeinsame Einrichtungen normative Regelungen zu schaffen7. 1 BAG v. 28.4.1981 – 3 AZR 255/80, BAGE 35, 221; BGH v. 14.12.2005 – IV ZB 45/04, NZA-RR 2006, 430; vgl. auch Hromadka, NJW 1970, 1441 (1443). 2 Kempen/Zachert/Seifert, § 4 TVG Rz. 297 ff.; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 322. 3 Vgl. dazu beispielsweise die entsprechenden Regelungen im Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) v. 18.12.2009. 4 Wiedemann/Oetker, § 1 TVG Rz. 786; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 351. 5 Kempen/Zachert/Seifert, § 4 TVG Rz. 308; Wiedemann/Oetker, § 1 TVG Rz. 781 f. 6 Vgl. BAG v. 9.12.2009 – 4 AZR 190/08, NZA 2010, 712. 7 Kempen/Zachert/Seifert, § 4 TVG Rz. 310; Wiedemann/Oetker, § 1 TVG Rz. 781 f.
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Teil 4 Rz. 109
Inhalt des Tarifvertrages
109 Nach wie vor werden vor diesem Hintergrund beispielsweise unterschiedliche Auffassungen zu der Frage vertreten, ob und unter welchen Voraussetzungen die Normen eines TVs über Gemeinsame Einrichtungen Bindungswirkung auch für Außenseiter entfalten1. Das BAG und ihm folgend zahlreiche Stimmen in der Literatur gehen heute davon aus, dass Regelungen über Gemeinsame Einrichtungen genauso wie Normen nach § 1 Abs. 1 TVG insgesamt nur für diejenigen Arbeitsverhältnisse normative Geltung beanspruchen können, in denen beiderseitige Tarifgebundenheit besteht2. Andere Stimmen sprechen sich für eine differenzierte Sichtweise aus. Danach sollen jeweils die Beitragsbeziehungen der tarifgebundenen Arbeitgeber und die Leistungsbeziehungen der tarifgebundenen Arbeitnehmer jeweils gesondert betrachtet werden. So wäre es durchaus denkbar, dass ein nicht-organisierter Arbeitnehmer eines tarifgebundenen Arbeitgebers Leistungen aus der Gemeinsamen Einrichtung erhalten kann, wie auch ein tarifgebundener Arbeitnehmer eines nicht tarifgebundenen Arbeitgebers berechtigt werden könnte3. Im Umgang mit Außenseitern stellt sich bei Gemeinsamen Einrichtungen überdies die Frage der Zulässigkeit von Differenzierungs- oder gar Spannensicherungsklauseln4 (vgl. Teil 10 Rz. 27 ff. und Teil 5 (8)). 110 In der Praxis wird bei den wichtigen Gemeinsamen Einrichtungen, vor allen Dingen bei Zusatzversorgungskassen und bei Einrichtungen im Bereich des Bauhauptgewerbes, die Erstreckung des Wirkungskreises der Einrichtungen mithilfe der Allgemeinverbindlicherklärung gemäß § 5 TVG (vgl. Teil 7 Rz. 14 ff.) erreicht. Da die Gemeinsamen Einrichtungen typischerweise auf dem Grundgedanken einer betriebsübergreifenden, möglichst branchenweiten Solidargemeinschaft beruhen, bietet es sich geradezu an, die entsprechenden TVe über die Beitrags- und Leistungspflichten für allgemeinverbindlich erklären zu lassen. Die Möglichkeit zur Erstreckung einer Allgemeinverbindlichkeitserklärung auf Tarifnormen nach § 4 Abs. 2 TVG ist heute allgemein anerkannt5. 111 Offene Fragen ergeben sich gerade auch bei TVen über Gemeinsame Einrichtungen der TV-Parteien hinsichtlich des jüngst vom BAG aufgegebenen Grundsatzes der Tarifeinheit (vgl. Teil 9 Rz. 101 ff.). Für die nicht für allgemeinverbindlich erklärten TVe zum sog. Wertguthabenfonds zur Absicherung von Langzeitkonten in der Bahnindustrie hat das BAG entschieden, dass bei mehreren im Betrieb vertretenen Gewerkschaften nicht stets Tarifgemeinschaften gebildet werden müssen, um Tarifkonkurrenzen von vornherein zu vermeiden. Eine antizipierte Auflösung einer antizipierten Tarifkonkurrenz könne nicht dazu führen, dass der Abschluss des die Tarifkonkurrenz begründenden TVs unwirksam sei6. Da es zum Zeitpunkt der Entscheidung noch keine konkurrierenden TV-Regelungen gab, musste das BAG seinerzeit nicht entscheiden, wie die Auflösung zu erfolgen hätte. Auf die Frage, wie die Kollision einer denkbaren Mehrheit von TVen, die in einem Betrieb Geltung im Hinblick auf ei1 Vgl. dazu bereits BAG v. 29.11.1967 – GS 1/67, BB 1968, 993; Zeiss, JR 1970, 201 (203 f.). 2 BAG v. 9.12.2009 – 4 AZR 190/08, NZA 2010, 712 m.w.N. 3 Vgl. Ausführungen bei Wiedemann/Oetker, § 1 TVG Rz. 844 f.; Hromadka, NJW 1970, 1441 (1444 f.). 4 Vgl. Beispiel bei Zeiss, JR 1970, 201 (203 f.); siehe auch: Thüsing/v. Hoff, ZfA 2008, 77 (98 ff.). 5 Zuletzt nochmals BAG v. 22.10.2003 – 10 AZR 13/03, DB 2004, 712; LAG Hessen v. 6.11.2006 – 16 Sa 727/06; siehe auch Wiedemann/Oetker, § 1 TVG Rz. 849 ff. m.w.N. 6 BAG v. 9.12.2009 – 4 AZR 190/08, NZA 2010, 712.
290 Hexel
Rz. 113 Teil 4
Obligatorischer Teil
ne Gemeinsame Einrichtung beanspruchen – eventuell auch mit Blick auf eine Allgemeinverbindlichkeit der TV-Regelungen über die Einrichtung –, aufzulösen ist, lassen sich sicherlich verschiedene Antworten hören und gut begründen1. Der Gesetzgeber hat mit der Schaffung des § 4a TVG diesen Problembereich nicht gelöst. Seinem Wortlaut nach erfassen die Kollisionsregelungen des neuen § 4a TVG weder Tarifregelungen im Bereich des § 4 Abs. 2 TVG noch für allgemeinverbindlich erklärte TVe nach § 5 TVG2. Hier bleiben nach wie vor die weiteren Entwicklungen und eine Klärung durch die Rechtsprechung abzuwarten. Besonderheiten gelten für Gemeinsame Einrichtungen im Hinblick auf die Nachwir- 112 kung von TV-Regelungen (vgl. Teil 9 Rz. 40). Auch wenn Normen nach § 4 Abs. 2 TVG keine Inhaltsnormen sind, kommt eine Nachwirkung nach überwiegender Auffassung grundsätzlich durchaus in Betracht3. Dies gilt zumindest, wenn ein TV über eine Gemeinsame Einrichtung insgesamt endet. Anders ist die Rechtslage für den Fall des Herauswachsens aus dem Geltungsbereich eines TVs über eine Gemeinsame Einrichtung zu behandeln. So gilt nach Auffassung des BAG § 4 Abs. 5 TVG nicht für die in § 4 Abs. 2 TVG genannten Regelungen über Gemeinsame Einrichtungen, wenn der Arbeitgeber durch eine Änderung des Betriebszwecks aus dem betrieblichen Geltungsbereich des TVs ausscheidet und keine Beiträge an die Gemeinsame Einrichtung mehr zu erbringen hat4. Diese Beschränkung der Nachwirkung bei einem Ausscheiden des Arbeitgebers aus dem betrieblichen Geltungsbereich der TVe führt deswegen aber nicht zum Wegfall von Verpflichtungen gegenüber einzelnen Arbeitnehmern, die bis dahin bereits entstanden sind. Soweit der Arbeitgeber solche Verpflichtungen nicht mehr mittels der Gemeinsamen Einrichtung erbringen kann, muss er selbst gleichwertige Leistungen erbringen5.
C. Obligatorischer Teil I. Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien (Obligatorischer Teil) Der Inhalt eines TVs ist nicht auf die normative Regelung von Arbeitsverhältnissen 113 und von betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Fragen beschränkt. Neben der unmittelbaren Wirkung, welche die Regelungen eines TVs in Bezug auf die von seinem Geltungsbereich erfassten Arbeitsverhältnisse regelmäßig entfalten, begründet ein TV vielmehr auch gegenseitige Verpflichtungen der TV-Parteien untereinander. Anders als die oben beschriebenen Inhaltsnormen, die sich durch ihren normativen Charakter und ihre unmittelbare Wirkung auf Arbeitsverhältnisse auszeichnen, werden schuldrechtliche Absprachen zwischen den TV-Parteien nicht zum Teil der Arbeitsverhältnisse. Dies hat Auswirkungen auf Fragen der Nachwirkung (vgl. Teil 9 Rz. 39), der Reichweite tariflicher Bezugnahmeklauseln (vgl. Teil 10 Rz. 7) oder der Fortgeltung von tariflichen Regelungen nach § 613a BGB im Falle eines Betriebsübergangs (vgl. Teil 15 Rz. 59); in allen genannten Fällen werden rein obligatorische TV1 2 3 4
Bepler, NZA-Beilage 2/2011, 73 (79). Wiesehügel, NZA-Beilage 2/2011, 88 (90). Str., vgl. Nachweise bei Kempen/Zachert/Seifert, § 4 TVG Rz. 308. BAG v. 5.10.1993 – 3 AZR 586/92, NZA 1994, 848; BAG v. 25.10.1994 – 9 AZR 66/91, NZA 1995, 1054. 5 HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 233; Griebeling, EWiR 1994, 325.
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Rz. 113 Teil 4
Obligatorischer Teil
ne Gemeinsame Einrichtung beanspruchen – eventuell auch mit Blick auf eine Allgemeinverbindlichkeit der TV-Regelungen über die Einrichtung –, aufzulösen ist, lassen sich sicherlich verschiedene Antworten hören und gut begründen1. Der Gesetzgeber hat mit der Schaffung des § 4a TVG diesen Problembereich nicht gelöst. Seinem Wortlaut nach erfassen die Kollisionsregelungen des neuen § 4a TVG weder Tarifregelungen im Bereich des § 4 Abs. 2 TVG noch für allgemeinverbindlich erklärte TVe nach § 5 TVG2. Hier bleiben nach wie vor die weiteren Entwicklungen und eine Klärung durch die Rechtsprechung abzuwarten. Besonderheiten gelten für Gemeinsame Einrichtungen im Hinblick auf die Nachwir- 112 kung von TV-Regelungen (vgl. Teil 9 Rz. 40). Auch wenn Normen nach § 4 Abs. 2 TVG keine Inhaltsnormen sind, kommt eine Nachwirkung nach überwiegender Auffassung grundsätzlich durchaus in Betracht3. Dies gilt zumindest, wenn ein TV über eine Gemeinsame Einrichtung insgesamt endet. Anders ist die Rechtslage für den Fall des Herauswachsens aus dem Geltungsbereich eines TVs über eine Gemeinsame Einrichtung zu behandeln. So gilt nach Auffassung des BAG § 4 Abs. 5 TVG nicht für die in § 4 Abs. 2 TVG genannten Regelungen über Gemeinsame Einrichtungen, wenn der Arbeitgeber durch eine Änderung des Betriebszwecks aus dem betrieblichen Geltungsbereich des TVs ausscheidet und keine Beiträge an die Gemeinsame Einrichtung mehr zu erbringen hat4. Diese Beschränkung der Nachwirkung bei einem Ausscheiden des Arbeitgebers aus dem betrieblichen Geltungsbereich der TVe führt deswegen aber nicht zum Wegfall von Verpflichtungen gegenüber einzelnen Arbeitnehmern, die bis dahin bereits entstanden sind. Soweit der Arbeitgeber solche Verpflichtungen nicht mehr mittels der Gemeinsamen Einrichtung erbringen kann, muss er selbst gleichwertige Leistungen erbringen5.
C. Obligatorischer Teil I. Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien (Obligatorischer Teil) Der Inhalt eines TVs ist nicht auf die normative Regelung von Arbeitsverhältnissen 113 und von betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Fragen beschränkt. Neben der unmittelbaren Wirkung, welche die Regelungen eines TVs in Bezug auf die von seinem Geltungsbereich erfassten Arbeitsverhältnisse regelmäßig entfalten, begründet ein TV vielmehr auch gegenseitige Verpflichtungen der TV-Parteien untereinander. Anders als die oben beschriebenen Inhaltsnormen, die sich durch ihren normativen Charakter und ihre unmittelbare Wirkung auf Arbeitsverhältnisse auszeichnen, werden schuldrechtliche Absprachen zwischen den TV-Parteien nicht zum Teil der Arbeitsverhältnisse. Dies hat Auswirkungen auf Fragen der Nachwirkung (vgl. Teil 9 Rz. 39), der Reichweite tariflicher Bezugnahmeklauseln (vgl. Teil 10 Rz. 7) oder der Fortgeltung von tariflichen Regelungen nach § 613a BGB im Falle eines Betriebsübergangs (vgl. Teil 15 Rz. 59); in allen genannten Fällen werden rein obligatorische TV1 2 3 4
Bepler, NZA-Beilage 2/2011, 73 (79). Wiesehügel, NZA-Beilage 2/2011, 88 (90). Str., vgl. Nachweise bei Kempen/Zachert/Seifert, § 4 TVG Rz. 308. BAG v. 5.10.1993 – 3 AZR 586/92, NZA 1994, 848; BAG v. 25.10.1994 – 9 AZR 66/91, NZA 1995, 1054. 5 HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 233; Griebeling, EWiR 1994, 325.
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Teil 4 Rz. 114
Inhalt des Tarifvertrages
Normen von den maßgeblichen Regelungen nicht erfasst. Auch für die Auslegung von schuldrechtlichen TV-Normen gelten andere Regeln (vgl. Teil 3 Rz. 155 f.). Man kann die obligatorischen Vereinbarungen unterteilen in solche, die in erster Linie der Umsetzung der im normativen Teil eines TVs vereinbarten Regelungen dienen, und solche, die einen eigenständigen, von den normativen Inhalten des TVs losgelösten Charakter haben. 114 Teilweise zielen schuldrechtliche Vereinbarungen der TV-Parteien primär darauf ab, die Umsetzung des normativen Teils und die Verwirklichung der dort getroffenen Regelungen eines TVs zu fördern. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nach h.M. bestimmte schuldrechtliche Verpflichtungen der TV-Parteien einer ausdrücklichen Regelung durch die TV-Parteien im TV gar nicht zwingend bedürfen. Einige wesentliche Grundbzw. Nebenpflichten sind vielmehr jedem TV immanent, sodass sie selbst dann zu beachten sind, wenn der TV diesbezüglich eine ausdrückliche Regelung nicht enthält. Zu diesen immanenten Pflichten zählt insbesondere die Friedenspflicht der TV-Parteien1, wenn dies auch nicht immer unbestritten war2. Ganz losgelöst von der Frage, ob und mit welcher Begründung man von einer immanenten Friedenspflicht als schuldrechtlicher Bestandteil eines jeden TV ausgeht, ist jedenfalls heute unbestritten, dass die TV-Parteien in einem TV auch ausdrückliche Vereinbarungen über Reichweite und Grenzen der Friedenspflicht treffen können (vgl. Rz. 117 ff.). 115 Als weitere Gegenstände obligatorischer Regelungen eines TVs sind in der Praxis die Konkretisierung und Ausgestaltung von Durchführungs- und Einwirkungspflichten zu nennen. Auch diese Pflichten der TV-Parteien untereinander gehen automatisch mit dem Abschluss eines TVs einher, weil auch für TVe der Grundsatz pacta sunt servanda gilt3. Da sich bei der gerichtlichen Durchsetzbarkeit dieser Nebenpflichten zahlreiche offene Fragen stellen können (vgl. Teil 16 Rz. 20 ff.), bietet es sich an, hierzu im TV ausdrückliche Regelungen zu vereinbaren. 116 Neben TV-Klauseln im vorbeschriebenen Sinne, die der Ausgestaltung und Präzisierung von Nebenpflichten und damit mittelbar der Durchsetzung der Regelungen des normativen Teils eines TVs dienen, können die TV-Parteien auch gegenseitige Rechte und Pflichten begründen, die einen eigenständigen Charakter haben und nicht nur als sekundäre Pflichten einzustufen sind. Zu derart eigenständigen schuldrechtlichen Normen zählen beispielsweise Vereinbarungen über Mechanismen zur Konfliktlösung (Schiedsverfahren, Schlichtungsstelle), Arbeitskampfregelungen oder Vereinbarungen über Vertragsstrafen und Schadenersatz. In seiner grundlegenden Entscheidung vom 21.4.1971 zur Verhältnismäßigkeit im Arbeitskampfrecht hat der Große Senat des BAG zum Ausdruck gebracht, dass er Vereinbarungen dieser Art zwischen den TV-Parteien, die sich mit der Austragung der Interessengegensätze befassen, für erforderlich hält4. Ungeachtet dessen gibt es solche Regelungswerke, die eigenständige schuldrechtliche 1 Vgl. zuletzt BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734; BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, NZA 2007, 987; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 868; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 987; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 22 II 1a, S. 1074. 2 Vgl. zur früheren Diskussion über die Herleitung der Friedenspflicht: Kempen/Zachert/Zachert, 3. Aufl. 1997, § 1 TVG Rz. 341 f. 3 BAG v. 11.9.1991 – 4 AZR 71/91, NZA 1992, 3216; BAG v. 29.4.1992 – 4 AZR 432/91, NZA 1992, 846; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 913 f. 4 BAG v. 21.4.1971 – GS 1/68, BB 1971, 701.
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Obligatorischer Teil
Rz. 118 Teil 4
Pflichten zwischen den TV-Parteien begründen, nicht in allen Branchen und Bereichen. Die Vereinbarung eigenständiger Verpflichtungen der TV-Parteien steht typischerweise auch nicht an erster Stelle, wenn es um den Forderungskatalog der Koalitionspartner bei der Aufnahme von Tarifverhandlungen geht. Im Vordergrund und im Fokus stehen meist doch die Inhaltsnormen, während den obligatorischen Regelungen eher ein dienender Charakter1 zukommt.
II. Normen mit Bezug auf die Tarifinhalte (Friedenspflicht, Durchführungspflicht) 1. Regelungen zur Friedenspflicht a) Ausgangslage Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG dient die Friedenspflicht, die als imma- 117 nente Nebenpflicht nicht gesondert vereinbart werden muss, dem Schutz der Mitglieder der TV-Parteien davor, hinsichtlich der tariflich geregelten Materie mit Arbeitskampfmaßnahmen überzogen zu werden. Sie stellt sich damit in Bezug auf die Mitglieder der Koalitionen, die nicht selbst Partei des TVs sein müssen, als Vertragsbestandteil zugunsten Dritter dar2. Wenn zwischen den TV-Parteien keine ausdrücklichen Regelungen über die Friedenspflicht getroffen werden, gilt sie nur als sog. relative Friedenspflicht, weil sie Arbeitskampfmaßnahmen nicht schlechthin ausschließt, sondern nur im Hinblick auf die Regelungsgegenstände, über die sich die TV-Parteien in einem konkreten TV jeweils verständigt haben. Die relative Friedenspflicht verbietet es den TV-Parteien lediglich, einen bestehenden TV inhaltlich dadurch in Frage zu stellen, dass sie Änderungen oder Verbesserungen der vertraglich geregelten Gegenstände zu erkämpfen versuchen3 (vgl. auch Teil 8 Rz. 17). Die relative Friedenspflicht gilt solange, bis die normative Wirkung des TVs endet, also nicht mehr während des Zeitraums der Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG4. b) Erweiterung der Friedenspflicht Es ist im Wesentlichen unbestritten, dass die TV-Parteien die Möglichkeit haben, die 118 dem TV innewohnende relative Friedenspflicht durch obligatorische Vereinbarungen zu erweitern5. Dazu können die TV-Parteien nicht nur den gegenständlichen Geltungsbereich des TVs selbst entsprechend weit definieren (vgl. Teil 8 Rz. 17), sondern beispielsweise auch vereinbaren, dass in Bezug auf bestimmte Regelungsgegenstände, über die im TV keine Vereinbarung getroffen wurde, dennoch eine (relative) Friedenspflicht gelten soll6. Auf diese Weise können sie eine Erweiterung des Gegenstands 1 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 988. 2 Vgl. nur BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734 m.w.N. 3 BAG v. 27.6.1989 – 1 AZR 404/88, NZA 1989, 969; BAG v. 19.6.2007 – 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055; vgl. auch Stamer, ArbR 2010, 646. 4 H.M., vgl. Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 881 m.w.N. 5 Vgl. BAG v. 21.12.1982 – 1 AZR 411/80, NJW 1983, 1750; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 22 II 1d, S. 1076 f.; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1070 ff.; Kempen/Zachert/Seifert, § 1 TVG Rz. 931. 6 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 22 II 1d, S. 1077; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1073.
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Teil 4 Rz. 119
Inhalt des Tarifvertrages
der Friedenspflicht über den eigentlichen Regelungsbereich eines TVs hinaus erreichen. Vielfach zu finden sind auch TV-Regelungen, die die Friedenspflicht in zeitlicher Hinsicht – über das Ende der normativen Wirkung des TVs hinaus – verlängern. Die Vereinbarung einer entsprechenden Stillhaltefrist ist oft Gegenstand von tariflichen Schlichtungsabkommen1 (vgl. Rz. 130 ff.). Eine Friedenspflicht kann unter Umständen auch bestehen, wenn die TV-Parteien in Bezug auf eine bestimmte Materie eine gegenseitige, einklagbare Verhandlungspflicht vereinbart haben2. So lange ein so geschaffener Anspruch auf Verhandlungen noch gerichtlich geltend gemacht werden kann, dürfte ein Streik mit dem Ziel des Abschlusses eines neuen TV zu dem fraglichen Regelungsgegenstand unrechtmäßig sein. 119 Die TV-Parteien haben nach h.M. auch die Möglichkeit, kraft ausdrücklicher Vereinbarung anstatt einer nur relativen Friedenspflicht eine absolute Friedenspflicht zu vereinbaren3. Kraft einer solchen Vereinbarung können sie sich für eine bestimmte Zeit gegenseitig zusichern, jeglichen Arbeitskampf – gleich, um die Erkämpfung welchen Ziels es geht, – zu unterlassen. Als „prominentestes“ Beispiel für einen solchen TV finden sich in der Literatur in erster Linie Hinweise auf das Friedensabkommen in der Maschinen-, Metall- und Uhrenindustrie in der Schweiz4. c) Einschränkung der Friedenspflicht 120 Weitaus weniger Einigkeit herrscht hinsichtlich der Frage, ob und in welchem Umfang die TV-Parteien die Friedenspflicht, obwohl sie grundsätzlich als immanenter Bestandteil eines jeden TVs anzusehen ist, wirksam einschränken können. Nach einer restriktiven Ansicht sollen die TV-Parteien zwar klarstellen können, dass zwischen bestimmten TVen kein innerer Zusammenhang besteht, sodass das Fortbestehen des einen TVs einen Kampf um die Regelungen des anderen TVs nicht hindert, sobald letzterer endet. Die Friedenspflicht kann nach dieser Auffassung aber in Bezug auf den in einem TV geregelten Bereich nicht abgeschwächt werden5. 121 Einige Literaturstimmen sprechen sich dafür aus, dass eine einschränkende Vereinbarung der Friedenspflicht jedenfalls insoweit möglich ist, als die TV-Parteien durch entsprechende Öffnungsklauseln in Bezug auf einzelne Verbandsmitglieder eine Ausnahme von der Friedenspflicht vorsehen können6. Es soll auch möglich sein, Arbeitskampfmaßnahmen unter bestimmten Voraussetzungen, etwa im Falle einer unvorhergesehenen Steigerung der Gewinne, zuzulassen7. Ein über solche Fallgestaltungen, die auf bestimmte Sonderfälle abzielen, hinausgehender, umfassender und dauerhafter Ausschluss der Friedenspflicht ist auch nach diesen Auffassungen nicht möglich, 1 Vgl. zur Schlichtungs- und Schiedsvereinbarung in der Metallindustrie v. 1.1.1980: BAG v. 12.9.1984 – 1 AZR 342/83, NZA 1984, 393. 2 Vgl. Ausführungen in BAG v. 25.9.2013 – 4 AZR 173/12, BAGE 146, 133. 3 Vgl. BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734; vgl. auch BAG v. 20.11.2012 – 1 AZR 611/11, NZA 2013, 437 (zur absoluten Friedenspflicht im Bereich der Evangelisch-Lutherischen Kirche). 4 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 22 II 1e, S. 1077; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 907; Löwisch, BB 1988, 1333. 5 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1080; ähnlich: Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 887 f.; Wieland in Tschöpe, AHB-Arbeitsrecht, Teil 4 C Rz. 153. 6 Kempen/Zachert/Seifert, § 1 TVG Rz. 932; Däubler/Reim, § 1 TVG Rz. 1138 m.w.N. 7 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 22 II 1d, S. 1077.
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Obligatorischer Teil
Rz. 124 Teil 4
hat aber offenbar auch in der Praxis der TV-Verhandlung und -gestaltung bisher keine erhebliche Rolle gespielt. 2. Regelungen zu Durchführungs- und Einwirkungspflichten a) Ausgangslage Die Pflicht der TV-Parteien, die in einem TV getroffenen Regelungen vereinbarungs- 122 gemäß umzusetzen, ist nach heute allgemein anerkannter Auffassung ein Wesenselement des TVs. Das BAG beschreibt sie als eine Nebenpflicht, die einem TV, wie jedem privatrechtlichen Vertrag, immanent ist1. Die Durchführungspflicht sei die Konkretisierung des allgemeinen Prinzips pacta sunt servanda und des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB). Jede TV-Partei sei danach verpflichtet, alles zu tun, um den vereinbarten Leistungserfolg vorzubereiten, herbeizuführen und zu sichern. Daraus ergeben sich in erster Linie positive Handlungspflichten. Gleichzeitig resultiert aus dieser Nebenpflicht aber auch ein Gebot der Unterlassung. Die TV-Parteien haben alles zu vermeiden, was zu einer Beeinträchtigung oder Gefährdung des im TV vereinbarten Erfolgs führen könnte. Sie haben in diesem Zusammenhang auch alles zu unterlassen, was die tarifvertraglichen Regelungen leerlaufen lassen könnte2. Für Durchführungsansprüche gilt das allgemeine Leistungsstörungsrecht. Somit kann ein Anspruch nach § 275 BGB ausgeschlossen sein, wenn sich die Durchführung als rechtlich unmöglich erweist, ggf. auch wegen Entfallens des Leistungszwecks3. Die Besonderheit von TVen liegt in diesem Zusammenhang – im Vergleich zu den übli- 123 chen sonstigen privatrechtlichen Verträgen – darin, dass sie aufgrund ihrer Doppelnatur (vgl. Rz. 2) typischerweise nicht nur die TV-Parteien obligatorisch binden, sondern normativ auf die Arbeitsverhältnisse der tarifgebundenen Mitglieder einwirken. Die Umsetzung des normativen Teils der TVe vollzieht sich damit primär zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die selbst – jedenfalls bei VerbandsTVen – nicht TVPartei sind. Insoweit dienen bereits die gesetzlichen Regelungen in § 4 Abs. 1 bis Abs. 4 TVG, die auf eine Umsetzung der normativ wirkenden TV-Regelungen abzielen und diese flankieren (vgl. auch Teil 9 Rz. 10 ff.), der Umsetzung eines TVs4. Unabhängig davon gehört es darüber hinaus zur Erfüllung der Durchführungspflicht der TV-Parteien, dass beide jeweils mit geeigneten Mitteln auf ihre Mitglieder einwirken, damit diese die normativen Regelungen einhalten und jegliche tarifwidrigen Maßnahmen unterlassen (vgl. zur Einwirkungspflicht und ihrer Durchsetzung Teil 16 Rz. 17 ff.). b) Ausgestaltung der Durchführungs-/Einwirkungspflichten Ähnlich wie im Hinblick auf die Friedenspflicht ist auch für die Durchführungs- und Einwirkungspflichten anerkannt, dass sie nicht durch obligatorische Regelungen insgesamt abbedungen oder ihrer Funktion zuwider tiefgreifend eingeschränkt werden können5. Dies stünde zum einen im Widerspruch zum Sinn und Zweck einer vertrag1 BAG v. 29.4.1992 – 4 AZR 432/91, NZA 1992, 846. 2 BAG v. 29.4.1992 – 4 AZR 432/91, NZA 1992, 846; LAG Hamburg v. 12.11.2008 – 4 Sa 53/08. 3 BAG v. 26.7.2012 – 6 AZR 221/11, AP Nr. 14 zu § 1 TVG Tarifverträge. 4 So auch BAG v. 29.4.1992 – 4 AZR 432/91, NZA 1992, 846. 5 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1107.
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Teil 4 Rz. 125
Inhalt des Tarifvertrages
lichen Vereinbarung im Allgemeinen und würde sich angesichts der Rechtsnatur des TVs im Speziellen auch nicht mit dem Regelungsauftrag der Koalitionen aus Art. 9 Abs. 3 GG vereinbaren lassen1 (vgl. Rz. 42). Denkbar ist aber z.B. eine Vereinbarung, nach der geringfügige Verstöße gegen die Einwirkungspflicht lediglich mit einer Abmahnung sanktioniert werden können2. Gegen eine Erweiterung der Durchführungspflicht werden hingegen keine durchgreifenden Bedenken vorgebracht. In der Praxis vereinbaren TV-Parteien mitunter verschiedene Regelungen mit dem Ziel der Konkretisierung und praktischen Umsetzung dieser Nebenpflichten. 125 So können die TV-Parteien z.B. konkret die Art und Weise, in welcher die TV-Parteien ihre Mitglieder über den Inhalt eines TVs zu informieren haben, regeln. Aus der dem TV immanenten Durchführungspflicht ergibt sich zwar eine allgemeine Informationspflicht gegenüber den Mitgliedern. Deren Ausgestaltung lässt jedoch Raum für Regelungen der TV-Parteien3. Als weiteres Beispiel für tarifvertragliche Regelungen zur Durchführungspflicht werden die Vereinbarung von Vertragsstrafen für den Fall der Verletzung der Nebenpflicht4 oder eine gegenseitige Verpflichtung zur Beantragung der Allgemeinverbindlichkeit eines TVs5 angeführt. 3. Schiedsvereinbarungen 126 Zu den obligatorischen Vereinbarungen, die der Umsetzung des normativen Teils eines TVs dienen, können auch Vereinbarungen über die Beilegung von Streitigkeiten zwischen den TV-Parteien durch ein Schiedsgericht i.S.d. § 101 Abs. 1 ArbGG6 (vgl. auch Teil 16 Rz. 57 ff.) zählen. Dazu kann der obligatorische Teil eines TVs beispielsweise im Rahmen einer sog. Gesamtschiedsvereinbarung regeln, dass anstelle der Arbeitsgerichte (gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 ArbGG) ein von den TV-Parteien zu errichtendes Schiedsgericht über Rechtsstreitigkeiten zwischen den TV-Parteien aus dem TV abschließend entscheiden soll. Solche Streitigkeiten können sich insbesondere im Hinblick auf die Erfüllungs- und Einwirkungspflichten der TV-Parteien ergeben7. Im Rahmen der Schiedsvereinbarung können die Parteien auch ausdrücklich bestimmen, dass das Schiedsgericht abschließende Entscheidungen in Bezug auf die Auslegung der normativen Inhalte des TVs treffen kann8. Ob und unter welchen Voraussetzungen ein Schiedsspruch, der auf eine solche Gesamtschiedsvereinbarung zurück geht, eine Bindungswirkung nach § 9 TVG haben kann, wovon das BAG in einer Entscheidung im Jahre 19609 auf Basis des TVG in seiner damals gültigen Fassung noch ausgegangen ist, ist im Einzelnen umstritten10.
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Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 918. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1107. Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 917; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1103. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 15X 2a (4), S. 629. Dieses und weitere Beispiele bei Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1105 f. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1104; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 946. GMPM/Germelmann, § 101 ArbGG Rz. 9. Vgl. zu § 19.3 des Manteltarifvertrags für Beschäftigte in der Metall- und Elektroindustrie in Nordwürttemberg/Nordbaden LAG Baden-Württemberg v. 23.11.2009 – 15 Sa 71/09; siehe auch Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1541. 9 BAG v. 20.5.1960 – 1 AZR 268/57, AP Nr. 8 zu § 101 ArbGG 1953. 10 Vgl. zu Einzelheiten GMPM/Germelmann, § 108 ArbGG Rz. 31; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 949 (jeweils m.w.N.); Löwisch, ZZP 103 (1990), 22 (27 f.).
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Obligatorischer Teil
Rz. 130 Teil 4
Wenn sich die Parteien in einem TV darauf verständigen, dass bestimmte Streitfragen 127 durch ein Schiedsgericht geklärt werden sollen, ergibt sich aus der Durchführungspflicht des TVs für beide Parteien die implizierte Nebenpflicht, im Bedarfsfall auch an der Errichtung des Schiedsgerichts mitzuwirken1. Die TV-Parteien können auch detaillierte Regelungen über die Zusammensetzung, Organisation und Arbeit des Schiedsgerichts vereinbaren, insbesondere, wenn sie von vornherein von einem über den Einzelfall hinausgehenden Bedarf für Entscheidungen des Schiedsgerichts ausgehen. In dieser Konstellation kann dem Schiedsgericht die Qualität einer gemeinsamen Einrichtung i.S.v. § 4 Abs. 2 TVG (vgl. Rz. 104 ff.) zukommen2.
III. Weitere schuldrechtliche Vereinbarungen 1. Vertragsfreiheit im Tarifrecht Die TV-Parteien sind im Rahmen der Vereinbarung obligatorischer TV-Normen nicht 128 darauf beschränkt, lediglich Vereinbarungen im oben beschriebenen Sinne zu treffen, die sich mit der Friedenspflicht oder mit der Verpflichtung zur Durchführung eines TVs oder der Umsetzung seiner normativen Regelungen im weitesten Sinne befassen. Sie können vielmehr, weil der TV in seinem obligatorischen Teil einen rein privatrechtlichen Charakter hat, auch außerhalb des ihnen nach Art. 9 Abs. 3 GG obliegenden Normsetzungsauftrags umfassende Regelungen über gegenseitige Rechte und Pflichten vereinbaren3. Während die TV-Parteien bei der Vereinbarung normativer Regelungen im Sinne des § 1 Abs. 1 i.V.m. § 4 Abs. 1 TVG aufgrund der ihnen verliehenen Rechtsnormsetzungsbefugnis besonderen Beschränkungen unterliegen (vgl. Teil 1 Rz. 45 ff.), können sie bei der Vereinbarung schuldrechtlicher Regelungen von dem allgemein geltenden Prinzip der Vertragsautonomie Gebrauch machen. An sich könnten die TV-Parteien – innerhalb der Grenzen des allgemeinen Rechts – damit jeden beliebigen Gegenstand schuldrechtlich regeln. Den Charakter eines TVs im Sinne des TVG behält eine schuldrechtliche Regelung zwischen den TV-Parteien dabei jedoch nur, wenn der Regelungsgegenstand noch dem Tarifauftrag der Koalitionen zugeordnet werden kann und sich noch innerhalb ihrer Zuständigkeit gemäß Art. 9 Abs. 3 GG bewegt4. Zu den in der Praxis bedeutsamsten schuldrechtlichen TV-Regelungen, die nicht auf 129 die Durchführung eines bestehenden TVs oder auf dessen Schutz durch die bestehende Friedenspflicht abzielen, zählen Vereinbarungen über die tarifliche Konfliktlösung. Sie befassen sich mit Fragen der Verhandlung und gegebenenfalls der Erkämpfung von neuen TVen in Form von Schlichtungsvereinbarungen oder Arbeitskampfregeln. 2. Schlichtungsvereinbarungen Das Tarifrecht ist geprägt von der Möglichkeit der Koalitionen, die Ziele ihrer Tarif- 130 politik notwendigenfalls auch mit Arbeitskampfmaßnahmen durchzusetzen, soweit 1 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 947. 2 Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 351; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 947. 3 LAG Schleswig-Holstein v. 15.1.2009 – 4 Sa 269/08; BAG v. 21.5.2014 – 4 AZR 50/13, NZA 2015, 115; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 74; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1169. 4 Kempen/Zachert/Zeibig/Zachert, § 1 TVG Rz. 945.
Hexel
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Teil 4 Rz. 131
Inhalt des Tarifvertrages
dem nicht die Friedenspflicht (vgl. Rz. 117) entgegensteht. Das Recht zur Durchführung von Arbeitskämpfen gehört zu den wesentlichen Grundlagen der Betätigungsfreiheit der Koalitionen nach Art. 9 Abs. 3 GG1 (vgl. Teil 1 A Rz. 9). Dennoch zeigt die Praxis, dass die TV-Parteien in aller Regel – sicherlich nicht alleine vor dem Hintergrund der Anforderungen der Rechtsprechung an die Verhältnismäßigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen2 – zunächst eine gewisse Zurückhaltung walten lassen, bevor sie in einen Arbeitskampf eintreten. Arbeitskämpfe sind mit erheblichen Kosten verbunden und bringen typischerweise für alle Beteiligten weitere Nachteile mit sich. Losgelöst von diesen „natürlichen Hindernissen“, aufgrund derer es in der Praxis häufig zu längeren TV-Verhandlungen und der intensiven Suche nach einer einvernehmlichen Lösung kommt, gibt es im deutschen Recht für die TV-Parteien keine Verpflichtung zur Durchführung eines Schlichtungsverfahrens3. Auf die Möglichkeit der staatlichen Schlichtung nach dem Kontrollratsgesetz von 1946 (KRG Nr. 35) greifen TV-Parteien vergleichsweise selten zurück, sodass die freiwillige staatliche Schlichtung in der Praxis keine bedeutende Rolle spielt4. In vielen Branchen haben die Koalitionen jedoch im Rahmen von TVen Vereinbarungen über Schlichtungsbemühungen bei Uneinigkeit über die Inhalte eines TV, den wenigstens eine der TV-Parteien schließen möchte, getroffen5. Dabei obliegt es der Freiheit der TV-Parteien, im Rahmen der Ausgestaltung des von ihnen zu regelnden Schlichtungsverfahrens sowohl dessen mögliche Gegenstände wie auch seinen Verlauf, insbesondere das Verfahren zum Zustandekommen eines Schlichtungsergebnisses, und schließlich dessen Wirksamwerden zu regeln6. 131 Gegenstand von Schlichtungsvereinbarungen ist dabei häufig, dass die Parteien sich auf einer ersten Stufe gegenseitig dazu verpflichten, sich zur Beilegung von (bevorstehenden) Streitigkeiten über den Inhalt eines neuen TVs zunächst an den Verhandlungstisch zu setzen. So wird ein obligatorischer Verhandlungsanspruch über TV-Inhalte begründet, den es ohne entsprechende Vereinbarungen nicht gibt (vgl. Teil 3 Rz. 4 ff.). Während dieser Verhandlungsphase gilt üblicherweise weiterhin die Friedenspflicht, die damit verlängert wird7. 132 Regelmäßig bestimmen Schlichtungsvereinbarungen sodann, dass im Falle des Scheiterns der Verhandlungen die Schlichtungsstelle tätig werden soll, wobei meist in der Schlichtungsvereinbarung selbst festgelegt wird, unter welchen Voraussetzungen von einem Scheitern der Verhandlungen auszugehen ist. In Betracht kommt hier neben dem einvernehmlichen Feststellen des Scheiterns beispielsweise auch die einseitige Erklärung einer TV-Partei, an die die Parteien wiederum gewisse Anforderungen hinsichtlich der Form und ggf. des Inhalts stellen können8. Die Anrufung der Schlichtungsstelle im Falle des Scheiterns kann typischerweise ebenfalls nicht nur gemein1 Vgl. dazu in jüngerer Zeit nochmals BAG v. 19.6.2007 – 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055 (mit Verweisen auf zentrale Entscheidungen des BVerfG). 2 S. zusammenfassende Darstellung zum Ultima-Ratio-Prinzip in MünchArbR/Ricken, § 200 Rz. 47 ff. 3 BVerfG v. 6.5.1964 – 1 BvR 79/62, NJW 1964, 1267; Lembke, RdA 2000, 223 (233 f.). 4 HWK/C.W. Hergenröder, Art. 9 GG Rz. 372. 5 Siehe Nachweise bei Knevels, ZTR 2008, 408 (414). 6 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 31 3b, S. 1307 f. 7 MünchArbR/Ricken, § 209 Rz. 2; vgl. auch Ausführungen in BAG v. 25.9.2013 – 4 AZR 173/12, BAGE 146, 133. 8 Vgl. z.B. die Regelungen in § 4 der Schlichtungs- und Schiedsvereinbarung für die Metallindustrie v. 1.1.1980.
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Obligatorischer Teil
Rz. 135 Teil 4
sam durch die TV-Parteien, sondern auch einseitig durch eine Partei erfolgen1, wobei z.B. das Schlichtungsverfahren in der Metallindustrie vorsieht, dass sich die andere TV-Partei der Anrufung anschließen muss; andernfalls findet dort ein Schlichtungsverfahren nicht statt2. Recht aufwendige Regelungen enthalten viele Schlichtungsvereinbarungen zur Zu- 133 sammensetzung der Schlichtungsstelle. Typischerweise setzt sich diese, ähnlich wie im Falle einer Einigungsstelle nach dem BetrVG, zum einen aus einer gleichen Anzahl von Mitgliedern (Beisitzern) zusammen, welche die TV-Parteien jeweils nominieren dürfen. Diese paritätische Besetzung zählt allgemein zu den Schlüsselelementen einer erfolgreichen Schlichtung3. Zum anderen bestimmen die TV-Parteien in der Schlichtungsvereinbarung regelmäßig einen (manchmal auch zwei) unparteiischen Vorsitzenden oder sehen detaillierte Regelungen vor, nach welchem Modus ein solcher unparteiischer Vorsitzender bestimmt werden soll4. Häufig beschreiben Schlichtungsvereinbarungen auch das weitere Verfahren, insbesondere Anhörungsund Stellungnahmerechte der TV-Parteien bzw. ihrer Beisitzer. Am Ende der Schlichtung kann ein von den TV-Parteien einvernehmlich akzeptiertes 134 Schlichtungsergebnis stehen, welches schriftlich zu dokumentieren ist und dann die gleichen Wirkungen hat wie ein TV5. Wenn in der Schlichtung eine einvernehmliche Lösung nicht erzielt werden kann, obliegt es regelmäßig der Schlichtungsstelle, einen Einigungsvorschlag oder Schlichterspruch zu verabschieden. Von der Vereinbarung der TV-Parteien in der Schlichtungsabrede hängt es ab, welche Wirkung der Schlichtungsspruch hat. Denkbar ist, dass die TV-Parteien sich vorab auf die Verbindlichkeit des Spruchs einigen6. Häufiger sehen jedoch Schlichtungsvereinbarungen vor, dass die Parteien den Schlichtungsspruch nachträglich annehmen müssen7. Wenn sich die TV-Parteien im Vorhinein dem Schlichtungsspruch unterwerfen, bleibt ihnen die Möglichkeit einer Rechtskontrolle erhalten8. Der Spruch oder Vorschlag der Schlichtungsstelle, der schriftlich auszufertigen ist, wirkt nach seinem Zustandekommen normativ wie ein TV9. 3. Arbeitskampfregelungen Das BAG hat in seiner Entscheidung des Großen Senats vom 21.4.197110 zum Aus- 135 druck gebracht, dass nach seiner Auffassung Vereinbarungen zwischen den TV-Parteien über die Austragung der Interessengegensätze der Koalitionen erforderlich sind. Die Mittel des Arbeitskampfes dürften ihrer Art nach nicht über das hinausgehen, was zur Durchsetzung des erstrebten Zieles jeweils erforderlich sei. Das Prinzip der 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 31 3b (2), S. 1307. Vgl. § 4 Ziffer 4. der Schlichtungs- und Schiedsvereinbarung für die Metallindustrie. MünchArbR/Ricken, § 209 Rz. 2. Vgl. § 5 Ziff. 2. bis 12. der Schlichtungs- und Schiedsvereinbarung für die Metallindustrie; siehe auch MünchArbR/Ricken, § 209 Rz. 3. MünchArbR/Ricken, § 209 Rz. 5. Vgl. BAG v. 24.2.1988 – 4 AZR 614/87, NZA 1988, 553; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 952. Vgl. z.B. § 9 Ziff. 1. bis 4. der Schlichtungs- und Schiedsvereinbarung für die Metallindustrie. HWK/C.W. Hergenröder, Art. 9 GG Rz. 374; Löwisch/Rieble, § 9 TVG Rz. 21. BAG v. 24.2.1988 – 4 AZR 614/87, NZA 1988, 553 m.w.N. BAG v. 21.4.1971 – GS 1/68, NJW 1971, 1668.
Hexel
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Teil 4 Rz. 136
Inhalt des Tarifvertrages
Verhältnismäßigkeit betreffe auch die Art der Durchführung und die Intensität des Arbeitskampfes, der deshalb nur dann rechtmäßig sei, wenn und solange er nach Regeln eines fairen Kampfes geführt werde. Die Arbeitskampfregeln müssten u.a. Bestimmungen darüber enthalten, wie die Erhaltungsmaßnahmen für bestreikte Betriebe zu gewährleisten seien, ob und welche für die Allgemeinheit lebensnotwendigen Betriebe vom Arbeitskampf ausgenommen werden und ob und in welchem Umfang Vorsorge getroffen werde, dass Anwartschaften oder Versicherungen nicht verfallen. Nach Abschluss des Arbeitskampfes obliege es den TV-Parteien, Vereinbarungen zur Frage der Maßregelungsverbote und Wiedereinstellungen zu treffen1. 136 Die TV-Parteien verschiedener Branchen sind diesem Appell des BAG gefolgt und haben schuldrechtliche Vereinbarungen zu Fragen des Arbeitskampfes getroffen. So gibt es tarifliche Vereinbarungen über Erhaltungsarbeiten oder Notdienstarbeiten während der Streikphase2. Notdienstarbeiten sind dabei solche Arbeiten, die die Versorgung der Bevölkerung mit lebensnotwendigen Diensten und Gütern während eines Arbeitskampfes sicherstellen3. Erhaltungsarbeiten sind demgegenüber Arbeiten, die erforderlich sind, um die Anlagen und Betriebsmittel während des Arbeitskampfes so zu erhalten, dass nach Beendigung des Kampfes die Arbeit fortgesetzt werden kann4. Abreden der TV-Parteien über diese Arbeiten werden häufig gezielt aus Anlass eines konkret geführten Arbeitskampfes vereinbart, nicht notwendigerweise als abstraktgenerelle Regelungen5. 137 Soweit es um Regelungen zu Folgen eines Arbeitskampfes geht, spielten in der Vergangenheit vor allen Dingen Wiedereinstellungsklauseln (vgl. Teil 5 (24)) und spielen heute Maßregelungs- oder Benachteiligungsverbote (vgl. Teil 5 (14)) eine Rolle, wobei deren normative Wirkung im Vordergrund steht6. 4. Prozessuale Vereinbarungen 138 Die TV-Parteien können, wie oben bereits angesprochen, nach § 101 Abs. 1 ArbGG vereinbaren, dass Entscheidungen in (bestimmten) streitigen Fragen nicht durch die Arbeitsgerichte, sondern durch ein von den TV-Parteien eingerichtetes Schiedsgericht herbeizuführen sind (vgl. Rz. 126 f.). Nach § 48 Abs. 2 ArbGG haben die TV-Parteien auch die Möglichkeit, für bestimmte Streitigkeiten die örtliche Zuständigkeit eines an sich nicht zuständigen Arbeitsgerichts vorzusehen. Dabei können sie eine ausschließliche Zuständigkeit festlegen oder durch den TV neben dem an sich zuständigen Arbeitsgericht für ein weiteres Arbeitsgericht eine zusätzliche Zuständigkeit begründen7. 1 BAG v. 21.4.1971 – GS 1/68, NJW 1971, 1668; siehe auch BAG v. 31.1.1995 – 1 AZR 142/94, NZA 1995, 958. 2 Vgl. zur Notdienstvereinbarung über die Einrichtung von Notdiensten bei der Deutschen Flugsicherung LAG Baden-Württemberg v. 31.3.2009 – 2 SaGa 1/09, NZA 2009, 631. 3 BAG v. 30.3.1982 – 1 AZR 265/80, BB 1983, 766; BAG v. 31.1.1995 – 1 AZR 142/94, NZA 1995, 958. 4 BAG v. 30.3.1982 – 1 AZR 265/80, BB 1983, 766; BAG v. 8.6.1982 – 1 AZR 464/80, DB 1982, 1827; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 1923 Rz. 61. 5 HWK/C.W. Hergenröder, Art. 9 GG Rz. 293. 6 Vgl. dazu Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 618 f. und 620 ff.; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 194 Rz. 15 ff. 7 GMPM/Germelmann, § 48 ArbGG Rz. 134.
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Teil 5 Katalog typischer Tarifnormen Seite
Seite (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12) (13) (14) (15)
Altersgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annahmeverzug/Betriebsrisiko . . . . . Arbeitsentgelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitsverhinderung . . . . . . . . . . . . . . Arbeitszeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Befristungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . Besetzungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzierungsklauseln . . . . . . . . . . Direktionsrechtsklauseln . . . . . . . . . . Effektivklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eingruppierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entgeltfortzahlung . . . . . . . . . . . . . . . . Kurzarbeitsregelungen . . . . . . . . . . . . . Maßregelungsverbot. . . . . . . . . . . . . . . Mehrarbeitsregelungen . . . . . . . . . . . .
301 314 319 331 338 356 368 374 389 400 403 415 425 444 450
(16) Meistbegünstigungsklauseln . . . . . . . (17) Öffnungsklauseln/Genehmigungsvorbehalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (18) Schlechtwetterklauseln . . . . . . . . . . . . (19) Standortsicherung/Beschäftigungssicherung/Arbeitsplatzsicherung . . . . (20) Tarifkollisionsklausel . . . . . . . . . . . . . (21) Unkündbarkeiten/Kündigungsklauseln/Fristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . (22) Urlaubsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . (23) Verfallklauseln/Ausschlussklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (24) Wiedereinstellungsklauseln . . . . . . . . (25) Zulagen-/Zuschlagsregelungen. . . . . .
460 466 478 483 494 497 509 529 538 547
(1) Altersgrenzen Literatur: Bader, Arbeitsrechtliche Altersgrenzen weiter flexibilisiert, NZA 2014, 749; Bauer, Arbeitsrechtliche Baustellen des Gesetzgebers – insbesondere im Befristungsrecht, NZA 2014, 889; Bauer/v. Medem, Altersgrenzen zur Beendigung von Arbeitsverhältnissen – Was geht, was geht nicht?, NZA 2012, 945; Klösel/Reitz, „Flexi-Rente“ und Europarecht, NZA 2014, 1366; Temming, Diskriminierende Beendigung der Arbeitsverhältnisse von Piloten bei Vollendung des 60. Lebensjahres, EuZA 2012, 205.
I. Zweck und Kontext Das deutsche Arbeitsrecht kennt, soweit es um die Beschäftigung älterer Menschen 1 geht, im Wesentlichen keine gesetzlichen Altersgrenzen. Ohne besondere Vereinbarung würden unbefristete Arbeitsverhältnisse also unabhängig vom Lebensalter des Arbeitnehmers unbegrenzt fortgelten. Unter verschiedenen Gesichtspunkten ist es jedoch nicht unproblematisch, ältere Arbeitnehmer uneingeschränkt weiter arbeiten zu lassen. Zum einen lässt das persönliche Leistungsvermögen mit zunehmendem Alter nach, so dass es im Sinne des Gesundheitsschutzes erwägenswert ist, seinem Arbeitsleben eine Grenze zu setzen. Zum anderen schafft das Ausscheiden älterer Arbeitnehmer aus dem Berufsleben angesichts des nach wie vor noch angespannten Arbeitsmarkts für die jüngere Generation verbesserte Möglichkeiten, in den Beruf einzusteigen und so gleichsam nachzurücken. Die TV-Parteien haben diese Situation erkannt und sehen in verschiedenen Branchen tarifliche Altersgrenzen vor. Tarifvertragliche Altersgrenzen lassen das Arbeitsverhältnis bei Erreichen eines be- 2 stimmten Lebensalters automatisch enden. In den meisten TVen wird in diesem Zusammenhang auf das Erreichen des gesetzlich geregelten Rentenalters abgestellt (sog. Hexel/Bork
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Katalog typischer Tarifnormen
Regelrentenaltersgrenzen). In zahlreichen TVen findet sich hierzu noch die Regelung, nach der das Arbeitsverhältnis mit dem 65. Lebensjahr automatisch endet (sog. „starre“ tarifliche Altersgrenze). Nach dem Entschluss des Gesetzgebers, die Regelaltersgrenze für die gesetzliche Altersrente in den Jahren 2012 bis 2035 schrittweise von 65 auf 67 Lebensjahre anzuheben, wird in neueren TVen überwiegend eine Klausel verwendet, wonach das Arbeitsverhältnis mit Ablauf des Monats endet, in dem der Arbeitnehmer das gesetzlich geregelte Alter zum Erreichen der Regelaltersrente vollendet hat (sog. „dynamische“/„flexible“ tarifliche Altersgrenze). TVe, deren Altersgrenzenklauseln nach wie vor auf das 65. Lebensjahr abstellen, sind deshalb heute so auszulegen, dass an die Stelle des 65. Lebensjahres jeweils das Erreichen der Regelaltersgrenze tritt. Dies dürfte jedenfalls auf die TVe zutreffen, die vor dem 1.1.2008 und damit vor Inkrafttreten des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes vereinbart wurden1. 3 Darüber hinaus lassen sich in TVen aber auch Altersgrenzen finden, die unterhalb des gesetzlichen Rentenalters liegen. Derartige vorzeitige Altersgrenzen sind in der Regel starr ausgestaltet und aufgrund spezifischer Besonderheiten innerhalb einer bestimmten Branche oder Berufsgruppe (Beispiel: Piloten, vgl. Rz. 34 ff.) aufgenommen worden. 4 Altersgrenzenvereinbarungen in TVen bedürfen unter verschiedenen rechtlichen Gesichtspunkten einer kritischen Betrachtung und Prüfung, da sie mit Normen aus unterschiedlichen Rechtsbereichen in Konflikt geraten können. 5 Nach Ansicht des BAG handelt es sich bei den Altersgrenzenregelungen in TVen um kalendermäßige Befristungsvereinbarungen, weil der in der Zukunft liegende Beendigungszeitpunkt hinreichend bestimmbar ist2. Das Arbeitsverhältnis endet zu einem festen Zeitpunkt, zu dem der Arbeitnehmer entweder ein bestimmtes Alter erreicht hat oder eine gesetzliche Altersrente beziehen kann. Aus Sicht der Parteien ist die Vollendung eines bestimmten Lebensjahres ein zukünftiges Ereignis, dessen Eintritt sie als feststehend ansehen. Allein durch die Möglichkeit einer vorherigen anderweitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses wird die vereinbarte Altersgrenze nicht zu einer auflösenden Bedingung3. 6 Tarifvertragliche Altersgrenzen unterliegen damit der arbeitsgerichtlichen Befristungskontrolle. Sie bedürfen zu ihrer Wirksamkeit eines sie rechtfertigenden Sachgrundes i.S.d. § 14 Abs. 1 TzBfG. Dem steht nach Ansicht des BAG auch nicht die verfassungsrechtlich gemäß Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie entgegen4. 7 Die Zulässigkeit tarifvertraglicher Altersgrenzenregelungen galt lange Zeit als gesichert. Das BAG hielt insbesondere die auf das Erreichen des gesetzlichen Regelrentenalters abstellenden Befristungen in ständiger Rechtsprechung i.S.d. § 14 TzBfG für sachlich gerechtfertigt, sofern nur der Arbeitnehmer im Zeitpunkt der Beendigung
1 So ErfK/Rolfs, § 41 SGB VI Rz. 10 mit dem Hinweis, dass die Regelaltersgrenze seit dem Jahre 1916 bei 65 Jahren lag. 2 BAG v. 13.8.2002 – 7 AZR 469/01, NZA 2003, 1397. 3 Ob man das Erreichen der Altersgrenze mit dem BAG und der überwiegend vertretenen Auffassung als Befristung ansieht oder als auflösende Bedingung, macht wegen § 21 TzBfG letztlich keinen entscheidenden Unterschied. 4 Vgl. z.B. BAG v. 18.1.2012 – 7 AZR 112/08, DB 2012, 981.
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Rz. 9 Teil 5 (1)
Altersgrenzen
des Arbeitsverhältnisses die Voraussetzungen für den Bezug einer Altersversorgung in der gesetzlichen Rentenversicherung erfüllt (Erfordernis der wirtschaftlichen Absicherung, vgl. Rz. 21 f.). Mit Inkrafttreten des AGG ist die Diskussion um die Wirksamkeit tarifvertraglicher Altersgrenzen neu entfacht. Im Kern geht es hierbei um die Frage, ob die mit Altersgrenzen einhergehende Diskriminierung wegen des Alters gerechtfertigt sein kann. Eine zentrale Bedeutung kommt dabei der Regelung des § 10 Satz 3 Nr. 5 AGG zu, nach dessen Wortlaut sowohl kollektivvertragliche als auch arbeitsvertragliche Altersgrenzenregelungen zulässig sein können1. Darüber hinaus ist aufgrund der Rechtsprechung des EuGH bei der Anwendung des § 10 Satz 3 Nr. 5 AGG die Gleichbehandlungsrichtlinie (Richtlinie 2000/78/EG) zu berücksichtigen2. Diskutiert wird, ob die Regelung des § 41 Satz 2 SGB VI auch auf tarifvertragliche Al- 8 tersgrenzen Anwendung findet. Hiernach gilt eine Vereinbarung, die die Beendigung des Arbeitsverhältnisses eines Arbeitnehmers ohne Kündigung zu einem Zeitpunkt vorsieht, zu dem der Arbeitnehmer vor Erreichen der Regelaltersgrenze eine Rente wegen des Alters beantragen kann, dem Arbeitnehmer gegenüber als auf das Erreichen der Regelaltersgrenze abgeschlossen. Der weit gefasste Wortlaut der Norm („Vereinbarung“) könnte für eine Anwendbarkeit sowohl auf einzelvertragliche als auch auf kollektivvertragliche Vereinbarungen sprechen3. Aus der Gesetzesbegründung zur Neufassung der Regelung4 lässt sich nunmehr jedoch deutlich entnehmen, dass tarifvertragliche Altersgrenzen dem Anwendungsbereich der Vorschrift nicht unterfallen sollen. Dieser Sichtweise haben sich der überwiegende Teil der Literatur und mittlerweile auch das LAG Hamm angeschlossen5.
II. Beispiele § 33 des Tarifvertrages fr den çffentlichen Dienst (TVçD) – Beendigung des Arbeitsverhltnisses ohne Kndigung (1) Das Arbeitsverhltnis endet, ohne dass es einer Kndigung bedarf, a) mit Ablauf des Monats, in dem die/der Beschftigte das gesetzlich festgelegte Alter zum Erreichen der Regelaltersrente vollendet hat, b) jederzeit im gegenseitigen Einvernehmen (Auflçsungsvertrag). (2) (…) (5) Soll die/der Beschftigte, deren/dessen Arbeitsverhltnis nach Absatz 1 Buchst. a geendet hat, weiterbeschftigt werden, ist ein neuer schriftlicher Arbeitsvertrag
1 ErfK/Schlachter, § 10 AGG Rz. 11; beachte: Gesetzliche Altersgrenzen werden von § 10 Satz 3 Nr. 5 AGG hingegen nicht erfasst. 2 EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09, DB 2010, 2339 – Rosenbladt; dem später folgend BAG v. 18.1.2012 – 7 AZR 112/08, DB 2012, 981. 3 So noch BAG v. 1.12.1993 – 7 AZR 428/93, NZA 1994, 369; die Entscheidung erging jedoch zu der Vorgängernorm § 41 Abs. 4 Satz 3 SGB VI (RRG 1992). 4 BT-Drucks. 12/8145, S. 6. 5 HWK/Ricken, § 41 SGB VI Rz. 15; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 650 ff.; LAG Hamm v. 22.1.2015 – 11 Sa 1252/14, ArbR 2015, 182 (Revision eingelegt unter dem Az. 7 AZR 146/15).
Hexel/Bork
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9
Teil 5 (1) Rz. 10
Katalog typischer Tarifnormen
abzuschließen. Das Arbeitsverhltnis kann jederzeit mit einer Frist von vier Wochen zum Monatsende gekndigt werden, wenn im Arbeitsvertrag nichts anderes vereinbart ist. 10
§ 19 Abs. 1 Satz 1 des Manteltarifvertrages Nr. 5a fr das Cockpitpersonal bei Lufthansa Das Arbeitsverhltnis endet – ohne dass es einer Kndigung bedarf – mit Ablauf des Monats, in dem das 60. Lebensjahr vollendet wird. (…)
III. Kommentierung 1. § 33 TVöD (Rz. 9) 11
Bei § 33 TVöD handelt es sich um ein typisches Beispiel für eine tarifvertragliche Altersgrenze, die zeitlich an das Regelrentenalter anknüpft. Nach § 33 Abs. 1a TVöD endet das Arbeitsverhältnis, ohne dass es einer Kündigung bedarf, mit Ablauf des Monats, in dem die/der Beschäftigte das gesetzlich festgelegte Alter zum Erreichen der Regelaltersrente vollendet hat. Die Regelung macht die Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht von weiteren Bedingungen abhängig. Insbesondere kommt es nach dem Wortlaut der tariflichen Regelung nicht darauf an, ob der Arbeitnehmer zu dem vorgesehenen Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses tatsächlich Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung oder aus einer sonstigen Altersversorgung bezieht.
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In seiner Ursprungsfassung sah § 33 Abs. 1a TVöD zunächst vor, dass die dem TV unterfallenden Arbeitsverhältnisse mit Vollendung des 65. Lebensjahrs ihr Ende finden sollten. Unmittelbar nach Inkrafttreten des TVöD kam es zu der eingangs bereits erwähnten stufenweisen Anhebung der Regelaltersgrenze für die gesetzliche Altersrente. Dies führte in der Folgezeit vielfach zu Problemen bei der Auslegung und Anwendung der Norm. Auch wurde die Verfassungsmäßigkeit des § 33 Abs. 1a TVöD a.F. in Frage gestellt1. Schließlich wurde die Vorschrift mit Wirkung vom 1.6.2008 geändert. In ihrer aktuellen Fassung verweist die Regelung des § 33 Abs. 1a TVöD n.F. nunmehr auf die jeweils bestehende gesetzliche Regelaltersgrenze, die individuell im Einzelfall zu bestimmen ist. Auf ein konkret bestimmtes einheitliches Rentenalter wird nicht mehr abgestellt.
13
Zu beachten ist, dass § 33 Abs. 1a TVöD allein die allgemeine Regelrentenaltersgrenze, nicht jedoch auch andere vorzeitige Altersgrenzen erfasst. Erreicht beispielsweise ein Schwerbehinderter das für ihn geltende vorgezogene Rentenalter, so endet sein Arbeitsverhältnis deswegen nicht automatisch. Tarifregelungen, die eine automatische Beendigung des Arbeitsverhältnisses ab dem Zeitpunkt vorsehen, ab dem ein Schwerbehinderter allein aufgrund seines Status eine abschlagsfreie Altersrente beanspruchen kann, wären unzulässig2. Eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung 1 Bredemeier/Neffke/Cerff/Weizenegger, § 33 TVöD/TV-L Rz. 4. 2 BAG v. 12.11.2013 – 9 AZR 484/12, ZTR 2014, 279: Hier hat das BAG eine Tarifnorm nach § 7 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 AGG für unwirksam erklärt, die vorsah, dass ein Schwerbehinderter, der Altersteilzeit im Blockmodell leistet, nach einer im Vergleich zur Arbeitsphase wesentlich kürzeren Freistellungsphase aus dem Arbeitsverhältnis ausscheiden sollte.
304 Hexel/Bork
Altersgrenzen
Rz. 14a Teil 5 (1)
sieht das BAG hier insbesondere in der Einkommenseinbuße, die dem Schwerbehinderten gegenüber dem nicht schwerbehinderten Arbeitnehmer – der erst mit Erreichen des gesetzlichen Regelrentenalters ausscheidet – „aufgezwungen“ wird. Möchte der Schwerbehinderte sein Arbeitsverhältnis rechtzeitig beenden, um sodann die vorzeitige Rente in Anspruch zu nehmen, muss er eine fristgerechte Eigenkündigung erklären. Den Vertragsparteien bleibt es im Übrigen unbenommen, zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses einen Aufhebungsvertrag zu schließen (vgl. § 33 Abs. 1b TVöD). Die Vorschrift des § 33 Abs. 1b TVöD findet letztlich immer dann Anwendung, wenn der Arbeitnehmer – egal aus welchen Gründen – bereits vor Erreichen des gesetzlichen Renteneintrittsalters ohne Ausspruch einer Kündigung aus dem Arbeitsverhältnis ausscheiden möchte. Vorstellbar ist auch die Situation, dass ein Arbeitnehmer über die für ihn geltende 14 Regelaltersgrenze hinaus für seinen Arbeitgeber tätig bleiben möchte. Dieser Fall einer Weiterbeschäftigung über die jeweilige Altersgrenze hinaus ist ausdrücklich in § 33 Abs. 5 Satz 1 TVöD geregelt. Danach ist mit dem Arbeitnehmer, der weiterbeschäftigt werden soll, ein neuer schriftlicher Arbeitsvertrag zu schließen. Uneinheitlich wird die Frage beantwortet, ob sich der neue Arbeitsvertrag an die Vorgaben des TVöD halten muss1. Sofern ein befristeter Arbeitsvertrag geschlossen werden soll, dürfte feststehen, dass aufgrund der Vorbeschäftigung des Arbeitnehmers nur eine Sachgrundbefristung in Betracht kommen kann. In diesem Zusammenhang kommt der Sachgrundbefristung gemäß § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 TzBfG eine besondere Bedeutung zu2. Unter den Voraussetzungen des mit Wirkung zum 1. Juli 2014 neu eingeführten § 41 14a Satz 3 SGB VI haben die Vertragsparteien nunmehr die Möglichkeit, das Ende des Arbeitsverhältnisses – über die tarifvertraglich vereinbarte Beendigung des Arbeitsverhältnisses bei Erreichen der Regelaltersgrenze – hinauszuschieben, ohne dass dafür ein sachlicher Grund i.S.d. § 14 Abs. 1 TzBfG notwendig ist. Dies setzt eine vertragliche Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer über das Hinausschieben des Beschäftigungsendes voraus, die noch vor Erreichen der (zuvor wirksam vereinbarten) Regelaltersgrenze zu schließen ist3 und keine darüber hinaus gehenden Änderungen der Arbeitsvertragsmodalitäten enthalten darf. Zugleich ist das Schriftformgebot des § 14 Abs. 4 TzBfG zu wahren4. Die Neuregelung wird von Teilen der Literatur für nicht unionsrechtskonform gehalten, da sie – wenn nur die oben genannten Voraussetzungen vorliegen – letztlich eine weder nach Zahl noch nach Dauer begrenzte Verlängerungsmöglichkeit bietet5.
1 Für eine Bindung an den TVöD z.B. Kunert, § 33 TVöD Rz. 33; a.A. Bremecker/Hock/Klapproth/Kley, § 33 TVöD, S. 175. 2 Zu den Voraussetzungen einer Sachgrundbefristung gemäß § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB VI, vgl. BAG v. 11.2.2015 – 7 AZR 17/13, NZA 2015, 1066. 3 ErfK/Rolfs, § 41 SGB VI Rz. 23: Die Individualabrede muss spätestens am letzten Tag des Arbeitsverhältnisses abgeschlossen werden. 4 KassKomm/Gürtner, § 41 SGB VI Rz. 21; a.A. ErfK/Rolfs, § 41 SGB VI Rz. 23. 5 Bader, NZA 2014, 749, 752; Bauer, NZA 2014, 889, 890; ErfK/Rolfs, § 41 SGB VI Rz. 22; a.A. Klösel/Reitz, NZA 2014, 1366, die nach Erreichen des gesetzlichen Renteneintrittsalters von einem gelockerten Bestandsschutz ausgehen und Befristungen nach § 41 Satz 3 SGB VI lediglich einer Willkürprüfung unterziehen möchten.
Hexel/Bork
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Teil 5 (1) Rz. 15
Katalog typischer Tarifnormen
a) Sachliche Rechtfertigung der auf das gesetzliche Regelrentenalter bezogenen tariflichen Altersgrenze – Standpunkt des BAG 15
Das BAG hat sich bereits 1977 mit der Rechtfertigung der tarifvertraglichen Regelaltersgrenze im Bundes-Angestelltentarifvertrag (BAT) auseinandergesetzt und diese im Ergebnis für wirksam erklärt1.
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Nach Ansicht des BAG ist die darin vorgesehene Befristung des Arbeitsverhältnisses auf das 65. Lebensjahr aus sachlichen, insbesondere sozialen Gründen gerechtfertigt. Durch die Regelung werde verhindert, dass im Einzelfall, etwa im Rahmen eines Kündigungsschutzprozesses, der Nachweis durch ärztliche Gutachten geführt werden muss, dass ein Arbeitnehmer aus altersbedingten Gründen nicht mehr in der Lage ist, seinen vertraglichen Verpflichtungen nachzukommen. Die Altersgrenze im TV erspare dem Arbeitnehmer somit ein unter Umständen demütigendes Verfahren zum Ende seines Berufslebens. Die Festlegung einer allgemeinen Altersgrenze auf das Rentenalter liege damit im wohlverstandenen Interesse des Arbeitnehmers2.
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An dieser Rechtsprechung hält das BAG im Kern bis heute fest. Die Argumente, die für die sachliche Rechtfertigung einer auf das Rentenalter bezogenen Altersgrenze angeführt werden, haben sich jedoch über die Jahre hinweg zum Teil geändert. Urteilt das BAG heute über die Zulässigkeit tariflicher Altersgrenzen, nimmt es regelmäßig eine Interessenabwägung vor3:
18
Aus Sicht des Arbeitnehmers sei zu berücksichtigen, dass dieser mit seinem Wunsch auf dauerhafte Fortsetzung seines Arbeitsverhältnisses über das 65. Lebensjahr hinaus legitime wirtschaftliche und ideelle Anliegen verfolge. Das Arbeitsverhältnis sichere ihm zum einen seine wirtschaftliche Existenzgrundlage und biete ihm zum anderen die Möglichkeit zur beruflichen Selbstverwirklichung. Allerdings handele es sich hierbei um das Fortsetzungsverlangen eines mit Erreichen der Regelaltersgrenze wirtschaftlich abgesicherten Arbeitnehmers, der bereits ein langes Berufsleben hinter sich habe und dessen Interesse an der Fortführung seiner beruflichen Tätigkeit aller Voraussicht nach nur noch für kurze Zeit bestehe. Weiterhin sei zu berücksichtigen, dass der Arbeitnehmer von der Anwendung der Altersgrenzenregelung auch profitiert habe, weil dadurch seine eigenen Einstellungs- und Aufstiegschancen seinerzeit verbessert worden seien.
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Schließlich müsse aber auch dem Bedürfnis des Arbeitgebers an einer sachgerechten und berechenbaren Personal- und Nachwuchsplanung Rechnung getragen werden. Es müsse dem Arbeitgeber möglich sein, rechtzeitig geeigneten Nachwuchs einzustellen und auch bereits beschäftigte Arbeitnehmer zu fördern.
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Den zuletzt genannten Gründen ist nach Auffassung des Gerichts gegenüber dem Bestandsschutzinteresse des Arbeitnehmers im Regelfall der Vorrang einzuräumen; dies
1 BAG v. 21.4.1977 – 2 AZR 125/76, DB 1977, 1801. 2 So auch BAG v. 20.11.1987 – 2 AZR 284/86, NZA 1988, 617; in diesem Fall ging es jedoch um die Zulässigkeit einer Betriebsvereinbarung über Altersgrenzen. 3 BAG v. 18.6.2008 – 7 AZR 116/07, NZA 2008, 1302.
306 Hexel/Bork
Altersgrenzen
Rz. 23
Teil 5 (1)
gelte jedenfalls, soweit der Arbeitnehmer durch den Bezug einer gesetzlichen Altersrente wirtschaftlich abgesichert ist1. Vergegenwärtigt man sich die dargestellten Rechtsprechungsgrundsätze, fällt zu- 21 nächst auf, dass das BAG für die Rechtfertigung tarifvertraglicher Altersgrenzen uneingeschränkt auf die gleichen Begründungsansätze zurückgreift, die es für die Wirksamkeit einzelvertraglich vereinbarter Regelaltersgrenzen aufgestellt hat2. Das Erfordernis der wirtschaftlichen Absicherung ist eine Folge der sich aus Art. 12 Abs. 1 GG ergebenden Schutzpflicht, die den Staat im Bereich der Beendigung von Arbeitsverhältnissen trifft3. Endet das Arbeitsverhältnis durch die gesetzliche Altersgrenze, verliert der Arbeitnehmer den Anspruch auf die Arbeitsvergütung, die ihm bisher zum Bestreiten seines Lebensunterhalts zur Verfügung gestanden hat. Nach Ansicht des BAG ist dieses Ergebnis verfassungsrechtlich nur gerechtfertigt, wenn der dauerhafte Bezug von Leistungen aus einer Altersversorgung an die Stelle der Arbeitsvergütung tritt4. Ohne Bedeutung für die Wirksamkeit einer auf die Regelarbeitsgrenze abstellenden 22 Befristung soll hingegen die Höhe der Ansprüche sein, die sich für den Einzelnen jeweils konkret aus den Vorschriften über die gesetzliche Rentenversicherung ergeben. Es wäre nach Auffassung des BAG systemwidrig, einen solchen individualisierten Prüfungsmaßstab anzulegen. Schließlich komme es im Befristungsrecht allein darauf an, ob der Arbeitgeber beim Vertragsschluss einen von der Rechtsordnung anzuerkennenden Grund für einen nicht auf Dauer angelegten Arbeitsvertrag hatte oder nicht5. Mit diesem Grundgedanken sei es unvereinbar, die Wirksamkeit der bei Vertragsschluss vereinbarten Befristung später nach den tatsächlichen finanziellen Verhältnissen des Arbeitnehmers zum Zeitpunkt des Erreichens der Altersgrenze zu beurteilen. b) Vereinbarkeit von tarifvertraglichen Altersgrenzen mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht In jüngerer Zeit stellt sich zunehmend die Frage nach der Vereinbarkeit tarifvertragli- 23 cher Regelrentenaltersgrenzen mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht6. Der EuGH hatte darüber erstmals im Jahr 2007 zu entscheiden7. In dieser Entscheidung ging es um die Regelung in einem spanischen TV, der mit Vollendung des 65. Lebensjahres eine Zwangsversetzung in den Ruhestand vorsah. Der EuGH stellte zunächst klar, dass derartige Ruhestandsaltersgrenzen im Ausgangspunkt eine unmittelbare Diskriminierung wegen des Alters darstellen, deren Rechtfertigung am Maßstab der
1 BAG v. 18.6.2008 – 7 AZR 116/07, NZA 2008, 1302; BAG v. 5.3.2013 – 1 AZR 417/12, NZA 2013, 916 (hier wiederum in Bezug auf eine Betriebsvereinbarung). 2 Vgl. z.B. BAG v. 6.8.2003 – 7 AZR 9/03, NZA 2004, 96; BAG v. 19.11.2003 – 7 AZR 296/03, DB 2004, 1045; BAG v. 27.7.2005 – 7 AZR 443/04, NZA 2006, 37. 3 BVerfG v. 27.1.1998 – 1 BvL 15/87, NZA 1998, 470; BAG v. 18.6.2008 – 7 AZR 116/07, NZA 2008, 1302; Schaub/Koch, ArbR-Hdb., § 40 Rz. 49. 4 BAG v. 18.6.2008 – 7 AZR 116/07, NZA 2008, 1302. 5 BAG v. 27.7.2005 – 7 AZR 443/04, NZA 2006, 37; BAG v. 18.6.2008 – 7 AZR 116/07, NZA 2008, 1302. 6 Vgl. Bauer/v. Medem, NZA 2012, 945; Klösel/Reitz, NZA 2014, 1366. 7 EuGH v. 16.10.2007 – Rs. C-411/05, NZA 2007, 1219 – Palacios.
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Teil 5 (1) Rz. 24
Katalog typischer Tarifnormen
RL 2000/78/EG zu prüfen ist. Nach Ansicht des EuGH sind Klauseln in TVen, die eine Zwangsversetzung in den Ruhestand vorsehen und in denen als Voraussetzung lediglich verlangt wird, dass der Arbeitnehmer die im nationalen Recht auf 65 Jahre festgesetzte Altersgrenze erreicht hat und dass die übrigen sozialversicherungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Bezug einer beitragsbezogenen Altersrente erfüllt sind, mit der Richtlinie 2000/78/EG vereinbar, sofern 24
– diese Maßnahme, auch wenn sie auf das Alter abstellt, objektiv angemessen ist und im Rahmen des nationalen Rechts durch ein legitimes Ziel, das in Beziehung zur Beschäftigungspolitik und zum Arbeitsmarkt steht, gerechtfertigt ist und
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– die Mittel, die zur Erreichung dieses im Allgemeininteresse liegenden Ziels eingesetzt werden, nicht als dafür unangemessen und nicht erforderlich erscheinen.
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Die EuGH-Richter stellten jedoch klar, dass die jeweilige nationale Regelung nicht zwingend selbst einen ausdrücklichen Hinweis auf die arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Ziele enthalten muss, sondern dass sich die Ziele aus dem Gesamtkontext ergeben können1. Weiterhin geht aus der Entscheidung hervor, dass beispielsweise eine Altersgrenze mit dem Ziel der Förderung von Vollbeschäftigung durch Begünstigung des Zugangs zum Arbeitsmarkt als angemessen und erforderlich angesehen werden kann.
27
In der sog. Rosenbladt-Entscheidung musste der EuGH im Jahr 2010 schließlich erstmals über die Zulässigkeit einer Ruhestandsaltersgrenze in einem deutschen TV2 – die der Regelung des § 33 TVöD sehr ähnlich ist – entscheiden und hat seine bisherige Rechtsprechung aus der Palacios-Entscheidung konsequent fortgesetzt3. Der EuGH stellte zunächst die Frage nach der Vereinbarkeit von § 10 Satz 3 Nr. 5 AGG mit der Richtlinie 2000/78/EG. Gemäß § 10 Satz 3 Nr. 5 AGG ist eine Vereinbarung, die die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses ohne Kündigung zu einem Zeitpunkt vorsieht, zu dem der oder die Beschäftige eine Rente wegen Alters beantragen kann, als unterschiedliche Behandlung wegen des Alters zulässig. Nach Ansicht des EuGH ist § 10 Satz 3 Nr. 5 AGG mit der Richtlinie 2000/78/EG vereinbar, da die Vorschrift keine zwingende Regelung, sondern lediglich eine Ermächtigung zum Abschluss einzelvertraglicher oder tarifvertraglicher Regelungen enthält. Für die Angemessenheit der Regelung spreche auch, dass von § 10 Satz 3 Nr. 5 AGG allein der Fall eines automatischen Ausscheidens zum Zeitpunkt, zu dem die Regelaltersrente beansprucht werden kann, erfasst wird. Der Fall eines automatischen Ausscheidens bereits zu dem Zeitpunkt, in dem erstmals eine Altersrente beantragt werden kann, unterfällt der Regelung demgegenüber nicht4.
28
Darüber hinaus hat der EuGH die von der Bundesregierung hervorgehobenen Ziele, die § 10 Satz 3 Nr. 5 AGG zugrunde liegen, als objektiv angemessen und im Sinne der Richtlinie rechtfertigend angesehen: 1 EuGH v. 16.10.2007 – Rs. C-411/05, NZA 2007, 1219 – Palacios: Es reicht, wenn die Ziele auf andere Weise bestimmbar sind. 2 Konkret ging es um § 19 Nr. 8 des Rahmentarifvertrages für die gewerbliche Beschäftigung in der Gebäudereinigung. 3 EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09, DB 2010, 2339 – Rosenbladt. 4 EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09, DB 2010, 2339 – Rosenbladt; derartige Individualvereinbarungen unterfallen allein dem Anwendungsbereich des § 41 SGB VI.
308 Hexel/Bork
Altersgrenzen
Rz. 30
Teil 5 (1)
„Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses … komme unmittelbar den jüngeren Arbeitnehmern zugute, indem sie ihre vor dem Hintergrund anhaltender Arbeitslosigkeit schwierige berufliche Integration begünstige. Die Rechte älterer Arbeitnehmer genössen zudem angemessenen Schutz. Die meisten von ihnen wollten nämlich nach Erreichen des Rentenalters nicht länger arbeiten, da ihnen nach dem Verlust ihres Arbeitsentgelts die Rente einen Einkommensersatz biete. Für die automatische Beendigung des Arbeitsverhältnisses spreche zudem, dass Arbeitgeber ihren Beschäftigten nicht unter Führung des Nachweises kündigen müssten, dass diese nicht länger arbeitsfähig seien, was für Menschen fortgeschrittenen Alters demütigend sein könne1.“ Der EuGH hielt darüber hinaus auch die tarifvertragliche Altersgrenze selbst für an- 29 gemessen. Mit ihr gehe in zulässiger Weise eine nicht unerhebliche Flexibilität einher, zwischen den unterschiedlichen Interessen einen Ausgleich zu finden. Während sie dem Arbeitnehmer eine gewisse Stabilität der Beschäftigung und langfristig einen vorhersehbaren Eintritt in den Ruhestand gewährt, bietet die Regelung dem Arbeitgeber ein Mehr an Flexibilität in der Personalplanung. Hinsichtlich der Erforderlichkeit verweist der EuGH auf den Regelungskontext, in den 30 sich die Altersgrenzenregelung einfügt. Entscheidend sei, dass die Regelung nicht die Fortführung der Berufstätigkeit untersage. Vielmehr müsse Arbeitnehmern, die der Altersgrenze unterfallen, auch weiterhin ein Anspruch auf Schutz vor Altersdiskriminierung nach Maßgabe des AGG zukommen. So könnte einem Arbeitnehmer, der die für ihn maßgebliche Regelaltersgrenze erreicht, eine anderweitige Beschäftigung beim bisherigen Arbeitgeber oder bei einem Dritten nicht auf Grund seines Alters verweigert werden. Gerade weil tarifvertragliche Regelrentenaltersgrenzen einen dahingehenden Zwang zum Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis nicht enthalten, gehen sie nach Ansicht des EuGH auch nicht über das Maß des Erforderlichen hinaus. Diese Rechtsprechungsgrundsätze hat der EuGH zuletzt in der sogenannten Hörnfeldt-Entscheidung – hier ging es um die schwedische Regelung zur Rente mit 67 – bestätigt2. Neu an dieser Entscheidung ist allein, dass das Gericht darin erstmals ausdrücklich klargestellt hat, dass die Wirksamkeit der Altersgrenze nicht von der zu erwartenden Höhe der Altersrente des jeweils Betroffenen abhänge3. Demnach würden auch Arbeitnehmer mit einer unauskömmlichen Altersrente wegen unsteter Erwerbsbiographie bei Erreichen der Altersgrenze automatisch ausscheiden. Das unbedingte Recht des Arbeitnehmers, bis zum 67. Lebensjahr arbeiten zu dürfen, rechtfertige nach Ansicht des Gerichts das Ausscheiden auch dieser Arbeitnehmer mit Erreichen der Altersgrenze. Entscheidend sei allein, dass dem Arbeitnehmer überhaupt ein finanzieller Ausgleich in Gestalt einer Altersrente zugute komme. Darüber hinaus begründet der EuGH seinen Standpunkt mit dem bereits aus der Rosenbladt-Entscheidung bekannten Argument, dass die Altersgrenzenregelung nicht zu einem endgültigen Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt und damit nicht zu einer Zwangsversetzung in den Ruhestand führe.
1 EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09, DB 2010, 2339 – Rosenbladt; EuGH v. 5.7.2012 – Rs. C-141/11, NZA 2012, 785 – Hörnfeldt. 2 EuGH v. 5.7.2012 – Rs. C-141/11, NZA 2012, 785 – Hörnfeldt. 3 So auch Bauer/v. Medem, NZA 2012, 945 (947).
Hexel/Bork
309
Teil 5 (1) Rz. 31
Katalog typischer Tarifnormen
31
Die Rosenbladt- und die Hörnfeldt-Entscheidung des EuGH schließen sich damit in weiten Teilen der vom BAG in der Vergangenheit vorgenommenen Bewertung tarifvertraglicher Regelrentenaltersgrenzen an. Für die bislang in Deutschland verbreiteten Altersgrenzenklauseln bringen die Entscheidungen die Gewissheit, dass die bestehenden Regelungen trotz des Verbots der Altersdiskriminierung weiter angewendet werden können. Zwar sind die mit jeder tariflichen Altersgrenzenregelung verfolgten Ziele in Verbindung mit dem automatischen Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis auf ihre Legitimität, Angemessenheit und Erforderlichkeit zu prüfen. Die Ausführungen haben jedoch gezeigt, dass die Anforderungen, die an eine dahingehende Prüfung gestellt werden, gering ausfallen.
32
Der EuGH-Rechtsprechung folgend hat das BAG schließlich mit einer Entscheidung aus dem Jahr 2010 auch die Regelaltersgrenze des TVöD für sachlich gerechtfertigt befunden1. Nach Ansicht des Gerichts stellt die Regelung keine unzulässige Altersdiskriminierung dar. Sowohl § 10 Satz 3 Nr. 5 AGG als auch die tarifvertragliche Regelung seien unionsrechtlich nicht zu beanstanden. Auch wenn sich die Entscheidung noch auf § 33 Abs. 1a TVöD-V a.F. bezog, dürfte Entsprechendes für die Neufassung des § 33 Abs. 1a TVöD gelten. Dies gilt umso mehr, als die Klausel durch ihre Neuformulierung an Transparenz hinzu gewonnen hat. Wie dargestellt, endet das ihr unterfallende Arbeitsverhältnis nunmehr dynamisch mit Ablauf des Monats, in dem die/der jeweilige Beschäftigte das gesetzlich festgelegte Alter zum Erreichen der Regelaltersrente vollendet hat.
33
Abzuwarten bleibt, wie es sich in Zukunft in den Fällen verhält, in denen sich von der Regelrentenaltersgrenze betroffene Arbeitnehmer nach ihrem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis auf eine Stelle beim alten Arbeitgeber oder bei einem Dritten bewerben. Wie dargelegt, hat der EuGH tarifliche Regelaltersgrenzen nur insoweit für gerechtfertigt gehalten, als durch sie dem betroffenen Arbeitnehmer nicht die Fortführung der Berufstätigkeit insgesamt untersagt wird2. Der Wunsch, in anderer Position erneut eingestellt zu werden, könnte somit nicht mit Verweis auf das Erreichen der tariflichen Altersgrenze oder auf sonstige Argumente, die mit dem Alter zusammenhängen (Aufstiegschancen für jüngere Arbeitnehmer; das Erreichen einer ausgeglichenen Altersstruktur), abgelehnt werden. Darin wäre eine unmittelbare Diskriminierung wegen des Alters zu sehen. Eine Ablehnung könnte nur aus anderen Gründen erfolgen. Offen bleibt, wie sich dies in der Praxis effektiv durchsetzen lässt. Hierzu werden die Gerichte noch Wege aufzeigen müssen. 2. § 19 Abs. 1 Satz 1 des Manteltarifvertrages Nr. 5a für das Cockpitpersonal bei Lufthansa (Rz. 10)
34
Die Regelung des § 19 Abs. 1 Satz 1 des MantelTVes Nr. 5a für das Cockpitpersonal bei Lufthansa stellt ein Beispiel für eine tarifliche Altersgrenze dar, die unterhalb der gesetzlichen Regelrentenaltersgrenze liegt. Hiernach endet für Piloten das Arbeitsver-
1 BAG v. 8.12.2010 – 7 AZR 438/09, NZA 2011, 586; so auch LAG Köln v. 27.6.2012 – 9 Sa 20/12, NZA-RR 2013, 50; LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 14.11.2013 – 2 Sa 125/13, öAT 2014, 39; s. auch BAG zur Altersgrenze des § 32 Abs. 1 Buchst. a BAT-KF a.F., BAG v. 12.6.2013 – 7 AZR 917/11, NZA 2013, 1428. 2 EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09, DB 2010, 2339 – Rosenbladt.
310 Hexel/Bork
Altersgrenzen
Rz. 37
Teil 5 (1)
hältnis automatisch und ohne dass es einer Kündigung bedarf bereits mit Vollendung des 60. Lebensjahres. Vergleichbare Klauseln lassen sich auch in den TVen vieler anderer Fluggesellschaften finden. Da das gesetzliche Renteneintrittsalter in diesen Fällen zum Zeitpunkt der Beendi- 35 gung des Arbeitsverhältnisses noch nicht erreicht ist und es damit an dem für die Rechtsprechung maßgeblichen Kriterium der wirtschaftlichen Absicherung fehlt, ist ein strengerer Prüfungsmaßstab anzulegen. Dennoch haben sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch die Arbeitsgerichte in der Vergangenheit immer wieder anerkannt, dass auch unterhalb des gesetzlichen Rentenalters liegende tarifliche Altersgrenzen durch einen sachlichen Grund nach § 14 Abs. 1 Satz 1 TzBfG gerechtfertigt sein können1. Die Einschätzungsprärogative der TV-Parteien soll erst dann überschritten sein, wenn es für die tarifvertragliche Altersgrenze keine nachvollziehbaren Gründe gibt. Bislang wurde in der Flugsicherheit regelmäßig ein nachvollziehbarer Grund gesehen. Das BAG verwies hierzu auf die überdurchschnittlichen physischen und psychischen Belastungen, denen Piloten ausgesetzt sind. Altersbedingter Verschleiß und Abbau könnten nur sehr begrenzt durch Routine und Erfahrung ausgeglichen werden. Zwar sei zu berücksichtigen, dass eine verminderte Leistungsfähigkeit nicht allein vom Lebensalter abhänge und sich insbesondere von Person zu Person ganz unterschiedlich einstelle. Mit erhöhtem Lebensalter würden altersbedingte Folgen jedoch deutlich wahrscheinlicher. Hinzu komme, dass das Versagen eines Piloten immer gleich das Leben zahlreicher Menschen in Gefahr bringt. Dies und das gesteigerte Risiko altersbedingter Ausfallerscheinungen rechtfertigten es, von der Zulässigkeit vorzeitiger starrer Altersgrenzen für Piloten auszugehen2. Im Gegensatz hierzu hielt das BAG eine tarifvertragliche Regelung, die Arbeitsverhältnisse des Kabinenpersonals einer Fluggesellschaft mit Vollendung des 55. Lebensjahres automatisch für beendet erklärte, für unwirksam3. Entscheidend für die unterschiedliche Bewertung sei, dass die Flugsicherheit bei Kabinenpersonal durch altersbedingte Ausfallerscheinungen nicht in dem gleichen Maße beeinträchtigt würde wie bei Piloten. Durch die für das Kabinenpersonal regelmäßig zu durchlaufenden ärztlichen Untersuchungen auf Flugtauglichkeit werde die Flugsicherheit hinreichend gewahrt.
36
Zuletzt hatte sich das BAG – nunmehr nach Inkrafttreten des AGG – mit der tarifver- 37 traglichen Altersgrenzenregelung des § 19 Abs. 1 Satz 1 des MantelTVes Nr. 5a für Lufthansa-Piloten zu befassen4. Die Arbeitsrichter stellten zunächst die Anwendbarkeit der Vorschriften des AGG auf den Rechtsstreit fest. Hervorzuheben ist, dass dieser Annahme nach Ansicht des Gerichts auch nicht entgegensteht, dass § 19 Abs. 1 Satz 1 des MantelTVes Nr. 5a der Lufthansa bereits vor Inkrafttreten des AGG vereinbart wurde. Entscheidend sei allein, dass die Altersgrenze im Einzelfall erst nach Inkrafttreten des AGG erreicht werde. Weiterhin wies das BAG in Anlehnung an die 1 Vgl. z.B. BVerfG v. 25.11.2004 – 1 BvR 2459/04, BB 2005, 1231; BAG v. 25.2.1998 – 7 AZR 641/96, NZA 1998, 715; BAG v. 27.11.2002 – 7 AZR 414/01, NZA 2003, 812; BAG v. 21.7.2004 – 7 AZR 589/03, ZTR 2005, 255; LAG Hessen v. 15.10.2007 – 17 Sa 809/07 aufgehoben durch BAG v. 18.1.2012 – 7 AZR 112/08, DB 2012, 981, vgl. auch Rz. 37 ff. 2 Vgl. BAG v. 12.2.1992 – 7 AZR 100/91, NZA 1993, 998. 3 BAG v. 31.7.2002 – 7 AZR 140/01, NZA 2002, 1155; vgl. auch BAG v. 19.10.2011 – 7 AZR 253/07, BB 2011, 2739. 4 BAG v. 18.1.2012 – 7 AZR 112/08, DB 2012, 981.
Hexel/Bork
311
Teil 5 (1) Rz. 38
Katalog typischer Tarifnormen
Rechtsprechung des EuGH darauf hin, dass das AGG als nationale Umsetzung der Richtlinie 2000/78/EG grundsätzlich unionsrechtskonform im Lichte der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie auszulegen ist. In diesem Zusammenhang hat das BAG den EuGH um Vorabentscheidung über die Frage ersucht, ob das Gemeinschaftsrecht Regelungen des nationalen Rechts entgegensteht, die eine auf Gründen der Gewährleistung der Flugsicherheit beruhende tarifliche Altersgrenzenregelung von 60 Jahren für Piloten anerkennen. Es hat in dem Vorlagebeschluss die Tarifautonomie der Vertragsparteien besonders hervorgehoben. 38
Der EuGH hat den Aspekt der Tarifautonomie nicht gelten lassen. Er hat vielmehr entschieden, dass eine tarifvertragliche Altersgrenze, nach der Piloten ihrer beruflichen Tätigkeit mit Vollendung des 60. Lebensjahres nicht mehr nachgehen dürfen, eine unmittelbare Ungleichbehandlung wegen des Alters darstelle und damit gegen das allgemeine gemeinschaftsrechtliche Verbot der Diskriminierung wegen des Alters verstoße1. Der Gerichtshof begründete seinen Standpunkt insbesondere mit den existierenden nationalen und internationalen Lizenzvorschriften, die eine Pilotentätigkeit im doppelt besetzten (Co-)Pilotencockpit bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres erlauben, soweit der Besatzung ein (Co-)Pilot angehört, der das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Eine hiervon abweichende tarifvertragliche Regelung sei für den Schutz der öffentlichen Sicherheit und der Gesundheit nicht notwendig.
39
Angesichts dieser Ausführungen sah sich das BAG ungeachtet seiner jahrzehntelangen Rechtsprechung zu einem Richtungswandel gezwungen und hat – dem EuGH folgend – § 19 Abs. 1 Satz 1 des MantelTVes Nr. 5a der Lufthansa für unwirksam erklärt2. Aufgrund der nationalen und internationalen Vorschriften fehle es an der Notwendigkeit tarifvertraglicher Regelungen, die die Ausübung des Pilotenberufs bereits mit Vollendung des 60. Lebensjahres untersagen. Weiterhin könne eine Rechtfertigung der Diskriminierung auch nicht über § 8 Abs. 1 AGG erfolgen. Zwar sei anzuerkennen, dass für Piloten besondere körperliche Fähigkeiten als wesentliche und entscheidende Anforderungen i.S.d. § 8 Abs. 1 AGG gelten. Es fehle aber letztlich an belastbaren Hinweisen dafür, dass die zurzeit existierenden öffentlich-rechtlichen Beschränkungen für die Sicherheit des Luftverkehrs nicht ausreichend seien, weswegen es an der Notwendigkeit strengerer tarifvertraglicher Beschränkungen fehle.
40
Nicht zuletzt kommt nach Auffassung des BAG auch eine Rechtfertigung nach § 10 Satz 1 und 2 AGG nicht in Betracht. Die Vorschrift setze Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG um und müsse richtlinienkonform so ausgelegt werden, dass die Flugsicherheit kein „legitimes“ Ziel i.S.d. § 10 Satz 1 AGG sei. Als legitime Ziele kämen stattdessen nur Ziele sozialpolitischer Art, wie solche aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt oder berufliche Bildung, in Betracht.
41
Nach den dargestellten Entscheidungen von EuGH und BAG dürfte für die Zukunft die Unwirksamkeit von auf das 60. Lebensjahr bezogenen tariflichen Altersgrenzen für Piloten feststehen, soweit die Altersbegrenzung allein auf Gründe der Flugsicherheit gestützt wird. Es gibt bereits zwei Folgeentscheidungen des BAG, in denen das Gericht die ebenfalls auf das 60. Lebensjahr abstellende Regelung im MantelTV Nr. 1 für das Cockpitpersonal der Condor und der Condor Berlin vom 1.1.2005 jeweils für 1 EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09, NZA 2011, 1039 – Prigge. 2 BAG v. 18.1.2012 – 7 AZR 112/08, DB 2012, 981.
312 Hexel/Bork
Altersgrenzen
Rz. 43
Teil 5 (1)
unwirksam erklärt hat1. Als neue besondere Altersgrenze für Piloten gilt damit die Vollendung des 65. Lebensjahres, sofern die sich aus den nationalen und internationalen Lizenzvorschriften ergebenden Einschränkungen berücksichtigt werden. Die TVParteien sind gehalten, die bestehenden TVe entsprechend anzupassen2. Bis dahin kann Piloten mit Vollendung des 65. Lebensjahres jedenfalls personenbedingt gekündigt werden3. Darüber hinaus wird sich die Praxis generell auf eine restriktive Beurteilung von vor- 42 zeitigen tarifvertraglichen Altersgrenzen einstellen müssen4. Eine Ungleichbehandlung aufgrund des Alters wird sich allenfalls mit sozialpolitischen Zielen aus den Bereichen des Arbeitsmarktes, der Beschäftigungspolitik und der beruflichen Bildung rechtfertigen lassen. An dieser Stelle sind noch viele Fragen ungeklärt, wie beispielsweise die Bestimmung der Reichweite der vorgenannten Ziele. Ebenfalls offen ist, wie zukünftig mit der Einschätzungsprärogative der TV-Parteien umzugehen ist. Feststehen dürfte, dass wann immer eine tarifvertragliche Regelung in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, eine strengere als die bislang durch das BAG etablierte Kontrolle nach der Maßgabe des Unionsrechts stattzufinden hat5. Eine weitere Erkenntnis könnte darin bestehen, dass sich tarifliche Regelungen zu Altersgrenzen zukünftig stärker an dem orientieren sollten, was für den Gesetzgeber oder andere fremdbestimmte Normgeber gilt6. Letzteres wird auch aus einem Beschluss des BAG aus dem Jahr 2010 deutlich, mit dem 43 erstmalig die Wirksamkeit einer tarifvertraglich vereinbarten Einstellungshöchstaltersgrenze für Piloten in Frage gestellt wurde7. Konkret ging es hier um eine Tarifnorm, die für ein Luftfahrtunternehmen das Höchstalter für die Einstellung von in anderen Luftfahrtunternehmen ausgebildeten Piloten auf 32 Jahre und 364 Tage vorsieht. Das nationale und internationale Luftsicherheitsrecht sieht neben der allgemeinen Altershöchstgrenze für Piloten keine Altersgrenzen für den Wechsel von Piloten zwischen verschiedenen Fluggesellschaften vor. Das BAG hielt die Regelung nicht zuletzt auch deswegen für unwirksam. Zudem sei sie nicht mit höherrangigem Recht vereinbar. Die Regelung greife unverhältnismäßig in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Freiheit der Berufswahl älterer Bewerber ein, weil es sich bei der zur Einstellungsvoraussetzung erklärten Altersgrenze nicht um eine vom Bewerber beeinflussbare Qualifikation handele. Darüber hinaus verstoße die Regelung gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG und gegen das Verbot der Altersdiskriminierung in § 7 Abs. 1 AGG. Piloten nähmen ihre berufliche Tätigkeit frühestens mit 21 Jahren auf und könnten diese bei normalem Verlauf mindestens bis zum 60., wenn nicht sogar bis zum 65. Lebensjahr ausüben. Die Unverhältnismäßigkeit ergibt sich nach Ansicht des Ge-
1 BAG v. 18.1.2012 – 7 AZR 211/09, EzA-SD 2012, Nr. 9, 15; BAG v. 15.2.2012 – 7 AZR 946/07, BB 2012, 1280. 2 Zu der Frage, wie die TV-Parteien auf die sich in den nächsten Jahren auftuende Schere zwischen der besonderen Altersgrenze für Piloten und der Regelaltersgrenze reagieren, vgl. Temming, EuZA 2012, 205 (216). 3 BAG v. 31.1.1996 – 2 AZR 68/95, DB 1996, 1629. 4 Däubler/Hensche/Heuschmid, § 1 TVG Rz. 718 f. 5 Der EuGH verlangt eine Rechtskontrolle der Tarifnorm am höherrangigen Recht, EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09, NZA 2011, 1039 – Prigge. 6 Temming, EuZA 2012, 205 (214). 7 BAG v. 8.12.2010 – 7 ABR 98/09, NZA 2011, 751.
Hexel/Bork
313
Teil 5 (1) Rz. 44
Katalog typischer Tarifnormen
richts daraus, dass dem Piloten damit bereits nach etwa einem Viertel seiner insgesamt möglichen Berufstätigkeit ein Wechsel zu einem anderen Arbeitgeber unmöglich gemacht würde. 44
Es bleibt abzuwarten, ob diese Rechtsprechung auch auf die Einstellungshöchstaltersgrenzen anderer Fluggesellschaften1 oder anderer Berufsgruppen übertragen wird. Der EuGH hat beispielsweise noch im Jahr 2010 eine Regelung der hessischen Feuerwehrlaufbahnverordnung, nach der die Einstellung in den mittleren feuerwehrtechnischen Dienst nur bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres zulässig ist, für zulässig erachtet2. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass dieses Urteil zeitlich vor den oben dargestellten richtungweisenden Entscheidungen (Rosenbladt und Prigge) erging.
(2) Annahmeverzug/Betriebsrisiko Literatur: Luke, § 615 S. 3 BGB – Neuregelung des Betriebsrisikos?, NZA 2004, 244.
I. Zweck und Kontext 1 Bei der Pflicht die Arbeitsleistung zu erbringen handelt es sich um eine absolute Fixschuld. Diese kann grundsätzlich nicht nachgeholt werden. Dementsprechend wird grundsätzlich mit Zeitablauf die Erbringung der Arbeitsleistung unmöglich3. Rechtsfolge ist nach § 326 Abs. 1 Satz 1 BGB i.V.m. § 275 Abs. 1 BGB, dass der Entgeltanspruch des Arbeitnehmers entfällt, wenn der Anspruch nicht aufgrund anderer Vorschriften oder Vereinbarungen aufrecht erhalten bleibt. Eine solche Abweichung sieht § 615 Satz 1 BGB vor4. Nach der Rechtsprechung des BAG besteht im Falle der Annahmeunwilligkeit des Arbeitgebers ein Anspruch auf Annahmeverzugslohn5. Hingegen soll in Fällen der Annahmeunmöglichkeit des Arbeitgebers kein Anspruch des Arbeitnehmers auf Gewährung von Annahmeverzugslohn bestehen6. Abweichend hiervon sieht § 615 Satz 3 BGB vor, dass in Fällen des Betriebsrisikos, also in Fällen, in denen Betriebsstörungen auftreten, die weder der Arbeitgeber noch der Arbeitnehmer zu vertreten haben, der Arbeitgeber das Risiko des Ausfalls alleine trägt. 2 In einer Vielzahl von TVen finden sich Regelungen zum Arbeitsausfall; insbesondere solche, die das Betriebsrisiko regeln. Damit wird branchenspezifischen Besonderheiten, so etwa auftretendem Materialmangel auf Baustellen, Rechnung getragen. Teilweise wird aber auch die Risikoverteilung, die sich nach § 615 Satz 3 BGB ergibt, abweichend vom Gesetz festgelegt. Dies betrifft insbesondere Regelungen, die eine Nachholung der nicht erbrachten Arbeitsleistung zulassen und so den Eintritt der 1 Nach Ansicht von Temming müsse sich der Umstand, dass Piloten künftig fünf Jahre länger arbeiten müssen, auf die Rechtmäßigkeit von Einstellungshöchstaltersgrenzen auswirken, Temming, EuZA 2012, 205 (216). 2 EuGH v. 12.1.2010 – Rs. C-229/08, NVwZ 2010, 244 – Wolf. 3 BAG v. 24.11.1960 – 5 AZR 545/59, NJW 1961, 381 (382). 4 ErfK/Preis § 615 BGB Rz. 1. 5 BAG v. 24.11.1960 – 5 AZR 545/59, NJW 1961, 381 (382). 6 Zur abweichenden h.L. vgl. ErfK/Preis § 615 BGB Rz. 4 ff., insb. 7.
314 Hexel/Bork/Ulber
Teil 5 (1) Rz. 44
Katalog typischer Tarifnormen
richts daraus, dass dem Piloten damit bereits nach etwa einem Viertel seiner insgesamt möglichen Berufstätigkeit ein Wechsel zu einem anderen Arbeitgeber unmöglich gemacht würde. 44
Es bleibt abzuwarten, ob diese Rechtsprechung auch auf die Einstellungshöchstaltersgrenzen anderer Fluggesellschaften1 oder anderer Berufsgruppen übertragen wird. Der EuGH hat beispielsweise noch im Jahr 2010 eine Regelung der hessischen Feuerwehrlaufbahnverordnung, nach der die Einstellung in den mittleren feuerwehrtechnischen Dienst nur bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres zulässig ist, für zulässig erachtet2. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass dieses Urteil zeitlich vor den oben dargestellten richtungweisenden Entscheidungen (Rosenbladt und Prigge) erging.
(2) Annahmeverzug/Betriebsrisiko Literatur: Luke, § 615 S. 3 BGB – Neuregelung des Betriebsrisikos?, NZA 2004, 244.
I. Zweck und Kontext 1 Bei der Pflicht die Arbeitsleistung zu erbringen handelt es sich um eine absolute Fixschuld. Diese kann grundsätzlich nicht nachgeholt werden. Dementsprechend wird grundsätzlich mit Zeitablauf die Erbringung der Arbeitsleistung unmöglich3. Rechtsfolge ist nach § 326 Abs. 1 Satz 1 BGB i.V.m. § 275 Abs. 1 BGB, dass der Entgeltanspruch des Arbeitnehmers entfällt, wenn der Anspruch nicht aufgrund anderer Vorschriften oder Vereinbarungen aufrecht erhalten bleibt. Eine solche Abweichung sieht § 615 Satz 1 BGB vor4. Nach der Rechtsprechung des BAG besteht im Falle der Annahmeunwilligkeit des Arbeitgebers ein Anspruch auf Annahmeverzugslohn5. Hingegen soll in Fällen der Annahmeunmöglichkeit des Arbeitgebers kein Anspruch des Arbeitnehmers auf Gewährung von Annahmeverzugslohn bestehen6. Abweichend hiervon sieht § 615 Satz 3 BGB vor, dass in Fällen des Betriebsrisikos, also in Fällen, in denen Betriebsstörungen auftreten, die weder der Arbeitgeber noch der Arbeitnehmer zu vertreten haben, der Arbeitgeber das Risiko des Ausfalls alleine trägt. 2 In einer Vielzahl von TVen finden sich Regelungen zum Arbeitsausfall; insbesondere solche, die das Betriebsrisiko regeln. Damit wird branchenspezifischen Besonderheiten, so etwa auftretendem Materialmangel auf Baustellen, Rechnung getragen. Teilweise wird aber auch die Risikoverteilung, die sich nach § 615 Satz 3 BGB ergibt, abweichend vom Gesetz festgelegt. Dies betrifft insbesondere Regelungen, die eine Nachholung der nicht erbrachten Arbeitsleistung zulassen und so den Eintritt der 1 Nach Ansicht von Temming müsse sich der Umstand, dass Piloten künftig fünf Jahre länger arbeiten müssen, auf die Rechtmäßigkeit von Einstellungshöchstaltersgrenzen auswirken, Temming, EuZA 2012, 205 (216). 2 EuGH v. 12.1.2010 – Rs. C-229/08, NVwZ 2010, 244 – Wolf. 3 BAG v. 24.11.1960 – 5 AZR 545/59, NJW 1961, 381 (382). 4 ErfK/Preis § 615 BGB Rz. 1. 5 BAG v. 24.11.1960 – 5 AZR 545/59, NJW 1961, 381 (382). 6 Zur abweichenden h.L. vgl. ErfK/Preis § 615 BGB Rz. 4 ff., insb. 7.
314 Hexel/Bork/Ulber
Annahmeverzug/Betriebsrisiko
Rz. 5 Teil 5 (2)
Unmöglichkeit durch Zeitablauf hindern. Unter das Betriebsrisiko fallen auch Regelungen zum Arbeitsausfall bei Schlechtwetter (vgl. R (18) Schlechtwetterklauseln, Rz. 7). Teilweise wird auch das Wegerisiko tarifvertraglich geregelt. Die tarifvertraglichen Regelungen zum Annahmeverzug haben sich im Zuge einer zu- 3 nehmenden Flexibilisierung der Regelungen zur Arbeitszeit in TVen (vgl. R (5) Arbeitszeit, Rz. 2 ff.) in ihrer Bedeutung gewandelt und tendenziell an Relevanz verloren. Anders ist dies im Falle des Betriebsrisikos. Hier wird in TVen nach wie vor häufig von der gesetzlichen Risikoverteilung des § 615 Satz 3 BGB abgewichen oder diese einer gesonderten Regelung zugeführt. Teilweise wird in TVen festgeschrieben, dass nur die tatsächlich erbrachte Arbeitsleistung zu vergüten ist, soweit der TV nicht Abweichendes vorsieht. Die Reichweite solcher Regelungen wird, ungeachtet tarifvertraglicher Einschränkungen, bereits durch das zwingende Gesetzesrecht beschränkt. Regelmäßig beinhalten solche TV einen Katalog von Einschränkungen. Ob dieser abschließend sein soll, ist eine Frage der Auslegung im Einzelfall. In der Regel finden sich aber auch in solchen TVen Regelungen zum Betriebsrisiko. Sowohl § 615 Satz 1 BGB als auch § 615 Satz 3 BGB und die Grundsätze der Betriebs- 4 risikolehre sind dispositiv1. Sie sind daher abweichenden tarifvertraglichen Regelungen grundsätzlich zugänglich. Die TV-Parteien müssen abweichende Regelungen aber hinreichend deutlich und klar abfassen. Insbesondere muss den Vorschriften eindeutig der Wille zur vom Gesetz abweichenden Risikoverteilung zu entnehmen sein2. Es gelten die allgemeinen Auslegungsgrundsätze für Tarifverträge. Sieht ein TV vor, dass „nur geleistete Arbeit“ bezahlt wird, so ist eine Auslegung erforderlich, ob dies nur Fälle des § 616 BGB, also der vorübergehenden Verhinderung an der Arbeitsleistung aus persönlichen Gründen, oder auch solche des Annahmeverzuges und insbesondere des Betriebsrisikos erfassen soll. Im Zweifelsfall ist davon auszugehen, dass nur der Vergütungsanspruch nach § 616 BGB erfasst werden soll3 (vgl. R (4) Arbeitsverhinderung, Rz. 3 ff.).
II. Beispiele § 13 MTV ERA Metall- und Elektroindustrie Sdwrttemberg-Hohenzollern – Arbeitsausfall, Arbeitsverhinderung, Untersttzung bei Todesfall, Wiedereinstellung nach Zeiten der Kindererziehung Soweit dieser Manteltarifvertrag oder ein Gesetz nichts anderes bestimmen, gelten von dem Grundsatz, dass nur geleistete Arbeit einschließlich Arbeitsbereitschaft bezahlt wird, folgende Ausnahmen: 13.1 Arbeitsausfall 13.1.1 Bei einer Betriebsstçrung, die der Arbeitgeber zu vertreten hat, wird der durchschnittliche Arbeitsverdienst weiterbezahlt. Whrend dieser Betriebsstçrung sind die Beschftigten verpflichtet, eine andere zumutbare Arbeit zu verrichten. 1 BAG v. 5.9.2002 – 8 AZR 702/01, NZA 2003, 973 (975); BAG v. 9.3.1983 – 4 AZR 301/80, DB 1983, 1496; BAG v. 4.7.1958 – 1 AZR 559/57, AP Nr. 5 zu § 615 Betriebsrisiko. 2 BAG v. 4.7.1958 – 1 AZR 559/57, AP Nr. 5 zu § 615 Betriebsrisiko. 3 BAG v. 9.3.1983 – 4 AZR 301/80, DB 1983, 1496.
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Teil 5 (2) Rz. 6
Katalog typischer Tarifnormen
13.1.2 Bei einer Betriebsstçrung, die weder der Arbeitgeber noch die Beschftigten zu vertreten haben, wird der Arbeitsverdienst, soweit kein Anspruch auf Ausgleich aus çffentlichen Mitteln besteht, bis zu 5 Stunden in der Woche weiterbezahlt. Whrend dieser Betriebsstçrung sind die Beschftigten verpflichtet, andere zumutbare Arbeit zu verrichten. Ist dies nicht mçglich, kann die ausgefallene Arbeitszeit unbeschadet der Entgeltzahlungspflicht bis zu 5 Stunden in der Woche ohne Mehrarbeitszuschlag im Rahmen der arbeitszeitrechtlichen Bestimmungen nachgearbeitet werden. Bei Ausfallzeiten ber 5 Stunden ist das Entgelt in jedem Falle bis zu dem Zeitpunkt zu bezahlen, an welchem den Beschftigten freigestellt wird, die Arbeitsstelle zu verlassen. (…) 6 § 8 MTV Chemie West (…) II. Hçhere Gewalt Außerdem erleidet der Arbeitnehmer bis zur Dauer eines Tages keinen Nachteil fr das Versumnis der Arbeitszeit, das dadurch eintritt, dass er wegen hçherer Gewalt trotz zumutbarer eigener Bemhung seinen Arbeitsplatz nicht oder nicht rechtzeitig erreicht hat; entstehen hierbei Hrten, so kann in besonderen Fllen eine weitergehende Einzelregelung getroffen werden.
III. Kommentierung 1. § 13 MTV ERA Metall- und Elektroindustrie Südwürttemberg-Hohenzollern (Rz. 5) 7 § 13 MTV ERA Metall- und Elektroindustrie Südwürttemberg-Hohenzollern (MTV ERA) geht vom Grundsatz aus, dass nur geleistete Arbeit einschließlich Arbeitsbereitschaft bezahlt wird. Die Vorschrift erfasst nicht nur Fälle der vorübergehenden Arbeitsverhinderung, sondern auch solche des Betriebsrisikos. Dies ergibt sich aus § 13.1. MTV ERA, der eine Regelung zum Arbeitsausfall trifft, die ausdrücklich den Fall der Betriebsstörung regelt. Die Vorschrift bringt hinreichend bestimmt und transparent zum Ausdruck, dass eine eigenständige Regelung des Betriebsrisikos erwünscht ist und unterscheidet zwei Fallgruppen: Den Fall der vom Arbeitgeber zu vertretenden Betriebsstörung (§ 13.1.1 MTV ERA) und den der beiderseits nicht zu vertretenden Betriebsstörung (§ 13.1.2. MTV ERA). 8 § 13.1.1 MTV ERA sieht vor, dass bei einer vom Arbeitgeber zu vertretenden Betriebsstörung der durchschnittliche Arbeitsverdienst weiter zu bezahlen ist. Es ist im Wege der Rückschau der durchschnittliche Stundenlohn zu ermitteln und ungeachtet des hypothetischen Verlaufs der ausgefallenen Arbeitsstunden zu zahlen. Die Zahlungspflicht ist zeitlich nicht beschränkt (anders im Falle der beiderseits nicht zu vertretenden Betriebsstörung, vgl. Rz. 11). Der Arbeitnehmer ist nicht zur Nachleistung der Arbeit verpflichtet. 9 Die Vorschrift greift in allen Fällen, in denen der Arbeitgeber die Betriebsstörung zu vertreten hat. Fraglich ist, ob § 13.1.1. MTV ERA alle Fälle des Betriebsrisikos erfasst. 316 Ulber
Annahmeverzug/Betriebsrisiko
Rz. 11
Teil 5 (2)
Dafür spricht die ständige Rechtsprechung des BAG zu vergleichbaren Vorschriften1. Das BAG stützt sich in dieser darauf, dass der TV an den Begriff des Vetretenmüssens und nicht an den des Verschuldens anknüpft. Dementsprechend seien auch die Fälle erfasst, in denen der Arbeitgeber den Arbeitsausfall unabhängig von einem eigenen Verschulden zu vertreten hat. Dies betreffe sämtliche Fälle des Betriebsrisikos und stehe nicht im Widerspruch dazu, dass der TV eine Regelung des beiderseits nicht zu vertretenden Arbeitsausfalls vorsehe. Diese beziehe sich auf Fälle der sogenannten objektiven Leistungshindernisse im außerbetrieblichen Bereich, so z.B. allgemeine Verkehrssperren, den Verkehrsfluss behindernde Demonstrationen, den Ausfall öffentlicher Verkehrsmittel, ferner Naturereignisse wie Hochwasser, Schneeverwehungen und Eisglätte, die den Arbeitnehmer daran hindern, seinen Arbeitsplatz zu erreichen. Es stellt sich die Frage, ob diese Rechtsprechung auf § 13.1.1. MTV ERA übertragen werden kann. Zweifel könnten sich daraus ergeben, dass § 13.1.1. MTV ERA nicht daran anknüpft, dass der „Arbeitsausfall“ zu vertreten ist, sondern sich auf die Betriebsstörung bezieht. Durchschlagender scheint der Einwand zu sein, dass die TV-Parteien in § 13.1.2. MTV ERA offenbar davon ausgehen, dass dieser auch in Fällen greift, in denen der Arbeitsplatz erreicht werden kann. Insofern kann er sich nicht alleine auf Fälle der objektiven Leistungshindernisse beziehen. Dies könnte es – wenn man nicht darauf abstellt, dass im Zweifel die TV-Parteien keine Abweichung von den Grundsätzen der Betriebsrisikolehre vereinbaren wollen2 – nahe legen, jedenfalls Fälle höherer Gewalt nicht unter § 13.1.1. MTV ERA fallen zu lassen. Dann wäre entscheidend, ob die Betriebsstörung auf Umständen basiert, die so beschaffen waren, dass der Arbeitgeber keine zumutbaren Vorkehrungen treffen konnte oder musste. Auch bei dieser Betrachtungsweise würde der Anwendungsbereich des § 13.1.1. MTV ERA aber sehr weit bleiben. Gleichwohl scheint im Lichte der Rechtsprechung des BAG3 die Sichtweise vorzugswürdig, sämtliche Fälle des Betriebsrisikos unter die Vorschrift zu fassen. Soweit während der Betriebsstörung noch andere zumutbare Tätigkeiten ausgeführt 10 werden können, sind die Arbeitnehmer verpflichtet, diese auszuführen. Unzumutbar ist eine Tätigkeit jedenfalls dann, wenn die Betriebsstörung zu Arbeitsbedingungen führt, bei denen kraft Gesetzes eine Beschäftigung unzulässig ist, insbesondere wegen Verstößen gegen arbeitsschutzrechtliche Regelungen. Im Übrigen ist die Unzumutbarkeit anhand der Umstände des Einzelfalles zu beurteilen, wobei der Arbeitgeber die allgemeinen Schranken des Direktionsrechts (§ 106 Satz 1 GewO) zu beachten hat. Da der TV auch eine Beschäftigung mit „anderen Arbeiten“ zulässt, wird auch eine Beschäftigung mit Tätigkeiten, die nach dem Arbeitsvertrag nicht geschuldet sind, nicht von vornherein unzulässig sein. Die Zuweisung der Tätigkeit muss aber ungeachtet dessen billigem Ermessen entsprechen. Weigert sich ein Arbeitnehmer, eine zumutbare andere Arbeit auszuführen, so stellt dies nicht nur eine Pflichtverletzung dar, sondern lässt auch den Anspruch auf Entgeltzahlung nach § 13.1.1. MTV ERA entfallen. Nach § 13.1.2. MTV ERA wird im Falle eines Betriebsausfalls, den weder der Arbeit- 11 geber noch die Beschäftigten zu vertreten haben (zur Abgrenzung zu § 13.1.1. MTV ERA vgl. Rz. 9), die Verpflichtung des Arbeitgebers, das Entgelt weiter zu zahlen, eingeschränkt. 1 BAG v. 9.3.1982 – 4 AZR 301/80, DB 1983, 1496; BAG v. 13.11.1974 – 4 AZR 106/74, DB 1975, 648 (649 f.); BAG v. 4.7.1958 – 1 AZR 559/57, AP Nr. 5 zu § 615 Betriebsrisiko. 2 BAG v. 4.7.1958 – 1 AZR 559/57, AP Nr. 5 zu § 615 Betriebsrisiko. 3 BAG v. 13.11.1974 – 4 AZR 106/74, DB 1975, 648 (650).
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Teil 5 (2) Rz. 12
Katalog typischer Tarifnormen
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In diesen Fällen wird zwar der Arbeitsverdienst weiterbezahlt. Dieser Anspruch ist aber beschränkt auf fünf Stunden in der Woche. Eine hierüber hinausgehende Vergütung erhalten die Arbeitnehmer nach § 13.1.2. Satz 4 MTV ERA nur dann, wenn der Arbeitgeber veranlasst, dass sie länger als fünf Stunden auf der Arbeitsstätte bleiben. In diesem Falle endet die Vergütungspflicht erst zu dem Zeitpunkt, zu dem den Arbeitnehmern gestattet wird, die Arbeitsstätte zu verlassen. Ergänzt wird diese Vorschrift durch die Möglichkeit zur Nacharbeit der ausgefallenen Arbeitsstunden.
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§ 13.1.2. Satz 2 MTV ERA sieht gleichermaßen wie § 13.1.1. Satz 2 MTV ERA eine Verpflichtung vor, andere Tätigkeiten auszuführen (vgl. Rz. 5). Abweichend von § 13.1.1. MTV ERA kann die Arbeitsleistung nach der fünften Ausfallstunde oder, sofern die Arbeitnehmer länger als fünf Stunden auf der Arbeitsstätte waren, mit dem Zeitpunkt, zu dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmern gestattet, die Arbeitsstätte zu verlassen, nachgeholt werden, sofern es nicht möglich ist andere Tätigkeiten auszuführen. Die vorher liegende Zeit muss nicht nachgearbeitet werden und ist in jedem Fall zu vergüten. Da es sich um eine „kann“-Vorschrift handelt, muss der Arbeitgeber nicht nacharbeiten lassen. Ist es möglich andere Tätigkeiten auszuführen und beschäftigt der Arbeitgeber die Arbeitnehmer gleichwohl nicht mit diesen, so besteht keine Verpflichtung der Arbeitnehmer zur Nacharbeit. Nach dem Wortlaut der Vorschrift soll die Nachholung der Arbeitsleistung nur in Fällen verlangt werden können, in denen es nicht möglich ist, alternative Tätigkeiten auszuführen und damit die Arbeitsleistung insgesamt – mangels alternativer Beschäftigungsmöglichkeiten – nicht erbracht wird.
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Arbeitsverdienst im Sinne des § 13.1.2 MTV BRA ist trotz des abweichenden Wortlauts der durchschnittliche Arbeitsverdienst im Sinne von § 13.1.1. MTV ERA. Die Vorschrift dient erkennbar nur dazu, eine abweichende Risikoverteilung in Fällen vorzunehmen, in denen beiderseits die Betriebsstörung nicht zu vertreten ist. Dazu ist eine abweichende Berechnung des Arbeitsverdienstes nicht erforderlich. Die Formulierung „bis zu“ ist nicht so zu verstehen, dass auch weniger Stunden vergütet werden könnten. Wird nachgearbeitet, so fällt für diese Stunden kein Mehrarbeitszuschlag an. 2. § 8 Abs. 2 MTV Chemie West (Rz. 6)
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§ 8 Abs. 2 MTV Chemie West sieht eine Sonderregelung für das Wegerisiko vor. Grundsätzlich trägt der Arbeitnehmer das Risiko, dass Umstände eintreten, die ihn daran hindern, an seinen Arbeitsplatz als Erfüllungsort zu gelangen1. Dies allerdings nur dann, wenn der Betrieb nicht ohnehin wegen der Verwirklichung des Betriebsrisikos stillsteht.2 In den übrigen Fallkonstellationen verliert der Arbeitnehmer aber grundsätzlich den Entgeltanspruch. § 8 Abs. 2 MTV Chemie weicht hiervon ab und verlagert für bis zu einen Tag das Wegerisiko auf den Arbeitgeber.
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§ 8 Abs. 2 MTV Chemie West greift nur ein, wenn sich das Wegerisiko aufgrund höherer Gewalt realisiert. Sind die Straßen vereist und der Arbeitnehmer kann deswegen seinen Arbeitsplatz überhaupt nicht oder nur verspätet erreichen, greift die Vorschrift ein. Der Arbeitnehmer muss aber nachweisen, dass er alle ihm zumutbaren Möglichkeiten ausgeschöpft hat, um die Arbeitsstätte zu erreichen. Er muss daher sowohl an1 MünchKomm/Henssler, § 615 BGB Rz. 34. 2 ErfK/Preis, § 615 BGB Rz. 134; a.A. MünchKomm/Henssler § 615 BGB Rz. 34.
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Rz. 1 Teil 5 (3)
Arbeitsentgelt
dere Verkehrsmittel nutzen, als auch übliche Verzögerungen wegen der Witterungsverhältnisse in Kauf nehmen. Sicherheitsrisiken für die eigene Person muss er keinesfalls in Kauf nehmen. Der Anspruch auf die Entgeltzahlung wird für maximal einen Tag aufrecht erhalten. 17 Bei länger andauernden Schwierigkeiten trägt der Arbeitnehmer das Risiko, den Arbeitsplatz nicht zu erreichen. Hiervon besteht nur dann eine Ausnahme, wenn hierdurch besondere Härten beim Arbeitnehmer entstehen. In diesem Fall kann eine Einzelfallregelung mit dem Arbeitgeber getroffen werden. Der Arbeitgeber hat hierüber nach billigem Ermessen zu entscheiden.
(3) Arbeitsentgelt I. Zweck und Kontext Die überragende Bedeutung des Arbeitsentgelts ergibt sich bereits in soziologischer 1 Hinsicht daraus, dass es die maßgebliche Lebensgrundlage aller abhängig Beschäftigten darstellt. Rechtlich trägt dieser Bedeutung § 611 BGB Rechnung, der die zentrale Bestimmung des Dienstvertragsrechts bildet. Nach § 611 BGB stellt die Entgeltzahlung die Hauptleistungspflicht des Arbeitgebers dar. Sie steht im Synallagma zur Arbeitspflicht des Arbeitnehmers. Aus dem Prinzip „Geld gegen Arbeit“ folgt zwangsläufig die Frage nach dem richtigen, dem „gerechten“ Lohn. Der Streit um den gerechten Lohn ist so alt wie die Gewerkschaften selbst. Entsprechend dieser Bedeutung machen die Regelungen zum Arbeitsentgelt das „Herzstück“ eines jeden TVs aus. Dabei handelt es sich – jedenfalls bei neueren TVen – überwiegend gar nicht mehr um Regelungen innerhalb eines TVs, sondern die Komplexität der Entgelt- und Bezahlungsstrukturen macht selbständige TVe hierfür notwendig. Tendenziell werden EntgeltrahmenTVe (ERTV, ERA) abgeschlossen, in denen die Strukturen der Entgeltsystematik verankert sind, wie etwa Aufbau und Zusammensetzung des Entgelts (ggf. fixer und variabler Anteil), Grundregeln der Eingruppierung, ggf. Regeln zur Überprüfung der Eingruppierung, Vorschriften über die Berechnung und Auszahlung des Entgelts, über die Behandlung von Ausfallzeiten, Regelungen für vorübergehende höherwertige Beschäftigung, über Zulagen, über innerbetriebliche Bewertungsverfahren und Vereinbarungen zu den einzelnen Entgeltgruppen (Entgeltgruppenverzeichnis/Entgeltgruppenkatalog) sowie ggf. Regelungen zum leistungsabhängigen Anteil des Entgelts (Leistungsbeurteilung/Zielvereinbarung). Daneben wird für die Höhe des Entgelts in den jeweiligen Entgeltgruppen der eigentliche EntgeltTV abgeschlossen. Der EntgeltrahmenTV wird regelmäßig unbefristet abgeschlossen und ist auch ohne besondere Regelungen entsprechend § 77 Abs. 5 BetrVG mit dreimonatiger Frist kündbar (so überwiegend auch in den ERTV verankert)1. Der EntgeltTV wird zwar auch formal unbefristet abgeschlossen, wobei allerdings die erstmalige Kündigungsmöglichkeit der in der jeweiligen Tarifrunde vereinbarten Laufzeit entspricht. Die Kündigungsfrist beträgt meistens einen Monat. Während der Laufzeit des EntgeltTVs besteht relative Friedenspflicht, d.h. Arbeitskämpfe zur Entgelterhöhung sind in dieser Zeit ausgeschlossen. Die Gewerkschaften machen jeweils von der ersten Kündigungsmöglich1 Zur Kündigung von TVen vgl. Teil 3 Rz. 207 ff.
Ulber/Steffan
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Rz. 1 Teil 5 (3)
Arbeitsentgelt
dere Verkehrsmittel nutzen, als auch übliche Verzögerungen wegen der Witterungsverhältnisse in Kauf nehmen. Sicherheitsrisiken für die eigene Person muss er keinesfalls in Kauf nehmen. Der Anspruch auf die Entgeltzahlung wird für maximal einen Tag aufrecht erhalten. 17 Bei länger andauernden Schwierigkeiten trägt der Arbeitnehmer das Risiko, den Arbeitsplatz nicht zu erreichen. Hiervon besteht nur dann eine Ausnahme, wenn hierdurch besondere Härten beim Arbeitnehmer entstehen. In diesem Fall kann eine Einzelfallregelung mit dem Arbeitgeber getroffen werden. Der Arbeitgeber hat hierüber nach billigem Ermessen zu entscheiden.
(3) Arbeitsentgelt I. Zweck und Kontext Die überragende Bedeutung des Arbeitsentgelts ergibt sich bereits in soziologischer 1 Hinsicht daraus, dass es die maßgebliche Lebensgrundlage aller abhängig Beschäftigten darstellt. Rechtlich trägt dieser Bedeutung § 611 BGB Rechnung, der die zentrale Bestimmung des Dienstvertragsrechts bildet. Nach § 611 BGB stellt die Entgeltzahlung die Hauptleistungspflicht des Arbeitgebers dar. Sie steht im Synallagma zur Arbeitspflicht des Arbeitnehmers. Aus dem Prinzip „Geld gegen Arbeit“ folgt zwangsläufig die Frage nach dem richtigen, dem „gerechten“ Lohn. Der Streit um den gerechten Lohn ist so alt wie die Gewerkschaften selbst. Entsprechend dieser Bedeutung machen die Regelungen zum Arbeitsentgelt das „Herzstück“ eines jeden TVs aus. Dabei handelt es sich – jedenfalls bei neueren TVen – überwiegend gar nicht mehr um Regelungen innerhalb eines TVs, sondern die Komplexität der Entgelt- und Bezahlungsstrukturen macht selbständige TVe hierfür notwendig. Tendenziell werden EntgeltrahmenTVe (ERTV, ERA) abgeschlossen, in denen die Strukturen der Entgeltsystematik verankert sind, wie etwa Aufbau und Zusammensetzung des Entgelts (ggf. fixer und variabler Anteil), Grundregeln der Eingruppierung, ggf. Regeln zur Überprüfung der Eingruppierung, Vorschriften über die Berechnung und Auszahlung des Entgelts, über die Behandlung von Ausfallzeiten, Regelungen für vorübergehende höherwertige Beschäftigung, über Zulagen, über innerbetriebliche Bewertungsverfahren und Vereinbarungen zu den einzelnen Entgeltgruppen (Entgeltgruppenverzeichnis/Entgeltgruppenkatalog) sowie ggf. Regelungen zum leistungsabhängigen Anteil des Entgelts (Leistungsbeurteilung/Zielvereinbarung). Daneben wird für die Höhe des Entgelts in den jeweiligen Entgeltgruppen der eigentliche EntgeltTV abgeschlossen. Der EntgeltrahmenTV wird regelmäßig unbefristet abgeschlossen und ist auch ohne besondere Regelungen entsprechend § 77 Abs. 5 BetrVG mit dreimonatiger Frist kündbar (so überwiegend auch in den ERTV verankert)1. Der EntgeltTV wird zwar auch formal unbefristet abgeschlossen, wobei allerdings die erstmalige Kündigungsmöglichkeit der in der jeweiligen Tarifrunde vereinbarten Laufzeit entspricht. Die Kündigungsfrist beträgt meistens einen Monat. Während der Laufzeit des EntgeltTVs besteht relative Friedenspflicht, d.h. Arbeitskämpfe zur Entgelterhöhung sind in dieser Zeit ausgeschlossen. Die Gewerkschaften machen jeweils von der ersten Kündigungsmöglich1 Zur Kündigung von TVen vgl. Teil 3 Rz. 207 ff.
Ulber/Steffan
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Teil 5 (3) Rz. 2
Katalog typischer Tarifnormen
keit Gebrauch, um dann mit dem Druckpotential der Streikmöglichkeit nach Ablauf des EntgeltTVs und damit der Friedenspflicht die Verhandlungen über Lohnerhöhungen mit den Arbeitgebern bzw. Arbeitgeberverbänden aufzunehmen.
II. Beispiele 2 Beispiel Entgeltrahmentarifvertrag (ERTV): Bundesentgelttarifvertrag (Entgeltrahmentarifvertrag) Chemie (Auszug) I. Geltungsbereich § 1 Rumlicher, persçnlicher und fachlicher Geltungsbereich Der Tarifvertrag gilt fr den rumlichen, persçnlichen und fachlichen Geltungsbereich des Manteltarifvertrages fr die chemische Industrie, jedoch nicht fr Auszubildende. II. Entgeltrahmenbestimmungen § 2 ffnungsklausel Arbeitgeber und Betriebsrat kçnnen unter Bercksichtigung der tariflichen Mindestbestimmungen ergnzend zu diesem Tarifvertrag Betriebsvereinbarungen unter Beachtung des § 76 Abs. 6 BetrVG abschließen. Bis zum Inkrafttreten dieses Tarifvertrages abgeschlossene andere tarifliche Bestimmungen ergnzende Betriebsvereinbarungen gelten unabhngig von dieser ffnungsklausel weiter und kçnnen unter Beachtung des § 76 Abs. 6 BetrVG gendert werden. § 3 Allgemeine Entgeltbestimmungen1 (…) § 4 Entgeltberechnung 1. Das Entgelt wird in der Regel monatlich an einem mit dem Betriebsrat zu vereinbarenden Arbeitstag gezahlt. Bei Barzahlung darf der Arbeitnehmer am rechtzeitigen Verlassen der Arbeitssttte nicht gehindert werden. Fllt der Zahltag auf einen Feiertag, so ist das Entgelt an dem vorhergehenden Arbeitstag auszuzahlen. 2. Durch schriftliche Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat kçnnen a) ein krzerer Abrechungszeitraum, b) Abschlagszahlungen, c) bargeldlose Entgeltzahlung, d) Monatslohn fr alle Arbeitnehmer oder Gruppen von ihnen eingefhrt werden.
1 Siehe die Kommentierung zur Klausel Eingruppierung, Teil 5 (11) Rz. 4.
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Arbeitsentgelt
Rz. 2 Teil 5 (3)
3. Die Ermittlung des Stundenentgelts erfolgt, indem das tarifliche Monatsentgelt durch den sich aus der Anmerkung 6 des Manteltarifvertrages fr die chemische Industrie ergebenden Divisor geteilt wird. 4. Dem Arbeitnehmer ist eine Abrechnung auszuhndigen, aus der fr den Abrechnungszeitraum die Errechnung des Gesamtverdienstes, die Abzge und der Nettobetrag zu ersehen sind. 5. Der Arbeitnehmer ist zur Nachprfung der Entgeltabrechnung bzw. der Endabrechnung verpflichtet. Ergeben sich Unstimmigkeiten, sind diese der fr den Arbeitgeber abrechnenden Stelle unverzglich mitzuteilen. 6. Teilzeitbeschftigte erhalten ein anteiliges Entgelt im Verhltnis ihrer vereinbarten Wochenarbeitszeit zur tariflichen Wochenarbeitszeit. 7. Bei Ereignissen, die eine Erhçhung des Entgelts auslçsen, tritt die Erhçhung rckwirkend ab dem 1. desjenigen Monats in Kraft, in den das Ereignis fllt. 8. Zu dem Tarifentgelt kçnnen Leistungszulagen und/oder andere Zulagen gezahlt werden. 9. Eine dem Arbeitnehmer auferlegte Schweigepflicht darf sich nicht auf seine tariflichen Ansprche beziehen. 10. Ein Entgeltanspruch entsteht nach erfolgreich abgelegter Abschlussprfung auch dann, wenn die Ausbildungszeit des Berufsausbildungsverhltnisses noch nicht beendet ist. Wird die Prfung aus Grnden, die nicht in der Person des Auszubildenden liegen, erst nach dem Ablauf des vertraglichen Ausbildungsverhltnisses bestanden, so entsteht der Entgeltanspruch rckwirkend ab Ende des Ausbildungsvertrages. § 5 Vorarbeiter (…) § 6 Erschwerniszulagen 1. Bei Schmutzarbeiten und anderen lstigen Arbeiten, bei denen Arbeitnehmer nachhaltigen Einwirkungen, z.B. von Rauch, Ruß, heißer Asche, Staub, Nsse, hohen Temperaturen, besonders belastendem Lrm oder besonders grellem knstlichen Licht ausgesetzt sind, oder bei Arbeiten in abgedunkelten Rumen ohne Belichtung oder mit lstigem farbigem Licht und bei Arbeiten mit Presslufthmmern erhalten Arbeitnehmer eine Erschwerniszulage. Die Hçhe dieser Zulage bestimmt sich nach dem Grad der Lstigkeit, darf jedoch nicht unter 3 % des arithmetischen Durchschnitts der Tarifentgeltstundenstze der Entgeltgruppen E 1 bis E 8 (Anfangsstze bei E 5 bis E 8) betragen. 2. Wenn bei der Arbeit zur Vermeidung gesundheitsgefhrdender Einwirkungen regelmßig lstige persçnliche Schutzausrstungen, z.B. Sandstrahlhelme, Gehçrschutzhelme, Staub-, Gasmasken und Frischluftgerte oder andere Atemschutzmittel verwendet werden mssen, so betrgt der Zuschlag nicht unter 5 % des in Ziffer 1 genannten Durchschnittsbetrages.
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Teil 5 (3) Rz. 2
Katalog typischer Tarifnormen
3. Fr Arbeiten, bei denen der Arbeitnehmer besonderen Gefahren ausgesetzt ist, ist von Fall zu Fall fr die Dauer der besonderen Gefhrdung eine betriebliche Regelung ber die Hçhe der Sonderzulagen zu treffen. Das gilt insbesondere fr Betriebe der Sprengstoffindustrie. 4. Welche Arbeitnehmer Anspruch auf die Zulagen nach Ziffer 1 bis Ziffer 3 haben, fr welche Zeit und in welcher Hçhe sie zu gewhren sind, wird im Einvernehmen mit dem Betriebsrat festgelegt. 5. In gleicher Weise ist betrieblich festzulegen, fr welche Arbeiten auf Kosten des Betriebes Schutzkleidung zu stellen ist. Instandsetzung und Reinigung gehen in diesen Fllen grundstzlich zu Lasten des Betriebes. III. Entgeltgruppen § 7 Entgeltgruppenkatalog1 (…) IV. Entgeltaufbau § 8 Aufbau der Entgeltstze 1. Fr Arbeitnehmer der Gruppen E 1 bis E 3 vor Vollendung des 18. Lebensjahres betrgt das Tarifentgelt 85 % des in den regionalen Entgelttarifvertrgen festgelegten Tarifentgelts. 2. Fr die Entgeltgruppen E 5 bis E 12 gilt folgender Entgeltaufbau: a) Entgeltgruppe E 5: Anfangssatz Tarifsatz nach drei Ttigkeitsjahren in dieser Gruppe Tarifsatz nach sechs Ttigkeitsjahren in dieser Gruppe b) Entgeltgruppen E 6 bis E 12: Anfangssatz Tarifsatz nach zwei Ttigkeitsjahren in dieser Gruppe Tarifsatz nach vier Ttigkeitsjahren in dieser Gruppe Tarifsatz nach sechs Ttigkeitsjahren in dieser Gruppe (…) § 9 Entgeltregelung bei Hçhergruppierung Liegt bei einer Hçhergruppierung in die Gruppen E 5 bis E 8 das bisherige Tarifentgelt ber dem Tarifentgelt der neuen Gruppe, so erhlt der hçhergruppierte Arbeitnehmer so lange mindestens den bisherigen Tarifsatz in der durch die Tarifentwicklung jeweils erreichten Hçhe, bis ihm infolge Zeitablaufs in der neuen Entgeltgruppe ein hçherer Anspruch zusteht. Bei einer solchen Hçhergruppierung werden die zurckgelegten Ttigkeitsjahre in den Gruppen E 6 und E 7 bis zu drei Jahren als Ttigkeitsjahre in der neuen Entgeltgruppe angerechnet.
1 Vgl. das Beispiel unter der Kommentierung Eingruppierung, Teil 5 (11) Rz. 5.
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Arbeitsentgelt
Rz. 4 Teil 5 (3)
Bei einer Hçhergruppierung in die Entgeltgruppen E 9 bis E 13 erhlt der hçhergruppierte Arbeitnehmer so lange den Tarifsatz der hçheren Entgeltgruppe, der am nchsten ber seinem bisherigen Tarifsatz liegt, bis ihm aufgrund seiner Ttigkeitsjahre in der neuen Entgeltgruppe ein hçherer Tarifsatz zusteht. Die fr diese Entgeltstufe geforderte zeitliche Zugehçrigkeit gilt zur Hlfte als erfllt. 3
Beispiel Leistungsentgelt (budgetiert): § 18 TVçD (Bund) Leistungsentgelt (1) Ab dem 1. Januar 2007 wird ein Leistungsentgelt eingefhrt. Das Leistungsentgelt ist eine variable und leistungsorientierte Bezahlung zustzlich zum Tabellenentgelt. (2) Ausgehend von einer vereinbarten Zielgrçße von 8 v.H. entspricht bis zu einer Vereinbarung eines hçheren Vomhundertsatzes das fr das Leistungsentgelt zur Verfgung stehende Gesamtvolumen 1 v.H. der stndigen Monatsentgelte des Vorjahres aller unter den Geltungsbereich des TVçD fallenden Beschftigten des jeweiligen Arbeitgebers. Das fr das Leistungsentgelt zur Verfgung stehende Gesamtvolumen ist zweckentsprechend zu verwenden; es besteht die Verpflichtung zu jhrlicher Auszahlung der Leistungsentgelte. Protokollerklrung zu Absatz 2 Satz 1: Stndige Monatsentgelte sind insbesondere das Tabellenentgelt (ohne Sozialversicherungsbeitrge des Arbeitgebers und dessen Kosten fr die betriebliche Altersvorsorge), die in Monatsbetrgen festgelegten Zulagen einschließlich Besitzstandszulagen sowie Entgelt im Krankheitsfall (§ 22) und bei Urlaub, soweit diese Entgelte in dem betreffenden Kalenderjahr ausgezahlt worden sind; nicht einbezogen sind dagegen insbesondere Abfindungen, Aufwandsentschdigungen, Auslandsdienstbezge einschließlich Kaufkraftausgleiche und Auslandsverwendungszuschlge, Einmalzahlungen, Jahressonderzahlungen, Leistungsentgelte, Strukturausgleiche, unstndige Entgeltbestandteile und Entgelte der außertariflichen Beschftigten.
III. Kommentierung 1. Entgeltsysteme a) Grundstrukturen Die Grundstrukturen der Entgeltsysteme haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten 4 geändert1, wobei dieser Prozess noch nicht in allen Branchen abgeschlossen ist. Die Änderungen umfassen neben einer Vielzahl von Einzelthemen insbesondere zwei Bereiche: Die unterschiedliche Behandlung und Bezahlung von Angestellten und Arbeitern sowie die Grundlogik der Bewertung der jeweiligen Tätigkeiten. Während die gesetzlichen Regelungen schon seit längerer Zeit nicht mehr zwischen Arbeitern und Angestellten unterscheiden (vgl. etwa die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall), haben die TVe diesen Wandel weit weniger schnell bewältigt. Dies hängt sowohl mit der
1 Vgl. dazu auch Däubler/Winter, § 1 TVG Rz. 360.
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Teil 5 (3) Rz. 5
Katalog typischer Tarifnormen
Detailtiefe als auch mit den gegensätzlichen Interessen der TV-Partner zusammen. So unterscheiden etliche TVe noch heute zwischen Arbeitern und Angestellten. Weit schwieriger ist die Umstellung der tariflichen Regelungswerke hinsichtlich der Bewertung der Tätigkeiten, denn hierbei ist ein klassischer Fall des „gerechten“ Entgelts betroffen. Während die älteren TVe nach dem Senioritätsprinzip differenzierten, mithin also nach Alter und Betriebszugehörigkeit, stellen moderne TVe nur noch auf die Inhalte der Tätigkeit ab. Diese alleine bestimmen die Wertigkeit der jeweiligen Tätigkeit und damit auch das Gehalt. Diesen Gedanken folgend differenzieren TVe heutzutage auch nicht mehr nach dem Bildungsniveau desjenigen, der die Tätigkeit ausübt. Im Einzelnen sind jedoch häufig viele Regelungen umstritten, weshalb die grundlegenden Reformen lange Zeit in Anspruch nehmen. So dauerten etwa die Verhandlungen über eine grundlegende Neustrukturierung der Entgeltsystem in den großen Bereichen Chemie, Metallindustrie und im Öffentlichen Dienst zum Teil über zehn Jahre1; im Handel lässt die Reform der TVe seit Jahren auf sich warten2. b) Zeitlohn 5 Das in Zeit bemessene Arbeitsentgelt ist die klassische Entgeltform schlechthin. Traditionell wird die Vergütung der Arbeiter als Lohn bezeichnet und die der Angestellten als Gehalt. In den neueren TVen finden sich indes die Begriffe Lohn bzw. Gehalt nicht mehr; sie sind bzw. werden durch den einheitlichen Begriff des Entgelts ersetzt3. Grund ist auch hier der Wegfall der Differenzierung zwischen Arbeitern und Angestellten. Beim Zeitentgelt wird das Entgelt nach Zeitabschnitten (Stunde, Woche, Monat, Jahr) bemessen. Auch hierbei hat sich die traditionelle Einteilung, nach der Arbeiter einen Stunden- oder Wochenlohn bezogen, Angestellte dagegen ein Monatsgehalt erhielten, geändert. In aller Regel bestimmen die TVe heute Monatsbeträge. Das gilt auch für diejenigen TVe, die noch nach Arbeitern und Angestellten unterscheiden. Soweit ein Entgelt für den Zeitraum eines Jahres bemessen wird, handelt es sich meist um eine Kombination von Zeit- und Leistungsentgelt, so etwa bei dem sog. Jahreszielentgelt; vgl. ausführlicher Rz. 7. Das Zeitentgelt ist der Wert, der im Allgemeinen in den Entgeltgruppen den Arbeitswert der einzelnen Funktionen und/oder Tätigkeiten bestimmt; vgl. zur Bewertung der Tätigkeit Rz. 10 sowie R (11) Eingruppierung, Rz. 2. Das reine Zeitentgelt hat den Nachteil, dass es auf das Arbeitsergebnis, also die Qualität und Quantität der Arbeit, grundsätzlich nicht ankommt, so dass der Arbeitgeber auch für Schlechtleistung die vereinbarte Vergütung zahlen muss4. Aber auch unterhalb der Schwelle der Schlechtleistung sind reine Zeitentgelte nicht in der Lage, den in der Praxis tatsächlich vorhandenen Leistungsunterschieden Rechnung zu tragen5. Der Arbeitnehmer schuldet zur Erfüllung seiner Arbeitspflicht nämlich nur die Leistung, die er bei angemessener Anspannung seiner geistigen und körperlichen Kräfte auf Dauer ohne Gefährdung seiner Gesundheit zu leisten imstande ist6. Maßgeblich ist damit das in-
1 Dazu auch Däubler/Winter, § 1 TVG Rz. 360 m.w.N. 2 Instruktiv dazu Kalkowski, „Ist der Flächentarifvertrag im Einzelhandel noch zu retten? Rahmenbedingungen und Konturen einer Entgeltstrukturreform“, Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen, 2008. 3 So auch Däubler/Winter, § 1 TVG Rz. 363b. 4 ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 390. 5 Däubler/Winter, § 1 TVG Rz. 363b. 6 ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 643.
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Arbeitsentgelt
Rz. 7 Teil 5 (3)
dividuelle Leistungsvermögen1. Für einen Vergleich mit der Leistung anderer Mitarbeiter ist jedenfalls im Hinblick auf die Bezahlung kein Raum2. Allenfalls kann die (bessere) Leistung der anderen Arbeitnehmer ein Indiz dafür sein, dass der betreffende Arbeitnehmer seine persönliche Leistungsfähigkeit nicht ausschöpft3. Aus den genannten Gründen lösen sich moderne Entgeltsysteme vom reinen Zeitentgelt und versuchen, eine Differenzierung und Anerkennung der persönlichen Leistung über eine Kombination von Zeitentgelt plus Leistungsbezahlung zu erreichen. Dieser Weg ist einer der schwierigsten in der Tarifbewegung der neueren Zeit, weil er die unterschiedlichen Ansichten des „gerechten Lohns“ in ganz besonderer Weise offenbart: Während die Gewerkschaften es eher als gerecht erachten, dass jeder Arbeitnehmer, der dieselbe Arbeit verrichtet wie sein Kollege, auch denselben Lohn erhält, stellen die Arbeitgeber das Individuum in den Vordergrund und bezeichnen es als gerecht, dass derjenige mehr Lohn erhält, der mehr leistet. In aller Regel haben die Tarifpartner hier einen gangbaren Kompromiss gefunden, der durch einen hohen fixen und zeitbemessenen Entgeltbestandteil die Existenzgrundlage des Arbeitnehmers sichert und durch einen geringeren variablen Anteil der unterschiedlichen Leistung der Arbeitnehmer Rechnung trägt; vgl. Rz. 7. c) Akkordlohn Als rein leistungsbezogenes Entgeltsystem stellt sich der Akkordlohn dar, der in der 6 produzierenden Industrie der 50er bis 70er Jahre des letzten Jahrhunderts weit verbreitet war. Mit der Verlagerung einfacher Produktionen ins Ausland und der Konzentration der inländischen Produktion auf hoch technologisierte Produkte hat jedenfalls in der Metall- und Elektroindustrie der Akkordlohn an Bedeutung verloren4. Der Akkord kann als Einzel- oder Gruppenakkord vorkommen. Bei der Vergütung des Akkords unterscheidet man im Wesentlichen zwischen Geldakkord und Zeitakkord. Beim Geldakkord wird direkt an die unmittelbare Leistungseinheit angeknüpft, indem z.B. pro gefertigtem Teil ein bestimmter Geldbetrag gezahlt wird. Beim Zeitakkord wird eine Zeit vorgegeben, die bei der Normalleistung benötigt wird, um etwa ein Produkt herzustellen. Um auf einen höheren Verdienst zu kommen, muss diese Vorgabezeit unterboten werden. Die Ermittlung der richtigen Vorgabezeit ist das eigentliche Kernelement beim Zeitakkord. Die Verfahren dazu sind in den LohnrahmenTVen festgelegt5. Beim Akkord sind ggf. die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 und 11 BetrVG zu beachten; vgl. Rz. 13. d) Flexibilisierung der Entgeltsysteme Angesichts der mangelnden Differenzierungsmöglichkeiten bei ausschließlichem 7 Zeitentgelt hat sich die tarifpolitische Diskussion der letzten Jahre auf die Flexibilisierung des Arbeitsentgelts konzentriert. Dabei ist jedoch von der Flexibilisierung
1 BAG v. 11.12.2003 – 2 AZR 667/02, NZA 2004, 784; BAG v. 17.1.2008 – 2 AZR 536/06, NZA 2008, 693. 2 Dazu instruktiv BAG v. 17.1.2008 – 2 AZR 536/06, NZA 2008, 693 Rz. 16. 3 BAG v. 11.12.2003 – 2 AZR 667/02, NZA 2004, 784. 4 Däubler/Winter, § 1 TVG Rz. 360. 5 Näheres dazu bei Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 501 f.
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Teil 5 (3) Rz. 7
Katalog typischer Tarifnormen
nicht das gesamte Entgelt erfasst, sondern nur ein Teil des Entgelts bis max. 30 %1. Die häufigsten Modelle sind das Prämienentgelt einerseits und das Leistungsentgelt2 bzw. die Zielvereinbarung andererseits. Beim Prämienentgelt wird zusätzlich zum leistungsunabhängigen (Tabellen-)Entgelt eine Prämie gezahlt, mit der Leistungen wie Einsparungen, Qualitätserreichung, Termintreue etc. honoriert werden3. Die Prämie ähnelt in ihrer Grundstruktur eher der traditionellen Zulage4. In dieselbe Richtung geht das neu eingeführte Leistungsentgelt im Öffentlichen Dienst nach § 18 Bund und VKA TVöD (vgl. Rz. 3). Dagegen finden sich in manchen neueren TVen (insbesondere HausTVen) echte flexibilisierte Arbeitsentgelte. Hier gibt es nicht mehr das klassische Grundgehalt und zusätzlich einen Leistungsanteil in Form einer Zulage oder einer Prämie, sondern das eigentliche Tabellenentgelt beinhaltet bereits einen variablen Anteil. Dieser beträgt abhängig von der Entgeltgruppe und der Tätigkeit zwischen 5 % und 30 %, wobei höhere Entgeltgruppen und Vertriebstätigkeiten die höchsten variablen Anteile verzeichnen. Meist werden sog. Zielentgelte vereinbart, die einen fixen und einen variablen Anteil beinhalten. Dabei unterstellt der Betrag des Zielentgelts eine 100 %ige Leistung oder eine 100 %ige Zielerreichung. Der fixe Anteil wird monatlich ausgezahlt; die Auszahlung des variablen Anteils hängt von der Dauer der Ziele bzw. der Periode der Leistungsbemessung ab (je nach Tätigkeit werden Quartals- oder Jahresziele vereinbart). Inhaltlich wird der variable Anteil entweder über eine Leistungsbeurteilung oder über Zielvereinbarungen ermittelt. Bei der Leistungsbeurteilung etwa entspricht eine vorher festgelegte Punktzahl einer 100 %igen Variablen. Fällt die Beurteilung besser oder schlechter aus, kann das Zielentgelt über- oder auch unterschritten werden. Dasselbe gilt bei der Zielvereinbarung. In aller Regel werden mit dem Mitarbeiter oder einem Team zwei bis fünf Ziele vereinbart und je nach Erfolg zum Ablauf der Zielperiode bewertet. Neben diesen sog. individuellen Zielen werden in HausTVen größerer Unternehmen häufig auch zusätzlich kollektive Ziele zur Bestimmung des variablen Anteils herangezogen. Diese hängen oft maßgeblich von den klassischen Unternehmenskennzahlen „Free Cash Flow“, Umsatz, EBITDA und/ oder EBIT ab5. In aller Regel werden Ziele, Zielkorridore und die Parameter der Zielerreichung zu Beginn des Jahres zwischen Geschäftsführung und Aufsichtsrat festgelegt. Nach Ablauf des Geschäftsjahres erfolgt die Zielfeststellung in derselben Weise. Aufgrund des hohen Aufwands zur Vereinbarung, Festlegung und Berechnung der individuellen Ziele gehen die Unternehmen dazu über, den variablen Anteil des Zielentgelts ausschließlich über Unternehmensziele zu bestimmen. Dadurch soll auch eine stärkere Identifizierung mit dem Unternehmen und dessen Zielen erreicht werden. Weil der unmittelbare Einfluss des einzelnen Mitarbeiters auf die Unternehmenszielerreichung gering ist, liegt bei ausschließlich kollektiven Zielen der variable 1 Höhere variable Anteile finden sich jedenfalls regelmäßig nicht in TVen. Sie sind vielmehr außertariflichen Funktionen – in aller Regel Leitenden Angestellten – vorbehalten. 2 Zur Ambivalenz des Begriffs „Leistungsentgelt“ siehe Däubler/Winter, § 1 TVG Rz. 363d. 3 Vgl. dazu Däubler/Winter, § 1 TVG Rz. 371. 4 Vgl. auch ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 395. 5 Free Cash Flow: Überschuss der Einzahlungen über die Auszahlungen einer Unternehmung aus der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit innerhalb der betrachteten Periode. Nicht zahlungswirksame Erträge und Aufwendungen (etwa Abschreibungen oder die Auflösung von Rückstellungen) werden dabei nicht berücksichtigt. EBIT: Earnings before Interest & Tax = Gewinn (Ergebnis der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit) vor dem Abzug vor Zinsen und Steuern. EBITDA: Earnings before Interest, Tax, Depreciation & Amortisation = Gewinn (Ergebnis der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit) vor dem Abzug von Abschreibungen, Zinsen und Steuern.
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Arbeitsentgelt
Rz. 9 Teil 5 (3)
Entgeltanteil meist bei max. 10 %. Dem Betriebsrat steht nach § 80 Abs. 2 BetrVG das Recht auf Auskunft und umfassende Information über getroffene Zielvereinbarungen zu1. Dazu gehört das Recht, sich Unterlagen vorlegen zu lassen, um die entsprechenden Vereinbarungen und Festlegungen einsehen zu können (zu weitergehenden Mitbestimmungsrechten nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 und 11 BetrVG vgl. Rz. 13). e) Sonstige tariflich geregelte Entgeltbestandteile Als sonstige regelmäßige Bestandteile des Entgelts kommen in erster Linie Zulagen 8 und Einmalzahlungen in Betracht. Insbesondere Zulagen haben jedoch in letzter Zeit an Bedeutung verloren. Sie wurden früher des Öfteren als allgemeine Zulagen gezahlt, die im Kern jedoch zur regelmäßigen Gegenleistung für die spezifische Tätigkeit gehörten und keine besondere Erschwernis ausgleichen sollten. Zur Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Zulagen als vertraglich zugesagter, selbstständiger Entgeltbestandteil neben dem jeweiligen Tarifentgelt zu werten sind, hat sich eine umfangreiche Rechtsprechung entwickelt. Dabei geht es insbesondere auch um die Anrechnungsmöglichkeiten von Zulagen auf allgemeine Tarifentgelterhöhungen2. Im Zuge der Modernisierung des Entgeltsystems im Öffentlichen Dienst wurden – ebenso wie in anderen TVen – etliche Zulagen abgeschafft und in das Vergleichsentgelt eingerechnet3. Bestehen bleiben auch in neueren TVen jedoch echte Zulagen zum Ausgleich besonderer Belastungen, etwa für Schichtarbeit, Nachtarbeit etc., sowie sogenannte Funktionszulagen für echte Erschwernisse und Gefahren (z.B. Arbeiten unter besonderen Umgebungs- oder Belastungseinflüssen wie starke Witterungseinflüsse, Lärm, Staub, Arbeiten mit gesundheitsbelastenden oder giftigen Stoffen sowie Arbeiten im Wasser oder Schlamm oder Arbeiten in besonderer Höhe). Zulagen sind grundsätzlich zu unterscheiden von Zuschlägen, wobei die Terminologie nicht immer einheitlich ist4. Unter Zulagen versteht man allgemein feste Geldbeträge (Pauschalen), die in der Regel monatlich dafür gezahlt werden, dass die zulagenberechtigende Tätigkeit an einer bestimmten Anzahl von Tagen ausgeübt wird. Ist diese Grundvoraussetzung erfüllt, kommt es auf die weitere Dauer und Häufigkeit der Tätigkeiten nicht an. Anders verhält es sich dagegen bei den Zuschlägen. Sie knüpfen an die konkreten Zeiten belastender Tätigkeiten an und werden meistens pro Arbeitsstunde abgerechnet; im Einzelnen vgl. dazu R (24) Zulagen-/Zuschlagsregelungen. Für bestimmte Tätigkeiten können entweder Zulagen oder Zuschläge gezahlt werden oder auch beide Formen zusammentreffen. Beispiele hierfür sind etwa Schichtarbeit und Nachtarbeit. Einmalzahlungen, die keine besondere Zwecksetzung haben, werden bisweilen als Er- 9 gebnis von Tarifverhandlungen zu einem EntgeltTV vereinbart. Sie stellen oft eine Kompromisslinie dar, bei der die verhandelnde Gewerkschaft eine weitergehende Zahlung zu Gunsten ihrer Mitglieder vorweisen kann, die Arbeitgeberseite aber gleichzeitig davon profitiert, dass die Einmalzahlung – anders als eine Erhöhung regelmäßiger Entgeltbestandteile – nicht den Basisbetrag für Entgeltersteigerungen in folgenden Tarifrunden erhöht. Daneben gibt es die, im Regelfall einem sozialen Zweck dienenden, klassischen Einmalzahlungen, z.B. das Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Auch hier ist 1 2 3 4
BAG v. 21.10.2003 – 1 ABR 39/02, NZA 2004, 936. Dazu etwa BAG v. 18.5.2011 – 10 AZR 206/10, NZA 2011, 1289 Rz. 39. Vgl. BAG v. 18.5.2011 – 10 AZR 206/10, NZA 2011, 1289 Rz. 39. Vgl. etwa Däubler/Winter, § 1 TVG Rz. 375 ff.
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Teil 5 (3) Rz. 10
Katalog typischer Tarifnormen
bei manchen neueren TVen die Tendenz erkennbar, sie nicht mehr als Einmalzahlung auszuweisen, sondern in das Jahresentgelt einzubeziehen und damit anteilig monatlich auszuzahlen. Das hat für die Arbeitnehmer den Vorteil, dass sie mit jeder tariflichen Entgelterhöhung „automatisch“ erhöht werden und jeweils eigenständig geregelt werden müssen. Ferner finden sich in TVen oft Regelungen zu vermögenswirksamen Leistungen. Sie werden gezahlt, wenn der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber eine Anlage nach dem jeweils geltenden Vermögensbildungsgesetz nachweist. Sonstige Vergütungsbestandteile wie etwa Anwesenheitsprämien, Mitarbeiterbeteiligungen, verbilligte Einkaufsmöglichkeiten, Personalrabatte, Arbeitgeberdarlehen etc.1 sind meist nicht Gegenstand tariflicher Regelungen. Dasselbe gilt für Aktienoptionen, die im Wesentlichen im außer-/übertariflichen Bereich von Bedeutung sind2. 2. Arbeitsbewertung 10
Die Arbeitsbewertung ist Aufgabe der TV-Parteien im Rahmen der Entgeltfindung. Sie legen sowohl den „Wert der Arbeit“ im Einzelnen fest als auch die Wertigkeit der Tätigkeiten im Vergleich zueinander. In den TVen finden sich die Ergebnisse der Arbeitsbewertung an verschiedenen Stellen. Soweit es um den reinen Wert der Arbeit geht, stellt der EntgeltTV die maßgebliche Regelung dar. Durch das Aushandeln der einzelnen Entgelte in den „Tarifrunden“ passen die TV-Parteien den Wert der Arbeit dem Produktions- und Leistungserfolg der Arbeitgeber an, der im Wesentlichen durch die Arbeit der Beschäftigten erzielt wird. Das Ergebnis der eigentlichen Arbeitsbewertung ist das Lohn- oder Entgeltgruppenverzeichnis, das meist Bestandteil des EntgeltrahmenTVs ist. In diesem Verzeichnis sind die einzelnen im Betrieb oder Unternehmen vorkommenden Funktionen oder Tätigkeiten entsprechend ihrer Wertigkeit zueinander in Entgeltgruppen zusammengefasst. Die in den einzelnen Entgeltgruppen (dazu R (11) Eingruppierung, Rz. 5) beschriebenen Tätigkeitsmerkmale oder Richtbeispiele bilden die Basis für die Eingruppierung der Arbeitnehmer; vgl. dazu R (11) Eingruppierung, Rz. 1. Als Methoden der Arbeitsbewertung sind das summarische und das analytische Verfahren zu unterscheiden. Während das summarische Verfahren versucht, die Arbeitsanforderungen ganzheitlich zu bewerten, geht das analytische Verfahren von den einzelnen Arbeitsanforderungen aus, bewertet diese jeweils mit Punktzahlen und ordnet nach Addition der Punktzahlen die zu beurteilende Funktion oder Tätigkeit einer Entgeltgruppe zu; vgl. dazu R (11) Eingruppierung, Rz. 23. Gewandelt hat sich im Laufe der Zeit auch die Sichtweise, welche Faktoren grundsätzlich die Wertigkeit einer Tätigkeit bestimmen. Das sind zunächst unstreitig Kriterien wie etwa Können, Verantwortung, Selbstständigkeit oder Belastung4. Sie sind die „Kernkompetenzen“ der Arbeitsbewertung. Anders sieht es dagegen mit (Berufs-)Erfahrung, Alter oder Schulbildung aus. Sie haben früher – insbesondere im Öffentlichen Dienst – im Wesentlichen die Wertigkeit der Tätigkeit bzw. den Wert der Arbeit mit der Folge bestimmt, dass langjährig beschäftige Arbeitnehmer in derselben Funktion weit besser bezahlt wurden als (jüngere) Mitarbeiter mit geringerer Berufserfahrung. Neuere TVe messen hingegen dem Alter regelmäßig keine und der Berufserfahrung lediglich gerin-
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Vgl. Küttner/Griese, Arbeitsentgelt Rz. 5. Siehe BAG v. 21.10.2009 – 10 AZR 664/08, NZA 2010, 289. Vgl. Däubler/Winter, § 1 TVG Rz. 366 f. Däubler/Winter, § 1 TVG Rz. 365.
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Arbeitsentgelt
Rz. 12
Teil 5 (3)
ge Bedeutung zu. Danach werden die Arbeitnehmer ausschließlich nach der Tätigkeit, die sie ausüben, eingruppiert. Dem Kriterium der Berufserfahrung wird sachgerecht dadurch Rechnung getragen, dass innerhalb der – nur nach Anforderung bewerteten – Entgeltgruppen sog. Gruppenstufen vorhanden sind, die der Arbeitnehmer in einem überschaubaren Zeitraum durchläuft (ca. drei bis fünf Jahre). 3. Auszahlung des Entgelts Häufig enthalten TVe Regelungen über Zahlungsart und Zahlungszeitpunkt des Ar- 11 beitsentgelts. Regelungen über den Zahlungszeitpunkt betreffen die Fälligkeit des Entgelts. Nach der gesetzlichen Regelung des § 614 BGB ist die Vergütung nach der Leistung zu entrichten; bei der Vergütung nach Zeitabschnitten nach Ablauf der einzelnen Zeitabschnitte. Der Arbeitnehmer ist also grundsätzlich vorleistungspflichtig. § 614 BGB ist jedoch abdingbar, wovon durch TVe in aller Regel auch Gebrauch gemacht wird, so dass die Bedeutung der gesetzlichen Bestimmung in der Praxis gering ist1. Nach den herkömmlichen TVen war die Auszahlung der Vergütung nach der Leistung vor allem für Arbeiter vorgesehen, die oftmals einen Wochenlohn nach der geleisteten Arbeit erhielten. Für Angestellte, die traditionell ein Monatsentgelt erhalten, war bereits früher eine Zahlung zur Monatsmitte tariflich vereinbart. Mit der Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten hat diese Unterscheidung an Bedeutung verloren und die TVe schreiben häufig eine Zahlung zum 16. des Monats vor (Zahltag). Fällt der 16. auf einen Samstag, Sonntag oder Feiertag, ist zum Teil die Zahlung zum vorangegangenen Werktag im TV angeordnet. Leistet der Arbeitgeber zum tariflich festgesetzten Tag nicht, gerät er gemäß § 286 Abs. 2 BGB ohne Mahnung in Verzug. Weitere Bedeutung hat der tariflich festgelegte Zahlungstag für tarifvertragliche Ausschlussfristen. Sofern der TV keine abweichenden Regelungen enthält, beginnt die Ausschlussfrist mit der Fälligkeit zu laufen2. Bezüglich der Zahlungsart regeln die TVe meistens, dass das Arbeitsentgelt auf ein vom Arbeitnehmer zu benennendes inländisches Bankkonto zu überweisen ist. Dabei muss die Überweisung so erfolgen, dass der Arbeitnehmer zum Zahltag über sein Entgelt verfügen kann. TVe sehen auch vor, dass die Arbeitnehmer mit jeder monatlichen Entgeltzahlung ei- 12 ne ausführliche Abrechnung erhalten, aus der die jeweiligen Bestandteile des Arbeitsentgelts sowie die Abzüge im jeweiligen Abrechnungszeitraum zu entnehmen sind. Verzögert der Arbeitgeber schuldhaft die Abrechnung, ohne die der Arbeitnehmer seine Ansprüche nicht erkennen kann, darf er sich nach Treu und Glauben nicht auf den Ablauf der Ausschlussfrist berufen3. Welche Angaben zu einer ordnungsgemäßen Lohnabrechnung gehören, hängt auch von der spezifischen Entlohnungsform ab4. Ist die Entgeltabrechnung tarifvertraglich geregelt, ist dazu oft auch eine Verpflichtung des Arbeitnehmers vorgesehen, die Richtigkeit und Vollständigkeit der Abrechnung unverzüglich zu prüfen. Der Arbeitnehmer, der gegen den Anspruch des Arbeitgebers auf Rückzahlung zuviel gezahlter Arbeitsvergütung den Wegfall der Bereicherung geltend macht, hat darzulegen und ggf. zu beweisen, dass er nicht mehr bereichert 1 So auch ErfK/Preis, § 614 BGB Rz. 2. 2 Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Lohn/Gehalt Rz. 10; vgl. auch BAG v. 25.1.2006 – 4 AZR 622/04, AP Nr. 22 zu § 1 TVG Tarifverträge: Großhandel. 3 BAG v. 6.11.1985 – 4 AZR 233/84, NZA 1986, 429; Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Lohn/Gehalt Rz. 7. 4 Siehe dazu BAG v. 6.11.1985 – 4 AZR 233/84, NZA 1986, 429.
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Teil 5 (3) Rz. 13
Katalog typischer Tarifnormen
ist1. Ist die Rückgewährverpflichtung von zu Unrecht empfangenen Entgeltleistungen im TV abschließend geregelt, ist ein Rückgriff auf gesetzliches Bereicherungsrecht daneben nicht mehr möglich2. 4. Mitbestimmung des Betriebsrats 13
Entgeltregelungen sind die klassische Domäne der TV-Parteien und damit in weiten Teilen der Mitbestimmung durch die Betriebsräte entzogen. EntgeltrahmenTVe und EntgeltTVe sind jedenfalls „üblich“ i.S.d. § 77 BetrVG, so dass schon deshalb kein Raum für die betriebliche Mitbestimmung bleibt. Allerdings bestehen mit § 87 Abs. 1 Nr. 10 und 11 BetrVG Mitbestimmungstatbestände des Betriebsrats im Entgeltbereich, die dann eingreifen, wenn kein TV besteht oder soweit ein bestehender TV keine abschließende Regelung enthält. Eine Tarifüblichkeit reicht dagegen im Anwendungsbereich des § 87 BetrVG nicht aus, um die betriebliche Mitbestimmung zurückzudrängen3. Die Reichweite des Mitbestimmungsrechts hängt davon ab, ob es sich um zeitoder leistungsbezogene Entgeltbestandteile handelt. Während § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG grundsätzlich für alle Vergütungsbestandteile gilt, greift § 87 Abs. 1 Nr. 11 BetrVG nur bei leistungsbezogenen Entgeltbestandteilen ein, hat dort aber einen weitergehenden Anwendungsbereich. Nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG hat der Betriebsrat mitzubestimmen bei Fragen der betrieblichen Lohngestaltung, insbesondere bei der Aufstellung von Entlohnungsgrundsätzen und der Einführung und Änderung von neuen Entlohnungsmethoden. Dies sind indes die Fragen, die in aller Regel zumindest grundsätzlich durch einen TV geregelt sind, so dass sich ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG in der Praxis auf die Ausfüllung eines nicht abschließenden TVs beschränkt, wenn dieser etwa Entgelthöhe und bestimmte Entgeltzahlungssysteme (z.B. Zeitlohn, Akkordlohn, Prämienlohn) festsetzt, aber nicht regelt, welches System in welchem Betrieb für welche Arbeit angewandt und wie es dort näher ausgestaltet werden soll4. Ein in der Praxis wichtiges Feld der betrieblichen Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG besteht dagegen bei freiwilligen übertariflichen Leistungen5. Hier ist der Arbeitgeber zwar frei in der Entscheidung, ob er solche gewährt und welche Mittel er einsetzt; bei der Verteilung der Leistungen muss er jedoch das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats beachten6. Ein weiterer wichtiger Bereich der betrieblichen Mitbestimmung betrifft die – zwangsläufig nicht im TV erfassten – AT-Angestellten7. Nicht mitzubestimmen hat der Betriebsrat nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG über die Lohnhöhe8. Anderes gilt dagegen bei leistungsbezogenen Entgeltbestandteilen nach § 87 Abs. 1 Nr. 11 BetrVG. Hier geht das Mitbestimmungsrecht weiter, weil der Betriebsrat über alle Bezugsgrößen des Entgelts mitzubestimmen hat, einschließlich der Geldfaktoren, und damit auch über die Entgelthöhe9. Beispielhaft nennt das BetrVG Akkord- und Prämiensätze, 1 BAG v. 18.1.1995 – 5 AZR 817/93, NZA 1996, 27. 2 BAG v. 25.8.1992 – 9 AZR 416/90, NZA 1993, 277. 3 BAG v. 24.2.1987 – 1 ABR 18/85, NZA 1987, 639; differenzierter allerdings BAG v. 5.3.1997 – 4 AZR 532/95, NZA 1997, 951. 4 ErfK/Kania, § 87 BetrVG Rz. 104. 5 Dazu ausführlich etwa ErfK/Kania, § 87 BetrVG Rz. 107 ff. 6 St. Rspr., vgl. etwa BAG v. 26.5.1998 – 1 AZR 704/97, NZA 1998, 1292. 7 Dazu ausführlich ErfK/Kania, § 87 BetrVG Rz. 106. 8 BAG v. 30.10.2001 – 1 ABR 8/01, NZA 2002, 919; ErfK/Kania, § 87 BetrVG Rz. 103. 9 Dazu ausführlich ErfK/Kania, § 87 BetrVG Rz. 117 ff.
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Rz. 2 Teil 5 (4)
Arbeitsverhinderung
über deren Höhe der Betriebsrat mitbestimmen kann, soweit sie nicht bereits tariflich geregelt sind. Dasselbe gilt für vergleichbare leistungsbezogene Entgelte. Dies sind wie Akkord und Prämie solche, bei denen die Höhe der Vergütung unmittelbar durch das vom Arbeitnehmer erzielte Arbeitsergebnis beeinflusst wird1. Die Diskussion um die Reichweite des Mitbestimmungsrechts bei Zielvereinbarungen ist noch nicht abgeschlossen. Hier sind Fragen der betrieblichen Lohngestaltung betroffen und es liegt ein leistungsbezogener Entgeltbestandteil vor, so dass ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 und 11 BetrVG in Betracht kommt2. Bei tarifvertraglich geregelten Zielvereinbarungssystemen (vgl. Rz. 7) ist im Einzelfall zu prüfen, ob und inwieweit der TV eine abschließende Regelung enthält.
(4) Arbeitsverhinderung I. Zweck und Kontext Klauseln über Arbeitsverhinderungen sind regelmäßiger Bestandteil von TVen. Sie 1 werden dort jedoch in aller Regel unter der Überschrift „Arbeitsbefreiung“ geführt. Dies ist deshalb zutreffend, weil die Klauseln im Wesentlichen zu einer Konkretisierung der von § 616 BGB erfassten unverschuldeten Arbeitsversäumnis führen. Über § 616 BGB hinausgehend erfassen sie weitere anspruchsbegründende Tatbestände, etwa Arbeits- oder Dienstjubiläen oder die Teilnahme an bestimmten gewerkschaftlichen Veranstaltungen oder an Tarifverhandlungen. Unter dem Begriff der „Arbeitsbefreiung“ im Sinne der gängigen Tarifregelungen versteht man die vorübergehende Freistellung von der Arbeit für näher bestimmte allgemeine oder persönliche Zwecke unter Fortzahlung des Entgelts. Vom Erholungsurlaub unterscheidet sich die Arbeitsbefreiung durch die Zweckgebundenheit; der Unterschied zum Sonderurlaub liegt in der Fortzahlung des Entgelts. Im Übrigen setzt die Arbeitsbefreiung bereits begrifflich voraus, dass für den Arbeitnehmer unter regelmäßigen Umständen eine Pflicht zur Arbeitsleistung besteht, weshalb Arbeitsbefreiung zum Beispiel nicht bei Erholungsurlaub gewährt werden kann. Dasselbe gilt für die eigene Krankheit, die im EFZG gesetzlich geregelt ist. Die Befreiung von der Arbeitspflicht zur Pflege von pflegebedürftigen Angehörigen regelt § 2 PflegeZG.
II. Beispiele § 29 TVD Arbeitsbefreiung
2
(1) Als Flle nach § 616 BGB, in denen Beschftigte unter Fortzahlung des Entgelts nach § 21 im nachstehend genannten Ausmaß von der Arbeit freigestellt werden, gelten nur die folgenden Anlsse: a) Niederkunft der Ehefrau/der Lebenspartnerin im Sinne des Lebenspartnerschaftsgesetzes
ein Arbeitstag,
1 So etwa zur Provision BAG v. 28.7.1981 – 1 ABR 56/78, DB 1981, 2031. 2 So auch Küttner/Griese, Zielvereinbarung Rz. 20; zur Reichweite Däubler, NZA 2005, 793 ff. (796); a.A. Hesse in Moll, Münchener Anwaltshandbuch Arbeitsrecht, § 23 Rz. 114.
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Rz. 2 Teil 5 (4)
Arbeitsverhinderung
über deren Höhe der Betriebsrat mitbestimmen kann, soweit sie nicht bereits tariflich geregelt sind. Dasselbe gilt für vergleichbare leistungsbezogene Entgelte. Dies sind wie Akkord und Prämie solche, bei denen die Höhe der Vergütung unmittelbar durch das vom Arbeitnehmer erzielte Arbeitsergebnis beeinflusst wird1. Die Diskussion um die Reichweite des Mitbestimmungsrechts bei Zielvereinbarungen ist noch nicht abgeschlossen. Hier sind Fragen der betrieblichen Lohngestaltung betroffen und es liegt ein leistungsbezogener Entgeltbestandteil vor, so dass ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 und 11 BetrVG in Betracht kommt2. Bei tarifvertraglich geregelten Zielvereinbarungssystemen (vgl. Rz. 7) ist im Einzelfall zu prüfen, ob und inwieweit der TV eine abschließende Regelung enthält.
(4) Arbeitsverhinderung I. Zweck und Kontext Klauseln über Arbeitsverhinderungen sind regelmäßiger Bestandteil von TVen. Sie 1 werden dort jedoch in aller Regel unter der Überschrift „Arbeitsbefreiung“ geführt. Dies ist deshalb zutreffend, weil die Klauseln im Wesentlichen zu einer Konkretisierung der von § 616 BGB erfassten unverschuldeten Arbeitsversäumnis führen. Über § 616 BGB hinausgehend erfassen sie weitere anspruchsbegründende Tatbestände, etwa Arbeits- oder Dienstjubiläen oder die Teilnahme an bestimmten gewerkschaftlichen Veranstaltungen oder an Tarifverhandlungen. Unter dem Begriff der „Arbeitsbefreiung“ im Sinne der gängigen Tarifregelungen versteht man die vorübergehende Freistellung von der Arbeit für näher bestimmte allgemeine oder persönliche Zwecke unter Fortzahlung des Entgelts. Vom Erholungsurlaub unterscheidet sich die Arbeitsbefreiung durch die Zweckgebundenheit; der Unterschied zum Sonderurlaub liegt in der Fortzahlung des Entgelts. Im Übrigen setzt die Arbeitsbefreiung bereits begrifflich voraus, dass für den Arbeitnehmer unter regelmäßigen Umständen eine Pflicht zur Arbeitsleistung besteht, weshalb Arbeitsbefreiung zum Beispiel nicht bei Erholungsurlaub gewährt werden kann. Dasselbe gilt für die eigene Krankheit, die im EFZG gesetzlich geregelt ist. Die Befreiung von der Arbeitspflicht zur Pflege von pflegebedürftigen Angehörigen regelt § 2 PflegeZG.
II. Beispiele § 29 TVD Arbeitsbefreiung
2
(1) Als Flle nach § 616 BGB, in denen Beschftigte unter Fortzahlung des Entgelts nach § 21 im nachstehend genannten Ausmaß von der Arbeit freigestellt werden, gelten nur die folgenden Anlsse: a) Niederkunft der Ehefrau/der Lebenspartnerin im Sinne des Lebenspartnerschaftsgesetzes
ein Arbeitstag,
1 So etwa zur Provision BAG v. 28.7.1981 – 1 ABR 56/78, DB 1981, 2031. 2 So auch Küttner/Griese, Zielvereinbarung Rz. 20; zur Reichweite Däubler, NZA 2005, 793 ff. (796); a.A. Hesse in Moll, Münchener Anwaltshandbuch Arbeitsrecht, § 23 Rz. 114.
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Teil 5 (4) Rz. 2
Katalog typischer Tarifnormen
b) Tod der Ehegattin/des Ehegatten, der Lebenspartnerin/des Lebenspartners im Sinne des Lebenspartnerschaftsgesetzes, eines Kindes oder Elternteils
zwei Arbeitstage,
c) Umzug aus dienstlichem oder betrieblichem Grund an einen anderen Ort
ein Arbeitstag,
d) 25- und 40-jhriges Arbeitsjubilum
ein Arbeitstag,
e) Schwere Erkrankung aa) einer/eines Angehçrigen, soweit sie/er in demselben Haushalt lebt,
ein Arbeitstag im Kalenderjahr,
bb) eines Kindes, das das 12. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, wenn im laufenden Kalenderjahr kein Anspruch nach § 45 SGB V besteht oder bestanden hat,
bis zu vier Arbeitstage im Kalenderjahr,
cc) einer Betreuungsperson, wenn Beschftigte deshalb die Betreuung ihres Kindes, das das 8. Lebensjahr noch nicht vollendet hat oder wegen kçrperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung dauernd pflegebedrftig ist, bernehmen [muss],
bis zu vier Arbeitstage im Kalenderjahr.
Eine Freistellung erfolgt nur, soweit eine andere Person zur Pflege oder Betreuung nicht sofort zur Verfgung steht und die rztin/der Arzt in den Fllen der Doppelbuchstaben aa und bb die Notwendigkeit der Anwesenheit der/des Beschftigten zur vorlufigen Pflege bescheinigt. Die Freistellung darf insgesamt fnf Arbeitstage im Kalenderjahr nicht berschreiten. f) rztliche Behandlung von Beschftigten, wenn diese whrend der Arbeitszeit erfolgen muss, erforderliche nachgewiesene Abwesenheitszeit einschließlich erforderlicher Wegezeiten Niederschriftserklrung zu § 29 Abs. 1 Buchst. f: Die rztliche Behandlung erfasst auch die rztliche Untersuchung und die rztlich verordnete Behandlung. (2) Bei Erfllung allgemeiner staatsbrgerlicher Pflichten nach deutschem Recht, soweit die Arbeitsbefreiung gesetzlich vorgeschrieben ist und soweit die Pflichten nicht außerhalb der Arbeitszeit, gegebenenfalls nach ihrer Verlegung, wahrgenommen werden kçnnen, besteht der Anspruch auf Fortzahlung des Entgelts nach § 21 nur insoweit, als Beschftigte nicht Ansprche auf Ersatz des Entgelts geltend machen kçnnen. Das fortgezahlte Entgelt gilt in Hçhe des Ersatzanspruchs als Vorschuss auf die Leistungen der Kostentrger. Die Beschftigten haben den Ersatzanspruch geltend zu machen und die erhaltenen Betrge an den Arbeitgeber abzufhren. (3) Der Arbeitgeber kann in sonstigen dringenden Fllen Arbeitsbefreiung unter Fortzahlung des Entgelts nach § 21 bis zu drei Arbeitstagen gewhren. In begrndeten Fllen kann bei Verzicht auf das Entgelt kurzfristige Arbeitsbefreiung gewhrt werden, wenn die dienstlichen oder betrieblichen Verhltnisse es gestatten. 332 Steffan
Arbeitsverhinderung
Rz. 4 Teil 5 (4)
Protokollerklrung zu Absatz 3 Satz 2: Zu den „begrndeten Fllen“ kçnnen auch solche Anlsse gehçren, fr die nach Absatz 1 kein Anspruch auf Arbeitsbefreiung besteht (z.B. Umzug aus persçnlichen Grnden). (4) Zur Teilnahme an Tagungen kann den gewhlten Vertreterinnen/Vertretern der Bezirksvorstnde, der Landesbezirksvorstnde, der Landesfachbereichsvorstnde, der Bundesfachbereichsvorstnde, der Bundesfachgruppenvorstnde sowie des Gewerkschaftsrates bzw. entsprechender Gremien anderer vertragsschließender Gewerkschaften auf Anfordern der Gewerkschaften Arbeitsbefreiung bis zu acht Werktagen im Jahr unter Fortzahlung des Entgelts nach § 21 erteilt werden, sofern nicht dringende dienstliche oder betriebliche Interessen entgegenstehen. Zur Teilnahme an Tarifverhandlungen mit dem Bund und der VKA oder ihrer Mitgliedsverbnde kann auf Anfordern einer der vertragsschließenden Gewerkschaften Arbeitsbefreiung unter Fortzahlung des Entgelts nach § 21 ohne zeitliche Begrenzung erteilt werden. (5) Zur Teilnahme an Sitzungen von Prfungs- und von Berufsbildungsausschssen nach dem Berufsbildungsgesetz sowie fr eine Ttigkeit in Organen von Sozialversicherungstrgern kann den Mitgliedern Arbeitsbefreiung unter Fortzahlung des Entgelts nach § 21 gewhrt werden, sofern nicht dringende dienstliche oder betriebliche Interessen entgegenstehen.
III. Kommentierung 1. Verhältnis zu § 616 BGB Tarifklauseln über die Arbeitsverhinderung bzw. Arbeitsbefreiung stimmen mit § 616 3 BGB insoweit überein, als sie vom Prinzip „ohne Arbeit kein Lohn“ abweichen und zu dem Grundsatz „Entgeltzahlung trotz fehlender Arbeit“ übergehen. Allerdings unterscheiden sich tarifliche Arbeitsverhinderungsklauseln von der Regelung des § 616 BGB sowohl in den weiteren Voraussetzungen als auch in der Reichweite. Nach der gesetzlichen Regelung bleibt der Entgeltanspruch bestehen, wenn der Arbeitnehmer „für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit durch einen in seiner Person liegenden Grund ohne sein Verschulden an der Dienstleistung verhindert wird“. Welche konkreten Fälle davon erfasst sind, regelt § 616 BGB dagegen ebenso wenig wie die Frage, wie lange der Arbeitnehmer ohne Entgeltminderung von der Arbeit fernbleiben darf („verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit“). Zudem ist jeweils die Frage des Verschuldens zu klären. Tarifliche Klauseln konkretisieren und systematisieren all diese Fragen, sodass der Arbeitnehmer nur noch prüfen muss, ob der Anlass für seine begehrte Arbeitsbefreiung unter die Beispiele der jeweiligen Klausel fällt. Konkretisierungen des § 616 BGB durch TVe sind zulässig1 Dabei können Abwei- 4 chungen sowohl zugunsten als auch zu Ungunsten der Arbeitnehmer geregelt werden2. Bestimmt etwa ein TV, dass ein Arbeitnehmer bei der Niederkunft seiner Ehe1 BAG v. 18.1.2001 – 6 AZR 492/99, NZA 2002, 47; Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Arbeitsverhinderung/Arbeitsbefreiung Rz. 2. 2 ErfK/Preis, § 616 BGB Rz. 13.
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Teil 5 (4) Rz. 5
Katalog typischer Tarifnormen
frau einen Freistellungsanspruch hat, so gilt dies nach Ansicht des BAG nicht auch für den Fall der Niederkunft der nichtehelichen Lebensgefährtin1. Ebenfalls zulässig ist eine vollständige Abbedingung der gesetzlichen Regelung durch einen TV. Allerdings sind jeweils die Grundrechte zu beachten, insbesondere der Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 3 GG. Dabei haben die TV-Parteien eine weitgehende Gestaltungsfreiheit. Sie brauchen nicht die zweckmäßigste, vernünftigste und gerechteste Lösung zu wählen. Vielmehr genügt es, wenn es für die getroffene Regelung einen sachlich vertretbaren Grund gibt. Der Gleichheitsgrundsatz wird durch eine Tarifnorm erst dann verletzt, wenn die TV-Parteien es versäumt haben, tatsächliche Gleichheiten oder Ungleichheiten der zu ordnenden Lebensverhältnisse zu berücksichtigen, die so bedeutsam sind, dass sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise beachtet werden müssen2. 5 Ob in Fällen, die nicht von der tariflichen Regelung über Arbeitsbefreiung erfasst werden, ein Rückgriff auf § 616 BGB zulässig ist, muss durch Auslegung ermittelt werden. Dort, wo die tarifliche Regelung ausdrücklich bestimmt, dass „als Fälle des § 616 BGB […] nur die folgenden Anlässe“ gelten (vgl. § 29 TVöD, oben Rz. 2), bestehen die Ansprüche nur in den im TV selbst genannten Fällen und in dem dort vorgesehenen Umfang. Andere Fälle der Arbeitsverhinderung aus Gründen, die in der Person des Angestellten liegen, können einen Vergütungsanspruch nach § 616 BGB nicht begründen3. Die Regelung ist mithin abschließend. Anders kann es sein, wenn die tarifliche Regelung nur aufzählenden Charakter hat. Führt die tarifliche Regelung lediglich „beispielsweise“ an, in welchem Ausmaß der Lohn in bestimmten Fällen der Arbeitsverhinderung fortgezahlt wird, so liegt darin weder eine Beschränkung noch eine Abbedingung des § 616 BGB4. Dies gilt jedenfalls für die nicht in der Tarifregelung aufgeführten Fälle, sodass insoweit ein Rückgriff auf § 616 BGB möglich ist. Dagegen ist die tarifliche Regelung bezüglich der Beispielsfälle als abschließend zu sehen. 6 Keine Konkretisierung beinhalten die tariflichen Regelungen über die Arbeitsbefreiung hinsichtlich der Kausalität. D.h., dass Arbeitsbefreiung in diesem Sinne nur dann gewährt wird, wenn ansonsten Arbeitspflicht bestünde. Tritt somit ein Arbeitsbefreiungsgrund z.B. im Urlaub oder Sonderurlaub des Arbeitnehmers ein, besteht kein Anspruch aufgrund der tariflichen Regelung und auch nicht – soweit noch anwendbar – nach § 616 BGB5. Der Tag des Anlasses muss mithin auf einen Arbeitstag fallen, so dass auch Wochenenden und dienstplanmäßig freie Tage nicht berücksichtigt werden. Bei einem Anspruch auf Arbeitsbefreiung für mehrere Tage gilt dies analog; d.h. der Arbeitnehmer erhält ggf. Arbeitsbefreiung in geringerem Umfang, wenn einer der folgenden Tage kein Regel- bzw. dienstplanmäßiger Arbeitstag ist. Heiratet etwa ein Arbeitnehmer an einem Freitag und es stehen ihm laut tariflicher Regelung zwei Tage Arbeitsbefreiung zu, so erhält er (soweit der Samstag regelmäßig frei ist) nur für den Freitag einen Tag Arbeitsbefreiung.
1 BAG v. 18.1.2001 – 6 AZR 429/99, NZA 2002, 47; kritisch dazu Küttner/Griese, Arbeitsverhinderung, Rz. 18. 2 BAG v. 18.1.2001 – 6 AZR 492/99, NZA 2002, 47. 3 Vgl. BAG v. 18.1.2001 – 6 AZR 492/99, NZA 2002, 47; BAG v. 13.12.2001 – 6 AZR 30/01, NZA 2002, 1105. 4 BAG v. 25.4.1960 – 1 AZR 16/58, NJW 1960, 1686 = DB 1960, 699. 5 BAG v. 17.10.1985 – 6 AZR 571/82, AP Nr. 1 zu § 18 BAT.
334 Steffan
Arbeitsverhinderung
Rz. 9 Teil 5 (4)
2. Inhalt typischer Tarifklauseln Inhaltlich decken sich die gängigen tariflichen Regelungen zur Arbeitsbefreiung weit- 7 gehend mit den von § 616 BGB erfassten Fällen. Die klassischen Fälle sind die eigene Hochzeit bzw. neuerdings auch die Eintragung der Lebenspartnerschaft nach dem LPartG sowie ggf. die Hochzeit der Kinder, der Geschwister oder auch der Eltern (vgl. etwa § 8 EMTV Metall NRW, § 8 MTV Chemie), die silberne oder goldene Hochzeit der Eltern, die Geburt eigener Kinder, Todesfälle naher Angehöriger, eine schwere Erkrankungen naher Angehöriger und religiöse Feste wie Erstkommunion und Konfirmation der eigenen Kinder1. Hinzu kommen in den TVen häufig noch weniger „zwingende“ Anlässe wie Umzüge oder Arbeit- bzw. Dienstjubiläen (vgl. § 29 Abs. 1 Buchst. c und d TVöD, oben Rz. 2). Oftmals sehen tarifliche Klauseln Arbeitsbefreiung zur „Erfüllung allgemeiner staats- 8 bürgerlicher Pflichten“ (vgl. § 29 Abs. 2 TVöD, oben Rz. 2) oder gesetzlich auferlegter Pflichten aus öffentlichen Ehrenämtern (etwa § 22 Abs. 1 Buchst. j MTV Deutsche Telekom) vor. Diese Fälle sind gleichzeitig Fälle der persönlichen Verhinderung i.S.d. § 616 BGB2. Öffentliche Ehrenämter mit gesetzlicher Verpflichtung zur Übernahme sind z.B. das Amt des ehrenamtlichen Richters an ordentlichen Gerichten, den Arbeitsgerichten, den Sozialgerichten, den Verwaltungsgerichten und den Finanzgerichten. Schulungsveranstaltungen im Zusammenhang mit dem Ehrenamt sind nicht von der Arbeitsbefreiung umfasst3. Anderes soll für ein notwendiges Aktenstudium gelten4. Dies ist zweifelhaft, weil dem ehrenamtlichen Richter durchaus zuzumuten ist, Teile des Ehrenamtes, die nicht zwingend in die Arbeitszeit fallen, in seiner Freizeit wahrzunehmen. Auch das Amt eines Schöffen, das Amt als Mitglied eines Wahlvorstandes bei Bundestags-, Landtags, Kommunal- oder Europawahlen oder das Schiedsamt als vom Rat einer Kommune gewählte und ernannte Schiedsperson sind staatsbürgerliche Pflichten in diesem Sinne; dasselbe gilt für Pflichten in der Selbstverwaltung der Sozialversicherung5. Dagegen besteht keine gesetzliche Verpflichtung (und damit auch kein Anspruch auf Arbeitsbefreiung) zu der Tätigkeit eines ehrenamtlichen Bürgermeisters, zu einer Ratstätigkeit u. ä6. Damit ist auch die Kandidatur zu solchen öffentlichen Ämtern kein Fall von § 616 BGB oder tarifvertraglichen Regelungen zur Arbeitsbefreiung. Dasselbe gilt für die Wahrnehmung von Ämtern in privaten Vereinen7. Bei Behörden- und Gerichtsterminen wird man unterscheiden müssen. Erfolgen sie in 9 eigener Sache, sind sie dem privaten Lebensbereich zuzuordnen. Sofern sie zwingend in der Arbeitszeit liegen, hat der Arbeitnehmer zwar einen Anspruch auf Freistellung zur Wahrnehmung solcher Termine, allerdings nicht unter Fortzahlung des Entgelts. Soweit eine Inanspruchnahme von Gleitzeit nicht in Betracht kommt, muss der Arbeitnehmer Jahresurlaub, Sonderurlaub oder sonstigen unbezahlten Urlaub nehmen8. Besonders deutlich wird dies, wenn der Arbeitnehmer in einem gegen seinen Arbeit1 Vgl. die Aufzählung bei ErfK/Preis, § 616 BGB Rz. 4; ebenso Küttner/Griese, Arbeitsverhinderung, Rz. 3. 2 ErfK/Preis, § 616 BGB Rz. 5. 3 BAG v. 25.8.1982 – 4 AZR 1147/79, DB 1983, 183; HWK/Krause, § 616 BGB Rz. 28. 4 LAG Bremen v. 14.6.1990 – 3 Sa 132/89, AiB 1992, 50; HWK/Krause, § 616 BGB Rz. 28. 5 ErfK/Preis, § 616 BGB Rz. 5. 6 ErfK/Preis, § 616 BGB Rz. 5; HWK/Krause, § 616 BGB Rz. 28. 7 ErfK/Preis, § 616 BGB Rz. 5 m.w.N. 8 Küttner/Griese, Arbeitsverhinderung, Rz. 7.
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Teil 5 (4) Rz. 10
Katalog typischer Tarifnormen
geber geführten Prozess einen Gerichtstermin wahrnehmen muss1. Anderes gilt dagegen, wenn der Arbeitnehmer als Zeuge geladen ist. Dass die Verpflichtung, als Zeuge zu erscheinen und auszusagen, eine Pflicht nach deutschem Recht ist, folgt schon aus §§ 373 ff. ZPO und §§ 48 ff. ArbGG. Nach richtiger Ansicht des BAG muss der Begriff der „staatsbürgerlichen Pflicht“ im Sinne einer allgemeinen bürgerlichen Pflicht verstanden werden und zwar unabhängig von der Staatsbürgerschaft. Staatsbürgerliche Pflicht i.S.d. einschlägigen Tarifbestimmungen sind daher rechtliche Verpflichtungen, die auch Mitbürger mit anderer Staatsangehörigkeit erfüllen müssen2. 10
Aus den tarifvertraglichen Formulierungen folgt meist, dass der Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Falle der Arbeitsbefreiung für die Erfüllung gesetzlich auferlegter Pflichten aus Ehrenämtern insoweit nicht besteht, wie der Arbeitnehmer einen Ersatzanspruch geltend machen kann. In der Praxis wird allerdings die Entgeltzahlung fortgesetzt und mit dem Ersatzanspruch verrechnet. Der Arbeitnehmer ist dann ggf. verpflichtet, den Ersatzanspruch geltend zu machen und die erhaltenen Beträge an den Arbeitgeber abzuführen. Alternativ kann der Arbeitnehmer seinen Ersatzanspruch gemäß § 398 BGB an den Arbeitgeber abtreten, sodass der Anspruch durch den Arbeitgeber geltend gemacht werden kann.
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Sofern der Arbeitgeber aufgrund von landesgesetzlichen Regelungen verpflichtet ist, den Arbeitnehmer unter Fortzahlung des Arbeitsentgelts zum Dienst bei der freiwilligen Feuerwehr oder dem Katastrophenschutz (etwa Technisches Hilfswerk) frei zu stellen, wird die Erstattung nach den maßgebenden Regelungen vom Arbeitgeber beim zuständigen Kostenträger beantragt. Von der Arbeitsbefreiung bzw. Erstattungspflicht erfasst ist auch ein angemessener Zeitraum vor bzw. nach der Teilnahme an einem entsprechenden Einsatz3.
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Tätigkeiten in Gewerkschaften sind kein Fall der Arbeitsverhinderung i.S.d. § 616 BGB. Gleichwohl finden sich in TVen vielfach Regelungen dazu (vgl. etwa § 29 Abs. 4 TVöD, oben Rz. 2, sowie § 22 Abs. 1 Buchst. j–l MTV Deutsche Telekom). Meist geht es dabei um die Teilnahme an gewerkschaftlichen Tagungen und zum Teil auch an gewerkschaftlichen Lehrgängen. Ferner wird Arbeitsbefreiung auf tarifvertraglicher Basis z.B. auch zur Teilnahme an Tarifverhandlungen und Einigungsstellen oder zur Mitarbeit in Kommissionen (Tarifkommissionen, betriebliche paritätische Kommissionen) gewährt. Diese Arbeitsbefreiung ist in der Regel aus der Natur der Sache heraus nicht zeitmäßig definiert, sondern besteht im „erforderlichen Umfang“. Teilweise stehen die Arbeitsbefreiungen für gewerkschaftliche Tätigkeiten unter dem Vorbehalt, dass dringende dienstliche oder betriebliche Interessen nicht entgegenstehen.
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Die Krankheit des Arbeitnehmers ist seit der Geltung des EFZG kein Fall des § 616 BGB oder einer entsprechenden tarifvertraglichen Regelung. Dagegen stellt die unvor-
1 BAG v. 4.9.1985 – 7 AZR 249/83, AP Nr. 1 zu § 29 BMT-G II. 2 BAG v. 13.12.2001 – 6 AZR 30/01, NZA 2002, 1105 (1106). 3 Beispiel: Ein Arbeitnehmer wird bei einem Löscheinsatz der Freiwilligen Feuerwehr tätig. Der Einsatz beginnt um 17.00 Uhr und endet nach Mitternacht. Der Arbeitnehmer nimmt die Arbeit nach einer angemessenen Ruhepause erst im Laufe des Tages auf. In diesem Fall kann der Arbeitgeber beim Kostenträger den Arbeitsausfall für die Zeit bis zur Arbeitsaufnahme geltend machen.
336 Steffan
Arbeitsverhinderung
Rz. 15
Teil 5 (4)
hergesehene Erkrankung naher Angehöriger grundsätzlich ein persönliches Leistungshindernis i.S.d. § 616 BGB dar. Das gilt auch, soweit für Kinder ein Krankengeldanspruch nach § 45 Abs. 1 SGB V besteht. Diese Bestimmung ist gegenüber § 616 BGB insoweit subsidiär, als sie eine Entschädigung nur für den Fall vorsieht, dass der Arbeitnehmer keinen Anspruch auf Fortzahlung seiner Vergütung hat. Hingegen sehen tarifvertragliche Regelungen zum Teil vor, dass Arbeitsbefreiung unter Lohnfortzahlung nur dann gewährt wird, soweit kein Anspruch nach § 45 SGB V besteht (vgl. § 29 Abs. 1 Buchst. e bb TVöD, oben Rz. 2). Bei akuter Pflegebedürftigkeit naher Angehöriger regelt § 2 PflegeZG nur die Befreiung von der Arbeitspflicht, nicht jedoch die Frage die Vergütung. Hier gilt § 616 BGB1 oder die jeweilige tarifliche Bestimmung (vgl. § 29 Abs. 1 Buchst. e aa TVöD, oben Rz. 2). Bei Arztbesuchen während der Arbeitszeit ist zu differenzieren. Ist der Arbeitnehmer 14 zum Zeitpunkt des Arztbesuchs bereits arbeitsunfähig, kommt Entgeltfortzahlung nur nach dem EFZG in Betracht. Ist der Arbeitnehmer dagegen noch nicht arbeitsunfähig, wird Arbeitsbefreiung nur dann gewährt, wenn das Aufsuchen des Arztes während der Arbeitszeit erfolgen muss (vgl. § 29 Abs. 1 Buchst. f TVöD, oben Rz. 2). Voraussetzung ist eine medizinische Notwendigkeit, etwa bei akuten Beschwerden. Dasselbe gilt, wenn außerhalb akuter Beschwerden die Festlegung des Termins der Untersuchung nicht vom Arbeitnehmer beeinflusst werden kann, z.B. zur Blutabnahme im nüchternen Zustand2. 3. Anzeige-, Nachweis- und Genehmigungspflichten Die Verpflichtung zur Geltendmachung des Befreiungsanspruchs und ihre Modalitäten 15 hängen vom jeweiligen Anlass der Arbeitsbefreiung ab. Grundsätzlich ist der Arbeitnehmer nach Treu und Glauben verpflichtet, dem Arbeitgeber Anlass und Dauer der Arbeitsverhinderung so rechtzeitig vorher anzuzeigen, dass sich der Arbeitgeber auf den Arbeitsausfall einstellen kann3. Ist der Anlass unvorhersehbar, wie etwa bei Todesfällen oder plötzlichen Erkrankungen nahestehender Personen, muss die Information unverzüglich nachträglich erfolgen4. Auf Anforderung des Arbeitgebers ist der Grund nachzuweisen, der zur Arbeitsverhinderung führt bzw. den Anspruch auf Arbeitsbefreiung auslöst. Soweit der TV selbst dazu keine Regelungen enthält, folgt das aus der nach allgemeinen Regeln bestehenden Nachweispflicht5. Als Nachweis für gewerkschaftliche Tagungen etwa dürfte die Vorlage des Programms/der Tagesordnung in Betracht kommen, während für die Teilnahme an Tarifverhandlungen eine Einladung der Gewerkschaft ausreichend ist. Eine echte Genehmigungspflicht besteht jedenfalls in den im TV explizit aufgeführten Anlässen nicht. Anderes kann gelten, wenn die Tarifregelung noch generalklauselartig für sonstige dringende Fälle Arbeitsbefreiung gewährt (vgl. § 29 Abs. 3 TVöD, oben Rz. 2). Weil § 616 BGB tarifdispositiv ist, können die TV-Parteien auch die Modalitäten der Geltendmachung festlegen, doch beinhalten die TVe dazu meist keine Regelungen. Verstößt der Arbeitnehmer gegen seine Pflichten im Zusammenhang mit der Geltendmachung, lässt dies den Entgelt1 2 3 4 5
HWK/Krause, § 616 BGB Rz. 24. BAG v. 27.6.1990 – 5 AZR 365/89, NZA 1990, 894. HWK/Krause, § 616 BGB Rz. 45 m.w.N. BAG v. 27.6.1990 – 5 AZR 314/89, NZA 1991, 103; HWK/Krause, § 616 BGB Rz. 45 m.w.N. BAG v. 27.6.1990 – 5 AZR 314/89, NZA 1991, 103; MünchArbR/Boewer, § 70 Rz. 21; a.A. HWK/Krause, § 616 BGB Rz. 45: Nur bei Anhaltspunkten für Unregelmäßigkeiten.
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337
Teil 5 (4) Rz. 16
Katalog typischer Tarifnormen
anspruch unberührt. Es handelt sich indes um eine arbeitsvertragliche Nebenpflicht, deren Verletzung eine Abmahnung und/oder eine Kündigung nach sich ziehen kann. 4. Entgeltfortzahlung 16
Liegen die Voraussetzungen eines tariflichen Tatbestandes der Arbeitsbefreiung vor, hat der Arbeitnehmer einen Entgeltfortzahlungsanspruch. Dies ist meist ausdrücklich in der entsprechenden Tarifnorm („unter Fortzahlung des Entgelts“) geregelt. Für den Umfang gilt das Lohnausfallprinzip, d.h. der Arbeitnehmer ist grundsätzlich so zu stellen, wie er stünde, hätte er durchgehend gearbeitet1. Allerdings können die TV-Parteien aufgrund ihrer Dispositionsbefugnis auch definieren, welche Bestandteile (etwa regelmäßiges Entgelt einschließlich bestimmter Zulagen) das fortzuzahlende Entgelt ausmachen. Im Übrigen ist die tarifvertragliche Regelung, die eine „Fortzahlung der Vergütung“ vorsieht, so auszulegen, dass dem an Tarifverhandlungen teilnehmenden Arbeitnehmer der Nachtzuschlag nicht zusteht, der ihm ansonsten wegen seines schichtplanmäßigen Dienstes zugestanden hätte2.
(5) Arbeitszeit Literatur: Däubler, Der Arbeitsvertrag – ein Mittel zur Verlängerung der Wochenarbeitszeit?, DB 1989, 2534; Hanau, Möglichkeiten und Grenzen der Vereinbarungen von Lage und Dauer der Arbeitszeit, NZA-Beil. 2006, 34; Hegner/Bittelmeyer/van Bruggen/Heim/Kramer, Betriebliche Zeitgestaltung für die Zukunft, 2005; Heinze, Flexible Arbeitszeitmodelle, NZA 1997, 681; v. Hoyningen-Huene/Meyer-Krenz, Flexibilisierung des Arbeitsrechts durch Verlagerung tariflicher Regelungskompetenzen auf den Betrieb, ZfA 1988, 311; Leinemann, Wirkungen von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen auf das Arbeitsverhältnis, DB 1990, 732; Natzel, Bereitschaftsdienste – nicht nur eine Frage der Arbeitszeit, BB 2015, 2938; Schliemann, ArbZG, Kommentar, 2008; Schmidt, Flexible Arbeitszeiten, AuA 2016, 32; Wirtz, Gestaltungsmöglichkeiten bei der Verlängerung der täglichen Arbeitszeit nach dem ArbZG, BB 2014, 1397; Wisskirchen/Bissels, Arbeiten, wenn Arbeit da ist – Möglichkeiten und Grenzen der Vereinbarungsbefugnis zur Lage der Arbeitszeit, NZA-Beil. 2006, 24; Ziepke/Weiss, Kommentar zum MTV Metall NRW, 4. Aufl. 1998.
I. Zweck und Kontext 1 Arbeit und Entgelt stehen im Synallagma und bedingen sich damit. Deshalb ist die Arbeitszeitfrage auch immer mit Entgeltfragen verbunden, weshalb beide Dinge zu regeln, zu den Essentialia tarifvertraglicher Normierungen gehört3. Dennoch sollte man beide Fragen strikt auseinanderhalten4. Was arbeitszeitrechtlich möglich oder nicht möglich ist, hat nicht zugleich auch Auswirkungen auf das Entgelt. Insoweit ist also der Begriff der Arbeitszeit je nach Normenkontext im Einzelfall festzustellen5. Das ArbZG definiert in § 2 als Arbeitszeit die Zeit von Beginn bis zum Ende der 1 2 3 4 5
HWK/Krause, § 616 BGB Rz. 46. BAG v. 3.11.2004 – 4 AZR 543/03, NZA 2005, 1432. MünchArbR/Reichold, § 36 Rz. 83 spricht von „tarifvertraglichen Urgestein“. S. auch Wirtz, BB 2014, 1397. Wirtz, BB 2014, 1397.
338 Steffan/Natzel
Teil 5 (4) Rz. 16
Katalog typischer Tarifnormen
anspruch unberührt. Es handelt sich indes um eine arbeitsvertragliche Nebenpflicht, deren Verletzung eine Abmahnung und/oder eine Kündigung nach sich ziehen kann. 4. Entgeltfortzahlung 16
Liegen die Voraussetzungen eines tariflichen Tatbestandes der Arbeitsbefreiung vor, hat der Arbeitnehmer einen Entgeltfortzahlungsanspruch. Dies ist meist ausdrücklich in der entsprechenden Tarifnorm („unter Fortzahlung des Entgelts“) geregelt. Für den Umfang gilt das Lohnausfallprinzip, d.h. der Arbeitnehmer ist grundsätzlich so zu stellen, wie er stünde, hätte er durchgehend gearbeitet1. Allerdings können die TV-Parteien aufgrund ihrer Dispositionsbefugnis auch definieren, welche Bestandteile (etwa regelmäßiges Entgelt einschließlich bestimmter Zulagen) das fortzuzahlende Entgelt ausmachen. Im Übrigen ist die tarifvertragliche Regelung, die eine „Fortzahlung der Vergütung“ vorsieht, so auszulegen, dass dem an Tarifverhandlungen teilnehmenden Arbeitnehmer der Nachtzuschlag nicht zusteht, der ihm ansonsten wegen seines schichtplanmäßigen Dienstes zugestanden hätte2.
(5) Arbeitszeit Literatur: Däubler, Der Arbeitsvertrag – ein Mittel zur Verlängerung der Wochenarbeitszeit?, DB 1989, 2534; Hanau, Möglichkeiten und Grenzen der Vereinbarungen von Lage und Dauer der Arbeitszeit, NZA-Beil. 2006, 34; Hegner/Bittelmeyer/van Bruggen/Heim/Kramer, Betriebliche Zeitgestaltung für die Zukunft, 2005; Heinze, Flexible Arbeitszeitmodelle, NZA 1997, 681; v. Hoyningen-Huene/Meyer-Krenz, Flexibilisierung des Arbeitsrechts durch Verlagerung tariflicher Regelungskompetenzen auf den Betrieb, ZfA 1988, 311; Leinemann, Wirkungen von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen auf das Arbeitsverhältnis, DB 1990, 732; Natzel, Bereitschaftsdienste – nicht nur eine Frage der Arbeitszeit, BB 2015, 2938; Schliemann, ArbZG, Kommentar, 2008; Schmidt, Flexible Arbeitszeiten, AuA 2016, 32; Wirtz, Gestaltungsmöglichkeiten bei der Verlängerung der täglichen Arbeitszeit nach dem ArbZG, BB 2014, 1397; Wisskirchen/Bissels, Arbeiten, wenn Arbeit da ist – Möglichkeiten und Grenzen der Vereinbarungsbefugnis zur Lage der Arbeitszeit, NZA-Beil. 2006, 24; Ziepke/Weiss, Kommentar zum MTV Metall NRW, 4. Aufl. 1998.
I. Zweck und Kontext 1 Arbeit und Entgelt stehen im Synallagma und bedingen sich damit. Deshalb ist die Arbeitszeitfrage auch immer mit Entgeltfragen verbunden, weshalb beide Dinge zu regeln, zu den Essentialia tarifvertraglicher Normierungen gehört3. Dennoch sollte man beide Fragen strikt auseinanderhalten4. Was arbeitszeitrechtlich möglich oder nicht möglich ist, hat nicht zugleich auch Auswirkungen auf das Entgelt. Insoweit ist also der Begriff der Arbeitszeit je nach Normenkontext im Einzelfall festzustellen5. Das ArbZG definiert in § 2 als Arbeitszeit die Zeit von Beginn bis zum Ende der 1 2 3 4 5
HWK/Krause, § 616 BGB Rz. 46. BAG v. 3.11.2004 – 4 AZR 543/03, NZA 2005, 1432. MünchArbR/Reichold, § 36 Rz. 83 spricht von „tarifvertraglichen Urgestein“. S. auch Wirtz, BB 2014, 1397. Wirtz, BB 2014, 1397.
338 Steffan/Natzel
Arbeitszeit
Rz. 5 Teil 5 (5)
Arbeit ohne Ruhepausen. Was aber wiederum Arbeit ist, lässt es offen. Um etwas als Arbeit zu charakterisieren, muss der Arbeitnehmer zumindest dem Arbeitgeber zur Leistung der versprochenen Dienste an dem vom Arbeitgeber bestimmten Ort zur Verfügung stehen. Ob er während dieser Zeit verwertbare Arbeitsleistung erbringt, ist arbeitszeitrechtlich irrelevant. Bei der Gestaltung von Arbeitszeit geht es darum, den betrieblichen Notwendigkeiten 2 Rechnung zu tragen, um so die Arbeitskraft des Arbeitnehmers sinnvoll in Anspruch nehmen zu können und zugleich eine optimale Nutzung der im Betrieb eingesetzten materiellen Arbeitsmittel zu gewährleisten. So stehen als Ziele der Arbeitszeitgestaltung im Vordergrund1: – Verkürzung der Durchlaufzeiten und Lieferfristen – bessere Nutzung von (insb. kapitalintensiven) Betriebsmitteln durch bewegliche Kopplung von Arbeits- und Betriebszeiten – wirksamer Einsatz von Arbeitskräften durch Verringerung von Leerlaufzeiten – kundengerechte Ansprech- und Öffnungszeiten – reibungslose innerbetriebliche Kommunikation – Vermeidung zuschlagspflichtiger Mehrarbeit – Erhöhung von Arbeitsmotivation und -zufriedenheit – Senkung des Krankenstandes – Vermeidung teurer Kündigungen und Sozialpläne. Die betrieblichen Notwendigkeiten haben in der Vergangenheit immer mehr zu einer 3 Flexibilisierung der arbeitszeitrechtlichen Vorgaben geführt, die auf den Betrieb zugeschnittene Arbeitszeitlösungen zulassen. Hierbei handelt es sich allerdings nicht um eine Einbahnstraße; denn Flexibilisierung zielt auf die betrieblichen Belange ebenso ab wie auf die Belange der Beschäftigten im Sinne der Schaffung einer sog. work-lifebalance. Zunehmend kommt der Arbeitszeit aber auch eine Bedeutung im Hinblick auf das 4 Arbeitsleben insgesamt zu. Galt es bislang, durch Modelle des Vorruhestandes und der Altersteilzeit auf die Dauer des Arbeitslebens Einfluss zu nehmen, geschieht dies nunmehr verstärkt durch langfristig angelegte Arbeitszeitkonten, die – wenn auch nicht nur, so aber doch primär – aus mit der Arbeit verbundenem Zeitguthaben gespeist werden. Die Arbeitszeit hat sich zunächst nach den Vorgaben des ArbZG zu orientieren. Dieses 5 definiert in § 2 Abs. 1 ArbZG als Arbeitszeit die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen. Weiter ging der EuGH in seiner SIMAP-Entscheidung2 aus dem Jahr 2000. Dort definierte er die Arbeitszeit als „jede Zeitspanne, während derer ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflo-
1 Zu Folgendem s. Heinze, NZA 1997, 681; Hegner u.a., S. 5 ff. 2 EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98, NZA 2000, 1227.
Natzel
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Teil 5 (5) Rz. 6
Katalog typischer Tarifnormen
genheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeiten ausübt oder Aufgaben wahrnimmt“. Zwar hat der Gesetzgeber diesen weiten Arbeitszeitbegriff nicht in das nationale Recht übernommen, wohl aber den Bereitschaftsdienst in Umsetzung dieser Rechtsprechung der Arbeitszeit zugerechnet1. Dies hat auch die TVParteien – jedenfalls, soweit diese Systeme der Arbeitsbereitschaft tarifieren – zu einer Anpassung ihrer TVe veranlasst. 6 Die heute gängigen tarifvertraglichen Rahmenregelungen legen zunächst die Dauer der Arbeitszeit fest. „Dauer der Arbeitszeit“ meint den Umfang der geschuldeten Arbeitszeit. Bislang war es üblich, die Dauer der Arbeitszeit wochenbezogen festzulegen. So bestimmt bspw. § 3 EMTV für die nordrhein-westfälische Metall- und Elektroindustrie „die tarifliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit ohne Pausen“. Die Arbeitszeit kann hier mit Zustimmung des Beschäftigten auf bis zu 40 Stunden verlängert werden, wovon allerdings nur bezogen auf einen Teil der Belegschaft von 18 % Gebrauch gemacht werden darf. Ähnliches gilt für den Bereich der chemischen Industrie, wofür eine tarifliche wöchentliche Regelarbeitszeit von 37,5 Stunden festgelegt ist, von der aber im Rahmen eines von 35 bis 40 Wochenstunden umfassenden Arbeitszeitkorridor nach unten wie nach oben abgewichen werden kann. 7 Inzwischen werden aber auch Jahresarbeitszeitmodelle vereinbart. Hierfür enthält bspw. der BRTV Garten-, Landschafts- und Sportplatzbau in seinem § 4a eine Öffnungsklausel, wonach in Betrieben oder selbständigen Betriebsabteilungen Jahresarbeitszeitvereinbarungen in Betrieben mit Betriebsrat durch Betriebsvereinbarung, in Betrieben ohne Betriebsrat durch individuelle, schriftliche Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer getroffen werden können. Für die Praxis macht es allerdings keinen Unterschied, ob die Arbeitszeit jahresbezogen festgelegt ist oder vorgesehen ist, dass die regelmäßige tarifliche wöchentliche Arbeitszeit in einem sog. Verteilzeitraum erreicht werden kann2. Von einem solchen spricht man, soweit es um die Frage geht, wie das geschuldete Arbeitszeitvolumen über einen bestimmten Zeitraum hinweg verteilt wird. Mittels der Arbeitszeitverteilung wird erreicht, dass die Arbeit flexibel abgerufen werden kann, ohne dass dies zu einem schwankenden Einkommen führt. Eine Ausnahme ergibt sich, was die Vergütungsfrage anbetrifft, lediglich hinsichtlich solcher Zuschläge, die wie im Falle der steuerbegünstigten Sonn-, Feiertags- oder Nachtarbeit von tatsächlicher Arbeitsleistung abhängig sind. Zur Gestaltung flexibler Arbeitszeitmodelle und Verteilung der Arbeitszeit unter gleichbleibender Zahlung des Arbeitsentgelts bedarf es Arbeitszeitkonten, die in Zeit oder Geld geführt werden. Während in Zeit geführte Konten zur flexiblen Gestaltung der werktäglichen oder wöchentlichen Arbeitszeit oder zum Ausgleich betrieblicher Produktions- und Arbeitszeitzyklen nach den aktuellen sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen nur für Freistellungen bis zu maximal drei Monaten genutzt werden können (vgl. § 7 Abs. 1a Satz 2 SGB IV), lassen sich länger andauernde Freistellungen nur über in Arbeitsentgelt geführte Wertguthaben realisieren.
1 S. auch Schliemann, § 2 ArbZG Rz. 5 ff. 2 So bspw. in § 2 I Ziff. 1 MTV Chemie, wonach die regelmäßige tarifliche oder abweichend festgelegte wöchentliche Arbeitszeit auch im Durchschnitt eines Verteilzeitraums von bis zu 12 Monaten erreicht werden kann; dieser kann auf bis zu 36 Mon. verlängert werden. Einen Verteilzeitraum von längstens sechs Monaten sieht § 4 Ziff. 1 EMTV für die Metall- und Elektroindustrie NRW vor.
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Arbeitszeit
Rz. 9 Teil 5 (5)
Während die Dauer in aller Regel – ggf. zusammen mit der Festlegung von Abwei- 8 chungsmöglichkeiten – tarifvertraglich vorgegeben ist, ist die Festlegung der Lage der Arbeitszeit, also der Zeit, zu der konkret die Arbeitsleistung zu erbringen ist, regelmäßig in die Hand der Betriebs- bzw. Individualvertragsparteien gelegt1. Haben diese die Lage der Arbeitszeit nicht konkretisieret, obliegt deren Festlegung dem Arbeitgeber im Rahmen des ihm nach § 106 GewO zustehenden Direktionsrechts; er hat dabei allerdings das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach Maßgabe des § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG zu beachten. Unstreitig kann von der tarifvertraglich festgelegten Dauer der Arbeitszeit zugunsten 9 des Arbeitnehmers abgewichen werden. Er kann also mit weniger Arbeit betraut werden. Dies gilt jedenfalls, soweit damit keine Entgelteinbußen verbunden sind. Ansonsten bedarf es einer kollektiv- oder individualvertraglichen Rechtsgrundlage, aufgrund derer mit unmittelbarer Wirkung für das Entgelt in den Umfang der geschuldeten Arbeitsleistung eingegriffen werden kann2. Als problematisch wird indes der Fall angesehen, in dem der Individualvertrag eine längere Arbeitszeit als die tarifvertragliche vorsieht – das auch dann, wenn mit dem Mehr an Arbeit ein entsprechendes Mehr an Vergütung verbunden ist. Hier stellt sich dann die Frage, ob eine derartige Vereinbarung kraft Günstigkeit Bestand hat. Fest steht zunächst, dass eine Argumentation über die öffentliche Schutzfunktion arbeitszeitrechtlicher Tarifregelungen obsolet ist; denn den Gründen des Gesundheitsschutzes trägt bereits der Gesetzgeber mit seinen Regelungen im ArbZG Rechnung3. Richtigerweise wird man eine individualvertragliche Regelung über die Höhe der Arbeitszeit im Zusammenhang mit deren Vergütung sehen und einer Prüfung zuführen müssen. Bleibt das synallagmatische Austauschverhältnis gewahrt oder steigt gar für das Mehr an Arbeitsleistung auch die Höhe der im Einzelnen zu leistenden Vergütung, ist von einer neutralen oder gar günstigeren Regelung für den Arbeitnehmer auszugehen. Dies zu vereinbaren, obliegt den Arbeitsvertragsparteien im Rahmen der von ihnen ausgeübten Privatautonomie4. Um diese geht es und nicht um die Tarifautonomie, aus der über den Weg des Günstigkeitsvergleichs ein zentraler Regelungsgegenstand herausgebrochen sein soll5. Jedes andere Ergebnis würde die Funktion von TVen als ein die Privatautonomie stärkendes Instrument6 verkennen. Somit ist davon auszugehen, dass das Günstigkeitsprinzip grundsätzlich auch Anwendung findet, soweit es um das Abweichen von tarifvertraglichen Arbeitszeitregelungen geht. Eine andere Frage ist die nach dem zu treffenden Günstigkeitsmaßstab. Hier wird man das objektiv zu beurteilende Interesse des einzelnen Arbeitnehmers heranzuziehen haben. Um dem Rechnung zu tragen, wird teilweise nicht nur auf 1 Hanau, NZA-Beil. 2006, 34, bringt es daher auf die Formel „Die Lage der Arbeitszeit ist recht flexibel, die Dauer der Arbeitszeit recht unflexibel“. 2 S. in diesem Zusammenhang zum klassischen Fall der Arbeitszeitverkürzung im Rahmen von Kurzarbeit: Säcker/Oetker, ZfA 1991, 131. 3 Leinemann, DB 1990, 734; MünchArbR/Reichold, § 36 Rz. 85. 4 S. insoweit auch Heinze, NZA 1997, 684, wonach stets schon dann von einer günstigeren Regelung auszugehen ist, wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer tariflich oder betriebsverfassungsrechtlich begründete Arbeitszeitmodelle neben individuellen Arbeitszeitmodellen zur Wahl stellt und der Arbeitnehmer sich für das individuelle Modell entscheidet; vgl. ferner Hanau, NZA-Beil. 2006, 34, der die Freiheit des Arbeitnehmers zur Verwertung seiner Arbeitskraft unter den Schutz des Art. 12 GG gestellt und einen Eingriff darin nur für den Fall als gerechtfertigt ansieht, wenn ein unmittelbarer Bezug zur Beschäftigungssicherung gegeben ist. 5 So nämlich Däubler, DB 1989, 2534. 6 S. dazu Heinze, NZA 1991, 331; Natzel, NZA 2005, 904.
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die Interessenlage bei Vereinbarung der höheren Arbeitszeit abgestellt, sondern auch darauf, ob dem Arbeitnehmer die Möglichkeit eingeräumt ist, jederzeit in angemessener Frist zur tariflichen Arbeitszeitregelung zurückkehren zu können1. Durch ein solches Rückkehrrecht zur tariflich fixierten Normalarbeitszeit wird es dem einzelnen Arbeitnehmer in die Hand gegeben zu entscheiden, was er für das für ihn günstigere Ergebnis hält2.
II. Beispiele 10
§ 2 MTV Chemie – Regelmßige Arbeitszeit I. Dauer und Verteilung der Arbeitszeit 1. Die regelmßige tarifliche wçchentliche Arbeitszeit an Werktagen betrgt ausschließlich der Pausen 37,5 Stunden. Sie gilt nicht fr Teilzeitbeschftigte und Arbeitnehmer mit Arbeitsbereitschaft im Sinne des § 5. Die regelmßige tarifliche oder abweichend festgelegte wçchentliche Arbeitszeit kann auch im Durchschnitt eines Verteilzeitraums von bis zu 12 Monaten erreicht werden. Bei der Verteilung der regelmßigen Arbeitszeit kann die tgliche Arbeitszeit bis zu 10 Stunden betragen. Im brigen werden die Mçglichkeiten der Verteilung der Arbeitszeit nach den gesetzlichen Bestimmungen nicht berhrt. Durch freiwillige Betriebsvereinbarung kçnnen Arbeitgeber und Betriebsrat den Verteilzeitraum auf bis zu 36 Monate verlngern. In diesem Fall gilt fr § 7d Absatz 1 Ziffer 2 des Sozialgesetzbuches IV der in der Betriebsvereinbarung festgelegte Zeitraum, hçchstens jedoch 36 Monate. Im Rahmen flexibler Arbeitszeitregelungen, die unterschiedliche tgliche Arbeitszeiten ermçglichen, ist durch Betriebsvereinbarung die zeitliche Lage der betrieblichen Normalarbeitszeit festzulegen. Die betriebliche Normalarbeitszeit ist u.a. Grundlage fr die Berechnung der Entgeltfortzahlung ohne Arbeitsleistung. Wird wçchentlich an fnf Werktagen gearbeitet, so betrgt die betriebliche tgliche Normalarbeitszeit ein Fnftel der regelmßigen tariflichen wçchentlichen Arbeitszeit, soweit betrieblich keine andere tgliche Arbeitszeit vereinbart worden ist. Bei gleitender Arbeitszeit wird, wenn sich Arbeitgeber und Betriebsrat nicht einigen, abweichend von Absatz 4 die wçchentliche Sollarbeitszeit bei der Arbeitszeitverkrzung von 39 auf 37,5 Stunden um 1,5 Stunden reduziert. 2. Fr Wechselschichtarbeitnehmer in vollkontinuierlichen und teilkontinuierlichen Betrieben betrgt die regelmßige wçchentliche Gesamtarbeitszeit ausschließlich der Pausen 37,5 Stunden. Eine geringfgige durch den Schichtplan bedingte berschreitung der 37,5 Stunden ist mit Zustimmung des Betriebsrats zulssig. In vollkontinuierlichen Betrieben bleibt es der betrieblichen Vereinbarung berlassen, zur Erreichung zustzlicher Sonntagsfreischichten Schichten bis zu 12 Stunden an Sonntagen einzulegen.
1 Löwisch, BB 1991, 62; MünchArbR/Reichold, § 36 Rz. 84. 2 v. Hoyningen-Huene/Meyer-Krenz, ZfA 1988, 313.
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Arbeitszeit
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Die Arbeitszeiten in vollkontinuierlichen und teilkontinuierlichen Betrieben sind im Rahmen eines betrieblichen Schichtplans zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat zu vereinbaren unter Zugrundelegung eines Verteilzeitraums von bis zu 12 Monaten. Die tgliche Arbeitszeit kann auf 12 Stunden verlngert werden, wenn in die Arbeitszeit regelmßig und in erheblichem Umfang Arbeitsbereitschaft fllt1; Absatz 2 bleibt unberhrt. 3. Fr einzelne Arbeitnehmergruppen oder mit Zustimmung der Tarifvertragsparteien fr grçßere Betriebsteile oder ganze Betriebe kann im Einvernehmen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat abweichend von der regelmßigen tariflichen wçchentlichen Arbeitszeit eine bis zu zweieinhalb Stunden lngere oder krzere regelmßige Arbeitszeit festgelegt werden. Die Arbeitnehmer haben Anspruch auf eine der vereinbarten Arbeitszeit entsprechende Bezahlung. Diese Arbeitnehmer erhalten zustzliches Urlaubsgeld und vermçgenswirksame Leistungen in gleicher Hçhe wie vollzeitbeschftigte Arbeitnehmer. 4. Durch Betriebsvereinbarung kçnnen Arbeitgeber und Betriebsrat abweichend von § 5 Absatz 1 ArbZG die Ruhezeit in Ausnahmefllen um bis zu 2 Stunden krzen, wenn die Art der Arbeit dies erfordert und die Krzung der Ruhezeit innerhalb eines Ausgleichszeitraums von 6 Monaten ausgeglichen wird. II. Beginn und Ende der Arbeitszeit Beginn und Ende der regelmßigen tglichen Arbeitszeit und der Pausen werden betrieblich im Einvernehmen mit dem Betriebsrat geregelt. III. Pausen Den Arbeitnehmern sind mindestens die gesetzlich vorgeschriebenen Pausen zu gewhren. Pausen sind in ihrem Beginn und Ende gleichbleibende oder vorhersehbare Unterbrechungen der Arbeitszeit von bestimmter Dauer, sie dienen der Erholung. Wird der Arbeitnehmer whrend einer Pause ausnahmsweise zur Leistung von Arbeit herangezogen, so ist die Zeit der Unterbrechung der Pause als Arbeitszeit zu bezahlen. Die dabei ausgefallene Pausenzeit ist am gleichen Tage nachzugewhren, falls nicht ausnahmsweise dringende betriebliche Grnde eine Nachgewhrung verhindern. (…) Arbeitnehmer in voll- und teilkontinuierlicher Wechselschichtarbeit kçnnen statt fester Ruhepausen Kurzpausen von angemessener Dauer gewhrt werden. Diese Kurzpausen gelten als Arbeitszeit und sind entsprechend zu bezahlen. (…)
1 Die Tarifvertragsparteien sind sich einig, dass Regelungen nach § 5 nicht unter diese Bestimmung fallen und dass in den Betrieben, in denen bisher 12-Stunden-Schichtsysteme praktiziert wurden, diese einschließlich der Pausenregelungen weitergeführt werden können.
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IV. Frhschluss (…) V. Gleitende Arbeitszeit Gleitende Arbeitszeit kann durch Betriebsvereinbarung eingefhrt werden. Bei gleitender Arbeitszeit kann die tgliche Arbeitszeit bis zu 10 Stunden betragen. Zeitschulden oder Zeitguthaben sind im Abrechnungszeitraum auszugleichen. Betrieblich ist festzulegen, bis zu welcher Hçhe Zeitguthaben oder Zeitschulden in den nchsten Abrechnungszeitraum bertragen werden kçnnen. Die zu bertragenden Zeitguthaben oder Zeitschulden drfen jedoch 16 Stunden nicht berschreiten. Kann der Zeitausgleich wegen Krankheit, Urlaub, Dienstreise oder aus hnlichen Grnden nicht erfolgen, so ist er sptestens im darauffolgenden Abrechnungszeitraum vorzunehmen. Beginn, Ende und Dauer der Pausen kçnnen variabel gestaltet werden. Die gesetzlichen Vorschriften ber die Mindestdauer und ber die zeitliche Lage der Ruhepausen sind zu beachten. Zeitguthaben und Zeitschulden bleiben bei der Ermittlung der Hçhe des Urlaubsentgelts, bei der Entgeltfortzahlung nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz und bei entsprechenden gesetzlichen, tariflichen oder betrieblichen Leistungen des Arbeitgebers außer Ansatz. Zuschlagspflichtige Mehrarbeit ist die ber die Dauer der betrieblichen Normalarbeitszeit ausschließlich der Pausen hinausgehende Arbeit, soweit sie ausdrcklich angeordnet war. Zeitguthaben sind keine Mehrarbeit. Der Ausgleich von Zeitguthaben darf nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Urlaub erfolgen. In den Fllen der Freistellung von der Arbeit ist bei der Entgeltfortzahlung die zeitliche Lage der betrieblichen Normalarbeitszeit zugrunde zu legen. Wird wçchentlich an 5 Werktagen gearbeitet, so betrgt die betriebliche tgliche Normalarbeitszeit ein Fnftel der regelmßigen tariflichen wçchentlichen Arbeitszeit, soweit betrieblich oder arbeitsvertraglich keine andere tgliche Arbeitszeit vereinbart worden ist. ber eine Aussetzung der Regelung der gleitenden Arbeitszeit ist der Betriebsrat unverzglich zu unterrichten, sofern nicht nur einzelne Arbeitnehmer betroffen sind. Soll die Regelung der gleitenden Arbeitszeit fr mehr als zwei aufeinanderfolgende Arbeitstage ausgesetzt werden, so ist hierfr das Einvernehmen mit dem Betriebsrat erforderlich, sofern nicht nur einzelne Arbeitnehmer betroffen sind. 11
§ 5 MTV Chemie: Arbeitszeit der Arbeitnehmer mit Arbeitsbereitschaft I. 1. Fr Arbeitnehmer, in deren Arbeitszeit regelmßig und in erheblichem Umfange Arbeitsbereitschaft enthalten ist, kann die regelmßige wçchentliche Gesamtarbeitszeit auf 46,5 Stunden wçchentlich (10 Stunden tglich) ausgedehnt werden. Fr 344 Natzel
Arbeitszeit
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LKW-Fahrer und Beifahrer darf die regelmßige wçchentliche Gesamtarbeitszeit 45 Stunden wçchentlich (10 Stunden tglich) nicht berschreiten. 2. Arbeitsbereitschaft liegt vor, wenn der Arbeitnehmer an seinem Arbeitsplatz im Betrieb oder an einer sonstigen vom Arbeitgeber bestimmten Stelle ohne Entfaltung seiner vollen Arbeitsttigkeit anwesend und jederzeit in der Lage ist, sofort volle Arbeitsttigkeit zu entfalten (…) 3. (…) II. Fr solche Arbeitnehmer, deren hçchstens 24stndige Anwesenheitszeit im Betrieb sich unterteilt in Arbeit, Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsruhe … gilt folgende Regelung: 1. Zu der regelmßigen tglichen 8stndigen Arbeitszeit tritt eine regelmßige tgliche Arbeitsbereitschaft bis zu 8 Stunden und eine regelmßige tgliche Bereitschaftsruhezeit von mindestens 8 Stunden. Auf die Anwesenheitszeit im Betrieb (Arbeits-, Arbeitsbereitschafts- und Bereitschaftsruhezeit) muss regelmßig jeweils eine Freizeit gleicher Lnge folgen. Außerdem sind jhrlich 35 weitere 24stndige Freizeiten in mçglichst gleichmßiger Verteilung zu gewhren. 2. Whrend der nach Ziff. 1 zulssigen Arbeitsbereitschaftszeit darf der Arbeitnehmer zustzlich zu der regelmßigen tglichen Arbeitszeit nach Ziff. 1 bis zu 3 Stunden nur zu solchen Arbeitsleistungen herangezogen werden, die in den betrieblichen Aufgabenbereich der oben genannten Arbeitnehmergruppen fallen oder ihm durch schriftlichen Arbeitsvertrag bertragen wurden. Entstehen Zweifel ber den betrieblichen Aufgabenbereich, so sollen Arbeitgeber und Betriebsrat ihn gemeinsam klren. (…) 11a
§ 6 MTV Chemie: Waschzeit und Umkleidezeit 1. Ist infolge besonders starker Verschmutzung oder aus gesundheitlichen Grnden eine sorgfltige Reinigung erforderlich, so wird tglich eine bezahlte Waschzeit gewhrt. Welche Gruppen der Arbeitnehmer darauf Anspruch haben, wie die Dauer der Waschzeit zu bemessen und in welche Zeit sie zu legen ist, wird durch Betriebsvereinbarung geregelt. 2. Ist bei der Arbeit das Tragen einer bestimmten Berufskleidung und deshalb das Umkleiden im Betrieb durch den Arbeitgeber angeordnet, wird durch eine Betriebsvereinbarung unter Bercksichtigung der jeweiligen betrieblichen blichkeit geregelt, ob und gegebenenfalls wie ein Ausgleich fr die hierfr erforderliche Zeit erfolgt.
12
§ 3 EMTV: Dauer der regelmßigen Ausbildungszeit/Arbeitszeit 1. Die tarifliche regelmßige wçchentliche Arbeitszeit ohne Pausen betrgt 35 Stunden. 2. (…) Natzel
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Katalog typischer Tarifnormen
3. Soll fr einzelne Beschftigte die individuelle regelmßige wçchentliche Arbeitszeit auf bis zu 40 Stunden verlngert werden, bedarf dies der Zustimmung des/der Beschftigten. Lehnen Beschftigte die Verlngerung ihrer individuellen regelmßigen wçchentlichen Arbeitszeit ab, so darf ihnen daraus kein Nachteil entstehen. Bei der Vereinbarung einer solchen Arbeitszeit bis zu 40 Stunden hat der/die Beschftigte Anspruch auf eine dieser Arbeitszeit angemessene Bezahlung. Die vereinbarte Arbeitszeit kann auf Wunsch des/der Beschftigten oder des Arbeitgebers mit einer Ankndigungsfrist von 3 Monaten gendert werden, es sei denn, sie wird einvernehmlich frher gendert. Das Arbeitsentgelt wird dementsprechend angepasst. Der Arbeitgeber teilt dem Betriebsrat jeweils vierteljhrlich die Beschftigten mit verlngerter individueller regelmßiger wçchentlicher Arbeitszeit mit, deren Anzahl 18 % aller Beschftigten und Auszubildenden des Betriebs nicht berschreiten darf. (…) 13
§ 6 TVçD – Regelmßige Arbeitszeit1 (1) Die regelmßige Arbeitszeit betrgt ausschließlich der Pausen fr a) die Beschftigten des Bundes durchschnittlich 39 Stunden wçchentlich, b) die Beschftigten der Mitglieder eines Mitgliedverbandes der VKA im Tarifgebiet West durchschnittlich 38,5 Stunden wçchentlich, im Tarifgebiet Ost durchschnittlich 40 Stunden wçchentlich; im Tarifgebiet West kçnnen sich die Tarifvertragsparteien auf landesbezirklicher Ebene darauf einigen, die regelmßige wçchentliche Arbeitszeit auf bis zu 40 Stunden zu verlngern. Bei Wechselschichtarbeit werden die gesetzlich vorgeschriebenen Pausen in die Arbeitszeit eingerechnet. Die regelmßige Arbeitszeit kann auf fnf Tage, aus notwendigen betrieblichen/dienstlichen Grnden auch auf sechs Tage verteilt werden. (2) Fr die Berechnung des Durchschnitts der regelmßigen wçchentlichen Arbeitszeit ist ein Zeitraum von bis zu einem Jahr zugrunde zu legen. Abweichend von Satz 1 kann bei Beschftigten, die stndig Wechselschicht- oder Schichtarbeit zu leisten haben, ein lngerer Zeitraum zugrunde gelegt werden. (3) (…) (4) (…) (5) Die Beschftigten sind im Rahmen begrndeter betrieblicher/dienstlicher Notwendigkeiten zur Leistung von Sonntags-, Feiertags-, Nacht-, Wechselschicht-, Schichtarbeit sowie – bei Teilzeitbeschftigung aufgrund arbeitsvertraglicher Regelung oder mit ihrer Zustimmung – zu Bereitschaftsdienst, Rufbereitschaft, berstunden und Mehrarbeit verpflichtet. 1 Der TV-Text ist ohne die dazugehörigen Protokollnotizen abgedruckt.
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Arbeitszeit
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Teil 5 (5)
(6) Durch Betriebs-/Dienstvereinbarung kann ein wçchentlicher Arbeitszeitkorridor von bis zu 45 Stunden eingerichtet werden. Die innerhalb eines Arbeitszeitkorridors geleisteten zustzlichen Arbeitsstunden werden im Rahmen des nach Absatz 2 Satz 1 festgelegten Zeitraums ausgeglichen. (7) Durch Betriebs-/Dienstvereinbarung kann in der Zeit von 6 bis 20 Uhr eine tgliche Rahmenzeit von bis zu zwçlf Stunden eingefhrt werden. Die innerhalb der tglichen Rahmenzeit geleisteten zustzlichen Arbeitsstunden werden im Rahmen des nach Absatz 2 Satz 1 festgelegten Zeitraums ausgeglichen. (8) Die Abstze 6 und 7 gelten nur alternativ und nicht bei Wechselschicht- und Schichtarbeit. (9) (…) 14
§ 7 TVçD – Sonderformen der Arbeit (1) Wechselschichtarbeit ist die Arbeit nach einem Schichtplan, der einen regelmßigen Wechsel der tglichen Arbeitszeit in Wechselschichten vorsieht, bei denen Beschftigte durchschnittlich lngstens nach Ablauf eines Monats erneut zur Nachtschicht herangezogen werden. Wechselschichten sind wechselnde Arbeitsschichten, in denen ununterbrochen bei Tag und Nacht, werktags, sonntags und feiertags gearbeitet wird. Nachtschichten sind Arbeitsschichten, die mindestens zwei Stunden Nachtarbeit umfassen. (2) Schichtarbeit ist die Arbeit nach einem Schichtplan, der einen regelmßigen Wechsel des Beginns der tglichen Arbeitszeit um mindestens zwei Stunden in Zeitabschnitten von lngstens einem Monat vorsieht, und die innerhalb einer Zeitspanne von mindestens 13 Stunden geleistet wird. (3) Bereitschaftsdienst leisten Beschftigte, die sich auf Anordnung des Arbeitgebers außerhalb der regelmßigen Arbeitszeit an einer vom Arbeitgeber bestimmten Stelle aufhalten, um im Bedarfsfall die Arbeit aufzunehmen. (4) Rufbereitschaft leisten Beschftigte, die sich auf Anordnung des Arbeitgebers außerhalb der regelmßigen Arbeitszeit an einer dem Arbeitgeber anzuzeigenden Stelle aufhalten, um auf Abruf die Arbeit aufzunehmen. Rufbereitschaft wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass Beschftigte vom Arbeitgeber mit einem Mobiltelefon oder einem vergleichbaren technischen Hilfsmittel ausgestattet sind. (5) Nachtarbeit ist die Arbeit zwischen 21 Uhr und 6 Uhr. (6) Mehrarbeit sind die Arbeitsstunden, die Teilzeitbeschftigte ber die vereinbarte regelmßige Arbeitszeit hinaus bis zur regelmßigen wçchentlichen Arbeitszeit von Vollbeschftigten (§ 6 Abs. 1 Satz 1) leisten. (7) berstunden sind die auf Anordnung des Arbeitgebers geleisteten Arbeitsstunden, die ber die im Rahmen der regelmßigen Arbeitszeit von Vollbeschftigten (§ 6 Abs. 1 Satz 1) fr die Woche dienstplanmßig bzw. betriebsblich festgesetzten Arbeitsstunden hinausgehen und nicht bis zum Ende der folgenden Kalenderwoche ausgeglichen werden.
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Teil 5 (5) Rz. 15
Katalog typischer Tarifnormen
(8) Abweichend von Absatz 7 sind nur die Arbeitsstunden berstunden, die im Falle der Festlegung eines Arbeitszeitkorridors nach § 6 Abs. 6 ber 45 Stunden oder ber die vereinbarte Obergrenze hinaus, im Falle der Einfhrung einer tglichen Rahmenzeit nach § 6 Abs. 7 außerhalb der Rahmenzeit, im Falle von Wechselschicht- oder Schichtarbeit ber die im Schichtplan festgelegten tglichen Arbeitsstunden einschließlich der im Schichtplan vorgesehenen Arbeitsstunden, die bezogen auf die regelmßige wçchentliche Arbeitszeit im Schichtplanturnus nicht ausgeglichen werden, angeordnet worden sind. 15
§ 10 TVçD – Arbeitszeitkonto (1) Durch Betriebs-/Dienstvereinbarung kann ein Arbeitszeitkonto eingerichtet werden. Fr einen Betrieb/eine Verwaltung, in dem/der ein Personalvertretungsgesetz Anwendung findet, kann eine Regelung nach Satz 1 auch in einem landesbezirklichen Tarifvertrag – fr den Bund in einem Tarifvertrag auf Bundesebene – getroffen werden, wenn eine Dienstvereinbarung nicht einvernehmlich zustande kommt und der Arbeitgeber ein Letztentscheidungsrecht hat. Soweit ein Arbeitszeitkorridor (§ 6 Abs. 6) oder eine Rahmenzeit (§ 6 Abs. 7) vereinbart wird, ist ein Arbeitszeitkonto einzurichten. (2) In der Betriebs-/Dienstvereinbarung wird festgelegt, ob das Arbeitszeitkonto im ganzen Betrieb/in der ganzen Verwaltung oder Teilen davon eingerichtet wird. Alle Beschftigten der Betriebs-/Verwaltungsteile, fr die ein Arbeitszeitkonto eingerichtet wird, werden von den Regelungen des Arbeitszeitkontos erfasst. (3) Auf das Arbeitszeitkonto kçnnen Zeiten, die bei Anwendung des nach § 6 Abs. 2 festgelegten Zeitraums als Zeitguthaben oder als Zeitschuld bestehen bleiben, nicht durch Freizeit ausgeglichene Zeiten nach § 8 Abs. 1 Satz 5 und Abs. 2 sowie in Zeit umgewandelte Zuschlge nach § 8 Abs. 1 Satz 4 gebucht werden. Weitere Kontingente (z.B. Rufbereitschafts-/Bereitschaftsdienstentgelte) kçnnen durch Betriebs-/Dienstvereinbarung zur Buchung freigegeben werden. Die/Der Beschftigte entscheidet fr einen in der Betriebs-/Dienstvereinbarung festgelegten Zeitraum, welche der in Satz 1 genannten Zeiten auf das Arbeitszeitkonto gebucht werden. (4) Im Falle einer unverzglich angezeigten und durch rztliches Attest nachgewiesenen Arbeitsunfhigkeit whrend eines Zeitausgleichs vom Arbeitszeitkonto (Zeiten nach Absatz 3 Satz 1 und 2) tritt eine Minderung des Zeitguthabens nicht ein. (5) In der Betriebs-/Dienstvereinbarung sind insbesondere folgende Regelungen zu treffen: (…) (6) Der Arbeitgeber kann mit der/dem Beschftigten die Einrichtung eines Langzeitkontos vereinbaren. In diesem Fall ist der Betriebs-/Personalrat zu beteiligen und – bei Insolvenzfhigkeit des Arbeitgebers – eine Regelung zur Insolvenzsicherung zu treffen.
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III. Kommentierung 1. § 2 MTV Chemie – Regelmäßige Arbeitszeit (Rz. 10) Die wesentlichen arbeitszeitrechtlichen Rahmenregelungen enthält der MTV Che- 16 mie in seinem § 2. Dort wird die regelmäßige Wochenarbeitszeit ausschließlich der Pausen – gemeint sind echte Ruhepausen – auf 37,5 Stunden festgelegt. Für ältere Arbeitnehmer gilt aufgrund einer Regelung zu sog. Altersfreizeiten eine wöchentlich 2 1/2- bzw. 3 1/2-stündig verkürzte Arbeitszeit (§ 2a MTV Chemie). Der TV legt nicht explizit fest, was der Arbeitszeit zuzurechnen ist. Insoweit ist auf die Begrifflichkeiten des ArbZG Rückgriff zu nehmen. Gleiches gilt für die Dienste der Arbeits- und der Rufbereitschaft; je nach Grad der Inanspruchnahme kann Arbeitsbereitschaft der Arbeitszeit zugerechnet werden, Rufbereitschaft ohne jegliche Inanspruchnahme des Arbeitnehmers jedoch nicht. Anders als die dem Urteil v. 19.9.20121 zugrundeliegende Regelung sind im Bereich der chemischen Industrie die in § 6 MTV Chemie geregelten Wasch- und Umkleidezeiten nicht der Arbeitszeit zuzurechnen. Diese Zeiten sind als besonders gestaltete Erschwerniszulage zu verstehen, die in Zeit oder Geld ausgeglichen werden kann. Soweit ein Zeitausgleich in Zeit erfolgen soll, kann diese in- oder außerhalb der Arbeitszeit gelegt werden. Von der wochenbezogen festgelegten Arbeitszeitdauer von 37,5 Stunden ist die tagesbezogene Dauer der Höchstarbeitszeit zu unterscheiden. Diese kann gemäß § 2 I Ziff. 1 Abs. 2 MTV Chemie bis zu zehn Stunden betragen. Mit dieser Regelung haben die TV-Parteien von der Öffnungsklausel des § 7 Abs. 1 ArbZG Gebrauch gemacht.
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Die tägliche Arbeitszeit kann aber auch auf bis zu 12 Stunden hochgefahren werden. 18 Dies gilt aufgrund einer betrieblichen Vereinbarung zur Erreichung zusätzlicher Sonntagsfreischichten in vollkontinuierlich laufenden Betrieben (§ 2 I Ziff. 2 Abs. 2 MTV Chemie). Ferner kann die tägliche Arbeitszeit auf zwölf Stunden verlängert werden, wenn in die Arbeitszeit regelmäßig und in erheblichem Umfang Arbeitsbereitschaft fällt (§ 2 I Ziff. 2 Abs. 4 MTV Chemie). Zwei wesentliche Flexibilisierungselemente enthält der TV durch die Möglichkeit, 19 die Arbeitszeit über einen bestimmten Zeitraum hinweg zu verteilen (Verteilzeitraum) sowie die Dauer der Arbeitszeit abweichend von der tariflich festgelegten Wochenarbeitszeit zu bestimmen (Arbeitszeitkorridor). Die regelmäßige tarifliche Wochenarbeitszeit von 37,5 Stunden kann im Durchschnitt 20 eines Verteilzeitraumes von bis zu zwölf Monaten, durch freiwillige Betriebsvereinbarung auch bis zu 36 Monaten erreicht werden. Innerhalb dieses vom TV vorgegebenen Rahmens kann der Arbeitgeber aufgrund des ihm zustehenden Direktionsrechts (§ 106 GewO) grundsätzlich die Verteilung der Arbeitszeit nach billigem Ermessen vornehmen; das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats ist dabei zu beachten (s. § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG). Das Weisungsrecht kann allerdings arbeitsvertraglich durch eine konkrete Festlegung der Lage der Arbeitszeit eingeschränkt sein; dies ist in der Praxis vielfach bei Teilzeitbeschäftigten der Fall2.
1 BAG v. 19.9.2012 – 5 AZR 678/11, BB 2013, 445. 2 S. auch BAG v. 17.7.2007 – 9 AZR 819/06, NZA 2008, 118.
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Neben der vorerwähnten Regelung über einen Verteilzeitraum haben die TV-Parteien Langzeitkonten in das System der Chemie-Tarifverträge im Rahmen ihres TVes Lebensarbeitszeit und Demografie zu Zwecken einer flexiblen Gestaltung der Lebensarbeitszeit eingeführt. Als Langzeitkonto gelten Arbeitszeitkonten mit einem Verteilzeitraum von über zwölf (ggf. auch bis zu 36) Monaten und einer entsprechenden Zweckbestimmung im Sinne der tarifvertraglichen Vorgaben. Langzeitkonten sind von den Konten zur Arbeitszeitflexibilisierung, wie sie durch die auf bis zu 12, ggf. auch bis zu 36 Monaten laufenden Verteilzeiträume nach Maßgabe des § 2 I MTV Chemie ermöglicht werden, zu unterscheiden und getrennt zu führen. Sie können aber auch auf andere Weise als in Zeit gefüllt werden. Dies geht allerdings nur im laufenden Arbeitsverhältnis; danach ist das Arbeitszeitkonto als geschlossen anzusehen mit der Folge, dass dann auch kein Anspruch auf Korrektur des Kontos besteht.1
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Neben der Verteilung der Arbeitszeit enthält der TV durch den Arbeitszeitkorridor eine Flexibilisierung für die Dauer der Arbeitszeit. Dieser ermöglicht es den Betriebsparteien, von der tariflichen Regelarbeitszeit von 37,5 Stunden um bis zu zweieinhalb Stunden nach oben wie nach unten abzuweichen, wofür regelmäßig2 die Zustimmung der TV-Parteien erforderlich ist (§ 2 I Ziff. 3 MTV Chemie). Auch für diese abweichend festgelegte Regelarbeitszeit gilt der Verteilzeitraum des § 2 I Ziff. 1 MTV Chemie; Differenzierung und Variierung der Arbeitszeit sind also kombinierbar. Zu berücksichtigen ist, dass die im Rahmen des Arbeitszeitkorridors betrieblich abweichend festgelegte Arbeitszeit eine echte tarifliche Arbeitszeit darstellt. Dies bedeutet, dass ein Arbeitnehmer, dessen Arbeitszeit infolge der Anwendung des Arbeitszeitkorridors weniger als 37,5 Stunden beträgt, ein echter Vollzeitarbeitnehmer ist. Zugleich bedeutet dies, dass sich alle weiteren Leistungen nach dieser abweichend festgelegten Arbeitszeit bemessen; auch für die Frage, ab wann von Mehrarbeit auszugehen ist, ist diese abweichend vom TV festgelegte Arbeitszeit maßgeblich. Über den im Arbeitszeitkorridor vorgesehenen Umfang hinaus kann die Arbeitszeit im Rahmen der Tariföffnungsklausel „Tarifkonkurrierende Bereiche“ verändert und so an die eines tarifkonkurrierenden Bereichs durch einen firmenbezogenen VerbandsTV angepasst werden; siehe dazu auch R (17) Öffnungsklauseln/Genehmigungsvorbehalte.
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Die gesetzlich vorgeschriebenen Ruhepausen sind einzuhalten (§ 2 III MTV Chemie). In solchen Ruhepausen muss der Arbeitnehmer frei über sich und seine Arbeitskraft verfügen können3. Da die Einhaltung von Ruhepausen in kontinuierlich laufenden Schichtbetrieben praktische Probleme mit sich bringt, legt § 2 III Ziff. 5 MTV Chemie fest, dass bei einer voll- und teilkontinuierlichen Wechselschichtarbeit bezahlte Kurzpausen von angemessener Dauer an Stelle fester Ruhepausen gewährt werden können. Damit wird von der Öffnungsklausel des § 7 Abs. 1 Nr. 2 ArbZG Gebrauch gemacht und ein kontinuierlicher Lauf von Schichtbetrieben ermöglicht.
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Von Ruhepausen sind Ruhezeiten nach Maßgabe des § 5 ArbZG zu unterscheiden. Diese Regelung des ArbZG verlangt, dass zwischen den Arbeitsblöcken eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens elf Stunden liegt4. Für die chemische Industrie 1 BAG v. 26.6.2013 – 5 AZR 428/12, DB 2013, 2933. 2 Ausnahme bildet die differenzierte Festlegung der Arbeitszeit für einzelne Arbeitnehmergruppen. 3 BAG v. 5.5.1988 – 6 AZR 658/85, NZA 1989, 138. 4 Hierzu auch: Wirtz, BB 2014, 1397.
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Rz. 28
Teil 5 (5)
haben die TV-Parteien auf der Grundlage der Öffnungsklausel des § 7 Abs. 1 Nr. 3 ArbZG eine abweichende Regelung getroffen und in § 2 I Ziff. 4 MTV Chemie bestimmt, dass durch Betriebsvereinbarung die Ruhezeit in Ausnahmefällen um bis zu zwei Stunden gekürzt werden kann, wenn die Art der Arbeit dies erfordert und die Kürzung der Ruhezeit innerhalb eines Ausgleichszeitraums von sechs Monaten ausgeglichen wird. Schichtsysteme mit generell verkürzten Ruhezeiten werden allerdings dadurch nicht ermöglicht. Mit der Normierung von Verteilzeiträumen ist die in § 2 V MTV Chemie enthaltene 25 Regelung über Gleitzeit in den Hintergrund geraten. Sie bedarf der Einführung durch Betriebsvereinbarung. Bei der Festlegung der Lage der Kernarbeitszeit sowie der Gleitzeiträume haben die Betriebsparteien die arbeitszeitrechtlichen Vorgaben zu beachten. Zeitschulden oder -guthaben sind nach § 2 V Abs. 3 MTV Chemie „im Abrechnungszeitraum“ auszugleichen. In der Regel ist dies der Kalendermonat; er kann aber auch abweichend mit Zustimmung des Betriebsrats festgelegt werden. Übersteigt das am Ende des Abrechnungszeitraums bestehende Zeitguthaben die tarifvertraglich oder abweichend davon betrieblich festgelegte Grenze, verfällt der Teil des Zeitguthabens, der über die festgelegte Übertragungsgrenze hinausgeht. Der Arbeitnehmer hat also darauf zu achten, dass sein Zeitguthaben am Ende des Abrechnungszeitraums die festgelegte Grenze nicht übersteigt. Bleibt am Ende des Arbeitsverhältnisses ein Zeitguthaben, kann dieses – ggf. finanziell – auszugleichen sein1. Als problematisch erweist es sich, wie arbeitszeittechnisch in Fällen der Abwesenheit 26 zu verfahren ist. Aus diesem Grunde legt § 2 V Abs. 10 MTV Chemie fest, dass vorbehaltlich einer anderen Regelung die betriebliche Normalarbeitszeit grundsätzlich ein Fünftel der regelmäßigen tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit beträgt. Ist also die betriebliche Normalarbeitszeit nicht festgelegt, ist auf die Regelung des 27 § 2 V Abs. 10 MTV Chemie zurückzugreifen. Die dort für Gleitzeitarbeitsmodelle festgelegte Fünftelungsregelung gilt vorbehaltlich einer anderweitigen Regelung auch für Zeitgutschriften, die der Arbeitgeber eines entgeltfortzahlungspflichtigen Fernbleibens des Arbeitnehmers vom Arbeitsplatz vorzunehmen hat. Der MTV Chemie regelt in seinem § 3 die Fälle von Mehrarbeit, Nachtarbeit, Sonn- 28 und Feiertagsarbeit. Im Falle von Mehrarbeit2 gilt das Prinzip „Freizeitausgleich vor Zuschlagspflicht“; s. hierzu R (15) Mehrarbeitsregelungen. Als Nachtarbeit definiert § 3 II MTV Chemie die Arbeit, die in der Zeit zwischen 22 Uhr und 6 Uhr geleistet wird, wobei dieser Zeitraum unter Wahrung der Zeitspanne von acht Stunden aus Verkehrs- oder aus sonstigen Gründen abweichend geregelt werden. Ebenfalls eine Abweichungsmöglichkeit sieht der TV für die Zeitspanne der Sonn- und Feiertagsarbeit vor (§ 3 III Satz 1 MTV Chemie). Er geht vom Grundsatz aus, dass eine solche Arbeit diejenige an Sonn- und Feiertagen von 6 Uhr bis 6 Uhr darstellt. Doch auch dieser Zeitraum kann abweichend von den Betriebsparteien geregelt werden, wobei jedoch die Zeitspanne von 24 Stunden beibehalten werden muss. Jeweils sind bei der Festlegung der Zeiträume von Sonn-, Feiertags- sowie Nachtarbeit die steuerrechtlichen Auswirkungen zu berücksichtigen; das EStG definiert in § 3 Abs. 3 eigenständig Zeiträume der Sonn-, Feiertags- und Nachtarbeit. 1 BAG v. 13.12.2000 – 5 AZR 343/99, NZA 2002, 390. 2 Der umgekehrte Fall von Kurzarbeit ist in § 7 MTV Chemie geregelt.
Natzel
351
Teil 5 (5) Rz. 29
Katalog typischer Tarifnormen
29
Große Bedeutung hat in der chemischen Industrie die Schichtarbeit, wie sie in § 4 III Ziff. 1 MTV Chemie angesprochen ist. Nach der Rechtsprechung liegt Schichtarbeit vor, wenn eine bestimmte Arbeitsaufgabe über einen erheblich längeren Zeitraum als die wirkliche Arbeitszeit eines Arbeitnehmers erfüllt wird und von mehreren Arbeitnehmern oder Arbeitnehmergruppen in einer geregelten zeitlichen Reihenfolge erbracht wird; entscheidend ist insoweit, dass übereinstimmende Arbeitsaufgaben von untereinander austauschbaren Arbeitnehmern erbracht werden1. In der chemischen Industrie wird Schichtarbeit in voll- oder teilkontinuierlicher Form erbracht; sog. Wechselschichtarbeit. Diese Form der Schichtarbeit setzt regelmäßig voraus, dass der Arbeitsplatz durchgehend 24 Stunden besetzt ist. Ist dies ganzwöchig der Fall, spricht man von Vollkontinuität. Von fiktiver Vollkontinuität ist die Rede, wenn ein Arbeitsplatz auch in der Zeit von Samstag 14 Uhr bis Montag 6 Uhr ganz oder zeitweise besetzt ist. Bleibt er während jener Zeit unbesetzt, wird von Teilkontinuität gesprochen. Je nach dem, ob Voll- oder Teilkontinuität vorliegt, bemisst sich die Höhe der Schichtzulage.
30
Auch für Wechselschichtarbeitnehmer gilt die regelmäßige tarifliche wöchentliche Arbeitszeit von 37,5 Stunden (§ 2 I Ziff. 2 Abs. 1 MTV Chemie). Nach § 2 I Ziff. 2 Abs. 3 MTV Chemie sind die Arbeitszeiten in voll- und teilkontinuierlichen Betrieben im Rahmen eines betrieblichen Schichtplans unter Zugrundelegung eines Verteilzeitraums von bis zu zwölf Monaten und darüber hinaus zu vereinbaren. Bei der Schichtplangestaltung ist darauf zu achten, dass sie ein Schema für die Arbeitseinteilung zu erkennen gibt, damit ausgeschlossen werden kann, dass über die Schichtplangestaltung in willkürlicher Art und Weise auf dem Arbeitnehmer zustehende Rechtspositionen (insb. durch Umgehung eines ansonsten bestehenden Anspruches auf Entgeltfortzahlung) eingewirkt wird. Allerdings hat das BAG den Ausschluss von Entgeltfortzahlungsansprüchen dann als zulässig anerkannt, soweit sich die Arbeitsbefreiung aus dem Schema ergibt, das von der Feiertagsruhe an einem bestimmten Feiertag unabhängig ist2.
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Schichtarbeit ist mit einem ständigen Auf- und Abbau von Zeitguthaben verbunden. Letzterer erfolgt im Rahmen der Schichtplangestaltung durch Zeitausgleich in Form von Freischichten. Im Regelfall gilt hier in Ermangelung anderweitiger Regelungen3 das Glück-Pech-Prinzip, soweit ein Arbeitnehmer seinen Anspruch auf Zeitausgleich nicht realisieren konnte. Dies bedeutet, dass es im Risiko des Arbeitnehmers steht, den Zeitausgleich wegen einer krankheitsbedingten oder anderweitigen Verhinderung nicht realisieren zu können; kann also ein Arbeitnehmer bspw. wegen einer Erkrankung seinen Zeitausgleich nicht bewirken, kann dessen Nachgewährung nicht eingefordert werden4. Auf der anderen Seite ist er aber auch nicht zur Nacharbeit verpflichtet, wenn er einen planmäßigen Schichteinsatz etwa infolge einer Erkrankung nicht hat wahrnehmen können.
1 BAG v. 20.6.1990 – 4 AZR 5/90, NZA 1990, 861. 2 BAG v. 27.9.1983 – 3 AZR 159/81, DB 1984, 1251; v. 9.10.1996 – 5 AZR 345/95, DB 1997, 480 f. 3 Anderweitige Regelungen enthält der TV in § 2 I Ziff. 1 Abs. 4, § 3 I Abs. 5 sowie § 12 I Ziff. 8 MTV Chemie. 4 BAG v. 2.12.1987 – 5 AZR 652/86, DB 1988, 1402.
352 Natzel
Arbeitszeit
Rz. 33
Teil 5 (5)
Keine Schichtarbeit stellt die Arbeit in Arbeitsbereitschaft dar.1 Arbeitsbereitschaft 32 sind Dienste, an denen sich der Arbeitnehmer an einer vom Arbeitgeber im oder außerhalb des Betriebs festgelegten Stelle auf gesonderte Anordnung hin für betriebliche Zwecke aufzuhalten hat, dort oder von dort aus zeitweilig zur Arbeit herangezogen wird, zeitweilig indessen nicht, was gelegentlich auch mit der Formulierung der „zeitweisen Aufmerksamkeit im Zustand der Entspannung“2 umschrieben wird. Zwar finden die Regelungen des TVes auch auf die Arbeitsverhältnisse von Arbeitnehmern in Arbeitsbereitschaft Anwendung, sofern sich nicht aus der Besonderheit dieses Rechtsverhältnisses etwas anderes ergibt. Eine anderweitige, den sonstigen Regelungen des TVes als lex specialis vorgehende Regelung ist aber in § 5 MTV Chemie enthalten. Aufgrund dieser Regelung gelten die Vorschriften über die regelmäßige tarifliche wöchentliche Arbeitszeit (§ 2 I Ziff. 1 Abs. 1 MTV Chemie) nicht. Für Mehrarbeit enthält § 5 III MTV Chemie eine die Mehrarbeitsregelung des § 3 I MTV Chemie verdrängende Regelung. Ebenfalls verdrängend wirkt die Vorschrift des § 5 II Ziff. 4 MTV Chemie über die Gewährung von SFN-Zuschlägen. Schließlich finden auch die Vorschriften über Schichtzulagen (§ 4 III MTV Chemie) und zusätzlichen Urlaub für Schichtarbeitnehmer (§ 12 II Ziff. 2 MTV Chemie) keine Anwendung3. Die tarifvertragliche Regelung zur Arbeitsbereitschaft hat einen rein arbeitszeitrecht- 33 lichen Charakter; aus ihr können also keine Vergütungsansprüche abgeleitet werden4. Aus diesem Grunde blieb auch die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache SIMAP5, was die vergütungsrechtliche Seite anbelangt, ohne Bedeutung; die Antwort auf die Frage, ob eine bestimmte Zeit als Arbeitszeit im Sinne der Arbeitszeitrichtline oder des ArbZG zu behandeln ist, gibt keine Auskunft über die Höhe einer zu zahlenden Vergütung. Diese richtet sich vielmehr nach der getroffenen betrieblichen oder einzelvertraglichen Vereinbarung6. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des BAG v. 19.11.20147. Dort hatte das BAG bezogen auf die Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen in der Pflegebranche v. 15.7.2010 (PflegeArbbV), welche die Zahlung eines Mindestentgelts „je Stunde“ vorgeschrieben hat, entschieden, dass auch während der Zeit der Bereitschaft der in der Verordnung „je Stunde“ festgelegte Mindestlohn zu zahlen sei. Zugleich hat das BAG allerdings auch festgestellt, dass die Verordnung sich auf ein stundebezogenes Mindestentgelt beschränke und ansonsten nicht zwischen der Intensität der Inanspruchnahme durch Vollarbeit, Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst differenziere. Eine solche Differenzierung erfolgt aber durch den für die chemische Industrie geltenden TV, indem dieser Dienste der Arbeitsbereit-
1 Zur Arbeitsbereitschaft in Abgrenzung zu Bereitschaftsdiensten und Rufbereitschaft: Wirtz, BB 2014, 1397. 2 S. etwa Schliemann, § 2 ArbZG Rz. 16. 3 S. auch BAG v. 12.3.2008 – 4 AZR 616/06, DB 2009, 122. 4 So auch den vergütungsrechtlichen Aspekt einer arbeitszeitrechtlichen Regelung abgrenzend: BAG v. 5.6.2003 – 6 AZR 114/02, NZA 2004, 164; BAG v. 28.1.2004 – 5 AZR 530/02, NZA 2004, 656; BAG v. 12.3.2008 – 4 AZR 616/06, DB 2009, 122. 5 EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98, NZA 2000, 1227. 6 S. auch BAG v. 20.1.2004 – 5 AZR 530/02, BB 2004, 1796; v. 12.3.2008 – 4 AZR 616/06, DB 2009, 122. 7 BAG v. 19.11.2014 – 5 AZR 1101/12, BB 2015, 510; fehlgehend insoweit die Interpretation von Holm, DB 2015, 441 in Verkennung der Trennung der arbeitszeit- von der vergütungsrechtlichen Seite; dazu Natzel, BB 2015, 2938.
Natzel
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Teil 5 (5) Rz. 34
Katalog typischer Tarifnormen
schaft mit der Aufteilung 8 × 8 × 8 (Arbeit, Arbeitsbereitschaft, Bereitschaftsruhezeit) spezifiziert beschrieben wird. 34
Dem Einsatz in 24-stündiger Arbeitsbereitschaft hat eine Freizeit gleicher Länge zu folgen (§ 5 II MTV Chemie). Die Zeit der Arbeitsbereitschaft selbst teilt sich auf in acht Stunden Arbeitszeit, acht Stunden Arbeitsbereitschaft und acht Stunden Bereitschaftsruhezeit. Die Dauer der Zeiten unterschiedlicher Inanspruchnahme von jeweils acht Stunden ist regelmäßig einzuhalten. Allerdings bestehen hinsichtlich der zeitlichen Lage dieser Zeiten Gestaltungsmöglichkeiten. Lediglich zwingend ist es, die Bereitschaftsruhe zusammenhängend zu gewähren; hier ist ein Einsatz nur statthaft, wenn dieser innerhalb des Aufgabenbereichs unvorhergesehen erforderlich wird (s. § 5 II Ziff. 3 Abs. 2 MTV Chemie).
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Arbeitnehmer in Arbeitsbereitschaft erhalten jährlich 35 weitere 24-stündige Freizeiten, die in möglichst gleichmäßiger Verteilung zu gewähren sind; sie können Urlaubsansprüchen nicht gleichgesetzt werden1. Auch bei diesen zusätzlichen Freizeiten gilt das sog. „Glück-Pech-Prinzip“. Kann der Arbeitnehmer den durch den Schichtplan vorgegebenen Freizeitausgleich wegen krankheitsbedingter oder anderweitiger Verhinderung nicht realisieren, erwächst ihm also entsprechend dem „Glück-Pech-Prinzip“ kein Anspruch auf zusätzliche Freischichten. Andererseits ist er aber auch nicht zur Arbeitsleistung an einem Tag verpflichtet, an dem er laut Schichtplan frei gehabt hätte, wenn er zuvor an der Erbringung von Arbeitsleistung infolge einer Erkrankung, wegen Urlaubs oder aus sonstigen Gründen verhindert war.
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Der TV hat für Arbeitnehmer mit Arbeitsbereitschaft eine gesonderte Mehrarbeitsregelung. Danach gilt als zuschlagspflichtige Mehrarbeit diejenige Arbeitszeit, die über die Zeit der Arbeit und Arbeitsbereitschaft hinausgeht (§ 5 III MTV Chemie). Mehrarbeit kann also erst ab der 17. Arbeitsstunde anfallen. Aufgrund der Spezialität des § 5 III MTV Chemie gegenüber der Mehrarbeitsregelung des § 3 I MTV Chemie ist es nicht möglich, die Zuschlagspflicht durch Gewährung von Freizeit abzubedingen. 2. § 3 EMTV: Dauer der regelmäßigen Ausbildungszeit/Arbeitszeit (Rz. 12)
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Der TV enthält zwei arbeitszeitrechtliche Grundbegriffe, die tarifliche wöchentliche Arbeitszeit und die individuelle regelmäßige Arbeitszeit, im Metallbereich auch unter der Abkürzung „IRWAZ“ verwendet. Die tarifliche wöchentliche Arbeitszeit beträgt ohne Pausen 35 Wochenstunden. Soweit es nicht anderweitig festgelegt ist, ist die tarifliche regelmäßige Wochenarbeitszeit auch zugleich die individuell vom Arbeitnehmer zu leistende Arbeitszeit. Allerdings gestattet der TV darüber hinaus auch eine individualrechtliche Abweichungsmöglichkeit, indem bestimmt ist, dass abweichend von der tariflichen Arbeitszeit für eine bestimmte Anzahl von Arbeitnehmern die individuelle regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit auf bis zu 40 Stunden pro Woche durch individualvertragliche Vereinbarung ebenso verlängert werden kann, wie sie einzelvertraglich im Rahmen eines Teilzeitmodells verkürzt werden kann. Diese Möglichkeit steht ausschließlich zur Disposition der Arbeitsvertragsparteien, ohne dass es insoweit einer Beteiligung des Betriebsrats bedarf2. 1 BAG v. 2.12.1987 – 5 AZR 652/86, DB 1988, 1402. 2 Ziepke/Weiss, MTV § 3 Anm. 1.
354 Natzel
Arbeitszeit
Rz. 43
Teil 5 (5)
Die Bestimmung einer individuellen regelmäßigen Arbeitszeit ist wie die tarifvertraglich festgelegte Wochenarbeitszeit zu behandeln. Sie bildet also die Grundlage der Entgeltfindung sowie der Feststellung des Vorliegens von Kurz- und Mehrarbeit1.
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Die individuelle regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit kann im Rahmen eines Verteil- 39 zeitraumes von bis zu sechs Monaten erarbeitet werden. Dieser kann auf der Grundlage des TV Beschäftigungssicherung (im Folgenden: TV Besch) auf zwölf Monate oder in begründeten Ausnahmefällen auch darüber hinaus verlängert werden. Der TV Besch sieht weiter die Möglichkeit der kollektiven Absenkung der Arbeitszeit 40 auf bis zu 30 Stunden vor2. Dies ist allerdings mit einer Erschwerung der Kündigungsmöglichkeit verbunden, indem betriebsbedingte Kündigungen gegenüber Beschäftigten, deren Arbeitszeit abgesenkt wurde, frühestens mit dem Ablauf der absenkenden Betriebsvereinbarung wirksam werden. Mit der durch den TV Besch eröffneten Absenkungsmöglichkeit ist eine Option geschaffen, auch auf die individuelle regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit einzuwirken. Können sich die Betriebsparteien über die Absenkung der tariflichen Arbeitszeit nicht einigen, kann unverzüglich nach Erklärung des Scheiterns der Gespräche die tarifliche Einigungsstelle nach Maßgabe der im TV Besch enthaltenen Vorschriften angerufen werden. Erfolgt dann aber eine Absenkung des Monatsentgelts, vermindert sich dieses entsprechend, indem es unter Berücksichtigung des zur tariflichen regelmäßigen Arbeitszeit reduzierten Arbeitszeitvolumens proportional gekürzt wird. Von der Absenkungsmöglichkeit kann in der Weise Gebrauch gemacht werden, dass die Arbeitszeit für die betroffenen Beschäftigten in unterschiedlicher Höhe und für unterschiedliche Zeiträume abgesenkt wird. Sie führt nicht zu einer Beschränkung der Einführung von Kurzarbeit. Auch wirkt sie sich nicht nachteilig auf die Bezugsbedingungen für Kurzarbeitergeld aus. Schließlich bleibt von der Absenkung der Status als Vollzeitbeschäftigter unberührt. Soweit die Arbeitszeit individuell auf bis zu 40 Stunden verlängert wird, ist dies da- 41 durch begrenzt, dass individuell vereinbarte Arbeitszeiten nicht mehr als 18 % aller Beschäftigten und Auszubildenden des Betriebs erfassen dürfen. Es ist der betriebsverfassungsrechtliche Betriebsbegriff zugrundezulegen. Nicht zu berücksichtigen bei der Beschäftigtenzahl sind im Rahmen von Werkverträgen tätige Personen, Zeitarbeitnehmer sowie Auslandsmonteure3. 3. §§ 6 ff. TVöD – Arbeitszeit im öffentlichen Dienst (Rz. 13 ff.) Der TVöD legt in § 6 die regelmäßige Arbeitszeit fest. Über die in Abs. 2 enthaltene 42 Regelung, dass für die Berechnung des Durchschnitts der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit ein Zeitraum bis zu einem Jahr zugrundezulegen ist, wird die Möglichkeit der Arbeitszeitverteilung eröffnet. Bei Arbeitnehmern, die ständig Wechseloder Schichtarbeit leisten, kann der Verteilzeitraum verlängert werden. Durch Betriebs- oder Dienstvereinbarung kann ein wöchentlicher Arbeitszeitkorridor von bis zu 45 Stunden eingerichtet werden. Eine echte Arbeitszeitverlängerung ist
1 Ziepke/Weiss, MTV § 3 Anm. 2 Ziff. I.2. 2 Einzelheiten bei Ziepke/Weiss, MTV § 3 Anm. 2 Ziff. 5. 3 Einzelheiten bei Ziepke/Weiss, MTV § 3 Anm. 2 Ziff. 14.
Natzel
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Teil 5 (5) Rz. 44
Katalog typischer Tarifnormen
hierin allerdings nicht zu sehen. Denn die innerhalb dieses Arbeitszeitkorridors geleisteten zusätzlichen Arbeitsstunden sind innerhalb eines Jahres auszugleichen. Wohl aber entfaltet die Regelung insoweit eine entgeltrelevante Wirkung, indem infolge der Anhebung der wöchentlichen Arbeitszeit in Anwendung des Arbeitszeitkorridors bis zu 45 Stunden wöchentlich Arbeit abgefordert werden kann, ohne dass dafür ein Überstundenzuschlag gezahlt werden müsste; dieser kann also erst ab der 46. Arbeitsstunde anfallen. 44
Durch Betriebs- oder Dienstvereinbarung kann eine tägliche Rahmenarbeitszeit von bis zu 12 Stunden in der Zeit von 6 bis 20 Uhr festgelegt werden. Überstunden fallen in diesem Fall nur dann an, wenn sie für Zeiten außerhalb des Rahmens angeordnet werden. Auch sie sind wiederum grundsätzlich innerhalb eines Jahres auszugleichen, es sei denn, sie werden als Wertguthaben in ein Arbeitszeitkonto eingebracht.
45
§ 7 TVöD regelt Sonderformen der Arbeit und meint damit (Wechsel-)Schichtarbeit, Bereitschaftsdienste, Rufbereitschaft, Nachtarbeit, Mehrarbeit und Überstunden. Letztere sind die auf Anordnung des Arbeitsgebers geleisteten Arbeitsstunden, die im Rahmen der regelmäßigen Arbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten über die für die Woche dienstplanmäßig bzw. betriebsüblich festgesetzten Arbeitsstunden hinausgehen und die nicht bis zum Ende der folgenden Kalenderwoche ausgeglichen werden.
46
Neu war bei Einführung des TVöD das durch § 10 TVöD normierte Arbeitszeitkontenmodell. Arbeitszeitkonten können durch Betriebs- oder Betriebsvereinbarung für ganze Betriebe/Verwaltungen oder Teile davon eingerichtet werden. Auf das Arbeitszeitkonto können Zeiten gebucht werden, die als Zeitguthaben oder als Zeitschuld aus dem Arbeitszeitkorridor oder infolge der Anwendung einer Rahmenzeitregelung bestehen bleiben und nicht durch Freizeit ausgeglichen werden. Auch können in Zeit umgewandelte Zuschläge eingebucht werden. Weitere Kontingente (z.B. Rufbereitschafts-/Bereitschaftsdienstentgelte) können durch Betriebs-/Dienstvereinbarung zur Buchung freigegeben werden. Dabei entscheidet der Beschäftigte, welche Zeiten konkret auf das Arbeitszeitkonto gebucht werden oder ob Zeitüberschüsse durch Freizeit ausgeglichen werden sollen.
(6) Befristungsregeln Literatur: Annuß/Thüsing, Kommentar zum Teilzeit- und Befristungsgesetz, 3. Aufl. 2012; Boecken/Jacobsen, Tarifdispositivität nach § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG – Zur Zulässigkeit einer Beteiligung des Betriebsrats im Zusammenhang mit Abweichungen von § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG, ZfA 2012, 37; Boecken/Joussen, Teilzeit- und Befristungsgesetz, 3. Aufl. 2012; Francken, Die Tarifdispositivität des § 14 II 3 TzBfG als win/win-Regelung in der Beschäftigungskrise, NZA 2010, 305; Francken, Die Schranken der sachgrundlosen Befristung auf Grund Tarifvertrags nach § 14 II 3 TzBfG; Fritz, Neues Tarifrecht für den öffentlichen Dienst – Teil 3, ZTR 2006, 2.
I. Zweck und Kontext 1 Die Zulässigkeit befristeter Arbeitsverträge folgt aus § 620 Abs. 1 BGB. Durch § 620 Abs. 3 BGB wird darüber hinaus festgelegt, dass für befristete Arbeitsverträge 356 Natzel/Hexel/Bork
Teil 5 (5) Rz. 44
Katalog typischer Tarifnormen
hierin allerdings nicht zu sehen. Denn die innerhalb dieses Arbeitszeitkorridors geleisteten zusätzlichen Arbeitsstunden sind innerhalb eines Jahres auszugleichen. Wohl aber entfaltet die Regelung insoweit eine entgeltrelevante Wirkung, indem infolge der Anhebung der wöchentlichen Arbeitszeit in Anwendung des Arbeitszeitkorridors bis zu 45 Stunden wöchentlich Arbeit abgefordert werden kann, ohne dass dafür ein Überstundenzuschlag gezahlt werden müsste; dieser kann also erst ab der 46. Arbeitsstunde anfallen. 44
Durch Betriebs- oder Dienstvereinbarung kann eine tägliche Rahmenarbeitszeit von bis zu 12 Stunden in der Zeit von 6 bis 20 Uhr festgelegt werden. Überstunden fallen in diesem Fall nur dann an, wenn sie für Zeiten außerhalb des Rahmens angeordnet werden. Auch sie sind wiederum grundsätzlich innerhalb eines Jahres auszugleichen, es sei denn, sie werden als Wertguthaben in ein Arbeitszeitkonto eingebracht.
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§ 7 TVöD regelt Sonderformen der Arbeit und meint damit (Wechsel-)Schichtarbeit, Bereitschaftsdienste, Rufbereitschaft, Nachtarbeit, Mehrarbeit und Überstunden. Letztere sind die auf Anordnung des Arbeitsgebers geleisteten Arbeitsstunden, die im Rahmen der regelmäßigen Arbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten über die für die Woche dienstplanmäßig bzw. betriebsüblich festgesetzten Arbeitsstunden hinausgehen und die nicht bis zum Ende der folgenden Kalenderwoche ausgeglichen werden.
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Neu war bei Einführung des TVöD das durch § 10 TVöD normierte Arbeitszeitkontenmodell. Arbeitszeitkonten können durch Betriebs- oder Betriebsvereinbarung für ganze Betriebe/Verwaltungen oder Teile davon eingerichtet werden. Auf das Arbeitszeitkonto können Zeiten gebucht werden, die als Zeitguthaben oder als Zeitschuld aus dem Arbeitszeitkorridor oder infolge der Anwendung einer Rahmenzeitregelung bestehen bleiben und nicht durch Freizeit ausgeglichen werden. Auch können in Zeit umgewandelte Zuschläge eingebucht werden. Weitere Kontingente (z.B. Rufbereitschafts-/Bereitschaftsdienstentgelte) können durch Betriebs-/Dienstvereinbarung zur Buchung freigegeben werden. Dabei entscheidet der Beschäftigte, welche Zeiten konkret auf das Arbeitszeitkonto gebucht werden oder ob Zeitüberschüsse durch Freizeit ausgeglichen werden sollen.
(6) Befristungsregeln Literatur: Annuß/Thüsing, Kommentar zum Teilzeit- und Befristungsgesetz, 3. Aufl. 2012; Boecken/Jacobsen, Tarifdispositivität nach § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG – Zur Zulässigkeit einer Beteiligung des Betriebsrats im Zusammenhang mit Abweichungen von § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG, ZfA 2012, 37; Boecken/Joussen, Teilzeit- und Befristungsgesetz, 3. Aufl. 2012; Francken, Die Tarifdispositivität des § 14 II 3 TzBfG als win/win-Regelung in der Beschäftigungskrise, NZA 2010, 305; Francken, Die Schranken der sachgrundlosen Befristung auf Grund Tarifvertrags nach § 14 II 3 TzBfG; Fritz, Neues Tarifrecht für den öffentlichen Dienst – Teil 3, ZTR 2006, 2.
I. Zweck und Kontext 1 Die Zulässigkeit befristeter Arbeitsverträge folgt aus § 620 Abs. 1 BGB. Durch § 620 Abs. 3 BGB wird darüber hinaus festgelegt, dass für befristete Arbeitsverträge 356 Natzel/Hexel/Bork
Befristungsregeln
Rz. 3 Teil 5 (6)
die Vorgaben des Teilzeit- und Befristungsgesetzes (TzBfG) einzuhalten sind. Nach dem TzBfG können in Arbeitsverträgen sowohl Sachgrundbefristungen als auch sachgrundlose Befristungen vereinbart werden. Für den Fall der Sachgrundbefristung, für die es hinsichtlich des möglichen Befristungszeitraums keine festen Grenzen gibt, werden in § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1–8 TzBfG typische Gründe für eine zulässige Befristung von Arbeitsverträgen aufgezählt. Dem Wortlaut („insbesondere“) ist jedoch zu entnehmen, dass es sich hierbei nicht um eine abschließende Aufzählung, sondern vielmehr um die Auflistung wesentlicher von der Rechtsprechung entwickelter Fallgruppen zulässiger Sachgrundbefristungen handelt1. Ohne Vorliegen eines Sachgrundes ist die kalendermäßige Befristung eines Arbeitsvertrages dagegen im Regelfall lediglich bis zu einer Dauer von höchstens zwei Jahren zulässig (vgl. § 14 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 TzBfG). Innerhalb dieses Maximalzeitraumes ist nach § 14 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 TzBfG auch die höchstens dreimalige Verlängerung des befristeten Arbeitsverhältnisses erlaubt. Gemäß § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG kann durch TVe von den Befristungsregelungen des 2 TzBfG abgewichen werden2. Die Tariföffnungsklausel räumt den TV-Parteien das Recht ein, in einem TV für den Fall der sachgrundlosen Befristung die Anzahl der Verlängerungen oder die Höchstdauer der Befristung abweichend von § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG zu regeln3. Dadurch wird zugleich zum Ausdruck gebracht, dass beispielsweise über das Anschlussgebot des § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG nach dem Willen des Gesetzgebers den TV-Parteien eine Dispositionsmöglichkeit nicht zugestanden werden soll4. Die ausdrückliche Erwähnung des § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG in § 22 Abs. 1 TzBfG führt darüber hinaus zu der Erkenntnis, dass die nach der Tariföffnungsklausel zulässigen Abweichungen von § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG von den TV-Parteien nicht nur zu Gunsten, sondern insbesondere auch zu Ungunsten eines Arbeitnehmers geregelt werden können (vgl. auch Rz. 21)5. Die Tariföffnungsklausel des § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG gibt den TV-Parteien damit ein 3 wichtiges Instrument an die Hand, um die Möglichkeiten der Befristung den jeweiligen Besonderheiten einer Branche anzupassen6. Dies kann darüber hinaus ein probates Mittel für die TV-Parteien sein, um flexibel auf (kurzfristige) Auftragseinbrüche
1 Vgl. z.B. BAG v. 13.10.2004 – 7 AZR 218/04, DB 2005, 451; ErfK/Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rz. 4 f. 2 Daraus wird deutlich, dass eine Abweichung von § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG zum Nachteil der Beschäftigten durch Betriebsvereinbarung unzulässig ist, so Boecken/Joussen/Boecken, § 14 TzBfG Rz. 125; dies bedeutet aber nicht, dass eine zulasten der Beschäftigten von § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG nachteilig abweichende Regelung nicht unter Beteiligung des Betriebsrates erfolgen kann, vgl. hierzu umfassend Boecken/Jacobsen, ZfA 2012, 37 (41); vgl. auch unten Rz. 27. 3 Zu der streitigen Frage, ob § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG ein Abweichen von der Anzahl der Verlängerungen sowie der Höchstdauer der Befristung lediglich alternativ oder kumulativ zulässt, vgl. unten Rz. 22. 4 So auch Boecken/Joussen/Boecken, § 14 TzBfG Rz. 123. 5 ErfK/Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rz. 101a; Boecken/Joussen/Boecken, § 14 TzBfG Rz. 125; Francken, NZA 2010, 305 (306); Boecken/Jacobsen, ZfA 2012, 37 (41). 6 Zu der bis heute nicht abschließend geklärten Frage, ob es sich bei einer tariflichen Befristungsregelung um eine Abschlussnorm oder um eine Beendigungsnorm handelt, vgl. Teil 4 Rz. 78.
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Teil 5 (6) Rz. 4
Katalog typischer Tarifnormen
und auf die daraus resultierenden Beschäftigungskrisen in einer Branche reagieren zu können1 (vgl. Rz. 25 ff.). In diesem Zusammenhang kann auch die Frage nach den Grenzen der Tarifdispositivität eine Rolle spielen. Eine klare Leitlinie hat sich hierzu bislang, wie nachfolgend aufgezeigt wird (vgl. Rz. 24), noch nicht herausgebildet. 4 Eine andere Frage ist, ob von einer Tarifdispositivität zugunsten der TV-Parteien auch hinsichtlich der Sachgrundbefristung gemäß § 14 Abs. 1 TzBfG auszugehen ist. Dies ist schon deshalb schwieriger zu beantworten, weil der Gesetzgeber für die Sachgrundbefristung auf eine vergleichbare ausdrückliche Regelung wie in § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG verzichtet hat. Allerdings gesteht das BAG den TV-Parteien in gefestigter Rechtsprechung auch insoweit Gestaltungsspielräume zu. Es gilt weiterhin der bereits vor Inkrafttreten des TzBfG entwickelte gewohnheitsrechtliche Grundsatz, dass TVe beispielsweise die von der Rechtsprechung entwickelten und in § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1–8 TzBfG festgeschriebenen Sachgründe entgegen der gesetzgeberischen Intention als abschließend festlegen oder sogar den dort festgeschriebenen Katalog von Sachgründen einschränken können2. Voraussetzung für eine dahingehende Vereinbarung soll nach der Rechtsprechung des BAG sein, dass der abschließende Charakter der Befristungsgründe in der Tarifnorm eindeutig zum Ausdruck gebracht wird3. Dies müsse schon aus Gründen der Rechtsklarheit gewährleistet sein. Allein aus dem Umstand, dass ein TV nur einen anerkannten Befristungsgrund benennt, kann nach Auffassung des Gerichts noch nicht der Schluss gezogen werden, dass eine Befristungsmöglichkeit aus anderen Sachgründen zwingend ausscheiden soll. Ebenso kann aus TVen, die nur einzelne Befristungsfälle, wie zum Beispiel ein Probe- oder Aushilfsarbeitsverhältnis regeln, nicht geschlossen werden, dass sie andere Möglichkeiten der Befristung ausschließen möchten, soweit das durch die Tarifnorm nicht unmissverständlich zum Ausdruck gebracht wird4. Demzufolge müsste beispielsweise ein TV den gewollten Ausschluss der Möglichkeit einer sachgrundlosen Befristung nach § 14 Abs. 2 TzBfG und damit die Beschränkung nur auf (bestimmte) Sachgrundbefristungen sehr eindeutig regeln. 5 Die Tarifdispositivität des § 14 Abs. 1 TzBfG soll nach der Rechtsprechung sogar so weit gehen, dass die TV-Parteien über § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1–8 TzBfG hinausgehende Sachgründe für eine Befristung vereinbaren können. Darunter können zunächst solche Sachgründe fallen, die vom BAG bereits vor Inkrafttreten des TzBfG anerkannt, aber vom Gesetzgeber nicht in den Katalog des § 14 Abs. 1 Satz 2 TzBfG aufgenommen wurden5. Darüber hinaus soll selbst die Vereinbarung gänzlich „neuer“ Sachgründe möglich sein. Dies ist bereits mehrfach höchstrichterlich klargestellt worden, wobei das BAG jeweils zugleich die Grenzen eines solchen Vorgehens aufgezeigt hat6. Nach Ansicht des Gerichts ist zu berücksichtigen, dass weder die von der Rechtsprechung entwickelten Grundzüge der Befristungskontrolle noch das in
1 Boecken/Jacobsen, ZfA 2012, 37 (38). 2 Vgl. hierzu Thüsing/Braun/Thüsing, 5. Kap., Befristete Beschäftigung, Rz. 2 m.w.N. 3 BAG v. 7.8.1980 – 2 AZR 563/78, DB 1980, 2244; BAG v. 12.12.1985 – 2 AZR 9/85, NZA 1986, 571. 4 BAG v. 10.6.1988 – 2 AZR 7/88, DB 1988, 2004. 5 BAG v. 13.10.2004 – 7 AZR 218/04, DB 2005, 451. 6 BAG v. 23.1.2002 – 7 AZR 611/00, BB 2002, 1097; BAG v. 16.3.2005 – 7 AZR 289/04, NZA 2005, 923; BAG v. 9.12.2009 – 7 AZR 399/08, NZA 2010, 495.
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Befristungsregeln
Rz. 6 Teil 5 (6)
§ 14 Abs. 1 Satz 1 TzBfG normierte Sachgrunderfordernis als solches tarifdispositiv sind. Durch die Richtlinie 1999/70/EG werde nicht nur der Gesetzgeber an das Erfordernis sachlicher Gründe – wie in § 14 Abs. 1 TzBfG umgesetzt – gebunden. Entsprechendes müsse vielmehr auch für die TV-Parteien gelten. Dies führe dazu, dass auch tarifliche Normen über Befristungen zu ihrer Wirksamkeit eines sie rechtfertigenden Grundes bedürften. Damit können andere, von § 14 Abs. 1 Satz 2 TzBfG abweichende Sachgründe eine Befristung nur rechtfertigen, wenn sie den in § 14 Abs. 1 TzBfG zum Ausdruck kommenden Wertungsmaßstäben ausreichend Rechnung tragen1. Etablierte Fallgruppen haben sich hierzu bislang nicht herausgebildet, so dass letztlich in jedem Einzelfall das Vorliegen einer wertungsmäßigen Vergleichbarkeit zu § 14 Abs. 1 Satz 2 TzBfG zu prüfen ist. Die Anforderungen an einen zulässigen neuen Sachgrund dürften hoch sein. Dies gilt nicht zuletzt mit Blick darauf, dass sowohl das Gemeinschaftsrecht als auch die nationalen Regelungen von dem Grundsatz ausgehen, dass unbefristete Arbeitsverhältnisse den Regelfall und befristete Arbeitsverhältnisse die Ausnahme darstellen sollen. In der Vergangenheit hat das BAG beispielsweise eine zu einem späteren Zeitpunkt geplante anderweitige Besetzung des Arbeitsplatzes als einen sonstigen in § 14 Abs. 1 Satz 2 TzBfG nicht erwähnten Sachgrund angesehen, der geeignet sei, eine Befristung zu rechtfertigen2. Dies setze jedoch voraus, dass der Arbeitgeber bei Abschluss des befristeten Arbeitsvertrages mit dem anderen als Dauerbesetzung vorgesehenen Arbeitnehmer bereits vertraglich gebunden sei. In einer Entscheidung aus dem Jahr 2009 sah das BAG diese Voraussetzung als nicht erfüllt an, da es weder einen konkreten Mitarbeiter gab, der die streitgegenständliche Stelle einnehmen sollte, noch eine Bewerbung für diese Stelle vorlag3.
II. Beispiele § 30 des Tarifvertrags fr den çffentlichen Dient (TVçD) – Befristete Arbeitsvertrge (1) Befristete Arbeitsvertrge sind nach Maßgabe des Teilzeit- und Befristungsgesetzes sowie anderer gesetzlicher Vorschriften ber die Befristung von Arbeitsvertrgen zulssig. Fr Beschftigte, auf die die Regelungen des Tarifgebiets West Anwendung finden und deren Ttigkeit vor dem 1. Januar 2005 der Rentenversicherung der Angestellte unterlegen htte, gelten die in den Abstzen 2 bis 5 geregelten Besonderheiten; dies gilt nicht fr Arbeitsverhltnisse, fr die die §§ 57a ff. HRG, das Gesetz ber befristete Arbeitsvertrge in der Wissenschaft (Wissenschaftszeitvertragsgesetz) oder gesetzliche Nachfolgeregelungen unmittelbar oder entsprechend gelten. (2) Kalendermßig befristete Arbeitsvertrge mit sachlichem Grund sind nur zulssig, wenn die Dauer des einzelnen Vertrages fnf Jahre nicht bersteigt; weitergehende Regelungen im Sinne von § 23 TzBfG bleiben unberhrt. Beschftigte mit einem Arbeitsvertrag nach Satz 1 sind bei der Besetzung von Dauerarbeitspltzen bevorzugt zu bercksichtigen, wenn die sachlichen und persçnlichen Voraussetzungen erfllt sind. 1 BAG v. 16.3.2005 – 7 AZR 289/04, NZA 2005, 923; BAG v. 9.12.2009 – 7 AZR 399/08, NZA 2010, 495. 2 BAG v. 13.10.2004 – 7 AZR 218/04, DB 2005, 451. 3 BAG v. 9.12.2009 – 7 AZR 399/08, NZA 2010, 495.
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Teil 5 (6) Rz. 7
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(3) Ein befristeter Arbeitsvertrag ohne sachlichen Grund soll in der Regel zwçlf Monate nicht unterschreiten; die Vertragsdauer muss mindestens sechs Monate betragen. Vor Ablauf des Arbeitsvertrages hat der Arbeitgeber zu prfen, ob eine unbefristete oder befristete Weiterbeschftigung mçglich ist. (4)–(5) (…) (6) Die §§ 31, 32 bleiben von den Regelungen der Abstze 3 bis 5 unberhrt. 7 § 31 des Tarifvertrags fr den çffentlichen Dient (TVçD) – Fhrung auf Probe (1) Fhrungspositionen kçnnen als befristetes Arbeitsverhltnis bis zur Gesamtdauer von zwei Jahren vereinbart werden. Innerhalb dieser Gesamtdauer ist eine hçchstens zweimalige Verlngerung des Arbeitsvertrages zulssig. Die beiderseitigen Kndigungsrechte bleiben unberhrt. (2)–(3) (…) 8 § 2 des Mantelrahmentarifvertrags fr das Wach- und Sicherheitsgewerbe fr die Bundesrepublik Deutschland – Arbeitsverhltnis/Kndigungsfristen 1. –5. (…) 6. Die kalendermßige Befristung eines Arbeitsvertrages ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes ist bis zur Dauer von 42 Monaten zulssig. Bis zu dieser Gesamtdauer ist die hçchstens viermalige Verlngerung eines kalendermßig befristeten Arbeitsverhltnisses zulssig. Befristete Arbeitsvertrge unterliegen der ordentlichen Kndigung. Die genannten Kndigungsfristen gelten entsprechend. Diese Regelung gilt nicht fr befristete Arbeitsverhltnisse, die am 31. August 2005 bereits bestanden. 9 § 3 des Tarifvertrags zu Kurzarbeit, Qualifizierung und Beschftigung 2009/2010 des Verbandes der Metall- und Elektroindustrie Baden Wrttemberg e.V., Stuttgart – Sdwestmetall und der Industriegewerkschaft Metall Bezirk Baden-Wrttemberg Bezirksleitung Baden-Wrttemberg – Sachgrundlose Befristung Die weitere Befristung von in den Jahren 2009 und 2010 auslaufenden Arbeitsvertrgen ist gem. § 14 II 3 TzBfG zulssig, wenn – die Verlngerung insgesamt um maximal 24 Monate erfolgt, – die Hçchstdauer der sachgrundlosen Befristung insgesamt maximal 48 Monate betrgt und – insgesamt eine hçchstens sechsmalige Verlngerung des Arbeitsvertrags erfolgt. In Betrieben mit Betriebsrat ist die Anwendung dieser Regelung nach § 14 II 3 TzBfG durch eine freiwillige Betriebsvereinbarung oder im Einzelfall schriftlich durch den Betriebsrat zu besttigen. Whrend der Laufzeit dieses Tarifvertrages nach Satz 1 vereinbarte Befristungen bleiben bis zu ihrem vereinbarten Ende auch dann zulssig, wenn dieser Tarifvertrag geendet hat.
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Befristungsregeln
Rz. 13
Teil 5 (6)
III. Kommentierung 1. §§ 30 f. TVöD (Rz. 6, 7) Im Geltungsbereich des TVöD ist der Abschluss von befristeten Arbeitsverhältnissen 10 zulässig. Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 TVöD beurteilt sich die Zulässigkeit eines befristeten Arbeitsverhältnisses nach den Vorgaben des TzBfG sowie anderen gesetzlichen Vorschriften über die Befristung von Arbeitsverträgen1. Auf die Befristung eines Arbeitsvertrages im öffentlichen Dienst findet damit im Regelfall § 14 TzBfG Anwendung2. Dies gilt nicht für die Beschäftigten des Tarifgebiets West, deren Tätigkeit vor dem 11 1. Januar 2005 der Rentenversicherung der Angestellten unterlegen hätte. Im Zuge eines Streites um die Zulässigkeit sachgrundloser Befristungen nach § 14 Abs. 2 TzBfG haben sich die TV-Parteien darauf geeinigt, für diese Beschäftigtengruppe die bisherigen Regelungen der SR 2y BAT inhaltlich fortbestehen zu lassen (§ 30 Abs. 1 Satz 2 TVöD). Geht es um die Befristung von Arbeitsverhältnissen dieser Gruppe, kommt das tarifvertragliche Sonderbefristungsrecht gemäß § 30 Abs. 2 bis 5 TVöD zur Anwendung. Allerdings sind daneben auch für die Beschäftigten des Tarifgebiets West die gesetzlichen Vorschriften des TzBfG einschlägig, sofern die § 30 Abs. 2 bis 5 TVöD keine abschließende Regelung vorsehen. Mit den Regelungen in § 30 Abs. 2 bis 5 TVöD haben die TV-Parteien in zulässiger Wei- 12 se von der Tariföffnungsklausel des § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG Gebrauch gemacht. Wie die weiteren Ausführungen zeigen werden, handelt es sich überwiegend um Vorschriften, die zu Gunsten der Beschäftigten Einschränkungen gegenüber den gesetzlichen Befristungsmöglichkeiten vorsehen3. Sie gehören damit zu der Gruppe von Tarifnormen, mit denen die TV-Parteien das Ziel verfolgen, der Ausweitung von Zeitverträgen entgegenzuwirken und den Abschluss unbefristeter Arbeitsverträge im Sinne einer restriktiven Befristungskontrolle zu fördern (vgl. Teil 4 Rz. 73). a) Sachgrundbefristung (§ 30 Abs. 2 TVöD) Aus § 30 Abs. 2 Satz 1 TVöD ergibt sich, dass kalendermäßig befristete Arbeitsverträ- 13 ge mit sachlichem Grund nur zulässig sind, wenn die Dauer des einzelnen Vertrages fünf Jahre nicht übersteigt. Die so festgeschriebene fünfjährige Höchstbefristungsdauer weicht zu Gunsten der Beschäftigten von der gesetzlichen Regelung des § 14 Abs. 1 TzBfG ab, wonach Sachgrundbefristungen grundsätzlich keiner bestimmten zeitlichen Grenze unterliegen. Dem Wortlaut der Regelung lässt sich entnehmen, dass sie nur für die kalendermäßige Sachgrundbefristung gelten soll. Die Regelung des § 30 Abs. 2 Satz 1 TVöD findet damit keine Anwendung auf zweckbefristete oder auf auflösend bedingte Arbeitsverhältnisse4. Die Höchstbefristungsdauer gilt jeweils für die einzelne Befristungsabrede mit der Folge, dass durch eine Befristung über diesen Zeitraum hinaus ein unbefristetes Arbeitsverhältnis geschlossen würde (§ 15 Abs. 5 1 Hierunter fallen beispielsweise die Befristungsregelungen aus dem BEEG, dem WissZeitVG oder dem HRG. 2 Aus diesem Grund wird auch zum Teil der Standpunkt vertreten, dass § 30 Abs. 1 Satz 1 TVöD kein eigenständiger Regelungsgehalt zukommt, vgl. z.B. Fritz, ZTR 2006, 2 (7). 3 HWK/Schmalenberg, § 22 TzBfG Rz. 8. 4 Vgl. hierzu Fritz, ZTR 2006, 2 (8).
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Teil 5 (6) Rz. 14
Katalog typischer Tarifnormen
TzBfG). Hiervon abzugrenzen ist der Fall mehrerer hintereinander vereinbarter Befristungsabreden, die lediglich in der Summe die fünfjährige Höchstbefristungsdauer überschreiten. In einer solchen Vorgehensweise sieht das BAG noch keine Umgehung der Regelung zur Höchstbefristung, so dass auf diesem Wege die fünf Jahre in zulässiger Weise überschritten werden könnten1. 14
Darüber hinaus sind Beschäftigte, die auf der Grundlage eines kalendermäßig befristeten Arbeitsverhältnisses mit sachlichem Grund tätig sind, nach § 30 Abs. 2 Satz 2 TVöD bei der Besetzung von Dauerarbeitsplätzen bevorzugt zu berücksichtigen, soweit die sachlichen und persönlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Durch diese Regelung wird wiederum der Wille der TV-Parteien zum Ausdruck gebracht, der Ausweitung befristeter Arbeitsverträge entgegenzuwirken. Nach Ansicht des BAG wird durch § 30 Abs. 2 Satz 2 TVöD das Auswahlermessen des Arbeitgebers bei der Besetzung eines Dauerarbeitsplatzes eingeschränkt2. Zu einem Anspruch auf Abschluss eines unbefristeten Arbeitsplatzes könne die Ermessensreduzierung jedoch allenfalls dann führen, wenn der befristet Beschäftigte nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung mit dem Konkurrenten im Wesentlichen gleich zu beurteilen ist3. b) Sachgrundlose Befristung (§ 30 Abs. 3 TVöD)
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Der Absatz 3 des § 30 TVöD enthält eine Regelung zur sachgrundlosen Befristung. Die Dauer des befristeten Arbeitsverhältnisses ohne sachlichen Grund muss hiernach mindestens sechs Monate betragen und soll in der Regel zwölf Monate nicht unterschreiten. Hinsichtlich der zwölf Monate handelt es sich um eine Soll-Vorschrift, weshalb befristete Arbeitsverträge ohne Sachgrund auch mit einer Laufzeit von weniger als zwölf Monaten geschlossen werden dürfen. Ein Unterschreiten der sechsmonatigen Mindestbefristungsdauer ist hingegen nicht zulässig und würde zur Begründung eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses führen.
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Durch § 30 Abs. 3 Satz 2 wird der Arbeitgeber darüber hinaus verpflichtet, vor Ablauf des Arbeitsvertrages zu prüfen, ob eine unbefristete oder befristete Weiterbeschäftigung möglich ist. Hierbei soll es sich um eine tariflich festgeschriebene Obliegenheit des Arbeitgebers handeln, bei deren Unterlassen dem Beschäftigten unter Umständen Schadenersatzansprüche zustehen können4. c) Führung auf Probe (§ 31 TVöD)
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Ferner ist auf den Sonderfall des § 31 TVöD zu verweisen5. Bei der dort geregelten Führung auf Probe handelt es sich um eine besondere Form der kalendermäßigen Be1 BAG v. 22.3.1985 – 7 AZR 142/84, BB 1985, 1729, beachte: Die Entscheidung erging bereits zur Protokollnotiz Nr. 2 zu Nr. 1 der SR 2y zum BAT; vgl. auch BAG v. 24.10.2001 – 7 AZR 620/00, NZA 2003, 153; so auch Fritz, ZTR 2006, 2 (8). 2 So bereits BAG v. 27.4.1988 – 7 AZR 593/87, DB 1988, 1803; BAG v. 6.11.1996 – 7 AZR 909/95, BB 1997, 1797. 3 So BVerwG v. 7.12.1994 – 6 P 35/92, ZTR 1996, 136; vgl. auch BAG v. 19.9.2001 – 7 AZR 333/00, ARST 2002, 125 zur gleichlautenden Protokollnotiz Nr. 4 zu Nr. 1 SR 2a des Manteltarifvertrages für die Bundesanstalt für Arbeit. 4 So jedenfalls Görg/Guth/Hamer/Pieper/Guth, § 30 TVöD Rz. 64. 5 Einen weiteren Sonderfall stellt § 32 TVöD dar, auf den hier aber nicht weiter eingegangen werden soll.
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Befristungsregeln
Rz. 20
Teil 5 (6)
fristung. Die Tarifnorm, die sich ausschließlich auf Führungspositionen bezieht, geht der allgemeinen Befristungsregelung des § 30 TVöD vor. Gemäß § 31 Abs. 1 TVöD können externe Kandidaten auf Führungspositionen zur Er- 18 probung im Rahmen eines befristeten Arbeitsverhältnisses bis zu einer Gesamtdauer von zwei Jahren angestellt werden. Innerhalb dieses Zeitrahmens kann der Arbeitsvertrag höchstens zweimal verlängert werden. Hinsichtlich der Zulässigkeit dieser Regelung bestehen im Grundsatz keine Bedenken, da es sich bei der Befristung zur Erprobung um einen allgemeinen nach § 14 Abs. 1 Nr. 5 TzBfG anerkannten Befristungsgrund handelt. § 31 Abs. 1 TVöD ist zudem für den Mitarbeiter regelmäßig günstiger als die gesetzlichen Vorschriften. Würde sich der Arbeitgeber alternativ – bei § 31 Abs. 1 TVöD handelt es sich um eine „Kann-Regelung“ – und unabhängig davon, ob die Voraussetzungen des § 31 Abs. 1 TVöD erfüllt sind, für eine Befristung nach § 14 Abs. 2 TzBfG entscheiden, käme eine solche für zwei Jahre sogar ohne Sachgrund in Betracht. Darüber hinaus könnte das Arbeitsverhältnis innerhalb dieser zwei Jahre insgesamt dreimal verlängert werden (§ 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG). Da der Arbeitgeber bei der Besetzung von Führungspositionen nicht gezwungen ist, 19 eine Befristung nach § 31 TVöD einzugehen, stellt sich die Frage, wann es aus seiner Sicht überhaupt einmal Sinn machen könnte, auf die Tarifnorm zurückzugreifen. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn es um Angestellte im Tarifgebiet West geht. Um die für diese Mitarbeitergruppe geltenden strengen Sonderregelungen des § 30 Abs. 2 bis 5 TVöD (vgl. Rz. 13 ff.) zu umgehen, kann es für den Arbeitgeber von Vorteil sein, eine Befristung des Arbeitsverhältnisses gemäß § 31 Abs. 1 TzBfG zu vereinbaren. Durch § 30 Abs. 2 TVöD wird ausdrücklich festgelegt, dass die §§ 31, 32 TVöD von den Regelungen der Absätze 3 bis 5 des § 30 TVöD unberührt bleiben. Auf diese Weise könnte beispielsweise entgegen § 30 Abs. 3 Satz 1 TVöD ein befristeter Arbeitsvertrag auch mit einer kürzeren Vertragslaufzeit als sechs Monaten vereinbart werden. Eine Befristung nach § 31 TVöD könnte im Vergleich zu einer solchen nach § 14 Abs. 2 TzBfG auch deshalb vorteilhaft sein, weil der Arbeitgeber das Vorbeschäftigungsverbot des § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG1 nicht beachten muss. Eine Frage, die im Rahmen des § 31 TVöD regelmäßig diskutiert wird, ist die nach der Zulässigkeit der dort geregelten Länge der Probezeit von zwei Jahren. Diese erscheint nicht ganz unproblematisch, weil sowohl § 622 Abs. 3 BGB als auch § 2 Abs. 4 TVöD von einer regelmäßigen Probezeit von sechs Monaten ausgehen. Hiervon wird durch § 31 Abs. 2 TVöD deutlich abgewichen. Das BAG erkennt jedoch die Möglichkeit an, in TVen eine über sechs Monate hinausgehende Probezeit zu vereinbaren2. Es seien Fälle vorstellbar, in denen der Arbeitgeber Eignung und Leistung eines Arbeitnehmers wegen der besonderen Anforderungen des Arbeitsplatzes innerhalb von sechs Monaten nicht genügend beurteilen könne und deshalb eine verlängerte Probezeit sinnvoll erscheine3. Das Gericht legt damit die Entscheidung, ob eine verlängerte Probezeit erfor1 Vgl. BAG v. 6.4.2011 – 7 AZR 716/09, NZA 2011, 905; BAG v. 21.9.2011 – 7 AZR 375/10, NZA 2012, 255; aufgrund der abweichenden Entscheidung des LAG Baden-Württemberg v. 21.2.2014 – 7 Sa 64/13, AE 2014, 233, wird das BAG sich im Rahmen der Revision (7 AZR 196/14) zur Frage der Zuvorbeschäftigung erneut äußern müssen. 2 BAG v. 15.3.1978 – 5 AZR 831/76, DB 1978, 1744; BAG v. 12.9.1996 – 7 AZR 31/96, BB 1997, 104. 3 BAG v. 15.3.1978 – 5 AZR 831/76, DB 1978, 1744.
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Teil 5 (6) Rz. 21
Katalog typischer Tarifnormen
derlich und deswegen nach § 14 Abs. 1 TzBfG zulässig ist, in die Regelungsmacht der TV-Parteien. Diese können für ihre Branche am besten beurteilen, welche Probezeit für Arbeitnehmer mit besonderem Aufgabengebiet jeweils erforderlich ist. 2. § 2 des Mantelrahmentarifvertrags für das Wach- und Sicherheitsgewerbe für die Bundesrepublik Deutschland – Arbeitsverhältnis/Kündigungsfristen (Rz. 8) 21
Wie einleitend dargelegt, hat der Gesetzgeber durch die Tariföffnungsklausel des § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG sowohl die Höchstgrenze für die maximale Dauer einer sachgrundlosen Befristung als auch die Anzahl der zulässigen Verlängerungen innerhalb dieser Höchstgrenze zur Disposition der TV-Parteien gestellt (vgl. Rz. 2). Es wurde zugleich darauf hingewiesen, dass gemäß § 22 Abs. 1 TzBfG in TVen in diesem Kontext auch Abweichungen zu Ungunsten des Arbeitnehmers vorgesehen werden können. Als exemplarisch dafür ist § 2 des Manteltarifvertrags für das Wach- und Sicherheitsgewerbe für die Bundesrepublik Deutschland zu betrachten. Durch die in dieser Tarifnorm geregelten Inhalte wird von den gesetzlichen Vorgaben des § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG erheblich zu Ungunsten des Arbeitnehmers abgewichen und damit dem gesetzgeberischen Ziel, eine Ausweitung von Zeitarbeitsverträgen zu verhindern, entgegengewirkt. Anstelle der gesetzlich vorgeschriebenen Befristungshöchstdauer von zwei Jahren soll nach dem Willen der TV-Parteien für die Beschäftigten des Wachund Sicherheitsgewerbes eine Befristung von bis zu 42 Monaten zulässig sein. Darüber hinaus ist den Arbeitsvertragsparteien bis zu dieser Gesamtdauer die viermalige Verlängerung eines kalendermäßig befristeten Arbeitsverhältnisses gestattet.
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Eine im Zusammenhang mit § 14 Abs. 2 Satz TzBfG lange diskutierte Frage war, ob in einer Tarifnorm, wie beispielsweise in § 2 des Manteltarifvertrags für das Wachund Sicherheitsgewerbe für die Bundesrepublik Deutschland vorgesehen, kumulativ sowohl von der Höchstbefristungsdauer als auch von der Anzahl der möglichen Verlängerungen abgewichen werden darf. Dies wurde insbesondere wegen des Wortlauts von § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG hinterfragt, in dem es heißt, „Durch TV kann die Anzahl der Verlängerungen oder die Höchstdauer der Befristung abweichend von Satz 1 festgelegt werden“. Das Schrifttum spricht sich trotz des Umstandes, dass der Wortlaut der Norm nahe legt, dass der Gesetzgeber lediglich eine alternative tarifvertragliche Verschlechterung zulassen wollte, schon länger überwiegend für eine kumulative Abweichungsmöglichkeit der TV-Parteien aus1. Zur Begründung dieses Standpunktes wird insbesondere auf die Gesetzesbegründung verwiesen, der sich ein solches Alternativverhältnis nicht entnehmen lässt.
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Spätestens seit einer jetzt ergangenen Entscheidung des BAG, dürfte die hier aufgeworfene Frage jedenfalls für die Praxis geklärt sein2. In dem vom BAG entschiedenen Fall ging es um einen Mitarbeiter, der auf Grundlage eines befristeten, mehrfach verlängerten Arbeitsvertrages für ein Unternehmen des Wach- und Sicherheitsgewerbes tätig war. Der Arbeitnehmer hielt die auf sein Arbeitsverhältnis anwendbare Regelung des
1 Vgl. z.B. ErfK/Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rz. 101a; KR/Lipke, § 14 TzBfG Rz. 434; Francken, NZA 2010, 305; Boecken/Joussen/Boecken, § 14 TzBfG Rz. 123; Boecken/Jacobsen, ZfA 2012, 37 (40). 2 BAG v. 15.8.2012 – 7 AZR 184/11, NZA 2013, 45; ebenso BAG v. 5.12.2012 – 7 AZR 698/11, NZA 2013, 515.
364 Hexel/Bork
Befristungsregeln
Rz. 24
Teil 5 (6)
§ 2 des Manteltarifvertrags für das Wach- und Sicherheitsgewerbe für die Bundesrepublik Deutschland für unwirksam und griff die darauf gestützte Befristung seines Arbeitsvertrages an. Seine Klage blieb in allen Instanzen erfolglos1. Der 7. Senat des BAG erklärte § 2 des Manteltarifvertrags für das Wach- und Sicherheitsgewerbe für die Bundesrepublik Deutschland für zulässig. Nach Ansicht des Gerichts ist die Tarifnorm von § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG gedeckt. In der Begründung folgt das BAG der herrschenden Meinung im Schrifttum. Bei einem nicht eindeutigen Gesetzeswortlaut müsse maßgeblich auf den Willen des Gesetzgebers abgestellt werden. In der Gesetzesbegründung heißt es: „Von der gesetzlichen Höchstbefristungsdauer und der Höchstzahl der Verlängerungen eines befristeten Arbeitsvertrages ohne sachlichen Grund kann durch Tarifvertrag abgewichen werden. Die tarifliche Öffnungsklausel zielt darauf ab, branchenspezifische Lösungen zu erleichtern.“2 An anderer Stelle heißt es in der Gesetzesbegründung zu § 14 Abs. 2 TzBfG: „Satz 3 bestimmt, dass tarifvertraglich eine andere (höhere oder niedrigere) Anzahl von zulässigen Verlängerungen sowie eine andere (kürzere oder längere) Höchstbefristungsdauer eines befristeten Arbeitsvertrages ohne sachlichen Grund festgelegt werden kann.“3 Aus der Gesetzesbegründung wird nach Ansicht des Gerichts unmissverständlich klar, dass das Gesetz den TV-Parteien verschlechternde Regelungen sowohl hinsichtlich der Höchstbefristungsdauer als auch hinsichtlich der Anzahl der zulässigen Verlängerungen kumulativ zugestehen will4. Keine klarstellende Antwort musste das BAG hingegen auf die Frage nach den mögli- 24 chen Grenzen der gesetzlich eröffneten Regelungsbefugnis der TV-Parteien finden. Während mit Blick auf § 14 Abs. 1 TzBfG feststeht, dass die durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete Tarifautonomie den TV-Parteien nicht die Möglichkeit eröffnet, unabhängig von den Vorgaben in § 14 Abs. 1 TzBfG Sachgründe für die Befristung von Arbeitsverträgen festzulegen (vgl. Rz. 5), scheint die Frage nach den Grenzen der Tarifdispositivität für den Bereich der sachgrundlosen Befristung gemäß § 14 Abs. 2 TzBfG noch weitgehend ungeklärt. Für einen weitreichenden Gestaltungsspielraum lässt sich argumentieren, dass den TV-Parteien – seit sich der Befristungsschutz dogmatisch vom Kündigungsschutz gelöst hat – mit § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG ein Werkzeug an die Hand gegeben wurde, mit dem der Gesetzgeber aus arbeitsmarktpolitischen Gründen bewusst eine Lockerung des Befristungsschutzes in Kauf genommen hat. Andererseits dürfte feststehen, dass dies nicht zu einer grenzenlosen Gestaltungsbefugnis der TV-Parteien führen kann. Für den Bereich des arbeitsvertraglichen Bestandsschutzes erscheint im Interesse der durch Art. 12 Abs. 1 GG garantierten Berufsfreiheit ein staatlicher Mindestschutz, der von den TV-Parteien nicht aufgehoben werden kann, unverzichtbar. Entsprechend konstatiert das BAG in der oben genannten Entscheidung jedenfalls, dass die Regelungsfreiheit der TV-Parteien nicht unbegrenzt sein kann. Die Öffnungsklausel erlaube keine tarifvertragliche Gestaltung sachgrundloser Befristungen, die das in § 14 Abs. Satz 1 TzBfG ausgedrückte gesetzgeberische Konzept konterkariert5. Was dies im Detail heißt, lässt das Gericht aller-
1 Vgl. LAG Hessen v. 3.12.2010 – 10 Sa 659/10, NZA-RR 2011, 240, als Vorinstanz zu BAG v. 15.8.2012 – 7 AZR 184/11, NZA 2013, 45. 2 BT-Drucks. 14/4374, S. 14. 3 BT-Drucks. 14/4374, S. 20. 4 BAG v. 15.8.2012 – 7 AZR 184/11, NZA 2013, 45; so auch bereits die Vorinstanz LAG Hessen v. 3.12.2010 – 10 Sa 659/10, NZA-RR 2011, 240. 5 BAG v. 15.8.2012 – 7 AZR 184/11, NZA 2013, 45.
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Teil 5 (6) Rz. 25
Katalog typischer Tarifnormen
dings offen. Jedenfalls hielt das BAG die Grenzen der den TV-Parteien eröffneten Regelungsbefugnis bei einer Festlegung der zulässigen Höchstdauer kalendermäßiger Befristungen auf 42 Monate bei höchstens vier Vertragsverlängerungen für noch gewahrt1. In der Literatur wird vereinzelt ein noch großzügigerer Rahmen von vier Jahren bei höchstens sechsmaliger Verlängerung für zulässig gehalten2. An diesen Werten wird sich die Praxis vorerst orientieren müssen. Eine ebenso klare Stellungnahme des BAG wie zu § 14 Abs. 1 TzBfG wäre wünschenswert. 3. § 3 des Tarifvertrages zu Kurzarbeit, Qualifizierung und Beschäftigung 2009/2010 des Verbandes der Metall- und Elektroindustrie Baden Württemberg e.V., Stuttgart – Südwestmetall und der Industriegewerkschaft Metall Bezirk Baden-Württemberg Bezirksleitung Baden-Württemberg – Sachgrundlose Befristung (Rz. 9) 25
Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass der Gesetzgeber den TV-Parteien mit der Tariföffnungsklausel ein Werkzeug an die Hand geben wollte, um branchenspezifische Lösungen zu erleichtern3. Dies bezieht sich nicht nur auf die generellen Verhältnisse einer Branche. Die TV-Parteien können von § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG vielmehr auch in Krisenzeiten Gebrauch machen, wenn es darum geht, kurzfristig und damit flexibel auf (krisenbedingte) Auftragseinbrüche in einer Branche angemessen zu reagieren. Ein in diese Richtung gehendes Beispiel lässt sich in der Metall- und Elektroindustrie in Baden-Württemberg finden. In dieser Branche wurde als Antwort auf den aus der Wirtschaftskrise im Jahr 2008 resultierenden massiven Auftragseinbruch für die Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie ein TV zu Kurzarbeit, Qualifizierung und Beschäftigung geschlossen4. In § 3 dieses TVes, der ohne Nachwirkung zum 31. Dezember 2010 endete, haben die TV-Parteien von § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG Gebrauch gemacht. Hiernach sollte die weitere Befristung von in den Jahren 2009 und 2010 auslaufenden sachgrundlos befristeten Arbeitsverhältnissen zulässig sein, wenn die Verlängerung insgesamt um maximal 24 Monate erfolgte, die Höchstdauer der sachgrundlosen Befristung insgesamt maximal 48 Monate betrug und insgesamt eine höchstens sechsmalige Verlängerung des Arbeitsvertrages erfolgte.
26
Damit haben die TV-Parteien – wie auch in § 2 des Mantelrahmentarifvertrags für das Wach- und Sicherheitsgewerbe für die Bundesrepublik Deutschland – neben der Höchstdauer der Befristung kumulativ auch die Anzahl der Verlängerungen abweichend von § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG geregelt. Das ein solches Vorgehen von der Tariföffnungsklausel des § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG grundsätzlich gedeckt ist, wurde bereits erörtert (vgl. Rz. 22 f.) und dürfte spätestens seit der dargestellten aktuellen Entscheidung des BAG feststehen5. Regelungen wie in § 3 des TVes zur Kurzarbeit, Qualifizierung und Beschäftigung in der Metall- und Elektroindustrie können in Krisenzeiten sowohl für die Beschäftigten als auch für die Arbeitgeber einer Branche von Vorteil sein6. Die Arbeitnehmer erhalten durch die Verlängerung der sachgrundlosen Befristung die Gewissheit, ihren Arbeitsplatz zumindest vorübergehend nicht zu verlieren. 1 BAG v. 15.8.2012 – 7 AZR 184/11, NZA 2013, 45; ebenso BAG v. 5.12.2012 – 7 AZR 698/11, NZA 2013, 515. 2 Franken, NZA 2013, 122. 3 BT-Drucks. 14/4374, S. 14. 4 Der TV ist u.a. abgedruckt in NZA 2010, 321. 5 BAG v. 15.8.2012 – 7 AZR 184/11, NZA 2013, 45. 6 So auch Francken, NZA 2010, 305 (306).
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Befristungsregeln
Rz. 28
Teil 5 (6)
Darüber hinaus bleibt ihnen die Hoffnung, nach Ablauf der weiteren zwei Jahre in dann, unter Umständen wieder günstigeren wirtschaftlichen Zeiten, in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis übernommen zu werden. Der Arbeitgeber hingegen erhält durch solche Tarifnormen die Möglichkeit, gut qualifizierte Mitarbeiter auch in wirtschaftlich unsicheren Zeiten vorläufig weiter im Unternehmen zu halten1. Weiterhin wird durch § 3 Satz 2 der Tarifnorm festgelegt, dass in Betrieben mit Be- 27 triebsrat die Anwendung des Satzes 1 nach § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG durch eine freiwillige Betriebsvereinbarung oder im Einzelfall schriftlich durch den Betriebsrat zu bestätigen ist2. Hierbei handelt es sich um eine Regelung, die sich in der Tarifpraxis insbesondere vor dem Hintergrund der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 im Rahmen von TVen zur Kurzarbeit finden lässt3. Boecken/Jacobsen haben sich zuletzt für die Zulässigkeit derartiger Tarifnormen ausgesprochen4. Durch Regelungen dieser Art können die TV-Parteien selbst der Tarifdisposivität Grenzen setzen. Die Einbeziehung des Betriebsrats sorgt für eine maßvolle Umsetzung der Tarifnorm und stellt insbesondere sicher, dass die Interessen der Mitarbeiter hinreichend gewahrt bleiben. Durch Satz 3 des § 3 wird schließlich sichergestellt, dass die durch die Tarifnorm verlängerten befristeten Arbeitsverhältnisse, losgelöst von dem Ende des TVes, bis zu ihrem vereinbarten Ende zulässig bleiben. Abschließend soll noch die Regelung des § 14 Abs. 2 Satz 4 TzBfG Erwähnung finden. 28 Aus dieser Vorschrift ergibt sich, dass im Geltungsbereich eines TVes, der abweichende Regelungen im Sinne des § 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG enthält, zwischen nicht tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern die Anwendung der tariflichen Regelungen vereinbart werden kann. Die einzelvertragliche Vereinbarung ist nur für Arbeitgeber und Arbeitnehmer zulässig, die in fachlicher, persönlicher und räumlicher Hinsicht von dem TV erfasst würden, wenn sie Mitglieder der vertragsschließenden TV-Parteien würden5. Trotz des wiederum nicht eindeutigen Wortlautes – die Vorschrift könnte so verstanden werden, dass die gesamten Regelungen des TVes vereinbart werden müssen, – wird ganz überwiegend die Auffassung vertreten, dass über § 14 Abs. 2 Satz 4 TzBfG auch allein die von § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG abweichenden Tarifnormen zur Befristung vereinbart werden können6. In der Literatur wird zum Teil vertreten, dass dann aber jedenfalls die gesamten tariflichen Normen zu vereinbaren sind, die die Befristung regeln7. Gegen die „Gesamtübernahme“ aller Tarifnormen wird angeführt, dass dies eine übermäßige und nicht mehr mit der negativen 1 Francken in NZA 2010, 305 (306) sieht deshalb in der Tarifnorm eine win-win-Regelung für Arbeitnehmer und Arbeitgeber der Branche. 2 Boecken und Jacobsen nahmen diese Regelung zum Anlass, um sich umfassend mit der Frage der Zulässigkeit einer tarifvertraglichen Abweichung von § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG unter Beteiligung des Betriebsrates – sog. „Subdelegation“ der tarifvertraglichen Abweichungsbefugnis – zu befassen, ZfA 2012, 37. 3 Boecken/Joussen/Boecken, § 14 TzBfG Rz. 125. 4 Boecken/Jacobsen, ZfA 2012, 37 (50 ff.). 5 Boecken/Joussen/Boecken, § 14 TzBfG Rz. 127; Annuß/Thüsing/Maschmann, § 14 TzBfG Rz. 68. 6 Vgl. hierzu insbesondere Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, § 14 TzBfG Rz. 408 ff., die über eine systematische Betrachtung auf dieses Ergebnis schließen; im Ergebnis ebenso Annuß/Thüsing/Maschmann, § 14 TzBfG Rz. 68; ErfK/Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rz. 101d; Boecken/Joussen/Boecken, § 14 TzBfG Rz. 127; Francken, NZA 2010, 305 (306). 7 Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, § 14 TzBfG Rz. 408 ff.
Hexel/Bork
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Teil 5 (6) Rz. 29
Katalog typischer Tarifnormen
Koalitionsfreiheit zu vereinbarende Belastung darstellen würde1. In § 14 Abs. 2 Satz 4 TzBfG ist damit ein weiteres Mittel zur Verwirklichung des gesetzgeberischen Ziels, der Herbeiführung branchenspezifischer Lösungen, zu sehen. Mittels der einzelvertraglichen Inbezugnahme der tariflichen Befristungsregelungen besteht die Möglichkeit, punktuell eine volle Tarifdispositivität herzustellen und im Geltungsbereich des TVes die Übernahme der tariflichen Befristungsregelungen auch nicht tarifgebundenen Parteien zu gestatten2. Dies dürfte insbesondere in Krisenzeiten nicht selten im Interesse beider Vertragsparteien liegen. 29
Die Übernahme der tariflichen Regelungen gemäß § 14 Abs. 2 Satz 4 TzBfG bedarf nicht der Schriftform, da es hierbei nicht um die eigentliche Befristungsabrede im Sinne des § 14 Abs. 4 TzBfG geht3. Gleichwohl empfiehlt sich schon aus Beweiszwecken, die Vereinbarung klar und eindeutig schriftlich zu fixieren4.
(7) Besetzungsregeln Literatur: Arnold, Betriebliche Tarifnormen und Außenseiter, 2007; Fischer, Rechtmäßigkeit eines Streiks für tariflichen Überlastungsschutz, juris-PR-ArbR 35/2015 Anm. 6; H. Hanau, Zur Verfassungsmäßigkeit von tarifvertraglichen Betriebsnormen am Beispiel der qualitativen Besetzungsregeln, RdA 1996, 158; Schleusener, Die Zulässigkeit qualitativer Besetzungsregelungen in Tarifverträgen, 1997.
I. Zweck und Kontext 1 Tarifvertragliche Besetzungsregeln treten in zwei verschiedenen Formen auf. Qualitative Besetzungsregeln5 verbieten auf bestimmten Arbeitsplätzen die Beschäftigung von Arbeitnehmern, die bestimmte persönliche oder fachliche Anforderungen, insbesondere eine bestimmte Ausbildung, nicht erfüllen. Quantitative Besetzungsregeln legen die (Mindest-)Zahl der für eine Tätigkeit einzusetzenden Arbeitnehmer fest. Abzugrenzen sind Besetzungsregeln von tariflichen Bestimmungen, die der zutreffenden Eingruppierung (vgl. R (11) Eingruppierung) in eine tarifliche Vergütungsordnung und der tariflichen Vergütungsgerechtigkeit dienen. Im Zweifel nimmt das BAG eine Eingruppierungsvorschrift an6. 2 Besetzungsregeln werden insbesondere aus Gründen des Schutzes vor physischer und psychischer Überforderung7, der Förderung der Arbeitsqualität sowie des Beschäftigungsschutzes für Fachkräfte vereinbart8. Daher sind insbesondere auch Regelungen 1 2 3 4 5 6 7 8
So z.B. Annuß/Thüsing/Maschmann, § 14 TzBfG Rz. 68. Vgl. hierzu Francken, NZA 2010, 305 (306). ErfK/Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rz. 101d. Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, § 14 TzBfG Rz. 411; ErfK/Meier-Glöge, § 14 TzBfG Rz. 101e; Francken, NZA 2010, 305 (306). Vgl. dazu BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, NZA 1990, 850; BAG v. 22.1.1991 – 1 ABR 19/90, NZA 1991, 675. BAG v. 18.3.2008 – 1 ABR 81/06, NZA 2008, 832 (835 f.). LAG Berlin-Brandenburg v. 24.6.2015 – 26 SaGa 1059/15, m. Anm. Fischer, juris-PR-ArbR 35/2015 Anm. 6. BAG v. 17.6.1999 – 2 AZR 456/98, NZA 1999, 1157 (1158 f.).
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Katalog typischer Tarifnormen
Koalitionsfreiheit zu vereinbarende Belastung darstellen würde1. In § 14 Abs. 2 Satz 4 TzBfG ist damit ein weiteres Mittel zur Verwirklichung des gesetzgeberischen Ziels, der Herbeiführung branchenspezifischer Lösungen, zu sehen. Mittels der einzelvertraglichen Inbezugnahme der tariflichen Befristungsregelungen besteht die Möglichkeit, punktuell eine volle Tarifdispositivität herzustellen und im Geltungsbereich des TVes die Übernahme der tariflichen Befristungsregelungen auch nicht tarifgebundenen Parteien zu gestatten2. Dies dürfte insbesondere in Krisenzeiten nicht selten im Interesse beider Vertragsparteien liegen. 29
Die Übernahme der tariflichen Regelungen gemäß § 14 Abs. 2 Satz 4 TzBfG bedarf nicht der Schriftform, da es hierbei nicht um die eigentliche Befristungsabrede im Sinne des § 14 Abs. 4 TzBfG geht3. Gleichwohl empfiehlt sich schon aus Beweiszwecken, die Vereinbarung klar und eindeutig schriftlich zu fixieren4.
(7) Besetzungsregeln Literatur: Arnold, Betriebliche Tarifnormen und Außenseiter, 2007; Fischer, Rechtmäßigkeit eines Streiks für tariflichen Überlastungsschutz, juris-PR-ArbR 35/2015 Anm. 6; H. Hanau, Zur Verfassungsmäßigkeit von tarifvertraglichen Betriebsnormen am Beispiel der qualitativen Besetzungsregeln, RdA 1996, 158; Schleusener, Die Zulässigkeit qualitativer Besetzungsregelungen in Tarifverträgen, 1997.
I. Zweck und Kontext 1 Tarifvertragliche Besetzungsregeln treten in zwei verschiedenen Formen auf. Qualitative Besetzungsregeln5 verbieten auf bestimmten Arbeitsplätzen die Beschäftigung von Arbeitnehmern, die bestimmte persönliche oder fachliche Anforderungen, insbesondere eine bestimmte Ausbildung, nicht erfüllen. Quantitative Besetzungsregeln legen die (Mindest-)Zahl der für eine Tätigkeit einzusetzenden Arbeitnehmer fest. Abzugrenzen sind Besetzungsregeln von tariflichen Bestimmungen, die der zutreffenden Eingruppierung (vgl. R (11) Eingruppierung) in eine tarifliche Vergütungsordnung und der tariflichen Vergütungsgerechtigkeit dienen. Im Zweifel nimmt das BAG eine Eingruppierungsvorschrift an6. 2 Besetzungsregeln werden insbesondere aus Gründen des Schutzes vor physischer und psychischer Überforderung7, der Förderung der Arbeitsqualität sowie des Beschäftigungsschutzes für Fachkräfte vereinbart8. Daher sind insbesondere auch Regelungen 1 2 3 4 5 6 7 8
So z.B. Annuß/Thüsing/Maschmann, § 14 TzBfG Rz. 68. Vgl. hierzu Francken, NZA 2010, 305 (306). ErfK/Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rz. 101d. Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, § 14 TzBfG Rz. 411; ErfK/Meier-Glöge, § 14 TzBfG Rz. 101e; Francken, NZA 2010, 305 (306). Vgl. dazu BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, NZA 1990, 850; BAG v. 22.1.1991 – 1 ABR 19/90, NZA 1991, 675. BAG v. 18.3.2008 – 1 ABR 81/06, NZA 2008, 832 (835 f.). LAG Berlin-Brandenburg v. 24.6.2015 – 26 SaGa 1059/15, m. Anm. Fischer, juris-PR-ArbR 35/2015 Anm. 6. BAG v. 17.6.1999 – 2 AZR 456/98, NZA 1999, 1157 (1158 f.).
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Besetzungsregeln
Rz. 4 Teil 5 (7)
zur Arbeitsintensität möglich, zu deren Überwachung auch die Einrichtung einer Gesundheitskommission vorgesehen werden kann1. Um solche Regelungen wird im Moment insbesondere im Krankenhaus- und Pflegebereich gerungen2. Daneben stehen weitere Ziele, wie der Schutz vor Dequalifizierung oder die Schaffung von Anreizen zur Aus- und Weiterbildung. Besetzungsregeln finden sich unter anderem im Transportgewerbe, bei Cockpitbesetzungen von Flugzeugen, sowie – mit langer Tradition – in der Druckindustrie3. Qualitative und quantitative Besetzungsregeln stellen grundsätzlich Betriebsnormen 3 im Sinne von § 3 Abs. 2 TVG dar, die unabhängig von der Tarifbindung der Arbeitnehmer gelten, wenn der Arbeitgeber an den TV gebunden ist (vgl. allgemein zu Betriebsnormen Teil 4 Rz. 84 ff.)4. Soweit die Besetzungsregeln allerdings dem Schutz der Beschäftigten vor Überforderung dienen, sind sie zugleich Inhaltsnormen5. Jedenfalls insoweit bestehen individuelle Ansprüche der betroffenen Arbeitnehmer. Auch gekündigte Arbeitnehmer müssen sich darauf berufen können, dass ihre Kündigung zu einer Missachtung der tarifvertraglichen Besetzungsregeln im Betrieb führen würde6. Das BAG hält Letzteres allerdings lediglich für eine Auslegungsfrage im Einzelfall7. In jedem Fall kann die tarifschließende Gewerkschaft die Einhaltung der Besetzungsregel durchsetzen8. Dem Betriebsrat steht ein Zustimmungsverweigerungsrecht nach § 99 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG zu, wenn eine personelle Einzelmaßnahme zu einem Verstoß gegen die tarifvertragliche Besetzungsregel führen würde9. Die Zulässigkeit tarifvertraglicher Besetzungsregeln war früher lebhaft umstritten, 4 dürfte heute aber im Ergebnis anerkannt sein. Die Bedenken bestanden in erster Linie hinsichtlich der Vereinbarkeit von Besetzungsregeln mit Art. 12 Abs. 1 GG (zur Frage der Grundrechtsbindung der TV-Parteien vgl. Teil 1 Rz. 45 ff.). Bezogen auf den Arbeitgeber wurde die freie Berufsausübung (Art. 12 Abs. 1 GG) als beeinträchtigt angesehen, weil der Arbeitgeber über die Besetzung von Arbeitsplätzen nur unter Beachtung der Besetzungsregel entscheiden kann. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass bloße Lästigkeiten bei der Personalplanung vom BVerfG als nicht besonders gewichtige Eingriffe in Art. 12 Abs. 1 GG angesehen werden10. Bedenken mit Blick auf Art. 12 Abs. 1 GG wurden auch hinsichtlich der Berufsfreiheit von Arbeitsplatzbewerbern, die anders oder nicht der Besetzungsregel entsprechend qualifiziert sind, geltend gemacht. Die mit Blick auf Art. 12 Abs. 1 GG an Besetzungsregeln geübte Kritik leidet an einer Überbetonung der Unternehmerfreiheit, die der Rechtsprechung des BVerfG nicht entspricht. Der Annahme eines Verstoßes entsprechender Regelun1 2 3 4
5 6 7 8 9 10
LAG Berlin-Brandenburg v. 24.6.2015 – 26 SaGa 1059/15. Vgl. LAG Berlin-Brandenburg v. 24.6.2015 – 26 SaGa 1059/15. Däubler/Hensche/Heuschmid, § 1 TVG Rz. 845. BAG v. 27.10.2010 – 7 ABR 36/09, NZA 2011, 527 (529); BAG v. 17.6.1999 – 2 AZR 456/98, NZA 1999, 1157 (1158); BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, NZA 1990, 850 (852 f.); HWK/ Henssler, § 1 TVG Rz. 105; LAG Berlin-Brandenburg v. 24.6.2015 – 26 SaGa 1059/15 Rz. 91. Insoweit offen gelassen von BAG v. 17.6.1999 – 2 AZR 456/98, NZA 1999, 1157 (1159); vgl. auch Däubler/Hensche/Heuschmid, § 1 TVG Rz. 856. LAG Düsseldorf v. 30.11.2010 – 8 Sa 1234/09, ArbuR 2011, 264. BAG v. 17.6.1999 – 2 AZR 456/98, NZA 1999, 1157 (1159). BAG v. 17.6.1999 – 2 AZR 456/98, NZA 1999, 1157 (1159). BAG v. 27.10.2010 – 7 ABR 36/09, NZA 2011, 527 (529); zu § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG vgl. LAG Hessen v. 30.6.2011 – 9 TaBV 199/10, n.v., n.rkr. BVerfG v. 14.1.2015 – 1 BvR 931/12, NVwZ 2015, 582.
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Teil 5 (7) Rz. 5
Katalog typischer Tarifnormen
gen gegen Art. 12 Abs. 1 GG liegt regelmäßig ein Abwägungsausfall mit kollidierenden Grundrechtspositionen zugrunde. Das BAG sieht Besetzungsregeln mit Blick auf ihre Ziele (vgl. Rz. 1) grundsätzlich als verfassungsrechtlich gerechtfertigte Regelungen der freien Berufsausübung und der freien Berufswahl an1. Die Rechtfertigung ergibt sich aus der Funktion der Besetzungsregeln, die regelmäßig dem Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer aber auch aus ihrem gleichermaßen aus Art. 12 1 GG geschützten Interesse am Erhalt ihres Arbeitsplatzes dienen2. Schließlich darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Besetzungsregeln – etwa bei der Regelung von Cockpitbesatzungen – auch dem Schutz von Rechtsgütern anderer Arbeitnehmer oder Dritter dienen können3 und umgekehrt ihre Rechtmäßigkeit auch an einer unverhältnismäßigen Gefährdung der Gesundheit von Arbeitnehmern und Dritten scheitern kann, wenn sie zu Überlastung führt4. In Ansehung der regelmäßig mit Besetzungsregeln verfolgten Ziele unverhältnismäßige Klauseln sind unzulässig. Ungeachtet der Frage, ob der Prüfungsmaßstab und die Reichweite, die der freien Unternehmerentscheidung durch das BAG verliehen wird überzeugt5, ist der Rechtsprechung im Ergebnis zuzustimmen, soweit sie eine Abwägung der widerstreitenden Interessen vornimmt. Das BAG hat seinen gegenüber Inhaltsnormen strengeren Kontrollmaßstab für Betriebsnormen nach wie vor nicht aufgegeben (zur Grundrechtsbindung der TVParteien im Übrigen vgl. Teil 1 Rz. 45 ff.)6. Die TV-Parteien dürfen die Besetzungsregeln nicht gleichheitswidrig (Art. 3 Abs. 1 GG) oder diskriminierend ausgestalten. Die den Besetzungsregeln durch die TV-Parteien zu Grunde gelegten Sachgründe dürfen nicht willkürlich oder sachfremd sein. Die Rechtfertigungsbedürftigkeit für bloße Vorrangregeln ist geringer, als wenn die TV-Parteien absolute, uneingeschränkte Einstellungsvoraussetzungen schaffen. Eine Besetzungsregel, welche die Besetzung bestimmter (Beförderungs-)Stellen in einem Betrieb an Voraussetzungen knüpft, deren Herbeiführung einem (Groß-)Teil der Belegschaft selbst im Benehmen mit dem Arbeitgeber objektiv unmöglich ist, ist unwirksam7. Die tarifvertraglichen Regelungen sind allerdings häufig flexibler und weit weniger einschneidend, als dies in der Diskussion in der Vergangenheit bisweilen zum Ausdruck gekommen ist. 5 Besetzungsregeln können erstreikt werden8. Es handelt sich bei ihnen um Gegenstände, die tarifvertraglich regelbar sind (vgl. Rz. 4)9. Soweit der Gesundheitsschutz Gegenstand anderer tarifvertraglicher Regelungen ist, kann eine Friedenspflicht nur dann bestehen, wenn diese Regelungen abschließend sein sollen und etwa auch die Frage des Überlastungsschutzes mitregeln10. Die Friedenspflicht von bestehenden Tarifverträgen zum Arbeitsentgelt erstreckt sich nicht auf Regelungen zu Besetzungs1 BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, NZA 1990, 850; BAG v. 22.1.1991 – 1 ABR 19/90, NZA 1991, 675; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 108. 2 Vgl. hierzu Fischer, juris-PR-ArbR 35/2015 Anm. 6. 3 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1836. 4 BAG v. 19.6.1984 – 1 AZR 361/82, NZA 1984, 261; ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 61. 5 Krit. Däubler/Hensche/Heuschmid/Heuschmid, § 1 TVG Rz. 849. 6 Zumindest lässt sie aber Zweifel erkennen, vgl. BAG v. 8.12.2010 – 7 ABR 98/09, NZA 2011, 751 (756 f.). 7 BAG v. 18.3.2008 – 1 ABR 81/06, NZA 2008, 832 (835 f.). 8 LAG Hessen v. 9.8.2011 – 9 SaGa 1147/11, n.v.; LAG Berlin-Brandenburg v. 24.6.2015 – 1 AZR 875/1326 SaGa 1059/15, n.v. 9 LAG Berlin-Brandenburg v. 24.6.2015 – 26 SaGa 1059/15, Rz. 85 ff.; Fischer, juris-PR-ArbR 35/2015 Anm. 6. 10 LAG Berlin-Brandenburg v. 24.6.2015 – 26 SaGa 1059/15, n.v., Rz. 82.
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Besetzungsregeln
Rz. 9 Teil 5 (7)
regeln. Daran ändert sich nichts dadurch, dass die Besetzungsregeln beim Arbeitgeber zusätzliche Kosten verursachen1. Grundsätzlich entfalten auch vorhandene Regelungen zur Arbeitszeit keine Friedenspflicht hinsichtlich etwaiger Besetzungsregeln. Die Missachtung von Besetzungsregeln durch den Arbeitgeber kann sich auch dahin- 6 gehend auswirken, dass bei einer – auch mittelbar – durch eine fehlerhafte oder unzureichende Besetzung erfolgten Beeinflussung von Fehlerquellen die Haftung des Arbeitnehmers für Pflichtverletzungen ausgeschlossen oder jedenfalls reduziert wird2. Sofern auf der Grundlage tarifvertraglicher Besetzungsregeln Betriebsvereinbarungen 7 abgeschlossen werden, dürfen diese nicht so ausgestaltet werden, dass sie eine Orientierung an den tatsächlichen Einsatzerfordernissen vor Ort vermissen lassen3.
II. Beispiele Anhang A MTV Druck (Auszug)
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Anmerkung: Die Besetzungsregeln werden hier nur auszugsweise abgedruckt. Die Anhnge mssen im Zusammenhang mit dem Abschlussprotokoll der Tarifeinigung zwischen dem bvdm und ver.di vom 16.6.2005 und der Vereinbarung zum Tarifabschluss vom 6.2.1997, ergnzt durch die Tarifabschlsse vom 21.2.2001 sowie vom 22.10.2001 gelesen werden. (…) III. Sonstige Bestimmungen (…) 5. Alle Facharbeiten in den Gruppen Druckformherstellung, Druck, Weiterverarbeitung sind von Fachkrften der Druckindustrie auszuben. Ausnahmen von dieser Bestimmung sind in den einzelnen Anhngen gesondert geregelt. 9
Anhang C MTV Druck (Auszug) I. Allgemeines 1. Die Bedienung der Steuerungs- und Regeleinrichtungen, die berwachung der Qualitt und Produktionsmenge, des ordnungsgemßen Laufs sowie die Veranlassung notwendiger Maßnahmen, ferner alle Arbeiten des Berufsbildes sind Aufgabe der Drucker. Protokollnotiz: Zur Maschinenbesetzung im Fortdruck an Rotationsmaschinen zhlen auch die Abteilungsleiter und Schichtfhrer, wenn sie tatschlich die Maschinen bedienen. 2. Arbeiten, wie beispielsweise das len und Schmieren der Maschine, Ein- und Ausheben der Formen, Formenschließen, Mischen und Druckfertigmachen der Farben im Bogendruck, Einziehen der Papierbahnen, Bedienung von Rollentrgern, Ab1 LAG Berlin-Brandenburg v. 24.6.2015 – 26 SaGa 1059/15, n.v., Rz. 83. 2 LAG Niedersachsen v. 23.9.1997 – 7 Sa 490/97, AiB 1998, 347 m. Anm. Kohte. 3 LAG Düsseldorf v. 30.11.2010 – 8 Sa 1234/09, ArbuR 2011, 264.
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Teil 5 (7) Rz. 10
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richten und Schleifen der Rakel, Waschen der Zylinder bzw. Walzen, kçnnen auch von geeigneten Hilfskrften selbstndig ausgefhrt werden. 3. Bei vorbergehender Abwesenheit (Urlaub, Krankheit) eines Rotationsdruckers an einer Rollenrotationsmaschine kann vertretungsweise auch ein anderer Drucker mit den technischen Arbeiten an der Rotationsmaschine beschftigt werden, vorausgesetzt, dass wenigstens ein ausgebildeter Rotationsdrucker an der Maschine arbeitet. 4. An Rollenrotationsmaschinen kann die unvorhergesehene kurzfristige Abwesenheit eines Druckers innerhalb einer Schicht nicht den Stillstand der Maschine zur Folge haben. 5. Zusatzaggregate (z.B. Postkartenankleber, Beiheftung usw.) an Rotationsmaschinen in allen Druckverfahren mssen bei der Maschinenbesetzung bercksichtigt werden. II. Bogendruck 1. Jede Fachkraft hat nur eine Einfarben-Bogendruckmaschine, zwei Tiegel oder zwei Einfarben-Kleinoffsetmaschinen zu bedienen. 2. An Bogendruck-Mehrfarbenmaschinen werden je zwei Farbwerke durch einen Drucker bedient. Protokollnotiz: Bei Bogendruck-Mehrfarbenmaschinen bis zum Format III b) kann die Besetzung mit Fachkrften durch betriebliche Regelung abweichend erfolgen. Bei Vorliegen besonderer technischer Ausstattung (zentrale Farb-, Wasser- und Registersteuerung) kann von dieser Bedienungsregelung abgewichen werden. 3. Den Fachkrften ist ab dem Format IV mindestens eine Hilfskraft beizustellen. Dies gilt bei Maschinen mit vier Farbwerken fr die Formatklassen I bis V. An Maschinen mit vier Farbwerken ab dem Format VI und an Maschinen mit sechs Farbwerken sind zwei Hilfskrfte zu beschftigen. (…)
III. Kommentierung 10
Die Anhänge zum MTV Druck beinhalten sowohl quantitative als auch qualitative Besetzungsregeln. Die Regelungen sind von den TV-Parteien fortlaufend an die technische Entwicklung angepasst worden. Dies führt dazu, dass die Anhänge zum MTV Druck stets im Zusammenhang mit dem Abschlussprotokoll der Tarifeinigung zwischen dem bvdm und ver.di vom 16.6.2005 und der Vereinbarung zum Tarifabschluss vom 6.2.1997, ergänzt durch die Tarifabschlüsse vom 21.2.2001 sowie vom 22.10.2001, gelesen werden müssen. In der Tarifrunde 2014 wurde eine Neuverhandlung des Manteltarifvertrags vereinbart1. Diese flexibilisieren verschiedene Besetzungsregeln im TV. Eine redaktionelle Überarbeitung des TVs war zwischen den TV-Parteien vereinbart, ist aber gescheitert. 1 Pressemitteilung vom 21.5.2014 unter http://www.vdmb.de/recht-aktuelles-detail/nachricht/ 384-annahme-des-tarifabschlusses-fuer-die-druckindustrie/.
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Besetzungsregeln
Rz. 15
Teil 5 (7)
Die Anhänge regeln, gegliedert nach verschiedenen Druckformen, die Besetzung unter- 11 schiedlicher Druckmaschinen. Der Anhang C unterscheidet zwischen Bogendruck (Anhang C II) und Rollenrotation (Anhang C IIII.). Bei letzterem wird zwischen Buchdruckrotationsmaschinen (Anhang C III.a), Offsetrotationsmaschinen (Anhang C III.b), Tiefdruckrotationsmaschinen (Anhang C III.c) und Endlosrotationsmaschinen (Anhang C III.d) unterschieden. Die Besetzungsregeln folgen immer einem ähnlichen Muster. Sie definieren zunächst die Maschinenart und sehen dann orientiert an der Ausstattung und Art der Maschine Mindestbesetzungen von Druckern und Hilfskräften vor. So verlangt Anhang C II. Ziff. 3 für den Bogendruck, dass entsprechend des Formats der Maschine und der Zahl der Farbwerke Hilfskräfte zu beschäftigen sind. Die Zahl der Drucker hängt demgegenüber von der Zahl der Farbwerke ab. Die Tätigkeitsbereiche von Druckern und Hilfskräften werden dabei so voneinander abgegrenzt, dass bestimmte Tätigkeiten alleine den Druckern zugewiesen werden, wobei im Einzelfall Ausnahmen zugelassen werden. Quantitative Besetzungsregeln finden sich sowohl hinsichtlich der Zahl der Drucker 12 als auch der Hilfskräfte, die an bestimmten Maschinen tätig sein müssen. Die Regelungen sehen in der Regel eine Abhängigkeit von der Zahl der Druckwerke vor und sind an den Stand der Technik angepasst. Die Besetzungsregeln sehen verschiedentlich flexible Elemente vor, etwa Anhang C I. Ziff. 3 und Ziff. 4 MTV Druck, die es ermöglichen, vorübergehend von den Besetzungsregeln abzuweichen, um die Produktion aufrecht zu erhalten. Dies betrifft etwa Fälle kurzfristiger Abwesenheit eines Druckers (Anhang C I. Ziff. 4 MTV Druck) oder Fälle von Krankheit und Urlaub (Anhang C I. Ziff. 3 MTV Druck). Bei besonderen Erschwernissen besteht die Verpflichtung, über die vorgesehene Besetzung hinaus zu gehen. III.b) Offsetrotationsmaschinen Ziff. 2c) MTV Druck stellt die Entscheidung hierüber nicht in das Ermessen des Arbeitgebers. Liegen die Erschwernisse vor, ist eine zusätzliche Besetzung durch Betriebsvereinbarung zu regeln. Anhang C II Bogendruck Ziff. 3 Satz 1 bis 3 MTV legt die Mindestanzahl der an be- 13 stimmten Maschinen zu beschäftigenden Hilfskräfte fest. Die Regelung ist wirksam. Das BAG sieht den Zweck der Regelung alleine im Schutz der Facharbeiter vor Überforderung und Dequalifikation sowie Förderung der Arbeitsqualität, nicht aber darin, die Hilfskräfte zu schützen. Dementsprechend können diese sich nicht auf einen Verstoß gegen die Vorschrift berufen1. Die Facharbeiter hingegen ebenso wie die Gewerkschaft und der Betriebsrat können verlangen, dass die Vorschrift eingehalten wird (vgl. Rz. 3). Anhang C II Bogendruck Ziff. 3 Satz 1 bis 3 MTV beinhaltet eine Mindestregelung für die Besetzung. Der Einsatz von mehr als den vorgeschriebenen Hilfskräften ist ebenso möglich wie der Einsatz von Fachkräften anstatt Hilfskräften. Verschiedene Regelungen sehen in qualitativer Hinsicht vor, dass bestimmte Tätig- 14 keiten nur von Fachkräften der Druckindustrie durchgeführt werden dürfen. Unter dem Begriff „Fachkraft der Druckindustrie“ ist eine Arbeitskraft mit einschlägiger abgeschlossener Berufsausbildung zu verstehen. Der TV sieht Abweichungsmöglichkeiten von den Besetzungsregeln (z.B. Anhang C II. Bogendruck, Ziff. 2 Abs. 2) vor. Der TV formuliert hier teilweise lediglich „Abweichungen“; in Protokollnotizen ist bisweilen von Abweichungen durch „be1 BAG v. 17.6.1999 – 2 AZR 456/98, NZA 1999, 1157 (1158 f.).
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Teil 5 (7) Rz. 16
Katalog typischer Tarifnormen
triebliche Regelungen“ die Rede. Sofern „Abweichungen“ zugelassen sind, soll eine abweichende Besetzung auch ohne Beteiligung des Betriebsrats und ohne Abschluss einer Betriebsvereinbarung möglich sein1. Das BAG stützt diese Auffassung auf den Wortlaut der Besetzungsregeln. Daraus, dass bei einer besonderen technischen Ausstattung „von dieser Besetzungsregel“2 und damit von dem Grundtatbestand des Satz 1 abgewichen werden könne, ergebe sich, dass nicht vorgesehen sei, dass nur durch eine mit dem Betriebsrat abgeschlossene Vereinbarung von der Regelbesetzung abgewichen werden könne. Dafür spreche auch der systematische Zusammenhang mit der Protokollnotiz zu Satz 1, die ausdrücklich eine Abweichung nur durch betriebliche Regelungen zulasse. 16
Die TV-Parteien haben vereinbart, dass die Besetzung mit Fach- und Hilfskräften während des Fortdrucks unter Zugrundelegung der Bestimmungen des Anhangs C III. durch Betriebsvereinbarung geregelt wird. Kommt eine Einigung nicht zustande, so entscheidet die Einigungsstelle gemäß § 76 BetrVG verbindlich (Tarifabschluss vom 6.2.1997, ergänzt durch die Tarifabschlüsse vom 21.2.2001 sowie vom 22.10.2001 Vereinbarung Nr. 1).
(8) Differenzierungsklauseln I. Zweck und Kontext 1 Unter Differenzierungsklauseln versteht man Tarifregelungen, wonach ausschließlich Gewerkschaftsmitgliedern bestimmte Leistungen des Arbeitgebers zugute kommen, die den nicht oder anders Organisierten nicht zustehen. Je nach Rechtswirkung sind zwei Grundarten von Differenzierungsklauseln zu unterscheiden: einfache und qualifizierte Differenzierungsklauseln. Bei einfachen Differenzierungsklauseln wird die Mitgliedschaft in der tarifschließenden Gewerkschaft zur Anspruchsvoraussetzung erhoben mit der Folge, dass Nichtmitgliedern kein Anspruch darauf zusteht. Allerdings hat der Arbeitgeber die Möglichkeit, dieselben Leistungen auch Nichtgewerkschaftsmitgliedern zu gewähren. Weitergehende Rechtsfolgen lösen qualifizierte Differenzierungsklauseln aus, die in der Form von Tarifausschlussklauseln und sog. Spannen- (auch Spannensicherungsklauseln) oder Abstandsklauseln vorkommen. Sie schränken zusätzlich zur Begünstigung der Gewerkschaftsmitglieder die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers ein. Als Tarifausschlussklauseln verwehren sie es ihm, Nichtorganisierten tarifliche Leistungen zu gewähren; als Spannenklauseln verpflichten sie den Arbeitgeber, von ihm allgemein gewährte Leistungen wie Sonderzuwendungen oder Erholungsurlaub für die Mitglieder der tarifschließenden Gewerkschaft zusätzlich um den Spannenbetrag aufzustocken, sodass diesen stets eine höhere Leistung zusteht3.
1 LAG Hessen v. 30.6.2011 – 9 TaBV 199/10, n.v., n.rkr. BAG v. 11.12.2012 – 1 ABR 81/11, AP Nr. 19 zu § 87 BetrVG 1972, vgl. hierzu Oberberg, RdA 2014, 180. 2 Womit allerdings der Wortlaut der Norm unpräzise wiedergegeben wird. Dieser lautet „von dieser Bedienungsregelung“. 3 ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 62.
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Teil 5 (7) Rz. 16
Katalog typischer Tarifnormen
triebliche Regelungen“ die Rede. Sofern „Abweichungen“ zugelassen sind, soll eine abweichende Besetzung auch ohne Beteiligung des Betriebsrats und ohne Abschluss einer Betriebsvereinbarung möglich sein1. Das BAG stützt diese Auffassung auf den Wortlaut der Besetzungsregeln. Daraus, dass bei einer besonderen technischen Ausstattung „von dieser Besetzungsregel“2 und damit von dem Grundtatbestand des Satz 1 abgewichen werden könne, ergebe sich, dass nicht vorgesehen sei, dass nur durch eine mit dem Betriebsrat abgeschlossene Vereinbarung von der Regelbesetzung abgewichen werden könne. Dafür spreche auch der systematische Zusammenhang mit der Protokollnotiz zu Satz 1, die ausdrücklich eine Abweichung nur durch betriebliche Regelungen zulasse. 16
Die TV-Parteien haben vereinbart, dass die Besetzung mit Fach- und Hilfskräften während des Fortdrucks unter Zugrundelegung der Bestimmungen des Anhangs C III. durch Betriebsvereinbarung geregelt wird. Kommt eine Einigung nicht zustande, so entscheidet die Einigungsstelle gemäß § 76 BetrVG verbindlich (Tarifabschluss vom 6.2.1997, ergänzt durch die Tarifabschlüsse vom 21.2.2001 sowie vom 22.10.2001 Vereinbarung Nr. 1).
(8) Differenzierungsklauseln I. Zweck und Kontext 1 Unter Differenzierungsklauseln versteht man Tarifregelungen, wonach ausschließlich Gewerkschaftsmitgliedern bestimmte Leistungen des Arbeitgebers zugute kommen, die den nicht oder anders Organisierten nicht zustehen. Je nach Rechtswirkung sind zwei Grundarten von Differenzierungsklauseln zu unterscheiden: einfache und qualifizierte Differenzierungsklauseln. Bei einfachen Differenzierungsklauseln wird die Mitgliedschaft in der tarifschließenden Gewerkschaft zur Anspruchsvoraussetzung erhoben mit der Folge, dass Nichtmitgliedern kein Anspruch darauf zusteht. Allerdings hat der Arbeitgeber die Möglichkeit, dieselben Leistungen auch Nichtgewerkschaftsmitgliedern zu gewähren. Weitergehende Rechtsfolgen lösen qualifizierte Differenzierungsklauseln aus, die in der Form von Tarifausschlussklauseln und sog. Spannen- (auch Spannensicherungsklauseln) oder Abstandsklauseln vorkommen. Sie schränken zusätzlich zur Begünstigung der Gewerkschaftsmitglieder die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers ein. Als Tarifausschlussklauseln verwehren sie es ihm, Nichtorganisierten tarifliche Leistungen zu gewähren; als Spannenklauseln verpflichten sie den Arbeitgeber, von ihm allgemein gewährte Leistungen wie Sonderzuwendungen oder Erholungsurlaub für die Mitglieder der tarifschließenden Gewerkschaft zusätzlich um den Spannenbetrag aufzustocken, sodass diesen stets eine höhere Leistung zusteht3.
1 LAG Hessen v. 30.6.2011 – 9 TaBV 199/10, n.v., n.rkr. BAG v. 11.12.2012 – 1 ABR 81/11, AP Nr. 19 zu § 87 BetrVG 1972, vgl. hierzu Oberberg, RdA 2014, 180. 2 Womit allerdings der Wortlaut der Norm unpräzise wiedergegeben wird. Dieser lautet „von dieser Bedienungsregelung“. 3 ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 62.
374 Ulber/Steffan
Differenzierungsklauseln
Rz. 3 Teil 5 (8)
Begonnen hat die Diskussion um Differenzierungsklauseln in den 1960er Jahren, als 2 Gewerkschaften erstmals exklusive Sonderleistungen für ihre Mitglieder forderten und erstreikten. Vorläufiger Schlusspunkt dieser Diskussion war die Entscheidung des Großen Senats des BAG vom 29.11.19671. In diesem Beschluss hat der Große Senat die Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit bei einem tariflichen Urlaubsgeld und deren Absicherung durch eine Spannenklausel wegen Verstoßes gegen die negative Koalitionsfreiheit für rechtswidrig erachtet. Danach spielten Differenzierungsklauseln jahrzehntelang keine große Rolle mehr2. Zwei Umstände haben Differenzierungsklauseln in den letzten Jahren wieder vermehrt ins Gespräch gebracht. Zum einen haben die Gewerkschaften mit nachlassenden Mitgliederzahlen zu kämpfen und machen sich deshalb vermehrt Gedanken um ihre Attraktivität und die Sicherung des Bestandes3. Zum anderen mussten die Gewerkschaften im Rahmen von SanierungsTVen oftmals Zugeständnisse bei den essenziellen Bestandteilen der Tarifregelungen, nämlich Arbeitszeit und Entgelt, machen und versuchten deshalb, über Differenzierungen, etwa bei Jahressonderzahlungen, die Belastungen für ihre Mitglieder zu reduzieren4. Im Jahre 2007 hat der 4. Senat dann entschieden, dass eine mit einer Stichtagsregelung verbundene Differenzierungsklausel unzulässig sei, weil sie dem Einzelnen entgegen der gesetzlichen Konzeption der §§ 3, 4 TVG nicht ermögliche, durch Gewerkschaftsbeitritt die Anspruchsvoraussetzungen zu begründen5. In dieser Entscheidung hat der Senat ausdrücklich offen gelassen, ob weiterhin an den vom Großen Senat aufgestellten Grundsätzen zu Differenzierungsklauseln festzuhalten sei. Weit mehr Aufsehen erregte dann die Entscheidung des 4. Senats vom 18.3.2009, nach der eine Differenzierungsklausel, durch die in einem TV die Mitgliedschaft in der tarifschließenden Gewerkschaft zum Tatbestandsmerkmal eines Anspruchs auf eine jährliche Sonderzahlung in Höhe von 535 Euro gemacht wurde, keinen grundsätzlichen tarifrechtlichen oder verfassungsrechtlichen Bedenken begegne6. Gegenstand der Entscheidung, mit der der 4. Senat nach eigener Aussage ausdrücklich nicht von der Entscheidung des Großen Senats von 1967 abweichen wollte7, war mithin eine einfache Differenzierungsklausel. Eine Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit dem Urteil von 1967 hätte der 4. Senat ziemlich genau zwei Jahre später gehabt. Grundlage der Entscheidung vom 23.3.2011 war eine qualifizierte Differenzierungsklausel in Form einer Spannenklausel, also eine der Entscheidung des Großen Senats aus 1967 vergleichbare Regelung. Eine Auseinandersetzung mit der Entscheidung des Großen Senats blieb jedoch aus, weil der 4. Senat die Klausel wegen Überschreitung der Tarifmacht für unwirksam erachtete8. Zulässigkeit und Reichweite von Differenzierungsklauseln sind in den letzten zehn Jahren vor dem Hintergrund sog. „Tarifboni“ für Gewerkschaftsmitglieder wieder 1 BAG v. 29.11.1967 – GS 1/67, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG. 2 Wiedemann/Wiedemann, TVG, Einleitung Rz. 287; Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Differenzierungsklauseln Rz. 1. 3 Zutreffend Deinert, jurisPR-ArbR 45/2009 Anm. 1. 4 Vgl. Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Differenzierungsklauseln Rz. 1. 5 BAG v. 9.5.2007 – 4 AZR 275/06, NZA 2007, 1439. 6 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028. 7 Insoweit anders als die Vorinstanz, LAG Hannover v. 11.12.2007 – 5 Sa 914/07, DB 2008, 1977 = LAGE Art. 9 GG Nr. 15a m. Anm. Deinert. 8 BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920; instruktiv zur „Nichterwähnung“ der Entscheidung des Großen Senats Bauer/Arnold, NZA 2011, 945.
Steffan
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Teil 5 (8) Rz. 3a
Katalog typischer Tarifnormen
verstärkt diskutiert worden1. Die Tendenz der Gewerkschaften geht dabei dahin, der nachlassenden Attraktivität ihrer Organisationen durch Sonderleistungen entgegenzuwirken; offenbar mit Erfolg2. In Anlehnung an die Rechtsprechung des 4. Senats vereinbaren die Tarifpartner im Einzelfall einfache Differenzierungsklauseln, die meist jährlich wirkende Entgeltleistungen an die Gewerkschaftsmitglieder beinhalten, wie etwa Zuschüsse zum Urlaubsgeld, Zusatzleistungen zur betrieblichen Altersversorgung, Erholungsbeihilfen oder Jahressonderzahlungen. Spannen- bzw. Spannensicherungsklauseln, wie sie etwa in der Entscheidung vom 23.11.2011 vorlagen, dürften sich mit der Entscheidung des 4. Senats weitgehend erledigt haben. Tarifausschluss- bzw. Verbotsklauseln sind, soweit sie in den letzten Jahren überhaupt vorgekommen sind, Einzelfälle geblieben. 3a
Die vermeintlich erkennbare Struktur der Rechtsprechung nach der Entscheidung vom 18.3.2009 hat durch mehrere neuere Entscheidungen des 4. Senats dagegen an klaren Konturen verloren. Dies gilt zunächst für die sog. Opel-Entscheidung vom 21.5.20143. Sie illustriert recht deutlich das neuerdings häufig praktizierte Vorgehen, wonach neben der unmittelbaren Besserstellung der Gewerkschaftsmitglieder auch mittelbare Begünstigungen (vgl. Rz. 17) über gemeinsame Einrichtungen nach § 4 Abs. 2 TVG sowie gewerkschaftsnahe Stiftungen, Vereine oder sonstige „Dritte“ stattfindet4. Die Nutzung gemeinsamer Einrichtungen der TV-Parteien zur Differenzierung zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und Außenseitern wird dadurch erreicht, dass Ansprüche gegen diese Einrichtungen nur tarifgebundenen Arbeitnehmern zustehen. Dasselbe gilt im Fall der Einschaltung sonstiger Dritter. So werden z.B. gemeinnützige Vereine (Sozialvereine) in gewerkschaftlicher Trägerschaft mit finanziellen Mitteln des Arbeitgebers (mit-)ausgestattet. Der Verein bietet dann unmittelbar oder mittelbar (etwa über Erholungswerke) Leistungen an, die nur den Mitgliedern der entsprechenden Gewerkschaft zugute kommen5. In einer weiteren Entscheidung vom 15.4.2015 (Nokia Networks) befasst sich der Senat einmal mehr mit Stichtagsklauseln und differenziert danach, ob zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und Außenseitern unterschieden wird oder zwischen verschiedenen Gruppen von Mitgliedern der Gewerkschaft (vgl. Rz. 13a)6. Im zweiten Fall soll schon gar keine einfache Differenzierungsklausel vorliegen7. Beiden Fällen ist gemeinsam, dass die Frage, ob ein „unerträglicher“, „unzumutbarer“ oder „zwangsähnlicher Druck“ zum
1 Etwa Greiner, jM 2016, 66; Siegfanz-Strauß, RdA 2015, 266; Kalb, jM 2015, 107; Giesen, Anm. zu AP Nr. 220 zu § 242 BGB Gleichbehandlung; Klein, jurisPR-ArbR 39/2015, Anm. 4; Hanau, FS Hromadka 2008, S. 128; Ebert, ArbRB 2015, 205; Bauer/Arnold, NZA 2005, 1209; Bauer/Arnold, NZA 2009, 1169; Bauer/Arnold, NZA 2011, 945; Greiner/Suhre, NJW 2010, 131; BrechtHeitzmann, NZA-RR 2011, 505; Franzen, RdA 2006, 1; Gamillscheg, NZA 2005, 146; Giesen, NZA 2004, 1317; Kocher, NZA 2009, 119; Ulber/Strauß, DB 2008, 1970; Ulber, Anm. EzA Art. 9 GG Nr. 104. 2 Siehe dazu etwa den Hinweis von Greiner, jM 2016, 66, 67. 3 BAG v. 21.5.2014 – 4 AZR 50/13, NZA 2015, 115. 4 So auch Bauer/Arnold, NZA 2011, 945 (949). 5 Vgl. etwa LAG Köln v. 17.1.2008 – 6 Sa 1354/07, juris; BAG v. 21.5.2014 – 4 AZR 50/13, NZA 2015, 115; dazu Kalb, jM 2015, 107. 6 BAG v. 15.4.2015 – 4 AZR 796/13, NZA 2015, 1388, Rz. 27; davor bereits BAG v. 21.8.2013 – 4 AZR 861/11, NZA-RR 2014, 20, Rz. 21 f.; BAG v. 5.9.2012 – 4 AZR 696/10, DB 2013, 1123, Rz. 30. 7 BAG v. 15.4.2015 – 4 AZR 796/13, NZA 2015, 1388; Rz. 27; kritisch Greiner, jM 2016, 66.
376 Steffan
Differenzierungsklauseln
Rz. 4 Teil 5 (8)
Gewerkschaftsbeitritt vorliegt, offensichtlich nicht (mehr) von der Höhe des Vorteils für die Gewerkschaftsmitglieder abhängig gemacht wird1. Insbesondere nach Einführung des „Tarifeinheitsgesetzes“ dürfte die weitere Ent- 3b wicklung der Differenzierungsklauseln spannend bleiben. Unklar ist etwa, ob sich das Nachzeichnungsrecht gem. § 4a Abs. 4 TVG auch auf Differenzierungsklauseln bezieht und wenn ja, mit welcher Wirkung2. Soll etwa die Nachzeichnung einer Differenzierungsklausel dazu führen, dass auch der TV der Minderheitsgewerkschaft eine Besserstellung der Mitglieder der Mehrheitsgewerkschaft statuiert, oder soll sich die Begünstigung dann auf die Mitglieder der tarifschließenden Minderheitsgewerkschaft/en beziehen? Von der Beantwortung dieser Fragen wird auch abhängen, ob zur Steigerung des Mitgliederbestands künftig ein exzessiver Einsatz der Differenzierungsklausel als Kampfinstrument im Gewerkschaftswettbewerb zu erwarten ist. Zu Recht ist bereits darauf hingewiesen worden, dass die Zulässigkeit einfacher Differenzierungsklauseln umso kritischer ist, je mehr die Mehrheitsgewerkschaft umfassend für die Verteilungsgerechtigkeit im Betrieb – auch im Hinblick auf nicht und anders Organisierte – zuständig ist. Damit besteht die Gefahr, dass die „großen“ Gewerkschaften Differenzierungen bei den Arbeitsbedingungen als egoistisches Mittel zur Mitgliederwerbung einsetzen können3.
II. Beispiele 1. Einfache Differenzierungsklausel
4
Gegenstand der BAG-Entscheidung vom 18.3.2009 war eine einfache Differenzierungsklausel, der im Wesentlichen folgende Entwicklung zugrunde lag: In den Jahren 2003 bis 2005 schlossen die Gewerkschaft ver.di und die Beklagte bzw. deren Rechtsvorgnger mit regionaler Geltung sog. „Restrukturierungstarifvertrge“, die eine befristete Absenkung der im BMT-AW II vorgesehenen Sonderzahlungen vorsahen. Nach der Umstrukturierung des Bezirksverbandes Weser-Ems durch Ausgliederung und gesellschaftsrechtliche Verselbstndigung mehrerer gemeinntziger Gesellschaften mit beschrnkter Haftung, u.a. der Beklagten, schlossen diese Gesellschaften zusammen mit dem Bezirksverband auf der einen und der Gewerkschaft ver.di auf der anderen Seite aufgrund nachhaltiger wirtschaftlicher Probleme mehrere TVe, darunter einen „Haustarifvertrag“, der den Mitarbeitern in § 19 grundstzlich einen Anspruch auf eine Jahressonderzahlung gewhrte. Zustzlich wurde jedoch ein „TV zum Ausgleich des strukturellen Defizits der Unternehmensgruppe des ehemaligen AWO-Bezirksverbandes Weser-Ems (TVAstD)“ abgeschlossen, der folgende Differenzierung vorsah: § 2 Außerkraftsetzen § 19 des Haustarifvertrages der AWO Gruppe Der § 19 des Haustarifvertrages der AWO-Gruppe vom 1. Juli 2006 wird durch diesen Tarifvertrag Ausgleich strukturelles Defizit (TV AstD) unter Beachtung der Regelungen in den folgenden Paragraphen außer Kraft gesetzt.
1 Wohl zustimmend Siegfanz-Strauß, RdA 2015, 266, 269 f. 2 Dazu etwa Henssler, RdA 2015, 222, 225. 3 So etwa die Befürchtung von Greiner, NZA 2015, 769, 773, 778.
Steffan
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Teil 5 (8) Rz. 5
Katalog typischer Tarifnormen
§ 3 Ausgleichszahlung fr ver.di-Mitglieder (1) Als Ersatzleistung wegen des Verzichts auf die Sonderzahlungen gemß § 19 des Haustarifvertrages der AWO-Gruppe erhalten die ver.di-Mitglieder der AWOGruppe in jedem Geschftsjahr zum 31. Juli eine Ausgleichszahlung in Hçhe von 535 Euro brutto je Vollzeitkraft gemß tariflicher Wochenarbeitszeit. (2) Teilzeitbeschftigte erhalten die Ausgleichszahlung anteilig. (3) Diese Ausgleichszahlung erhalten Beschftigte, die ihre Mitgliedschaft in der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) fr die zurckliegenden drei Monate bis zum Auszahlungstag glaubhaft zum 30. Juni nachgewiesen haben. (4) Fr das Jahr 2006 ist die Mitgliedschaft fr die zurckliegenden drei Monate bis zum Auszahlungstag (30.9.2006) glaubhaft zum 31.8.2006 nachzuweisen. 5 2. Spannenklausel (Beispiel 1) Der BAG-Entscheidung vom 23.3.2011 lag eine qualifizierte Differenzierungsklausel in Form einer sog. Spannenklausel zugrunde. Die Klgerin ist ein Unternehmen im Bereich der Hafen-Logistik und beschftigt ca. 1500 Arbeitnehmer. Die von ihr verwendeten Formulararbeitsvertrge verweisen jeweils auf die çrtlich, zeitlich und inhaltlich fr sie geltenden TVe. Die Beklagte ist die im Betrieb der Klgerin vertretene Gewerkschaft ver.di. Im Frhjahr 2008 traten die Parteien in TV-Verhandlungen ein, whrend derer die Beklagte der Klgerin u.a. schriftlich ankndigte, „eine gewerkschaftliche Vorteilsregelung notfalls auch mit Arbeitskampfmaßnahmen durchzusetzen“. Hiergegen wendete sich die Klage der Arbeitgeberin. Schließlich vereinbarten die Parteien den „TV ber eine Erholungsbeihilfe fr Lohn- und Gehaltsempfnger, die Mitglied der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di sind“ (TV ErhBeih), der hinsichtlich der Problematik der Differenzierung folgenden Wortlaut hat: I. Lohn- und Gehaltsempfnger, die Mitglied der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di sind, erhalten pro Kalenderjahr eine Erholungsbeihilfe als Bruttobetrag in Hçhe von Euro 260. V. Gewhrt die H. die Leistung nach Ziffer I., entsprechende oder ber die in Ziffer I festgelegten Ansprche hinausgehende Betrge oder sonstige Leistungen Lohn- und Gehaltsempfngern, die nicht Mitglied der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di sind, so erhçht sich fr die Lohn- und Gehaltsempfnger, die Mitglied der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di sind, die Arbeitgeberleistung entsprechend. 6 3. Spannenklausel (Beispiel 2) Dem Beschluss des Großen Senats vom 1967 lag ein TV ber ein zustzliches Urlaubsgeld zugrunde, das fr Gewerkschaftsmitglieder nochmals erhçht wurde. Soweit der Arbeitgeber diesen Vorteil gegenber Nicht-Gewerkschaftsangehçrigen – auch durch andere Leistungen – kompensieren (oder bersteigen) will, muss er die Leistungen an die Gewerkschaftsmitglieder um diesen Betrag erhçhen.
378 Steffan
Differenzierungsklauseln
Rz. 7 Teil 5 (8)
§ 1 Urlaubsgeld (1) Zur erholungswirksameren Gestaltung des Urlaubs wird den Beschftigten der Firma … ein zustzliches Urlaubsgeld gezahlt. § 3 Auszahlung des Urlaubsgeldes (1) Die Treuhnder sind verpflichtet, vor Beginn des Jahresurlaubs den eingezahlten Betrag als zustzliches Urlaubsgeld an die im Betrieb beschftigten gewerblichen Arbeitnehmer nach folgender Maßgabe auszuzahlen: a) Alle Arbeitnehmer, die bei Beginn des Urlaubs mindestens einen Monat im Betrieb beschftigt sind, erhalten 60,– DM als Grundbetrag. b) Die Hlfte des Restbetrages erhalten die Arbeitnehmer, die zu Beginn des Urlaubs mindestens ein Jahr in der Bekleidungsindustrie beschftigt waren, zustzlich zum Grundbetrag anteilig ausgezahlt. c) Die andere Hlfte des Restbetrages wird an die Mitglieder der GTB anteilig zu den Ansprchen aus den Buchstaben a) beziehungsweise a) und b) zustzlich ausgezahlt. (2) Der gesamte eingezahlte Betrag wird ausschließlich fr den Vertragszweck verwendet. Etwaige Bearbeitungskosten drfen nur aus den Zinsertrgen des Treuhandkontos abgedeckt werden. (3) Die Treuhnder sind verpflichtet, der Firma den Nachweis ber die ordnungsgemße Auszahlung des Urlaubsgeldes zu erbringen. (4) Um eine pnktliche Auszahlung zu gewhrleisten, hndigt die Firma den Treuhndern rechtzeitig vor Urlaubsbeginn eine Liste aus, aus der die Namen und Anschriften der Arbeitnehmer sowie ihre Ansprche aus Ziffer (2) Buchstaben a) und b) ersichtlich sind. § 4 Benachteiligungsverbot (1) Wenn und soweit in der Firma beschftigte, aber nicht in der GTB organisierte Arbeitnehmer des Betriebes Geld oder sonstige Leistungen erhalten, die ber die in dieser Vereinbarung festgelegten Ansprche hinausgehen, so muss jeder in der Firma beschftigte und der GTB angehçrende Arbeitnehmer zustzlich zu den sich aus dieser Vereinbarung ergebenden Leistungen die gleichen Geld- oder sonstigen Zuwendungen erhalten, wie es bei den unorganisierten Arbeitnehmern der Fall ist.
III. Kommentierung 1. Ausgangspunkt: Großer Senat Grundlage der Entscheidung des Großen Senats von 1967 war eine qualifizierte Differenzierungsklausel in Form einer Spannenklausel. Diese hielt der Große Senat im Wesentlichen mit der Argumentation für unzulässig, dass sie die negative Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG rechtswidrig einschränke und dass sie außerdem durch die Tarifmacht der Koalitionen nicht gedeckt sei. Wurde die Entscheidung des GroSteffan
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7
Teil 5 (8) Rz. 8
Katalog typischer Tarifnormen
ßen Senats im Schrifttum zunächst vielfach abgelehnt1, entfachte sich die Diskussion um die Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln und um die Rechtsprechung des Großen Senats im Laufe der letzten zehn Jahre erneut2. Neben der Diskussion um die inhaltliche Begründung der Entscheidung ist zudem deren Reichweite ungeklärt. Hat der Große Senat nur über die Zulässigkeit qualifizierter Differenzierungsklauseln in Form der sog. Spannenklauseln entschieden oder jeglichen Differenzierungsklauseln eine Absage erteilt? Für die Ansicht, dass sich das BAG nur zur Zulässigkeit qualifizierter Differenzierungsklauseln äußern wollte, spricht die Gestaltung des Ausgangsfalles. Hier ging es um eine Streikforderung, die auf den Abschluss eines TVs gerichtet war, der eine gemeinsame Urlaubskasse vorsah, die von den Arbeitgebern finanziert werden sollte und bei der die Gewerkschaftsmitglieder eine Mehrleistung gegenüber Nichtorganisierten erhalten sollten. Die Mehrleistung an die Mitglieder sollte dabei durch eine Abstands- oder Spannenklausel abgesichert werden, nach der eventuelle Zahlungen an Außenseiter zu der Verpflichtung des Arbeitgebers führen sollten, den Abstand zu den Außenseitern durch eine entsprechende Erhöhung der Leistung an die Gewerkschaftsmitglieder wieder herzustellen (vgl. Rz. 6 Beispiel 2). Für die Annahme, dass der Große Senat 1967 hingegen umfassend über die Zulässigkeit tarifvertraglicher Differenzierung entschieden hat, lassen sich sowohl der Tenor als auch die Begründung der Entscheidung anführen. Im Tenor jedenfalls hatte der Große Senat allgemein festgestellt, dass in TVen zwischen den bei der vertragschließenden Gewerkschaft organisierten und anders oder nicht organisierten Arbeitnehmern nicht differenziert werden dürfe. Und nach Punkt II. der Gründe können Rechtsnormen eines TVs, die den Inhalt, den Abschluss oder die Beendigung des Arbeitsverhältnisses ordnen, keine Regelung zugunsten oder zu Lasten der Außenseiter ohne besondere staatliche Ermächtigung oder Mitwirkung treffen3. Der Große Senat hat die Differenzierung der tariflichen Leistungen nach Arbeitnehmern und Gewerkschaftsmitgliedern nicht nur in tarifrechtlicher, sondern auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht als unwirksam beurteilt. Verfassungsrechtlich verletze eine solche Differenzierung das Grundrecht der positiven Koalitionsfreiheit der anders und der negativen Koalitionsfreiheit der nicht organisierten Arbeitnehmer aus Art. 9 Abs. 3 GG. Tarifrechtlich stellten Differenzierungsklauseln eine Überschreitung der Tarifmacht dar. Die Vorenthaltung von Leistungen an die Außenseiter sei eine unzulässige Beitragserhebung für die Inanspruchnahme gewerkschaftlicher Tarifarbeit. Eine Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit sei für die Arbeitgeberseite unzumutbar. Sie müsse sich sonst „in die Dienste des Koalitionsgegners“ spannen lassen. Zudem verletze eine solche Differenzierung das „allgemeine Gerechtigkeitsempfinden“ der Außenseiter besonders. Eine finanzielle Besserstellung von organisierten gegenüber nicht oder anders organisierten Arbeitnehmern stelle daher einen „sozialinadäquaten“ Druck auf die Außenseiter dar. 2. Einfache Differenzierungsklauseln 8 Anders als der Entscheidung des Großen Senats im Jahre 1967 lag der Entscheidung des 4. Senats vom 18.3.2009 eine einfache Differenzierungsklausel zugrunde (vgl. Rz. 4), die der Senat – entgegen mancher Erwartung – nicht nach § 45 Abs. 3 ArbGG 1 Wiedemann/Wiedemann, TVG, Einleitung Rz. 285. 2 Vgl. die Nachweise bei BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028 Rz. 45. 3 BAG v. 29.11.1967 – GS 1/67, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG Rz. 60.
380 Steffan
Differenzierungsklauseln
Rz. 10
Teil 5 (8)
dem Großen Senat des Bundesarbeitsgerichts vorgelegt hatte. Nach seiner Ansicht ist der 4. Senat aus zwei Erwägungen nicht von der Entscheidung des Großen Senats aus dem Jahre 1967 abgewichen. Zum einen handele es sich bei der 2009 zu treffenden Entscheidung nicht um eine Rechtsfrage, die der Große Senat in seiner Entscheidung vom 29.11.1967 beantwortet habe, weil der Große Senat eine andere Rechtsfrage behandelt habe als diejenige nach der Zulässigkeit einfacher Differenzierungsklauseln. Da dies in der Literatur durchaus unterschiedlich gewertet wird1, stellte der Senat weiter fest, dass selbst bei der Annahme, der Große Senat habe diese Frage mit beantwortet, im konkreten Fall keine Abweichung vom Großen Senat vorgelegen habe2, denn weder habe es sich um eine „unzulässige Beitragserhebung“ bei den Außenseitern gehandelt noch um eine sozialinadäquate Regelung3. In der Sache hat der 4. Senat die Vereinbarung einfacher Differenzierungsklauseln im 9 TV als rechtmäßig erachtet4. Eine Tarifregelung wie diejenige in Ziff. I TV ErhBeih (vgl. Rz. 5) normiere als zusätzliches Tatbestandsmerkmal für das Entstehen eines einzelnen Anspruchs die Mitgliedschaft in der tarifschließenden Gewerkschaft. Die Koalitionen seien bei der Bestimmung der tatbestandlichen Voraussetzungen für tariflich geregelte Ansprüche weitgehend frei. Der Maßstab für die Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln sei die negative Koalitionsfreiheit, insbesondere der Außenseiter, d.h. der nicht oder anders organisierten Arbeitnehmer. Diese werde durch eine einfache Differenzierungsklausel nicht beeinträchtigt, weil die Normsetzungsmacht der TV-Parteien sich von Verfassungs und von Gesetzes wegen ausschließlich auf ihre Mitglieder beschränke. Die normative Wirkung einer Tarifregelung auf Außenseiter sei ausgeschlossen. Eine einfache Differenzierungsklausel als solche schränke auch die Handlungs- und insbesondere Vertragsfreiheit des Arbeitgebers nicht ein, da es ihm unbenommen bleibe, seine vertraglichen Beziehungen zu nicht oder anders organisierten Arbeitnehmern frei zu gestalten und durchzuführen. Der Rechtskreis der nicht oder anders organisierten Arbeitnehmer könne durch eine Tarifnorm nicht wirksam betroffen werden. Soweit eine Tarifnorm sich auf das Arbeitsverhältnis von Außenseitern auswirke, beruhe dies nicht auf der normativen Wirkung des TVs, sondern auf der privatautonom gestalteten Arbeitsvertragsbeziehung zwischen dem Außenseiter und dem Arbeitgeber5. Der Entscheidung des 4. Senats sind zwei Kernaussagen zu entnehmen: Erstens, ein- 10 fache Differenzierungsklauseln tangieren nicht die negative Koalitionsfreiheit – insbesondere der Außenseiter –, wobei der Senat offen lässt, ob diese sich auf Art. 9 Abs. 3 GG oder Art. 2 Abs. 1 GG gründet6. Eine Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit von Außenseitern durch Tarifnormen komme nur dann in Betracht, wenn die tariflichen Regelungen ihrem Inhalt nach Drittwirkung entfalten sollten. Dies könne 1 Zustimmend etwa Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1186; Deinert, jurisPR-ArbR 45/2009 Anm. 1; a.A. Hanau, FS Hromadka, 2008, S. 115 (119). 2 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028 Rz. 86. 3 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028 Rz. 98. 4 Zustimmend etwa ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 34; a.A. HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 111. 5 BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920 Rz. 21 mit Hinweis auf BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028 Rz. 46 bis 59 und BAG v. 22.9.2010 – 4 AZR 117/09, AP Nr. 144 zu Art. 9 GG. 6 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028 Rz. 35.
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etwa dann der Fall sein, wenn das Vertragsverhalten einer tarifgebundenen Arbeitsvertragspartei gegenüber Dritten im TV unmittelbar oder mittelbar geregelt werden solle1. Vermutlich liegt in diesen Passagen bereits eine Absage des Senats an qualifizierte Differenzierungsklauseln, die entweder unmittelbar eine Gleichstellung nichtorganisierter Arbeitnehmer mit den durch die Klausel begünstigten Gewerkschaftsmitgliedern verbieten (Tarifausschlussklauseln) oder dies mittelbar durch die Vereinbarung einer Spannenklausel tun. Wie dem auch sei, jedenfalls greift eine einfache Differenzierungsklausel nicht in die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers ein2. Dieser ist weder rechtlich noch tatsächlich gehindert, Außenseitern die nach dem TV den Gewerkschaftsmitgliedern vorbehaltenen Leistungen zu gewähren3. Zweitens, einfache Differenzierungsklauseln überschreiten nicht die Grenzen der Tarifmacht. Erfreulicherweise hat sich der Senat von der sozialpolitisch geprägten und nicht mehr ganz zeitgemäßen Begründung des Großen Senats entfernt und stattdessen festgestellt, dass die Normsetzungsbefugnis der TV-Parteien (Tarifautonomie) kollektiv ausgeführte Privatautonomie sei, die mit dem Beitritt der Mitglieder zur Koalition legitimiert werde4. Dieser zutreffende Befund setzt gleichzeitig die Grenzen dieser Normsetzungsbefugnis: „Sie können keine Abschluss-, Inhalts- und Beendigungsnormen vereinbaren, die unmittelbar für nicht Tarifgebundene normativ gelten. Eine Tarifregelung, die u.a. Pflichten von Nichtmitgliedern einer TV-Partei regelte, würde keine Wirkung entfalten, vergleichbar einem Vertrag zu Lasten Dritter“5. Folgt man dieser zutreffenden These, überschreiten einfache Differenzierungsklauseln nicht die Grenzen der Tarifmacht. 11
Arbeitgeber sind nach Ansicht des 4. Senats auch nicht an einer Vereinbarung gehindert, in Ausübung der Vertragsfreiheit den Außenseiter in seinem Arbeitsverhältnis schuldrechtlich so zu stellen als sei er Gewerkschaftsmitglied6. Dieser Anspruch folgt aber nicht bereits aus der Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag, selbst wenn die Bezugnahmeklausel auch den TV oder die Tarifregelung erfasst, durch den/die den Gewerkschaftsmitgliedern die Sonderleistung gewährt werden soll. Die arbeitsvertragliche Inbezugnahme bewirkt lediglich die Anwendbarkeit des TVs, ersetzt jedoch nicht die als besondere Anspruchsvoraussetzung für eine Sonderleistung im TV festgeschriebene Mitgliedschaft in der Gewerkschaft7. Dies gilt selbst dann, wenn die Be1 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028 Rz. 52. 2 Bauer/Arnold, NZA 2009, 1169 (1171); ähnlich Giesen, NZA 2004, 1317 (1318); a.A. wohl Greiner, DB 2009, 398 (399), der von einer beabsichtigten normativen Wirkung einer einfachen Differenzierungsklausel ausgeht. 3 Zur Begründung siehe BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028 Rz. 54; dem zustimmend Bauer/Arnold, NZA 2009, 1169 (1171); Giesen, NZA 2004, 1317; Franzen, RdA 2006, 1 (6). Nach a.A. kann sich der Arbeitgeber verpflichten, Exklusivleistungen für Gewerkschaftsmitglieder nicht weiter zu geben, so etwa Gamillscheg, NZA 2005, 146 (147); ähnlich Kocher, NZA 2009, 119 (123). 4 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028 Rz. 49, mit Hinweis auf BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (347 f.). 5 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028 Rz. 51, mit Hinweis auf Däubler/Hensche, § 1 TVG Rz. 878; ebenso Bauer/Arnold, NZA 2009, 1169 (1171). 6 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028 Rz. 54; a.A. Kocher, NZA 2009, 119 (123), die darin eine mit Art. 9 Abs. 3 GG begründete Überschreitung der Regelungsbefugnis der Arbeitsvertragsparteien sieht. 7 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028 Rz. 26; Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Differenzierungsklauseln Rz. 4; a.A. etwa Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1865; Giesen, Anm. zu AP Nr. 220 zu § 242 BGB Gleichbehandlung.
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Differenzierungsklauseln
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zugnahmeklausel im Sinne der früheren Rechtsprechung des Senats als Gleichstellungsklausel auszulegen ist. Auch bei Annahme einer Gleichstellungsabrede werde der Arbeitgeber gegenüber Außenseitern nicht weitergehend gebunden als gegenüber einem normativ tarifgebundenen Arbeitnehmer. Deshalb habe auch die frühere Senatsrechtsprechung eine dynamische Verweisung auf einen TV oder ein Tarifwerk einschränkend dahin ausgelegt, dass die Dynamik nur so weit reicht, wie sie bei einem tarifgebundenen Arbeitnehmer reicht, also dann endet, wenn der Arbeitgeber wegen Wegfalls der eigenen Tarifgebundenheit nicht mehr normativ an künftige Tarifentwicklungen gebunden ist. In der Literatur wird diese Sichtweise zum Teil mit Hinweis auf die Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB abgelehnt1. Möchte ein Arbeitgeber jegliche Differenzierung seiner Belegschaft nach der Gewerkschaftszugehörigkeit vermeiden, rät die Praxis zu einer Ergänzung der Bezugnahmeklausel, nach der die Arbeitnehmer über die Anwendung der geltenden TVe hinaus so behandelt werden sollen, als wären sie Mitglieder der Gewerkschaft2. Wenn auch der 4. Senat klare rechtliche Konturen der Tarifautonomie aufgezeigt hat, 12 so ist doch mit der Diskussion um die den TV-Parteien zugewiesene Gestaltungsaufgabe noch eine sozialpolitisch geprägte Erwägung in die Begründung eingeflossen3. Ausgangspunkt dabei war die Überlegung des Senats, dass ein TV möglicherweise grundsätzlich geeignet sein müsse, alle Arbeitsverhältnisse in seinem Geltungsbereich zu regeln. Zu einer solchen, den TV-Parteien von Rechts wegen zugewiesenen Aufgabe könne ggf. eine einfache Differenzierungsklausel im Widerspruch stehen und deshalb einer besonderen rechtlichen Überprüfung bedürfen. Allerdings umfasse die grundsätzliche Gestaltungsfreiheit auch differenzierte Regelungen und eine Begrenzung dieser Gestaltungsfreiheit könne nur dann angenommen werden, wenn die Regelung einen unverhältnismäßigen, einem Zwang ähnlichen Druck ausübe, das Recht darauf, einer Koalition fernzubleiben, aufzugeben, oder ein sonstiges überwiegendes Recht eines Dritten beeinträchtige. Beides sah der Senat bei der in Rede stehenden Differenzierungsklausel nach Art und Umfang nicht als gegeben an4. Der Höhe nach handelte es sich um eine einmal jährlich zu zahlende und damit außerhalb des laufenden Austauschverhältnisses liegende Leistung, die im Durchschnitt etwa ein Viertel einer Monatsvergütung und nicht mehr als zwei Jahresmitgliedsbeiträge für die Gewerkschaft ausmacht. Dies löst nach Ansicht des Senats bei einem verständigen Arbeitnehmer keinen zwangsähnlichen Druck auf seine negative Koalitionsfreiheit aus. Noch grundsätzlicher erkennt der Senat, dass auch bei der Annahme einer umfassenden Regelungsaufgabe der TV-Parteien die Pflicht bestehe, bei solchen tariflichen Regelungen konkurrierende Rechte mit zu berücksichtigen. Freiheitsrechte des Arbeitgebers hinsichtlich der individuellen Vertragsgestaltung müssten ebenso Teil des Abwägungsprozesses sein wie die negative Koalitionsfreiheit der Außenseiter. Zudem könne es darauf ankommen, dass das geschaffene Tarifwerk als Ganzes einer umfassenden Gestaltungsaufgabe der TV-Parteien gerecht werde. Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte dürften jedenfalls in aller Regel Differenzierungsklauseln nicht an den Regelungen anknüpfen, die das Austauschverhältnis von Leistung und Gegenleistung 1 ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 62; Lobinger/Hartmann, RdA 2010, 235; Greiner/Suhre, NJW 2010, 131; Richardi, NZA 2010, 417; Bauer/Arnold, NZA 2009, 1169 (1171); Thüsing/Braun/Mengel/ Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Differenzierungsklauseln Rz. 4. 2 So etwa das Formulierungsbeispiel bei Bauer/Arnold, NZA 2009, 1169 (1173). 3 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028, Rz. 60 ff., insb. Rz. 70 ff. 4 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028, Rz. 61.
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Katalog typischer Tarifnormen
betreffen, die Grundlage des laufenden Lebensunterhaltes sind, und die im Arbeitsleben jedenfalls regelmäßig als Maßstab für die Bemessung der angemessenen und üblichen Arbeitsbedingungen dienen1. 13
Von dieser sozialpolitischen Komponente ist allerdings nach den Entscheidungen der Jahre 2013 bis 2015 nicht viel geblieben. Ausdrücklich wendet sich der Senat in der Entscheidung vom 15.4.2015 gegen die Sichtweise, TVe müssten „angemessene und ausgewogene Regelungen für seinen Geltungsbereich enthalten und Rücksicht auf die Interessen der Außenseiter nehmen“. Soweit dies der Entscheidung vom 18.3.2009 zu entnehmen sei, halte der Senat daran nicht mehr fest2. Belegt wird dies faktisch dadurch, dass nach den neueren Entscheidungen auch solche Besserstellungen zulässig sein sollen, die zum Teil weit über die bisher diskutierten Grenzen eines Monatsgehalts pro Jahr hinausgehen3 und in das laufende Austauschverhältnis eingreifen. Zwar geht auch der neue4 4. Senat wohl noch davon aus, der TV dürfe keinen „unerträglichen Druck“ zum Gewerkschaftsbeitritt auslösen5, doch bleibt unklar, was diesen Druck auslösen soll. Das Ausmaß der Besserstellung offensichtlich nicht6. Der verständliche Ansatzpunkt, mit der Differenzierung einen Ausgleich für die organisierten Arbeitnehmer zu schaffen, spielt offensichtlich keine Rolle7. Für die Praxis bleibt derzeit festzuhalten, dass nach der Rechtsprechung des 4. Senats einfache Differenzierungsklauseln in noch weitergehendem Maße zulässig sind als bisher angenommen. Sie verstoßen grundsätzlich weder gegen die negative Koalitionsfreiheit, noch überschreiten sie die den Tarifparteien zugewiesene Tarifmacht. Die mögliche Grenze eines Beitrittsdrucks ist nicht erkennbar. Mit den Grundsätzen des Großen Senats von 1967 setzt sich die neuere Rechtsprechung erst gar nicht auseinander. Die Zulässigkeit begünstigender Regelungen für Gewerkschaftsmitglieder wird zunehmend über die Nichtanwendbarkeit des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes begründet, während die Problematik der negativen Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG zu kurz kommt8. Diese Entwicklung birgt die Gefahr, dass „erlaubt ist, was gefällt“9. Dies ist besonders misslich, weil ein häufiger Anwendungsfall der Differenzierung die Krise des Unternehmens oder jedenfalls die Restrukturierung ist10. Hier geht es darum, von der Gewerkschaft Zugeständnisse zur finanziellen Entlastung und damit zur Rückkehr in die Gewinnzone zu erhalten. Dem möchte die Gewerkschaft nur dann zustimmen, wenn sie im Gegenzug einen Ausgleich für ihre Mitglieder erreicht. Damit ist die Gefahr offensichtlich, dass in Tarifverhandlungen bei Sanierungen eine massive Verschiebung zulasten der nicht organisierten Arbeitnehmer ohne sachliche Rechtfertigung erfolgt. Hierin liegt ein Verstoß gegen die negative Koalitionsfreiheit11. Dies 1 2 3 4 5 6 7 8
BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028, Rz. 78 f. BAG v. 15.4.2015 – 4 AZR 796/13, NZA 2015, 1388, Rz. 50. Dafür etwa Kalb, jM 2015, 107, 112. Siehe Greiner, jM 2016, 66, 67. So wohl BAG v. 15.4.2015 – 4 AZR 796/13, NZA 2015, 1388, Rz. 45. Ebenso Siegfanz-Strauß, RdA 2015, 266, 268. Greiner, jM 2016, 66, 67. Vgl. die zutreffende Kritik von Greiner, jM 2016, 66, 67; ebenso Giesen, Anm. zu AP Nr. 220 zu § 242 BGB Gleichbehandlung; dem 4. Senat zustimmend dagegen Siegfanz-Strauß, RdA 2015, 266, 268; Klein, jurisPR-ArbR 39/2015 Anm. 4. 9 Greiner, jM 2016, 66, 70. 10 Vgl. dazu die Kritik von Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1853 ff. 11 So zutreffend Kalb, jM 2015, 107, 113 mit Hinweis auf LAG Hamm v. 12.6.2012 – 14 Sa 1275/11, LAGE Art. 9 GG Nr. 18, Rz. 152.
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Differenzierungsklauseln
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spricht nicht gegen Sonderleistungen zugunsten von organisierten Arbeitnehmern. Deren Grenze ist allerdings erreicht, wenn die Differenzierung für den Außenseiter einen zwanghaften Druck erzeugt, der tarifschließenden Gewerkschaft beizutreten. Deshalb dürfen die TV-Parteien keine Regelungen treffen, die Bedeutung für den laufenden Lebensunterhalt haben oder zur Bemessung der angemessenen und üblichen Arbeitsbedingungen dienen. Zulässig sind also nur Leistungen außerhalb des Synallagmas, die nicht eine Höhe erreichen, dass sie das Austauschverhältnis im wirtschaftlichen Ergebnis maßgeblich beeinflussen1. Solange die vereinbarten Sonderleistungen nur „milden Druck“ zum Gewerkschaftsbeitritt ausüben, ist dies noch gerechtfertigt2. Keine Rolle spielt dagegen der Umstand, dass der Arbeitgeber mit den vom 4. Senat tolerierten Klauseln die Gewerkschaftsbeiträge seiner Arbeitnehmer finanziert3. Wo exakt die Grenze des noch hinnehmbaren Drucks liegt, lässt sich nicht definieren, aber als Rahmen scheint als Richtwert ein Monatsgehalt pro Jahr zutreffend4, zumal sich Sonderleistungen, Urlaubsgelder, Prämien etc. ohnehin am regelmäßigen Einkommen orientieren5. 3. Sonderfall Stichtagsklauseln? Ob Stichtagsklauseln als (einfache) Differenzierungsklauseln anzusehen sind, wird un- 13a terschiedlich bewertet6. In der Entscheidung vom 9.5.2007 formulierte der Senat noch deutlich: „Die Differenzierungsklausel in einer tarifvertraglichen Regelung, wonach die Tariferhöhung nur für Arbeitnehmer gelten soll, die an einem Stichtag Mitglied der zuständigen Gewerkschaft sind und bleiben, ist unwirksam. Dieser Anspruchsausschluss verstößt gegen die individuelle Koalitionsfreiheit7.“ Zur Begründung führte der Senat treffend aus, dass ein Arbeitnehmer, der der zuständigen Gewerkschaft erst nach dem Stichtag beitrete, nicht an den von seiner Gewerkschaft für die bei ihr organisierten Arbeitnehmer erreichten Verhandlungsergebnissen teilnehme8. Auf diese Weise werde ihm der wesentliche Ertrag eines Gewerkschaftsbeitritts verwehrt, worin auch eine Beeinträchtigung der positiven Koalitionsfreiheit gesehen werden könne. Diese Differenzierungsklausel stehe für den Fall eines Gewerkschaftsbeitritts nach dem Stichtag im Widerspruch zu § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG, wonach die Geltung von Rechtsnormen des TVs hinsichtlich der Tarifgebundenheit allein von dem Beginn der Mitgliedschaft abhängig ist, mit dem Beitritt zur Gewerkschaft also grundsätzlich gegenüber einem tarifgebundenen Arbeitgeber ein Anspruch auf die tariflichen Leistungen begründet wird. Gegenstand der Entscheidung war eine tarifbestimmung mit fol1 2 3 4 5
Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Differenzierungsklauseln Rz. 11. So etwas ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 34. Darauf weist HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 111 zutreffend hin. Kalb, jM 2015, 107, 113. Instruktiv etwa LAG Hamm v. 12.6.2012 – 14 Sa 1275/11, LAGE Art. 9 GG Nr. 18, wonach in Summe drei Monatsgehälter jedenfalls nicht gerechtfertigt ist, eine Summe von 500 Euro dagegen schon. 6 Ablehnend etwa BAG v. 15.4.2015 – 4 AZR 796/13, NZA 2015, 1388, Rz. 27; davor bereits BAG v. 21.8.2013 – 4 AZR 861/11, NZA-RR 2014, 201, Rz. 21 f.; BAG v. 5.9.2012 – 4 AZR 696/10, DB 2013, 1123, Rz. 30; wohl auch ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 62b und ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 34; a.A. dagegen Greiner, jM 2016, 66, 69; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1877. 7 BAG v. 9.5.2007 – 4 AZR 275/06, NZA 2007, 1439, Rz. 18, 29. 8 Zur Kritik siehe Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1876.
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gendem Wortlaut: „Dieser Tarifvertrag gilt nur für Arbeitnehmer, welche seit dem (…) Mitglied der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie sind und bleiben“1. Durch die Stichtagsregelung werde allein aus organisationspolitischen Gründen in diese Rechtslage eingegriffen2. Anders soll gelten, wenn eine Regelung etwa formuliert: „Dieser TV gilt (…) für alle Beschäftigten, die bis einschließlich (…) Mitglied der IG Metall geworden sind“3. In diesem Fall werde nach Ansicht des 4. Senats nicht zwischen Mitgliedern einer Gewerkschaft einerseits und „Unorganisierten“ oder „Außenseitern“ andererseits unterschieden, sondern zwischen verschiedenen Gruppen von Mitgliedern der Gewerkschaft und damit allein zwischen tarifgebundenen Arbeitnehmern. Deshalb handele sich nicht um eine sog. einfache Differenzierungsklausel, sondern um eine „Binnendifferenzierung“4. Dies erscheint doch als eher formalistisches Argument, das einer realen Betrachtung nicht standhält. Faktisch grenzt die Klausel in erster Linie Arbeitnehmer ab, die zum Stichtag Außenseiter waren und Außenseiter geblieben sind. Dagegen dürfte sich die „Binnendifferenzierung“ derjenigen Gewerkschaftsmitglieder, die zum Stichtag noch Außenseiter waren, in Grenzen halten. Zudem ist zurecht darauf hingewiesen worden, dass – wie im Fall des BAG vom 15.4.2015 geschehen – die Aufspaltung von Sozialplaninhalten auf zwei getrennte TVe, von denen einer für Außenseiter arbeitsvertraglich in Bezug genommen wird, während der andere normativ für die Mitglieder der tarifschließenden Gewerkschaft gilt, sogar eine besonders intensive Differenzierung darstellt. Im Ergebnis wird der Außenseiter unabänderlich für seine in der Vergangenheit liegende Entscheidung gegen einen Gewerkschaftsbeitritt abgestraft. Unabhängig davon, ob man darin einen Verstoß gegen die positive oder die negative Koalitionsfreiheit gem. Art. 9 Abs. 3 GG erblickt5, ist die wegen des Nichtbeitritts benachteiligende Stichtagsklausel nach Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG nichtig6. 4. Qualifizierte Differenzierungsklauseln a) Spannenklauseln 14
Nach Ansicht des 4. Senats ist dagegen eine tarifvertragliche Inhaltsnorm, die eine den Gewerkschaftsmitgliedern vorbehaltene Leistung dadurch absichert, dass sie für den Fall einer Kompensationsleistung des Arbeitgebers an nicht oder anders organisierte Arbeitnehmer eine entsprechende Erhöhung des Anspruchs für die Gewerkschaftsmitglieder vorsieht (sog. Spannenklausel), wegen Überschreitung der Tarifmacht unwirksam7. Zutreffend weist der Senat darauf hin, dass eine Spannenklausel es dem Arbeitgeber rechtlich-logisch unmöglich macht, eine Lohngleichstellung der Außenseiter mit den Gewerkschaftsmitgliedern herzustellen, selbst wenn er zu hö-
1 BAG v. 9.5.2007 – 4 AZR 275/06, NZA 2007, 1439, Rz. 5. 2 BAG v. 9.5.2007 – 4 AZR 275/06, NZA 2007, 1439, Rz. 32; dazu kritisch ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 62b. 3 BAG v. 15.4.2015 – 4 AZR 796/13, NZA 2015, 1388, Rz. 7. 4 BAG v. 15.4.2015 – 4 AZR 796/13, NZA 2015, 1388, Rz. 27, 48; dazu etwa Ebert, ArbRB 2015, 205; Greiner, jM 2016, 66, 69. 5 Im Sinne der positiven Koalitionsfreiheit etwa LAG München v. 28.8.2013 – 10 Sa 411/13, Rz. 116; für ein „Fernbleiberecht“ i.S.d. negativen Koalitionsfreiheit dagegen Greiner, jM 2016, 66, 69. 6 Greiner, jM 2016, 66, 69. 7 BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920.
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Differenzierungsklauseln
Rz. 15
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heren Aufwendungen durch ergänzende Leistungen an die Außenseiter bereit ist. „Eine solche Wirkung kann ein TV nicht normativ anordnen, weil es den Koalitionen nicht zukommt, ein solches, dem außertariflichen Bereich zuzuordnendes Verhalten des Arbeitgebers im Verhältnis zu nicht oder anders organisierten Arbeitnehmern unmöglich zu machen. TV-Parteien können normativ Rechte und Pflichten der tarifunterworfenen Arbeitsverhältnisse bestimmen. Sie sind aber nicht befugt, die einzelvertraglichen Gestaltungsmöglichkeiten der Arbeitsvertragsparteien, insbesondere der nicht oder anders organisierten Arbeitnehmer, mit zwingender Wirkung in diese Arbeitsverhältnisse hinein einzuschränken“1. Vielmehr begrenzen die das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG ausgestaltenden gesetzlichen Vorschriften des Tarifvertragsgesetzes die Macht der TV-Parteien zur Setzung von Abschluss-, Inhalts- und Beendigungsnormen auf ihre Mitglieder2. So wie der Arbeitgeber nicht verpflichtet ist, den nichtorganisierten Arbeitnehmern die tariflich geregelten Arbeitsbedingungen anzubieten, ist es ihm unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten auch nicht verwehrt, Außenseiter und Tarifgebundene dergestalt gleich zu behandeln, dass er die tariflich vereinbarten Leistungen an die Außenseiter weitergibt3. Auch wenn der 4. Senat im Ergebnis auf der Linie des Großen Senats geblieben ist, ver- 15 wundert es auf den ersten Blick, dass er weder dessen Entscheidung noch deren Begründung erwähnt. Dies ist jedoch insoweit konsequent, als der 4. Senat die Grenzen der Tarifmacht stringent aus ihrer privatautonomen Legitimation herleitet, statt mit dem Großen Senat Spannenklauseln für undurchsichtig, unzumutbar und „sozialinadäquat“ zu erachten4. Unabhängig davon, dass diese Begründung eher unscharf ist, wirkt der Ansatz, dass Tarifautonomie kollektiv ausgeübte Privatautonomie ist und sich an diesen Maßstäben messen lassen muss, insgesamt überzeugender5. Entscheidend sind allein die Grenzen der Tarifmacht, die dann erreicht sind, wenn sie einzelvertragliche Gestaltungsmöglichkeiten verhindern; dagegen kommt es auf ein „quantitatives“ Element nicht an. Qualifizierte Differenzierungsklauseln sind daher auch dann unzulässig, wenn sich der finanzielle Vorteil zu Gunsten der Gewerkschaftsmitglieder lediglich auf ihren Gewerkschaftsbeitrag beschränkt6. Richtigerweise dürfen die TVParteien dem Arbeitgeber eine Gleichstellung anders oder nicht organisierter Arbeitnehmer mit den Gewerkschaftsmitgliedern nicht verbieten. Ausgehend von der Begründung hinsichtlich der begrenzten Tarifmacht hat sich der 4. Senat zudem jegliche Ausführungen zur negativen Koalitionsfreiheit der nicht oder anders organisierten Arbeitnehmer erspart. Dies verwundert, denn der Maßstab für die Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln ist nach der eigenen Auffassung des 4. Senats die negative Koalitionsfreiheit, insbesondere der Außenseiter, d.h. der nicht oder anders organisierten Arbeitnehmer7. Unabhängig vom dogmatischen Ansatz der negativen Koalitionsfreiheit wäre eine klare Aussage des Senats dazu, dass qualifizierte Differenzierungsklauseln die negative Koalitionsfreiheit der Außenseiter tangieren, wünschenswert gewe1 2 3 4 5
BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920 Rz. 38 f. BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920 Rz. 42. BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920 Rz. 46 m.w.N. BAG v. 29.11.1967 – GS 1/67, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG Rz. 163 ff., 178 ff. So auch Bauer/Arnold, NZA 2011, 945 (947) m.w.N.; zum Begründungsansatz des 4. Senats bereits BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028 Rz. 49. 6 Ebenso Bauer/Arnold, NZA 2011, 945 (947); HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 111; a.A. wohl Kocher, NZA 2009, 121 f.; Gamillscheg, NZA 2005, 146 (150). 7 BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920 Rz. 21.
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Katalog typischer Tarifnormen
sen. Wenn die TV-Parteien den durch Art. 9 Abs. 3 GG und die Vorschriften des TVG vorgegebenen Rahmen ihrer Tarifmacht durch die Vereinbarung von Spannenklauseln überschreiten, stellt dies stets eine Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit der Außenseiter dar1. b) Tarifausschluss-/Verbotsklauseln 16
Klauseln, die es dem Arbeitgeber verbieten, die mit der Gewerkschaft vereinbarten Leistungen auch an nichtorganisierte Arbeitnehmer weiterzugeben, sind unwirksam. Dies wird auch aus der Entscheidung des 4. Senats vom 23.3.2011 deutlich, in der der Senat ausführt, dass die TV-Parteien nicht befugt sind, die einzelvertraglichen Gestaltungsmöglichkeiten der Arbeitsvertragsparteien, insbesondere der nicht oder anders organisierten Arbeitnehmer, mit zwingender Wirkung in diese Arbeitsverhältnisse hinein einzuschränken2. Vielmehr begrenzen die das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG ausgestaltenden gesetzlichen Vorschriften des Tarifvertragsgesetzes die Macht der TVParteien zur Setzung von Abschluss-, Inhalts- und Beendigungsnormen auf ihre Mitglieder3. Eine Tarifregelung, die die Gestaltungsfreiheit des Arbeitgebers hinsichtlich der Arbeitsverträge mit nicht oder anders tarifgebundenen Arbeitnehmern in der Weise einschränkt, dass sie ihm eine vertraglich vereinbarte oder zu vereinbarende Gleichstellung mit den an den TV normativ gebundenen Arbeitsverhältnissen rechtlich unmöglich macht, ist von der Rechtsetzungsmacht der TV-Parteien nicht gedeckt4. Eben diese verfassungsrechtlich gebotene Begrenzung durchbrechen Ausschluss- oder Verbotsklauseln, da sie dem Arbeitgeber untersagen, tariflich vereinbarte Leistungen auch nicht organisierten Arbeitnehmern zu gewähren. Insofern gehen Ausschluss- und Verbotsklauseln in ihrer negativen Wirkung noch über diejenige von Spannenklauseln hinaus, da diese (nur) zu einer relativen, jene aber zu einer absoluten Begrenzung der Arbeitsbedingungen von Außenseitern führen5. An dieser Bewertung ändert es nichts, dass Tarifausschlussklauseln nach überwiegender Auffassung lediglich schuldrechtlich im Verhältnis der TV-Parteien zueinander wirken, dagegen aber keine normative Wirkung gegenüber Außenseitern haben6. „Tariftechnisch“ wird im Falle eines Haus-/ FirmenTVs unmittelbar durch diesen das schuldrechtliche Verbot des Arbeitgebers begründet, exklusiv für Gewerkschaftsmitglieder bestimmte Leistungen nicht oder anders organisierten Arbeitnehmern zu gewähren. Im VerbandsTV trifft den tarifschließenden Arbeitgeberverband die schuldrechtliche Verpflichtung, auf eine entsprechende Verhaltensweise seiner Mitglieder hinzuwirken7. Nach zutreffender Ansicht sind die Grenzen der Tarifmacht für normative Regelungen und schuldrechtliche Abmachungen dieselben, weil normativ und schuldrechtlich wirkende Differenzierungsklauseln gleichermaßen einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in die Vertragsfreiheit von Arbeitgebern und Außenseitern darstellen8.
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Zutreffend ebenso Bauer/Arnold, NZA 2011, 945 (947). BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920 Rz. 38 f. BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920 Rz. 42. BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920 Rz. 48. So im Ergebnis wohl auch BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920 Rz. 42. Hartmann/Lobinger, NZA 2010, 221 (222); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd. 1, S. 356, 361; a.A. Greiner, DB 2009, 398 (399 f.). 7 Bauer/Arnold, NZA 2011, 945 (948). 8 Bauer/Arnold, NZA 2011, 945 (948).
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Direktionsrechtsklauseln
5. Mittelbare Differenzierungen Die mittelbare Begünstigung von Gewerkschaftsmitgliedern über den Weg gemein- 17 samer Einrichtungen nach § 4 Abs. 2 TVG hat der Große Senat des BAG in seinem Beschluss vom 29.11.1967 ausdrücklich für unzulässig erachtet (zur diesbezüglichen Praxis vgl. Rz. 3). Soweit gemeinsame Einrichtungen der TV-Parteien zur Differenzierung genutzt werden, wird die Exklusivität der Leistungen an die Gewerkschaftsmitglieder dadurch erreicht, dass nach ganz überwiegender Auffassung eine arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel auf Tarifnormen über gemeinsame Einrichtungen unzulässig ist1. Die gemeinsame Einrichtung kann nicht durch einzelvertragliche Absprache zwischen den Arbeitsvertragsparteien zur Leistung an Außenseiter verpflichtet werden, da es sich insoweit um einen unzulässigen Vertrag zu Lasten Dritter handelt2. Erfolgt die Differenzierung über gewerkschaftsnahe Vereine (Sozialvereine), sind die Außenseiter in aller Regel schon durch die Satzung von deren Leistungen ausgenommen. Beide Vorgehensweisen sind auch im Lichte der Entscheidung des 4. Senats vom 23.3.2011 unzulässig, weil dem Arbeitgeber normativ oder schuldrechtlich eine Gleichstellung anders oder nicht organisierter Arbeitnehmer untersagt wird. Es macht nämlich keinen Unterschied, ob eine Leistung (etwa Urlaubsgeld oder Erholungsbeihilfe) den Außenseitern im Wege einer Spannen- oder Tarifausschlussklausel oder über eine gemeinsame Einrichtung oder einen arbeitgeberfinanzierten gemeinnützigen Verein vorenthalten wird3. Der 4. Senat sieht dies in seiner neueren Rechtsprechung freilich anders. Die Entscheidung vom 21.5.2014 verdeutlicht plastisch die mehrfach genutzte Möglichkeit der Besserstellung von Gewerkschaftsmitgliedern über den Umweg gewerkschaftsnaher Vereine4. Im Rahmen einer Vereinbarung mit der Gewerkschaft trat der Arbeitgeber einem Verein zur Förderung von Gesundheit und Erholung der Arbeitnehmer bei und leistete einen einmaligen hohen Mitgliedsbeitrag. Der Verein sollte Erholungsbeihilfen für die Beschäftigten des Arbeitgebers leisten. Aus der Vereinssatzung ergab sich jedoch, dass Leistungsempfänger nur die gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten des Arbeitgebers sein konnten5. Der Senat billigte dieses Vorgehen im Wesentlichen mit der Begründung, es läge kein Verstoß gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz vor; eine Auseinandersetzung mit der Entscheidung des Großen Senats fand (abermals) nicht statt6.
(9) Direktionsrechtsklauseln I. Zweck und Kontext Typische „Direktionsrechtsklauseln“ findet man in den TVen nicht. Das folgt daraus, dass es „das“ Direktionsrecht gar nicht gibt. Vielmehr ist das Direktionsrecht eines
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So etwa Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1871; a.A. wohl Bauer/Arnold, NZA 2005, 1213. So etwa Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 537. Zutreffend Bauer/Arnold, NZA 2011, 945 (949). Vgl. dazu auch Kalb, jM 2015, 107, 108 f. BAG v. 21.5.2014 – 4 AZR 50/13, NZA 2015, 115. Zur Kritik etwa Giesen, Anm. zu AP Nr. 220 zu § 242 BGB Gleichbehandlung.
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Direktionsrechtsklauseln
5. Mittelbare Differenzierungen Die mittelbare Begünstigung von Gewerkschaftsmitgliedern über den Weg gemein- 17 samer Einrichtungen nach § 4 Abs. 2 TVG hat der Große Senat des BAG in seinem Beschluss vom 29.11.1967 ausdrücklich für unzulässig erachtet (zur diesbezüglichen Praxis vgl. Rz. 3). Soweit gemeinsame Einrichtungen der TV-Parteien zur Differenzierung genutzt werden, wird die Exklusivität der Leistungen an die Gewerkschaftsmitglieder dadurch erreicht, dass nach ganz überwiegender Auffassung eine arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel auf Tarifnormen über gemeinsame Einrichtungen unzulässig ist1. Die gemeinsame Einrichtung kann nicht durch einzelvertragliche Absprache zwischen den Arbeitsvertragsparteien zur Leistung an Außenseiter verpflichtet werden, da es sich insoweit um einen unzulässigen Vertrag zu Lasten Dritter handelt2. Erfolgt die Differenzierung über gewerkschaftsnahe Vereine (Sozialvereine), sind die Außenseiter in aller Regel schon durch die Satzung von deren Leistungen ausgenommen. Beide Vorgehensweisen sind auch im Lichte der Entscheidung des 4. Senats vom 23.3.2011 unzulässig, weil dem Arbeitgeber normativ oder schuldrechtlich eine Gleichstellung anders oder nicht organisierter Arbeitnehmer untersagt wird. Es macht nämlich keinen Unterschied, ob eine Leistung (etwa Urlaubsgeld oder Erholungsbeihilfe) den Außenseitern im Wege einer Spannen- oder Tarifausschlussklausel oder über eine gemeinsame Einrichtung oder einen arbeitgeberfinanzierten gemeinnützigen Verein vorenthalten wird3. Der 4. Senat sieht dies in seiner neueren Rechtsprechung freilich anders. Die Entscheidung vom 21.5.2014 verdeutlicht plastisch die mehrfach genutzte Möglichkeit der Besserstellung von Gewerkschaftsmitgliedern über den Umweg gewerkschaftsnaher Vereine4. Im Rahmen einer Vereinbarung mit der Gewerkschaft trat der Arbeitgeber einem Verein zur Förderung von Gesundheit und Erholung der Arbeitnehmer bei und leistete einen einmaligen hohen Mitgliedsbeitrag. Der Verein sollte Erholungsbeihilfen für die Beschäftigten des Arbeitgebers leisten. Aus der Vereinssatzung ergab sich jedoch, dass Leistungsempfänger nur die gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten des Arbeitgebers sein konnten5. Der Senat billigte dieses Vorgehen im Wesentlichen mit der Begründung, es läge kein Verstoß gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz vor; eine Auseinandersetzung mit der Entscheidung des Großen Senats fand (abermals) nicht statt6.
(9) Direktionsrechtsklauseln I. Zweck und Kontext Typische „Direktionsrechtsklauseln“ findet man in den TVen nicht. Das folgt daraus, dass es „das“ Direktionsrecht gar nicht gibt. Vielmehr ist das Direktionsrecht eines
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So etwa Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1871; a.A. wohl Bauer/Arnold, NZA 2005, 1213. So etwa Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 537. Zutreffend Bauer/Arnold, NZA 2011, 945 (949). Vgl. dazu auch Kalb, jM 2015, 107, 108 f. BAG v. 21.5.2014 – 4 AZR 50/13, NZA 2015, 115. Zur Kritik etwa Giesen, Anm. zu AP Nr. 220 zu § 242 BGB Gleichbehandlung.
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Katalog typischer Tarifnormen
der zentralen Rechte des Arbeitgebers, der jedenfalls grundsätzlich bestimmen kann, was, wann, wo und wie seine Arbeitnehmer zu arbeiten haben. Dies folgt maßgeblich aus § 106 GewO, der das Weisungsrecht des Arbeitgebers regelt. Allerdings besteht dieses Weisungsrecht (Direktionsrecht) nicht unbeschränkt, sondern nach § 106 GewO kann der Arbeitgeber Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen, soweit diese Arbeitsbedingungen nicht durch Arbeitsvertrag, Betriebsvereinbarungen, TVe oder gesetzliche Vorschriften festgelegt sind. Unter dem Direktionsrecht ist mithin das Recht des Arbeitgebers zu verstehen, die vom Arbeitnehmer geschuldete Arbeitsleistung näher zu konkretisieren, soweit diese nicht im Arbeitsvertrag oder durch TV bzw. Betriebsvereinbarung abschließend geregelt ist1.
II. Beispiele 2 § 4 TVçD Versetzung, Abordnung, Zuweisung, Personalgestellung (1) Beschftigte kçnnen aus dienstlichen oder betrieblichen Grnden versetzt oder abgeordnet werden. Sollen Beschftigte an eine Dienststelle oder einen Betrieb außerhalb des bisherigen Arbeitsortes versetzt oder voraussichtlich lnger als drei Monate abgeordnet werden, so sind sie vorher zu hçren. Protokollerklrungen zu Absatz 1: 1. Abordnung ist die Zuweisung einer vorbergehenden Beschftigung bei einer anderen Dienststelle oder einem anderen Betrieb desselben oder eines anderen Arbeitgebers unter Fortsetzung des bestehenden Arbeitsverhltnisses. 2. Versetzung ist die Zuweisung einer auf Dauer bestimmten Beschftigung bei einer anderen Dienststelle oder einem anderen Betrieb desselben Arbeitgebers unter Fortsetzung des bestehenden Arbeitsverhltnisses. Niederschriftserklrung zu § 4 Abs. 1: Der Begriff „Arbeitsort“ ist ein generalisierter Oberbegriff; die Bedeutung unterscheidet sich nicht von dem bisherigen Begriff „Dienstort“. (2) Beschftigten kann im dienstlichen/betrieblichen oder çffentlichen Interesse mit ihrer Zustimmung vorbergehend eine mindestens gleich vergtete Ttigkeit bei einem Dritten zugewiesen werden. Die Zustimmung kann nur aus wichtigem Grund verweigert werden. Die Rechtsstellung der Beschftigten bleibt unberhrt. Bezge aus der Verwendung nach Satz 1 werden auf das Entgelt angerechnet. Protokollerklrung zu Absatz 2: Zuweisung ist – unter Fortsetzung des bestehenden Arbeitsverhltnisses – die vorbergehende Beschftigung bei einem Dritten im In- und Ausland, bei dem der Allgemeine Teil des TVçD nicht zur Anwendung kommt.
1 St. Rspr., vgl. nur BAG v. 7.12.2000 – 6 AZR 444/99, NZA 2001, 780; APS/Koch, § 2 KSchG Rz. 50 m.w.N. Einen Überblick über die Rechtsprechung zum Direktionsrecht gibt Hunold, NZA-RR 2001, 337.
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Direktionsrechtsklauseln
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(3) Werden Aufgaben der Beschftigten zu einem Dritten verlagert, ist auf Verlangen des Arbeitgebers bei weiter bestehendem Arbeitsverhltnis die arbeitsvertraglich geschuldete Arbeitsleistung bei dem Dritten zu erbringen (Personalgestellung). § 613a BGB sowie gesetzliche Kndigungsrechte bleiben unberhrt. Protokollerklrung zu Absatz 3: Personalgestellung ist – unter Fortsetzung des bestehenden Arbeitsverhltnisses – die auf Dauer angelegte Beschftigung bei einem Dritten. Die Modalitten der Personalgestellung werden zwischen dem Arbeitgeber und dem Dritten vertraglich geregelt. § 7 MTV Chemie
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Kurzarbeit I. Im Bedarfsfalle kann Kurzarbeit fr Betriebe oder Betriebsabteilungen unter Beachtung des gesetzlichen Mitbestimmungsrechts des Betriebsrates mit einer Ankndigungsfrist von 14 Tagen eingefhrt werden. Arbeitgeber und Betriebsrat kçnnen eine krzere Ankndigungsfrist betrieblich vereinbaren. II. Arbeitnehmer, die Kurzarbeitergeld beziehen, erhalten einen Zuschuss zum Kurzarbeitergeld, der brutto zu gewhren ist. Die Hçhe des Zuschusses errechnet sich aus dem Unterschiedsbetrag zwischen dem infolge des Arbeitsausfalls verminderten Nettoarbeitsentgelt zuzglich dem Kurzarbeitergeld und 90 % des Nettoarbeitsentgelts, das der Arbeitnehmer ohne Kurzarbeit im Abrechnungszeitraum erzielt htte. Dieser Zuschuss ist kein Arbeitsentgelt und wird deshalb bei tariflichen Leistungen, deren Hçhe vom Arbeitsentgelt abhngig ist, nicht bercksichtigt. Bei der Ermittlung des Nettoarbeitsentgelts werden die tariflichen Schichtzulagen und die tariflichen Zuschlge fr Nacht- und Sonntagsarbeit mitbercksichtigt, nicht aber die Feiertagszuschlge. III. Ist einem Arbeitnehmer vor Einfhrung der Kurzarbeit gekndigt worden oder wird ihm whrend der Kurzarbeit gekndigt, so hat er fr die Zeit seiner Kndigungsfrist Anspruch auf seine ungekrzten Bezge. Der Arbeitgeber kann verlangen, dass der Arbeitnehmer in dieser Zeit voll arbeitet.
III. Kommentierung 1. Gestaltungsspielraum des Tarifvertrages In TVen finden sich vielfach Regelungen, die das Weisungsrecht des Arbeitgebers kon- 4 kretisieren. Prägnante Beispiele sind etwa Klauseln zur Versetzung (vgl. § 4 TVöD, oben Rz. 2), zur Einführung von Kurzarbeit (vgl. § 7 MTV Chemie, oben Rz. 3) oder zur Übernahme höherwertiger oder geringerwertiger Tätigkeiten. Solche Klauseln können die Handlungsmöglichkeiten des Arbeitgebers einengen oder erweitern, sodass der zum Teil gebrauchte Begriff der Direktionsrechtserweiterung durch TV irreführend
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Katalog typischer Tarifnormen
ist1. Als Beispiel für eine einengende Regelung diene etwa die Pflicht zur Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die der Arbeitgeber nach § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG für Kurzerkrankungen ohne weitere Begründung ab dem ersten Tag der Erkrankung verlangen kann. Dagegen sehen TVe zum Teil vor, dass dies nur in begründeten Fällen angeordnet werden kann. In dieselbe Richtung geht die grundsätzlich im Arbeitsvertrag regelbare Befugnis, auch befristete Arbeitsverhältnisse ordentlich zu kündigen. Diese Möglichkeit ist oftmals für betriebsbedingte Kündigungen durch TV ausgeschlossen. Erweitert der TV den Handlungsrahmen des Arbeitgebers, so räumt die Rechtsprechung den TV-Parteien hierbei einen weiten Gestaltungsspielraum ein. Tarifvertragliche Regelungen, die das Direktionsrecht erweitern, beruhen auf der grundrechtlichen Gewährleistung des Art. 9 Abs. 3 GG, die es den Koalitionen als Träger dieses Grundrechts erlaubt, die Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder zu regeln. Die Regelungsbefugnis der TV-Parteien ist allerdings nicht unbeschränkt, sondern findet ihre Grenze im zwingenden Gesetzesrecht, das seinerseits mit Art. 9 Abs. 3 GG in Einklang stehen muss2. 2. Grenzen a) Kündigungsrecht 5 Die durch einen TV mögliche Konkretisierung des Direktionsrechts geht zum Teil weit über die Möglichkeiten hinaus, die durch den Arbeitsvertrag eingeräumt werden können. Unstreitig sind beide – TV und Arbeitsvertrag – an den gesetzlichen Kündigungsschutz gebunden, der weder für die Arbeitsvertrags- noch für die TV-Parteien zur Disposition steht3. Das gilt auch und insbesondere für den durch § 2 KSchG gesicherten Inhaltsschutz. Im Arbeitsvertrag kann sich der Arbeitgeber kein Weisungsrecht vorbehalten, durch das grundlegend in das Gleichgewicht von Leistung und Gegenleistung eingegriffen wird4. Eine arbeitsvertragliche Vereinbarung, die bei arbeitszeitabhängiger Vergütung den Arbeitgeber berechtigen soll, die zunächst festgelegte Arbeitszeit später einseitig nach Bedarf zu reduzieren, stellt eine objektive Umgehung von zwingenden Vorschriften des Kündigungs- und Kündigungsschutzrechts dar und ist deshalb nichtig5. Direktionsrechtserweiternde Klauseln im Arbeitsvertrag unterliegen im Übrigen denselben Voraussetzungen wie Änderungsvorbehalte6. Dies bedeutet etwa für Klauseln, die Lohnbestandteile betreffen, dass sie zulässig sein können, soweit der widerrufliche Anteil am Gesamtverdienst unter 25 bis 30 % liegt und der Tariflohn nicht unterschritten wird7. Darüber hinausgehende Eingriffe stellen jedenfalls eine substanzielle Störung des Austauschverhältnisses dar mit der Folge, dass die angestrebte Anpassung nur durch Änderungsvertrag oder Änderungskündigung erreicht werden kann. Seit Inkrafttreten der Schuldrechtsreform sind Ar-
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So auch Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Direktionsrechtserweiterung Rz. 1. BAG v. 23.9.2004 – 6 AZR 442/03, NZA 2005, 475 Rz. 22. Däubler/Hensche, § 1 TVG Rz. 764. Däubler/Hensche, § 1 TVG Rz. 764; Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Direktionsrechtserweiterung Rz. 4. 5 BAG v. 12.12.1984 – 7 AZR 509/83, NZA 1985, 321. 6 ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 55. 7 BAG v. 12.1.2005 – 5 AZR 364/04, NZA 2005, 264 Rz. 23.
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Direktionsrechtsklauseln
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beitsverträge zudem am Maßstab der §§ 307 ff., 308 Nr. 4 BGB zu messen. Das heißt, dass unabhängig von der Höhe des Eingriffs für den Arbeitnehmer nachvollziehbare transparente Änderungsgründe vorliegen müssen. Objektiv müssen sachliche Gründe für die Einschränkung gegeben sein und der Arbeitnehmer muss aus der Klausel erkennen können, unter welchen Voraussetzungen welche Einschnitte auf ihn zukommen können. Soweit mit der Änderung der Arbeitsbedingungen zugleich eine Absenkung des Gehalts erfolgen soll, kann eine arbeitsvertragliche Klausel auch bei Absenkung von unter 20 % wegen der Doppelbelastung unangemessen und damit unwirksam sein1. Tarifvertragliche Klauseln zur Erweiterung des Direktionsrechts können nach der 6 Rechtsprechung infolge der dem TV innewohnenden Angemessenheitsvermutung zwar weiter gehen als einzelvertragliche Regelungen, können aber ebenfalls den zwingenden Kündigungsschutz nicht ganz ausschalten2. Nach Ansicht des BAG muss auch eine tarifvertragliche Erweiterung des Direktionsrechts mit den Wertungen des § 2 KSchG in Einklang stehen. Allerdings habe der Gesetzgeber davon abgesehen, den wesentlichen Kernbereich eines Arbeitsverhältnisses, der vor einseitigen Eingriffen des Arbeitgebers aus Gründen des Verfassungsrechts zu schützen sei, im Einzelnen festzulegen. Deshalb komme den TV-Parteien eine Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und betroffenen Interessen zu, mittels derer sie in die Lage versetzt werden, die jeweiligen kündigungsschutzrechtlichen Wertvorstellungen zu konkretisieren und einen angemessenen Ausgleich zwischen den Interessen des Arbeitnehmers an einem unveränderten Fortbestand seines Arbeitsverhältnisses und dem Interesse des Arbeitgebers an einer flexiblen Gestaltung der Arbeitsbedingungen zu finden. An einem angemessenen Interessenausgleich fehle es, wenn tarifliche Regelungen dem Arbeitgeber ohne jede Vorgabe Einschränkungen bis hin zur Suspendierung des Arbeitsverhältnisses gestatten. Dementsprechend erachtet das BAG Tarifnormen für unwirksam, die dem Arbeitgeber die einseitige Anordnung von Kurzarbeit gestatten, ohne dass durch die TV-Parteien eine Konkretisierung bezüglich Anlass, Zeitpunkt, Dauer und Umfang der Arbeitszeitverkürzung und damit der Lohnabsenkung vorgenommen wurde3. Zulässig kann eine tarifliche Regelung hingegen dann sein, wenn die Erweiterung des Direktionsrechts nach Grund und Umfang an konkrete tarifliche Voraussetzungen geknüpft ist und eine damit verbundene Entgeltminderung gemildert wird. Soweit die tarifliche Erweiterung des Direktionsrechts nach Anlass und Umfang gerichtlich kontrollierbare Voraussetzungen bestimmt, unter denen der Arbeitgeber zu einseitigen Eingriffen in das Arbeitsverhältnis berechtigt ist, kann ein Verstoß gegen die zwingenden kündigungsschutzrechtlichen Regelungen ausscheiden4. Diese Voraussetzungen können etwa erfüllt sein, wenn bei einer tariflich vorgegebenen Kürzung der Arbeitszeit die Voraussetzungen im TV aufgeführt sind und eine Ankündigungsfrist vorgesehen ist5. Dasselbe gilt, wenn etwa die Übertragung der Tätigkeit einer niedrigeren Lohngruppe nur zulässig ist bei Arbeitsmangel oder wenn
1 Vgl. zum Ganzen ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 55a. 2 Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Direktionsrechtserweiterung Rz. 5. 3 BAG v. 27.1.1994 – 6 AZR 541/93, NZA 1995, 134; BAG v. 18.10.1994 – 1 AZR 503/93, NZA 1995, 1064 Rz. 33. 4 BAG v. 23.9.2004 – 6 AZR 442/03, NZA 2005, 475 Rz. 24; Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Direktionsrechtserweiterung Rz. 5. 5 BAG v. 26.6.1985 – 5 AZR 585/83, DB 1986, 132.
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ein dringender Bedarf für eine vorübergehende Personalumbesetzung vorliegt1. Angesichts dieser Rechtsprechung erscheinen frühere Entscheidungen bedenklich, die Versetzungen auf niedriger bewertete Arbeitsplätze2 oder die einseitige Einführung von Kurzarbeit3 ohne dezidierte tarifvertraglich festgelegte Voraussetzungen zugelassen haben4. 7 An der Grenze des Zulässigen bewegen sich zum Teil tarifliche Regelungen zum Rationalisierungsschutz. Hier verfolgen die TV-Parteien in aller Regel das Ziel, den Arbeitnehmern den Arbeitsplatz auch in Zeiten der Krise oder der Umstrukturierung möglichst zu erhalten. Dafür muten sie ihnen häufig Arbeitszeitverkürzungen mit Entgeltwirkung und/oder eine Änderung der Arbeitsform bzw. des Arbeitsinhalts zu (etwa Tätigkeiten in Leih- und Zeitarbeit). Dabei schießen die TV-Parteien zum Teil über das hehre Ziel des Arbeitsplatzschutzes hinaus, indem sie den kündigungsrechtlich festgelegten Inhaltsschutz zu weitgehend einschränken. Dabei ist nicht zu verkennen, dass die Rechtsprechung als Gegenleistung für Kündigungsschutz recht weitgehende Einschnitte akzeptiert. Als zulässig wurde etwa eine mehr als 20 %ige Reduzierung der Arbeitsvergütung u.a. deshalb angesehen, weil der zugrunde liegende TV zur Beschäftigungssicherung und Vermeidung betriebsbedingter Kündigungen diente5. Kritisch ist es aber, wenn der Arbeitnehmer zur Vermeidung von Kündigungen auf Anweisung des Arbeitgebers gezwungen werden soll, andere inhaltliche (auch unterwertige) Arbeit als bisher, z.B. in unternehmensexterner Leih- und Zeitarbeit6, zu verrichten oder längere Phasen der Nichtbeschäftigung zu dulden. Dadurch wird der arbeitsvertraglich bestimmte Kern des Beschäftigungsverhältnisses weitgehend suspendiert und das Gleichgewicht zwischen Leistung und Gegenleistung grundlegend verändert. Das gilt auch dann, wenn damit keine erheblichen Gehaltseinbußen einhergehen. Solche weitgehenden Änderungen des Beschäftigungsinhalts können dem Arbeitgeber nicht im Wege der Versetzung des Arbeitnehmers ermöglicht werden, auch nicht durch eine tarifvertragliche Ermächtigung. Hier bedarf es vielmehr der einvernehmlichen Änderung der Arbeitsbedingungen durch Änderungsvertrag oder des Ausspruchs einer Änderungskündigung. Die einseitige Anordnung wesentlich veränderter Arbeitsbedingungen ohne Überprüfungsmöglichkeit ist hingegen mit dem Schutzzweck des § 2 KSchG nicht zu vereinbaren. Diese Norm soll Vertragsinhaltsschutz gewähren; insbesondere soll es in der Hand des Arbeitnehmers liegen, trotz einer Verschlechterung seiner Arbeitsbedingungen den Arbeitsplatz zu behalten und gerichtlich überprüfen zu lassen, ob die neuen Bedingungen zumutbar sind. Wird dieser Schutzzweck durch Ausschaltung des § 2 KSchG vereitelt, ist die dahingehende Tarifnorm unwirksam7. Allerdings lässt sich schwer bestimmen, wann diese Grenze erreicht ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass tarifvertragliche Bestimmungen zur Versetzung in Vermittlungs- und Qualifizierungsbetriebe oder betriebliche Abteilungen in aller Regel dazu 1 Siehe BAG v. 23.9.2004 – 6 AZR 442/03, NZA 2005, 475 zur Regelung des § 27 Abs. 3 BMT-G II. 2 BAG v. 16.10.1965 – 5 AZR 55/65, AP Nr. 20 zu § 611 BGB Direktionsrecht. 3 BAG v. 15.12.1961 – 1 AZR 310/60, AP Nr. 2 zu § 56 BetrVG Arbeitszeit. 4 So auch die Einschätzung von Däubler/Hensche, § 1 TVG Rz. 765; Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Direktionsrechtserweiterung Rz. 5. 5 BAG v. 28.2.2009 – 6 AZR 144/08, DB 2009, 1769 Rz. 30. 6 LAG Düsseldorf v. 21.12.2006 – 13 Sa 863/05, juris Rz. 79; LAG Köln v. 3.5.2006 – 7 (5) Sa 1584/05, juris Rz. 58. 7 Instruktiv ArbG Aachen v. 10.2.2004 – 5 Ca 3365/03.
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dienen, ansonsten notwendige Kündigung zu vermeiden. Häufig gehen sie mit einem temporären Verzicht auf betriebsbedingte Beendigungskündigungen einher. Inwieweit dieser soziale Zweck mit dem Schutzzweck des § 2 KSchG korreliert, ist nicht abschließend geklärt. So misst etwa das LAG Hessen der sozialverträglichen Umsetzung notwendiger Restrukturierungen eine hohe Bedeutung bei. Danach rechtfertigt das Ziel, den vom Arbeitsplatzwegfall betroffenen Arbeitnehmer vor Beendigungskündigungen zu schützen, auch weitgehende Veränderungen des Beschäftigungsverhältnisses1. Nach Ansicht des LAG Brandenburg ist der Änderungskündigungsschutz des § 2 KSchG bei einer „dauerhaften und erheblichen“ Umgestaltung der arbeitsvertraglichen Pflichten tangiert, während etwa Leistungsbestimmungsrechte mit den kündigungsschutzrechtlichen Wertvorstellungen grundsätzlich vereinbar sein sollen, wenn sie zur Übertragung einer niedriger zu vergütenden Tätigkeit führen oder auch zu einer zeitweiligen Beschäftigungslosigkeit2. Gegenstand zwei neuerer Entscheidungen der Landesarbeitsgerichte Hamm und Düsseldorf war eine tarifvertragliche Regelung, die den Arbeitnehmer u.a. verpflichtete, sich auf zumutbare Arbeitsplätze eines Konzernunternehmens oder eines externen Arbeitgebers versetzen zu lassen. Beide Gerichte lehnten eine Konkretisierung des Direktionsrechts dahingehend ab, weil in einem bestehenden Arbeitsverhältnis eine Auswechslung des Arbeitgebers nicht gegen den Willen des betroffenen Arbeitnehmers erfolgen solle3. Richtigerweise messen alle Entscheidungen die Belastungsgrenze einer Versetzungsregelung an qualitativen und quantitativen Kriterien; dies wird mit dem Topos „dauerhaft und erheblich“ deutlich. Damit dürfte zur Vermeidung ansonsten notwendiger Kündigungen eine zeitlich begrenzte Versetzung zur Vermittlung und Qualifizierung zulässig sein, sofern sich die Verpflichtung zur Annahme einer (zumutbaren) Beschäftigung auf Stellenangebote des Arbeitgebers beschränkt. Soweit bei der Versetzung auf einen anderen Arbeitsplatz die Gleichwertigkeit der 8 Tätigkeit gewahrt und die Bezahlung unverändert bleibt, sind auch sehr weitgehende Versetzungsmöglichkeiten zulässig. Insbesondere im öffentlichen Dienst sind die Arbeitnehmer grundsätzlich verpflichtet, jede ihnen im Bereich des Arbeitgebers zugewiesene Tätigkeit zu verrichten, die den Merkmalen ihrer Vergütungsgruppe entspricht, soweit ihnen diese Tätigkeit billigerweise zugemutet werden kann4. Soweit das Direktionsrecht auch eine Arbeitsleistung bei Dritten umfasst, bedarf dies besonderer Voraussetzungen und der Beibehaltung des bisherigen Entgelts (vgl. § 4 Abs. 2 und 3 TVöD, oben Rz. 2). Liegt eine in diesem Sinne zulässige Versetzungsklausel vor, muss die Veränderung der Arbeitsbedingungen grundsätzlich auch im Wege der Versetzung herbeigeführt werden. Entschließt sich der Arbeitgeber dagegen trotz der Versetzungsmöglichkeit zur Änderungskündigung, ist diese „überflüssige“ Änderungskündigung wegen der damit verbundenen Bestandsgefährdung jedenfalls dann unverhältnismäßig mit der Folge der Unwirksamkeit, wenn der Arbeitnehmer das Änderungsangebot nicht angenommen hat. Demgegenüber führt eine „überflüssige“ Änderungskündigung bei Annahme des mit der Änderungskündigung verbundenen
1 LAG Hessen v. 22.9.2005 – 9 Sa 954/04, juris. 2 LAG Brandenburg v. 30.6.2005 – 9 Sa 79/05, juris Rz. 36. 3 LAG Düsseldorf v. 22.10.2013 – 16 SA 622/13, juris Rz. 174 mit Hinweis auf die Wertung des § 613a Abs. 6 BGB; LAG Hamm v. 24.2.2014 – 8 SA 1161/13, juris, Rz. 27; davor bereits LAG Düsseldorf v. 21.12.2006 – 13 Sa 863/05, juris. 4 LAG Hessen v. 24.10.2011 – 16 Sa 711/11, Rz. 34.
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Teil 5 (9) Rz. 9
Katalog typischer Tarifnormen
Angebots unter Vorbehalt nicht zur Unwirksamkeit der Änderung der Arbeitsbedingungen wegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit1. b) Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats 9 Soweit das Direktionsrecht des Arbeitgebers durch einen TV konkretisiert ist, muss stets das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats beachtet werden. So steht etwa dem Betriebsrat – anders als dem Personalrat – ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG bei der Frage der Einführung von Kurzarbeit zu2. Die Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 BetrVG scheidet nur dann aus, wenn der TV selbst die Voraussetzungen und Modalitäten der Einführung von Kurzarbeit so abschließend festlegt, dass er die Entscheidung des Betriebsrats ersetzt. Dies indes wird praktisch nie der Fall sein, da dem Arbeitgeber bei der Einführung von Kurzarbeit immer ein Raum zur „Bestimmung“ bleibt, so dass die „Mitbestimmung“ eingreift. Darüber hinaus wird zu Recht kritisch hinterfragt, ob der TV eine so weitgehende Übertragung von Rechten des Betriebsrats auf den Arbeitgeber überhaupt vorsehen kann3. Außerhalb des öffentlichen Dienstes sehen die tariflichen Regelungen zur Einführung von Kurzarbeit ohnehin ausdrücklich die Mitbestimmung des Betriebsrats vor, so dass schon aus diesem Grund das (erweiterte) Direktionsrecht des Arbeitgebers durch die Regelungen einer notwendigen Betriebsvereinbarung beschränkt wird. 10
Bei tariflichen Versetzungsklauseln ist das Mitbestimmungsrecht nach § 99 BetrVG bzw. § 76 BPersVG zu beachten4. Zwar muss der tarifvertragliche Versetzungsbegriff nicht zwingend deckungsgleich mit dem nach § 95 Abs. 3 BetrVG sein, doch sind die Überschneidungen in aller Regel so weitgehend, dass das Mitbestimmungsrecht nach § 99 BetrVG eingreift. Oft sehen tarifvertragliche Versetzungsklauseln eine Beteiligung des Betriebsrats ausdrücklich vor. Allerdings bezieht sich das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nicht auf die Frage, ob eine Versetzung mit der arbeitsvertraglichen Regelung vereinbar ist, weil es nicht Aufgabe des Betriebsrats ist, die Einhaltung des Inhalts des Arbeitsvertrages und damit die Möglichkeit oder Zulässigkeit einer Versetzung zu überwachen5. c) Die Beachtung billigen Ermessens
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Eine weitere Grenze für die Ausübung des tarifvertraglich konkretisierten Direktionsrechts durch den Arbeitgeber bildet das billige Ermessen. Auch soweit das Direktionsrecht durch einen TV konkretisiert ist, darf es nur nach billigem Ermessen im Sinne des § 315 Abs. 3 BGB ausgeübt werden6. Eine Leistungsbestimmung entspricht billigem Ermessen, wenn sie die wesentlichen Umstände des Falles abgewogen und die beiderseitigen Interessen angemessen berücksichtigt hat7. So bedarf es etwa bei
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BAG v. 6.9.2007 – 2 AZR 368/06, NZA-RR 2008, 291. BAG v. 18.10.1994 – 1 AZR 503/93, NZA 1995, 1064. Däubler/Hensche, § 1 TVG Rz. 766; Säcker/Oetker, RdA 1992, 16. BAG v. 4.5.2011 – 7 ABR 3/10, NZA 2011, 1373. BAG v. 10.8.1993 – 1 ABR 22/93, NZA 1994, 187, Rz. 43. St. Rspr., vgl. nur BAG v. 7.12.2000 – 6 AZR 444/99, NZA 2001, 780 m.w.N.; BAG v. 23.6.1993 – 5 AZR 337/92, NZA 1993, 1127. 7 BAG v. 12.12.1984 – 7 AZR 509/83, NZA 1985, 321 Rz. 62.
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Direktionsrechtsklauseln
Rz. 12
Teil 5 (9)
der Anwendung einer tarifvertraglichen Versetzungsklausel unabhängig von der ausdrücklichen Anordnung in der Klausel einer Abwägung der Interessen des Arbeitnehmers einerseits und der betrieblichen Interessen des Arbeitgebers andererseits1. Der Arbeitgeber muss für seine Weisung deshalb berechtigte betriebliche Interessen geltend machen. Allgemeine Grundsätze bestehen insoweit nicht. Vielmehr ist in jedem Einzelfall eine Interessenabwägung vorzunehmen und einzelfallabhängig festzustellen, wessen Interessen im Ergebnis überwiegen. Kommen für eine betrieblich notwendige Versetzung mehrere Arbeitnehmer in Betracht, hat eine Auswahl nach billigem Ermessen gemäß § 315 BGB stattzufinden. Dabei sind soziale Gesichtspunkte angemessen zu berücksichtigen. Anders als bei Ausspruch einer Änderungskündigung muss zwar keine Sozialauswahl nach § 2 i.V.m. § 1 Abs. 3 KSchG erfolgen, doch bietet es sich an, auf die dazu entwickelten Kriterien zurückzugreifen. Ferner setzt die Anwendung billigen Ermessens in aller Regel voraus, dass der Arbeitnehmer vor der Versetzung angehört worden ist. Das gebietet bereits die arbeitgeberseitige Fürsorgepflicht. Die Anhörung soll sicherstellen, dass der Arbeitgeber die möglicherweise belastenden Folgen der beabsichtigten Versetzung für den Arbeitnehmer und dessen Familie richtig einschätzen kann und seine Versetzungsentscheidung aufgrund einer Interessenabwägung treffen kann, die alle wesentlichen Umstände berücksichtigt. Dies gilt jedenfalls bei längeren Versetzungen (vgl. § 4 Abs. 1 TVöD, oben Rz. 2), kann aber nach § 315 BGB bereits bei kürzeren Versetzungen eingreifen. Soweit dagegen eine Zustimmung des Arbeitnehmers erforderlich ist (vgl. § 4 Abs. 2 TVöD, oben Rz. 2), begrenzt diese Notwendigkeit bereits das arbeitgeberseitige Direktionsrecht und führt nicht nur zu einer stärkeren Berücksichtigung seiner Belange im Rahmen der Interessenabwägung2. d) Verhältnis zum Arbeitsvertrag In vielen Fällen ist das arbeitgeberseitige Direktionsrecht sowohl durch den Arbeits- 12 vertrag als auch durch Regelungen des TVs konkretisiert. Das Verhältnis des TVs zum Arbeitsvertrag bestimmt sich bekanntlich nach dem Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG. Soweit sich z.B. die Arbeitsleistung nach dem Arbeitsvertrag auf einen Ort konzentriert, ohne dass die Möglichkeit der anderweitigen Zuweisung besteht, geht eine Versetzungsklausel im TV ins Leere. Im Zweifel ist durch Auslegung zu ermitteln, ob im Arbeitsvertrag eine bindende Festlegung des Arbeitsortes erfolgt ist3. Nach der neueren Rechtsprechung des 1. Senats des BAG dürfte jedenfalls der gängigen arbeitsvertraglichen Regelung „Sie werden für den Arbeitgeber als (…) in (…) tätig“ auch dann keine Festlegung von Arbeitsort oder Arbeitsinhalt beizumessen sein, wenn es an einer ausdrücklichen Versetzungsregelung mangelt. Nach Ansicht des Gerichts haben die Parteien des Arbeitsvertrags alleine durch die Benennung der Funktion oder des Ortes keine günstigere Regelung geschaffen. Um dem Erfordernis einer „ausdrücklichen Vertragsbedingung“ zu genügen, „die unabhängig von einer für den Betrieb geltenden normativen Regelung Anwendung finden sollte“, hätte es weitergehender Hinweise im Arbeitsvertrag dafür bedurft, dass Arbeitsort und Funktion nicht durch eine kollektive Regelung geändert werden können. Alleine eine „fehlen-
1 Vgl. ArbG Hamm v. 1.4.2008 – 1 Ga 11/08, AE 2008, 183 zu § 4 Abs. 1 TVöD. 2 LAG Hamm v. 8.10.2009 – 17 Sa 906/09, Rz. 83. 3 BAG v. 21.1.2004 – 6 AZR 583/02, NZA 2005, 61 Rz. 21 ff.
Steffan
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Teil 5 (9) Rz. 13
Katalog typischer Tarifnormen
de“ Versetzungsregelung im Arbeitsvertrag reicht dazu nicht aus1. Zutreffend geht der 1. Senat davon aus, dass die Arbeitsvertragsparteien ihre vertraglichen Absprachen dahingehend gestalten können, dass sie einer Abänderung durch betriebliche Normen unterliegen. Dies könne ausdrücklich oder bei entsprechenden Begleitumständen konkludent erfolgen. Eine solche konkludente Vereinbarung sei regelmäßig anzunehmen, wenn der Vertragsgegenstand in Allgemeinen Geschäftsbedingungen enthalten sei und einen kollektiven Bezug habe. Mit der Verwendung von AGB mache der Arbeitgeber für den Arbeitnehmer erkennbar deutlich, dass im Betrieb einheitliche Vertragsbedingungen gelten sollen. Eine betriebsvereinbarungsfeste Gestaltung der Arbeitsbedingungen stünde dem entgegen. Diese zum Verhältnis zur Betriebsvereinbarung ergangene Entscheidung ist auf das Verhältnis zu tarifvertraglichen Regelungen übertragbar, soweit jedenfalls eine einfache Inbezugnahme vorliegt. Nach der kritisierten Rechtsprechung greift das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG damit nur dann ein, wenn es sich um eine echte Individualvereinbarung handelt, der zu entnehmen ist, dass sie gegenüber einer tarifvertraglichen Regelung Bestand haben soll2. Die eben zitierte allgemeine Bezeichnung von Arbeitsort und Arbeitsinhalt in einem Formulararbeitsvertrag erfüllt diese Voraussetzungen nicht. In aller Regel ist sie im Arbeitsvertrag nur aufgenommen, um den Erfordernissen von § 2 NachwG Rechnung zu tragen3. Auch mangelt es der Bezeichnung von Arbeitsort und -inhalt nicht am kollektiven Bezug, weil dieser bereits dann vorliegt, wenn eine bestimmte Regelung für eine Mehrzahl von Arbeitnehmern gilt4. Ein tarifvertragliches Direktionsrecht zur Versetzung wird auch bei langjähriger Beschäftigung auf einer bestimmten Stelle ohne das Hinzutreten besondere Umstände nicht beschränkt5. Eine Konkretisierung der Arbeitsvertragsbedingungen tritt nicht allein durch Zeitablauf ein. 3. Bestimmungsklauseln 13
Auch sog. Bestimmungsklauseln können das Direktionsrecht konkretisieren6. Dabei handelt es sich um Tarifnormen, die einen Beurteilungs- oder Ermessensspielraum bei der Anwendung der tariflichen Norm vorsehen7. Solche Klauseln sind zulässig8. Mit Öffnungsklauseln haben sie gemeinsam, dass es sich um die Delegation tarifvertraglicher Rechte handelt. Dagegen unterscheiden sie sich von den Öffnungsklauseln dahingehend, dass sie nicht selbst (abgeleitetes) Recht setzen, sondern beim Vollzug des TVs einen Beurteilungs- oder Ermessenspielraum vermitteln9. Rechtsgrundlage ist und bleibt bei Bestimmungsklauseln der TV, während bei Öffnungsklauseln die
1 So ausdrücklich BAG v. 5.3.2013 – 1 AZR 417/12, NZA 2013, 916 Rz. 60. 2 Dem BAG folgend etwa Linsenmaier, RdA 2014, 336; Hromadka, NZA 2013, 1061; a.A. insbes. Preis/Ulber, NZA 2014, 6; Waltermann, SAE 2013, 94. 3 So auch Rieble/Schul, RdA 2006, 339, 340. 4 So Hromadka, NZA 2013 1061, 1064; a.A. etwa Preis/Ulber, NZA 2014, 6, 9. 5 LAG Brandenburg v. 2.6.2006 – 5 Sa 653/05, NZA-RR 2007, 448. 6 Zu Bestimmungsklauseln siehe Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 2001 ff.; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 260 ff.; Däubler/Hensche, § 1 TVG Rz. 767 ff. 7 Däubler/Hensche, § 1 TVG Rz. 767; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 261. 8 BAG v. 28.11.1984 – 5 AZR 123/83, DB 1985, 132; Däubler/Hensche, § 1 TVG Rz. 767; Däubler/Reim, § 1 TVG Rz. 210; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 2001. 9 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 2002 f.; a.A. wohl Däubler/Reim, § 1 TVG Rz. 211.
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Direktionsrechtsklauseln
Rz. 13
Teil 5 (9)
Betriebsvereinbarung Rechtsgrundlage der jeweiligen Regelung ist1. Adressaten zur Ausfüllung der tarifvertraglichen (Bestimmung-)Klausel können Arbeitgeber, Arbeitnehmer, die Betriebsparteien oder auch dritte Personen sein2. Dritte können insbesondere paritätische Kommissionen sein, nicht dagegen der Betriebsrat selbst3. Die genaue Grenze zwischen Bestimmungs- und Öffnungsklausel ist teilweise schwierig zu ziehen. Als Beispiel mag die Bewertung von Tätigkeiten dienen: Soweit es darum geht, eine neue Funktion im Unternehmen einer Entgeltgruppe zuzuordnen und dieses Recht einer paritätischen Kommission zusteht, handelt es sich um eine Bestimmungsklausel. Rechtsgrundlage für die Wertigkeit einer Tätigkeit ist und bleibt in diesem Fall das tarifvertragliche Entgeltgruppenverzeichnis. Delegiert wird hier nur das Recht zur Ausfüllung. Soll dagegen den Betriebsparteien das Recht zustehen, im Rahmen einer Betriebsvereinbarung festzulegen, wie ein Zielvereinbarungssystem zur Ausgestaltung variabler Entgeltbestandteile auszugestalten ist, so stellt der TV nur den Rahmen zur Verfügung. Die Konkretisierung dieses Rahmens erfolgt hier durch eigenes Recht der Betriebsparteien. Rechtsgrundlage des Zielvereinbarungssystems ist nicht mehr der TV, sondern die Betriebsvereinbarung. Soweit eine Bestimmungsklausel den Arbeitgeber zu einseitigen Festlegungen ermächtigt, unterliegt die Ausübung des Bestimmungsrechts wie bei der Direktionsrechtsweiterung der Billigkeitskontrolle nach den §§ 315 ff. BGB4. Dies gilt etwa, wenn der Arbeitgeber den Zeitpunkt eines Freizeitausgleichs einseitig festlegen kann. Hierbei muss er eine Ankündigungsfrist wahren und dem Arbeitnehmer die Arbeitsfreistellung so rechtzeitig mitteilen, dass er sich noch ausreichend auf die zusätzliche Freizeit einstellen kann. Setzt er den Arbeitnehmer erst zwischen 15.00 und 17.00 Uhr darüber in Kenntnis, ob er am folgenden Tag zur Arbeitsleistung verpflichtet ist oder Freizeitausgleich erhält, entspricht diese einseitige Leistungsbestimmung nicht billigem Ermessen und ist deshalb nach § 315 Abs. 3 Satz 1 BGB unverbindlich5. Neben der Ausübungskontrolle des Bestimmungsrechts unterliegt auch die Bestimmungsklausel selbst denselben Grenzen wie bei der tarifvertraglichen Ausgestaltung des Direktionsrechts. Das gilt sowohl hinsichtlich der Grenzen des Kündigungsrechts6 als auch hinsichtlich der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats7. Zudem müssen die eingeräumten Leistungsbestimmungsrechte und Beurteilungsspielräume insgesamt gesetzeskonform sein und dürfen den Arbeitnehmern insbesondere nicht den Schutz tarifdispositiver Gesetze entziehen. Soweit eine Abweichung von gesetzlichen Normen zulässig ist, steht dies wegen der Angemessenheitsvermutung nur den TV-Parteien und damit der tarifvertraglichen Regelung selbst zu8. Außerdem müssen die Bestimmungsklauseln aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit bezüglich der Regelungsadressaten und des Regelungsinhalts hinreichend bestimmt sein9.
1 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 261. 2 Däubler/Hensche, § 1 TVG Rz. 767; vgl. die Übersicht zu möglichen Adressaten und Inhalten bei Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 262. 3 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 2008 f. 4 BAG v. 28.11.1984 – 5 AZR 123/83, DB 1985, 132. 5 BAG v. 17.1.1995 – 3 AZR 399/94, NZA 1995, 1000 Rz. 32 ff. 6 BAG v. 27.1.1994 – 6 AZR 541/93, NZA 1995, 134. 7 Däubler/Hensche, § 1 TVG Rz. 767. 8 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 910. 9 BAG v. 3.5.1978 – 4 AZR 731/76, AP Nr. 6 zu § 1 TVG Tarifverträge: Rundfunk; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 910; Däubler/Reim, § 1 TVG Rz. 210.
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Teil 5 (10) Rz. 1
Katalog typischer Tarifnormen
(10) Effektivklauseln I. Zweck und Kontext 1 Nach dem „Anrechnungsprinzip“ werden übertarifliche Entgeltbestandteile grundsätzlich auf spätere, zweckentsprechende Tariflohnerhöhungen angerechnet bzw. von diesen „aufgesogen“ (s. Teil 9 Rz. 245). Auch wenn man dem Anrechnungsprinzip skeptisch gegenüber tritt (s. Teil 9 Rz. 252 ff.), ist die (arbeits-)vertragliche Vereinbarung einer derartigen Anrechnung durch einen transparenten Anrechnungsvorbehalt möglich und praktisch verbreitet (s. Teil 9 Rz. 249 ff.). 2 Tarifvertragliche Effektivlohnklauseln zielen im Interesse der betroffenen Arbeitnehmer darauf ab, die Anrechnung zu verhindern, so dass der Arbeitgeber die ausgehandelte Erhöhung der Tarifentgelte in jedem Fall zusätzlich zu übertariflichen Entgeltbestandteilen leisten muss. Die Anrechnung infolge des Anrechnungsprinzips bzw. die vertraglich vorbehaltene Ausübung des Anrechnungsvorbehalts durch den Arbeitgeber soll somit durch die tarifvertragliche Regelung unterbunden werden. Im Fall eines arbeitsvertraglichen Vorbehalts wird der Konflikt zwischen Tarif- und Individualvertrag sehr deutlich: Dem Arbeitgeber wird die individualvertraglich wirksam vorbehaltene Dispositionsmöglichkeit über einen individualvertraglich vereinbarten Entgeltbestandteil durch eine tarifliche Regelung entzogen. Bedenkt man, dass auch das „Anrechnungsprinzip“ auf einer typisierenden Auslegung des rechtsgeschäftlichen Willens der Arbeitsvertragsparteien beruht, tritt insofern der Konflikt zwischen Kollektiv- und Individualautonomie in gleicher Weise auf. 3 Effektivklauseln begegnen in unterschiedlichen Erscheinungsformen: Am intensivsten wirken Effektivgarantieklauseln (auch allgemeine Effektivklauseln), die die bislang übertariflichen Zulagen dem Tarifentgelt zuschlagen und sie auf diese Weise der zwingenden Wirkung des § 4 Abs. 1 TVG (s. Teil 9 Rz. 10 ff.) unterwerfen; die vertraglich vorbehaltene Dispositionsmöglichkeit wird dem Arbeitgeber genommen. Begrenzte Effektivklauseln verzichten auf diese Einbeziehung in das Tarifentgelt und fokussieren auf die faktische Wirksamkeit der Tariflohnerhöhung.
II. Beispiele 4 Effektivgarantieklausel: Bisher gezahlte bertarifliche Zulagen sind dem erhçhten Grundentgelt hinzuzurechnen und gelten als Bestandteil des Tarifentgelts. 5 Begrenzte Effektivklausel: Die tarifliche Erhçhung muss je Arbeitnehmer und Stunde voll wirksam werden.1 Die Tarifentgelterhçhung muss in jedem Fall zustzlich zu dem tatschlich gezahlten Entgelt gewhrt werden.
1 BAG v. 14.2.1968 – 4 AZR 275/67, NJW 1968, 1396.
400 Greiner
Effektivklauseln
Rz. 8 Teil 5 (10)
III. Kommentierung Das BAG hat in ständiger Rechtsprechung und mit Zustimmung der weit überwie- 6 genden Literatur die sog. Effektivgarantieklauseln, die bisher als übertarifliche Zulagen gewährte Entgeltbestandteile dem tariflichen Entgelt zuschlagen und es als dessen Bestandteil deklarieren, für unwirksam erklärt1. Diese Rechtsprechung hat das BAG in der Folge auf sog. begrenzte Effektivklauseln erstreckt, die auf die Einbeziehung übertariflicher Zulagen in das Tarifentgelt verzichten, jedoch statuieren, dass die Tariflohnerhöhung in jedem Fall zusätzlich zu bislang gewährten übertariflichen Zulagen gezahlt werden muss2. Die Argumentation des BAG und der h.L. beruht auf drei Kernargumenten: Erstens 7 verstoße die Effektivklausel gegen den – auch die TV-Parteien bindenden (s. – kritisch – Teil 1 Rz. 45 ff.) – Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG): Infolge der Hinzurechnung des übertariflichen Entgelts zum Tariflohn werde ohne Kontrollmöglichkeit durch die TV-Parteien u.U. ohne sachlichen Grund unterschiedliche Vergütung für gleiche Arbeit festgesetzt. Zweitens sei die Schriftform (§ 1 Abs. 2 TVG) für Tarifnormen nicht eingehalten: Die Höhe der einzelnen Tarifentgelte sei der schriftlichen Vertragsurkunde nicht mehr zu entnehmen. Schließlich sei drittens ein starker Eingriff in die individuelle Vertragssphäre zu konstatieren: Gegenstand des TVes könnten mit Blick auf das Arbeitsentgelt nur allgemeine Mindestarbeitsbedingungen sein. Individuelle Begünstigungen einzelner Arbeitnehmer seien Domäne des Individualarbeitsvertrages. Es handele sich um eine Überschreitung der Tarifmacht, um „Regelungsanmaßung“ der TV-Parteien; die Regelung außertariflicher Entgeltbestandteile sei ihnen verwehrt3. Die Kritik an dieser Position4 zielt darauf ab, dass das BAG den Schutz des Individual- 8 vertrages gegenüber dem kollektivvertraglichen Zugriff an dieser Stelle zu hoch gewichte. Die Trennung beider Rechtskreise vernachlässige das strukturelle Übergewicht des Arbeitgebers bei der einzelvertraglichen Vertragsgestaltung5. Dem ist entgegenzuhalten, dass das Übergewicht des Arbeitgebers bei der Vertragsgestaltung nur die Festsetzung von tariflichen Mindestarbeitsbedingungen legitimieren kann (s. Teil 9 Rz. 198 f., 204). Eine davon zu trennende und eigenständigen Schutzes bedürfende Sphäre des Individualvertrages ist hingegen dort anzuerkennen, wo der Arbeitnehmer über das tarifvertraglich gewährte Mindestschutzniveau hinausgehend seine individuelle Privatautonomie erfolgreich betätigt hat, namentlich im Bereich der übertariflichen Entgeltbestandteile. Die Gegenansicht läuft darauf hinaus, neben der
1 BAG v. 13.6.1958 – 1 AZR 591/57, BB 1958, 771; BAG v. 14.2.1968 – 4 AZR 275/67, BB 1968, 665; BAG v. 16.4.1980 – 4 AZR 261/78, DB 1980, 1944; zust. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 529 ff.; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1893 ff.; Richardi, Kollektivgewalt, S. 412 ff.; Wlotzke, Günstigkeitsprinzip, S. 64 ff.; kritisch Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 792; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 867 ff.; Kempen, AuR 1982, 50 ff. 2 BAG v. 14.2.1968 – 4 AZR 275/67, BB 1968, 665; anders noch BAG v. 13.6.1958 – 1 AZR 591/57, DB 1959, 84; BAG v. 26.4.1961 – 4 AZR 501/59, DB 1961, 918. 3 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 531. 4 Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 502; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 792 m.w.N.; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 601. 5 So Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 502.
Greiner
401
Teil 5 (10) Rz. 9
Katalog typischer Tarifnormen
kollektivierten Privatautonomie in Form der Tarifautonomie keine individuelle Privatautonomie anzuerkennen1. 9 In der Tat zweifeln kann man dagegen an der Tragfähigkeit des Hinweises auf den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG)2. Selbst eine Effektivgarantieklausel greift eine individualvertraglich in legitimer Weise herbeigeführte Ungleichbehandlung lediglich auf3. Der die Differenzierung tragende Sachgrund ist somit in der individuell betätigten Privatautonomie der Arbeitsvertragsparteien zu sehen. Diese ist grundsätzlich nicht an den Gleichheitssatz gebunden. Durch die Anknüpfung an diese legitime individualvertragliche Differenzierung begehen auch die TV-Parteien ihrerseits keinen Gleichheitsverstoß. 10
Nur teilweise überzeugt auch der Hinweis auf das Schriftformgebot (§ 1 Abs. 2 TVG). Begrenzte Effektivklauseln begegnen insoweit keinen durchgreifenden Bedenken: Die übertarifliche Zulage wird nicht Bestandteil des Tarifentgelts, anders als bei einer Effektivgarantieklausel. Im Falle einer Effektivgarantieklausel freilich gebietet der aus dem Schriftformgebot folgende Grundsatz der Urkundeneinheit4, auch im Fall einer schriftlichen Niederlegung des Arbeitsvertrags das Schriftformgebot für verletzt zu halten5. Dass sich die Vergütungshöhe aus der Gesamtschau von TV und Arbeitsvertrag bestimmen lässt, genügt für die Wahrung der Schriftform nicht, da sich im TV nicht einmal eine „Andeutung“ hinsichtlich der individualvertraglichen Vereinbarung findet; die tatsächliche individuell vereinbarte Höhe des übertariflichen Entgelts war den TV-Parteien beim TV-Schluss ja regelmäßig gar nicht bekannt.
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Trotz dieser Erwägungen ist der Rechtsprechung im Ergebnis in ihrer Ablehnung der Rechtswirksamkeit von Effektivklauseln zu folgen. Entscheidend ist, dass mit jeder derartigen Klausel unmittelbar der übertarifliche Bereich geregelt werden soll. Dieser ist jedoch per definitionem „übertariflich“, damit allein der individuellen Privatautonomie anvertraut und der Regelungskompetenz der Tarifparteien entzogen. Jede Effektiv(garantie)klausel zielt darauf ab, dem Arbeitgeber die individualvertraglich wirksam vereinbarte Möglichkeit der Anrechnung zu entziehen. Darin liegt ein Übergriff in die Regelungskompetenz der Arbeitsvertragsparteien, die im übertariflichen Bereich von tariflichen Vorgaben unberührt bleiben muss. Mithin zwingen derartige Klauseln den Arbeitsvertragsparteien einen anderen Vertragsinhalt auf als sie vereinbart haben und beinhalten eine Verletzung der individuellen Vertragsfreiheit (Art. 12 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG)6. Der arbeitsvertraglich vereinbarte Zusammenhang von übertariflicher Zulage und Anrechnungsklausel wird zerstört7.
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Zwar ist eine Verletzung des Günstigkeitsprinzips (§ 4 Abs. 3 TVG) nicht ersichtlich, da auch im Fall einer Effektivklausel die Gewährung weiterer Zulagen zum – ledig-
1 Plastisch Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 537. 2 Zutr. Stein, Tarifvertragsrecht, Rz. 338. 3 Zutr. Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 792; Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 503; Kempen, AuR 1982, 50 (52 f.); Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 596 f. 4 Allg. ErfK/Preis, § 127 BGB Rz. 15 m.w.N. 5 A.A. Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 602; Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 503. 6 Vgl. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1897; a.A. Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 594 (Regelung bloßer Anspruchsmodalitäten). 7 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 537.
402 Greiner
Rz. 1 Teil 5 (11)
Eingruppierung
lich erhöhten – Tarifentgelt möglich bleibt1. Die umfassende übertarifliche Regelungskompetenz der Arbeitsvertragsparteien, die im Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG nur exemplarisch Ausdruck gefunden hat und verfassungsrechtlich geboten ist (s. Teil 9 Rz. 199), würde gleichwohl verletzt, wenn auch der übertarifliche Bereich dem Regelungszugriff des TVes ausgesetzt würde. Retten kann die begrenzte Effektivklausel auch nicht das formale Argument, die rein arbeitsvertragliche Natur des übertariflichen Entgeltbestandteils werde gar nicht infrage gestellt: Die damit aufgestellte Behauptung verkennt, dass durch den Ausschluss der individualvertraglich wirksam vorbehaltenen Anrechnung Geltungsgrund des zuvor „übertariflichen“ arbeitsvertraglichen Entgelts nun ausschließlich ein normativ-tarifvertraglicher ist2. Die Anerkennung derartiger Klauseln würde folglich darauf hinauslaufen, den über- 13 tariflichen Bereich der tariflichen Regelung zu unterwerfen und somit zu einer Vermischung beider Sphären und einer übergreifenden, die Individualvertragsgestaltung erfassenden Kompetenz der Tarifparteien zu gelangen. Kollisionsregeln für das Verhältnis Individualvertrag und TV kann nur eine höherrangige (gesetzliche) Norm wie § 4 Abs. 3 TVG statuieren, nicht hingegen eines der an der Kollision selbst beteiligten Regelwerke3; es sei denn, es würde seine eigene Geltung zugunsten der kollidierenden Regelung einschränken.
(11) Eingruppierung I. Zweck und Kontext Durch die Eingruppierung wird ein Mitarbeiter einem im Betrieb geltenden kollekti- 1 ven Entgeltschema zugeordnet. Dasselbe gilt für die sog. Umgruppierung, die sich von der Eingruppierung im Wesentlichen dadurch unterscheidet, dass es sich hierbei nicht um die erstmalige Zuordnung zu einer Entgeltgruppe am Beginn einer neuen Tätigkeit handelt, sondern um die Zuordnung zu einer anderen Entgeltgruppe (z.B. weil sich die Wertigkeit der Tätigkeit verändert oder sich der Tätigkeitsschwerpunkt verschoben hat). Eingruppierungsregelungen finden sich wegen ihres entgeltrelevanten Charakters regelmäßig in sog. EntgeltrahmenTVen (auch Lohn- oder GehaltsrahmenTVe). Notwendige Voraussetzung der Eingruppierung und damit zwingender Bestandteil eines EntgeltrahmenTVs ist damit ein kollektives Entgeltschema, i.d.R. ein sog. Entgeltgruppenverzeichnis. Das Entgeltgruppenverzeichnis enthält mehrere Entgeltgruppen, denen jeweils eine Tätigkeitsbeschreibung entsprechend ihrer Wertigkeit hinterlegt ist (sog. Tätigkeitsmerkmale). Soweit es sich nicht um einfache Lohntätigkeiten handelt, sind den Tätigkeitsmerkmalen häufig noch sog. Richtbeispiele beigefügt (vgl. E 6 ERTV Chemie, unten Rz. 5). Unter Richtbeispielen versteht man im Betrieb vorhandene Tätigkeiten, die die Tätigkeitsmerkmale der jeweiligen Entgeltgruppe erfüllen und ihr deshalb beispielhaft zugeordnet werden. Sie dienen dazu, den Eingruppierungsvorgang für den Arbeitgeber zu erleichtern, da er sich bei der Ein1 Zutr. Etzel, AuR 1969, 265; Hansen, RdA 1985, 78 (82); Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 503. 2 Zu diesem Widerspruch schon Nikisch, BB 1956, 468. 3 Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 531.
Greiner/Steffan
403
Rz. 1 Teil 5 (11)
Eingruppierung
lich erhöhten – Tarifentgelt möglich bleibt1. Die umfassende übertarifliche Regelungskompetenz der Arbeitsvertragsparteien, die im Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG nur exemplarisch Ausdruck gefunden hat und verfassungsrechtlich geboten ist (s. Teil 9 Rz. 199), würde gleichwohl verletzt, wenn auch der übertarifliche Bereich dem Regelungszugriff des TVes ausgesetzt würde. Retten kann die begrenzte Effektivklausel auch nicht das formale Argument, die rein arbeitsvertragliche Natur des übertariflichen Entgeltbestandteils werde gar nicht infrage gestellt: Die damit aufgestellte Behauptung verkennt, dass durch den Ausschluss der individualvertraglich wirksam vorbehaltenen Anrechnung Geltungsgrund des zuvor „übertariflichen“ arbeitsvertraglichen Entgelts nun ausschließlich ein normativ-tarifvertraglicher ist2. Die Anerkennung derartiger Klauseln würde folglich darauf hinauslaufen, den über- 13 tariflichen Bereich der tariflichen Regelung zu unterwerfen und somit zu einer Vermischung beider Sphären und einer übergreifenden, die Individualvertragsgestaltung erfassenden Kompetenz der Tarifparteien zu gelangen. Kollisionsregeln für das Verhältnis Individualvertrag und TV kann nur eine höherrangige (gesetzliche) Norm wie § 4 Abs. 3 TVG statuieren, nicht hingegen eines der an der Kollision selbst beteiligten Regelwerke3; es sei denn, es würde seine eigene Geltung zugunsten der kollidierenden Regelung einschränken.
(11) Eingruppierung I. Zweck und Kontext Durch die Eingruppierung wird ein Mitarbeiter einem im Betrieb geltenden kollekti- 1 ven Entgeltschema zugeordnet. Dasselbe gilt für die sog. Umgruppierung, die sich von der Eingruppierung im Wesentlichen dadurch unterscheidet, dass es sich hierbei nicht um die erstmalige Zuordnung zu einer Entgeltgruppe am Beginn einer neuen Tätigkeit handelt, sondern um die Zuordnung zu einer anderen Entgeltgruppe (z.B. weil sich die Wertigkeit der Tätigkeit verändert oder sich der Tätigkeitsschwerpunkt verschoben hat). Eingruppierungsregelungen finden sich wegen ihres entgeltrelevanten Charakters regelmäßig in sog. EntgeltrahmenTVen (auch Lohn- oder GehaltsrahmenTVe). Notwendige Voraussetzung der Eingruppierung und damit zwingender Bestandteil eines EntgeltrahmenTVs ist damit ein kollektives Entgeltschema, i.d.R. ein sog. Entgeltgruppenverzeichnis. Das Entgeltgruppenverzeichnis enthält mehrere Entgeltgruppen, denen jeweils eine Tätigkeitsbeschreibung entsprechend ihrer Wertigkeit hinterlegt ist (sog. Tätigkeitsmerkmale). Soweit es sich nicht um einfache Lohntätigkeiten handelt, sind den Tätigkeitsmerkmalen häufig noch sog. Richtbeispiele beigefügt (vgl. E 6 ERTV Chemie, unten Rz. 5). Unter Richtbeispielen versteht man im Betrieb vorhandene Tätigkeiten, die die Tätigkeitsmerkmale der jeweiligen Entgeltgruppe erfüllen und ihr deshalb beispielhaft zugeordnet werden. Sie dienen dazu, den Eingruppierungsvorgang für den Arbeitgeber zu erleichtern, da er sich bei der Ein1 Zutr. Etzel, AuR 1969, 265; Hansen, RdA 1985, 78 (82); Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 503. 2 Zu diesem Widerspruch schon Nikisch, BB 1956, 468. 3 Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 531.
Greiner/Steffan
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Katalog typischer Tarifnormen
gruppierung eines Arbeitnehmers an den Richtbeispielen besser orientieren kann als lediglich an den Tätigkeitsmerkmalen. 2 Die Erstellung von Entgeltgruppenverzeichnissen, also die Zuordnung bestimmter Tätigkeitsmerkmale und Richtbeispiele zu den jeweiligen Entgeltgruppen (Wertigkeitsstufen), ist keine Eingruppierung, sondern (Arbeitsplatz-)Bewertung1. Die Bewertung ist ebenfalls Aufgabe der TV-Parteien, die häufig durch spezielle Tarifkommissionen, bestehend aus Vertretern der Gewerkschaften und der Arbeitgeber(-verbände), wahrgenommen wird. Beim Bewertungsverfahren wird im Kern zwischen analytischer und summarischer Bewertung unterschieden. Bei der summarischen Bewertung werden die Voraussetzungen der Tätigkeiten, die einer Entgeltgruppe zugeordnet sind, relativ global umschrieben (vgl. E 6 ERTV Chemie, unten Rz. 5). Bei der analytischen Bewertung dagegen wird den einzelnen Entgeltgruppen jeweils eine bestimmte Anzahl von Punkten hinterlegt. Zusätzlich werden den Einzelkriterien, die für die im Betrieb vorkommenden Tätigkeiten erforderlich sind, ebenfalls Punkte zugeteilt (etwa für Selbständigkeit, Ergebnisverantwortung, Kostenverantwortung, Personalverantwortung etc.). Nach der Erstellung des Entgeltgruppenverzeichnis durch die TV-Parteien werden zum Teil aufgrund des EntgeltrahmenTVs paritätische Kommissionen der Betriebsparteien gebildet, deren Aufgabe es ist, neue oder noch nicht bewertete Arbeitsaufgaben einer Entgeltgruppe des bestehenden Entgeltgruppenverzeichnisses zuzuordnen (so etwa § 7 ERA-TV Metall BW)2. 3 Die Eingruppierung der Arbeitnehmer in ein Gehaltsschema dient in erster Linie der innerbetrieblichen Lohngerechtigkeit. Damit soll erreicht werden, dass gleiche oder vergleichbare Tätigkeiten auch gleich bezahlt (entlohnt) werden. Bei der eigentlichen Eingruppierung wendet der Arbeitgeber das jeweils bestehende Entgeltgruppenverzeichnis entsprechend dem vorgegebenen Bewertungsverfahren an. Liegt ein Entgeltgruppenverzeichnis auf Basis einer summarischen Bewertung vor, prüft der Arbeitgeber, welchen Tätigkeitsmerkmalen des Entgeltgruppenverzeichnisses die Tätigkeiten des betreffenden (einzugruppierenden) Arbeitnehmers „in Summe“ entsprechen. Dieser Entgeltgruppe ordnet er den jeweiligen Mitarbeiter zu. Zur Eingruppierung in ein Entgeltgruppenverzeichnis auf Basis eines analytischen Bewertungsverfahrens gibt der Arbeitgeber zunächst den für die Aufgabe erforderlichen Kriterien jeweils eine bestimmte Anzahl von Punkten. Danach addiert er die Punktzahlen der jeweiligen Kriterien und ordnet den Mitarbeiter anhand der ermittelten Gesamtpunktzahl einer Entgeltgruppe zu. In aller Regel enthalten die jeweiligen Entgeltrahmenregelungen spezielle Regelungen, die bestimmte Grundsätze und Verfahrensweise der Eingruppierung festlegen (vgl. das Beispiel § 3 ERTV Chemie, unten Rz. 4). Besonders detaillierte Eingruppierungsregelungen enthalten die TVe des öffentlichen Dienstes. In fast allen Branchen kommt es nach den heute geltenden Regelungen – anders als nach früheren TVen – für die Bewertung einer Tätigkeit und damit auch für die Eingruppierung maßgeblich auf die ausgeübte Tätigkeit selbst an (vgl. § 3 Abs. 2 ERTV Chemie, unten Rz. 4), wohingegen Ausbildung und Verweildauer in der jeweiligen Entgeltgruppe nur noch eine untergeordnete oder gar keine Rolle spielen. Auch dies ist Teil der innerbetrieblichen Lohngerechtigkeit. Einer zunehmenden Erfahrung bei der Ausübung einer Tätigkeit wird zum Teil dadurch Rechnung getragen, dass sich innerhalb 1 BAG v. 17.11.2010 – 7 ABR 123/09, NZA 2011, 531. 2 Vgl. BAG v. 12.1.2011 – 7 ABR 34/09, NZA 2011, 1297.
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Eingruppierung
Rz. 4 Teil 5 (11)
der Entgeltgruppen nochmals sog. Entgeltstufen befinden, die meistens innerhalb einer festgelegten Zeitspanne durchlaufen werden, zum Teil aber auch in einer Kombination von Zeit und Leistung (Performance).
II. Beispiele § 3 ERTV Chemie Allgemeine Entgeltbestimmungen
4
1. Der Bundesentgelttarifvertrag ist in Verbindung mit dem jeweils geltenden bezirklichen Entgelttarifvertrag Grundlage der Entgeltfestsetzung. 2. Die Arbeitnehmer werden entsprechend der von ihnen ausgebten Ttigkeit in die Entgeltgruppen eingruppiert. Fr die Eingruppierung in eine Entgeltgruppe ist nicht die berufliche Bezeichnung, sondern allein die Ttigkeit des Arbeitnehmers maßgebend. Die Eingruppierung richtet sich nach den Ttigkeitsmerkmalen der Oberbegriffe; hierzu sind als Erluterung die bei den Entgeltgruppen aufgefhrten Richtbeispiele heranzuziehen. Passen die Oberbegriffe nicht auf eine ausgebte Ttigkeit, so ist ein Arbeitnehmer in diejenige Entgeltgruppe einzugruppieren, die seiner Ttigkeit am nchsten kommt. 3. Ein- und Umgruppierungen erfolgen unter Beachtung des Mitbestimmungsrechts des Betriebsrates nach den Bestimmungen des Betriebsverfassungsgesetzes. 4. bt ein Arbeitnehmer innerhalb seines Arbeitsbereiches stndig wiederkehrend mehrere Ttigkeiten aus, auf die verschiedene Entgeltgruppen zutreffen, so ist er in die Entgeltgruppe einzugruppieren, deren Anforderungen den Charakter seines Arbeitsbereiches im Wesentlichen bestimmen. Fr solche Ttigkeiten, die bezglich ihrer Anforderungen zu hçheren Entgeltgruppen gehçren und durch die Eingruppierung gemß Satz 1 noch nicht abgegolten werden konnten, ist eine angemessene Vergtung als Ausgleich zu gewhren. 5. bt ein in die Entgeltgruppen E 1 bis E 6 eingruppierter Arbeitnehmer auf Anordnung des Vorgesetzten vorbergehend (mindestens eine volle Schicht) vollwertig eine Ttigkeit aus, die nicht zu seinem persçnlichen Arbeitsbereich gehçrt und die der Voraussetzung einer hçheren Entgeltgruppe entspricht, ist ihm fr diese Zeit das Tarifentgelt der hçheren Entgeltgruppe zu zahlen. bt ein in den Entgeltgruppen E 7 bis E 12 eingruppierter Arbeitnehmer auf Anordnung des Vorgesetzten vorbergehend vollwertig eine Ttigkeit aus, die einer hçheren Entgeltgruppe zugeordnet ist, so hat er unter Anrechnung einer etwaigen Ausgleichszulage rckwirkend einen tariflichen Anspruch auf den Differenzbetrag zwischen seinem Tarifentgelt und dem Tarifentgelt der hçheren Entgeltgruppe, wenn diese Ttigkeit zusammenhngend lnger als vier Wochen dauert. Dabei ist das Gruppenjahr der hçheren Entgeltgruppe zugrunde zu legen, dessen Entgeltsatz am nchsten ber seinem bisherigen tariflichen Entgeltsatz liegt. Der Anspruch entsteht nicht, wenn der Einsatz zu Trainingszwecken oder zum Zwecke der beruflichen Weiterbildung erfolgt. 6. Einem Arbeitnehmer, der auch Provision bezieht, muss im Jahresdurchschnitt als Einkommen das Tarifentgelt seiner Entgeltgruppe garantiert sein.
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Teil 5 (11) Rz. 5
Katalog typischer Tarifnormen
In Abrechnungsmonaten, in denen das Tarifentgelt nicht erreicht wird, kann der Arbeitnehmer verlangen, dass ihm der Differenzbetrag zum Tarifentgelt gezahlt wird, der mit knftigen hçheren Monatseinkommen zu verrechnen ist. 7. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, den Arbeitnehmer ber die erfolgte Ein- und Umgruppierung innerhalb eines Monats schriftlich (auch z.B. ber Datenverarbeitung) zu unterrichten. Der Betriebsrat ist hiervon in geeigneter Weise, in der Regel schriftlich, zu unterrichten. 8. Zuschlge und Zulagen sowie sonstige variable Entgeltbestandteile kçnnen, jeder fr sich oder insgesamt, pauschaliert werden. 5 Entgeltgruppenkatalog des ERTV Chemie: Entgeltgruppe 6 Arbeitnehmer, die Ttigkeiten verrichten, fr die Kenntnisse und Fertigkeiten erforderlich sind, die durch eine abgeschlossene mindestens dreijhrige Berufsausbildung in einem nach dem Berufsbildungsgesetz anerkannten oder gleichgestellten Ausbildungsberuf erworben worden sind. Das Merkmal der abgeschlossenen Berufsausbildung wird erfllt durch den erfolgreichen Abschluss, z.B. einer Handwerkerausbildung sowie einer Ausbildung zum Kaufmann, Chemikanten, Pharmakanten, Technischen Zeichner oder zur Fachkraft fr Lagerwirtschaft. Arbeitnehmer ohne eine derartige planmßige Ausbildung, die aufgrund mehrjhriger Berufspraxis gleichwertige Kenntnisse und Fertigkeiten erworben haben und entsprechende Ttigkeiten ausben. Prozessleitelektroniker in den ersten zwei Berufsjahren, wenn sie eine ihrer Ausbildung entsprechende Ttigkeit ausben. Bei Vorliegen dieser Voraussetzungen kçnnen folgende Ttigkeiten als Richtbeispiele gelten: Fahren (berwachen und/oder Steuern) von Anlagen oder Teilanlagen, auch mit Prozessleittechnik, in Produktions- oder Energiebetrieben mit den entsprechenden Kenntnissen und Fertigkeiten des obengenannten Personenkreises Instandhaltungsarbeiten an Gerten, Maschinen oder Anlagen, auch mit Funktionsprfung und Inbetriebnahme mit den entsprechenden Kenntnissen und Fertigkeiten des obengenannten Personenkreises Fertigen, Zusammenbauen oder Installieren von Gerten, Maschinen oder Anlageteilen mit den entsprechenden Kenntnissen und Fertigkeiten des obengenannten Personenkreises Assistenz- und Sekretariatsttigkeiten Kaufmnnische Sachbearbeitung Anforderungsgerechte Lagerhaltung und Lagerplanung Anfertigen technischer Zeichnungen mit den dazugehçrigen Berechnungen Anfertigen von Stromlaufplnen und Schaltplnen
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Eingruppierung
Rz. 7 Teil 5 (11)
Vorbereiten, Berechnen und Durchfhren von Routineanalysen nach festliegenden Methoden Vorbereiten, Berechnen und Durchfhren von Serienanstzen, Reihenuntersuchungen, Versuchsablufen oder prparativen Arbeiten nach festliegenden Methoden
III. Kommentierung 1. Definition und Verfahren Eingruppierung ist die Festsetzung der Lohn- bzw. Gehaltsgruppe, die für die Vergütung 6 des Arbeitnehmers maßgebend ist1. Dabei geht es um die Einordnung des Arbeitnehmers in ein kollektives, mindestens zwei Vergütungsgruppen enthaltendes Entgeltschema, das eine Zuordnung der Arbeitnehmer nach bestimmten, generell beschriebenen Merkmalen vorsieht2. Basis der Eingruppierung sind zuvörderst tarifvertragliche Entgeltschemata (vgl. z.B. E 6 ERTV Chemie, oben Rz. 5). Daneben finden auch Zuordnungen in betriebliche Entgeltschemata statt, insbesondere bei außertariflichen Angestellten; auch hierbei handelt es sich um Eingruppierungen3. Als Eingruppierung wurde bisher allgemein die erstmalige Einstufung oder Einreihung des Arbeitnehmers nach der Einstellung oder einer Versetzung in eine bestimmte tarifliche oder betriebliche Lohn- oder Vergütungsgruppe verstanden4. Sie erfolgt durch die Zuordnung eines Arbeitnehmers zu einer bestimmten Gruppe der Vergütungsordnung nach Maßgabe der dafür gültigen Kriterien5. Dagegen wurden Entwicklungen der Arbeitnehmer, die innerhalb einer Entgeltgruppe aufgrund einer im Vergütungssystem angelegten Ordnung automatisch erfolgten (sog. Gruppenstufen), nicht unter den Begriff der Eingruppierung subsumiert. Die neuere Rechtsprechung des 7. Senats des BAG geht indes darüber hinaus und definiert neben der erstmaligen Einordnung in eine Entgeltgruppe auch die spätere Zuordnung zu einer Gruppenstufe innerhalb derselben Entgeltgruppe als Eingruppierung. Begründet wird dies damit, dass beide Faktoren (also Entgeltgruppe und Gruppenstufe) für die Einreihung des Arbeitnehmers in die Vergütungsordnung relevant seien und damit Bestandteile der einheitlichen Ein- oder Umgruppierung6. Auch dass diese „Wanderung“ in den Gruppenstufen „automatisch“ aufgrund der tarifvertraglichen Vorgaben verlaufe und damit ein Einreihungsvorgang nicht stattfinde, ändere daran nichts. Die Eingruppierung ist keine ins Ermessen des Arbeitgebers gestellte, rechtsgestalten- 7 de Maßnahme, sondern Rechtsanwendung. Was allgemein als Eingruppierungsvorgang verstanden wird, ist kein konstitutiver Rechtsakt, sondern hat nur deklaratorische Bedeutung7. Die Eingruppierung ergibt sich von selbst aus der vom Arbeitnehmer aus-
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BAG v. 12.12.2006 – 1 ABR 13/06, NZA 2007, 348. BAG v. 28.6.2006 – 10 ABR 42/05, NZA-RR 2006, 648. BAG v. 27.10.1992 – 1 ABR 17/92, BB 1993, 1589. Vgl. nur BAG v. 11.11.2008 – 1 ABR 68/07, NZA 2009, 450 Rz. 23 m.w.N.; Kleinebrink, NZARR 2014, 113; Küttner/Griese, Eingruppierung Rz. 1. 5 BAG v. 11.11.2008 – 1 ABR 68/07, NZA 2009, 450 Rz. 23. 6 BAG v. 6.4.2011 – 7 ABR 136/09, DB 2011, 2207 Rz. 25. 7 Küttner/Griese, Eingruppierung Rz. 4.
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Teil 5 (11) Rz. 8
Katalog typischer Tarifnormen
zuübenden Tätigkeit1. Dies wird zum Teil auch als „Tarifautomatik“ bezeichnet2. Bei dieser deklaratorischen Festlegung der Entgeltgruppe geht der Arbeitgeber von der Tätigkeit aus, die den Charakter der Arbeitsleistung im Wesentlichen bestimmt. Maßgeblich sind die in der Vergütungsordnung vorgesehenen Tätigkeitsmerkmale und die ggf. dort aufgeführten Richtbeispiele. Erfüllt die Tätigkeit eines Arbeitnehmers die Kriterien eines Richtbeispiels, so reicht dies für die Zuordnung aus3. Ist kein Richtbeispiel einschlägig, erfolgt die Zuordnung durch Subsumtion unter die Tätigkeitsmerkmale der jeweiligen Entgeltgruppen4. Dabei wird üblicherweise auf die Tätigkeit abgestellt, die mehr als die Hälfte der Arbeitszeit einnimmt5. Zu der so verstandenen Eingruppierung ist der Arbeitgeber (jedenfalls betriebsverfassungsrechtlich) verpflichtet, sobald die von einem Arbeitnehmer zu verrichtende Tätigkeit von einer im Betrieb anzuwendenden Lohn- oder Gehaltsgruppenordnung erfasst wird6. Dies gilt auch für geringfügig Beschäftigte7. Will der Arbeitgeber im Einzelfall von den Vorgaben des tarifvertraglichen Entgeltschemas abweichen, so kann er dies nicht durch Unterlassung der Eingruppierungsentscheidung tun. Negative Abweichungen scheiden schon wegen des zwingenden Charakters tarifvertraglicher Rechte aus, auf die der Arbeitnehmer auch nicht verzichten kann. Positive Abweichungen sind nach erfolgter Eingruppierung ggf. durch eine übertarifliche Zulage unter Berücksichtigung der allgemeinen arbeitsrechtlichen Vorgaben (ggf. Gleichbehandlungsgebot und Diskriminierungsverbot) möglich. Bei Höhergruppierungen hat der Arbeitgeber das Benachteiligungsverbot des § 612a BGB zu beachten und kann deshalb nicht etwa Arbeitnehmer von der Höhergruppierung ausnehmen, die auf eine Höhergruppierung geklagt haben. Ein solches Verhalten des Arbeitgebers führt zu einem Anspruch der betreffenden Arbeitnehmer auf die höhere Vergütung8. 8 Nach der Eingruppierung teilt der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer das Ergebnis der Eingruppierung mit. Dies sehen die tariflichen Regelungen in aller Regel ausdrücklich so vor (vgl. § 3 Abs. 7 ERTV Chemie, oben Rz. 4). Daneben ist auch der Betriebsrat bzw. Personalrat zu informieren (vgl. § 3 Abs. 8 ERTV Chemie, oben Rz. 4), weil die Eingruppierung der Mitbestimmung nach § 99 BetrVG (vgl. auch die Regelung in § 3 Abs. 3 ERTV Chemie, oben Rz. 4)9 bzw. § 75 BPersVG unterliegt. 9 Unterschiedliche Regelungen finden sich in den TVen für den Fall, dass ein Arbeitnehmer vorübergehend höherwertige Tätigkeiten ausübt. Hierbei gibt es im Wesentlichen zwei verschiedene Herangehensweisen. Nach der einen Logik bekommt der Arbeitnehmer von Beginn der höherwertigen Tätigkeit an einen Ausgleich in Geld bezogen auf die tatsächlich verrichtete Tätigkeit. Nach der anderen Logik bekommt der Arbeitnehmer zwar nicht von Anfang an einen finanziellen Ausgleich, dafür steht ihm aber ab einem gewissen Zeitpunkt ein Anspruch auf Höhergruppierung zu. 1 BAG v. 16.1.1991 – 4 AZR 301/90, NZA 1991, 490. 2 Vgl. dazu ErfK/Koch, § 46 ArbGG Rz. 31. 3 BAG v. 21.7.1993 – 4 AZR 486/92, NZA 1994, 710; BAG v. 8.3.2006 – 10 AZR 129/05, NZA 2007, 159; Küttner/Griese, Eingruppierung Rz. 7. 4 BAG v. 21.7.1993 – 4 AZR 486/92, NZA 1994, 710. 5 BAG v. 25.9.1991 – 4 AZR 87/91, NZA 1992, 273. 6 BAG v. 23.11.1993 – 1 ABR 34/93, NZA 1994, 461. 7 BAG v. 18.6.1991 – 1 ABR 60/90, NZA 1991, 903. 8 BAG v. 23.2.2000 – 10 AZR 1/99, NZA 2001, 680. 9 Zur Mitbestimmung des Betriebsrats bei Eingruppierungen siehe Rz. 14 ff.
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Eingruppierung
Rz. 10
Teil 5 (11)
2. Fehlerhafte Eingruppierungen Ist der Arbeitgeber der Ansicht, der Arbeitnehmer sei irrtümlich zu hoch eingruppiert, 10 kann er diese falsche Eingruppierung grundsätzlich korrigieren1. Ob er dies einseitig tun kann oder den Weg der Änderungskündigung beschreiten muss, hängt davon ab, ob die Vergütung Vertragsbestandteil geworden ist2. Dabei ist letztlich durch Auslegung zu ermitteln, ob die Parteien eine bestimmte Vergütungshöhe vereinbart haben oder nur übereingekommen sind, dass eine Vergütung entsprechend der Tätigkeit und der tariflichen Entgeltregelung erfolgt3. Letztlich wird die Auslegung in den meisten Fällen zur Annahme einer vertraglichen Vereinbarung führen, soweit sich nicht der Arbeitgeber im Arbeitsvertrag oder in den Angaben nach § 6 Abs. 2 NachwG vorbehält, bei irrtümlicher „Falscheingruppierung“ eine Korrektur vorzunehmen. Unterbleibt dies, ist die bloße Mitteilung über die Vergütungshöhe in aller Regel Vertragsgrundlage geworden4. Eine „Tarifautomatik“ findet insoweit nicht statt. In diesem Fall kann sich der Arbeitgeber von der falschen Eingruppierung nur mit den allgemeinen arbeitsrechtlichen Instrumentarien lösen. Denkbar ist ein Änderungsvertrag, der jedoch in aller Regel an der Mitwirkung des Arbeitnehmers scheitern dürfte. Regelmäßig wird deshalb nur eine Änderungskündigung in Betracht kommen, bei der die Voraussetzungen des § 2 KSchG zu beachten sind5. Das für eine Änderungskündigung notwendige dringende betriebliche Erfordernis hat das BAG bejaht, wenn die falsche höhere Eingruppierung eines Arbeitnehmers zu Missstimmungen bei den anderen Arbeitnehmern führt, die korrekt eingruppiert sind. Dem Arbeitgeber wird ein legitimes Interesse daran zugestanden, eine hierdurch im Betrieb entstehende Unruhe erst gar nicht aufkommen zu lassen6. Eine Änderung der Eingruppierung unterfällt als Umgruppierung i.S.d. § 99 BetrVG bzw. 75 BPersVG der Mitbestimmung des Betriebs- oder Personalrats7. Gegen die Änderungskündigung kann der Arbeitnehmer innerhalb von drei Wochen nach der Annahme des Änderungsangebots unter dem Vorbehalt der gerichtlichen Überprüfung eine Änderungskündigungsschutzklage erheben8. Hat dagegen der Arbeitgeber wissentlich mit einzelnen Arbeitnehmern einzelvertraglich eine höhere Vergütung vereinbart, als sie dem betrieblichen Niveau entspricht, ist es ihm verwehrt, unter Berufung auf den Gleichbehandlungsgrundsatz diese Vergütung dem Lohn der übrigen Arbeitnehmer anzupassen, mit denen er solch eine höhere Lohnvereinbarung nicht getroffen hat. In diesem Fall kann er auch kein dringendes betriebliches Erfordernis zur Rechtfertigung einer entsprechenden Änderungskündigung geltend machen9. Eine wiederholte korrigierende Rückgruppierung wegen fehlerhafter erster Rückgruppierung ist regelmäßig unzulässig, weil der Arbeitnehmer davon ausgehen kann, dass der Arbeitgeber anlässlich der ersten Rückgruppierung die Eingruppierung mit besonderer Sorgfalt überprüft hat.
1 Dazu Kleinebrink, NZA-RR 2014, 113, 114 ff. 2 ErfK/Koch, § 46 ArbGG Rz. 36; Hesse in Moll, Münchener Anwaltshandbuch, § 19 Rz. 21; a.A. Küttner/Griese, Eingruppierung Rz. 23 (stets Änderungskündigung notwendig). 3 Hesse in Moll, Münchener Anwaltshandbuch, § 19 Rz. 21. 4 So im Ergebnis auch Küttner/Griese, Eingruppierung, Rz. 23. 5 BAG v. 15.3.1991 – 2 AZR 582/90, NZA 1992, 120. 6 BAG v. 15.3.1991 – 2 AZR 582/90, NZA 1992, 120 Rz. 47. 7 BAG v. 30.5.1990 – 4 AZR 74/90, NZA 1990, 899 Rz. 13 (dort zum BPersVG). 8 Zu den Voraussetzungen im Einzelnen APS/Künzl, § 2 KSchG Rz. 323 ff. 9 BAG v. 1.7.1999 – 2 AZR 826/98, NZA 1999, 1336.
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Katalog typischer Tarifnormen
Für den öffentlichen Dienst sieht die Rechtsprechung in der Angabe der Vergütungsgruppe keine vertragliche Vereinbarung und hält somit eine „korrigierende Rückgruppierung“ auch ohne Änderungskündigung für zulässig1. Die nach den tariflichen Bestimmungen erforderliche Angabe der Vergütungsgruppe im Arbeitsvertrag gebe nur wider, welche Vergütungsgruppe der Arbeitgeber als zutreffend ansehe. Daraus folge jedoch ohne das Hinzutreten weiterer Umstände kein eigenständiger, von den tariflichen Bestimmungen unabhängiger Anspruch auf Vergütung, weil der Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes grundsätzliche keine übertarifliche Vergütung, sondern nur das gewähren wolle, was dem Arbeitnehmer tarifrechtlich zustehe2. Einem solchen Bindungswillen des Arbeitgebers stehe auch das Sparsamkeitsgebot des § 8 BHO bzw. der entsprechenden Haushaltsordnungen der Länder entgegen3. Ob diese Differenzierung gegenüber der Privatwirtschaft überzeugt, ist fraglich. In beiden Fällen ist die Festlegung einer Vergütungsgruppe im Arbeitsvertrag von den Arbeitsvertragsparteien grundsätzlich als bindend gewollt. Zutreffend wird auch darauf hingewiesen, dass sowohl ein öffentlicher Arbeitgeber als auch ein privater Arbeitgeber nach § 2 Nr. 6 NachwG zur Angabe der Berechnungsgrundlagen des Arbeitsentgelts verpflichtet ist. Auf dieser vertraglichen Grundlage arbeite der Arbeitnehmer. Im Übrigen sei es unter Vertrauensschutzgesichtspunkten nicht zu rechtfertigen, die Angabe der Vergütungsgruppe im Arbeitsvertrag im Bereich des öffentlichen Dienstes lediglich als unverbindliche Mitteilung zu qualifizieren4. Auch das BAG erkennt jedoch an, dass es im Einzelfall gegen Treu und Glauben in der Form widersprüchlichen Verhaltens verstoßen kann, wenn sich der öffentliche Arbeitgeber auf die Fehlerhaftigkeit der bisherigen tariflichen Bewertung berufe5. Ein solches Vertrauen kann insbesondere durch Umstände begründet werden, die nach der Eingruppierung eingetreten sind6. Anhaltspunkt dafür kann sein, dass der Arbeitgeber zu erkennen gegeben hat, er werde die Lohngruppe weiter gewähren, auch wenn die tariflichen Voraussetzungen nicht vorliegen7. Schützenswertes Vertrauen kann sich auch aus der Gesamtschau einzelner Umstände ergeben, von denen jeder für sich allein keinen hinreichenden Vertrauenstatbestand begründen kann8. Hat der Arbeitgeber zunächst eine Rückgruppierung angekündigt, sie dann aber unterlassen, erweckt dies für den Arbeitnehmer den Eindruck, seine Tätigkeit sei von Beginn an der zutreffenden Vergütungsgruppe zugeordnet gewesen9. Ebenfalls regelmäßig treuwidrig ist die wiederholte korrigierende Rückgruppierung des Arbeitnehmers bei unveränderter Tätigkeit. Der Vollzug einer korrigierenden Rückgruppierung durch den Arbeitgeber beinhaltet dessen Eingeständnis, sich bei der vormaligen tariflichen Bewertung der Tätigkeit des Arbeitnehmers geirrt zu haben. Bei der dann erfolgten korrigierten Eingruppierung kann der Arbeitnehmer erwarten, dass der Arbeitgeber dies mit besonderer Sorgfalt geprüft hat. Das gilt insbesondere dann, wenn der Arbeitnehmer für dieselbe Tätigkeit geringer bezahlt werden soll. Deshalb muss er nicht da1 BAG v. 16.10.2002 – 4 AZR 447/01, NZA 2003, 688; BAG v. 8.8.1996 – 6 AZR 1013/94, NZARR 1997, 76. 2 BAG v. 8.8.1996 – 10 AZR 1013/94, NZA-RR 1997, 76. 3 Vgl. ErfK/Koch, § 46 ArbGG Rz. 37. 4 Küttner/Griese, Eingruppierung Rz. 23. 5 BAG v. 24.1.2007 – 4 AZR 28/06, NZA 2007, 495 Rz. 31 m.w.N.; ErfK/Koch, § 46 ArbGG Rz. 37. 6 BAG v. 10.3.2004 – 4 AZR 212/03, NZA 2004, 1408. 7 BAG v. 23.3.2005 – 4 AZR 238/04, ZTR 2006, 78. 8 BAG v. 14.9.2005 – 4 AZR 348/04, NZA-RR 2006, 336. 9 BAG v. 5.6.2003 – 6 AZR 249/02, ZTR 2003, 626.
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Eingruppierung
Rz. 13
Teil 5 (11)
mit rechnen, dass der Arbeitgeber die Beseitigung eines angeblichen Eingruppierungsfehlers selbst erneut wieder in Frage stellt1. Ist der Arbeitnehmer der Ansicht, der Arbeitgeber habe ihn nicht richtig eingruppiert 12 (oder zu Unrecht rückgruppiert), kann er eine sog. Eingruppierungsfeststellungsklage erheben. Diese ist auch außerhalb des öffentlichen Dienstes allgemein üblich und nach ständiger Rechtsprechung des BAG zulässig2. Mangels rechtsgestaltender Wirkung der Eingruppierung kann der Arbeitnehmer jedoch nicht auf Eingruppierung in die „richtige“ Vergütungsgruppe klagen, sondern nur auf Feststellung, dass er nach der von ihm für richtig erachteten Vergütungsgruppe zu vergüten ist. Mit dieser Klage kann der Arbeitnehmer alle Arten der falschen Zuordnung rügen. Dies gilt sowohl für die von Anfang an fehlerhafte Eingruppierung als auch dann, wenn die Zuordnung nach Ansicht des Arbeitnehmers nicht mehr richtig ist, weil sich seine Tätigkeit geändert hat und/oder er eine höherwertige Tätigkeit im Laufe der Zeit übernommen hat, die eine höhere Vergütungsgruppe rechtfertigt. Für die Richtigkeit der von ihm erstrebten Vergütungsgruppe trägt der Arbeitnehmer im Prozess die Darlegungs- und Beweislast. Er muss daher im Einzelnen diejenigen Tätigkeitsmerkmale detailliert darlegen und beweisen, die seiner Ansicht nach die Höhergruppierung rechtfertigen3. Ist in einem zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat nach § 99 Abs. 4 BetrVG geführten Zustimmungsersetzungsverfahren eine bestimmte Entgeltgruppe als zutreffend festgestellt oder als unzutreffend ausgeschlossen worden, kann sich der Arbeitnehmer darauf berufen4. Bei der Festlegung der Lohn- oder Vergütungsordnung haben die TVParteien einen weiten Gestaltungsspielraum mit der Folge, dass die jeweiligen Regelungen durch die Arbeitsgerichte nicht auf ihre Zweckmäßigkeit zu überprüfen sind. Sie müssen sich aber im Rahmen des höherrangigen Rechts halten, insbesondere den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz und das Verbot der Geschlechterdiskriminierung beachten5. Neben der rechtlichen Möglichkeit der Überprüfung durch eine Eingruppierungsklage 13 sehen manche EntgeltrahmenTVe zur Überprüfung ein spezielles Reklamations- oder Beanstandungsverfahren vor. Danach kann der Arbeitnehmer zunächst schriftlich beim Arbeitgeber reklamieren. Daraufhin überprüft der Arbeitgeber die Eingruppierung. Sollte dabei kein Einverständnis über die Eingruppierung erzielt werden, kann die sog. Paritätische Kommission angerufen werden, die entweder selbst verbindlich entscheidet oder an eine Schiedsstelle weiterleitet6. Solche im TV vorgesehenen betrieblichen Einrichtungen können die Aufgabe eines Schiedsgutachters haben. Dies verstößt nicht gegen das im Arbeitsrecht mit wenigen Ausnahmen geltende Verbot der Schiedsgerichtsbarkeit. Die für das arbeitsgerichtliche Verfahren aus der Gutachtenabrede folgende Bindung ist allein materiell-rechtlicher Natur. Sie führt zur entsprechenden Anwendung der §§ 317 ff. BGB mit einer nur begrenzten gerichtlichen
1 BAG v. 23.9.2009 – 4 AZR 220/08, NZA 2010, 528 Rz. 17; BAG v. 23.8.2006 – 4 AZR 417/05, NZA 2007, 516 Rz. 17. 2 BAG v. 16.10.2002 – 4 AZR 447/01, NZA 2003, 688 Rz. 15. 3 Vgl. BAG v. 20.10.1993 – 4 AZR 47/93, NZA 1994, 514; BAG v. 21.7.1993 – 4 AZR 486/92, NZA 1994, 710. 4 BAG v. 28.8.2008 – 2 AZR 967/06, NZA 2009, 505; Küttner/Griese, Eingruppierung Rz. 28. 5 Küttner/Griese, Eingruppierung Rz. 7. 6 So etwa § 10 ERA-TV Metall BW; vgl. BAG v. 12.1.2011 – 7 ABR 34/09, NZA 2011, 1297.
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411
Teil 5 (11) Rz. 14
Katalog typischer Tarifnormen
Überprüfbarkeit1. Allerdings bedarf es dafür einer (nachvollziehbaren) Begründung. Fehlt es daran, ist das „Schiedsgutachten“ nach § 319 BGB unbeachtlich2. 3. Mitbestimmung des Betriebsrats a) Voraussetzungen und Inhalt 14
Ein- und Umgruppierungen unterliegen nach § 99 BetrVG der Mitbestimmung des Betriebsrats. Dahingehende Bestimmungen in einem TV sind rein deklaratorischer Natur (vgl. etwa § 3 Abs. 3 ERTV Chemie, oben Rz. 4). Voraussetzung ist, dass in dem Betrieb ständig mehr als 20 wahlberechtigte Arbeitnehmer beschäftigt werden. Maßgeblich ist die dauerhafte Belegschaft; kurzfristige Schwankungen haben auf das Mitbestimmungsrecht keinen Einfluss. Sinn und Zweck der Mitbestimmung sind zum einen die Richtigkeitskontrolle der Eingruppierungsentscheidung des Arbeitgebers und zum anderen die Schaffung einer Vergütungstransparenz als Voraussetzung der Lohngerechtigkeit3. Dabei geht es um die Mitbeurteilung der objektiv richtigen Eingruppierung nach den Kriterien in einem TV, einer Betriebsvereinbarung oder einer sonstigen abstrakt generellen Vergütungsordnung des Arbeitgebers4. Dass es sich um eine Mitbeurteilung handelt, ist eindeutig, wenn der Arbeitgeber aufgrund der Einordnung in ein Entgeltgruppenverzeichnis auf Basis eines summarischen Bewertungsverfahrens (vgl. Rz. 2) eine wertende Entscheidung über die Zuordnung des Arbeitnehmers zu einer Entgeltgruppe trifft. Dasselbe gilt aber auch dann, wenn das Vergütungssystem ausdifferenziert ist und dem Arbeitgeber kaum Spielraum bei der Bewertung der Eingruppierung lässt. Dies ist regelmäßig bei einen analytischen Bewertungssystem der Fall. Bedingt durch die (engen) Vorgaben des Entgeltgruppensystems verbleiben dem Arbeitgeber zur eigenen „Bewertung“ der Tätigkeiten kaum Spielräume5. Gleichwohl macht eine differenzierte Bewertung der Arbeitsaufgaben die Zuordnung des einzelnen Arbeitnehmers zu einer Entgeltgruppe durch den Arbeitgeber nicht entbehrlich. Insbesondere bleibt zu prüfen, ob die Entgeltgruppe, welcher der einzelne Arbeitnehmer zugeordnet wird, der bewerteten und eingestuften Arbeitsaufgabe entspricht und ob der Arbeitnehmer die Arbeitsaufgabe tatsächlich ausführt. Die vom Arbeitgeber vorzunehmende und vom Betriebsrat zu kontrollierende Beurteilung ist insoweit keine grundlegend andere als bei einem EntgeltTV, der bestimmte Funktionen bestimmten Entgeltgruppen zuordnet, oder der bei Vergütungsgruppen, die durch abstrakt beschriebene Tätigkeitsmerkmale definiert werden, bestimmte Tätigkeitsbeispiele aufführt6. Ein- oder Umgruppierungen sind keine gestaltenden „Akte“ oder „Vorgänge“, sondern Normenvollzug. Der Arbeitnehmer „ist“ eingruppiert; er „wird“ nicht eingruppiert (sog. Tarifautomatik). Der Arbeitgeber äußert unter Berücksichtigung des maßgeblichen Entgeltgruppenverzeichnisses seine Ansicht über die „richtige“ Entgeltgruppe des Arbeitnehmers. Dies unterliegt der Mitbeurteilung durch den Betriebsrat nach § 99 Abs. 1 BetrVG7. Er hat nach § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG mitzubeurteilen, ob der einzelne Arbeitnehmer die Stel1 2 3 4
BAG v. 17.3.2005 – 8 AZR 179/04, NZA 2005, 896. BAG v. 17.3.2005 – 8 AZR 179/04, NZA 2005, 896. Küttner/Griese, Eingruppierung Rz. 9. BAG v. 2.8.2006 – 10 ABR 48/05, NZA-RR 2007, 554 Rz. 21; BAG v. 17.4.2003 – 8 AZR 482/01, AP Nr. 90 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel. 5 Vgl. dazu BAG v. 12.1.2011 – 7 ABR 34/09, NZA 2011, 1297 Rz. 22. 6 Zutreffend BAG v. 12.1.2011 – 7 ABR 34/09, NZA 2011, 1297 Rz. 23. 7 BAG v. 12.1.2011 – 7 ABR 34/09, NZA 2011, 1297 Rz. 25.
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Eingruppierung
Rz. 16
Teil 5 (11)
le tatsächlich innehat und die dort zu leistenden Tätigkeiten der Arbeitsplatzbewertung entsprechen1. Der Betriebsrat kann der Eingruppierung widersprechen, wenn sie entweder zu niedrig oder zu hoch ist. Auch ein ggf. vorhandenes spezielles Reklamationsverfahren (etwa über paritätische Kommissionen, vgl. Rz. 2) schließt die Mitbestimmung des Betriebsrats bei Ein- und Umgruppierungen nicht aus. Es regelt vielmehr ein neben der gesetzlichen Mitbestimmung bestehendes Procedere im Falle der auf die mitgeteilte Entgeltgruppe bezogenen schriftlichen Reklamation durch den Beschäftigten oder den Betriebsrat. Die erfolgreiche Reklamation der Einstufung der Arbeitsaufgabe kann Auswirkungen auf die richtige Eingruppierung des Arbeitnehmers haben. Sie ersetzt allerdings nicht die vom Arbeitgeber vorzunehmende Eingruppierung2. Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats greift nicht nur bei der erstmaligen Eingruppierung nach einer Einstellung oder einer Änderung der Arbeitsaufgabe ein, sondern besteht auch bei einem Durchlaufen der Gruppenstufen innerhalb einer Entgeltgruppe3. Dagegen steht dem Betriebsrat kein Initiativrecht nach § 99 zu, mit dem er eine Höhergruppierung als Umgruppierung verlangen könnte, wenn sich die Tätigkeit des Arbeitnehmers im Laufe der Zeit geändert hat. Der Betriebsrat kann also nicht stellvertretend für den Arbeitnehmer dessen Höhergruppierung betreiben, wenn er die bisherige Eingruppierung für unzutreffend hält. Die unterlassene Betriebsratsbeteiligung bei der vorübergehenden Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit führt nicht zu einem Höhergruppierungsanspruch4. Von der Eingruppierung zu unterscheiden ist die Bewertung des Arbeitsplatzes (vgl. 15 Rz. 2). Sie ist nicht Gegenstand des als Mitbeurteilungsrecht ausgestalteten Mitbestimmungsrechts5. Dasselbe gilt, wenn im Unternehmen keine Lohn- oder Gehaltsgruppenordnung besteht und der Arbeitgeber deshalb gar keine Eingruppierung vornimmt6. In diesem Fall kann der Betriebsrat aber die Einführung betrieblicher Entgeltgruppen über sein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG geltend machen und notfalls über die Einigungsstelle gemäß § 87 Abs. 2 BetrVG durchsetzen7. b) Verfahren der Mitbestimmung aa) Unterrichtungspflicht des Arbeitgebers Der Arbeitgeber hat den Betriebsrat vor jeder Eingruppierung oder Umgruppierung 16 nach § 99 Abs. 1 BetrVG im Einzelnen zu unterrichten und Auskunft über die Person des Beteiligten zu geben. Dabei muss er dem Betriebsrat auch die erforderlichen Unterlagen vorlegen und ihm mitteilen, in welche Entgeltgruppe der Arbeitnehmer eingruppiert werden soll. Der Unterrichtung sind die Unterlagen beizufügen, die den Betriebsrat in die Lage versetzen, sich eine Meinung über die geplante Eingruppierung und deren Auswirkungen zu bilden und zu entscheiden, ob eine Verweigerung der 1 2 3 4 5 6
BAG v. 1.6.2011 – 7 ABR 138/09, DB 2012, 355. BAG v. 12.1.2011 – 7 ABR 34/09, NZA 2011, 1297 Rz. 30. BAG v. 6.4.2011 – 7 ABR 136/09, DB 2011, 2207. Siehe BAG v. 17.4.2002 – 4 AZR 174/01, NZA 2003, 159. BAG v. 17.11.2010 – 7 ABR 123/09, NZA 2011, 531. Vgl. BAG v. 12.12.2006 – 1 ABR 13/06, NZA 2007 Rz. 13; BAG v. 20.12.1988 – 1 ABR 68/87, NZA 1989, 518. 7 BAG v. 23.9.2003 – 1 ABR 35/02, NZA 2004, 800.
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Teil 5 (11) Rz. 17
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Zustimmung nach § 99 Abs. 2 BetrVG in Betracht zu ziehen ist1. Eine bestimmte Frist zur Vorlage sieht § 99 BetrVG nicht vor, doch ist es zweckmäßig, den Betriebsrat so früh wie möglich zu informieren. Spätester Zeitpunkt dürfte eine Woche vor der geplanten Ein- oder Umgruppierung sein, damit die Rückäußerung des Betriebsrats innerhalb der Wochenfrist nach § 99 Abs. 3 BetrVG noch vor Durchführung der Maßnahme erfolgen kann. Ist die Information des Arbeitgebers unvollständig, beginnt die Erklärungsfrist nach § 99 Abs. 3 BetrVG nicht zu laufen2. Die Unterrichtung hat der Arbeitgeber mit dem Antrag an den Betriebsrat zu verbinden, der vorgesehenen Eingruppierung zuzustimmen3. bb) Mögliche Zustimmungsverweigerung 17
Der Betriebsrat kann die Zustimmung verweigern, wenn einer der in § 99 Abs. 2 BetrVG enumerativ und abschließend aufgeführten Gründe vorliegt. Bei geplanten Einoder Umgruppierungen kommt als Verweigerungsgrund in erster Linie ein Verstoß gegen „eine Bestimmung in einem Tarifvertrag oder in einer Betriebsvereinbarung“ in Betracht (§ 99 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG)4. Gerade in diesem Zustimmungsverweigerungsrecht kommt die Funktion des Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats zum Ausdruck, die Richtigkeit der Eingruppierungsentscheidung des Arbeitgebers zu kontrollieren5. Der Verstoß i.S.d. § 99 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG wird regelmäßig in der falschen Anwendung des (richtigen) Vergütungssystems liegen. Es kommt aber auch die beabsichtigte Eingruppierung in ein falsches, nicht anwendbares Vergütungssystem in Betracht, etwa weil dieses ohne die erforderliche Beteiligung des Betriebsrats aufgestellt wurde6. Dagegen besteht kein Zustimmungsverweigerungsrecht, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer richtig eingruppiert, aber eine längere als die bisher betriebsübliche Wochenarbeitszeit vereinbaren will. Die wöchentliche Arbeitszeit eines Arbeitnehmers ist nämlich regelmäßig kein Merkmal für die Zuordnung zu einer Vergütungsgruppe und damit für die Eingruppierung eines Arbeitnehmers ohne Bedeutung7. Daraus wird deutlich, dass der Betriebsrat seine Verweigerungsgründe streng an der jeweiligen Maßnahme ausrichten muss. Das gilt insbesondere bei der mit einer Eingruppierung häufig einhergehenden Einstellung oder Versetzung. Der Betriebsrat muss jeweils getrennt prüfen, ob ein ausreichender Zustimmungsverweigerungsgrund vorliegt. Hält er die vorgesehene Eingruppierung für falsch, darf er nicht die Zustimmung zur Einstellung verweigern, sondern muss ihr zustimmen und der geplanten Eingruppierung hingegen unter Hinweis auf § 99 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG widersprechen8.
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Nach der Unterrichtung durch den Arbeitgeber hat der Betriebsrat nach § 99 Abs. 3 BetrVG eine Woche Zeit, um über die Zustimmung oder die Zustimmungsverweigerung zu entscheiden. Eine Zustimmungsverweigerung hat schriftlich unter Angabe von Gründen zu erfolgen. Ausreichend ist eine Begründung, die es als möglich erschei1 2 3 4 5 6 7 8
Vgl. ErfK/Kania, § 99 BetrVG Rz. 21. BAG v. 10.8.1993 – 1 ABR 22/93, NZA 1994, 187; ErfK/Kania, § 99 BetrVG Rz. 22. Küttner/Griese, Eingruppierung Rz. 10. ErfK/Kania, § 99 BetrVG Rz. 25. Küttner/Griese, Eingruppierung Rz. 11. BAG v. 24.4.2001 – 1 ABR 37/00, NZA 2002, 234 Rz. 23. BAG v. 28.6.2006 – 10 ABR 42/05, NZA-RR 2006, 648 Rz. 10 f. Vgl. BAG v. 20.12.1988 – 1 ABR 68/87, NZA 1989, 518; Küttner/Griese, Eingruppierung Rz. 12.
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Rz. 1 Teil 5 (12)
Entgeltfortzahlung
nen lässt, dass einer der gesetzlichen Zustimmungsverweigerungsgründe geltend gemacht wird, ohne dass ausdrücklich auf eine der Nummern des § 99 Abs. 2 BetrVG Bezug genommen werden muss1. Nur eine Begründung, die offensichtlich auf keinen dieser Verweigerungsgründe Bezug nimmt, ist unbeachtlich mit der Folge, dass die Zustimmung des Betriebsrats als erteilt gilt2. Eine Wiederholung des Gesetzeswortlautes reicht nicht aus3. cc) Zustimmungsersetzungsverfahren Verweigert der Betriebsrat form- und fristgerecht und mit ausreichender Begründung 19 die Zustimmung zur Ein- oder Umgruppierung, muss der Arbeitgeber nach § 99 Abs. 4 BetrVG beim zuständigen Arbeitsgericht beantragen, die Zustimmung des Betriebsrats zu der geplanten Eingruppierung zu ersetzen. Eine vorläufige personelle Maßnahme nach § 100 BetrVG wird bei Ein- und Umgruppierungen in aller Regel mangels Dringlichkeit nicht in Betracht kommen4. Über den Zustimmungsersetzungsantrag entscheidet das Arbeitsgericht im Beschlussverfahren nach §§ 80 ff. ArbGG. In dem Verfahren sind die von der Ein- oder Umgruppierung betroffenen Arbeitnehmer nicht Beteiligte. Der Betriebsrat muss lediglich die form- und fristgerechte Verweigerung der Zustimmung darlegen. Die Darlegungslast für das Nichtvorliegen der vom Betriebsrat vorgetragenen Verweigerungsgründe trifft den Arbeitgeber; nicht aufgeklärte Tatsachen gehen zu seinen Lasten. Das Zustimmungsersetzungsverfahren hat nur beschränkte Rechtskraft, es bindet den an dem Beschlussverfahren nicht beteiligten, einzugruppierenden Arbeitnehmer nicht. Dieser kann unabhängig von dem gerichtlichen Zustimmungsersetzungsverfahren die seines Erachtens nach richtige Lohnoder Gehaltsgruppe im arbeitsgerichtlichen Urteilsverfahren geltend machen5.
(12) Entgeltfortzahlung I. Zweck und Kontext Nicht immer greift der in § 611 BGB niedergelegte Grundsatz „Kein Lohn ohne Arbeit“ 1 ein. Vielmehr regeln sowohl Gesetze als auch TVe bestimmte Fälle, in denen die Lohnzahlungspflicht bestehen bleibt, obwohl vom Arbeitnehmer keine Gegenleistung geschuldet ist. Die bekanntesten Fälle sind Urlaub, Feiertage und Krankheit; auch die vorübergehende Verhinderung der Arbeitsleistung gemäß § 616 BGB (dazu R (4) Arbeitsverhinderung) gehört hierher. Des Weiteren bleibt der Lohnanspruch in den Fällen bestehen, in den sich das sog. Betriebsrisiko für den Arbeitgeber realisiert. Nach der bürgerlich-rechtlichen Betriebsrisikolehre trägt der Arbeitgeber in seiner Funktion als Unternehmer das Wirtschafts- und Betriebsrisiko, die ihm vom Arbeitnehmer angebotene Arbeitsleistung auch verwerten zu können. Gesetzliche Grundlage dieses Instituts ist seit der Schuldrechtsreform § 615 Satz 3 BGB, der im Wesentlichen die voran1 2 3 4 5
BAG v. 20.11.1990 – 1 ABR 87/89, NZA 1991, 513 Rz. 25; ErfK/Kania, § 99 BetrVG Rz. 39. BAG v. 20.11.1990 – 1 ABR 87/89, NZA 1991, 513 Rz. 25. BAG v. 24.7.1979 – 1 ABR 78/77, DB 1979, 2327. ErfK/Kania, § 100 BetrVG Rz. 1. Küttner/Griese, Eingruppierung Rz. 17.
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Entgeltfortzahlung
nen lässt, dass einer der gesetzlichen Zustimmungsverweigerungsgründe geltend gemacht wird, ohne dass ausdrücklich auf eine der Nummern des § 99 Abs. 2 BetrVG Bezug genommen werden muss1. Nur eine Begründung, die offensichtlich auf keinen dieser Verweigerungsgründe Bezug nimmt, ist unbeachtlich mit der Folge, dass die Zustimmung des Betriebsrats als erteilt gilt2. Eine Wiederholung des Gesetzeswortlautes reicht nicht aus3. cc) Zustimmungsersetzungsverfahren Verweigert der Betriebsrat form- und fristgerecht und mit ausreichender Begründung 19 die Zustimmung zur Ein- oder Umgruppierung, muss der Arbeitgeber nach § 99 Abs. 4 BetrVG beim zuständigen Arbeitsgericht beantragen, die Zustimmung des Betriebsrats zu der geplanten Eingruppierung zu ersetzen. Eine vorläufige personelle Maßnahme nach § 100 BetrVG wird bei Ein- und Umgruppierungen in aller Regel mangels Dringlichkeit nicht in Betracht kommen4. Über den Zustimmungsersetzungsantrag entscheidet das Arbeitsgericht im Beschlussverfahren nach §§ 80 ff. ArbGG. In dem Verfahren sind die von der Ein- oder Umgruppierung betroffenen Arbeitnehmer nicht Beteiligte. Der Betriebsrat muss lediglich die form- und fristgerechte Verweigerung der Zustimmung darlegen. Die Darlegungslast für das Nichtvorliegen der vom Betriebsrat vorgetragenen Verweigerungsgründe trifft den Arbeitgeber; nicht aufgeklärte Tatsachen gehen zu seinen Lasten. Das Zustimmungsersetzungsverfahren hat nur beschränkte Rechtskraft, es bindet den an dem Beschlussverfahren nicht beteiligten, einzugruppierenden Arbeitnehmer nicht. Dieser kann unabhängig von dem gerichtlichen Zustimmungsersetzungsverfahren die seines Erachtens nach richtige Lohnoder Gehaltsgruppe im arbeitsgerichtlichen Urteilsverfahren geltend machen5.
(12) Entgeltfortzahlung I. Zweck und Kontext Nicht immer greift der in § 611 BGB niedergelegte Grundsatz „Kein Lohn ohne Arbeit“ 1 ein. Vielmehr regeln sowohl Gesetze als auch TVe bestimmte Fälle, in denen die Lohnzahlungspflicht bestehen bleibt, obwohl vom Arbeitnehmer keine Gegenleistung geschuldet ist. Die bekanntesten Fälle sind Urlaub, Feiertage und Krankheit; auch die vorübergehende Verhinderung der Arbeitsleistung gemäß § 616 BGB (dazu R (4) Arbeitsverhinderung) gehört hierher. Des Weiteren bleibt der Lohnanspruch in den Fällen bestehen, in den sich das sog. Betriebsrisiko für den Arbeitgeber realisiert. Nach der bürgerlich-rechtlichen Betriebsrisikolehre trägt der Arbeitgeber in seiner Funktion als Unternehmer das Wirtschafts- und Betriebsrisiko, die ihm vom Arbeitnehmer angebotene Arbeitsleistung auch verwerten zu können. Gesetzliche Grundlage dieses Instituts ist seit der Schuldrechtsreform § 615 Satz 3 BGB, der im Wesentlichen die voran1 2 3 4 5
BAG v. 20.11.1990 – 1 ABR 87/89, NZA 1991, 513 Rz. 25; ErfK/Kania, § 99 BetrVG Rz. 39. BAG v. 20.11.1990 – 1 ABR 87/89, NZA 1991, 513 Rz. 25. BAG v. 24.7.1979 – 1 ABR 78/77, DB 1979, 2327. ErfK/Kania, § 100 BetrVG Rz. 1. Küttner/Griese, Eingruppierung Rz. 17.
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Teil 5 (12) Rz. 2
Katalog typischer Tarifnormen
gegangene Rechtsprechung bestätigt hat1. Soweit die gesetzlichen Grundlagen der Entgeltfortzahlung tarifdispositiv sind, können sie durch TVe auch begrenzt oder ausgeschlossen werden. Dagegen sind die TV-Parteien bei Erweiterungen der gesetzlichen Regelungen zugunsten der Arbeitnehmer ebenso frei wie bei der Schaffung weiterer Anlässe der Entgeltzahlung ohne Arbeit. Die bekanntesten Beispiele hierfür sind die tarifvertragliche Erweiterung des gesetzlichen Urlaubsanspruchs oder die Gewährung bezahlter „Vorfesttage“ (24. und 31. Dezember). Soweit der Arbeitnehmer ohne eigenes Verschulden an der Arbeitsleistung gehindert ist, folgt die Pflicht zur Entgeltfortzahlung aus dem Prinzip der Daseinsvorsorge, das es dem Arbeitgeber auferlegt, dem Arbeitnehmer einen Teil der Lebensrisiken abzunehmen2.
II. Beispiele 2 § 21 TVçD Bemessungsgrundlage fr die Entgeltfortzahlung In den Fllen der Entgeltfortzahlung nach § 6 Abs. 3 Satz 1, § 22 Abs. 1, § 26, § 27 und § 29 werden das Tabellenentgelt sowie die sonstigen in Monatsbetrgen festgelegten Entgeltbestandteile weitergezahlt. Die nicht in Monatsbetrgen festgelegten Entgeltbestandteile werden als Durchschnitt auf Basis der dem maßgebenden Ereignis fr die Entgeltfortzahlung vorhergehenden letzten drei vollen Kalendermonate (Berechnungszeitraum) gezahlt. Ausgenommen hiervon sind das zustzlich fr berstunden und Mehrarbeit gezahlte Entgelt (mit Ausnahme der im Dienstplan vorgesehenen berstunden und Mehrarbeit), Leistungsentgelte, Jahressonderzahlungen sowie besondere Zahlungen nach § 23 Abs. 2 und 3. Protokollerklrungen zu den Stzen 2 und 3: 1. Volle Kalendermonate im Sinne der Durchschnittsberechnung nach Satz 2 sind Kalendermonate, in denen an allen Kalendertagen das Arbeitsverhltnis bestanden hat. Hat das Arbeitsverhltnis weniger als drei Kalendermonate bestanden, sind die vollen Kalendermonate, in denen das Arbeitsverhltnis bestanden hat, zugrunde zu legen. Bei nderungen der individuellen Arbeitszeit werden die nach der Arbeitszeitnderung liegenden vollen Kalendermonate zugrunde gelegt. 2. Der Tagesdurchschnitt nach Satz 2 betrgt bei einer durchschnittlichen Verteilung der regelmßigen wçchentlichen Arbeitszeit auf fnf Tage 1/65 aus der Summe der zu bercksichtigenden Entgeltbestandteile, die fr den Berechnungszeitraum zugestanden haben. Maßgebend ist die Verteilung der Arbeitszeit zu Beginn des Berechnungszeitraums. Bei einer abweichenden Verteilung der Arbeitszeit ist der Tagesdurchschnitt entsprechend Satz 1 und 2 zu ermitteln. Sofern whrend des Berechnungszeitraums bereits Fortzahlungstatbestnde vorlagen, bleiben die in diesem Zusammenhang auf Basis der Tagesdurchschnitte zustehenden Betrge bei der Ermittlung des Durchschnitts nach Satz 2 unbercksichtigt. 3. Tritt die Fortzahlung des Entgelts nach einer allgemeinen Entgeltanpassung ein, ist die/der Beschftigte so zu stellen, als sei die Entgeltanpassung bereits mit Beginn des Berechnungszeitraums eingetreten. 1 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 549. 2 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 548; MünchArbR/Schlachter, § 72 Rz. 7.
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Entgeltfortzahlung
Rz. 2 Teil 5 (12)
§ 22 TVçD Entgelt im Krankheitsfall (1) Werden Beschftigte durch Arbeitsunfhigkeit infolge Krankheit an der Arbeitsleistung verhindert, ohne dass sie ein Verschulden trifft, erhalten sie bis zur Dauer von sechs Wochen das Entgelt nach § 21. Bei erneuter Arbeitsunfhigkeit infolge derselben Krankheit sowie bei Beendigung des Arbeitsverhltnisses gelten die gesetzlichen Bestimmungen. Als unverschuldete Arbeitsunfhigkeit im Sinne der Stze 1 und 2 gilt auch die Arbeitsverhinderung in Folge einer Maßnahme der medizinischen Vorsorge und Rehabilitation im Sinne von § 9 EFZG. Protokollerklrung zu Absatz 1 Satz 1: Ein Verschulden liegt nur dann vor, wenn die Arbeitsunfhigkeit vorstzlich oder grob fahrlssig herbeigefhrt wurde. (2) Nach Ablauf des Zeitraums gemß Absatz 1 erhalten die Beschftigten fr die Zeit, fr die ihnen Krankengeld oder entsprechende gesetzliche Leistungen gezahlt werden, einen Krankengeldzuschuss in Hçhe des Unterschiedsbetrags zwischen den tatschlichen Barleistungen des Sozialleistungstrgers und dem Nettoentgelt. Nettoentgelt ist das um die gesetzlichen Abzge verminderte Entgelt im Sinne des § 21 (mit Ausnahme der Leistungen nach § 23 Abs. 1), bei freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherten Beschftigten ist dabei deren Gesamtkranken- und Pflegeversicherungsbeitrag abzglich Arbeitgeberzuschuss zu bercksichtigen. Fr Beschftigte, die nicht der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung unterliegen und bei einem privaten Versicherungsunternehmen versichert sind, ist bei der Berechnung des Krankengeldzuschusses der Krankengeldhçchstsatz, der bei Pflichtversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung zustnde, zugrunde zu legen. Bei Teilzeitbeschftigten ist das nach Satz 3 bestimmte fiktive Krankengeld entsprechend § 24 Abs. 2 zeitanteilig umzurechnen. (3) Der Krankengeldzuschuss wird bei einer Beschftigungszeit (§ 34 Abs. 3) – von mehr als einem Jahr lngstens bis zum Ende der 13. Woche und – von mehr als drei Jahren lngstens bis zum Ende der 39. Woche seit dem Beginn der Arbeitsunfhigkeit infolge derselben Krankheit gezahlt. Maßgeblich fr die Berechnung der Fristen nach Satz 1 ist die Beschftigungszeit, die im Laufe der krankheitsbedingten Arbeitsunfhigkeit vollendet wird. (4) Entgelt im Krankheitsfall wird nicht ber das Ende des Arbeitsverhltnisses hinaus gezahlt; § 8 EFZG bleibt unberhrt. Krankengeldzuschuss wird zudem nicht ber den Zeitpunkt hinaus gezahlt, von dem an Beschftigte eine Rente oder eine vergleichbare Leistung auf Grund eigener Versicherung aus der gesetzlichen Rentenversicherung, aus einer zustzlichen Alters- und Hinterbliebenenversorgung oder aus einer sonstigen Versorgungseinrichtung erhalten, die nicht allein aus Mitteln der Beschftigten finanziert ist. Innerhalb eines Kalenderjahres kann das Entgelt im Krankheitsfall nach Absatz 1 und 2 insgesamt lngstens bis zum Ende der in Absatz 3 Satz 1 genannten Fristen bezogen werden; bei jeder neuen Arbeitsunfhigkeit besteht jedoch mindestens der sich aus Absatz 1 ergebende Anspruch. berzahlter Krankengeldzuschuss und sonstige berzahlungen gelten als Vorschuss auf die in demselben Zeitraum zustehenden Leistungen nach Satz 2; die Ansprche Steffan
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Teil 5 (12) Rz. 3
Katalog typischer Tarifnormen
der Beschftigten gehen insoweit auf den Arbeitgeber ber. Der Arbeitgeber kann von der Rckforderung des Teils des berzahlten Betrags, der nicht durch die fr den Zeitraum der berzahlung zustehenden Bezge im Sinne des Satzes 2 ausgeglichen worden ist, absehen, es sei denn, die/der Beschftigte hat dem Arbeitgeber die Zustellung des Rentenbescheids schuldhaft versptet mitgeteilt.
III. Kommentierung 1. Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall a) Unabdingbare Regelungen 3 Der grundsätzliche materielle Schutz des Arbeitnehmers im Falle der Krankheit folgt aus dem EFZG, das die Fortzahlung des Arbeitsentgelts für die ersten sechs Wochen der Krankheit sichert. Gleichwohl haben tarifliche Regelungen zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall hohe praktische Bedeutung. Das folgte früher daraus, dass die materielle Absicherung der Arbeiter gegen die Risiken krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit nicht durch Gesetz geregelt war, sondern allein durch den TV erfolgen musste. Mittlerweile ist der Unterschied zwischen Angestellten und Arbeitern weitgehend beseitigt und in der Frage der Entgeltfortzahlung sind beide Arbeitnehmergruppen gleichgestellt. Gleichwohl sind damit tarifliche Regelungen für den Krankheitsfall nicht bedeutungslos geworden, sondern nach wie vor aktuell. So sind zwar die Regelungen des EFZG gemäß dessen § 12 unabdingbar mit der Folge, dass von den Vorschriften des Gesetzes nicht zuungunsten der Arbeitnehmer abgewichen werden kann. Dies gilt etwa in Bezug auf den grundsätzlichen Entgeltfortzahlungsanspruch von sechs Wochen sowie die Behandlung von wiederholten und Mehrfacherkrankungen (§ 3 Abs. 1 EFZG), die Wartezeit des § 3 Abs. 3 EFZG, die Behandlung von Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch (§ 3 Abs. 2 EFZG) sowie die Gleichstellung von Maßnahmen der medizinischen Vorsorge und Rehabilitation (§ 9 EFZG). Infolge der Unabdingbarkeit sind etwa Regelungen unwirksam, die im Krankheitsfalle eine nicht ausreichende Gutschrift auf das Arbeitszeitkonto vorsehen1. Dasselbe gilt für eine Tarifregelung, die dem Arbeitgeber das Recht einräumt, für jeden Tag der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall den Arbeitnehmer 1,5 Stunden nacharbeiten zu lassen oder diese Stundenzahl von dessen Arbeitszeitkonto abzuziehen2. Dagegen steht § 12 EFZG der Anwendung einer tariflichen Ausschlussfrist auf den Entgeltfortzahlungsanspruch nach Ansicht des LAG Hamm nicht entgegen, weil die tarifliche Ausschlussfrist nicht den Inhalt des Anspruchs betreffe, sondern dessen Geltendmachung und zeitliche Begrenzung3. Ferner bezieht sich die Unabdingbarkeit nach § 12 EFZG nur auf die Vorschriften „dieses Gesetzes“, mithin des EFZG selbst. In anderen Gesetzen können Bestimmungen zur Entgeltfortzahlung in anderen Fällen damit auch anders geregelt werden4. Dies kann etwa die Fortzahlung der Vergütung im Falle kurzfristiger Verhinderung nach § 616 BGB betreffen; vgl. R (4) Arbeitsverhinderung, Rz. 16.
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BAG v. 13.2.2002 – 5 AZR 470/00, NZA 2002, 683. BAG v. 26.9.2001 – 5 AZR 539/00, NZA 2002, 387. LAG Hamm v. 19.1.2005 – 18 Sa 1173/04. ErfK/Reinhard, § 12 EFZG Rz. 3; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 837.
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Entgeltfortzahlung
Rz. 6 Teil 5 (12)
b) Tariflicher Gestaltungsspielraum Zugunsten der Arbeitnehmer kann von den Bestimmungen des EFZG ohnehin abge- 4 wichen werden, sei es durch einen TV, eine Betriebsvereinbarung oder auch einen Arbeitsvertrag1. Von der Unabdingbarkeit macht § 12 EFZG eine Ausnahme zugunsten der TV-Parteien. Gemäß § 4 Abs. 4 EFZG dürfen TVe von den in § 4 Abs. 1, Abs. 1a und Abs. 3 EFZG enthaltenen Bestimmungen zur Bemessungsgrundlage des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts abweichen, und zwar auch zum Nachteil der Arbeitnehmer2. Eine zu Lasten der Arbeitnehmer abweichende Regelung durch Betriebsvereinbarung oder Arbeitsvertrag ist dagegen unzulässig. Möglich ist jedoch eine tarifvertragliche Öffnungsklausel für Betriebsvereinbarungen, die sich ihrerseits im Rahmen des EFZG bewegen müssen3. Von der (verfassungskonformen)4 Ermächtigung des § 4 Abs. 4 EFZG wird in der Praxis weitreichend Gebrauch gemacht5. Zur Bemessungsgrundlage zählen die Berechnungsmethode und die Berechnungsgrundlage6. Als Berechnungsmethode kommt entweder das Entgeltausfallprinzip oder das Refe- 5 renzperiodenprinzip in Betracht. § 4 Abs. 1 EFZG selbst geht vom Entgeltausfallprinzip aus, indem er auf das dem Arbeitnehmer zustehende Arbeitsentgelt abstellt und ihn fiktiv so behandelt, als hätte er gearbeitet7. Das Referenzperiodenprinzip dagegen löst sich von der fiktiven Betrachtung des Ausfallzeitraums und stellt bei der Berechnung des fortzuzahlenden Entgelts auf das Arbeitsentgelt ab, das in einem bestimmten Zeitraum vor dem Eintritt der Arbeitsunfähigkeit (in der Referenzperiode) verdient wurde (vgl. § 21 TVöD, oben Rz. 2). Das Referenzperiodenprinzip wird in der Praxis häufig dort angewandt, wo das fiktive Entgelt während der Ausfallzeit schwer zu bestimmen ist, weil es Schwankungen unterliegt. Dies gilt etwa bei Arbeitnehmern in Vertriebstätigkeiten, deren Entgelt häufig einen variablen Anteil enthält, der auf kurzfristig laufenden Zielvereinbarungen basiert. Ähnlich kann es bei Tätigkeiten im Akkord sein. Wollen die TV-Parteien das Entgeltausfallprinzip durch das Referenzperiodenprinzip ersetzen, so bedarf es hierzu einer klaren Regelung. Soweit es daran mangelt, kommt das Entgeltausfallprinzip wieder zur Anwendung. So weicht etwa § 21 Satz 2 TVöD (vgl. Rz. 2) im Fall der Entgeltfortzahlung nach Änderung der Arbeitszeit von dem gesetzlich angeordneten Entgeltausfallprinzip nur dann ab, wenn zwischen der Arbeitszeitänderung und dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit mindestens ein voller Kalendermonat liegt. Andernfalls verbleibt es beim Entgeltausfallprinzip des EFZG8. Durch die Festlegung der Berechnungsgrundlage können die TV-Parteien Umfang und Bestandteile des zugrunde zu legenden Arbeitsentgelts regeln9. Die Berechnungs1 ErfK/Reinhard, § 4 EFZG Rz. 23. 2 MünchArbR/Schlachter, § 78 Rz. 3; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 552. 3 BAG v. 1.12.2004 – 5 AZR 68/04, NZA 2005, 1315; Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Entgeltfortzahlung Rz. 7. 4 BAG v. 26.9.2001 – 5 AZR 539/00, NZA 2002, 387. 5 So auch die Einschätzung von Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 552. 6 BAG v. 20.1.2010 – 5 AZR 53/09, NZA 2010, 455 Rz. 12; BAG v. 26.9.2001 – 5 AZR 539/00, NZA 2002, 387; Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Entgeltfortzahlung Rz. 3. 7 Vgl. BAG v. 20.1.2010 – 5 AZR 53/09, NZA 2010, 455 Rz. 11; Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Entgeltfortzahlung Rz. 4. 8 BAG v. 20.1.2010 – 5 AZR 53/09, NZA 2010, 455 Rz. 13. 9 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 552.
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Teil 5 (12) Rz. 7
Katalog typischer Tarifnormen
grundlage beinhaltet neben den Geldfaktoren der Entlohnung auch die Zeitfaktoren, soweit sie nicht schon bei der Berechnungsmethode berücksichtigt werden. Der Geldfaktor umfasst alle Bestandteile des Entgelts wie Grundgehalt, Prämien, variable Entgeltbestandteile, Zulagen etc. Bis auf das Grundgehalt können grundsätzlich alle einzelnen Bestandteile, aus denen sich der Entgeltfaktor zusammensetzt, bei der Entgeltfortzahlung durch einen TV modifiziert werden. Allerdings sind die TV-Parteien an den Grundsatz der vollen Entgeltfortzahlung (100 %) im Krankheitsfall gemäß § 4 Abs. 1 EFZG gebunden1. Dies bedeutet zwar nicht, dass alle Vergütungsbestandteile (selbst wenn sie regelmäßig gezahlt werden) in die Entgeltfortzahlung einzurechnen sind. Die den TV-Parteien durch § 4 Abs. 4 EFZG eingeräumte Gestaltungsmacht findet ihre Grenze aber dort, wo der Entgeltfortzahlungsanspruch in seiner Substanz angetastet wird2. Zulässig ist es, wenn die TV-Parteien tarifliche Zuschläge, die im Arbeitsverhältnis regelmäßig anfallen (etwa Zuschläge für regelmäßige Nachtarbeit), von der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ausnehmen. Sie müssen auch bei einer Mehrzahl tariflicher Zuschläge, von denen einige regelmäßig und andere unregelmäßig aufgrund einzelner Anordnung anfallen, nicht einzelne hiervon bei der Entgeltfortzahlung bestehen lassen. Wenn die TV-Parteien einzelne Entgeltbestandteile ausklammern, ist die Grundvergütung in vollem Umfang in die Entgeltfortzahlung einzubeziehen3. Auch kann abweichend vom Gesetz durch TV geregelt werden, dass sich die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nicht nach der individuellen regelmäßigen Arbeitszeit des Arbeitnehmers, sondern nach der regelmäßigen tariflichen Arbeitszeit bestimmt4. c) Regelungen in der Praxis 7 Im Ergebnis ist das Grundgehalt für tarifliche Regelungen unantastbar, so dass sich die Tarifverhandlungen zu Regelungen der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall auf die sonstigen Entgeltbestandteile konzentrieren müssen, wie etwa Prämien, Zuschläge oder Zulagen. Noch weitgehend ungeklärt ist die Behandlung variabler Entgeltbestandteile. Soweit der variable Entgeltanteil eine Leistung außerhalb eines fest definierten Grundgehalts darstellt, dürfte er von der Entgeltfortzahlung ausgenommen werden. Anders ist es aber, wenn der variable Teil des Entgelts Bestandteil des sog. Zielentgeltes ist. Da das Zielentgelt (in aller Regel ein Jahreszielentgelt) das Entgelt ist, das der Arbeitnehmer bei einer „voll guten“ Leistung erreichen soll, spricht mehr dafür, den variablen Anteil als Bestandteil der „vollen“ Entgeltfortzahlung zu betrachten mit der Folge, dass er lediglich für die Berechnungsmethode modifiziert werden kann, nicht dagegen für die Berechnungsgrundlage. 8 In der Praxis finden sich in den TVen vielfach Regelungen zur Höhe des fortzuzahlenden Entgelts, wobei diese meist inhaltsgleich mit den Bestimmungen des EFZG formuliert sind5. Ob es sich hierbei um eine konstitutive oder eine deklaratorische Regelung handelt, ist zurzeit aufgrund der 100 %igen Entgeltfortzahlung von untergeordneter Bedeutung. Anders war dies unter der Geltung des Arbeitsrechtlichen Beschäftigungsför1 BAG v. 13.3.2002 – 5 AZR 648/00, NZA 2002, 744 Rz. 21. 2 BAG v. 24.3.2004 – 5 AZR 346/03, NZA 2004, 1042 Rz. 32; Däubler/Winter, § 1 TVG Rz. 473; ErfK/Reinhard, § 4 EFZG Rz. 23. 3 BAG v. 13.3.2002 – 5 AZR 648/00, NZA 2002, 744 Rz. 21 ff., Rz. 26. 4 BAG v. 24.3.2004 – 5 AZR 346/03, NZA 2004, 1042; BAG v. 18.11.2009 – 5 AZR 975/08, NZA 2010, 472. 5 So auch MünchArbR/Schlachter, § 72 Rz. 4.
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derungsgesetzes von 1996, das die gesetzliche Entgeltfortzahlung von 100 % auf 80 % des Arbeitsentgelts absenkte1. Zwar ist anerkannt, dass eine tarifliche Regelung bei hinreichend eindeutiger Formulierung den Leistungsanspruch gegen den Arbeitgeber auch gegen etwaige Gesetzesänderungen absichern kann, doch ist dafür ein eigenständiger Regelungswille der TV-Parteien erforderlich2. Die dazu ergangene Rechtsprechung ist eher restriktiv. Danach bleibt es bei einer deklaratorische Klausel, „wenn der Wille der TV-Parteien zu einer gesetzesunabhängigen eigenständigen Tarifregelung im TV keinen hinreichend erkennbaren Ausdruck gefunden hat“3. Dabei wurde ein eigenständiger Regelungswille der Tarifpartner abgelehnt, wenn die Regelungen nur eine Verweisung auf die Gesetzesnorm enthielten4. Dasselbe soll aber auch bei wort- oder inhaltsgleicher Übernahme der einschlägigen Vorschriften gelten, wenn nicht zusätzliche Anhaltspunkte vorliegen, die auf den Willen zur Schaffung einer gesetzesunabhängigen Regelung schließen lassen5. Entgegen der Ansicht der Rechtsprechung sieht die überwiegende Meinung im Schrifttum im Zweifel eine eigenständige tarifliche Regelung als gewollt an6. Durch die Rückkehr zur 100 %-Regelung seit dem 1.1.1999 über das „Korrekturgesetz“7 hat der Streit seine praktische Relevanz verloren. Überwiegend sichern die TVe in erster Linie das Leistungsniveau des EFZG. Darüber 9 hinaus werden in einigen TVen zusätzliche Leistungen gewährt, die typischerweise in einem Zuschuss zum Krankengeld nach Ablauf der sechswöchigen Entgeltfortzahlungsfrist bestehen. Nach diesem Zeitraum besteht regelmäßig ein Anspruch des gesetzlich oder freiwillig sozialversicherten Beschäftigten gegen die Krankenkasse auf Zahlung von Krankengeld. Krankengeld wird gemäß § 47 Abs. 1 Satz 1 SGB V in Höhe von 70 % desjenigen regelmäßigen Arbeitsentgelts gezahlt, das der Beitragsberechnung unterliegt und für max. 78 Wochen innerhalb von drei Jahren gewährt. Durch den Zuschuss zum Krankengeld wird dieser Leistungsumfang aufgestockt, um den Abstand zum entgangenen regelmäßigen Arbeitsverdienst auszugleichen (vgl. § 22 Abs. 2 TVöD, oben Rz. 2). Dabei wird der Krankengeldzuschuss oft für unterschiedliche Zeiträume gewährt, wobei die Länge des jeweiligen Gewährungszeitraums in aller Regel von der Dauer der Betriebszugehörigkeit abhängt (vgl. § 22 Abs. 2 TVöD, oben Rz. 2)8. Welche Betriebszugehörigkeit für die Dauer des Krankengeldzuschusses maßgeblich ist, hängt von der Formulierung der Tarifregelung ab. Ist dazu nichts Besonderes geregelt, kommt es auf die vollendete Betriebszugehörigkeit bei Beginn der Arbeitsunfähigkeit an. Wird während einer bestehenden Arbeitsunfähigkeit eine eigentlich zu einer längeren Bezugszeit berechtigende Betriebszugehörigkeit vollendet, hat dies auf die laufende Bezugszeit des Zuschusses zum Krankengeld keine Auswirkung9. Anders ist
1 BGBl. I 1996, S. 1476. 2 So auch MünchArbR/Schlachter, § 72 Rz. 4; ausführlich dazu Rieble, RdA 1997, 134 ff. 3 BAG v. 27.8.1982 – 7 AZR 190/80, AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung; BAG v. 5.10.1995 – 2 AZR 1028/94, AP Nr. 48 zu § 622 BGB; BAG v. 14.2.1996 – 2 AZR 201/95, AP Nr. 50 zu § 622 BGB; BAG v. 14.2.1996 – 2 AZR 166/95, AP Nr. 21 zu § 1 TVG Tarifverträge: Textilindustrie. 4 BAG v. 16.6.1998 – 5 AZR 67/97, NZA 1998, 1288. 5 BAG v. 16.6.1998 – 5 AZR 638/97, NZA 1998, 1062. 6 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 836; Rieble, RdA 1997, 134 ff.; MünchArbR/Schlachter, § 72 Rz. 4. 7 BGBl. I 1998, S. 3843. 8 Vgl. auch die tariflichen Regelungen in der Entscheidung des BAG v. 1.7.1998 – 5 AZR 456/97, NZA 1998, 1066. 9 So etwa § 21 Ab. 6 MTV Deutsche Telekom AG.
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es nur dann, wenn eine besondere Regelung auch die Zeiten der Betriebszugehörigkeit erfasst, die während der Krankheit erreicht werden (so § 22 Abs. 3 Satz 2 TVöD, oben Rz. 2). Die Höhe des Krankengeldzuschusses deckt meist den Unterschiedsbetrag zwischen dem Krankengeld und dem bisherigen Netto-Entgelt des Arbeitnehmers ab (vgl. § 22 Abs. 2 TVöD, oben Rz. 2). Keine modifizierenden Regelungen enthalten TVe in aller Regel bezüglich der grundsätzlichen Voraussetzungen der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall gemäß § 3 EFZG. Der Arbeitnehmer hat demnach nur einen Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts, wenn er krank ist, die Krankheit ihn arbeitsunfähig macht, die Arbeitsverhinderung Folge der Arbeitsunfähigkeit ist und er die Arbeitsunfähigkeit nicht selbst verschuldet hat (vgl. § 22 Abs. 1 TVöD, oben Rz. 2)1. 2. Entgeltfortzahlung bei Urlaub a) Unabdingbare Regelungen 10
Die maßgeblichen gesetzlichen Grundlagen des Urlaubsrechts sind in den §§ 1 bis 3 BUrlG geregelt. Sie betreffen den Urlaubsanspruch als solchen, die Anspruchsberechtigten und die Höhe des gesetzlichen Mindesturlaubs (24 Werktage). Negative Eingriffe in diese Ansprüche sind aufgrund der Unabdingbarkeitsregelung des § 13 BUrlG unzulässig. Das gilt auch und insbesondere für den Grundsatz des bezahlten Erholungsurlaubs nach § 1 BUrlG. Für die Dauer des gesetzlichen Mindesturlaubs ist die ausgefallene Arbeitszeit einschließlich der Mehrarbeitsstunden zu vergüten2. Es gilt nach § 11 BUrlG ein gemischtes System aus Referenz- und Lohnausfallprinzip3 (zu den Berechnungsmethoden vgl. Rz. 5). Auch Zuschläge4 und laufende Prämien sind zu berücksichtigen5. Davon kann auch nicht durch TV zuungunsten der Arbeitnehmer abgewichen werden6. Dies folgt auch aus Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG. Außerdem sind Tarifregelungen unzulässig, die für das Urlaubsjahr einen anderen Zeitraum als das Kalenderjahr definieren7 oder dazu führen, dass ein Arbeitnehmer in einem Kalenderjahr keinen Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub erwirbt8. Dasselbe gilt, wenn bestimmte Arbeitnehmer, arbeitnehmerähnliche Personen oder Auszubildende vom Erwerb des Urlaubsanspruchs ausgeschlossen werden9. Haben die TV-Parteien ihren Regelungsspielraum überschritten, sind die entsprechenden Bestimmungen unwirksam mit der Folge, dass an ihre Stelle die gesetzliche Regelung tritt10. Der Urlaubsanspruch in der gesetzlichen Höhe unterliegt selbst auch keiner tariflichen Ausschlussfrist11; anders dagegen das während der urlaubsbedingten Freistellung weitergezahlte Arbeitsentgelt des Arbeitnehmers (Urlaubsentgelt)12. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Vgl. dazu etwa ErfK/Reinhard, § 3 EFZG Rz. 3 ff.; HWK/Schliemann, § 3 EFZG Rz. 10 ff. BAG v. 22.2.2000 – 9 AZR 107/99, NZA 2001, 268. ErfK/Gallner, § 11 BUrlG Rz. 2a. BAG v. 22.1.2002 – 9 AZR 601/00, NZA 2002, 1041. BAG v. 15.12.2009 – 9 AZR 887/08, NZA-RR 2011, 224. BAG v. 22.2.2000 – 9 AZR 107/99, NZA 2001, 268. Sonderregelungen bestehen für die Bauwirtschaft sowie für ehemalige Staatsunternehmen nach § 13 Abs. 2 und 3 BUrlG. ErfK/Gallner, § 13 BUrlG Rz. 3. ErfK/Gallner, § 13 BUrlG Rz. 3. BAG v. 15.12.2009 – 9 AZR 887/08, NZA-RR 2011, 224; BAG v. 22.1.2002 – 9 AZR 601/00, NZA 2002, 1041; ErfK/Gallner, § 13 BUrlG Rz. 7. ErfK/Gallner, § 13 BUrlG Rz. 8. BAG v. 22.1.2002 – 9 AZR 601/00, NZA 2002, 1041.
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Entgeltfortzahlung
Rz. 12
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b) Tariflicher Gestaltungsspielraum Zunächst steht es den TV-Parteien frei, für die Arbeitnehmer günstigere Regelungen 11 als nach dem BUrlG zu vereinbaren1. Dies gilt auch für die Regelung zur Dauer des (bezahlten) Urlaubs nach § 3 Abs. 1 BUrlG, weil es sich hierbei um einen gesetzlichen Mindestanspruch handelt2. Von dieser Möglichkeit macht die Praxis vielfach Gebrauch. Ob eine tarifvertragliche Regelung günstiger ist als die gesetzliche, richtet sich nach dem Günstigkeitsvergleich bezogen auf die einzelnen Bestimmungen. Dabei kommt es auf eine abstrakte Betrachtung der tariflichen Regelung an und nicht ihre konkreten Auswirkungen im Einzelfall3. Gleichwohl müssen die tarifvertraglichen Regelungen individuell für den einzelnen Arbeitnehmer günstiger sein; ein kollektiver Günstigkeitsvergleich bezogen auf die gesamte Belegschaft scheidet aus4. Von der Regelung des § 11 BUrlG können die TV-Parteien auch zu Ungunsten der Arbeitnehmer abweichen. Sie sind frei, jede ihnen als angemessen erscheinende Berechnungsmethode zu wählen und zu pauschalieren5. Allerdings muss die tariflich eigenständige Regelung eindeutig sein6. Unabhängig davon sind die TV-Parteien an den Grundsatz des bezahlten Mindesturlaubs nach §§ 1, 2 und 3 Abs. 1 BUrlG gebunden und dürfen deshalb nur solche Berechnungsmethoden vereinbaren, die geeignet sind, ein Urlaubsentgelt sicherzustellen, wie es der Arbeitnehmer bei der Weiterarbeit ohne Freistellung voraussichtlich hätte erwarten können. Wegen der Tarifautonomie kommt ihnen dabei ein weiter Beurteilungsspielraum zu. Sie dürfen aber keine Berechnungsvorschriften vereinbaren, die zielgerichtet der Kürzung des Urlaubsentgelts dienen. Damit ist es nicht vereinbar, Zuschläge für Sonn-, Feiertags- und Nachtarbeit von der Berechnung des Urlaubsentgelts auszunehmen7. Eine von § 1 BUrlG abweichende, geringere Bemessung des Urlaubsentgelts ist nach § 13 Abs. 1 BUrlG nur auf tarifvertragliche Urlaubsansprüche anwendbar, die über den gesetzlichen Mindesturlaub hinausgehen, wie z.B. ein zusätzliches Urlaubsgeld oder eine überschießende Anzahl von Urlaubstagen8. Regelt ein TV, dass der Urlaub auch nach Ablauf des gesetzlichen Übertragungszeitraums genommen werden kann, sind die TV-Parteien befugt, die Bemessung des Entgelts für diesen Urlaub frei zu gestalten, weil ohne diese tarifvertragliche Bestimmung der Urlaubsanspruch untergegangen wäre9. 3. Entgeltfortzahlung in sonstigen Fällen Die Fortzahlung des Entgelts an Feiertagen regelt § 2 EFZG. Danach hat der Arbeit- 12 geber dem Arbeitnehmer das Arbeitsentgelt zu zahlen, das er ohne den Arbeitsausfall erhalten hätte. Es gilt also das Entgeltausfallprinzip10. Die Vorschrift ist nicht tarif-
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BAG v. 22.1.2002 – 9 AZR 601/00, NZA 2002, 1041. ErfK/Gallner, § 13 BUrlG Rz. 4. BAG v. 22.1.2002 – 9 AZR 601/00, NZA 2002, 1041. ErfK/Gallner, § 13 BUrlG Rz. 6. BAG v. 15.12.2009 – 9 AZR 887/08, NZA-RR 2011, 224; BAG v. 22.2.2000 – 9 AZR 107/99, NZA 2001, 268; Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Entgeltfortzahlung Rz. 9. Däubler/Winter, § 1 TVG Rz. 472; Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Entgeltfortzahlung Rz. 9. BAG v. 22.1.2002 – 9 AZR 601/00, NZA 2002, 1041. BAG v. 15.12.2009 – 9 AZR 887/08, NZA-RR 2011, 224. BAG v. 22.2.2000 – 9 AZR 107/99, NZA 2001, 268. ErfK/Reinhard, § 2 EFZG Rz. 14.
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dispositiv. Fällt ein gesetzlicher Feiertag in einen Zeitraum, in dem der Arbeitnehmer wegen Krankheit arbeitsunfähig ist, so hat er für den Feiertag Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle. Die Höhe der Lohnfortzahlung bemisst sich aber nach der Feiertagsregelung des § 2 Abs. 1 EFZG. Dieser Grundsatz ist im Anschluss an die Rechtsprechung des BAG in § 4 Abs. 2 EFZG positiv geregelt worden1. 13
Hat der Arbeitgeber den Arbeitsausfall im Rahmen der sog. Betriebsrisikolehre zu vertreten2, kann der TV die Folgen des Arbeitsausfalls grundsätzlich frei regeln, da es sich um dispositives Recht handelt3. Daran hat sich durch die positive Regelung des Betriebsrisikos in § 615 Satz 3 BGB durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz nichts geändert, da § 615 BGB insgesamt dispositiv ist4. Der TV kann den Arbeitnehmer also zur Nacharbeit verpflichten oder die Entgeltfortzahlung beschränken. Die Abweichung muss dem TV aber eindeutig zu entnehmen sein, um den Arbeitgeber von der Entgeltzahlung in Fällen des Betriebsrisikos zu befreien5. Es reicht nicht aus, wenn eine Tarifbestimmung regelt, dass die Arbeitszeit zu vergüten ist, die infolge eines vom Arbeitgeber zu vertretenden Umstandes ausfällt, und eine andere Tarifbestimmung für den Fall des beiderseits unverschuldeten Arbeitsausfalls die Gelegenheit gibt, die ausgefallene Arbeitszeit „zur Vermeidung von Lohnausfällen“ nachzuarbeiten. Damit ist ein Abweichen von den Grundsätzen der Betriebsrisikolehre nicht eindeutig vereinbart6. Teilweise Begrenzungen des Betriebsrisikos finden sich regelmäßig etwa für bestimmte witterungsbedingte Arbeitsausfälle im Baugewerbe7. Durch solche Regelungen werden aber andere Fälle des Betriebsrisikos nicht erfasst. Besagt eine Tarifbestimmung, dass nur geleistete Arbeit bezahlt werde, schließt dies im Zweifel nur den Entgeltanspruch nach § 616 BGB für Fälle der persönlichen Verhinderung des Arbeitnehmers aus, nicht aber den Entgeltanspruch im Fall des Betriebsrisikos8. Eine abweichende Regelung, die u.U. auch eine Verpflichtung zur Nacharbeit vorsieht, enthält der VW-Tarifvertrag 5000 × 5000 mit der IG-Metall vom 1.1.2002. Dieser bestimmt: „Fällt die Arbeit aus Gründen aus, die der Arbeitgeber zu vertreten hat, und wird arbeitgeberseitig keine Gelegenheit gegeben, die ausgefallene Arbeit nachzuholen, wird die Vergütung längstens bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses fortgezahlt. Während des Arbeitsausfalls und/oder der Nachholarbeit sind die Beschäftigten verpflichtet, eine andere zumutbare Tätigkeit auszuführen.“
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Grundsätzlich besteht die Pflicht zur Entgeltfortzahlung auch in den Fällen der vorübergehenden persönlichen Verhinderung gemäß § 616 BGB. Allerdings ist auch § 616 BGB abdingbar mit der Folge, dass der Anspruch beschränkt oder ganz ausgeschlossen werden kann. Siehe dazu ausführlich R (4) Arbeitsverhinderung.
1 Vgl. BAG v. 19.4.1989 – 5 AZR 248/88, NZA 1989, 715. 2 Dazu instruktiv ErfK/Preis, § 615 BGB Rz. 120 ff. 3 BAG v. 8.12.1982 – 4 AZR 143/80, DB 1983, 395; Däubler/Winter, § 1 TVG Rz. 476; Thüsing/ Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Entgeltfortzahlung Rz. 11. 4 ErfK/Preis, § 615 BGB Rz. 130. 5 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1908. 6 BAG v. 9.3.1983 – 4 AZR 301/80, DB 1983, 1496 Rz. 22. 7 Vgl. etwa BAG v. 25.1.2012 – 5 AZR 671/10. 8 BAG v. 8.3.1961 – 4 AZR 223/59, DB 1961, 747 Rz. 17; BAG v. 18.5.1999 – 9 AZR 13/98, NZA 1999, 1166 Rz. 26; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1908.
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Kurzarbeitsregelungen
(13) Kurzarbeitsregelungen Literatur: Bauer/Günther, Ungelöste Probleme bei Einführung von Kurzarbeit, BB 2009, 662; Buschmann/Ulber J., Flexibilisierung: Arbeitszeit – Beschäftigung, 1989; Cohnen/Röger, Kurzarbeit als Antwort auf kurzfristig auftretende Konjunkturschwankungen, BB 2009, 46; Dendorfer/Krebs, Kurzarbeit und Kurzarbeitergeld – Überblick unter Berücksichtigung des Konjunkturpakets II, DB 2009, 902; Heinze, Die arbeitsrechtliche Zulässigkeit der Einführung von Kurzarbeit, RdA 1998, 14; Säcker/Oetker, Tarifliche Kurzarbeits-Ankündigungsfristen im Gefüge des Individualarbeitsrechts und des kollektiven Arbeitsrechts, ZfA 1991, 131; Schaub/Schindele, Kurzarbeit – Massenentlassung – Sozialplan, 3. Aufl. 2011; Voelzke, Das Eingliederungschancengesetz – neue Regeln für das Arbeitsförderungsrecht, NZA 2012, 177; Zabel, Anm. zu ArbG Elmshorn v. 11.1.2010, ArbuR 2011, 263.
I. Zweck und Kontext Kurzarbeit ist das vorübergehende teilweise Ruhen von Arbeits- und Entgeltzahlungs- 1 pflicht. Der Arbeitnehmer wird teilweise oder im Falle der Anordnung von „Kurzarbeit 0“1 vollständig von seiner Verpflichtung zur Arbeitsleistung befreit, erhält aber auch nur ein entsprechend reduziertes Arbeitsentgelt. Die wechselseitigen Leistungsverpflichtungen werden durch die Kurzarbeit beschränkt. Kompensatorisch kann ein Anspruch auf Kurzarbeitergeld nach den §§ 95 ff. SGB III (§§ 169 ff. SGB III a.F.) bestehen.2 Kurzarbeit hat sich als flexibles Instrument zur Bewältigung von konjunkturell bedingten wirtschaftlichen Schwierigkeiten bewährt.3. Aufgrund des Beschäftigungsanspruchs des Arbeitnehmers bedarf der Arbeitgeber zur 2 Einführung von Kurzarbeit mit entsprechender Lohnminderung einer Rechtsgrundlage4. Diese kann sich aus Gesetz (z.B. § 19 KSchG), TV, Betriebsvereinbarung oder dem Arbeitsvertrag5 ergeben6. Fehlt es an einer solchen Rechtsgrundlage, bedarf es einer Änderungskündigung7. Das Direktionsrecht des Arbeitgebers allein reicht zur Anordnung von Kurzarbeit nicht aus8. Ordnet der Arbeitgeber ohne Rechtsgrundlage Kurzarbeit an, kann der Arbeitnehmer wegen Annahmeverzugs des Arbeitgebers (§ 615 Satz 1 BGB) den vollen Lohnanspruch geltend machen9. Tarifvertragliche Regelungen zur Kurzarbeit sind überaus vielfältig. Wegen ihrer en- 3 gen Verzahnung mit den Vorschriften des SGB III sind sie oftmals Ausdruck der „Arbeitsteilung“10 zwischen Arbeitsrecht und Sozialversicherungsrecht. TVe zur Kurz1 Schaub/Linck, § 47 ArbR-Hdb. Rz. 1. 2 Eingeführt durch das Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt, v. 20.12.2011, BGBl. I., 2854; vgl. dazu Voelzke, NZA 2012, 177 ff. 3 Kempen/Zachert/Buschmann, § 1 TVG Rz. 480. 4 BAG v. 17.1.1995 – 1 AZR 283/94, n.v.; BAG v. 12.10.1994 – 7 AZR 398/93, NZA 1995, 641 (643). 5 Zur Klauselgestaltung vgl. Preis/Lindemann in Preis, Der Arbeitsvertrag, II A 90 Rz. 79 ff. 6 BAG v. 18.10.1994 – 1 AZR 503/93, NZA 1995, 1064; BAG v. 27.1.1994 – 6 AZR 541/93, NZA 1995, 134 (135). 7 BAG v. 14.2.1991 – 2 AZR 415/90, NZA 1991, 607; BAG v. 12.10.1994 – 7 AZR 398/93, NZA 1995, 641 (642); vgl. dazu Bauer/Günther, BB 2009, 662 (665 ff.). 8 BAG v. 12.10.1994 – 7 AZR 398/93, NZA 1995, 641 (643); BAG v. 18.10.1994 – 1 AZR 503/93, NZA 1995, 1064. 9 BAG v. 27.1.1994 – 6 AZR 541/93, NZA 1995, 134 (135). 10 Seiter, FS 25 Jahre BSG, 1979, S. 515 (516).
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Teil 5 (13) Rz. 4
Katalog typischer Tarifnormen
arbeit sehen sowohl Regelungen zum „ob“ als auch zum „wie“ der Einführung von Kurzarbeit vor. Die Regelungen betreffen im Wesentlichen folgende Sachverhalte: – Verfahrensregelungen zur Einführung von Kurzarbeit: Die entsprechenden TVe sehen in der Regel eine Erlaubnis für die Betriebspartner vor, Kurzarbeit einzuführen. Dies wird regelmäßig mit einem Zustimmungserfordernis des Betriebsrats verbunden. Es kann aber auch die Einführung durch Betriebsvereinbarung verlangt werden, oder lediglich ein Anhörungs- oder Informationsrecht vorgesehen sein. Zum Mitbestimmungsrecht i.Ü. vgl. Rz. 5. – Ankündigungsfristen für die Einführung von Kurzarbeit. – Regelungen zum Entgeltanspruch der Arbeitnehmer während der Kurzarbeit; häufig verbunden mit einem Anspruch auf einen Zuschuss zum Kurzarbeitergeld. Auch die Auswirkungen der Kurzarbeit auf den Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, auf Urlaubsgeld oder sonstige tarifvertragliche Ansprüche mit Entgeltbezug können gesondert geregelt sein. Dabei werden bisweilen auch etwaige Remanenzkosten, also solche Kosten, die bei rückläufigem Beschaftigungsumfang nicht in gleichem Maße zurückgehen, wie die Lohnkosten, abgefedert. – Sonderregelungen für Arbeitnehmer, denen vor oder während der Einführung der Kurzarbeit gekündigt wurde, sowie ein Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen während der Zeit in der der Arbeitgeber von der Möglichkeit Kurzarbeit einzuführen Gebrauch macht.1 – Sonderkündigungsrechte für die Arbeitnehmer. Einen Sonderfall bilden tarifvertragliche Regelungen zur Kurzarbeit bei Schlechtwetter (Saisonkurzarbeit; vgl. R (18) Schlechtwetterklauseln). 4 Die Befugnisse der TV-Parteien Kurzarbeit zuzulassen sind nicht schrankenlos. Eine Bestimmung, die dem Arbeitgeber das Recht einräumt, einseitig Kurzarbeit einzuführen, ist wegen Verstoßes gegen das nicht tarifdispositive Kündigungsschutzrecht, das auch vor einer Änderung der Arbeitsbedingungen schützt, unwirksam2. Vielmehr muss der TV Regelungen über die Voraussetzungen, unter denen die Kurzarbeit eingeführt werden darf, z.B. über deren zulässigen Umfang oder ihre zulässige Höchstdauer, enthalten3. Wie hoch die Regelungsdichte sein muss, ist nach der Rechtsprechung des BAG offen. Ein Mindestmaß an Bestimmtheit und Bindung des Arbeitgebers darf aber jedenfalls nicht unterschritten werden4. Eine Besonderheit besteht bei Kurzarbeit im Bereich der Leiharbeit, da hier aufgrund § 96 (bis 31.3.2012: § 170) Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 SGB III der Arbeitsausfall in verleihfreien Zeiten das typische Unternehmerrisiko darstellt5. 5 Die TV-Parteien binden bei der tarifvertraglichen Zulassung von Kurzarbeit die Betriebspartner in unterschiedlicher Weise ein. So wird die Einführung von Kurzarbeit 1 Kempen/Zachert/Buschmann, § 1 TVG Rz. 483. 2 BAG v. 27.1.1994 – 6 AZR 541/93, NZA 1995, 134 (135); BAG v. 18.10.1994 – 1 AZR 503/93, NZA 1995, 1064 (1066); Kempen/Zachert/Buschmann, § 1 TVG Rz. 482. 3 Dendorfer/Krebs, DB 2009, 902. 4 Dies gilt auch mit Blick auf Betriebsvereinbarungen, LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 20.7.2006 – 1 Sa 34/06; Dendorfer/Krebs, DB 2009, 902. 5 BSG v. 21.7.2009 – B 7 AL 3/08 R, NZS 2010, 292; Ulber/J. Ulber, § 11 AÜG Rz. 120; vgl. auch J. Ulber, AiB 2009, 133 ff.
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Kurzarbeitsregelungen
Rz. 7 Teil 5 (13)
von einer Zustimmung des Betriebsrats, seiner Anhörung oder dem Abschluss einer Betriebsvereinbarung zur Einführung von Kurzarbeit abhängig gemacht. Soweit eine tarifvertragliche Zulassungsnorm existiert, soll nach der Rechtsprechung des BAG das Mitbestimmungsrecht auch durch eine Regelungsabrede gewahrt werden können. Im Verhältnis zu den Arbeitnehmern reicht eine Regelungsabrede allerdings nicht aus, um Kurzarbeit einzuführen1. Auswirkungen auf das notwendige Maß an Bestimmtheit einer Betriebsvereinbarung hat die Form der Beteiligung des Betriebsrats grundsätzlich nicht. Seine Beteiligung ist aufgrund des Mitbestimmungsrechts nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG ohnehin erforderlich und kann daher zur Begründung abgesenkter inhaltlicher Anforderungen an die tarifvertragliche Zulassung von Kurzarbeit nicht herangezogen werden2. Setzt ein TV die Beteiligung des Betriebsrats voraus, so kann in betriebsratslosen Betrieben auf tarifvertraglicher Grundlage keine Kurzarbeit eingeführt werden. Insoweit ist eine Sonderregelung für betriebsratslose Betriebe erforderlich. Die Praxis weicht hiervon teilweise ohne normative Grundlage ab. Dies ist unzulässig. Wird die Möglichkeit, trotz fehlenden Betriebsrats Kurzarbeit einführen zu können, von den TV-Parteien gewünscht, so müssen sie dies hinreichend deutlich zum Ausdruck bringen. Inhaltlich sehen die TV-Parteien in aller Regel nur einen mehr oder weniger großen, 6 nicht abschließenden Rahmen für die Betriebspartner vor. Der TV schafft im Regelfall lediglich die Möglichkeit der Einführung von Kurzarbeit unter bestimmten Voraussetzungen. Das Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG wird dadurch grundsätzlich nicht ausgeschlossen3. Dieses kann aber nur innerhalb der Schranken des TVs ausgeübt werden. Gleichwohl bleibt die Ausgestaltung mit Blick auf die konkreten betrieblichen Besonderheiten möglich. Kein Mitbestimmungsrecht besteht nur dann, wenn der TV – was praktisch unüblich ist – eine umfassende und abschließende Regelung beinhaltet (vgl. § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG), die vom Arbeitgeber nur noch vollzogen werden muss4 und dem Schutzzweck des verdrängten Mitbestimmungsrechts genügt. Die TV-Parteien können das Mitbestimmungsrecht nicht ausschließen, ohne die mitbestimmungspflichtige Angelegenheit selbst zu regeln5. Soweit der TV Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis mit Blick auf die Kurz- 7 arbeit regelt, ist man sich darüber einig, dass das Günstigkeitsprinzip (Teil 9 Rz. 181 ff.) dem im Ergebnis nicht entgegensteht. Eine Begründung für diese Auffassung bleibt regelmäßig aus6. Unter Anwendung des Günstigkeitsprinzips wird bisweilen vertreten, dass Kurzarbeit die gegenüber einer ansonsten notwendigen Kündigung günstigere Alternative darstelle7. Ob sich diese Begründung mit der Rechtsprechung des BAG
1 BAG v. 14.2.1991 – 2 AZR 15/90, NZA 1991, 607. 2 A.A. insoweit Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Kurzarbeit Rz. 6. 3 BAG v. 25.11.1981 – 4 AZR 271/79, DB 1982, 909; ArbG Elmshorn v. 11.1.2010 – 4 BV 67c/09, ArbuR 2011, 263 m. Anm. Zabel; vgl. aber BAG v. 5.3.1974 – 1 ABR 28/73, AP Nr. 1 zu § 87 BetrVG 1972 Kurzarbeit m. Anm. Wiese. 4 BAG v. 5.3.1974 – 1 ABR 28/73, AP Nr. 1 zu § 87 BetrVG 1972 Kurzarbeit m. Anm. Wiese. 5 LAG Berlin-Brandenburg v. 9.10.2009 – 14 Sa 1173/09, NZA-RR 2010, 244 (245). 6 Ohne Begründung etwa: Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 467. 7 Berg/Kocher/Platow/Schoof/Schumann, § 1 TVG Rz. 320; aus dieser Argumentationslinie erklärt sich wohl auch die regelmäßige Bezugnahme auf BAG v. 4.3.1986 – 1 ABR 51/84, NZA 1986, 432, auf die die entsprechende Auffassung aber nicht gestützt werden kann.
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Teil 5 (13) Rz. 8
Katalog typischer Tarifnormen
zum Sachgruppenvergleich (Teil 9 Rz. 181 ff.) vereinbaren lässt, erscheint zweifelhaft. Man kann die absolut h.M.1, dass das Günstigkeitsprinzip der Einführung von Kurzarbeit im Ergebnis nicht entgegen stehen soll, zwar aus Praktikabilitätsgründen nachvollziehen. Unproblematisch ist Kurzarbeit aber nur dann zulässig, wenn Arbeitszeit und Entgelt im Arbeitsvertrag nicht eigenständig geregelt sind, sondern sich alleine aus einer Bezugnahme auf den TV ergeben2. Dann haben die TV-Parteien ohne Weiteres die Möglichkeit, diese tarifvertraglichen Ansprüche auszugestalten. Ungeachtet dieser Bedenken könnte erwogen werden, bei Betriebsvereinbarungen auf Grundlage von § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG das Günstigkeitsprinzip deshalb nicht zur Anwendung zu bringen, weil der Gesetzgeber insoweit eine Eingriffsbefugnis in den Arbeitsvertrag geschaffen hat3. Soweit eine Betriebsvereinbarung auf einer tarifvertraglichen Zulassungsnorm basiert, kann die hochproblematische Frage, ob der „schweigende“ Arbeitsvertrag betriebsvereinbarungsoffen ist4 oder ob mangels einer ausdrücklichen und Öffnungsklausel das Günstigkeitsprinzip die Einführung von Kurzarbeit gegen den Willen des Arbeitnehmers hindert5, dahinstehen. Grundlage für die Zulassung der Kurzarbeit bleibt dann der TV. Ungeachtet dessen ist der Praxis aufgrund der alles andere als konsistenten Rechtsprechung in diesem Bereich anzuraten, die Arbeitsverträge hinsichtlich der Kurzarbeit zumindest betriebsvereinbarungsoffen zu gestalten. 8 Mit Blick auf die Rechtsnatur der Tarifnormen über Kurzarbeit ist umstritten, ob es sich hier um Inhaltsnormen6 oder Betriebsnormen7 handelt. Die Rechtsprechung hat die Frage bislang offen gelassen8. Vor dem Hintergrund tarifpluraler Strukturen, die auch nach der Einführung des § 4a TVG durch das Tarifeinheitsgesetz möglich sind, handelt es sich um eine Frage mit zunehmender Praxisrelevanz (vgl. zur Problematik des Koalitionspluralismus Teil 1 Rz. 32 ff.; zur Neuregelung des § 4a TVG R Teil 9 Rz. 79 ff. und zur Abgrenzung von Inhalts- und Betriebsnormen allgemein Teil 4). Die Frage hat auch für Außenseiterarbeitnehmer eine erhebliche Bedeutung. Die Rechtslage stellt sich unter Berücksichtigung der betriebsverfassungsrechtlichen Möglichkeiten zur Vereinbarung von Kurzarbeit unübersichtlich dar. Unproblematisch dürfte
1 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 467; Berg/Kocher/Platow/Schoof/Schumann, § 1 TVG Rz. 320; Kempen/Zachert/Buschmann, § 1 TVG Rz. 488. 2 Insoweit ist Heinze, RdA 1998, 14 (18) zuzustimmen. 3 Vgl. hierzu BAG v. 14.2.1991 – 2 AZR 415/90, NZA 1991, 607 f.; a.A. Heinze, RdA 1998, 14 (19); zweifelnd Linsenmaier, RdA 2008, 1 (12); zur Geltung des Günstigkeitsprinzips im Betriebsverfassungsrecht vgl. BAG (GS) v. 7.11.1989 – GS 3/85, NZA 1990, 816 (819). 4 BAG v. 5.3.2013, 916 ff.; dagegen: Hromadka, NZA-Beilage 2014, 136 (141 f.); Krause JA 2014, 944 (945); Preis/Ulber D., RdA 2013, 211; Preis/Ulber D., NZA 2014, 6; Säcker, BB 2013, 2677; zustimmend Linsenmaier, RdA 2014, 336; vgl. i.Ü. Bauer/Günther, BB 2009, 662 (663); hochgradig filigran wird hier vom BAG v. 3.6.2003 – 1 AZR 349/02, NZA 2003, 1155 differenziert. 5 Bedenken auch bei Heinze, RdA 1998, 14 (19) und Linsenmaier, RdA 2008, 1 (12); zur arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf Betriebsvereinbarungen zur Vermeidung des Problems vgl. Preis, NZA 2010, 361 (365); vgl. zur Problematik auch Fitting, § 77 BetrVG Rz. 203; Preis/Ulber D., RdA 2013, 211. 6 Kempen/Zachert/Buschmann, § 1 TVG Rz. 486. 7 Schaub/Linck, ArbR-Hdb., § 47 Rz. 4; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 128; differenzierend Däubler/Hensche/Heuschmid, § 1 TVG Rz. 637. 8 BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 388/99, AP Nr. 5 zu § 3 TVG Betriebsnormen m. Anm. Wiedemann; allerdings deutet BAG v. 27.10.2010 – 7 ABR 36/09, NZA 2011, 527 (529) auf eine Tendenz hin, eine Inhaltsnorm anzunehmen.
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Kurzarbeitsregelungen
Rz. 10
Teil 5 (13)
Kurzarbeit unternehmenseinheitlich nur bei monistischer Tarifbindung des Arbeitgebers und einheitlicher arbeitsvertraglicher Bezugnahme auf ein Tarifwerk sein1. Insofern sollten Arbeitgeber, die Kurzarbeit einführen wollen, davon Abstand nehmen, mit mehreren Gewerkschaften unterschiedliche Tarifverträge abzuschließen und so eine inkongruente Tarifbindung in der Belegschaft herbeizuführen. Dieses Problem besteht auch nach Einführung des § 4a TVG fort, weil nach wie vor mehrere Tarifverträge im Betrieb gelten könnten (zu den Einzelheiten Teil 9 Rz. 79 ff.). Als Folge der Geltung mehrere Tarifverträge könnte nur noch – innerhalb des Rahmens der aufgrund der geltenden Tarifverträge verbleibt – der Umweg über eine Betriebsvereinbarung helfen, weil diese unternehmenseinheitliche Geltung, unabhängig von der Tarifbindung der Arbeitnehmer, herstellen kann2. Soweit man die dargestellten Bedenken (vgl. Rz. 7) mit Blick auf das Günstigkeitsprinzip teilt, muss auch hier zusätzlich eine arbeitsvertragliche Öffnungsklausel vorhanden sein. Sollte die Rechtsprechung in Zukunft annehmen, tarifvertragliche Regelungen der Kurzarbeit seien Inhaltsnormen und keine Betriebsnormen, dürfte die Einführung von Kurzarbeit durch TV in tarifpluralen Unternehmensstrukturen vor erhebliche Probleme gestellt werden. Die TV-Parteien sehen in aller Regel eine Ankündigungsfrist für die Einführung von 9 Kurzarbeit vor. Zweck der Ankündigungsfrist ist, den Arbeitnehmern Gelegenheit zu geben, sich auf die veränderte Situation einzustellen, insbesondere ihre finanziellen Angelegenheiten – soweit möglich – mit Blick auf die Kurzarbeit zu regeln. Die Ankündigungsfristen sind in der Regel nicht verkürzbar. Eine Ausnahme gilt, sofern die TV-Parteien hierfür ausdrücklich eine Öffnungsklausel vorsehen3. Betriebsvereinbarungen, die eine tarifvertraglich festgelegte Ankündigungsfrist unterschreiten, sind aber nur insoweit unwirksam, als sie einen Beginn der Kurzarbeit vor Ablauf der Ankündigungsfrist vorsehen4. Bei einer fehlenden tarifvertraglichen Öffnungsklausel wird teilweise eine außerordentliche abgekürzte Ankündigungsfrist in Notfällen erwogen. Eine solche kann nur bei für die TV-Parteien unvorhersehbaren Fällen erwogen werden, da ansonsten von einer bewussten Entscheidung der TV-Parteien gegen eine Abkürzungsmöglichkeit auszugehen ist5. Eine Ankündigung vor der Zustimmung des Betriebsrats setzt die Frist ebenso wenig in Gang wie eine Ankündigung vor Abschluss einer Betriebsvereinbarung zur Kurzarbeit; die Frist beginnt aber mit der nachträglichen Zustimmung ebenso wie mit dem nachträglichen Abschluss der Betriebsvereinbarung zu laufen6. Die Ankündigung hat gegenüber allen Arbeitnehmern zu erfolgen und wirkt erst ab Zugang7. Eine Ankündigung gegenüber dem Betriebsrat allein reicht nicht aus. Der Entgeltanspruch reduziert sich entsprechend der Arbeitszeitverkürzung durch 10 Kurzarbeit. Eine ausdrückliche Regelung im TV ist dazu nicht erforderlich. TVe zur Kurzarbeit sehen häufig die Zahlung von Zuschüssen zu Kurzarbeitergeld und gekürz1 Vgl. hierzu auch Däubler/Hensche/Heuschmid, § 1 TVG Rz. 637. 2 Für dieses tarifrechtliche „Über Bande spielen“ auch Kempen/Zachert/Buschmann, § 1 TVG Rz. 489. 3 BAG v. 12.10.1994 – 7 AZR 398/93, NZA 1995, 641 (642). 4 BAG v. 12.10.1994 – 7 AZR 398/93, NZA 1995, 641 (642). 5 Im Ergebnis ebenso Schaub/Schindele, Kurzarbeit/Massenentlassung/Sozialplan, Rz. 112 f. 6 BAG v. 12.10.1994 – 7 AZR 398/93, NZA 1995, 641 (642). 7 BAG v. 12.10.1994 – 7 AZR 398/93, NZA 1995, 641 (642 f.).
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Katalog typischer Tarifnormen
tem Arbeitsentgelt vor1. Ebenso werden die Auswirkungen der kurzarbeitsbedingten Entgeltkürzung auf sonstige Ansprüche (Urlaubsentgelt2, Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Sonderzahlungen usw.) geregelt. Durch die nunmehr in § 106 Abs. 2 SGB III (vormals § 421t Abs. 2 Nr. 3 SGB III) dauerhaft in das SGB III übernommene Privilegierung für Beschäftigungssicherungsvereinbarungen in Tarifverträgen (vgl. Teil 12) ist sichergestellt, dass sich diese nicht negativ auf den Anspruch auf Kurzarbeitergeld auswirken. Alleine daraus, dass die TV-Parteien einzelne Anspruchsvoraussetzungen nicht regeln, ergibt sich nach der Rechtsprechung des BAG nicht automatisch, dass sie stillschweigend an die Vorschriften des SGB III anknüpfen. Hierfür bedarf es Anhaltspunkten im TV3. 11
Soweit Arbeitnehmern vor oder während der Einführung von Kurzarbeit gekündigt wird (zu etwaigen Grenzen in diesem Zusammenhang vgl. Rz. 3), sehen TVe regelmäßig die Aufrechterhaltung des vollen Entgeltanspruchs bis zum Ablauf der Kündigungsfrist vor. Der Arbeitnehmer schuldet dann aber auch die Erbringung der vollen Arbeitsleistung.
12
Alternativen gegenüber oder Kombinationen mit der Regelung von Kurzarbeit in TVen können Arbeitszeitkonten oder die Herabsenkung der tarifvertraglichen Regelarbeitszeit z.B. durch entsprechende Öffnungsklauseln (R (17) Öffnungsklauseln/Genehmigungsvorbehalte) oder gesonderte Sanierungstarifverträge (vgl. Teil 12) sein. Die Betriebsparteien sind allerdings nicht gezwungen, von tarifvertraglichen Öffnungsklauseln Gebrauch zu machen, bevor Kurzarbeitergeld durch die Bundesagentur für Arbeit geleistet wird4. Sofern kein Kurzarbeitergeld mehr gezahlt werden kann, weil dessen Voraussetzungen nicht (mehr) vorliegen, greifen teilweise Tarifverträge zur Beschäftigungssicherung5.
II. Beispiele 13
6.6.2 MTV zum ERA-TV fr Beschftigte in der Metallindustrie in Nordwrttemberg/ Nordbaden (MTV Metall) – regelmßige Arbeitszeit – Flexibles Arbeitszeitkonto Bei Kurzarbeit ist der Alterssicherungsbetrag fr die Dauer der Kurzarbeit gemß §§ 8.2.3, 8.2.4 zu ermitteln.
14
7.7.1.4 MTV zum ERA-TV fr Beschftigte in der Metallindustrie in Nordwrttemberg/Nordbaden – regelmßige Arbeitszeit – Flexibles Arbeitszeitkonto Die Mçglichkeiten vorhandener betrieblicher flexibler Arbeitszeitkonten haben grundstzlich Vorrang vor der Anwendung der Regeln des Tarifvertrages zur Beschftigungssicherung und der Kurzarbeit.
1 2 3 4
Vgl. zur Situation in der Metallindustrie den Überblick bei Schumann, AiB 2010, 222 ff. Zur Zulässigkeit EuGH v. 8.11.2012 – C-229/11, NZA 1273. BAG v. 22.4.2009 – 5 AZR 310/08, NZA 2009, 913 (915). Geschäftsanweisungen zum Konjunkturellen Kurzarbeitergeld, Saisonkurzarbeitergeld, Transfermaßnahmen und Transferkurzarbeitergeld (T-Kug), Gemeinsame Vorschriften, Verfahren, Anlagen der Bundesagentur für Arbeit Stand Juni 2013, S. 58 f. 5 Vgl. dazu Schumann, AiB 2010, 222 ff.
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Kurzarbeitsregelungen
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8.2 MTV fr Beschftigte in der Metallindustrie in Nordwrttemberg/Nordbaden – 15 Kurzarbeit 8.2 Kurzarbeit Kurzarbeit im Sinne des Dritten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB III) kann mit Zustimmung des Betriebsrates eingefhrt werden. 8.2.1 Einer Kndigung des Arbeitsverhltnisses bedarf es dazu nicht. 8.2.2 Die Einfhrung bedarf einer Ankndigungsfrist von 3 Wochen zum Wochenschluss. Die Kurzarbeit gilt als eingefhrt mit dem Beginn der Kalenderwoche, fr die sie angekndigt wurde. 8.2.3 Wrde ein Arbeitsausfall infolge Kurzarbeit (i.S.d. SGB III) zu einer Verringerung des monatlichen Bruttoentgelts um bis zu 10 % fhren, bleibt das monatliche Bruttomonatsentgelt, das Beschftigte ohne den Arbeitsausfall erhalten htten, ungekrzt. 8.2.4 Bei einer Verringerung des monatlichen Bruttoentgelts infolge Kurzarbeit um mehr als 10 % gewhrt der Arbeitgeber dem Beschftigten zum gekrzten Monatsentgelt und zum Kurzarbeitergeld einen Zuschuss. Dieser ist so zu bemessen, dass Beschftigte zum gekrzten Bruttomonatsentgelt und Kurzarbeitergeld einen Ausgleich bis zu 80 % des vereinbarten Bruttomonatsentgelts (ohne Mehrarbeit) einschließlich der leistungsabhngigen variablen Bestandteile des Monatsentgelts erhalten, jedoch nicht mehr als das Nettoentgelt, das diesem Bruttomonatsentgelt entspricht. Nettoentgelt in diesem Sinne ist das um die gesetzlichen Entgeltabzge, die bei Beschftigten gewçhnlich anfallen, verminderte Bruttoentgelt. 8.2.5 Wird das Arbeitsverhltnis vor Ankndigung der Kurzarbeit gekndigt, so besteht fr die Dauer der Kndigungsfrist Anspruch auf das volle Entgelt fr die individuelle regelmßige wçchentliche Arbeitszeit; auf Verlangen muss die entsprechende Arbeitszeit geleistet werden. Abweichend: § 2 TV zu Kurzarbeit und Beschftigung Metall und Elektroindustrie Baden-Wrttemberg 2.1. Die §§ 8.2.3 und 8.2.4 der Manteltarifvertrge fr die Beschftigten in der Metallindustrie in Nordwrttemberg/Nordbaden, Sdbaden und Sdwrttemberg-Hohenzollern (MTV) finden fr die Laufzeit dieses Tarifvertrages keine Anwendung. 2.2 An Stelle des § 8.2.4 MTV gilt nachfolgendes Modell zur Berechnung eines Zuschusses zum Kurzarbeitergeld: Bei einer Verringerung des monatlichen Bruttoentgelts infolge Kurzarbeit gewhrt der Arbeitgeber den Beschftigten zum gekrzten Monatsentgelt und zum Kurzarbeitergeld einen Zuschuss. Dieser errechnet sich aus dem Differenzbetrag zwischen dem tatschlichen Nettomonatsentgelt in Kurzarbeit zuzglich dem Kurzarbeitergeld einerseits und 97 % des ungekrzten Nettoarbeitsentgelts bei Entgeltausfall durch Kurzarbeit bis zu insgesamt 10 %
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94 % des ungekrzten Nettoarbeitsentgelts bei Entgeltausfall durch Kurzarbeit bis zu insgesamt 20 % 92 % des ungekrzten Nettoarbeitsentgelts bei Entgeltausfall durch Kurzarbeit bis zu insgesamt 40 % 91,5 % des ungekrzten Nettoarbeitsentgelts bei Entgeltausfall durch Kurzarbeit bis zu insgesamt 60 % 89,5 % des ungekrzten Nettoarbeitsentgelts bei Entgeltausfall durch Kurzarbeit bis zu insgesamt 80 % 86,5 % des ungekrzten Nettoarbeitsentgelts bei Entgeltausfall durch Kurzarbeit bei mehr als 80 % des jeweiligen Abrechnungsmonats andererseits. Das als Anlage 1 enthaltene Rechenbeispiel ist verbindlicher Bestandteil des Tarifvertrages. 2.3 Allgemeine Regelungen fr die Berechnung des Zuschusses 2.3.1 Fr die Berechnung des ungekrzten Nettoarbeitsentgelts ist ein Bruttomonatsentgelt zugrunde zu legen, das aus den festen und leistungsabhngigen variablen Bestandteilen des vereinbarten Bruttomonatsentgelts besteht Zustzlich bercksichtigt werden die zeitabhngigen variablen Bestandteile, einschließlich aller laufend gewhrten Zulagen und Zuschlge, soweit diese nicht in den festen Bestandteilen des Monatsentgelts enthalten sind. Nicht zu bercksichtigen sind insbesondere Mehrarbeitsgrundvergtungen und Mehrarbeitszuschlge sowie Auslçsungen und hnliche Zahlungen (z.B. Reisespesen, Trennungsentschdigungen), Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Krankengeldzuschsse, Urlaubsvergtungen, vermçgenswirksame und altersvorsorgewirksame Leistungen des Arbeitgebers sowie einmalige Zuwendungen. Fr die Hçhe der zeitabhngigen variablen Bestandteile ist auf die zeitabhngigen variablen Bestandteile der letzten 3 abgerechneten Monate vor Beginn der Kurzarbeit abzustellen. Die zu bercksichtigenden zeitabhngigen variablen Bestandteile werden geteilt durch die Anzahl der in diesem Zeitraum bezahlten Tage ohne Krankheits- und Urlaubstage. Der sich hieraus ergebende Betrag ist mit dem Faktor 21,75 zu multiplizieren. In Bereichen mit Schichtarbeit ist fr die Feststellung des 3-Monats-Zeitraums der Beginn der Kurzarbeit im Bereich – unabhngig von der tatschlichen Teilnahme an der Kurzarbeit – maßgeblich (kollektive Betrachtung). 2.3.2 Die fr den Zuschuss zum Kurzarbeitergeld maßgeblichen Nettoentgelte sind – wie auch beim Kurzarbeitergeld selbst – maximal auf Basis der Beitragsbemessungsgrenze im Sinne des SGB III zu berechnen. Das in Anlage 2 enthaltene Rechenbeispiel ist verbindlicher Bestandteil des Tarifvertrages. 2.3.3 Der Zuschuss ist ein Bruttobetrag. 2.3.4 § 7.3 TV EUW findet fr die Berechnung des Zuschusses keine Anwendung.
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Kurzarbeitsregelungen
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§ 3 TV zu Kurzarbeit und Beschftigung Metall und Elektroindustrie Baden-Wrttemberg Alternativmodell mit abgesenkten Zuschuss und Beschftigungssicherung 3.1 Durch freiwillige Betriebsvereinbarung kann festgelegt werden, dass anstelle der Regelungen des § 2.2 dieses Tarifvertrages das nachfolgend aufgefhrte Regelungsmodell zu einem abgesenkten Zuschuss im Betrieb Anwendung findet. Diese freiwillige Betriebsvereinbarung setzt eine Mindestlaufzeit von 12 Monaten voraus.1 Durch freiwillige Gesamtbetriebsvereinbarung kann die Anwendung des abgesenkten Zuschussmodells fr mehrere Betriebe eines Unternehmens vereinbart werden. 3.2 Im Falle des Abschlusses einer solchen Betriebsvereinbarung gilt ab dem 1. Tag ein verringerter Zuschuss zum Kurzarbeitergeld. Dieser errechnet sich aus dem Differenzbetrag zwischen dem tatschlichen Netto-Monatsentgelt in Kurzarbeit zuzglich dem Kurzarbeitergeld einerseits und 95,5 % des ungekrzten Nettoarbeitsentgelts bei Entgeltausfall durch Kurzarbeit bis zu insgesamt 10 % 93,5 % des ungekrzten Nettoarbeitsentgelts bei Entgeltausfall durch Kurzarbeit bis zu insgesamt 20 % 91,5 % des ungekrzten Nettoarbeitsentgelts bei Entgeltausfall durch Kurzarbeit bis zu insgesamt 30 % 89,5 % des ungekrzten Nettoarbeitsentgelts bei Entgeltausfall durch Kurzarbeit bis zu insgesamt 40 % 86,5 % des ungekrzten Nettoarbeitsentgelts bei Entgeltausfall durch Kurzarbeit bis zu insgesamt 60 % 83,5 % des ungekrzten Nettoarbeitsentgelts bei Entgeltausfall durch Kurzarbeit bis zu insgesamt 80 % 80,5 % des ungekrzten Nettoarbeitsentgelts bei Entgeltausfall durch Kurzarbeit bei mehr als 80 % des jeweiligen Abrechnungsmonats andererseits. Fr die Berechnung des Zuschusses gelten die allgemeinen Regelungen nach §§ 2.3.1 bis 2.3.4. Das als Anlage 3 enthaltene Rechenbeispiel ist verbindlicher Bestandteil des Tarifvertrages. 3.3 Betriebsbedingte Beendigungskndigungen werden bei Abschluss einer Betriebsvereinbarung nach § 3.1 frhestens zum Ende der Laufzeit der Betriebsvereinbarung wirksam. Diese Beschftigungssicherung gilt nur fr diejenigen Beschftigten, die vom Geltungsbereich der Betriebsvereinbarung erfasst werden.
1 Soweit die maximale Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes durch den Gesetzgeber auf 6 Monate beschränkt ist, ist ab dem 7. Monat TV Besch bzw. tarifliche Kurzarbeit anzuwenden. Die Regelungen des § 5 dieses Tarifvertrages sind zu beachten.
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3.4 Whrend der Laufzeit einer Betriebsvereinbarung nach § 3.1 haben Beschftigte, die ab dem 1.2.2012 unbefristet neu eingestellt oder unbefristet und in Vollzeit aus einem Ausbildungsverhltnis bernommen werden, in den ersten 12 Monaten des Beschftigungsverhltnisses keinen Anspruch auf einen tariflichen Zuschuss zum Kurzarbeitergeld oder auf einen Teilentgeltausgleich bei tariflicher Kurzarbeit (s. § 4). 3.5 Remanenzkosten der Kurzarbeit 3.5.1 Im Falle des Abschlusses einer Betriebsvereinbarung nach § 3.1 werden die Remanenzkosten der Kurzarbeit (SGB III) nach dem 6. Monat bis einschließlich dem 12. Monat der Kurzarbeit im Betrieb durch Krzung der tariflichen Einmalzahlungen kompensiert. 3.5.2 Bei der Berechnung der 6 Monate werden die Zeitrume vereinbarter Kurzarbeit im Betrieb bercksichtigt. Dabei ist unerheblich, ob mehrfach Kurzarbeit vereinbart wurde oder dies unterschiedliche Betriebsteile des Betriebes betraf. Unterbrechungszeiten zwischen Zeitrumen vereinbarter Kurzarbeit werden nicht bercksichtigt. 3.5.3 Gekrzt wird die erste tarifliche Einmalzahlung aller Beschftigten nach dem 6. Monat der betrieblich durchgefhrten Kurzarbeit. Die Krzung erfolgt im gleichen prozentualen Verhltnis wie das Verhltnis der Arbeitszeitabsenkung durch Kurzarbeit aller tariflichen Beschftigten zur Sollarbeitszeit (individuelle regelmßige wçchentliche Arbeitszeit) aller tariflichen Beschftigten ohne Bercksichtigung der Urlaubs- und Feiertage seit der letzten tariflichen Einmalzahlung. Fr die Krzung der tariflich abgesicherten betrieblichen Sonderzahlung sind die Monate Juni bis Oktober und fr die Krzung des zustzlichen Urlaubsgeldes die Monate November bis Mai zu betrachten. Keine Krzung erfolgt – bei Beschftigten, bei denen nach dem Tarifvertrag zur Beschftigungssicherung und zum Beschftigungsaufbau (TV Besch) die Arbeitszeit abgesenkt ist, – bei Beschftigten in Altersteilzeit, die nicht an Kurzarbeit teilnehmen oder keine tarifliche Einmalzahlung erhalten, – sowie bei betriebsbedingt gekndigten Beschftigten. Die als Anlage 4 enthaltenen Rechenbeispiele sind verbindlicher Bestandteil des Tarifvertrages. 3.5.4 Bei Abschluss einer Betriebsvereinbarung nach § 3.1 ist das zustzliche Urlaubsgeld abweichend von § 4.5. des Urlaubsabkommens fr die Beschftigten in der Metall- und Elektroindustrie in Baden-Wrttemberg fr die Tarifbezirke Sdbaden, Sdwrttemberg-Hohenzollern bzw. Nordwrttemberg/Nordbaden am 30. Juni eines Urlaubsjahres fllig. Durch freiwillige Betriebsvereinbarung kçnnen die Betriebsparteien hiervon abweichende Flligkeitstermine vereinbaren. 3.5.5 Berechnungsbasis fr die Krzung der tariflichen Einmalzahlung sind immer die ungekrzten tariflichen Ansprche, auch wenn diese nicht oder nicht im vollen Umfang zur Verfgung stehen.
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Sind tarifliche Einmalzahlungen im Rahmen eines betrieblichen Ergnzungstarifvertrages gekrzt, kann eine weitere Krzung der Einmalzahlung nur in dem Umfang erfolgen, wie diese die im Ergnzungstarifvertrag vereinbarte Absenkung bersteigt. Das als Anlage 5 enthaltene Rechenbeispiel ist verbindlicher Bestandteil des Tarifvertrages. 3.5.6 Durch freiwillige Betriebsvereinbarung kann das nach § 3.5.3 ermittelte Verhltnis mit einem Faktor von bis zu 1,3 multipliziert werden, wenn die Beschftigungssicherung nach § 3.3 fr alle Beschftigten des Betriebes vereinbart wird. Vor dem Abschluss einer solchen Betriebsvereinbarung sind die Tarifvertragsparteien auf Antrag einer Betriebspartei zur Beratung hinzuzuziehen. 3.6 wird Kurzarbeit im Rahmen der Vereinbarung nach § 3.1 durchgefhrt, ist die Verlngerung von whrend der Laufzeit der Betriebsvereinbarung zur Kurzarbeit auslaufenden sachgrundlos befristeten Arbeitsvertrgen, fr die keine gesetzliche Verlngerungsmçglichkeit besteht, zulssig, wenn – die Verlngerung insgesamt um maximal 24 Monate erfolgt, – die Hçchstdauer der sachgrundlosen Befristung insgesamt maximal 48 Monate betrgt, – insgesamt eine hçchstens sechsmalige Verlngerung des Arbeitsvertrages erfolgt. (…) § 5 Abweichende Regelungen zum TV Besch 5.1 Vorrangregelungen Abweichend von § 3 Absatz 1 HS. 1 TV Besch besteht fr die Absenkung der Arbeitszeit auf eine Dauer von unter 35 bis 31,5 Stunden kein Vorrang der Kurzarbeit i.S.d. SGB III. Bei einer Arbeitszeitabsenkung von unter 35 bis 31,5 Stunden ist ausschließlich die Arbeitszeitabsenkung nach § 3 TV Besch erzwingbar. In diesem Fall sind Kurzarbeit i.S.d. SGB III oder tarifliche Kurzarbeit nicht erzwingbar. Bei einer Arbeitszeitabsenkung unter 31,5 Stunden haben Kurzarbeit i.S.d. SGB III und die tarifliche Kurzarbeit Vorrang vor den Regelungen des TV Besch. 5.2 Schlichtungsstelle nach TV Besch Die tarifliche Schlichtungsstelle nach § 3.6 TV Besch wird fr die Dauer dieser Vereinbarung durch die Schlichtungsstelle nach § 6 dieses Tarifvertrages ersetzt. Fr Streitigkeiten aus dem TV Besch bleibt die Mçglichkeit zur Anrufung der Einigungsstelle durch den Arbeitgeber gem. TV Besch unberhrt. Die Schlichtungsstelle nach § 6 dieses Tarifvertrages kann ber Streitigkeiten aus dem TV Besch nur einmalig ber denselben Sachverhalt und fr lngstens 6 Monate entscheiden. 5.3 die Regelungen des TV Besch bleiben im brigen unberhrt.
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Teil 5 (13) Rz. 15
Katalog typischer Tarifnormen
§ 6 tarifliche Schlichtungsstelle Kçnnen sich die Betriebsparteien bei vorbergehenden Beschftigungsproblemen nicht ber die Einfhrung oder Verlngerung von konjunktureller Kurzarbeit im Sinne des SGB III (3)1 einigen, entscheidet auf Antrag einer Betriebspartei die tarifliche Schlichtungsstelle fr maximal 6 Monate ber die Einfhrung von Kurzarbeit nach den Bestimmungen des § 8.2 MTV. Der Arbeitgeber kann verlangen, dass die tarifliche Schlichtungsstelle auf Einfhrung von Kurzarbeit nach den Bestimmungen der Ziffern 3.1–3.5.5 und 3.6 dieses Tarifvertrages entscheidet. In diesem Fall kann die Schlichtungsstelle ausschließlich ber Kurzarbeit auf Basis Ziffern 3.1–3.5.5 und 3.6 dieses Tarifvertrages fr maximal 12 Monate entscheiden. Die tarifliche Schlichtungsstelle kann auf Einfhrung oder Verlngerung von konjunktureller Kurzarbeit im Sinne des SGB III (4)2 nur dann entscheiden, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen fr die Gewhrung von Kurzarbeitergeld vorliegen. Besteht zwischen den Betriebsparteien kein Einvernehmen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen fr die Gewhrung von Kurzarbeitergeld vorliegen, so ist eine vorlufige Einschtzung der Arbeitsagentur einzuholen. Im Vorfeld der Einschtzung ist beiden Betriebsparteien Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Wird nach einer Entscheidung der Schlichtungsstelle im Nachhinein festgestellt, dass die gesetzlichen Voraussetzungen fr die Gewhrung von Kurzarbeitergeld in dem entschiedenen Fall nicht vorliegen, endet die Kurzarbeit im Sinne des SGB III ohne weiteres. Die tarifliche Schlichtungsstelle entscheidet innerhalb von 14 Tagen nach Anrufung. Sie besteht aus je 2 von den Tarifvertragsparteien zu benennenden Beisitzern und einem Vorsitzenden. § 5.1 ist zu beachten. § 7 Qualifizierung whrend Kurzarbeit 7.1 Abweichend von § 3.4 Absatz 2, § 3.4.1 und § 3.4.3 des Tarifvertrages zur Qualifizierung fr die Beschftigten in der Metall- und Elektroindustrie in Baden-Wrttemberg bzw. des Tarifvertrages zur Qualifizierung sind Zeiten fr Qualifizierungsmaßnahmen nicht zu vergten, die whrend Kurzarbeit in der Ausfallzeit durchgefhrt werden. 7.2 Der Betriebsrat wird ber die angebotenen Maßnahmen und die von den Arbeitsagenturen geforderten Qualifikationsplne fr betrieblich durchgefhrte Maßnahmen informiert. Das Mitbestimmungsrecht gem. § 98 BetrVG gilt fr Maßnahmen in der Ausfallzeit entsprechend. 7.3 Werden zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber Qualifizierungsprogramme in der Ausfallzeit vereinbart, ist die Teilnahme an diesen Maßnahmen, sollte nicht Abweichendes geregelt sein, verpflichtend. Ein schuldhafter Verstoß gegen diese Verpflichtung stellt eine Verletzung arbeitsvertraglicher Nebenpflichten dar. 7.4 Fr Qualifizierungsmaßnahmen whrend der Ausfallzeit gelten die Bestimmungen der §§ 14.4 und 16 MTV entsprechend. 1 Stand 1.12.2012. 2 Stand 1.12.2012.
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Kurzarbeitsregelungen
Rz. 16
Teil 5 (13)
§ 8 Laufzeit 8.1 dieser Tarifvertrag tritt am 1. Februar 2012 in Kraft. Er ersetzt den Tarifvertrag KQB vom 15.4.2009/18.2.2010 mit Ausnahme des § 10.2 TV KQB. 8.2 die Bestimmungen des TV KQB vom 15.4.2009/18.2.2010 gelten abweichend von § 8.1 auch nach dem Beendigungszeitpunkt weiter fr die auf seiner Basis abgeschlossenen und laufenden Betriebsvereinbarungen zur Kurzarbeit, soweit dieses die Betriebsparteien bereinstimmend vereinbaren; lngstens jedoch bis zum 30.6.2012. 8.3 dieser Tarifvertrag hat eine Laufzeit bis zum 31.12.2015. Er verlngert sich in seiner Laufzeit um jeweils ein Jahr, wenn nicht einer der Tarifvertragsparteien sptestens 3 Monate vor Ende des jeweiligen Kalenderjahres nderungsbedarf anmeldet. Meldet eine der Tarifvertragsparteien nderungsbedarf an, nehmen die Tarifvertragsparteien unverzglich Verhandlungen ber eine entsprechende Anpassung des Tarifvertrages auf. Kommt dabei keine neue Vereinbarung zustande, endet der Tarifvertrag ohne weiteres zum jeweiligen Jahresende ohne Nachwirkung. In diesem Fall gelten wieder die durch diesen Tarifvertrag vernderten Regelungen aus dem jeweiligen MTV und Urlaubsabkommen so wie dem TV Besch in der dann gltigen Fassung. 8.4 Die Bestimmungen dieses Tarifvertrages gelten nach dem jeweiligen Beendigungszeitpunkt (§ 8.3) weiter fr – befristete Arbeitsverhltnisse (§ 3.6), – Remanenzkosten-Senkungen, die zeitlich erst nach Beendigung dieses Tarifvertrages stattfinden (§ 3). Anlagen: Rechenbeispiele Protokollnotiz: Dieser Tarifvertrag wird von der IG Metall auch namens und im Auftrag der Gewerkschaft ver.di fr die dort organisierten Mitglieder geschlossen, die am 2. Juli 2001 Mitglied der DAG waren. Anlage 1 (zu § 2.2 TV KB) Der Zuschuss zum Kurzarbeitergeld errechnet sich als Differenz: Zuschuss gleich x Prozent ungekrztes Nettoarbeitsentgelt Minus (Nettoarbeitsentgelt in Kurzarbeit plus Kurzarbeitergeld brutto). … § 12 MTV fr Beschftigte in der Metallindustrie in Nordwrttemberg/Nordbaden – 16 Arbeitsunfhigkeit infolge Krankheit 12.3.3 Bei Verdiensterhçhungen, die whrend des Berechnungszeitraumes oder der Krankheit eintreten, ist ab diesem Zeitpunkt von dem erhçhten Verdienst auszugehen. Ulber
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Teil 5 (13) Rz. 17
Katalog typischer Tarifnormen
Verdienstkrzungen, die im Berechnungszeitraum infolge Kurzarbeit eintreten, bleiben fr die Entgeltfortzahlung außer Betracht. § 4 Abs. 3 Entgeltfortzahlungsgesetz bleibt von § 12.3.1 unberhrt. Wird in dem Betrieb verkrzt gearbeitet und wrde der Beschftigte nach Beginn der Arbeitsunfhigkeit Kurzarbeit leisten, so ist von diesem Zeitpunkt ab die vernderte Arbeitszeit zu bercksichtigen. 17
§ 7 MTV Chemie – Kurzarbeit I. Im Bedarfsfalle kann Kurzarbeit fr Betriebe oder Betriebsabteilungen unter Beachtung des gesetzlichen Mitbestimmungsrechts des Betriebsrates mit einer Ankndigungsfrist von 14 Tagen eingefhrt werden. Arbeitgeber und Betriebsrat kçnnen eine krzere Ankndigungsfrist betrieblich vereinbaren. II. Arbeitnehmer, die Kurzarbeitergeld beziehen, erhalten einen Zuschuss zum Kurzarbeitergeld, der brutto zu gewhren ist. Die Hçhe des Zuschusses errechnet sich aus dem Unterschiedsbetrag zwischen dem infolge des Arbeitsausfalls verminderten Nettoarbeitsentgelt zuzglich dem Kurzarbeitergeld und 90 % des Nettoarbeitsentgelts, das der Arbeitnehmer ohne Kurzarbeit im Abrechnungszeitraum erzielt htte. Dieser Zuschuss ist kein Arbeitsentgelt und wird deshalb bei tariflichen Leistungen, deren Hçhe vom Arbeitsentgelt abhngig ist, nicht bercksichtigt. Bei der Ermittlung des Nettoarbeitsentgelts werden die tariflichen Schichtzulagen und die tariflichen Zuschlge fr Nacht- und Sonntagsarbeit mitbercksichtigt, nicht aber die Feiertagszuschlge. Protokollnotiz VI. lautet: Maßgeblich fr die Berechnung des Zuschusses zum Kurzarbeitergeld gemß § 7 II MTV ist der dem Arbeitnehmer gewçhnlich – d.h. ohne Bercksichtigung von Einknften aus Nebenttigkeiten oder individuellen Fehlbetrgen – zustehende Anspruch auf Kurzarbeitergeld. III. Ist einem Arbeitnehmer vor Einfhrung der Kurzarbeit gekndigt worden oder wird ihm whrend der Kurzarbeit gekndigt, so hat er fr die Zeit seiner Kndigungsfrist Anspruch auf seine ungekrzten Bezge. Der Arbeitgeber kann verlangen, dass der Arbeitnehmer in dieser Zeit voll arbeitet.
18
§ 9 MTV Chemie – Krankheit und Maßnahmen der medizinischen Vorsorge und Rehabilitation I. (…) II. Grundsatz der Entgeltfortzahlung Fr die Fortzahlung des Entgelts bei unverschuldeter, mit Arbeitsunfhigkeit verbundener Krankheit und bei Maßnahmen der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation gelten die gesetzlichen Vorschriften. Die Hçhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall bemisst sich unabhngig von der jeweiligen gesetzlichen Regelung nach dem Arbeitsentgelt, das dem Arbeitnehmer bei der fr ihn maßgebenden tariflichen regelmßigen oder davon abweichend vereinbarten Arbeitszeit zusteht ohne Mehrarbeit und Mehrarbeitszuschlge, auch soweit diese pauschaliert sind. Bei Kurzarbeit ist die verkrzte Arbeitszeit maßgebend. Fr die Entgeltberechnung kçnnen die durch438 Ulber
Kurzarbeitsregelungen
Rz. 23
Teil 5 (13)
schnittlichen Verhltnisse eines Zeitraums zugrunde gelegt werden, der durch Betriebsvereinbarung festzulegen ist. 19
§ 12 MTV Chemie – Urlaub I. (…) II. (…) III. Urlaubsentgelt 1. Fr den Urlaub ist ein Entgelt zu zahlen in Hçhe des Arbeitsverdienstes, den der Arbeitnehmer erhalten wrde, wenn er gearbeitet htte. Das Urlaubsentgelt bemisst sich nach der tariflichen regelmßigen Arbeitszeit oder der davon abweichend vereinbarten Arbeitszeit ohne Mehrarbeit und Mehrarbeitszuschlge, auch soweit diese pauschaliert sind. Bei der Ermittlung des Urlaubsentgelts bleiben Kurzarbeitszeiten bis zur Dauer von 6 Monaten sowie Zahlungen im Krankheitsfalle nach 6 Wochen, Gratifikationen, Jahresabschlusszuwendungen und dergleichen außer Ansatz.
III. Kommentierung 1. § 8.2 MTV Metall – Kurzarbeit (Rz. 15) In § 8.2 MTV Metall finden sich die wesentlichen Rahmenregelungen für die Einfüh- 20 rung von Kurzarbeit. Die Vorschrift regelt, neben § 7.7.1 MTV Metall, die Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Einführung von Kurzarbeit. Daneben enthält sie aber auch Vorgaben für die Auswirkungen der Kurzarbeit auf den Entgeltanspruch, sowie Sonderregelungen für gekündigte Arbeitnehmer. Gegenwärtig bestehen allerdings vorrangige Sonderregelungen nach dem Tarifvertrag zu Kurzarbeit und Beschäftigung in der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg (TV KuB), die zunächst bis zum 31.12.2015 (vgl. § 8 TV KuB) vorrangig gelten und sich, sofern keine der Parteien eine Neuverhandlung beantragt, automatisch verlängern. Diese Sonderregelungen betreffen vor allem den tariflichen Zuschuss zum Kurzarbeiterfeld in § 8.2.3 und 8.2.4 des MTV. Da diese Regelungen jederzeit wieder in Kraft treten können, sind sie hier ebenso erläutert (Rz. 28a ff.), wie die momentan vorrangigen Regelungen. § 8.2 MTV Metall lässt die Einführung von Kurzarbeit grundsätzlich zu. § 8.2.1. MTV 21 Metall stellt klar, dass auch ohne eine Änderungskündigung Kurzarbeit eingeführt werden kann (vgl. zur Problematik Rz. 7). § 8.2 des MTV Metall macht die Einführung von Kurzarbeit von einer Zustimmung 22 des Betriebsrats abhängig. Dementsprechend muss der Arbeitgeber vor der Einführung der Kurzarbeit die Zustimmung des Betriebsrats zu der konkreten von ihm beabsichtigten Einführung der Kurzarbeit einholen. Dies gilt auch dann, wenn der Arbeitsvertrag des Arbeitnehmers Kurzarbeit ausdrücklich zulässt. Eine Nachholung der Zustimmung kann nicht zu Lasten der Arbeitnehmer zurückwirken (zur Ankündigungsfrist vgl. Rz. 9). Das BAG hat in seiner Rechtsprechung aus der Formulierung „mit Zustimmung des 23 Betriebsrats“, im Unterschied zur Formulierung „kann durch Betriebsvereinbarung Ulber
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Teil 5 (13) Rz. 24
Katalog typischer Tarifnormen
eingeführt werden“, geschlossen, dass im ersteren Fall kein Initiativrecht des Betriebsrates zur Einführung von Kurzarbeit bestehen soll1. Auf Basis dieser Rechtsprechung könnte der Betriebsrat auf Grundlage des § 8.2 MTV Metall die Einführung von Kurzarbeit nicht erzwingen, weil der TV insoweit Sperrwirkung entfaltet. Im Übrigen bleibt sein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG in den Grenzen der tarifvertraglichen Regelung bestehen. Für die Betriebspartner bleibt vor dem Hintergrund des TVs eine weitreichende Möglichkeit zur Ausgestaltung der Kurzarbeit hinsichtlich Beginn und Dauer der Kurzarbeit, Lage und Verteilung der Arbeitszeit, Auswahl der von der Kurzarbeit betroffenen Arbeitnehmer usw2. 24
§ 8.2 MTV Metall lässt nur die Einführung von Kurzarbeit im Sinne des SGB III zu. Damit wird sichergestellt, dass Kurzarbeit eingeführt werden kann, wenn die Voraussetzungen des § 96 SGB III vorliegen.
25
Den gleichen Regelungszweck verfolgt § 7.7.1.4 des MTV Metall. Danach haben die Möglichkeiten, die flexible Arbeitszeitkonten bieten (zur Arbeitszeit vgl. R (5) Arbeitszeit), Vorrang vor der Einführung von Kurzarbeit. Dies korrespondiert mit § 96 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 SGB III (§ 170 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 SGB III a.F.). Danach liegt ein vermeidbarer Arbeitsausfall im Sinne des § 96 Abs. 1 Nr. 3 SGB III vor, wenn durch die Nutzung von im Betrieb zulässigen Arbeitszeitschwankungen der Arbeitsausfall vermieden werden kann. Diese Regelung bezieht sich insbesondere auf Möglichkeiten der Arbeitszeitflexibilisierung durch Arbeitszeitkonten. Der Arbeitgeber muss dementsprechend grundsätzlich die Möglichkeiten, die Arbeitszeitkonten bieten, ausschöpfen (vgl. aber § 96 Abs. 4 Satz 3 SGB III), bevor der TV den Rückgriff auf Kurzarbeit zulässt. § 7.7.1.4. MTV Metall lässt Raum für Ausnahmen. Angesichts des engen Zusammenhangs mit dem Anspruch auf Kurzarbeitergeld wird aber ein Abweichen nur solange und soweit zulässig sein, wie die – ggf. auch geänderten – Vorschriften des SGB III nicht dazu führen, dass der Anspruch auf Kurzarbeitergeld entfällt.
26
Die Kurzarbeit darf nach § 8.2.2. MTV Metall nur mit einer Ankündigungsfrist von drei Wochen zum Wochenschluss eingeführt werden. Die Ankündigung wirkt gegenüber den Arbeitnehmern erst mit Zugang der Ankündigung3. Die Frist kann durch die Betriebsparteien nicht abgekürzt werden4. Eine Ankündigung vor der Zustimmung des Betriebsrats vermag die Frist nicht in Gang zu setzen. Soweit der Arbeitgeber die Zustimmung des Betriebsrats zur Einführung der Kurzarbeit nachträglich eingeholt hat, bestehen aber keine Bedenken, den Beginn der Kurzarbeit zum nächsten zulässigen Zeitpunkt zu verschieben5.
27
Die Auswirkungen der Kurzarbeit auf den Entgeltanspruch regeln § 8.2.3 und § 8.2.4 MTV Metall. Dabei ist mit Blick auf die Folgen der Kurzarbeit für den Bruttoentgeltanspruch zu differenzieren. Eine Kürzung des Entgelts erfolgt nur dann, wenn die Kurzarbeit zu einer Verringerung des Bruttomonatsentgelts um mehr als 10 % führen
1 BAG v. 4.3.1986 – 1 ABR 15/84, AP Nr. 3 zu § 87 BetrVG 1972 Kurzarbeit m. Anm. Wiese. 2 Ob diese Gegenstände zur Wirksamkeit der Regelung geregelt sein müssen, ist str., vgl. LAG Sachsen v. 31.7.2002 – 2 Sa 910/01, NZA-RR 2003, 366 (367) einerseits und LAG Thüringen v. 7.10.1999 – 2 Sa 404/98, n.v. andererseits. 3 Vgl. hierzu ebenso Schaub/Schindele, Kurzarbeit/Massenentlassung/Sozialplan, Rz. 106. 4 Vgl. zu einer ähnlichen Tarifnorm BAG v. 12.10.1994 – 7 AZR 398/93, NZA 1995, 641 (642). 5 BAG v. 12.10.1994 – 7 AZR 398/93, NZA 1995, 641 (642).
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Kurzarbeitsregelungen
Rz. 28d Teil 5 (13)
würde. Diese Betrachtungsweise gilt bezogen auf den individuellen Arbeitnehmer. Tritt eine Kürzung des Bruttomonatsgehalts von mehr als 10 % ein, hat der Arbeitnehmer einen Anspruch auf einen Zuschuss zum gekürzten Monatsentgelt und zum Kurzarbeitergeld. Bleibt die Kürzung unter 10 %, so findet keine Entgeltkürzung statt. Der Zuschuss wird unter Berücksichtigung von zwei Obergrenzen berechnet: Zu- 28 nächst werden das gekürzte Bruttomonatsentgelt und das Kurzarbeitergeld addiert. Dieser Betrag darf 80 % des Bruttomonatsgehalts (ohne Mehrarbeit) einschließlich der leistungsabhängigen variablen Bestandteile des Monatsentgelts nicht übersteigen. Die tarifvertragliche Regelung ist trotz der Formulierung „bis zu 80 %“ nicht so zu verstehen, dass die Grenze von 80 % unterschritten werden könnte1. Bei der Berechnung des Monatsentgelts sind abgesehen von der Mehrarbeit auch die zeitabhängigen variablen Anteile zu berücksichtigen, weil der Begriff des „Bruttomonatsgehalts“ im Sinne des MTV Metall diese bereits umfasst.2 Die zweite, isoliert hiervon zu betrachtende Obergrenze, ist das Nettoentgelt, das der Arbeitnehmer unter Zugrundelegung dieses Bruttoentgelts erhalten hätte. Addiert man das gekürzte Bruttomonatsentgelt und das Kurzarbeitergeld und bringt es hiervon in Abzug, bleibt wiederum ein Saldo. Zweck dieser Regelung ist es, dass der Arbeitnehmer nicht mehr erhält, als er erhalten hätte, wenn die Kurzarbeit überhaupt nicht eingeführt worden wäre. Vereinfacht lässt sich das Regelungsziel wie folgt darstellen: Der Zuschuss soll dem Arbeitnehmer 80 % seines bisherigen Bruttomonatsentgelts sichern, dabei soll er netto nicht mehr als 100 % des Nettoentgelts erhalten, welches er bei ungekürzter Vergütung erhalten würde.3 Die §§ 8.2.3 und 8.2.4. MTV sind – zumindest bis zum 31.12.2015 – ersetzt durch Sonderregelungen des TVs zu Kurzarbeit und Beschäftigung.
28a
Zunächst wird § 8.2.3 MTV nicht angewandt, so dass es nicht zu einer Aufrechterhaltung des Entgeltsanspruchs kommt, wenn die Kurzarbeit zu einer Entgeltabsenkung bis zu 10 % des des Bruttomonatsentgelts führen würde. Vielmehr kommt es auch in diesen Fällen zu einer Kürzung (§ 2.1 TV KuB).
28b
Die Berechnung des Zuschusses zum Kurzarbeitergeld in § 8.2.3. MTV wird durch § 2.2 28c des TV KuB modifiziert. Dieser wiederum kann durch die Betriebsparteien im Wege einer freiwilligen Betriebsvereinbarung durch ein Alternativmodell mit abgesenktem Zuschuss und Beschäftigungssicherung ersetzt werden (§ 3 TV KuB, vgl. Rz. 28 f.). Nach § 2.2 TV KuB haben die Arbeitnehmer bei einer Verringerung des monatlichen 28d Bruttoentgelts infolge Kurzarbeit einen Anspruch auf einen Zuschuss (Bruttobetrag, § 2.3.3. TV KuB) zum gekürzten Monatsentgelt und zum Kurzarbeitergeld. Dieser errechnet sich aus dem Differenzbetrag zwischen dem tatsächlichen Netto-Monatsentgelt in Kurzarbeit zu dem das Kurzarbeitergeld hinzugerechnet wird und einem vom Umfang der Kurzarbeit abhängigen Prozentsatz des ungekürzten Nettoarbeitsentgelts. Der Arbeitnehmer steht am Ende wirtschaftlich so, dass er einen bestimmten 1 LAG Baden-Württemberg v. 11.3.2011 – 18 Sa 40/10. 2 Vgl. LAG Baden-Württemberg v. 24.11.2010 – 13 Sa 40/10, n.v. (zum MTV Metall Südbaden). 3 LAG Baden-Württemberg v. 11.3.2011 – 18 Sa 40/10; LAG Baden-Württemberg v. 24.11.2010 – 13 Sa 40/10.
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Teil 5 (13) Rz. 28e
Katalog typischer Tarifnormen
Anteil seines Nettoarbeitsentgelts verliert. Dieser Anteil steigt, je größer der Umfang der Kurzarbeit ist. Während bei einem Entgeltausfall durch Kurzarbeit von bis zu 10 % der Zuschuss so bemessen wird, dass 97 % des ungekürzten Nettoarbeitsentgelts erreicht werden, sind dies bei einem Entgeltausfall durch Kurzarbeit von mehr als 80 % 86,5 % des ungekürzten Nettoarbeitsentgelts. Zu den Abstufungen i.Ü. vgl. § 2.2. TV KuB. 28e Das ungekürzte Nettoarbeitsentgelt, das der Berechnung des Zuschusses zugrunde gelegt wird, berechnet sich nach § 2.3 TV KuB. Es berechnet sich auf Grundlage eines Bruttomonatsentgelts, das aus den festen Bestandteilen des Bruttomonatsentgelts und den hinzugerechneten leistungsabhängigen variablen Bestandteilen des vereinbarten Bruttomonatsentgelts besteht. Hinzu gerechnet werden die zeitabhängigen variablen Bestandteile, einschließlich aller Zulagen und Zuschläge, die nicht bereits in den festen Bestandteilen des Monatsentgelts enthalten sind. Nicht berücksichtigt werden Mehrarbeitsgrundvergütungen und Mehrarbeitszuschläge sowie Auslösungen und ähnliche Zahlungen (z.B. Reisespesen, Trennungsentschädigungen), Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Krankengeldzuschüsse, Urlaubsvergütungen, vermögenswirksame und altersvorsorgewirksame Leistungen des Arbeitgebers sowie einmalige Zuwendungen. Die zeitabhängigen variablen Bestandteile werden ermittelt, indem diese Bestandteile für die letzten 3 Monate vor Beginn der Kurzarbeit addiert werden, durch die Zahl der in diesem Zeitraum bezahlten Tage, ohne Krankheits- und Urlaubstage geteilt werden und dieser Betrag mit 21,75 multipliziert wird. Das ungekürzte Nettoarbeitsentgelt kann maximal auf Basis der Beitragsbemessungsgrundlage des SGB II berechnet werden, so dass Beschäftigte, deren Gehalt diese übersteigt, im Ergebnis eine größere tatsächliche Entgeltlücke zu schließen haben. 28f
Von diesem Modell können die Betriebsparteien nach § 3 TV KuB durch freiwillige BV abweichen. Ihnen wird eine (weitere) Absenkung des Zuschusses zum Kurzarbeitergeld gegenüber § 2.2 TV KuB ermöglicht, die aber dazu führt, dass betriebsbedingte Kündigungen während ihrer Laufzeit zwar ausgesprochen werden können, aber nicht wirksam werden. Der Grundgedanke des gegenüber dem Grundmodell abgesenkten Zuschusses, der nach § 3.4 TV KuB für neu eingestellte und aus einem Ausbildungsverhältnis übernommene Arbeitnehmer in den ersten 12 Monaten des Beschäftigungsverhältnisses ausgeschlossen ist, (§ 3.4 TV KuB) ist, dass die weitere Absenkung durch eine Beschäftigungssicherung ein Stück kompensiert wird. Dem entspricht eine tarifvertragliche Regelung zur Verlängerung befristeter Arbeitsverhältnisse in § 3.6 TV KuB. Die Remanenzkosten der Kurzarbeit (vgl. Rz. 3) werden nach § 3.5 TV KuB durch eine Kürzung der tariflichen Einmalzahlung reduziert. Die Berechnungsgrundlage findet sich in § 3.5.5 TV KuB. Der Umfang der Anpassung nach § 3.5.3 TV KuB kann durch die Betriebspartner modifiziert werden, indem diese einen Faktor von bis zu 1,3 festlegen, mit dem die auf Grundlage des § 3.5.3 TV KuB gekürzte Einmalzahlung multipliziert wird. Die Kürzung entfällt nach § 3.5.3 TV KuB gegenüber einigen Beschäftigten, insbesondere solchen, die betriebsbedingt gekündigt werden.
28g
Des Weiteren sieht § 5 TV KuB den Vorrang einer Absenkung der Arbeitszeit gegenüber der Einführung von Kurzarbeit vor, soweit die Absenkung der Arbeitszeit auf eine Dauer von unter 35 bis 31,5 Stunden erfolgen soll. Die Kurzarbeit ist dieser gegenüber nicht vorrangig, wie es § 3 Abs. 1 Halbs. 1 TV zur Beschäftigungssicherung und zum Beschäftigungsaufbau Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg (TV 442 Ulber
Kurzarbeitsregelungen
Rz. 32
Teil 5 (13)
Besch) vorsieht. Vielmehr ist bei diesem Arbeitszeitkorridor nur die Arbeitszeitabsenkung, nicht aber die Einführung von Kurzarbeit erzwingbar. Auch bei einer Absenkung unter 31,5 Stunden haben die Regelungen des TV KuB zu Kurzarbeit und tariflicher Kurzarbeit nach § 4 TV KuB Vorrang vor den Regelungen des TV Besch. Soweit sich die Betriebsparteien nicht über die Einführung von konjunktureller Kurz- 28h arbeit einigen können entscheidet eine Schlichtungsstelle nach § 6 TV KuB, wobei zumindest die gesetzlichen Voraussetzungen zur Gewährung von Kurzarbeitergeld vorliegen müssen. Wiederum abweichend vom TV Besch sind nach § 7 TV KuB Zeiten für Qualifizierungsmaßnahmen, die während der Kurzarbeit in der Ausfallzeit durchgeführt werden, nicht zu vergüten.
28i
Nach § 12.3.3. Abs. 2 MTV Metall sind bei Berechnung des Entgeltfortzahlungs- 29 anspruchs im Krankheitsfall in den Berechnungszeitraum fallende Kürzungen des Entgelts aufgrund Kurzarbeit nicht zu berücksichtigen. Dies betrifft die Erkrankung außerhalb der Zeit der Kurzarbeit. Erkrankt der Arbeitnehmer hingegen vor oder während der Zeit, in der die Arbeitszeit aufgrund Kurzarbeit verkürzt ist, so erhält er ab der Einführung der Kurzarbeit nur das Entgelt, das er aufgrund der durch Kurzarbeit veränderten Arbeitszeit erhalten hätte. Ebenso hat die Kurzarbeit Auswirkungen auf die Berechnung des Alterssicherungsbetrages für Beschäftigte ab 54 Jahren (§ 6.6.2 MTV Metall). Ist ein Arbeitsverhältnis vor Einführung der Kurzarbeit gekündigt worden, so findet keine Entgeltkürzung statt (§ 8.2.5. MTV Metall). Der Arbeitnehmer behält während der Beschäftigung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist seinen vollen Entgeltanspruch, muss aber auf Verlangen auch die entsprechende geschuldete Arbeitszeit ableisten. Der Ablauf der Kündigungsfrist im Sinne der Vorschrift ist die sich aus der Kündigungserklärung ergebende Kündigungsfrist, auch wenn diese die tarifvertragliche Mindestkündigungsfrist überschreitet1. Eine Kündigung, die nach der Ankündigung, aber vor der Einführung der Kurzarbeit erfolgt, fällt nicht mehr in den Anwendungsbereich der Vorschrift2.
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2. § 7 MTV Chemie (Rz. 17) Nach § 7.1 MTV Chemie kann Kurzarbeit im Bedarfsfalle unter Beachtung des Mit- 31 bestimmungsrechts des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG eingeführt werden. Dementsprechend ist vorab zu prüfen, ob ein Bedarfsfall vorliegt. Es liegt nahe, sich hier an den Voraussetzungen für Kurzarbeitergeld nach den §§ 95 ff. SGB III zu orientieren, auch wenn der TV nicht ausdrücklich auf diese Bezug nimmt. Durch den Verweis auf das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats wird klargestellt, dass die tarifliche Regelung nicht abschließend sein soll. Die Ankündigungsfrist für die Einführung von Kurzarbeit beträgt 14 Tage (§ 7.1 MTV 32 Chemie). Die Einführung der Kurzarbeit wird nicht von einer Zustimmung des Betriebsrats abhängig gemacht. Gleichwohl ist sein Mitbestimmungsrecht zu wahren. Dementsprechend kann die Kurzarbeit so lange nicht eingeführt werden, wie eine Eini1 BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 810/98, AP Nr. 178 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie. 2 Vgl. zur Problematik auch Däubler/Hensche/Heuschmid, § 1 TVG Rz. 634.
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Teil 5 (13) Rz. 33
Katalog typischer Tarifnormen
gung auf betrieblicher Ebene fehlt. Die Betriebsparteien sind befugt, die Ankündigungsfrist abzukürzen. Der TV sieht keine Mindestfrist vor. Gleichwohl wird eine Verkürzung nicht schrankenlos zulässig sein, wenn man sich den Zweck der Regelungen, nämlich die Sicherung einer angemessenen Reaktionsfrist für den Arbeitnehmer, vergegenwärtigt. Dementsprechend ist für die Abkürzung der Ankündigungsfrist ein sachlicher Grund erforderlich. 33
Die Auswirkungen auf den Entgeltanspruch regelt § 7.2 MTV Chemie. Im Ergebnis wird hier das Kurzarbeitergeld und das entsprechend der Arbeitszeitverkürzung reduzierte Arbeitsentgelt auf 90 % des Nettoarbeitsentgelts aufgestockt, das ohne die Einführung von Kurzarbeit angefallen wäre. Bei der Ermittlung des Nettoarbeitsentgelts sind auch tarifliche Zuschläge für Nacht- und Sonntagsarbeit zu berücksichtigen, nicht aber die Feiertagszuschläge. Der Zuschuss ist kein Arbeitsentgelt im Sinne des MTV und wird daher bei tariflichen Leistungen, deren Berechnungsgrundlage das Arbeitsentgelt ist, grundsätzlich nicht berücksichtigt. Eine differenzierte Regelung erfahren der Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und auf Urlaubsentgelt. Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ist während der Kurzarbeit nur in Höhe des reduzierten Entgelts zu leisten. Für die Berechnung des Anspruchs auf Urlaubsentgelt bleibt die Kurzarbeit bis zu einem Zeitraum von sechs Monaten außer Betracht (vgl. § 12 Abs. 3 MTV Chemie).
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Eine Sonderregelung für vor oder während der Kurzarbeit gekündigte Arbeitnehmer sieht vor, dass diese ihre vollen Bezüge behalten (§ 7.3 MTV Chemie). Allerdings kann der Arbeitgeber von diesen Arbeitnehmern auch die Erbringung der vollen Arbeitsleistung verlangen.
(14) Maßregelungsverbot I. Zweck und Kontext 1 Maßregelungsverbote (Nichtmaßregelungsklauseln) werden typischerweise am Ende einer Tarifauseinandersetzung mit Streik- oder streikähnlichen Maßnahmen zwischen den Tarifparteien in sog. Tarifabschlüssen oder sog. Tarifeinigungen vereinbart. Sinn und Zweck solcher Klauseln ist es zuvörderst, die streikbeteiligten Arbeitnehmer vor Sanktionen durch den Arbeitgeber zu schützen und Differenzierungen aufgrund der Streikteilnahme weitgehend zu verhindern. Außerdem werden häufig gegenseitige Schadensersatzansprüche ausgeschlossen, was sich in aller Regel zugunsten der Gewerkschaften auswirkt. Wie weitgehend die Differenzierung zwischen streikenden und nicht streikenden Arbeitnehmern durch eine Nichtmaßregelungsklausel ausgeschlossen wird, richtet sich nach dem Inhalt der jeweiligen Klausel. In der Praxis werden sowohl pauschal gehaltene wie auch sehr differenzierte Klauseln verwendet (vgl. Beispiele 1 und 2, unten Rz. 3 und 4). 2 Früher war die Wiedereinstellung streikbeteiligter Arbeitnehmer nach einem Streik die bedeutendste Regelung einer Nichtmaßregelungsklausel. Bis zur grundlegenden Entscheidung des Großen Senats des BAG im Jahr 1955 waren die Arbeitnehmer gezwungen, ihr Arbeitsverhältnis zu beenden, um an dem Arbeitskampf teilnehmen zu 444 Ulber/Steffan
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Katalog typischer Tarifnormen
gung auf betrieblicher Ebene fehlt. Die Betriebsparteien sind befugt, die Ankündigungsfrist abzukürzen. Der TV sieht keine Mindestfrist vor. Gleichwohl wird eine Verkürzung nicht schrankenlos zulässig sein, wenn man sich den Zweck der Regelungen, nämlich die Sicherung einer angemessenen Reaktionsfrist für den Arbeitnehmer, vergegenwärtigt. Dementsprechend ist für die Abkürzung der Ankündigungsfrist ein sachlicher Grund erforderlich. 33
Die Auswirkungen auf den Entgeltanspruch regelt § 7.2 MTV Chemie. Im Ergebnis wird hier das Kurzarbeitergeld und das entsprechend der Arbeitszeitverkürzung reduzierte Arbeitsentgelt auf 90 % des Nettoarbeitsentgelts aufgestockt, das ohne die Einführung von Kurzarbeit angefallen wäre. Bei der Ermittlung des Nettoarbeitsentgelts sind auch tarifliche Zuschläge für Nacht- und Sonntagsarbeit zu berücksichtigen, nicht aber die Feiertagszuschläge. Der Zuschuss ist kein Arbeitsentgelt im Sinne des MTV und wird daher bei tariflichen Leistungen, deren Berechnungsgrundlage das Arbeitsentgelt ist, grundsätzlich nicht berücksichtigt. Eine differenzierte Regelung erfahren der Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und auf Urlaubsentgelt. Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ist während der Kurzarbeit nur in Höhe des reduzierten Entgelts zu leisten. Für die Berechnung des Anspruchs auf Urlaubsentgelt bleibt die Kurzarbeit bis zu einem Zeitraum von sechs Monaten außer Betracht (vgl. § 12 Abs. 3 MTV Chemie).
34
Eine Sonderregelung für vor oder während der Kurzarbeit gekündigte Arbeitnehmer sieht vor, dass diese ihre vollen Bezüge behalten (§ 7.3 MTV Chemie). Allerdings kann der Arbeitgeber von diesen Arbeitnehmern auch die Erbringung der vollen Arbeitsleistung verlangen.
(14) Maßregelungsverbot I. Zweck und Kontext 1 Maßregelungsverbote (Nichtmaßregelungsklauseln) werden typischerweise am Ende einer Tarifauseinandersetzung mit Streik- oder streikähnlichen Maßnahmen zwischen den Tarifparteien in sog. Tarifabschlüssen oder sog. Tarifeinigungen vereinbart. Sinn und Zweck solcher Klauseln ist es zuvörderst, die streikbeteiligten Arbeitnehmer vor Sanktionen durch den Arbeitgeber zu schützen und Differenzierungen aufgrund der Streikteilnahme weitgehend zu verhindern. Außerdem werden häufig gegenseitige Schadensersatzansprüche ausgeschlossen, was sich in aller Regel zugunsten der Gewerkschaften auswirkt. Wie weitgehend die Differenzierung zwischen streikenden und nicht streikenden Arbeitnehmern durch eine Nichtmaßregelungsklausel ausgeschlossen wird, richtet sich nach dem Inhalt der jeweiligen Klausel. In der Praxis werden sowohl pauschal gehaltene wie auch sehr differenzierte Klauseln verwendet (vgl. Beispiele 1 und 2, unten Rz. 3 und 4). 2 Früher war die Wiedereinstellung streikbeteiligter Arbeitnehmer nach einem Streik die bedeutendste Regelung einer Nichtmaßregelungsklausel. Bis zur grundlegenden Entscheidung des Großen Senats des BAG im Jahr 1955 waren die Arbeitnehmer gezwungen, ihr Arbeitsverhältnis zu beenden, um an dem Arbeitskampf teilnehmen zu 444 Ulber/Steffan
Maßregelungsverbot
Rz. 3 Teil 5 (14)
können. Taten sie dies nicht, konnte der Arbeitgeber den streikbeteiligten Arbeitnehmern ordentlich kündigen (sog. Kampfkündigungen) oder eine außerordentliche Kündigung wegen Vertragsbruchs aussprechen. Dadurch bestand die Gefahr des endgültigen Arbeitsplatzverlustes, denn die Arbeitgeber konnten die Situation dazu nutzen, sich von unliebsamen Arbeitnehmern zu trennen1. An dieser individualrechtlichen Betrachtungsweise wurde zu Recht kritisiert, das Kündigungserfordernis sei mit dem Willen der Arbeitnehmer, das Arbeitsverhältnis lediglich für die Zeit des Streiks zu unterbrechen, um gegenüber der anderen Tarifpartei ein gewisses Druckpotential aufzubauen, nicht vereinbar. Deshalb setzte der Große Senat des BAG der individualrechtlichen Betrachtungsweise eine kollektivrechtliche Betrachtungsweise entgegen, wonach die Teilnahme eines Arbeitnehmers an einem rechtmäßigen Streik keine Vertragsverletzung darstellt2. Vielmehr ruht das Arbeitsverhältnis während der Streikteilnahme und die gegenseitigen Hauptleistungspflichten sind suspendiert3. Das bedeutet, dass der Arbeitnehmer von seiner Arbeitspflicht befreit ist, zugleich aber auch seinen Anspruch auf Vergütung während der Dauer der Streikteilnahme verliert4. Die Suspendierung der Hauptleistungspflichten beginnt aber nicht schon mit dem Streikaufruf der Gewerkschaften, sondern erst dann, wenn der Arbeitnehmer sich selbst am Streik beteiligt und in den Ausstand tritt. Die Nebenleistungspflichten bleiben dagegen auch während des rechtmäßigen Streiks bestehen. Insbesondere also trifft die Vertragsparteien nach § 241 Abs. 2 BGB die Pflicht, Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und sonstigen Interessen des anderen Teils zu nehmen5. Soweit der Arbeitnehmer an einem rechtmäßigen Streik teilnimmt, verbieten sich Maßregelungen des Arbeitgebers sowohl nach Art. 9 Abs. 3 GG als auch nach § 612a BGB. Diesen Schutz verstärken tarifliche Nichtmaßregelungsklauseln und dehnen ihn vielfach in zweierlei Hinsicht aus: Erstens schützen sie die Arbeitnehmer auch vor den Folgen rechtswidriger Arbeitskämpfe und zweitens bewahren sie teilweise die Gewerkschaften vor Schadensersatzforderungen der Arbeitgeber6.
II. Beispiele Beispiel 1:7
3
Vereinbarung zur Wiederherstellung des Arbeitsfriedens 1. Jede Maßregelung von Beschftigten aus Anlass oder im Zusammenhang mit der Tarifbewegung in der Papierverarbeitung 1991 unterbleibt oder wird rckgngig gemacht, falls sie erfolgt ist. 2. Schadenersatzansprche aus Anlass oder im Zusammenhang mit der Tarifbewegung entfallen. 1 MünchArbR/Ricken, § 203 Rz. 1. 2 Grundlegend BAG v. 28.1.1955 – GS 1/54, AP Nr. 1 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = NJW 1955, 882. 3 Dazu jüngst auch Hopfner/Heider, DB 2012, 114. 4 BAG v. 22.3.1994 – 1 AZR 622/93, NZA 1994, 1097. 5 MünchArbR/Ricken, § 203 Rz. 12. 6 Ähnlich Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Maßregelungsverbote Rz. 1; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 2036. 7 Vgl. BAG v. 13.7.1993 – 1 AZR 676/92, VZH 1993, 1135.
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Teil 5 (14) Rz. 4
Katalog typischer Tarifnormen
4 Beispiel 2 (Deutsche Telekom): Nichtmaßregelungsklausel 1. Die Deutsche Telekom-AG verzichtet auf jede Maßregelung von Beschftigten und Auszubildenden der Deutsche Telekom-AG, die sich aus Anlass oder im Zusammenhang mit der Tarifrunde 2011 an kollektiven Aktionen der Gewerkschaft ver.di beteiligt haben. Dazu gehçren die Teilnahme an Informations-, Demonstrations- und Protestveranstaltungen, Warnstreiks oder hnlichen gemeinschaftlichen Aktivitten der Gewerkschaft ver.di (einschl. der Organisation solcher Aktionen). 2. Bereits eingeleitete oder durchgefhrte Maßregelungen werden rckgngig gemacht. 3. Alle Vorgnge zur Maßregelung im Zusammenhang mit der Tarifrunde 2011 werden aus den Akten entfernt und vernichtet. Personenbezogene Daten werden nicht erhoben, verarbeitet oder genutzt, sondern physikalisch gelçscht. Dies gilt nicht fr die notwendige Umsetzung der Entgeltkrzungen fr die streikbedingten Ausfallzeiten. Nach Abwicklung der Entgeltkrzungen sind diese Daten ebenfalls zu lçschen. 4. Die Deutsche Telekom-AG erklrt, keinerlei Schadensersatzforderungen gegenber der Gewerkschaft ver.di oder einzelnen Mitgliedern der Gewerkschaft ver.di im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen zur Tarifrunde 2011 zu stellen. 5. Die vorstehenden Regelungen gelten nicht fr Aktionen und Handlungen, die einen Straftatbestand erfllen. 6. Die im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen in der Tarifrunde 2011 entstandenen Unterbrechungszeiten sind zur Erfllung von Zeiten fr tarifliche Ansprche oder Anwartschaften unschdlich.
III. Kommentierung 1. Rechtsnatur 5 Obwohl Maßregelungsverbote oft nicht in allgemeinen TVen geregelt werden (vgl. aber § 6 Arbeitszeit-TV Baden-Württemberg), sondern in einem Tarifabschluss oder in einer Tarifeinigung, handelt es sich rechtlich um einen TV i.S.d. § 3 TVG. Soweit Nichtmaßregelungsklauseln nicht Rechte und Pflichten der TV-Parteien untereinander regeln, sondern normativ auf die Arbeitsverhältnisse der Arbeitsvertragsparteien einwirken, sind sie deshalb wie normative Regelungen eines TVs auszulegen1. Ferner genießen sie den Schutz des § 4 Abs. 4 TVG2. Maßregelungsverbote gehören zu den Inhaltsnormen eines TVs3. Sie wirken also nicht per se wie etwa Betriebsnormen einheitlich für die gesamte Belegschaft4. Geltung erlangen sie für die organisierten Ar1 BAG v. 13.2.2007 – 9 AZR 374/06, AP Nr. 18 zu § 1 TVG Tarifverträge: Presse; LAG BadenWürttemberg v. 17.12.2009 – 21 Sa 30/09. 2 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 2025. 3 Däubler/Hensche, § 1 TVG Rz. 903; a.A. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 2028. 4 Wiedemann/Wiedemann, § 1 TVG Rz. 496; Däubler/Reim, § 1 TVG Rz. 1195; Gamillscheg, Kollektives Abeitsrecht I, S. 1239 ff.; a.A. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 2028.
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Maßregelungsverbot
Rz. 6 Teil 5 (14)
beitnehmer über die kollektive Tarifgebundenheit. Für die nicht organisierten Arbeitnehmer kommt eine Geltung auf schuldrechtlicher Basis zunächst über eine Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag in Betracht, wobei eine allgemeine Bezugnahmeklausel auf die anwendbaren TVe für die Einbeziehung des Maßregelungsverbots ausreicht. Fehlt eine arbeitsvertragliche Inbezugnahme, kommt es maßgeblich auf die Auslegung des Maßregelungsverbots an. In aller Regel differenzieren sie nicht zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und Außenseitern, sondern beziehen sich auf „die Arbeitnehmer/ Beschäftigten“ oder „alle Arbeitnehmer/Beschäftigten“ (vgl. Beispiel 2, oben Rz. 4). Diese Formulierung deutet darauf hin, dass die Regelung auch für Außenseiter gelten soll1. Dasselbe ist anzunehmen, wenn ohne personellen Bezug nur allgemein die Maßregelung untersagt wird (vgl. Beispiel 1, oben Rz. 3). Im Übrigen dürfte eine ausdrückliche Differenzierung durch die TV-Parteien eine nicht gerechtfertigte Diskriminierung nichttarifgebundener Streikteilnehmer darstellen2. Nichtmaßregelungsklauseln beziehen sich auf die Vergangenheit; gegen die Rückwirkung bestehen keine Bedenken3. Für die Zukunft können sie hingegen nicht abgeschlossen werden, weil der rechtswidrige Arbeitskampf damit von Anfang an sanktionslos gestellt würde4. 2. Erscheinungsformen und Reichweite Inhaltlich finden sich in der Praxis im Wesentlichen zwei unterschiedliche Formen 6 tariflicher Maßregelungsverbote. Zum einen gibt es allgemeine Regelungen, die pauschal eine Maßregelung der Arbeitnehmer nach einem Tarifkonflikt verbieten und bereits erfolgte Maßregelungen rückgängig machen, oft verbunden mit einem Verzicht auf Schadensersatzforderungen des Arbeitgebers gegen die Gewerkschaften und die Arbeitnehmer. Das tarifliche Maßregelungsverbot aus Beispiel 1 (Rz. 3) etwa dient nach dem Wortlaut der Überschrift der „Wiederherstellung des Arbeitsfriedens“ nach Beendigung des Arbeitskampfs. Aus diesem Grunde ist nach Ansicht des BAG unter Maßregelung im Sinne dieser Vereinbarung schon jede unterschiedliche Behandlung der Arbeitnehmer zu verstehen, die nach der Teilnahme am Arbeitskampf unterscheidet, soweit diese Unterscheidung nicht schon durch die Rechtsordnung selbst vorgegeben ist. Ein Maßregelungsverbot, das lediglich die Vorenthaltung oder Beschneidung von Rechten wegen der Teilnahme am Arbeitskampf oder die tatsächliche Benachteiligung als Sanktionierung der Ausübung des Streikrechts verbieten würde, wäre weitgehend ohne Bedeutung, weil sich die damit angeordneten Rechtsfolgen ohnehin aus § 612a BGB ergeben5. Im konkreten Fall hatte das BAG über die nachträgliche Erstattung einer Streikbruchprämie an nichtstreikende Arbeitnehmer zu entscheiden (vgl. noch Rz. 9). Über die allgemeinen Klauseln hinaus sind in der Praxis auch sehr differenzierte Klauseln anzutreffen, die weitgehend die Unterschiede zwischen den streikbeteiligten und den nicht streikbeteiligten Arbeitnehmern nivellieren wollen und damit über den Anwendungsbereich eines echten „Maßregelungsverbots“ hinausgehen (vgl. Beispiel 2, oben Rz. 4).
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Däubler/Reim, § 1 TVG Rz. 1195. Däubler/Reim, § 1 TVG Rz. 1195; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 2028. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 2030; Däubler/Reim, § 1 TVG Rz. 1191. Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Maßregelungsverbote Rz. 1; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 2033. 5 BAG v. 13.7.1993 – 1 AZR 676/92, NZA 1993, 1135 (1138).
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Teil 5 (14) Rz. 7
Katalog typischer Tarifnormen
3. Einzelne Regelungen 7 Dem Wiedereinstellungsanspruch als vormals wesentlichem Inhalt von Maßregelungsverboten kommt nach der Rechtsprechung des BAG, wonach das Arbeitsverhältnis während des Arbeitskampfs ruht, kaum noch praktische Bedeutung zu1. Anderes gilt nur in Ausnahmefällen, so bei der lösenden Aussperrung oder wenn tatsächlich während des Arbeitskampfs ordentliche oder außerordentliche Kündigungen erfolgt sind2. 8 In aller Regel haben Maßregelungsklauseln keinen Einfluss auf den Grundsatz „ohne Arbeit kein Lohn“. Das heißt, dass Maßregelungsverbote nicht dazu führen, den streikbedingten Arbeitsausfall zu egalisieren. Insoweit bleibt es bei der Suspendierung der Entgeltzahlungspflicht3. Das gilt auch für Einmalzahlungen, die im Rahmen von Tarifverhandlungen oft für zurückliegende Zeiten vereinbart werden und die – ebenso wie das regelmäßige Arbeitsentgelt – an die tatsächliche Arbeitsleistung anknüpfen. Für die Tage, an denen der Arbeitnehmer am Arbeitskampf teilgenommen hat, ist die Einmalzahlung deshalb zu kürzen4. Abweichend von diesem Grundsatz können die TV-Parteien jedoch auch vereinbaren, dass das Arbeitsverhältnis durch die Arbeitskampfmaßnahme als nicht ruhend gilt. In diesem Fall kann auch eine tarifliche Jahresleistung nicht gemindert werden, deren Höhe für Zeiten unbezahlter Arbeitsbefreiung gekürzt wird5. Darüber hinaus ist auch eine ausdrückliche Lohnnachzahlungsvereinbarung zulässig6. 9 Auch während des Streiks gezahlte Streikbruchprämien werden von einer Nichtmaßregelungsklausel erfasst. Grundsätzlich verstoßen nach wohl überwiegender Meinung die während eines Streiks gezahlten Streikbruchprämien nicht gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz i.V.m. § 612a BGB. Das gilt auch dann, wenn mit der Prämie nur die Nichtteilnahme am Streik honoriert wird, ohne dass bei den Nichtstreikenden weitergehende Belastungen vorliegen müssen7. Anders verhält es sich bei Zahlungen, die nach Streikende an diejenigen Mitarbeiter gezahlt werden, die nicht am Streik teilgenommen haben. Darin liegt in aller Regel eine unzulässige Maßregelung i.S.d. § 612a BGB, sofern nicht die nicht streikenden Arbeitnehmer ganz außergewöhnlichen Belastungen ausgesetzt waren, die weit über das normale Maß der ohnehin mit einem Streik verbundenen Erschwerungen hinausgehen8. Liegen nach dieser Definition zulässige Streikbruchprämien vor, so führt nach Ansicht des BAG bereits eine allgemeine Nichtmaßregelungsklausel im Sinne des oben genann1 Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Maßregelungsverbote Rz. 4; Däubler/Reim, § 1 TVG Rz. 1204. 2 Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Maßregelungsverbote Rz. 4; kritisch im Hinblick auf ordentliche Kündigungen Däubler/Reim, § 1 TVG Rz. 1207. 3 Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Maßregelungsverbote Rz. 5; Däubler/Reim, § 1 TVG Rz. 1196; a.A. wohl Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 2034. 4 LAG Baden-Württemberg v. 17.12.2009 – 21 Sa 30/09. 5 BAG v. 13.2.2007 – 9 AZR 374/06, AP Nr. 18 zu § 1 TVG Tarifverträge: Presse. 6 Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Maßregelungsverbote Rz. 5; Däubler/Reim, § 1 TVG Rz. 1196; a.A. MünchArbR/Otto, § 291 Rz. 32. 7 Sehr instruktiv dazu BAG v. 13.7.1993 – 1 AZR 676/92, NZA 1993, 1135 (1138) m.w.N.; ErfK/ Preis, § 612a BGB Rz. 16; a.A. insb. Gaul, NJW 1994, 1025. 8 BAG v. 28.7.1992 – 1 AZR 87/92, AP Nr. 123 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Maßregelungsverbote Rz. 10.
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Maßregelungsverbot
Rz. 13
Teil 5 (14)
ten Beispiels 1 (Rz. 3) dazu, dass die Differenzierung zwischen streikenden und nicht streikenden Arbeitnehmern aufgehoben wird und auch die streikbeteiligten Arbeitnehmer einen Anspruch auf die gezahlte Prämie haben1. Einer ausdrücklichen Regelung in der Nichtmaßregelungsklausel bedarf es dazu nicht2. Für die Praxis dürften Streikbruchprämien damit an Attraktivität verloren haben, denn wenn es nach gefundener Tarifeinigung zur endgültigen Befriedung des Tarifkonflikts (nur) noch um die Vereinbarung eines Maßregelungsverbots geht, dürfte eine explizite Ausnahme gezahlter Streikbruchprämie nur schwer erreichbar sein. Ein allgemeines Maßregelungsverbot ohne besondere Regelung beinhaltet keinen 10 Verzicht auf Schadensersatzansprüche gegen die Gewerkschaft oder streikbeteiligte Arbeitnehmer3. Anders ist es dann, wenn der Ausschluss von Schadensersatzansprüchen ausdrücklicher Inhalt von Maßregelungsverboten ist (vgl. Beispiel 1 Nr. 2, oben Rz. 3, oder Beispiel 2 Nr. 5, oben Rz. 4). Mit solchen speziellen Regelungen wird auch der Streit darüber beigelegt, ob eine Arbeitskampfmaßnahme rechtswidrig war. Von solchen Regelungen nicht erfasst werden Ansprüche wegen sittenwidriger Schädigung des Arbeitgebers, seines Unternehmens und anderer Mitarbeiter4. Schadensersatzansprüche einzelner Arbeitnehmer gegen die Gewerkschaft können nicht mit normativer Wirkung durch eine Maßregelungsklausel der TV-Parteien ausgeschlossen werden. Möglich ist dies allenfalls mit schuldrechtlichen Mitteln5. Haben Arbeitnehmer in ihrer Eigenschaft als Betriebsratsmitglieder oder hat der Be- 11 triebsrat als Gremium gegen die Neutralitätspflicht und/oder das Streikverbot aus § 74 Abs. 2 BetrVG verstoßen, kann der Arbeitgeber beim zuständigen Arbeitsgericht den Ausschluss der betreffenden Arbeitnehmer aus dem Betriebsrat oder die Auflösung des Betriebsrats beantragen6. Auf dieses Antragsrecht kann der Arbeitgeber nicht kollektiv im Rahmen einer Nichtmaßregelungsklausel verzichten; in Betracht kommt hier wegen der zwingenden Wirkung des § 23 Abs. 1 BetrVG nur ein nachträglicher individueller Verzicht7. Die Beseitigung von Ermahnungen, Abmahnungen und sonstigen (streikbedingten) 12 Einträgen aus der Personalakte folgt bereits aus einer allgemeinen Nichtmaßregelungsklausel. Gleichwohl wird dies häufig in differenzierten Maßregelungsverboten ausdrücklich erwähnt. Dasselbe gilt für die Löschung von im Rahmen von Streikmaßnahmen erhobenen, verarbeiteten oder genutzten personenbezogenen Daten (vgl. Beispiel 2 Nr. 3, oben Rz. 4). Soweit im Zusammenhang mit Streikmaßnahmen der Verdacht von Straftaten be- 13 steht (typischerweise Beleidigung, Hausfriedensbruch), können Maßregelungsverbote 1 BAG v. 13.7.1993 – 1 AZR 676/92, NZA 1993, 1135 (1138); a.A. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 2035. 2 BAG v. 13.7.1993 – 1 AZR 676/92, NZA 1993, 1135 (1138). 3 BAG v. 8.11.1988 – 1 AZR 417/86, AP Nr. 111 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. 4 Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Maßregelungsverbote Rz. 13; Däubler/Reim, § 1 TVG Rz. 1214. 5 BAG v. 8.11.1988 – 1 AZR 417/86, AP Nr. 111 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; Thüsing/Braun/ Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Maßregelungsverbote Rz. 3. 6 Vgl. nur Fitting, § 23 BetrVG Rz. 19, 37. 7 MünchArbR/Otto, § 291 Rz. 41; Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Maßregelungsverbote Rz. 6.
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Teil 5 (14) Rz. 14
Katalog typischer Tarifnormen
dem Arbeitgeber nicht verbieten, von seinem Strafantragsrecht Gebrauch zu machen1. Als öffentliches Recht unterfällt es nicht der Tarifmacht2. Teilweise sehen die gängigen Regelungen hier explizit eine Ausnahme vom Maßregelungsverbot vor (vgl. Beispiel 2 Nr. 5, oben Rz. 4). 14
Da das Arbeitsverhältnis während eines rechtmäßigen Streiks ruht, hat dies grundsätzlich Auswirkungen auf alle Ansprüche, die eine ununterbrochene Beschäftigung oder Betriebszugehörigkeit voraussetzen. Dabei kann es sich handeln um Anlaufzeiten und Anwartschaften bei Höhergruppierungsregelungen, betrieblicher Altersversorgung, Rationalisierungsschutz, Gratifikationen, Jahresprämien, Anwesenheitsprämien, variabler Entgeltbestandteile usw. Besteht lediglich eine allgemeine Nichtmaßregelungsklausel im Sinne des Beispiels 1 (Rz. 3), können solche Ansprüche entsprechend der streikbedingten Ausfallzeiten gekürzt bzw. angerechnet werden3. Praktisch ist hingegen insbesondere bei größeren Unternehmen und umfangreicher Streikteilnahme eine Kosten-Nutzen-Betrachtung anzuraten. Oftmals dürfte die aufwändige Anrechnung streikbedingter Ausfallzeiten auf etwa die Anwartschaften der betrieblichen Altersversorgung oder die Anlaufzeiten für Höhergruppierungen am Ende höhere Kosten verursachen als die Nichtberücksichtigung solcher Zeiten. In differenzierten Nichtmaßregelungsklauseln ist dagegen bereits häufig ausdrücklich geregelt, dass die im Zusammenhang mit der jeweiligen Tarifauseinandersetzung entstandenen Unterbrechungszeiten zur Erfüllung von Zeiten für tarifliche Ansprüche oder Anwartschaften unschädlich sind (vgl. etwa Beispiel 2 Nr. 8, oben Rz. 4). Zu demselben Ergebnis führen auch Klauseln, die das Arbeitsverhältnis ausdrücklich als ununterbrochen fingieren. Solche Regelungen sind zulässig4.
(15) Mehrarbeitsregelungen Literatur: Dikomey, Der Anspruch auf Mehrarbeitsvergütung, DB 1988, 1949; Diller, Fortschritt oder Rückschritt – Das neue Arbeitszeitrecht, NJW 1994, 2726; Hümmerich, Gestaltung von Arbeitsverträgen nach der Schuldrechtsreform, NZA 2003, 753; Hümmerich/Rech, Antizipierte Einwilligung in Überstunden durch arbeitsvertragliche Mehrarbeitsabgeltungsklauseln?, NZA 1999, 1132; Lindemann, Entgeltpauschalierung für geleistete Überstunden, BB 2006, 826; Schrader/Schubert, AGB-Kontrolle von Arbeitsverträgen – Grundsätze der Inhaltskontrolle arbeitsvertraglicher Vereinbarungen, NZA-RR 2005, 225; Sowka, Teilzeitarbeit – ausgewählte Rechtsprobleme, DB 1994, 1873; Ziepke/Weiss, Kommentar zum MTV Metall NRW, 4. Aufl. 1998.
I. Zweck und Kontext 1 Mehrarbeit ist ein notwendiges Mittel, um auftragsstarke Zeiten bewältigen zu können, ohne zusätzliches Personal einstellen und anlernen zu müssen. Begrifflich hatte 1 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 2032; a.A. Däubler/Reim, § 1 TVG Rz. 1217. 2 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 2032. 3 BAG v. 3.8.1999 – 1 AZR 735/98, AP Nr. 156 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; BAG v. 15.5.1964 – 1 AZR 432/63, AP Nr. 35 zu § 611 BGB Gratifikationen; Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Maßregelungsverbote Rz. 7. 4 BAG v. 13.2.2007 – 9 AZR 374/06, AP Nr. 18 zu § 1 TVG Tarifverträge: Presse; Thüsing/Braun/ Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Maßregelungsverbote Rz. 7; MünchArbR/Otto, § 291 Rz. 30.
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Teil 5 (14) Rz. 14
Katalog typischer Tarifnormen
dem Arbeitgeber nicht verbieten, von seinem Strafantragsrecht Gebrauch zu machen1. Als öffentliches Recht unterfällt es nicht der Tarifmacht2. Teilweise sehen die gängigen Regelungen hier explizit eine Ausnahme vom Maßregelungsverbot vor (vgl. Beispiel 2 Nr. 5, oben Rz. 4). 14
Da das Arbeitsverhältnis während eines rechtmäßigen Streiks ruht, hat dies grundsätzlich Auswirkungen auf alle Ansprüche, die eine ununterbrochene Beschäftigung oder Betriebszugehörigkeit voraussetzen. Dabei kann es sich handeln um Anlaufzeiten und Anwartschaften bei Höhergruppierungsregelungen, betrieblicher Altersversorgung, Rationalisierungsschutz, Gratifikationen, Jahresprämien, Anwesenheitsprämien, variabler Entgeltbestandteile usw. Besteht lediglich eine allgemeine Nichtmaßregelungsklausel im Sinne des Beispiels 1 (Rz. 3), können solche Ansprüche entsprechend der streikbedingten Ausfallzeiten gekürzt bzw. angerechnet werden3. Praktisch ist hingegen insbesondere bei größeren Unternehmen und umfangreicher Streikteilnahme eine Kosten-Nutzen-Betrachtung anzuraten. Oftmals dürfte die aufwändige Anrechnung streikbedingter Ausfallzeiten auf etwa die Anwartschaften der betrieblichen Altersversorgung oder die Anlaufzeiten für Höhergruppierungen am Ende höhere Kosten verursachen als die Nichtberücksichtigung solcher Zeiten. In differenzierten Nichtmaßregelungsklauseln ist dagegen bereits häufig ausdrücklich geregelt, dass die im Zusammenhang mit der jeweiligen Tarifauseinandersetzung entstandenen Unterbrechungszeiten zur Erfüllung von Zeiten für tarifliche Ansprüche oder Anwartschaften unschädlich sind (vgl. etwa Beispiel 2 Nr. 8, oben Rz. 4). Zu demselben Ergebnis führen auch Klauseln, die das Arbeitsverhältnis ausdrücklich als ununterbrochen fingieren. Solche Regelungen sind zulässig4.
(15) Mehrarbeitsregelungen Literatur: Dikomey, Der Anspruch auf Mehrarbeitsvergütung, DB 1988, 1949; Diller, Fortschritt oder Rückschritt – Das neue Arbeitszeitrecht, NJW 1994, 2726; Hümmerich, Gestaltung von Arbeitsverträgen nach der Schuldrechtsreform, NZA 2003, 753; Hümmerich/Rech, Antizipierte Einwilligung in Überstunden durch arbeitsvertragliche Mehrarbeitsabgeltungsklauseln?, NZA 1999, 1132; Lindemann, Entgeltpauschalierung für geleistete Überstunden, BB 2006, 826; Schrader/Schubert, AGB-Kontrolle von Arbeitsverträgen – Grundsätze der Inhaltskontrolle arbeitsvertraglicher Vereinbarungen, NZA-RR 2005, 225; Sowka, Teilzeitarbeit – ausgewählte Rechtsprobleme, DB 1994, 1873; Ziepke/Weiss, Kommentar zum MTV Metall NRW, 4. Aufl. 1998.
I. Zweck und Kontext 1 Mehrarbeit ist ein notwendiges Mittel, um auftragsstarke Zeiten bewältigen zu können, ohne zusätzliches Personal einstellen und anlernen zu müssen. Begrifflich hatte 1 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 2032; a.A. Däubler/Reim, § 1 TVG Rz. 1217. 2 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 2032. 3 BAG v. 3.8.1999 – 1 AZR 735/98, AP Nr. 156 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; BAG v. 15.5.1964 – 1 AZR 432/63, AP Nr. 35 zu § 611 BGB Gratifikationen; Thüsing/Braun/Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Maßregelungsverbote Rz. 7. 4 BAG v. 13.2.2007 – 9 AZR 374/06, AP Nr. 18 zu § 1 TVG Tarifverträge: Presse; Thüsing/Braun/ Thüsing, Tarifrecht, 5. Kap. Maßregelungsverbote Rz. 7; MünchArbR/Otto, § 291 Rz. 30.
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Mehrarbeitsregelungen
Rz. 5 Teil 5 (15)
das Wort „Mehrarbeit“ seine Verankerung in der Vorgängerregelung zum Arbeitszeitgesetz (ArbZG), der Arbeitszeitordnung (AZO), die auch eine Bestimmung zur Mehrarbeitsvergütung enthielt. Nach deren § 15 war Mehrarbeit die mit einem gesetzlichen Zuschlag zu vergütende Überschreitung der gesetzlich zulässigen Wochenarbeitszeit. Das ArbZG in seiner heutigen Fassung verwendet den Begriff der Mehrarbeit nicht. 2 Es bedurfte auch nicht seiner Verwendung, da mit der Festlegung flexibler Grenzen für die Höchstarbeitszeit eine gesetzliche Regelung der Mehrarbeit obsolet geworden ist1. Allerdings hat sich der Begriff in den Mehrarbeitsverboten des Schwerbehindertenrechts (dort: § 124 SGB IX) sowie Mutterschutzrechts (dort: § 8 MuSchG) gehalten, ohne jedoch in jenen Regelungen definiert zu werden. In TVen und dem folgend auch in individualvertraglichen Regelungen findet der Be- 3 griff der Mehrarbeit weiterhin Verwendung. Eine allgemein gültige Definition, was Mehrarbeit ist bzw. wann diese anfällt, gibt es jedoch auch hier nicht. Dementsprechend ist jeweils anhand des Einzelfalls zu prüfen, wie die Individual- bzw. Kollektivvertragsparteien in ihren Regelungen den Begriff der Mehrarbeit verwenden. In TVen wird vielfach für das Vorliegen von Mehrarbeit auf das Überschreiten der – in der Regel der tariflichen wöchentlichen oder der in diesem Rahmen betrieblich festgelegten – regelmäßigen täglichen Arbeitszeit hinausgehende Arbeitszeit ausschließlich der Pausen abgestellt, soweit diese angeordnet war2. Die Begriffe „Mehrarbeit“ und „Überarbeit/Überstunden“ werden vielfach synonym 4 verwendet, obgleich sie oftmals nicht deckungsgleich sind. Von Überarbeit ist vorbehaltlich anderer Begriffsbestimmungen im Individual- oder Kollektivvertrag3 bereits dann zu sprechen, wenn der Arbeitgeber Arbeitsleistung über das vertraglich geschuldete Maß einfordert, ohne dass die tarifliche regelmäßige Arbeitszeit überschritten wird. Wird also bspw. ein teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer, der regelmäßig 25 Stunden Arbeitsleistung in einem Betrieb erbringt, in dem kraft TVes für vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer die 35-Stundenwoche gilt, in einer Woche mit 40 Stunden beschäftigt, leistet er – die zuvor erwähnte Definition von Mehrarbeit zugrundegelegt – zwar insgesamt 15 Stunden Überarbeit; davon gilt als Mehrarbeit aber erst die Arbeit ab der 36. Wochenstunde4. Das Direktionsrecht nach Maßgabe des § 106 GewO reicht für die Anordnung von 5 Mehrarbeit in der Regel nicht aus; sie bedarf daher regelmäßig einer gesonderten individual- oder kollektivvertraglichen Rechtsgrundlage. Allerdings kann der Arbeitnehmer im Einzelfall aus seinen vertraglichen Nebenpflichten heraus zur Mehrarbeit verpflichtet sein, wie auch die Regelung des § 14 ArbZG belegt, die für Notfälle und außergewöhnliche Fälle ein Abweichen von den zwingenden Regelungen des ArbZG erlaubt. Gehört es zum Berufsbild, dass ein gewisses Mehr an Arbeit, als sie von einem bspw. tariflich eingruppierten Arbeitnehmer abverlangt werden kann, zu leisten ist, kann sich hieraus bereits die Pflicht zur Mehrarbeit ergeben5. In diesem Sinne hat
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MünchArbR/Reichold, § 36 Rz. 67; Schliemann, § 3 ArbZG Rz. 2. So in § 3 I MTV Chemie, unten Rz. 15. S. hierzu noch die Beispiele des § 7 Abs. 6 und 7 TVöD, unten Rz. 17. Zur Anordnungsbefugnis bei Teilzeitbeschäftigten s. noch im Folgenden Rz. 6. So für den leitenden Angestellten: MünchArbR/Reichold, § 36 Rz. 66.
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Teil 5 (15) Rz. 6
Katalog typischer Tarifnormen
auch das BAG entschieden, dass es gerade bei Diensten höherer Art einen allgemeinen Rechtsgrundsatz nicht gebe, dass jede Mehrarbeitszeit oder jede dienstliche Anwesenheitszeit über die vereinbarte Arbeitszeit hinaus zu vergüten sei1. Unbeschadet dessen sollte dennoch der Arbeitsvertrag klar und unmissverständlich deutlich machen, was dem Arbeitnehmer abverlangt wird und dass dies dann auch im Rahmen der Vergütung mit abgegolten sein soll2. 6 Teilweise wird die Auffassung vertreten, dass ein Teilzeitbeschäftigter nicht zur Mehrarbeit herangezogen werden könne, da der Abschluss des Teilzeitarbeitsvertrags indiziere, dass der Arbeitnehmer nur im Rahmen der vereinbarten Arbeitszeit zur Verfügung stehen wolle3. Dem kann nicht gefolgt werden, baut diese Auffassung doch auf dem Trugschluss auf, dem Vollzeitbeschäftigten sei es egal, ob seine Arbeitskraft für 35, 40 oder 60 Stunden in der Woche abgefragt wird. Jedenfalls soweit eine tarifvertragliche Regelung besteht, die eine Rechtsgrundlage für die Anordnung von Mehrarbeit bietet, ist diese auch für das Teilzeitarbeitsverhältnis verbindlich4. Kann der Teilzeitbeschäftigte zur Mehrarbeit herangezogen werden, darf dieser nicht mit einem geringeren Stundensatz vergütet werden als ein Vollzeitbeschäftigter5. 7 Soweit die Regelung als Mehrarbeit das Überschreiten der tariflichen regelmäßigen Wochenarbeitszeit definiert6, folgt daraus, dass der Mehrarbeitstatbestand bei einem Teilzeitbeschäftigten erst eintreten kann, wenn durch die angeordnete Arbeit die für Vollzeitarbeitnehmer festgelegte Arbeitszeitgrenze überschritten wird7. 8 Macht eine Regelung die Gewährung von Mehrarbeitsstunden von der Überschreitung einer bestimmten Arbeitszeitgrenze abhängig, bleiben Zeiten der Freistellung, auch wenn diese bezahlt erfolgt, für die Feststellung des Vorliegens zuschlagspflichtiger Mehrarbeit außer Betracht8. Beispiel: Die tarifvertragliche Arbeitszeitregelung legt eine Arbeitszeit von wöchentlich 37,5 Stunden bzw. 162 Stunden im Monat fest. Nimmt nunmehr der Arbeitnehmer in einem Monat, in dem er 169 Stunden Arbeitsleistung erbracht hat, fünf Arbeitstage Urlaub, wird er für diesen Zeitraum nicht etwa so gestellt, als hätte er Arbeitsleistung erbracht. Ihm erwächst also nur für die über 162 Stunden hinausgehende Arbeitszeit ein Anspruch auf Mehrarbeitsvergütung.
1 BAG v. 17.8.2011 – 5 AZR 406/10, DB 2011, 2550. 2 Zur inhaltlichen Ausgestaltung solcher Vergütungsabreden und deren Inhaltskontrolle s. BAG v. 1.9.2010 – 5 AZR 517/09, DB 2011, 61. 3 So bspw. LAG Bremen v. 29.4.1998 – 2 Sa 223/97, n.v.; a.A.: Sowka, DB 1994, 1878. 4 S. auch Ziepke/Weiss, § 5 MTV Anm. 4. 5 EuGH v. 6.12.2007 – Rs. C-300/06, DB 2008, 187. 6 Anderweitige, zwischen Voll- und Teilzeitbeschäftigten differenzierende Regelungen kommen in der Praxis zwar seltener, aber auch vor. So heißt es bspw. in § 4 MTV Einzelhandel NRW: „Mehrarbeit für Vollbeschäftigte ist jede über die vereinbarte oder festgelegte tägliche Arbeitszeit hinausgehende Arbeit, sofern sie nicht gemäß § 2 Abs. 5 ausgeglichen wird. Mehrarbeit für Teilzeitbeschäftigte ist jede Arbeitszeit, die über die in § 2 Abs. 1 geregelte Arbeitszeit hinaus geleistet wird.“ 7 BAG v. 25.7.1996 – 6 AZR 138/94, NZA 1997, 774; die Zulässigkeit solcher Regelungen bestätigend: BAG v. 16.6.2004 – 5 AZR 448/03, NZA 2004, 1119. 8 BAG v. 7.7.2004 – 4 AZR 433/03, DB 2004, 2374.
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Mehrarbeitsregelungen
Rz. 11
Teil 5 (15)
Mehrarbeit bedarf ihrer ausdrücklichen Anordnung, was im Falle selbstbestimmter 9 Arbeitszeitmodelle zur Folge hat, dass der Tatbestand der Mehrarbeit nur in Ausnahmefällen auftreten kann. Je nach Einzelfall kann die Anordnung auch konkludent (z.B. durch Setzen von Terminen) oder in der Billigung von Mehrarbeit erfolgen1. Allerdings setzt die Billigung auch voraus, dass der Arbeitgeber davon Kenntnis hatte, dass der Arbeitnehmer zur Verrichtung seiner Aufgaben Mehrarbeit leistet. Erlangt er erst später hiervon Kenntnis, genügt dies nicht2. Bei der Anordnung von Mehrarbeit sind die Grenzen des Arbeitszeitgesetzes zu berücksichtigen. Ist die Anordnung von Mehrarbeit unzulässig, berechtigt eine daraufhin erfolgte Arbeitsverweigerung nicht zur Kündigung3. Überdies ist für den Fall, dass der Arbeitgeber in einer generalisierenden Form Mehrarbeit anbietet, zu beachten, dass er nicht ohne sachlichen Grund einzelne Arbeitnehmer aus der Zuweisung von Mehrarbeitsstunden herausnehmen darf4. Auch im Falle der Teilzeitbeschäftigung bedarf die Anordnung von Mehrarbeit regel- 10 mäßig keiner gesonderten Ankündigungsfrist zur Anordnung von Mehrarbeit. Aber auch hier gilt das Gleiche wie für das Vollzeitarbeitsverhältnis: Eine Ankündigung kann noch am Tage des Arbeitseinsatzes erfolgen. Auch aus § 12 TzBfG folgt nichts anderes; er findet auf die Anordnung von Überstunden keine Anwendung5. Soweit in Betrieben von tariflichen Arbeitszeitkorridoren Gebrauch gemacht wird, 11 die eine längere oder kürzere Festlegung der regelmäßigen betrieblichen Arbeitszeit ermöglichen, ist die betrieblich festgelegte Arbeitszeit maßgebend für die Beurteilung der Frage nach Mehrarbeit. Die anderweitige Verteilung der regelmäßigen Arbeitszeit im Rahmen von Verteilzeiträumen führt jedoch regelmäßig nicht zur Mehrarbeit6. Dies gilt insbesondere für den Fall von Zeitguthaben, die zum Ablauf eines Ausgleichszeitraums existieren. Werden diese ausbezahlt, kann dies unter Außerachtlassung etwaiger Mehrarbeitszuschläge geschehen; durch Auszahlung werden positive Zeitsalden nicht zur tarifvertraglichen Mehrarbeit7. Bestehen hingegen bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses negative Zeitsalden, kann der Arbeitgeber diese mit den ausstehenden Lohnzahlungen verrechnen8. Dies hat das BAG für den Fall entschieden, dass der Arbeitnehmer selbst über die Entstehung und den Ausgleich eines negativen Kontostandes entscheiden kann. Denn mit der einvernehmlichen Einrichtung eines Arbeitszeitkontos geht regelmäßig die konkludente Abrede einher, dass das Konto spätestens mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses auszugleichen sei. Da es sich bei einem negativen Zeitguthaben des Arbeitnehmers der Sache nach um einen Lohn- oder Gehaltsvorschuss des Arbeitgebers handelt, geht das BAG davon aus, dass der Arbeitnehmer das bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses bestehende negative Guthaben finanziell auszugleichen hat. 1 MünchArbR/Reichold, § 36 Rz. 69. 2 MünchArbR/Reichold, § 36 Rz. 69. 3 LAG Düsseldorf v. 21.1.1964 – 8 Sa 490/63, DB 1964, 628; anders jedoch für den Fall zulässiger, aber verweigerter Mehrarbeit: LAG Köln v. 27.4.1999 – 13 Sa 14/98, NZA 2000, 39. 4 BAG v. 7.11.2002 – 2 AZR 742/00, DB 2003, 828. 5 ErfK/Preis, § 12 TzBfG Rz. 15. 6 So auch ausdrücklich geregelt in § 3 I Abs. 4 MTV Chemie. 7 BAG v. 25.10.2000 – 4 AZR 556/99, DB 2001, 1620. 8 BAG v. 13.12.2000 – 5 AZR 234/99, DB 2001, 1565; ebenso bereits LAG Rheinland-Pfalz v. 12.3.1998 – 8 Sa 1032/97, ARST 1998, 169.
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Teil 5 (15) Rz. 12
Katalog typischer Tarifnormen
12
Hinsichtlich der Vergütung von Mehrarbeit enthalten die einschlägigen Tarifregelungen regelmäßig gesonderte Regelungen, bei denen wiederum zwischen der Grundvergütung für Mehrarbeit und hierauf zu zahlenden Mehrarbeitszuschlägen unterschieden wird1. Eine Regelung, wonach die Mehrarbeit Teilzeitbeschäftigter mit einem geringeren Stundensatz vergütet wird als diejenige von Vollzeitbeschäftigten, ist dabei unwirksam2. Davon unbeschadet können die TV-Parteien über die Definition von Mehrarbeit bestimmen, dass ein Mehrarbeitszuschlag erst bei Überschreiten der tariflich regelmäßigen Arbeitszeit anfällt3. Ist dem Arbeitgeber nicht, wie es in einigen tariflichen Regelungsbereichen heutzutage gebräuchlich ist4, die Möglichkeit eingeräumt, geleistete Mehrarbeit durch Freizeit auszugleichen, kann der Arbeitgeber einen bereits entstandenen Anspruch auf Vergütung für geleistete Überstunden nicht einseitig durch Anordnung der Freistellung von der Arbeit erfüllen5.
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Soweit keine Bindung an kollektivvertragliche Regelungen besteht, bedient sich die Praxis vielfach Regelungen zur pauschalen Überstundenvergütung. Grundsätzlich ist es anerkannt, Mehrarbeit über die Grundvergütung abzugelten6. Voraussetzung ist jedoch, dass die getroffene Abrede klar zu erkennen gibt, dass die vereinbarte Vergütung als Äquivalent für die gesamte Arbeitsleistung gezahlt werde7.
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Wird die Vergütung von Mehrarbeit eingefordert, ist im Einzelnen darzulegen, an welchen Tagen und zu welchen Tageszeiten der Arbeitnehmer über die übliche Arbeitszeit hinaus gearbeitet hat8. Dies gilt auch bzgl. der Frage, ob der Leistung von Mehrarbeit eine ausdrücklichen Anordnung zugrunde gelegen hat, dass die regelmäßige tägliche oder tarifliche wöchentliche Arbeitszeit überschritten werden soll9. Je nach der Einlassung des Arbeitgebers kann insoweit eine abgestufte Darlegungs- und Beweislast bestehen10.
II. Beispiele 15
§ 3 I MTV Chemie Mehrarbeit ist die ber die tarifliche wçchentliche oder ber die in diesem Rahmen betrieblich festgelegte regelmßige tgliche Arbeitszeit hinausgehende Arbeitszeit ausschließlich der Pausen, soweit sie angeordnet war. Dies gilt nicht fr Teilzeit1 Derartige Bestimmungen sind regelmäßig dahin gehend auszulegen, dass nur die tatsächlich geleistete Arbeit den Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge auslöst; vgl. auch BAG v. 21.11.2001 – 5 AZR 296/00, NZA 2002, 439. 2 EuGH v. 6.12.2007 – Rs. C-300/06, DB 2008, 187. 3 BAG v. 25.7.1996 – 6 AZR 138/94, NZA 1997, 774. 4 Vgl. etwa § 2 I Abs. 5 MTV Chemie. 5 So für eine individualvertraglich vereinbarte Vergütungsregelung BAG v. 18.9.2001 – 9 AZR 307/00, DB 2002, 434; vgl. ferner BAG v. 17.1.1995 – 3 AZR 399/94, DB 1995, 1413; BAG v. 14.10.1997 – 7 AZR 562/96, n.v. 6 BAG v. 24.2.1960 – 4 AZR 475/57, AP Nr. 11 zu § 611 BGB Dienstordnung-Angestellte; vgl. ferner Hümmerich/Rech, NZA 1999, 1132 ff.; Schrader/Schubert, NZA-RR 2005, 225 ff.; Seel, DB 2005, 1330 ff. 7 BAG v. 16.1.1965 – 5 AZR 154/64, AP Nr. 1 zu § 1 AZO. 8 BAG v. 29.5.2002 – 5 AZR 370/01, NZA 2003, 120. 9 Vgl. hierzu auch Hümmerich/Rech, NZA 1999, 1132 ff. 10 BAG v. 24.10.2001 – 5 AZR 245/00, DB 2002, 1110.
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Mehrarbeitsregelungen
Rz. 16
Teil 5 (15)
beschftigte und Arbeitnehmer, die gemß § 2a Anspruch auf Altersfreizeiten haben, solange nicht die regelmßige tarifliche wçchentliche Arbeitszeit gemß § 2 I Ziffer 1 berschritten wird. Fr Arbeitnehmer in voll- und teilkontinuierlicher Wechselschichtarbeit ist Mehrarbeit die ber die in § 2 I Ziffer 2 genannten Grenzen hinausgehende Wochenarbeitszeit. Fr Arbeitnehmer mit gemß § 2 I Ziffer 3 abweichend festgelegten lngeren oder krzeren Regelarbeitszeiten ist die jeweils darber hinausgehende Arbeitszeit Mehrarbeit, soweit sie angeordnet ist. Die gemß § 2 vorgenommene anderweitige Verteilung der regelmßigen Arbeitszeit fhrt nicht zur Mehrarbeit. Geleistete Mehrarbeit ist durch Freizeit auszugleichen. Die Zuschlagspflicht bleibt hiervon unberhrt, sofern der Ausgleich nicht innerhalb eines Monats erfolgt. Kann der Freizeitausgleich wegen Krankheit, Urlaub, Dienstreise oder hnlichen Grnden nicht innerhalb eines Monats erfolgen, ist er sptestens in dem darauffolgenden Monat vorzunehmen. Erfolgt der Zeitausgleich nicht innerhalb der vorgenannten Zeitrume, ist er mit Ablauf von zwei weiteren Monaten einschließlich des Mehrarbeitszuschlages von 25 % in Freizeit auszugleichen. Bei notwendiger Mehrarbeit fr einzelne Arbeitnehmer oder Arbeitnehmergruppen, fr die ein Zeitausgleich aus betrieblichen oder arbeitsorganisatorischen Grnden nicht oder schwierig durchzufhren ist, kann der Arbeitgeber die geleisteten Mehrarbeitsstunden zuschlagspflichtig abgelten. Gelegentliche geringfgige berschreitungen der tglichen Arbeitszeit sind bei Arbeitnehmern der Gruppen E 9 bis E 13 mit dem Tarifentgelt abgegolten. § 5 Ziff. 1 Einheitlicher Manteltarifvertrag fr die Metall- und Elektroindustrie NRW 16 (EMTV) Mehrarbeit sind die ber die nach den §§ 3 und 4 festgelegte individuelle regelmßige tgliche Arbeitszeit hinaus geleisteten Arbeitsstunden; hierunter fallen nicht die Arbeitsstunden, die im Rahmen des § 4 Nr. 3 außerhalb der regelmßigen Arbeitszeit zum Ausgleich ausgefallener Arbeitsstunden vor- oder nachgearbeitete werden. Fr Beschftigte: berschreiten Beschftigte im Einzelfall die nach den §§ 3 und 4 festgelegte tgliche Arbeitszeit geringfgig und im Grenzfall um nicht mehr als eine halbe Stunde, so gilt dies nicht als Mehrarbeit, wenn diese Arbeitszeit im gegenseitigen Einvernehmen auf die regelmßige Arbeitszeit eines folgenden Arbeitstages angerechnet wird. Fr Auszubildende: Werden Auszubildende in begrndeten Ausnahmefllen nach Vereinbarung mit dem Betriebsrat ber die regelmßige Ausbildungszeit hinaus beschftigt, so ist hierfr ein entsprechender Freizeitausgleich zu gewhren. Bei Auszubildenden, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, kann unter sinngemßer Anwendung von § 6 Nr. 2a) und 4 verfahren werden.
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Teil 5 (15) Rz. 17
Katalog typischer Tarifnormen
Fr Teilzeitbeschftigte ist Mehrarbeit die Arbeitszeit, die ber die Dauer der regelmßigen tglichen Arbeitszeit vergleichbarer Vollzeitbeschftigter hinausgeht. Sind keine vergleichbaren Vollzeitbeschftigten vorhanden, ist Mehrarbeit die Arbeitszeit, die ber 7 Stunden pro Tag hinausgeht. Daher ist Arbeit an einem sonst fr den Teilzeitbeschftigten arbeitsfreien Tag Mehrarbeit. Mehrarbeit bis zu 16 Stunden im Monat kann im einzelnen Fall auch durch bezahlte Freistellung von der Arbeit ausgeglichen werden. Bei mehr als 16 Mehrarbeitsstunden im Monat kann der/die Beschftigte die Abgeltung durch bezahlte Freistellung von der Arbeit verlangen, soweit dem nicht dringende betriebliche Belange entgegenstehen. Der Freizeitausgleich hat in den folgenden drei Monaten zu erfolgen; in besonderen Fllen (z.B. Montagen) kann im Einvernehmen von Arbeitgeber und Beschftigten der Freizeitausgleich innerhalb von sechs Monaten erfolgen. Mehrarbeitszuschlge sind grundstzlich in Geld zu vergten. 17
§ 7 Abs. 6–8 TVçD (6) Mehrarbeit sind die Arbeitsstunden, die Teilzeitbeschftigte ber die vereinbarte regelmßige Arbeitszeit hinaus bis zur regelmßigen wçchentlichen Arbeitszeit von Vollbeschftigten (§ 6 Abs. 1 Satz 1) leisten. (7) berstunden sind die auf Anordnung des Arbeitgebers geleisteten Arbeitsstunden, die ber die im Rahmen der regelmßigen Arbeitszeit von Vollbeschftigten (§ 6 Abs. 1 Satz 1) fr die Woche dienstplanmßig bzw. betriebsblich festgesetzten Arbeitsstunden hinausgehen und nicht bis zum Ende der folgenden Kalenderwoche ausgeglichen werden. (8) Abweichend von Absatz 7 sind nur die Arbeitsstunden berstunden, die a) im Falle der Festlegung eines Arbeitszeitkorridors nach § 6 Abs. 6 ber 45 Stunden oder ber die vereinbarte Obergrenze hinaus, b) im Falle der Einfhrung einer tglichen Rahmenzeit nach § 6 Abs. 7 außerhalb der Rahmenzeit, c) im Falle von Wechselschicht- oder Schichtarbeit ber die im Schichtplan festgelegten tglichen Arbeitsstunden einschließlich der im Schichtplan vorgesehenen Arbeitsstunden, die bezogen auf die regelmßige wçchentliche Arbeitszeit im Schichtplanturnus nicht ausgeglichen werden, angeordnet worden sind.
18
§ 8 TVçD Ausgleich fr Sonderformen der Arbeit (1) Der/Die Beschftigte erhlt neben dem Entgelt fr die tatschliche Arbeitsleistung Zeitzuschlge. Die Zeitzuschlge betragen – auch bei Teilzeitbeschftigten – je Stunde a) fr berstunden in den Entgeltgruppen 1 bis 9 30 v.H., in den Entgeltgruppen 10 bis 15 15 v.H., (…) 456 Natzel
Mehrarbeitsregelungen
Rz. 21
Teil 5 (15)
Beim Zusammentreffen von Zeitzuschlgen nach Satz 2 Buchst. c bis f wird nur der hçchste Zeitzuschlag gezahlt. Auf Wunsch der/des Beschftigten kçnnen, soweit ein Arbeitszeitkonto (§ 10) eingerichtet ist und die betrieblichen/dienstlichen Verhltnisse es zulassen, die nach Satz 2 zu zahlenden Zeitzuschlge entsprechend dem jeweiligen Vomhundertsatz einer Stunde in Zeit umgewandelt und ausgeglichen werden. Dies gilt entsprechend fr berstunden als solche. Protokollerklrung zu Absatz 1 Satz 1: Bei berstunden richtet sich das Entgelt fr die tatschliche Arbeitsleistung nach der jeweiligen Entgeltgruppe und der individuellen Stufe, hçchstens jedoch nach der Stufe 4. (2) Fr Arbeitsstunden, die keine berstunden sind und die aus betrieblichen/dienstlichen Grnden nicht innerhalb des nach § 6 Abs. 2 Satz 1 oder 2 festgelegten Zeitraums mit Freizeit ausgeglichen werden, erhlt die/der Beschftigte je Stunde 100 v.H. des auf eine Stunde entfallenden Anteils des Tabellenentgelts der jeweiligen Entgeltgruppe und Stufe. Protokollerklrung zu Absatz 2 Satz 1: Mit dem Begriff „Arbeitsstunden“ sind nicht die Stunden gemeint, die im Rahmen von Gleitzeitregelungen im Sinne der Protokollerklrung zu § 6 anfallen, es sei denn, sie sind angeordnet worden. (…)
III. Kommentierung 1. § 3 I MTV Chemie (Rz. 15) Mehrarbeit ist für die chemische Industrie im TV als gesondert angeordnete, über die 19 tarifliche wöchentliche oder über die in diesem Rahmen betrieblich festgelegte regelmäßige tägliche Arbeitszeit hinausgehende Arbeitszeit definiert. Maßgeblich ist in erster Linie die regelmäßige tägliche Arbeitszeit. Nur in Ausnahmefällen kommt es auf die tarifliche wöchentliche Arbeitszeit an, nämlich wenn bspw. bei einer sonst üblichen Fünf-Tage-Woche Arbeit für den sechsten Werktag angeordnet wird. Arbeitet bspw. ein Arbeitnehmer der Normalschicht, der regulär von Montag bis Freitag 7,5 Stunden arbeitet, zusätzlich an einem Samstag, überschreitet er aber die tariflich wöchentliche Arbeitszeit deshalb nicht, weil er an einem anderen Tag in der Woche wegen Abfeierns von Mehrarbeit arbeitsfrei hatte, liegt Mehrarbeit nicht vor. In der chemischen Industrie erfolgt Arbeit vielfach in vollkontinuierlichen Schicht- 20 betrieben. Für diese ist als Mehrarbeit die über die wöchentliche Gesamtarbeitszeit hinausgehende Arbeit anzusehen. Wie sonst regelmäßig auch kann Mehrarbeit nur bei einer ausdrücklichen Anordnung 21 angenommen werden, dass die regelmäßige tägliche oder tarifliche wöchentliche Arbeitszeit überschritten werden soll.
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Teil 5 (15) Rz. 22
Katalog typischer Tarifnormen
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Soweit von dem für die chemische Industrie geltenden Arbeitszeitkorridor Gebrauch gemacht wird, ist Maßstab für die Annahme von Mehrarbeit die vereinbarte längere oder kürzere regelmäßige betriebliche Arbeitszeit. Bei Teilzeitbeschäftigten ist auf die regelmäßige tarifliche wöchentliche Arbeitszeit abzustellen. Bei ihnen führt erst die Überschreitung der 37,5 Stunden-Woche zur Mehrarbeit1.
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Die anderweitige Verteilung der regelmäßigen Arbeitszeit führt nicht zur Mehrarbeit. Auch führen Zeitguthaben aus Arbeitszeitkonten nicht zur Mehrarbeit. Gleiches gilt für Zeitguthaben bei gleitender Arbeitszeit im Sinne von § 2 V MTV.
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Für Arbeitnehmer mit Arbeitsbereitschaft enthält der TV an anderer Stelle eine gesonderte Mehrarbeitsregelung. Danach kann Mehrarbeit erst dann angenommen werden, soweit Arbeitsleistung außerhalb der Arbeits- und Arbeitsbereitschaftszeit, d.h. in der Zeit der Bereitschaftsruhe, erbracht wird.
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Geleistete Mehrarbeit ist grundsätzlich durch Freizeit auszugleichen. Erfolgt der Freizeitausgleich innerhalb eines Monats, entfällt der Mehrarbeitszuschlag. Die Monatsfrist ist nach den Bestimmungen des § 187 Abs. 1 und § 188 Abs. 2 BGB zu berechnen; es handelt sich also nicht um einen Kalendermonat.
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Da nach der Grundregel des TVes Mehrarbeit durch Freizeit auszugleichen ist, kann der Arbeitgeber vor Ablauf der Monatsfrist durch Freistellung des Arbeitnehmers innerhalb dieser Frist einseitig den Freizeitausgleich veranlassen. Dabei sind sowohl die betrieblichen als auch persönlichen Belange des Arbeitnehmers zu berücksichtigen. Entscheidend nach dem Wortlaut des TVes ist, dass der Freizeitausgleich bei vernünftiger Betrachtungsweise in dem Monatszeitraum tatsächlich gewährt werden kann. Kann der Freizeitausgleich wegen Krankheit, Urlaub, Dienstreise oder ähnlichen Gründen nicht innerhalb eines Monats vorgenommen werden, ist er spätestens in dem darauffolgenden Monat vorzunehmen.
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Erfolgt der Zeitausgleich nicht innerhalb der vorgenannten Zeiträume, ist er innerhalb von zwei weiteren Monaten einschließlich des Mehrarbeitszuschlags von 25 % in Freizeit auszugleichen. Das bedeutet, dass für eine Stunde Mehrarbeit eine Stunde und 15 Minuten Freizeitausgleich zu gewähren sind. Die im TV normierte Zwei-Monats-Frist für den Zeitausgleich ist eine Ordnungsnorm. Auch bei einer ausnahmsweisen Überschreitung der Zwei-Monats-Frist ist die Mehrarbeit einschließlich des Mehrarbeitszuschlags grundsätzlich in Freizeit auszugleichen. Dies kann bspw. der Fall sein, wenn durch unvorhersehbare Reparaturarbeiten an der Anlage der betreffende Arbeitnehmer innerhalb des Zwei-Monats-Zeitraums die volle tarifliche Arbeitszeit oder zusätzliche Mehrarbeit leisten muss, er also aus objektiven betrieblichen Gründen nicht freigestellt werden kann. 2. § 5 Ziff. 1 EMTV (Rz. 16)
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§ 5 Ziff. 1 EMTV sieht als Mehrarbeit die Arbeitsstunden an, die über die individuelle tägliche Arbeitszeit hinausgeht. Entscheidend ist also die individuelle tägliche Arbeitszeit, sofern es sich nicht um Vor- und Nacharbeit handelt. Die Mehrarbeitsregelung hat also – wie die meisten tarifvertraglichen Regelungen auch – einen Tages1 BAG v. 25.7.1996 – 6 AZR 138/94, NZA 1997, 774.
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Mehrarbeitsregelungen
Rz. 34
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bezug. Dieser setzt voraus, dass für jeden Arbeitnehmer die tägliche Arbeitszeit von Vornherein feststeht. Die Tarifregelung nimmt Fälle der Vor- und Nacharbeit aus der Mehrarbeitsregelung heraus. Damit sind die Fälle gemeint, dass aus bestimmten Fällen wie Betriebsfeiern oder auf eigenen Wunsch hin ausfallende Arbeit vor- oder nachgeholt wird1.
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Wie in anderen Tarifbereichen auch gilt es zu beachten, dass der Grad der Flexibilisierung der Arbeitszeit darüber entscheidet, ob der zusätzliche Anfall von Arbeit als Mehrarbeit zu behandeln ist oder im Rahmen der üblichen Verteilung der Arbeitszeit auf Schwankungen beim Bedarf nach Arbeitskraft reagiert wird2.
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Auch wenn ein Passus wie „angeordnete Mehrarbeit“ oder „soweit sie angeordnet 31 war“ fehlt, ist auch vorliegend davon auszugehen, dass die über die arbeitsvertraglich vereinbarte Arbeitszeit geleistete Arbeit angeordnet oder zumindest billigend entgegengenommen worden ist3. Der TV enthält eine Regelung zum Freizeitausgleich, die wiederum durch den für die 32 Metall- und Elektroindustrie abgeschlossenen TV Besch ergänzt wird4. § 5 Ziff. 1 MTV differenziert zwischen Mehrarbeit bis und über 16 Stunden. Bei monatlicher Mehrarbeit bis zu 16 Stunden ist die Mehrarbeit vorbehaltlich einer anderweitigen Vereinbarung durch Geld auszugleichen. Wird der Arbeitnehmer zu mehr als 16 Stunden Mehrarbeit im Monat herangezogen, hat er einen durchsetzbaren Anspruch auf Freizeitausgleich, soweit dem nicht dringende betriebliche Belange entgegenstehen. Dieser Anspruch soll sich laut BAG5 auf sämtliche Mehrarbeitsstunden beziehen. Er muss innerhalb von drei Monaten nach dem Anfall der Mehrarbeit erfüllt werden. Der Arbeitgeber legt den Freizeitausgleich nach billigen Ermessen fest; er hat dabei 33 eine angemessene Ankündigungsfrist zu wahren6. Erkrankt der Arbeitnehmer im Zeitpunkt der bezahlten Freistellung, gilt das Glück-Pech-Prinzip; der Arbeitgeber braucht also die Freizeit nicht nachzugewähren7. Erfolgt ein Freizeitausgleich, handelt es sich hierbei um eine bezahlte Freistellung für 34 die geleistete Mehrarbeit. Es wird aber nur die Arbeit als solche durch die Freistellung abgegolten; der Mehrarbeitszuschlag entfällt dadurch nicht8. Allerdings können aufgrund des seit Anfang 1997 für die Metallindustrie geltenden TV Besch die Betriebsparteien ergänzend zu der manteltarifvertraglichen Mehrarbeitsregelung durch freiwillige Betriebsvereinbarung festlegen, dass die Mehrarbeit ganz oder teilweise durch Freizeit ausgeglichen wird; dann werden Mehrarbeitszuschläge nicht fällig9.
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Ziepke/Weiss, § 5 MTV Anm. 1. Ziepke/Weiss, § 5 MTV Anm. 1. Ziepke/Weiss, § 5 MTV Anm. 1. Vgl. dort § 5, wonach ergänzend zu § 5 I Nr. 1 EMTV die Betriebsparteien durch freiwillige Betriebsvereinbarung vereinbaren können, dass Mehrarbeitsstunden ganz oder teilweise durch Freizeit ausgeglichen werden. BAG v. 24.1.1990 – 4 AZR 468/89, NZA 1990, 533. Ziepke/Weiss, § 5 MTV Anm. 5. Ziepke/Weiss, § 5 MTV Anm. 5. Ziepke/Weiss, § 5 MTV Anm. 5. Ziepke/Weiss, § 5 MTV Anm. 5.
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Teil 5 (15) Rz. 35
Katalog typischer Tarifnormen
3. § 7 Abs. 6–8 TvöD (Rz. 17) 35
Der TVöD versteht unter Überstunden vom Arbeitgeber angeordnete Arbeitszeiten, die über die im Rahmen der regelmäßigen Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten für die Woche dienstplanmäßig bzw. betriebsüblich festgesetzten Arbeitsstunden hinausgehen und nicht bis zum Ende der folgenden Kalenderwoche ausgeglichen werden. Der Begriff Mehrarbeit wird lediglich explizit für eine Regelung für Teilzeitbeschäftigte verwandt. Er meint dort die Arbeitsstunden, die über die vereinbarte regelmäßige Arbeitszeit hinaus bis zur regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von Vollbeschäftigten geleistet werden. Damit wird die eingangs vollzogene Abgrenzung zwischen Mehr- und Überarbeit umgedreht mit der Folge, dass Überstunden im dem TVöD unterfallenden Arbeitsverhältnis besser vergütet werden als Mehrarbeit.
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Auch der TVöD enthält eine Regelung zum Ausgleich durch Freizeit. So werden angeordnete Überstunden erst zuschlagspflichtig, wenn sie bis zum Ende der folgenden Kalenderwoche nicht ausgeglichen werden. Zur Vermeidung von Mehrarbeit kann aber auch ein wöchentlicher Arbeitszeitkorridor von bis zu 45 Stunden durch Betriebs- oder Dienstvereinbarung eingerichtet werden. Allerdings sieht der TV zugleich vor, dass die durchschnittliche Wochenarbeitszeit im einjährigen Ausgleichszeitraum erreicht werden muss. Die Regelung dient damit nicht wie bspw. die der chemischen Industrie der Variierung der Arbeitszeitdauer insgesamt, sondern der Verteilung der Arbeitszeit innerhalb eines Ausgleichszeitraums. Erfolgt kein Zeitausgleich innerhalb des Ausgleichszeitraumes, ist die über die tarifvertraglich festgelegte Arbeitszeit hinausgehende Arbeit mit 100 % des individuellen Entgelts zzgl. etwaiger Zuschläge auszugleichen.
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Die Höhe der Zuschläge für Überstunden ist im TVöD nach Entgeltstufen gestaffelt. Ebenso wie bei der dargestellten Chemieregelung geht der TV vom vorrangigen Ausgleich durch Freizeit aus. Kommt es nicht zum Ausgleich, ist dem Arbeitnehmer neben dem Überstundenzuschlag auch das Stundenentgelt zu gewähren. Dessen Bemessung richtet sich also nach dem Entgelt für die tatsächliche Arbeitsleistung entsprechend der jeweiligen Entgeltgruppe und der individuellen Stufe, höchstens jedoch nach der Stufe 4 (s. Protokoll-Erklärung zu § 8 Abs. 1 Satz 1 TVöD).
(16) Meistbegünstigungsklauseln Literatur: Hanau, Die tarifvertragliche Meistbegünstigung im öffentlichen Dienst, ZTR 2008, 234; Rieble/Klebeck, Tarifvertragliche Meistbegünstigung, RdA 2006, 65; Waas, Firmentarifvertrag und verbandstarifvertragliche Meistbegünstigungsklausel, ZTR 2000, 341.
I. Zweck und Kontext 1 Meistbegünstigungsklauseln bestehen in aller Regel aus zwei Elementen. Zunächst aus einer Verpflichtung der TV-Parteien, keine günstigeren TVe mit Dritten abzuschließen. Des Weiteren wird für den Fall, dass ein solcher TV dennoch abgeschlossen wird, der anderen TV-Partei ein Recht eingeräumt, die abweichenden günstigeren
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Katalog typischer Tarifnormen
3. § 7 Abs. 6–8 TvöD (Rz. 17) 35
Der TVöD versteht unter Überstunden vom Arbeitgeber angeordnete Arbeitszeiten, die über die im Rahmen der regelmäßigen Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten für die Woche dienstplanmäßig bzw. betriebsüblich festgesetzten Arbeitsstunden hinausgehen und nicht bis zum Ende der folgenden Kalenderwoche ausgeglichen werden. Der Begriff Mehrarbeit wird lediglich explizit für eine Regelung für Teilzeitbeschäftigte verwandt. Er meint dort die Arbeitsstunden, die über die vereinbarte regelmäßige Arbeitszeit hinaus bis zur regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von Vollbeschäftigten geleistet werden. Damit wird die eingangs vollzogene Abgrenzung zwischen Mehr- und Überarbeit umgedreht mit der Folge, dass Überstunden im dem TVöD unterfallenden Arbeitsverhältnis besser vergütet werden als Mehrarbeit.
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Auch der TVöD enthält eine Regelung zum Ausgleich durch Freizeit. So werden angeordnete Überstunden erst zuschlagspflichtig, wenn sie bis zum Ende der folgenden Kalenderwoche nicht ausgeglichen werden. Zur Vermeidung von Mehrarbeit kann aber auch ein wöchentlicher Arbeitszeitkorridor von bis zu 45 Stunden durch Betriebs- oder Dienstvereinbarung eingerichtet werden. Allerdings sieht der TV zugleich vor, dass die durchschnittliche Wochenarbeitszeit im einjährigen Ausgleichszeitraum erreicht werden muss. Die Regelung dient damit nicht wie bspw. die der chemischen Industrie der Variierung der Arbeitszeitdauer insgesamt, sondern der Verteilung der Arbeitszeit innerhalb eines Ausgleichszeitraums. Erfolgt kein Zeitausgleich innerhalb des Ausgleichszeitraumes, ist die über die tarifvertraglich festgelegte Arbeitszeit hinausgehende Arbeit mit 100 % des individuellen Entgelts zzgl. etwaiger Zuschläge auszugleichen.
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Die Höhe der Zuschläge für Überstunden ist im TVöD nach Entgeltstufen gestaffelt. Ebenso wie bei der dargestellten Chemieregelung geht der TV vom vorrangigen Ausgleich durch Freizeit aus. Kommt es nicht zum Ausgleich, ist dem Arbeitnehmer neben dem Überstundenzuschlag auch das Stundenentgelt zu gewähren. Dessen Bemessung richtet sich also nach dem Entgelt für die tatsächliche Arbeitsleistung entsprechend der jeweiligen Entgeltgruppe und der individuellen Stufe, höchstens jedoch nach der Stufe 4 (s. Protokoll-Erklärung zu § 8 Abs. 1 Satz 1 TVöD).
(16) Meistbegünstigungsklauseln Literatur: Hanau, Die tarifvertragliche Meistbegünstigung im öffentlichen Dienst, ZTR 2008, 234; Rieble/Klebeck, Tarifvertragliche Meistbegünstigung, RdA 2006, 65; Waas, Firmentarifvertrag und verbandstarifvertragliche Meistbegünstigungsklausel, ZTR 2000, 341.
I. Zweck und Kontext 1 Meistbegünstigungsklauseln bestehen in aller Regel aus zwei Elementen. Zunächst aus einer Verpflichtung der TV-Parteien, keine günstigeren TVe mit Dritten abzuschließen. Des Weiteren wird für den Fall, dass ein solcher TV dennoch abgeschlossen wird, der anderen TV-Partei ein Recht eingeräumt, die abweichenden günstigeren
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Meistbegnstigungsklauseln
Rz. 4 Teil 5 (16)
Regelungen aus diesem TV ganz oder teilweise1 zu übernehmen. Diese Befugnis kann auf einzelne Regelungsgegenstände, wie etwa die Arbeitszeit, beschränkt sein. Die TV-Parteien verfolgen mit sog. Meistbegünstigungsklauseln unterschiedliche 2 Ziele. Für die Arbeitgeber geht es zunächst um die Ausschaltung von Unterbietungskonkurrenz durch abweichende, günstigere TVe, die die Gewerkschaft mit einzelnen Unternehmen oder anderen Verbänden schließt. Meistbegünstigungsklauseln bezwecken in diesem Fall, Anreize zum Verbandsaustritt zu beseitigen, die durch Unterbietungskonkurrenz entstehen. Daneben ist dem Arbeitgeberverband die Aufrechterhaltung der Verhandlungssolidarität seiner Mitglieder wichtig. Er hat in ihrem Interesse darauf zu achten, dass einzelne Verbandsmitglieder nicht aus dem abgeschlossenen FlächenTV durch günstigere FirmenTVe ausbrechen, weil ansonsten die Attraktivität des Verbandes und seiner TVe geschmälert wird2. Für die Gewerkschaften dienen Meistbegünstigungsklauseln in erster Linie dazu, die Einigungsbereitschaft der Arbeitgeberseite zu erhöhen, indem durch die Meistbegünstigungsklausel die Absicherung vergleichbarer Wettbewerbsbedingungen angeboten wird. Eine andere Bedeutung können solche Regelungen bei tarifpluralen Strukturen erhalten (vgl. Rz. 6). Meistbegünstigungsklauseln sind schuldrechtliche Regelungen im TV3. Sie berechti- 3 gen und verpflichten daher ausschließlich die Parteien des TVs. Deswegen kann eine Meistbegünstigungsklausel die Wirksamkeit von TVen, deren Abschluss gegen sie verstößt, nicht hindern4. Ebenso wenig beeinflussen Meistbegünstigungsklauseln die Fähigkeit zum Abschluss von abweichenden TVen5. Meistbegünstigungsklauseln führen auch nicht zu einer automatischen Übernahme abweichender Regelungen aus anderen TVen6. Damit bleibt eine solche Vereinbarung zunächst weitgehend wirkungslos. Deswegen wird sie in der Praxis mit einer (wechselseitigen) schuldrechtlichen Ver- 4 pflichtung verbunden, die Regelungen des unter Verstoß gegen die Meistbegünstigungsklausel abgeschlossenen TVs, in den TV, der durch die Meistbegünstigungsklausel gesichert wird, zu übernehmen. Sobald ein günstigerer abweichender TV mit einer anderen TV-Partei geschlossen wird, gilt dies zugleich als Angebot auf Übernahme der abweichenden Regelungen in das durch die Meistbegünstigungsklausel gesicherte Tarifwerk. Dieses Angebot muss nur noch durch die andere Partei des TVs angenommen werden7. Dabei wird der TV-Partei, die sich auf die Meistbegünstigungsklausel beruft, bisweilen ein Wahlrecht eingeräumt, die abweichenden Bestimmungen ganz oder lediglich teilweise8 in den TV zu übernehmen.
1 Krit. Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 201 Rz. 18. 2 Witt, Der Firmentarifvertrag, 2004, S. 306. 3 ArbG Berlin v. 4.1.2008 – 91 Ca 7827/07, ZTR 2008, 250 (251); Waas, ZTR 2000, 341 (344); Witt, Der Firmentarifvertrag, 2004, S. 306 f. 4 BAG v. 8.10.2008 – 5 AZR 8/08, NZA 2009, 98 (100); Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 201 Rz. 17. 5 BAG v. 8.10.2008 – 5 AZR 8/08, NZA 2009, 98 (100). 6 Witt, Der Firmentarifvertrag, 2004, S. 306. 7 ArbG Berlin v. 4.1.2008 – 91 Ca 7827/07, ZTR 2008, 250 (251). 8 Hiergegen erheben ArbG Berlin v. 4.1.2008 – 91 Ca 7827/07, ZTR 2008, 250 (251) und Schaub/ Treber, ArbR-Hdb., § 201 Rz. 18, Bedenken.
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Katalog typischer Tarifnormen
5 Ob eine TV-Partei sich auf die Meistbegünstigungsklausel berufen kann, richtet sich nach der Ausgestaltung der jeweiligen Klausel im TV und ist damit Auslegungsfrage (zur Auslegung des schuldrechtlichen Teils von TVen vgl. Teil 4)1. So kann etwa die Meistbegünstigungsklausel auf bestimmte Regelungsgegenstände beschränkt sein oder eine bestimmte Form der Abweichung zu ihrem Gegenstand machen. 6 Mit Blick auf den zunehmenden Koalitionspluralismus2 erscheint es auch denkbar, dass die Arbeitgeberseite einer Gewerkschaft eine Meistbegünstigungsklausel mit Blick auf die TVe von konkurrierenden Gewerkschaften anbietet, um mit dieser eine Einigung zu erreichen. Dies könnte insbesondere dann in Betracht kommen, wenn in einem Unternehmen Spartengewerkschaften für einzelne Berufsgruppen günstigere Arbeitsbedingungen auszuhandeln versuchen. Der Arbeitgeber kann dann einer Gewerkschaft, die für die übrige Belegschaft verhandelt, anbieten, dass der TV zunächst für das gesamte Unternehmen abgeschlossen wird und eine spätere, abweichende, günstigere Vereinbarung mit der Spartengewerkschaft in das Tarifwerk übernommen wird (Partizipationsklausel). Auf diesem Weg kann eine schnellere Befriedung von Tarifauseinandersetzungen erreicht werden, wenn eine Synchronisierung der Tarifverhandlungen mit den im Betrieb vorhandenen Gewerkschaften nicht möglich ist oder fehlschlägt. Eine solche Gestaltung ist nur bei einem Nebeneinander von Tarifverträgen i.S.d. § 4a Abs. 2 Satz 1 TVG (vgl. R Teil 9 Rz. 116) oder bei Regelungen möglich, für die vereinbart ist, dass sich keine der TV-Parteien auf § 4a Abs. 2 TVG berufen wird (vgl. R Teil 9 Rz. 151 ff.). 7 Meistbegünstigungsklauseln haben bislang vor allem im BRTV und im TVöD eine Rolle gespielt. Der TV Meistbegünstigung vom 9.2.2005 sicherte dem Bund und der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) zu, dass, sofern mit einem oder mehreren Bundesländern ein TV mit günstigeren Regelungen mit Blick auf Arbeitszeit und Sonderzahlungen sowie das Entgelt vereinbart werden sollte, dies als Angebot auf Übernahme der Gesamtheit oder Teile dieser Regelungen durch ver.di anzusehen sei. Ziel des TVs war es, dafür zu sorgen, dass die Bedingungen für Bund und Kommunen nicht schlechter sind als die der Länder, und eine Vereinheitlichung der im TV Meistbegünstigung bezeichneten Regelungsgegenstände zu bewirken. Da eine Übernahme der Regelungen des TVöD durch die Länder von ver.di nicht erreicht werden konnte, kam es zu einer hochkomplexen Regelung der Arbeitszeit in § 6 TV-L3. Diese sollte bewirken, dass die Rechtsfolge der Meistbegünstigungsklausel nicht ausgelöst wird. Ob dies der Fall war, war umstritten4. Der Streit ist mittlerweile beigelegt, der TV Meistbegünstigung ist von ver.di zum 31.12.2007 fristgerecht gekündigt worden. Eine Nachwirkung war ausgeschlossen5. 8 Die Wirksamkeit von tarifvertraglichen Meistbegünstigungsklauseln wird unter einer Vielzahl von Gesichtspunkten bestritten. Gleichwohl sind Meistbegünstigungsklau-
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ArbG Berlin v. 4.1.2008 – 91 Ca 7827/07, ZTR 2008, 250 (251). Vgl. dazu im vorliegenden Zusammenhang Krebber, RdA 2011, 23 (29 f.). Vgl. dazu Rieger, ZTR 2006, 402 (403 f.). Ablehnend ArbG Berlin v. 4.1.2008 – 91 Ca 7827/07, ZTR 2008, 250; vgl. dazu Hanau, ZTR 2008, 234 ff. 5 Vgl. hierzu Gaumann in Bepler/Böhle/Meerkamp/Russ, Beck-OK TV-L, Anhang zu § 6 Rz. 9.1.
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Meistbegnstigungsklauseln
Rz. 10
Teil 5 (16)
seln wirksam1. Sie sind nicht zuletzt als Mittel der Bestandserhaltung für Arbeitgeberverbände von der in Art. 9 Abs. 3 GG enthaltenen Betätigungsgarantie verfassungsrechtlich geschützt. Meistbegünstigungsklauseln führen nicht dazu, dass eine oder beide TV-Parteien sich 9 (in verfassungswidriger Weise) ihrer Tarifverantwortung begeben, weil ihre Freiheit zu differenzierender Tarifpolitik beschnitten wird2. Da eine Meistbegünstigungsklausel die Befugnis zum Abschluss inhaltlich abweichender TVe nicht beschränkt, kommt eine Verletzung von Art. 9 Abs. 3 GG nicht in Betracht. Im Übrigen wird die entsprechende Regelung von jeder TV-Partei autonom herbeigeführt. Sie muss bei Tarifverhandlungen mit Dritten lediglich die Rechtsfolgen, die ein TV aufgrund der Meistbegünstigungsklauseln haben kann, bedenken. Dies ist unproblematisch, weil sie die Klausel in Kenntnis solcher zukünftigen TV-Verhandlungen schließt. Dementsprechend ist davon auszugehen, dass Meistbegünstigungsklauseln auch in Ansehung solcher potentiellen zukünftigen TVe von der tarifschließenden Gewerkschaft für sachgerecht gehalten werden3. Dies gilt auch umgekehrt für die TVe, die sie nach Abschluss der Meistbegünstigungsklausel schließt. In engem Zusammenhang mit der Überlegung, die Gewerkschaft begebe sich in ver- 10 fassungswidriger Weise ihrer Tarifverantwortung, steht ein weiteres Argument gegen die Wirksamkeit von Meistbegünstigungsklauseln. So wird angenommen, diese seien als unzulässige dynamische Verweisung auf einen fremden TV anzusehen4. Die Gewerkschaft verletze ihre Tarifverantwortung gegenüber ihren Mitgliedern, wenn sie der ganzen oder teilweisen Übernahme von Regelungen aus einem anderen TV zustimme. Denn dessen Richtigkeitsgewähr beziehe sich auf andere Sachverhalte und werde darüber hinaus noch dadurch, dass lediglich Teile der Regelungen übernommen werden könnten, aufgehoben. Dies ist bereits im Ausganspunkt unzutreffend, weil die Meistbegünstigungsklausel sich ausschließlich auf TVe bezieht, die die Gewerkschaft selbst abschließt5. Diese werden von ihr in Kenntnis der Meistbegünstigungsklausel abgeschlossen6. Die Klausel ist auch nicht dynamisch gefasst, sondern setzt mehrere Zwischenakte (Abschluss des TVs und Ausübung des Rechts auf Übernahme) voraus7. Richtigerweise wird man davon ausgehen dürfen, dass die TV-Parteien die Meistbegünstigungsklausel bei nachfolgenden TV-Verhandlungen im Blick haben, so dass davon auszugehen ist, dass abweichende Regelungen in Ansehung der Meistbegünstigungsklausel als sachgerecht anzusehen sind8. Deswegen verkennt es auch die Wirkungsweise von Meistbegünstigungsklauseln, wenn davon ausgegangen
1 Für die Wirksamkeit: Hanau, ZTR 2008, 234; Däubler/Reim/Ahrendt, § 1 TVG Rz. 1073; Thüsing/Burg, FS Otto, 2008, S. 555 (564 ff.); Witt, Der Firmentarifvertrag, 2004, S. 306 f.; dagegen HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 73; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 77 f.; Rieble/Klebeck, RdA 2006, 65 ff.; Söllner, Sonderbeilage zu NZA Heft 24/2000, 33 (39). 2 A.A. Bayreuther, Tarifautonomie, S. 317; Bonin, Standortsicherung versus Tarifbindung, 2003, S. 320; Rieble/Klebeck, RdA 2006, 65 (68). 3 Dies übersehen Rieble/Klebeck, RdA 2006, 65 (68). 4 A.A. Hanau, ZTR 2008, 234 (236 f.). 5 Thüsing/Burg, FS Otto, 2008, S. 555 (565). 6 Waas, ZTR 2000, 341 (346). 7 Witt, Der Firmentarifvertrag, 2004, S. 306. 8 Thüsing/Burg, FS Otto, 2008, S. 555 (565); Waas, ZTR 2000, 341 (346).
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Katalog typischer Tarifnormen
wird1, diese führten zu einer Übertragung der Tarifverantwortung auf Dritte. Der TV, der die Rechtsfolgen der Meistbegünstigungsklausel auslöst, wird von der durch die Meistbegünstigungsklausel verpflichteten Gewerkschaft selbst verantwortet2. Dass dies in Verhandlungen mit einer anderen TV-Partei geschieht, ist irrelevant. Die Gewerkschaft kann deren Forderungen ablehnen, wenn sie sie in Ansehung der Meistbegünstigungsklausel für sachwidrig hält3. 11
Dementsprechend liegt in der Vereinbarung einer Meistbegünstigungsklausel auch kein Verstoß einer TV-Partei gegen die Tarifverantwortung im Innenverhältnis zu ihren Mitgliedern4. Sie verliert durch die Meistbegünstigungsklausel weder ihre Tariffähigkeit noch werden TVe, die gegen die Meistbegünstigungsklausel verstoßen, unwirksam. Deswegen liegt auch kein unzulässiger Grundrechtsverzicht vor, wenn eine Meistbegünstigungsklausel in einem TV vereinbart wird5. Die Entscheidung, einem TV-Partner eine Meistbegünstigung zu gewähren, ist vielmehr verfassungsrechtlich geschützte Ausübung der Koalitionsfreiheit und Ausübung des tarifpolitischen Mandats. Ob sich eine Gewerkschaft in Ansehung der Notwendigkeit, bei zukünftigen Tarifverhandlungen die Meistbegünstigung im Blick zu haben, binden will, ist von ihr autonom im Rahmen ihrer Einschätzungsprärogative zu beurteilen6. Treten unüberbrückbare Schwierigkeiten auf, bleibt die Möglichkeit, den TV mit der Meistbegünstigungsklausel zu kündigen oder bei der nächsten Tarifrunde eine solche nicht mehr abzuschließen.
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Soweit darüber hinaus vertreten wird, die Koalitions- und Vertragsfreiheit Dritter werde unzumutbar beeinträchtigt, weil ihnen durch die Meistbegünstigungsklausel „der verhandlungsbereite Gegenspieler abhanden“ komme7, ist dies unzutreffend. Das Gleiche gilt für die Annahme, die Meistbegünstigungsklausel nehme den Arbeitgebern, die nicht am TV beteiligt sind, (faktisch) ihre Tariffähigkeit8. Schon der tatsächliche Ausgangspunkt ist unzutreffend. Auf Gewerkschaftsseite steht ein Verhandlungspartner zum Abschluss von TVen bereit. Dieser ist lediglich nicht zu jedem vom Arbeitgeber gewünschten Abschluss gewillt. Diese Folge der Meistbegünstigungsklausel ist unbedenklich. Einzelne Arbeitgeber oder andere Arbeitgeberverbände mögen ein Interesse am Abschluss von TVen mit der Gewerkschaft haben. Dieses mag auch darauf gerichtet sein, einen günstigeren TV abzuschließen, als dies der Partei des TVs mit der Meistbegünstigungsklausel gelungen ist. Indes ist dieses Interesse rechtlich nicht geschützt9. Es gibt keinen Anspruch eines Arbeitgebers auf Aufnahme von Tarifverhandlungen durch eine Gewerkschaft. Noch weniger muss sich diese auf bestimmte Inhalte eines TVs einlassen. Verfügt der Arbeitgeber über genügend soziale Macht, um einen abweichenden TV durchzusetzen, so kann ihn die Meistbegünstigungsklausel hieran nicht hindern10. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Bayreuther, Tarifautonomie, S. 318. Waas, ZTR 2000, 341 (346). Im Erg. ähnlich ArbG Berlin v. 4.1.2008 – 91 Ca 7827/07, ZTR 2008, 250 (251 f.). So aber: Bayreuther, Tarifautonomie, S. 317; Rieble/Klebeck, RdA 2006, 65 (69). So aber: Bayreuther, Tarifautonomie, S. 317. Hanau, ZTR 2008, 234 (237). So, wenn auch widersprüchlich, Rieble/Klebeck, RdA 2006, 65 (68). So wohl Bonin, Standortsicherung versus Tarifbindung, 2003, S. 322. A.A. Rieble/Klebeck, RdA 2006, 65 (71 f.). Dies übersehen Rieble/Klebeck, RdA 2006, 65 (71 f.).
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Meistbegnstigungsklauseln
Rz. 17
Teil 5 (16)
Soweit vereinzelt in Meistbegünstigungsklauseln ein unzulässiger Vertrag mit Last- 13 wirkungen für Dritte gesehen wird1, verkennt dies bereits die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit solche Verträge unwirksam sind2. Das allgemeine Interesse am Erhalt der durch die Teilnahme am Rechtsverkehr offen stehenden Vereinbarungschancen ist kein derartig verfestigtes Recht, dass jeder dagegen verstoßende Vertrag ein Vertrag zulasten Dritter und damit unwirksam ist3. Vielmehr kann dieses Interesse nur im Einzelfall mit den berechtigten Regelungsinteressen der an dem Vertragswerk mit Drittwirkung beteiligten Parteien abgewogen werden4. Für Meistbegünstigungsklauseln gibt es aber erhebliche, verfassungsrechtlich geschützte Interessen der TV-Parteien (vgl. Rz. 2, 6). Die entgegenstehenden Interessen sind größtenteils weder verfassungsrechtlich noch einfachrechtlich geschützt. Die Interessenabwägung fällt daher in aller Regel zugunsten der Parteien des TVs mit der Meistbegünstigungsklausel aus.
II. Beispiel § 17 Bundesrahmentarifvertrag fr das Baugewerbe vom 4. Juli 2002 in der Fassung vom 17. Dezember 2003, 14. Dezember 2004, 29. Juli 2005, 19. Mai 2006 und 20. August 2007 (BRTV-Bau) – Durchfhrung des Vertrages
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Die Tarifvertragsparteien verpflichten sich, mit anderen Organisationen und einzelnen Arbeitgebern keine Tarifvertrge zu vereinbaren, die von diesem Tarifvertrag inhaltlich abweichen. Schließt eine Tarifvertragspartei gleichwohl einen Satz 1 widersprechenden Tarifvertrag ab, so kann die andere Tarifvertragspartei verlangen, dass die abweichenden Bestimmungen ganz oder teilweise Inhalt dieses Tarifvertrages werden. Die Tarifvertragsparteien verpflichten sich, gemeinsam die Allgemeinverbindlicherklrung zu beantragen.
III. Kommentierung § 17 BRTV-Bau weist keine wesentlichen Besonderheiten auf. Er wirkt als schuldrechtliche Regelung nur zwischen den Parteien des TVs (vgl. Rz. 3). § 17 Satz 1 BRTVBau enthält eine Verpflichtung der TV-Parteien, mit anderen Organisationen und einzelnen Arbeitgebern keine inhaltlich abweichenden TVe zu vereinbaren.
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§ 17 Satz 2 BRTV-Bau sieht vor, dass, sofern eine TV-Partei einen Satz 1 widerspre- 16 chenden TV abschließt, die andere TV-Partei verlangen kann, dass dessen abweichende Bestimmungen ganz oder teilweise Inhalt dieses TVs werden. Ein TV, der die Rechtsfolgen der Meistbegünstigungsklausel auslöst, liegt nicht nur dann vor, wenn Mitglieder des Arbeitgeberverbandes einen abweichenden FirmenTV
1 Rieble/Klebeck, RdA 2006, 65 (69). 2 Thüsing/Burg, FS Otto, 2008, S. 555 (564 f.); vgl. dazu Strauß/Ulber D., Anm. zu BAG EzA Art. 9 GG Nr. 104. 3 Martens, AcP 177 (1977), 112 (137). 4 Martens, AcP 177 (1977), 112 (137).
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Teil 5 (16) Rz. 18
Katalog typischer Tarifnormen
abschließen, sondern bei jedem anderen von einer der TV-Parteien geschlossenen TV1. Auch Sanierungs-TVe können erfasst sein. 18
Nach § 17 BRTV-Bau ist auch die teilweise Übernahme von Regelungen möglich. Alleine mit der Möglichkeit der teilweisen Übernahme von Regelungen ist aber noch nichts darüber gesagt, ob eine Regelung teilbar ist. Es spricht einiges dafür, dass Regelungen inhaltlich derart eng mit einander verknüpft sein können, dass eine teilweise Übernahme nicht möglich ist. Dies ist eine Frage der Auslegung des jeweiligen TVs.
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§ 17 BRTV ist wirksam. Dies gilt für die Meistbegünstigungsklausel insgesamt, also auch insoweit, als sie nicht nur die vollständige Übernahme der abweichenden Regelungen gestattet, sondern auch deren teilweise Übernahme ermöglicht. Soweit man hiergegen Bedenken haben könnte, weil dies es ermöglicht, Regelungen auseinanderzureißen und damit den Kompromisscharakter und die Richtigkeitsgewähr des TVs aufzulösen2, greifen diese nicht durch. Zunächst werden die entsprechenden Regelungen in Kenntnis der Meistbegünstigungsklausel vereinbart, so dass davon auszugehen ist, dass die TV-Parteien sie auch mit Blick auf deren Rechtsfolgen als sachgerecht angesehen haben (vgl. Rz. 9 ff.). Des Weiteren ist der TV, in den die Regelungen übernommen werden, von den TV-Parteien in Ansehung der Meistbegünstigungsklausel als sachgerecht angesehen worden.
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Besonderheiten ergeben sich mit Blick auf die Allgemeinverbindlicherklärung des BRTV. Die Meistbegünstigungsklausel nimmt als schuldrechtliche Abrede nicht an der Allgemeinverbindlicherklärung teil3. Der Gebrauch von der Meistbegünstigungsklausel führt die gleichen Rechtsfolgen herbei, die auch ansonsten bei einer Änderung eines für allgemeinverbindlich erklärten TVs entstehen (vgl. Teil 7 Rz. 104 ff.)4.
(17) Öffnungsklauseln/Genehmigungsvorbehalte Literatur: Dieterich, Flexibilisiertes Tarifrecht und Grundgesetz, RdA 2002, 1; Gentz, Werden die geltenden Tarifverträge der betrieblichen Praxis gerecht?, in: Festschrift für Schaub, 1998, S. 205; Heinze, Tarifautonomie und Günstigkeitsprinzip, NZA 1991, 329; Heinze, Gibt es eine Alternative zur Tarifautonomie?, DB 1996, 729; Heinze, Anforderungen an einen zukunftsfähigen Flächentarifvertrag – Brauchen wir ein neues Tarifrecht?, in: Festschrift für Weinspach, 2002, S. 103; v. Hoyningen-Huene/Meier-Krenz, Flexibilisierung des Arbeitsrechts durch Verlagerung tariflicher Regelungskompetenzen auf den Betrieb, ZfA 1988, 293; Kissel, Das Spannungsfeld zwischen Betriebsvereinbarung und Tarifvertrag, NZA 1986, 73; Kittner, Öffnung des Flächentarifvertrags, in: Festschrift für Schaub, 1998, S. 389; Meyer, Tarifvertragliche Öffnung zugunsten betrieblicher Bündnisse für Arbeit in memoriam Frau Christel Finke-Hollweg, SAE 2011, 215; Natzel, Gesetzliche Öffnungsklausel im Kommen?, NZA 2005, 903; Natzel, Subsidiaritätsprinzip im kollektiven Arbeitsrecht, ZfA 2003, 103; Rieble, Öffnungsklausel und Tarifverantwortung, ZfA 2004, 405.
1 Waas, ZTR 2000, 341 (345 f.). 2 ArbG Berlin v. 4.1.2008 – 91 Ca 7827/07, ZTR 2008, 250 (251); Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 201 Rz. 19. 3 Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 161 ff. 4 Waas, ZTR 2000, 341 (346).
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Teil 5 (16) Rz. 18
Katalog typischer Tarifnormen
abschließen, sondern bei jedem anderen von einer der TV-Parteien geschlossenen TV1. Auch Sanierungs-TVe können erfasst sein. 18
Nach § 17 BRTV-Bau ist auch die teilweise Übernahme von Regelungen möglich. Alleine mit der Möglichkeit der teilweisen Übernahme von Regelungen ist aber noch nichts darüber gesagt, ob eine Regelung teilbar ist. Es spricht einiges dafür, dass Regelungen inhaltlich derart eng mit einander verknüpft sein können, dass eine teilweise Übernahme nicht möglich ist. Dies ist eine Frage der Auslegung des jeweiligen TVs.
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§ 17 BRTV ist wirksam. Dies gilt für die Meistbegünstigungsklausel insgesamt, also auch insoweit, als sie nicht nur die vollständige Übernahme der abweichenden Regelungen gestattet, sondern auch deren teilweise Übernahme ermöglicht. Soweit man hiergegen Bedenken haben könnte, weil dies es ermöglicht, Regelungen auseinanderzureißen und damit den Kompromisscharakter und die Richtigkeitsgewähr des TVs aufzulösen2, greifen diese nicht durch. Zunächst werden die entsprechenden Regelungen in Kenntnis der Meistbegünstigungsklausel vereinbart, so dass davon auszugehen ist, dass die TV-Parteien sie auch mit Blick auf deren Rechtsfolgen als sachgerecht angesehen haben (vgl. Rz. 9 ff.). Des Weiteren ist der TV, in den die Regelungen übernommen werden, von den TV-Parteien in Ansehung der Meistbegünstigungsklausel als sachgerecht angesehen worden.
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Besonderheiten ergeben sich mit Blick auf die Allgemeinverbindlicherklärung des BRTV. Die Meistbegünstigungsklausel nimmt als schuldrechtliche Abrede nicht an der Allgemeinverbindlicherklärung teil3. Der Gebrauch von der Meistbegünstigungsklausel führt die gleichen Rechtsfolgen herbei, die auch ansonsten bei einer Änderung eines für allgemeinverbindlich erklärten TVs entstehen (vgl. Teil 7 Rz. 104 ff.)4.
(17) Öffnungsklauseln/Genehmigungsvorbehalte Literatur: Dieterich, Flexibilisiertes Tarifrecht und Grundgesetz, RdA 2002, 1; Gentz, Werden die geltenden Tarifverträge der betrieblichen Praxis gerecht?, in: Festschrift für Schaub, 1998, S. 205; Heinze, Tarifautonomie und Günstigkeitsprinzip, NZA 1991, 329; Heinze, Gibt es eine Alternative zur Tarifautonomie?, DB 1996, 729; Heinze, Anforderungen an einen zukunftsfähigen Flächentarifvertrag – Brauchen wir ein neues Tarifrecht?, in: Festschrift für Weinspach, 2002, S. 103; v. Hoyningen-Huene/Meier-Krenz, Flexibilisierung des Arbeitsrechts durch Verlagerung tariflicher Regelungskompetenzen auf den Betrieb, ZfA 1988, 293; Kissel, Das Spannungsfeld zwischen Betriebsvereinbarung und Tarifvertrag, NZA 1986, 73; Kittner, Öffnung des Flächentarifvertrags, in: Festschrift für Schaub, 1998, S. 389; Meyer, Tarifvertragliche Öffnung zugunsten betrieblicher Bündnisse für Arbeit in memoriam Frau Christel Finke-Hollweg, SAE 2011, 215; Natzel, Gesetzliche Öffnungsklausel im Kommen?, NZA 2005, 903; Natzel, Subsidiaritätsprinzip im kollektiven Arbeitsrecht, ZfA 2003, 103; Rieble, Öffnungsklausel und Tarifverantwortung, ZfA 2004, 405.
1 Waas, ZTR 2000, 341 (345 f.). 2 ArbG Berlin v. 4.1.2008 – 91 Ca 7827/07, ZTR 2008, 250 (251); Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 201 Rz. 19. 3 Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 161 ff. 4 Waas, ZTR 2000, 341 (346).
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ffnungsklauseln/Genehmigungsvorbehalte
Rz. 3 Teil 5 (17)
I. Zweck und Kontext Das zweigliedrige System kollektiven Interessenausgleiches einerseits auf betriebli- 1 cher Ebene und andererseits auf tariflicher Ebene zielt darauf ab, Konflikte aus den Betrieben herauszuhalten. Es beruht auf der Grundüberlegung, dass auf betrieblicher Ebene mit besonderen Rechten und Pflichten ausgestattete, dafür aber ohne ein Arbeitskampfrecht versehene Betriebsparteien zum Wohle der Arbeitnehmer und des Betriebs zusammenarbeiten (§ 2 Abs. 1 BetrVG). TV-Parteien sind keinem vergleichbaren Reglement unterworfen, besitzen aber das Arbeitskampfrecht, das anstelle der betriebsverfassungsrechtlich geregelten Zwangsschlichtung tritt. Dies entledigt die TV-Parteien zwar nicht von der Verpflichtung zur Zusammenarbeit, zeigt aber wohl die unterschiedliche Funktionswahrnehmung durch die Betriebs- und TV-Parteien1. Allerdings können die Systeme kollektiver Interessenwahrnehmung einerseits auf betrieblicher, andererseits auf tarifvertraglicher Ebene nicht getrennt voneinander gesehen werden. Vielmehr greifen sie immer intensiver ineinander, wie die Praxis immer zahlreicher werdender Öffnungsklauseln belegt, mit denen das System des FlächenTVes in Zeiten des Europäischen Binnenmarktes und der Globalisierung durch Möglichkeiten differenzierter Ausgestaltung tarifvertraglich vorgegebener Rahmenbedingungen flexibilisiert wurde und wird. Durch dieses Zusammenspiel wird gewährleistet, dass mit Mitteln des TVes in seiner friedens- und ordnungsstiftenden Funktion Rahmenbedingungen geschaffen werden, die ein Höchstmaß an Akzeptanz genießen, zugleich aber auf den Betrieb zugeschnittene Lösungen ermöglichen2. Mittels tarifvertraglicher Öffnungsklauseln wird die Möglichkeit eingeräumt, vom TV 2 abweichende Regelungen zu treffen. Ihre rechtliche Grundlage finden sie in § 4 Abs. 3 TVG, wonach die TV-Parteien von ihren Tarifnormen abweichende Abmachungen gestatten können. Sie verzichten damit auf die zwingende Normwirkung ihrer tarifvertraglichen Regelungen, setzen anstelle dessen dispositives Recht und machen dadurch den TV für die Betriebe sowie die dort Beschäftigten letztlich handhabbar3. Von „Delegation der Tarifmacht“ insoweit zu sprechen, lehnt das BAG ab. Soweit von Öffnungsklauseln Gebrauch gemacht wird, wird nach Auffassung des BAG nicht aufgrund einer Ermächtigung der TV-Parteien gehandelt, da in Wahrnehmung der gesetzlichen Regelungsbefugnis gehandelt werde4. Soweit also Öffnungsklauseln eine Abweichung vom TV ermöglichen, gewinnen die Betriebsparteien, ggf. aber auch die Parteien des Individualarbeitsvertrags eine Regelungsbefugnis, die ihnen ohne die Tariföffnung nicht zustehen würde; die Öffnung ist damit aber nicht zugleich mit einer Ermächtigung oder Delegation verbunden5. Selbstverständlich geht es bei der Frage nach Flexibilisierung von Arbeitsbedingungen 3 um wirtschaftliche Aspekte der Unternehmen, weshalb es zuallererst um ein Abweichen tariflicher Mindeststandards zuungunsten von Arbeitnehmern geht, um einen Kosteneffekt zu erreichen; einer Regelung für ein Abweichen zugunsten von Arbeit-
1 Dazu auch Dieterich, RdA 2002, 1 ff.; Natzel, NZA 2005, 903 ff. 2 S. dazu auch Gentz, FS Schaub, S. 214 f.; Natzel, NZA 2005, 904. 3 Heinze, NZA 1997, 7, hat insoweit auch eine „Krise des Flächentarifvertrags“ zurück-, wohl aber auf die Frage der „Handhabung des Flächentarifvertrags“ hingewiesen. 4 BAG v. 20.8.1991 – 1 ABR 85/90, NZA 1992, 317; s. hierzu auch Rieble, ZfA 2004, 405 ff. 5 Rieble, ZfA 2004, 411.
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nehmern bedarf es von vorherein nicht, da dies aufgrund des § 4 Abs. 3 TVG innewohnenden Günstigkeitsprinzips stets zulässig ist1. Allerdings stehen die wirtschaftlichen Aspekte nicht für sich alleine, wie Regelungen zur Einstellung und Förderung leistungsschwacher oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder die Öffnung des Tarifentgelts zugunsten der Anlage in Systemen der betrieblichen Altersversorgung belegen. Solche Regelungen zeigen, dass die Ausübung von Kollektivautonomie keinen Selbstzweck darstellt, sondern eine auf die Privatautonomie des Einzelnen bezogene Hilfsfunktion hat2. Diese kann auch begrenzend wirken, nämlich dort, wo sie Privatautonomie zu überlagern droht3. Hier gilt es für TV-Parteien, durch eine Gestattung abweichender Vereinbarungen nach § 4 Abs. 3 TVG vorzubeugen. Dies kann in unterschiedlicher Form erfolgen, was im Rahmen der tarifvertraglichen Gestattung selbst zu bestimmen ist. Sie kann eine Abweichung durch einen anderen TV, Betriebs- oder Individualvereinbarung vorsehen4. Auch wenn § 4 Abs. 3 TVG von abweichenden „Abmachungen“ spricht, kann die tarifvertragliche Gestattung auch Abweichungen vom tarifvertraglich Geregelten zulassen, indem sie dem Arbeitgeber Gestaltungsrechte zugesteht5. Diese wirken direktionsrechtserweiternd und werden in der Praxis vielfach als Kompensationsinstrument dann eingesetzt, wenn eine tarifvertragliche Regelung rechtsbeschränkend wirkt oder dem Arbeitgeber zusätzliche Belastungen aufbürdet, wie es etwa bei kündigungsbeschränkenden Regelungen der Fall sein kann. 4 Die hier zu behandelnden Öffnungsklauseln haben als Bezugspunkt eine normativ wirkende Tarifregelung, von der abgewichen werden kann. Wird von der Öffnungsklausel kein Gebrauch gemacht, gilt also das tariflich Geregelte. Damit unterscheiden sich tarifvertragliche Öffnungsklauseln von ergänzungsbedürftigen/-fähigen Rahmenregelungen6. Solche auch als Bestimmungsklauseln bezeichneten Regelungen kennzeichnen sich dadurch aus, dass der TV bestimmte Arbeitsbedingungen nicht in allen Einzelheiten regelt, sondern der Konkretisierung bedarf7. Die Umsetzung der durch die Bestimmungsklausel eingeräumten Befugnis macht also den TV erst handhabbar. Die Zulässigkeit solcher Klauseln steht fest. Allerdings fordert das BAG aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit, dass die Bestimmungsklausel hinsichtlich des anvisierten Adressaten sowie des Umfangs hinreichend bestimmt ist8. Die in Ausübung des Bestimmungsrechts getroffene Regelung ergänzt den Tarifinhalt und schafft damit Normen, die wie Tarifvorschriften wirken und auch deren rechtliches Schicksal teilen. Sie enden mit dem Auslaufen des TVes, der die rechtliche Grundlage ihrer Entstehung geschaffen hat. Sieht der nachfolgende TV keine Bestimmungsklausel mehr vor, ist auch kein Raum mehr für den Fortbestand von Regelungen, die aufgrund einer solchen Klausel entstanden sind, es sei denn, ihr Fortbestand würde einzelvertraglich ausdrücklich vereinbart9. Macht der Arbeitgeber von der Be-
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S. auch MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 182 Rz. 2 ff. Heinze, NZA 1991, 331; Natzel, NZA 2005, 904. Heinze, DB 1996, 729; Natzel, NZA 2005, 905; Natzel, ZfA 2003, 111. MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 182 Rz. 1; Rieble, ZfA 2004, 407. MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 182 Rz. 7. MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 182 Rz. 8. v. Hoyningen-Huene/Meier-Krenz, ZfA 1988, 295. BAG v. 28.11.1984 – 5 AZR 195/83, DB 1985, 183. BAG v. 28.11.1984 – 5 AZR 195/83, DB 1985, 183.
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Rz. 7 Teil 5 (17)
stimmungsklausel Gebrauch, hat er – gerichtlich nachprüfbar – den Vorgaben des TVes zu folgen und die Grundsätze billigen Ermessens zu berücksichtigen1. Wird die Konkretisierung beiden Betriebsparteien auferlegt2, ersetzt die Richtigkeitsvermutung der einvernehmlichen Regelung die Billigkeitskontrolle. Auch wenn dies teilweise thematisiert wurde3, kann die tarifvertragsrechtliche, aber 5 auch verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit tarifvertraglicher Öffnungsklauseln nicht in Frage gestellt werden4. Insbesondere liegt auch keine Entäußerung der Tarifmacht vor, da die TV-Parteien diese auch bei Öffnung ihrer TVe beibehalten und die zwingende Wirkung ihrer Tarifregelungen stets im Rahmen der Ausübung der ihnen zustehenden Tarifautonomie durch Aufgabe der Öffnung herbeiführen können. Sie delegieren damit also nicht ihre Rechtsetzungskompetenz, sondern verzichten auf diese, ohne sie aber zu verlieren5. Von einer Tariföffnungsklausel ist die sog. Tarifoption zu unterscheiden. Auch hier 6 wird eine Tarifmaterie für (regelmäßig freiwillige) Betriebsvereinbarungen geöffnet, wobei die TV-Parteien Leitlinien für die betriebliche Ausgestaltung den Betriebsparteien mit an die Hand geben6. Ein solches Modell haben bspw. die TV-Parteien der chemischen Industrie mit dem im Jahre 2002 vereinbarten Modell einer erfolgsabhängigen Gestaltung der tariflichen Jahresleistung geregelt7. Dieses lässt eine variable Gestaltung der auf 95 % eines Tarifentgelts festgelegten Jahresleistung in einer Bandbreite von 80 % und 125 % in Abhängigkeit zur wirtschaftlichen Situation des Betriebes oder des Unternehmens zu. 1. Möglichkeiten der Abweichung Öffnungsklauseln können die Abweichung tariflich festgelegter Arbeitsbedingungen 7 durch einen TV vorsehen8. Dieser muss wiederum wirksam abgeschlossen sein. Allerdings ist ein solcher TV nicht mittels Arbeitskampfes erzwingbar, soweit bereits ein FlächenTV besteht. Denn dann sperrt bereits dieser TV, von dem abgewichen werden soll, kraft seiner friedensstiftenden Funktion selbst. Es gilt somit auch hier der Grundsatz: Haben die TV-Parteien eine Regelung getroffen, greift die Friedenspflicht; haben sie indes eine Materie ungeregelt gelassen, ist diese einem Arbeitskampf zugänglich9.
1 v. Hoyningen-Huene/Meier-Krenz, ZfA 1988, 295. 2 So z.B. § 14 MTV für die chemische Industrie, wonach „betrieblich im Einvernehmen mit dem Betriebsrat“ eine Verdienstsicherung für den Fall festzulegen ist, dass ein älterer Arbeitnehmer auf einen Arbeitsplatz mit geringeren Anforderungen unverschuldet versetzt wird. 3 S. dazu etwa Kempen/Zachert, TVG, Grundl. Rz. 266; Kissel, NZA 1986, 73 ff. 4 Vgl. dazu Rieble, ZfA 2004, 405. 5 Rieble, ZfA 2004, 407 ff., spricht daher zutreffend von einer „Selbstbeschränkung“ der TV-Parteien. 6 Fehlgehend daher Kittner, FS Schaub, S. 410 f., der das Modell der Tarifoption mangels eines nach § 1 TVG erforderlichen Tarifinhaltes ablehnt. Dieser Inhalt ist gerade angesichts der Vorgabe von Leitlinien gegeben. 7 S. § 5a TV über Einmalzahlungen und Altersvorsorge v. 18.9.2001 i.d.F. v. 9.6.2008. 8 S. hierzu auch Dieterich, RdA 2002, 5. 9 MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 182 Rz. 32.
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8 Vielfach bildet die Betriebsvereinbarung das Gestaltungsmittel zur Festlegung vom Tarif abweichender Arbeitsbedingungen. Dabei kann die Öffnungsklausel nach Maßgabe des § 4 Abs. 3 TVG die zwingende Wirkung beseitigen, was zugleich zur Folge hat, dass die Sperrwirkung des § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG entfällt. Ob darüber hinaus den Betriebsparteien eine umfassende, die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG beseitigende Regelungskompetenz zugestanden sein soll, ist anhand des Einzelfalls zu ermitteln1. Es liegt in der Hand der TV-Parteien, inwieweit sie die Regelungsbefugnis auf die Betriebsparteien verlagern. Das BAG verneinte insoweit im Rahmen seiner Entscheidung zum sog. Leber-Kompromiss2, von einer delegierten Regelungsbefugnis zu sprechen, da die Betriebsparteien bei der Ausgestaltung einer tariflichen Rahmenregelung in Wahrnehmung ihrer gesetzlichen Regelungsbefugnisse handeln würden, und verwies auf Gefahren, wenn materielle Arbeitsbedingungen in größerem Umfang nicht durch TV selbst geregelt, sondern auf die Betriebsparteien verlagert werde. Ob es hierauf aber ankommt, ist fraglich. Denn letztlich geht es darum, ob die TV-Parteien auf den gesetzlich gewährleisteten Tarifvorrang im Rahmen der Ausübung ihrer Tarifautonomie bestehen oder nicht3. Die Tarifautonomie und Rechtssetzungsbefugnis besteht; inwieweit und in welcher Form TV-Parteien davon Gebrauch machen, obliegt aufgrund ihrer grundgesetzlich gewährten Betätigungsfreiheit ihnen. 9 In der Praxis stellt den wohl häufigsten Fall der Abweichungsmöglichkeit die Öffnungsklausel zur Abweichung durch Betriebsvereinbarung dar. § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG sieht dies als Regelungsmodell ausdrücklich vor. Mittels einer solchen Regelung soll die nach § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG den Betriebsparteien entzogene Gestaltungsmacht in dem durch die TV-Parteien bestimmten Umfang zurückgegeben werden4. 10
Im Regelfall ist vorgesehen, dass die Abweichung kraft freiwilliger Betriebsvereinbarung erfolgt. Teilweise geschieht dies durch die Benennung der Abweichungsmöglichkeit durch „freiwillige Betriebsvereinbarung“5 oder den Verweis auf § 76 Abs. 6 BetrVG, dessen Anwendung gerade voraussetzt, dass es sich nicht um eine Materie der erzwingbaren Mitbestimmung handelt, die einigungsstellenfähig wäre6. Auch die Formulierung „kann durch Betriebsvereinbarung geregelt werden“ weist auf die Freiwilligkeit der Vereinbarung hin7. Ihr Abschluss kann in all diesen Fällen nicht über die Einigungsstelle erzwungen werden8. Wird die Betriebsvereinbarung freiwillig abgeschlossen, ist zu prüfen, ob sie ganz oder teilweise nachwirken soll. Dies zu verein-
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MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 182 Rz. 29. BAG v. 18.8.1987 – 1 ABR 30/86, NZA 1987, 779. Kritisch insoweit aber Kittner, FS Schaub, S. 403 ff. BAG v. 20.4.1999 – 1 AZR 631/98, SAE 2000, 109 m. Anm. Natzel. So kann bspw. in der chemischen Industrie der Zeitraum für die Verteilung der Arbeitszeit durch „freiwillige Betriebsvereinbarung“ von 12 auf bis zu 36 Monate verlängert werden (§ 2 I Ziff. 1 Abs. 3 MTV Chemie). 6 So kann in der chemischen Industrie die Lage von Altersfreizeiten „unter Berücksichtigung des § 76 Abs. 6 BetrVG“ geregelt werden (§ 2a MTV Chemie). 7 So „kann durch Betriebsvereinbarung“ in der chemischen Industrie das Modell der gleitenden Arbeitszeit eingeführt werden (§ 2 V MTV Chemie). 8 BAG v. 28.2.1984 – 1 ABR 37/82, NZA 1984, 230.
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ffnungsklauseln/Genehmigungsvorbehalte
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baren, ist möglich1 und hat zur Folge, dass die Betriebsvereinbarung weiter unmittelbare Wirkung auch nach ihrer Beendigung behält. Öffnungsklauseln, die eine Abweichung vom tariflich Gebotenen „mit Zustimmung 11 des Betriebsrats“2 oder „im Einvernehmen mit dem Betriebsrat“3 ermöglichen, verpflichten den Arbeitgeber bei Ingebrauchnahme der Öffnung zwingend, den Betriebsrat mit einzuschalten. Anderweitig kann er von der Öffnung nicht Gebrauch machen. Erzwingbar wird damit die Regelung allerdings nicht notwendigerweise. Sieht bspw. ein TV vor, dass die Betriebsparteien eine vom TV um 2 1/2 Stunden geringere oder höhere betriebliche Arbeitszeit vereinbaren können4, kann der Betriebsrat zwar nicht eine derartige Regelung verlangen; der Arbeitgeber ist allerdings auch daran gehindert, eine abweichende Arbeitszeit ohne Beteiligung des Betriebsrats durchzusetzen. Soll „unter Beachtung des gesetzlichen Mitbestimmungsrechts“ von einer Öffnungsklausel Gebrauch gemacht werden können5, ist hierin lediglich ein Verweis auf das ohnehin bestehende Mitbestimmungsrecht zu sehen.
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Soweit eine betriebliche Regelung zustande kommt, ist deren Wirkungsweise nicht 13 unproblematisch, da mit der Ingebrauchnahme der Öffnung Arbeitnehmer erfasst werden, die ansonsten mangels Zugehörigkeit zur Gewerkschaft nicht von der Tarifwirkung erfasst worden wären. Während v. Hoyningen-Huene/Meier-Krenz6 für Bestimmungsklauseln die Auffassung vertreten, dass die Betriebsparteien über die betriebliche Regelung nicht den Mangel einer Tarifgebundenheit des Arbeitnehmers überwinden können, führen sie zur Ingebrauchnahme einer Öffnungsklausel durch Betriebsvereinbarung aus, diese könne unbeschadet einer Gewerkschaftszugehörigkeit die Normwirkung auf alle Arbeitnehmer eines Betriebs erstrecken und damit auch nicht organisierte Arbeitnehmer erfassen. Der betrieblichen Normsetzung seien alle Arbeitnehmer unterworfen, zumal sie über den von ihnen gewählten Betriebsrat als ihren Repräsentanten an der Normsetzung beteiligt sind; eine Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit könne hierin nicht gesehen werden. Dem ist zuzustimmen. Denn die Regelungsbefugnis der Betriebsparteien folgt der Betriebsautonomie, die als Folge der Beseitigung der Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG durch die Öffnung des TVes für entsprechende Betriebsvereinbarungen wieder auflebt7. Diese Auffassung trägt auch der Rechtsprechung des BAG Rechnung, nach der die Betriebspartner auch materielle Arbeitsbedingungen regeln können, wenn die TV-Parteien durch eine Öffnungsklausel die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG beseitigen8. 1 S. BAG v. 28.4.1998 – 1 ABR 43/97, NZA 1998, 1348. 2 So können in der chemischen Industrie Schichtübergabezeiten „mit Zustimmung des Betriebsrats“ festgelegt werden (§ 2 I Ziff. 2 Abs. 1 MTV Chemie). 3 So kann in der chemischen Industrie die Arbeitszeit für einzelne Arbeitnehmergruppen oder mit Zustimmung der TV-Parteien für größere Betriebsteile oder Betriebe „im Einvernehmen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat“ bis zu 2 1/2 Stunden abweichend von der tariflichen Arbeitszeit festgelegt werden (§ 2 I Ziff. 3 MTV Chemie). 4 So etwa im Fall vorerwähnten Arbeitszeitkorridors (des § 2 I Nr. 3 MTV Chemie). 5 So kann in der chemischen Industrie „unter Beachtung des gesetzlichen Mitbestimmungsrechts“ Kurzarbeit eingeführt werden (§ 7 MTV Chemie). 6 S. zu dieser Problematik v. Hoyningen-Huene/Meier-Krenz, ZfA 1998, 297 f. 7 Buchner, NZA 1986, 378; Buchner, DB 1985, 916; v. Hoyningen-Huene/Meier-Krenz, ZfA 1998, 304. 8 BAG v. 18.8.1987 – 1 ABR 30/86, NZA 1987, 779.
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Wenngleich es in der Praxis eher der Ausnahmefall ist, kann eine Öffnungsklausel auch die Abweichung vom tariflich Vorgegebenen kraft individualvertraglicher Vereinbarung vorsehen. 2. Umfang und Grenzen der Abweichung
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Ob und unter welchen Voraussetzungen von dem tariflich Normierten abgewichen werden kann, bestimmen die TV-Parteien1. Sie legen also fest, unter welchen formellen wie materiellen Voraussetzungen von einer Abweichungsmöglichkeit Gebrauch gemacht werden kann. Soweit der TV für Betriebsvereinbarungen geöffnet ist, muss er klar und eindeutig bestimmen, ob er lediglich für ergänzende oder abweichende Vereinbarungen geöffnet sein soll2. Stets begrenzt sind die TV-Parteien insoweit durch übergeordnetes Recht; sie müssen also insbesondere die Grenzen ihrer Tarifmacht wahren und unterliegen den Bindungen der Grundrechte3. a) Abweichung und Genehmigungsvorbehalt
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Wenngleich dies nicht zwingend ist, wird in der Praxis vielfach die Ingebrauchnahme einer Öffnungsklausel von der Zustimmung der TV-Parteien abhängig gemacht. Ein solcher Zustimmungsvorbehalt dient dazu sicherzustellen, dass die Voraussetzungen der Ingebrauchnahme einer Öffnungsklausel gegeben sind. Das BAG4 hat zu einer Tariföffnungsklausel, nach der die TV-Parteien einer von den Tarifregelungen abweichenden Betriebsvereinbarung zustimmen „sollen“, die Wirkung einer schuldrechtlichen Vereinbarung zugesprochen.5 Diese betreffe das Rechtsverhältnis zwischen den TVParteien und begründe gegenseitige Verhaltens- und Behandlungspflichten hinsichtlich der Einhaltung des tarifvertraglich geregelten Verfahrens zur Gewährung einer Abweichung vom tarifvertraglichen Normalstandard. Auch wenn die dieser Entscheidung zugrundeliegende Öffnungsklausel mit dem Wort „sollen“ bereits einen zwingenden Charakter aufwies mit der Folge, dass die unterlassene Zustimmung gewichtiger Gründe im Einzelfall bedurfte, kommt dieser Entscheidung eine grundlegende Bedeutung für die Fälle zu, dass die Öffnungsklausel ein Zustimmungsverfahren vorsieht. Denn die TV-Parteien trifft kraft des schuldrechtlichen Teils ihrer Vereinbarung die Pflicht, für die Umsetzung ihrer tarifvertraglichen Regelung Sorge zu tragen, wozu die Einhaltung eines tariflichen Mindeststandard ebenso gehören kann wie die tarifvertraglich vorgesehene Abweichung davon. Dies führt das BAG auch unter Berufung auf den Sinn und Zweck der jener Entscheidung zugrundeliegenden Öffnungsklausel aus, die dem Zweck der Beschäftigungssicherung und der Wettbewerbsverbesserung verfolgte. Eine solche Öffnungsklausel diene dem Ausgleich von Unzulänglichkeiten, die sich aus einer gleichförmigen und einheitlichen Anwendung der flächentarifvertraglichen Bestimmungen ergeben können. Das vereinbarte Zustimmungserfordernis qualifizierte das BAG insoweit als Verfahrensregelung, die den TV-Parteien diene, in gleicher Weise darüber zu wachen, dass die Möglichkeit einer abweichenden Regelung 1 2 3 4 5
MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 182 Rz. 9 ff. Kort, NZA 2001, 479. MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 182 Rz. 13 ff. sowie 22 ff. BAG v. 20.10.2010 – 4 AZR 105/09, NZA 2010, 468 m. Anm. Meyer in SAE 2011, 215 ff. Dgl. auch bezogen auf einen tariflichen Zustimmungsvorbehalt für eine Outsourcing-Maßnahme: BAG v. 26.1.2011 – 4 AZR 159/09, NZA 2011, 808.
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ohne Verstoß gegen das Tarifrecht und nach einheitlichen Kriterien erfolge. Die Ausübung des Zustimmungsrechts liege damit nicht im freien Belieben der TV-Parteien; auch insoweit gelten – so das BAG – die Bedingungen des Gleichheitssatzes. b) Wirkung der Abweichung Das, was eine Öffnungsklausel an Abweichungsmöglichkeiten zulässt, tritt an die 17 Stelle des tariflich Normierten. Es wirkt also wie das tariflich Normierte. Lässt also bspw. eine Öffnungsklausel zu, dass der Tarifsatz X um einen bestimmten Prozentsatz unterschritten werden kann, wirkt das um diesen Satz reduzierte Entgelt als echtes Tarifentgelt, an dem sich dann ggf. alle weiteren Leistungen (z.B. Zulagen, Zuschläge, Jahresleistung) zu bemessen haben. In zeitlicher Hinsicht können TV-Parteien auch rückwirkend eine Abweichung vom 18 TV zulassen. Allerdings ist eine solche Rückwirkung laut BAG durch die Grundsätze des Vertrauensschutzes begrenzt1. Dabei zieht das BAG die gleichen Grenzen wie bei der Rückwirkung von Gesetzen2. Danach gilt, dass rückwirkend der Normgeber auf bereits entstandene und fällige Rechtspositionen nur einwirken kann, wenn der Normadressat im Zeitpunkt des rückwirkenden Inkrafttretens der Norm keinen hinreichenden Vertrauensschutz auf den Fortbestand der bisherigen Rechtslage genießt. Die zeitliche Dauer der Geltung der abweichenden Regelung zu bestimmen, obliegt 19 den TV-Parteien. Diese können vorsehen, dass abweichende Regelungen nur einmalig zulässig sind. Ebenso können sie bestimmen, dass abweichende Regelungen nur befristet abgeschlossen werden können; dann greift nach Ablauf der Befristung wieder das tariflich Geregelte. Schließlich kann die Öffnungsklausel Abweichungen vom Tarif auf unbefristete Dauer zulassen. Solche Regelungen sehen aber regelmäßig ein Kündigungsrecht vor. Für den Fall, dass dieses ausgeübt wird, wirkt die abweichende Regelung nicht nach, wenn – was der überwiegenden Praxis entspricht – die TV-Parteien die Abweichungsmöglichkeit kraft freiwilliger Betriebsvereinbarung bestimmen. Allerdings können die Betriebsparteien die Nachwirkung der freiwilligen betrieblichen Regelung auch vereinbaren3. Dies kann unbefristet wie befristet geschehen. Allerdings ist bei der vereinbarten Nachwirkung zu beachten, dass sie vorbehaltlich einer anderweitigen Regelung nur solche Arbeitnehmer erfasst, die beim Auslaufen der befristeten Betriebsvereinbarung bereits in einem Arbeitsverhältnis stehen. Insofern kann es sich empfehlen, zugleich zu regeln, dass die nachwirkende Betriebsvereinbarung auch auf neu eingetretene Arbeitnehmer anzuwenden ist.
II. Beispiele Fn. 1 zum MTV Chemie
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Arbeitgeber und Betriebsrat kçnnen unter Bercksichtigung der tariflichen Mindestbestimmungen ergnzend zu diesem Manteltarifvertrag Betriebsvereinbarungen im Sinne des § 77 Abs. 3 BetrVG unter Beachtung des § 76 Abs. 6 BetrVG abschließen. Das 1 BAG v. 20.4.1999 – 1 AZR 631/98, SAE 2000, 109 m. Anm. Natzel. 2 BAG v. 20.4.1999 – 1 AZR 631/98, SAE 2000, 109 m. Anm. Natzel. 3 Hanau, NZA-Beil. 2/1985, 3.
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gilt nicht fr die §§ 1, 4, 5, 7, 8, 10, 17 und 18 dieses Tarifvertrages. Bis zum Inkrafttreten dieses Tarifvertrages aufgrund der bisherigen ffnungsklausel abgeschlossene, andere tarifliche Bestimmungen ergnzende Betriebsvereinbarungen wirken unabhngig von dieser ffnungsklausel rechtsgltig weiter. Zur Sicherung der Beschftigung oder zur Verbesserung der Wettbewerbsfhigkeit gegenber tarifkonkurrierenden Bereichen kçnnen Arbeitgeber und Betriebsrat mit Zustimmung der Tarifvertragsparteien fr Unternehmen, Betriebe und Betriebsabteilungen durch befristete Betriebsvereinbarung von den bezirklichen Tarifentgeltstzen abweichende niedrigere Entgeltstze unter Beachtung des § 76 Absatz 6 BetrVG vereinbaren. In der Betriebsvereinbarung kann geregelt werden, dass sie nach Ablauf unbefristet weiter gilt. Tarifkonkurrierend sind solche Tarifvertrge, die sich mit dem fachlichen Geltungsbereich des Manteltarifvertrages der chemischen Industrie berschneiden oder unter deren Geltungsbereich das Unternehmen, der Betrieb oder die Betriebsabteilung bei einer Ausgliederung oder Umstrukturierung fallen wrde. Zwischen den Tarifvertragsparteien besteht Einvernehmen darber, dass zur Sicherung der Beschftigung oder Verbesserung der Wettbewerbsfhigkeit im Einzelfall abweichende tarifliche Regelungen auch in firmenbezogenen Tarifvertrgen zwischen dem BAVC und der IG BCE vereinbart werden kçnnen. Soweit die tarifliche Regelung auch die bezirklichen Tarifentgeltstze verndert, sind die firmenbezogenen Verbandstarifvertrge von den regional zustndigen Arbeitgeberverbnden mit abzuschließen. 21
TV zur Beschftigungssicherung fr die Metall- und Elektroindustrie NRW vom 30.9.2005 – TV Besch (Auszug) § 2 Absenkung der Arbeitszeit 1. Bei vorbergehenden Beschftigungsproblemen kçnnen Arbeitgeber und Betriebsrat zur Vermeidung von betriebsbedingten Kndigungen durch Betriebsvereinbarung die individuelle regelmßige wçchentliche Arbeitszeit einheitlich fr alle Beschftigten oder fr Teile des Betriebes (Betriebsteile, Abteilungen, Beschftigtengruppen) auf eine Dauer von unter 35 bis zu 30 Stunden absenken. Auch eine unterschiedliche Absenkung der Arbeitszeit und eine unterschiedliche Dauer der Absenkung kçnnen vereinbart werden. (…) Bei Beschftigten mit einer von 35 Stunden abweichenden individuellen regelmßigen wçchentlichen Arbeitszeit kann eine Absenkung um bis zu 5 Stunden erfolgen. Fr Teilzeitbeschftigte kann die individuelle regelmßige wçchentliche Arbeitszeit nicht auf unter 18 Stunden abgesenkt werden. Vollzeitbeschftigte bleiben trotz abgesenkter Arbeitszeit Vollzeitbeschftigte. 2. Eine betriebsbedingte Kndigung gegenber Beschftigten, deren Arbeitszeit abgesenkt wurde, wird frhestens mit dem Ablauf der Betriebsvereinbarung wirksam.
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Rz. 24
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3. Die Monatslçhne und -gehlter bzw. festen Entgeltbestandteile des Monatsentgelts und von ihnen abgeleitete Leistungen vermindern sich entsprechend der verkrzten Arbeitszeit. (…) 6. Kçnnen sich Arbeitgeber und Betriebsrat ber die Absenkung der tariflichen Arbeitszeit gem. Nr. 1 nicht einigen, kann unverzglich nach Erklrung des Scheiterns der Gesprche die tarifliche Einigungsstelle nach § 24 Manteltarifvertrag bzw. EMTV nach Maßgabe der folgenden Vorschriften angerufen werden. Die Einigungsstelle hat innerhalb von 2 Wochen nach ihrer Anrufung (Einschaltung einer der Tarifvertragsparteien durch eine Betriebspartei) zu entscheiden. Sie kann eine Entscheidung fr einen Sachverhalt nur einmal und nur fr die Dauer von lngstens sechs Monaten treffen. Besteht zum Zeitpunkt des Einigungsstellenverfahrens fr die betroffenen Beschftigten eine Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeitverteilung, so entscheidet die Einigungsstelle fr die Dauer der Absenkung der Arbeitszeit auch ber ihre Verteilung. Die bestehende Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeitverteilung wird fr die Dauer der Absenkung fr die betroffenen Beschftigten ausgesetzt. (…)
III. Kommentierung 1. Fn. 1 zum MTV Chemie (Rz. 20) Die Fn. 1 zum MTV Chemie enthält gleich drei Öffnungsklauseln unterschiedlicher Art.
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Zunächst sieht Abs. 1 vor, dass die Betriebsparteien „ergänzend“ zum MTV „unter 23 Beachtung des § 76 Abs. 6 BetrVG“ Betriebsvereinbarungen abschließen können. „Ergänzend“ bedeutet, dass die betriebliche Regelung den Inhalt der jeweiligen Tarifnorm unangetastet lassen muss; unzulässig sind damit ersetzende oder konkurrierende Betriebsvereinbarungen. Um also betrieblich tätig werden zu können, muss die Tarifregelung einen Ausgestaltungsspielraum belassen. Tut sie es nicht, würde eine dennoch abgeschlossene betriebliche Regelung ersetzend oder konkurrierend wirken. Die Regelung ist damit auf Regelungen im TV zugeschnitten, die noch einer Konkretisierung bedürfen. Mittels der Bezugnahme auf § 76 Abs. 6 BetrVG wird klargestellt, dass die aufgrund Öffnungsklausel abschließbaren Betriebsvereinbarungen nicht erzwungen werden können. Sie setzen somit eine Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat voraus, die nicht im Rahmen eines Einigungsstellenverfahren erzwungen werden kann. Abs. 2 enthält hingegen eine echte Öffnungsklausel. Sie wurde als sog. Tariföffnungs- 24 klausel gegenüber tarifkonkurrierenden Bereichen („Tarifkonkurrenzklausel“) geschaffen, wobei der Begriff „Tarifkonkurrenz“ im technischen und nicht im rechtlichen Sinne zu verstehen ist. Tarifkonkurrierend meint hier also TVe, die sich mit dem fachlichen Geltungsbereich des Manteltarifvertrags der chemischen Industrie überschneiden (Beispiel: Ein Kautschuk verarbeitendes Unternehmen kann je nach Natzel
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Katalog typischer Tarifnormen
Beitritt die vom Arbeitgeberverband der Deutschen Kautschukindustrie abgeschlossenen TVe ebenso zur Anwendung bringen wie die für die chemische Industrie abgeschlossenen TVe; die fachlichen Geltungsbereiche überschneiden sich hier.). Auch als tarifkonkurrierend ist anzusehen, wenn ein Unternehmen, ein Betrieb oder eine Betriebsabteilung bei einer Ausgliederung oder Umstrukturierung unter den Geltungsbereich eines anderen TV fallen würde (Beispiel: Die Kantine eines Unternehmens der chemischen Industrie soll ausgliedert werden mit dem Ziel, die Tarife von NGG zur Anwendung bringen zu können.). Mit der Öffnungsklausel wurde also angestrebt, durch die Möglichkeit der Absenkung der Entgeltsätze Ausgliederungen zu vermeiden und Eingliederungen in die Unternehmensstrukturen der chemischen Industrie zu fördern, um so die einheitliche Anwendung des Chemietarifs zu ermöglichen, zugleich aber Differenzierungsmöglichkeiten zu eröffnen. Des Weiteren haben die TV-Parteien mit dieser Klausel die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG beseitigt, nach der Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch TV geregelt sind, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein können. Die Anwendung der Öffnungsklausel setzt stets eine Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat voraus, was durch den Hinweis auf § 76 Abs. 6 BetrVG klargestellt wird. Die betriebliche Regelung kann also nicht durch den Spruch der Einigungsstelle erzwungen werden. 25
Wirksamkeitsvoraussetzung für die Vereinbarung abweichender niedriger Entgeltsätze ist die Zustimmung der TV-Parteien. In deren Rahmen prüfen sie, ob die Voraussetzungen für die Anwendung der Öffnungsklausel gegeben sind.
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Die durch Betriebsvereinbarung abweichend festgelegten niedrigeren Entgelte sind echte Tarifentgelte. Sie gelten unmittelbar und zwingend für alle Mitarbeiter, unabhängig davon, ob sie tarifgebunden sind oder nicht. Sie treten an die Stelle der in den bezirklichen EntgeltTVen geregelten Tarifentgelte. Dies bewirkt zugleich, dass auch Entgeltbestandteile, die vom Tarifentgelt abhängen, nach den abweichend festgelegten Entgeltsätzen zu berechnen sind.
27
Die im TV vorgesehene Möglichkeit, nach Ablauf der Betriebsvereinbarung eine unbefristete Weitergeltung vereinbaren zu können, bewirkt, dass auch nach Ablauf der Befristung die abweichend geregelten Entgeltsätze anstelle der tarifvertraglich festgelegten Entgeltsätze fortgelten. Im Weitergeltungszeitraum ist die Betriebsvereinbarung allerdings nach § 77 Abs. 5 BetrVG unter Einhaltung einer Frist von drei Monaten kündbar. Eine hiervon abweichende Kündigungsfrist kann in der Betriebsvereinbarung vereinbart werden. Dabei empfiehlt es sich, eine längere Frist als die gesetzlich vorgesehene Regelfrist von drei Monaten zu vereinbaren, um so eine größere Planungssicherheit zu erlangen.
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Von der Regelung vereinbarter unbefristeter Weitergeltung werden auch neu eintretende Arbeitnehmer erfasst.
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Anstelle der unbefristeten Weitergeltung können die Betriebsparteien auch eine Nachwirkungsklausel in die Betriebsvereinbarung aufnehmen. Die Vereinbarung einer Nachwirkung ist in einer freiwilligen Betriebsvereinbarung zulässig. Sie führt dazu, dass die vom TV abweichend festgelegten Arbeitsbedingungen bis zu einer Neuregelung fortgelten. Die Nachwirkungsregelung kann durch eine Vereinbarung ergänzt werden, durch die sich die Betriebsparteien verpflichten, bei Auslaufen der Be476 Natzel
ffnungsklauseln/Genehmigungsvorbehalte
Rz. 34
Teil 5 (17)
triebsvereinbarung gemeinsam zu prüfen, ob die Voraussetzungen, die zur Absenkung des Tarifniveaus geführt haben, immer noch vorliegen. Sollte dies der Fall sein, könnte in der Betriebsvereinbarung bereits geregelt werden, dass sie sich um einen bestimmten Zeitraum verlängert. Bei der vereinbarten Nachwirkung werden im Nachwirkungszeitraum neu eintreten- 30 de Mitarbeiter von der nachwirkenden Betriebsvereinbarung nicht erfasst, es sei denn, die Betriebsparteien regeln ausdrücklich die Erstreckung der Nachwirkung auch auf neu eintretende Mitarbeiter. Die vereinbarte unbefristete Weitergeltung hat demgegenüber den Vorteil, dass von der weitergeltenden Betriebsvereinbarung auch ohne gesonderte Regelung durch die Betriebsparteien neu eintretende Arbeitnehmer erfasst werden. Eine weitere Abweichungsmöglichkeit ist in Abs. 3 der in der Fn. 1 zum MTV Chemie enthaltenen Öffnungsklausel vorgesehen. Dort ist es den TV-Parteien zugewiesen, im Einzelfall zur Sicherung der Beschäftigung oder Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit den tarifvertraglich vorgegebenen Rahmen durch einen firmenbezogenen VerbandsTV abzubedingen. Derartige sog. firmenbezogene VerbandsTVe stellen ein Mittel dar, für einzelne verbandszugehörige Arbeitgeber besondere tarifliche Arbeitsbedingungen zu vereinbaren, ohne auf das Mittel von HausTVen zurückgreifen zu müssen. Damit kann den ökonomischen Besonderheiten auch einzelner Arbeitgeber Rechnung getragen werden.
31
Zuständig für die Vereinbarung eines firmenbezogenen VerbandsTVes sind die Bun- 32 desTV-Parteien. Diese erhalten so ihre Normsetzungskompetenz aufrecht, indem sie kraft TV über die Abweichung der von ihnen flächentarifvertraglich festgelegten Arbeitsbedingungen entscheiden. Das Mittel des firmenbezogenen VerbandsTVes dient somit der betriebseinheitlichen Anwendung der ChemieTVe. Soweit vom firmenbezogenen VerbandsTV auch Entgeltregelungen, die in der chemischen Industrie regelmäßig auf bezirklicher Ebene abgeschlossen werden, betroffen sind, ist dieser vom jeweils regional zuständigen Arbeitgeberverband mit abzuschließen. 2. TV Besch (Rz. 21) Der mit der Rezession in den 1990er Jahren für die Metall- und Elektroindustrie abge- 33 schlossene TV Besch ermöglicht es den Betriebsparteien, bei vorübergehenden Beschäftigungsproblemen zur Vermeidung von betriebsbedingten Kündigungen durch Betriebsvereinbarung die individuelle regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit betriebseinheitlich oder für Teile des Betriebes auf bis zu 30 Stunden abzusenken. Die konjunkturbedingten Beschäftigungsprobleme müssen zumindest absehbar sein. Die Regelung zielt auf eine Reduzierung des Arbeitszeitvolumens ab, das weiterhin 34 flexibel verteilt erfüllt werden kann. Die TV-Parteien gehen von der Erzwingbarkeit ihrer Regelung aus. Das bedeutet, dass jede Betriebspartei den Abschluss einer Betriebsvereinbarung zur Absenkung der Arbeitszeit verlangen und über die Einigungsstelle durchsetzen kann, was in der Praxis allerdings nicht zu Problemen geführt hat, da die Regelung ihrem Grundgedanke nach vom solidarischen Verhalten aller ausgeht.
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Teil 5 (17) Rz. 35
Katalog typischer Tarifnormen
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Die Regelung ist mit einem Kündigungsschutz verbunden. So können betriebsbedingte Kündigungen gegenüber Beschäftigten, deren Arbeitszeit abgesenkt wurde, frühestens mit Ablauf der hierzu abgeschlossenen Betriebsvereinbarung wirksam werden. Dies kann im Einzelfall zu einer über die tarifliche Kündigungsfrist hinausgehenden Beschäftigungspflicht führen.
36
Für die Phase der Arbeitszeitabsenkung können die festen Entgeltbestandteile entsprechend dem Verhältnis von reduziertem Arbeitszeitvolumen zu bisheriger individueller regelmäßiger Wochenarbeitszeit proportional gekürzt werden. Diese Kürzung wirkt sich auch auf Leistungen aus, die sich aus dem Monatsentgelt ableiten.
37
Interessant an der Metallregelung ist, dass hier eine tarifliche Schlichtungsstelle eingerichtet wurde, die nach Maßgabe des § 76 Abs. 8 BetrVG an die Stelle der gesetzlichen Einigungsstelle tritt. Diese hat über die Fälle zu befinden, in denen sich die Betriebsparteien nicht über die Arbeitszeitabsenkung oder deren Ausgestaltung einigen können. Für die Anrufung der Einigungsstelle ist es ausreichend, dass eine der TVParteien durch eine der Betriebsparteien eingeschaltet wird. Die Entscheidung der Einigungsstelle ist nicht auf ihre Sachgerechtigkeit, sondern lediglich auf Rechtsverstöße hin überprüfbar.
(18) Schlechtwetterklauseln Literatur: Bieback, Das neue Saisonkurzarbeitergeld, SGb 2007, 197; Biedermann/Möller, Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe (BRTV), 8. Aufl. 2011.
I. Zweck und Kontext 1 Erweist sich bereits die tarifvertragliche Regulierung der Kurzarbeit (vgl. R (13) Kurzarbeitsregelungen) als filigran ausgestaltete Kooperation von Arbeits- und Sozialversicherungsrecht, so gilt dies umso mehr für die Ausgestaltung von Schlechtwetterklauseln in TVen. Wichtigster Anwendungsfall ist hier die Bauwirtschaft. Die TV-Parteien haben die anspruchsvolle Aufgabe, die tarifvertragliche Regulierung in das System des Saisonkurzarbeitergeldes (§ 101 SGB III) und des Wintergeldes (§ 102 SGB III) einzubetten. Das System ist durch das Gesetz zur Förderung der ganzjährigen Beschäftigung1 neu gestaltet worden. Die TV-Parteien haben ihre Regelungen mit Blick hierauf angepasst. Ziel der Neuregelung war es, in Wirtschaftszweigen mit saisonbedingten Arbeitsausfällen zu einer Verstetigung der Beschäftigungsverhältnisse beizutragen. Seit dem 1.4.2012 sind die Vorschriften über die Kurzarbeit im SGB durch das „Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt“2 neu gefasst worden und nunmehr in den §§ 95 ff. SGB III enthalten. 2 Neben § 101 und § 102 SGB III ist die „Verordnung über ergänzende Leistungen zum Saison-Kurzarbeitergeld und die Aufbringung der erforderlichen Mittel zur Aufrecht-
1 V. 24.4.2006, BGBl. I, 926. 2 V. 20.12.2011, BGBl. I, 2854.
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Teil 5 (17) Rz. 35
Katalog typischer Tarifnormen
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Die Regelung ist mit einem Kündigungsschutz verbunden. So können betriebsbedingte Kündigungen gegenüber Beschäftigten, deren Arbeitszeit abgesenkt wurde, frühestens mit Ablauf der hierzu abgeschlossenen Betriebsvereinbarung wirksam werden. Dies kann im Einzelfall zu einer über die tarifliche Kündigungsfrist hinausgehenden Beschäftigungspflicht führen.
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Für die Phase der Arbeitszeitabsenkung können die festen Entgeltbestandteile entsprechend dem Verhältnis von reduziertem Arbeitszeitvolumen zu bisheriger individueller regelmäßiger Wochenarbeitszeit proportional gekürzt werden. Diese Kürzung wirkt sich auch auf Leistungen aus, die sich aus dem Monatsentgelt ableiten.
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Interessant an der Metallregelung ist, dass hier eine tarifliche Schlichtungsstelle eingerichtet wurde, die nach Maßgabe des § 76 Abs. 8 BetrVG an die Stelle der gesetzlichen Einigungsstelle tritt. Diese hat über die Fälle zu befinden, in denen sich die Betriebsparteien nicht über die Arbeitszeitabsenkung oder deren Ausgestaltung einigen können. Für die Anrufung der Einigungsstelle ist es ausreichend, dass eine der TVParteien durch eine der Betriebsparteien eingeschaltet wird. Die Entscheidung der Einigungsstelle ist nicht auf ihre Sachgerechtigkeit, sondern lediglich auf Rechtsverstöße hin überprüfbar.
(18) Schlechtwetterklauseln Literatur: Bieback, Das neue Saisonkurzarbeitergeld, SGb 2007, 197; Biedermann/Möller, Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe (BRTV), 8. Aufl. 2011.
I. Zweck und Kontext 1 Erweist sich bereits die tarifvertragliche Regulierung der Kurzarbeit (vgl. R (13) Kurzarbeitsregelungen) als filigran ausgestaltete Kooperation von Arbeits- und Sozialversicherungsrecht, so gilt dies umso mehr für die Ausgestaltung von Schlechtwetterklauseln in TVen. Wichtigster Anwendungsfall ist hier die Bauwirtschaft. Die TV-Parteien haben die anspruchsvolle Aufgabe, die tarifvertragliche Regulierung in das System des Saisonkurzarbeitergeldes (§ 101 SGB III) und des Wintergeldes (§ 102 SGB III) einzubetten. Das System ist durch das Gesetz zur Förderung der ganzjährigen Beschäftigung1 neu gestaltet worden. Die TV-Parteien haben ihre Regelungen mit Blick hierauf angepasst. Ziel der Neuregelung war es, in Wirtschaftszweigen mit saisonbedingten Arbeitsausfällen zu einer Verstetigung der Beschäftigungsverhältnisse beizutragen. Seit dem 1.4.2012 sind die Vorschriften über die Kurzarbeit im SGB durch das „Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt“2 neu gefasst worden und nunmehr in den §§ 95 ff. SGB III enthalten. 2 Neben § 101 und § 102 SGB III ist die „Verordnung über ergänzende Leistungen zum Saison-Kurzarbeitergeld und die Aufbringung der erforderlichen Mittel zur Aufrecht-
1 V. 24.4.2006, BGBl. I, 926. 2 V. 20.12.2011, BGBl. I, 2854.
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Schlechtwetterklauseln
Rz. 5 Teil 5 (18)
erhaltung der Beschäftigung in den Wintermonaten“ (Winterbeschäftigungs-Verordnung)1 zu beachten. Die TV-Parteien können ungeachtet der sozialversicherungsrechtlichen Lage auch 3 eigenständige Grundlagen für Entgeltansprüche in der Schlechtwetterzeit schaffen. Sie sind dabei weder an die gesetzliche Definition der Schlechtwetterzeit (vom 1. Dezember bis zum 31. März, § 101 Abs. 1 SGB III) noch an die sonstigen Bewilligungsvoraussetzungen gebunden. Alleine daraus, dass die TV-Parteien einzelne Anspruchsvoraussetzungen nicht regeln, ergibt sich nach der Rechtsprechung des BAG nicht automatisch, dass sie stillschweigend an die Vorschriften des SGB III anknüpfen. Hierfür bedarf es besonderer Anhaltspunkte im TV2. Einen Ausgleich für die Lohneinbußen, die sich in der Schlechtwetterzeit ergeben, schafft der Bauzuschlag. Die wöchentliche Arbeitszeit kann durch tarifvertragliche Regelung für die Schlechtwetterzeit und die „normale“ Saison unterschiedlich ausgestaltet sein. Arbeitszeitkonten können zur Überbrückung der Schlechtwetterzeit beitragen. Aufgrund der vielfältigen Parallelen sei im Übrigen auf die Kommentierung zu tarif- 4 vertraglichen Kurzarbeitsklauseln verwiesen (vgl. R (13) Kurzarbeitsregelungen, Rz. 20).
II. Beispiele § 4 Bundesrahmentarifvertrag fr das Baugewerbe vom 4. Juli 2002 in der Fassung vom 17. Dezember 2003, 14. Dezember 2004, 29. Juli 2005, 19. Mai 2006 und 20. August 2007 (BRTV) – Arbeitsversumnis und Arbeitsausfall (…) 6. Arbeitsausfall aus Witterungs- oder wirtschaftlichen Grnden 6.1 Wird die Arbeitsleistung entweder aus zwingenden Witterungsgrnden oder in der gesetzlichen Schlechtwetterzeit aus wirtschaftlichen Grnden unmçglich, so entfllt der Lohnanspruch. Soweit der Lohnausfall in der gesetzlichen Schlechtwetterzeit nicht durch die Auflçsung von Arbeitszeitguthaben ausgeglichen werden kann, ist der Arbeitgeber verpflichtet, mit der nchsten Lohnabrechnung das Saison-Kurzarbeitergeld in der gesetzlichen Hçhe zu zahlen. Der Lohnausfall fr gesetzliche Wochenfeiertage ist in voller Hçhe zu vergten, wenn die Arbeit an diesen Tagen aus zwingenden Witterungsgrnden oder in der gesetzlichen Schlechtwetterzeit aus wirtschaftlichen Grnden ausgefallen wre. 6.2 Zwingende Witterungsgrnde im Sinne der Nr. 6.1 liegen vor, wenn atmosphrische Einwirkungen (insbesondere Regen, Schnee, Frost) oder deren Folgewirkungen so stark oder so nachhaltig sind, dass trotz einfacher Schutzvorkehrungen (insbesondere Tragen von Schutzkleidung, Abdichten der Fenster- und Trçffnungen, Abdecken von Baumaterialien und Baugerten) die Fortfhrung der Bauarbeiten technisch unmçglich oder wirtschaftlich unvertretbar ist oder den Arbeitnehmern nicht
1 BGBl. 2006 I, 1086 zuletzt geändert durch Gesetz v. 20.12.2011, BGBl. 2011 I, 2854. 2 BAG v. 22.4.2009 – 5 AZR 310/08, NZA 2009, 913 (915).
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Teil 5 (18) Rz. 6
Katalog typischer Tarifnormen
zugemutet werden kann. Der Arbeitsausfall ist nicht ausschließlich durch zwingende Witterungsgrnde verursacht, wenn er durch Beachtung der besonderen arbeitsschutzrechtlichen Anforderungen an witterungsabhngige Arbeitspltze auf Baustellen vermieden werden kann. 6.3 Die Arbeitnehmer verbleiben solange auf der Baustelle, bis aufgrund der voraussichtlichen Wetterentwicklung die Entscheidung des Arbeitgebers ber die Wiederaufnahme oder die endgltige Einstellung der Arbeit getroffen worden ist. Diese Entscheidung ist unter Bercksichtigung der beiderseitigen Interessen des Arbeitgebers und der Arbeitnehmer zu treffen. Die Entscheidung ber die endgltige Einstellung der Arbeit ist fr den gesamten restlichen Arbeitstag bindend. 6.4 In der Schlechtwetterzeit (1. Dezember bis 31. Mrz) entscheidet der Arbeitgeber ber die Fortsetzung, Einstellung oder Wiederaufnahme der Arbeit nach pflichtgemßem Ermessen nach Beratung mit dem Betriebsrat, wenn die Arbeit aus zwingenden Witterungs- oder aus wirtschaftlichen Grnden ausfllt; außerhalb der Schlechtwetterzeit gilt dies nur bei Arbeitsausfall aus zwingenden Witterungsgrnden. 6 § 12 BRTV – Beendigung des Arbeitsverhltnisses (…) 2. Kndigungsausschluss Das Arbeitsverhltnis kann in der Zeit vom 1. Dezember bis 31. Mrz (Schlechtwetterzeit) nicht aus Witterungsgrnden gekndigt werden.
III. Kommentierung 7 § 4 Nr. 6.1 BRTV schließt den Entgeltanspruch aus, wenn die Arbeitsleistung entweder aus zwingenden Witterungsgründen oder in der gesetzlichen Schlechtwetterzeit (vom 1. Dezember bis zum 31. März, § 101 Abs. 1 SGB III) aus wirtschaftlichen Gründen unmöglich wird. Damit verlagert die Regelung abweichend von § 615 Satz 3 BGB das Betriebsrisiko auf den Arbeitnehmer. Dies führt allerdings nicht zu einem ersatzlosen Wegfall des Anspruchs. Der Arbeitgeber wird zum Ausgleich verpflichtet, soweit der Entgeltausfall nicht durch die Auflösung von Arbeitszeitguthaben ausgeglichen werden kann (vgl. § 3 Nr. 1.43 Abs. 2 BRTV). Er muss mit der nächsten Lohnabrechnung das Saison-Kurzarbeitergeld (§ 101 SGB III) in der gesetzlichen Höhe (§ 105 SGB III) auszahlen. 8 Zwingende Witterungsgründe liegen gemäß § 6 Nr. 4. 2 BRTV vor, wenn atmosphärische Einwirkungen (insbesondere Regen, Schnee, Frost) oder deren Folgewirkungen so stark oder so nachhaltig sind, dass trotz einfacher Schutzvorkehrungen (insbesondere Tragen von Schutzkleidung, Abdichten der Fenster- und Türöffnungen, Abdecken von Baumaterialien und Baugeräten) die Fortführung der Bauarbeiten technisch unmöglich oder wirtschaftlich unvertretbar ist oder den Arbeitnehmern nicht zugemutet werden kann. Damit bildet der TV im Wesentlichen inhaltsgleich § 101 Abs. 6 Satz 2 SGB III ab. Der TV betont aber in besonderer Weise die Verpflichtung des Arbeitgebers, zumutbare Maßnahmen zu ergreifen, um den Arbeitsausfall zu ver-
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Schlechtwetterklauseln
Rz. 12
Teil 5 (18)
hindern. Im Übrigen kann auf die Kommentierungen zu § 175 Abs. 6 SGB III a.F. bzw. § 101 Abs. 6 SGB III i.d.F. ab dem 1.4.2012 und die Geschäftsanweisung Kurzarbeit der Bundesagentur für Arbeit zurückgegriffen werden. Das Gleiche gilt hinsichtlich § 4 Nr. 6.2 Satz 2 BRTV, der verlangt, dass der Arbeitsausfall nicht durch Beachtung der besonderen arbeitsschutzrechtlichen Anforderungen an witterungsabhängige Arbeitsplätze auf Baustellen vermeidbar sein darf. Letztere Anforderung entspricht wörtlich § 101 Abs. 6 Satz 3 SGB III (= § 175 Abs. 6 Satz 3 SGB III a.F.). Dementsprechend soll hier insoweit auf die einschlägigen Kommentierungen zum SGB III verwiesen werden. Nicht im TV aufgenommen ist § 101 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 SGB III, nach dem der Arbeitsausfall mindestens eine Stunde der regelmäßigen betrieblichen Arbeitszeit betragen muss. Stattdessen verlangt der TV, dass die Folgewirkungen der atmosphärischen Einwirkungen nachhaltig sind. Wesentliche inhaltliche Unterschiede scheinen sich daraus nicht zu ergeben1. Der TV betont lediglich deutlicher das Prognoseelement, das bei der Anordnung von Saison-Kurzarbeit zu beachten ist. Der Begriff der wirtschaftlichen Gründe wird durch den TV nicht definiert. Viel 9 spricht dafür, sich hier an den Vorschriften des SGB III zu orientieren. Die TV-Parteien wollten erkennbar, wie auch das Gesetz (vgl. § 101 Abs. 4 SGB III), auch mittelbare wirtschaftliche Folgewirkungen der Schlechtwetterzeit erfassen, wie etwa die Verzögerung von Folgeaufträgen2. Im Übrigen wird hier auf die einschlägigen Kommentierungen zum Saison-Kurzarbeitergeld verwiesen3. Nach 6 Nr. 4.1 Abs. 2 BRTV ist an gesetzlichen Feiertagen, an denen unabhängig da- 10 von, ob die Arbeit aus zwingenden Witterungsgründen oder in der gesetzlichen Schlechtwetterzeit aus wirtschaftlichen Gründen ausgefallen wäre, der Lohnausfall in voller Höhe zu vergüten. Gesetzliche Wochenfeiertage sind die Werktage, die gesetzlich oder auf Grund gesetzlicher Vorschriften durch behördliche Anordnung zu gesetzlichen Feiertagen erklärt sind, und für die Arbeitsruhe angeordnet ist. An solchen Tagen besteht ein Anspruch auf Feiertagsbezahlung in voller Höhe. Die Tarifregelung enthält zum Ausgleich für den aufgrund § 4 Nr. 6.1 BRTV entfallen- 11 den Entgeltanspruch einen eigenständigen Anspruch auf Vergütung in Höhe des Kurzarbeitergeldes als Bruttobetrag und zwar auch dann, wenn der Anspruch auf Kurzarbeitergeld nach den Regelungen des SGB III nicht besteht4. § 4 Nr. 6.1 BRTV beinhaltet also nicht bloß eine (deklaratorische) Verpflichtung, das Saison-Kurzarbeitergeld an die berechtigten Arbeitnehmer auszuzahlen. Der Arbeitgeber fungiert nicht bloß als Zahlstelle, sondern ist einem eigenständigen Zahlungsanspruch der Arbeitnehmer ausgesetzt. Der (eigenständige) tarifvertragliche Anspruch ist auf die Höhe des Saisonkurzarbeitergeld in der gesetzlichen Höhe begrenzt. Dementsprechend ist der hypothetische Anspruch zu berechnen, indem das Vorliegen 12 der Voraussetzungen für Saison-Kurzarbeit im Sinne des SGB III unterstellt wird5.
1 Biedermann/Möller, BRTV § 4 S. 424 f., setzen beide Vorschriften gleich. 2 Vgl. dazu ausführlich Biedermann/Möller, BRTV § 4 S. 405 ff.; zu den Besonderheiten für Werkpoliere, Baumaschinenfachmeister und Ofenwärter vgl. § 11 BRTV und BAG v. 25.1.2012 – 5 AZR 671/10, n.v. 3 Vgl. z.B. Sonnhoff in Hauck/Noftz, § 101 SGB III Rz. 43 (Lfg. V/2012). 4 BAG v. 22.4.2009 – 5 AZR 310/08, NZA 2009, 913. 5 Biedermann/Möller, BRTV § 4 S. 404.
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Teil 5 (18) Rz. 13
Katalog typischer Tarifnormen
Nach § 105 SGB III (= § 178 SGB III a.F.) beträgt das Kurzarbeitergeld für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die beim Arbeitslosengeld die Voraussetzungen für den erhöhten Leistungssatz erfüllen würden, 67 % und für die übrigen Arbeitnehmer 60 % der Nettoentgeltdifferenz (§ 106 SGB III) im Anspruchszeitraum. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die beim Arbeitslosengeld den erhöhten Leistungssatz erhalten würden, sind solche, die mindestens ein Kind im Sinne des § 32 Abs. 1, 3 bis 5 EStG haben, sowie Arbeitslose, deren Ehegatte oder Lebenspartner mindestens ein Kind im Sinne des § 32 Abs. 1, 3 bis 5 EStG hat, wenn beide Ehegatten oder Lebenspartner unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sind und nicht dauernd getrennt leben (§ 129 Nr. 1 SGB III). Der Arbeitgeber hat bei der Berechnung grundsätzlich die in der Lohnsteuerkarte vorhandenen Eintragungen zugrunde zu legen. Eine rückwirkende Eintragung ist zu berücksichtigen, wenn der Abrechnungszeitraum noch nicht beendet ist. Eine Bescheinigung der Agentur für Arbeit über das Kindschaftsverhältnis kann die Eintragung auf der Lohnsteuerkarte ersetzen1. 13
Abweichend von § 320 Abs. 1 Satz 2 SGB III sieht der TV eine eigenständige Regelung zur Fälligkeit der Ansprüche vor. Die Fälligkeit tritt mit der nächsten Lohnabrechnung ein. Deswegen ist der Arbeitgeber auch dann zur Leistung verpflichtet, wenn die Agentur für Arbeit das Geld für die Leistung (noch) nicht zur Verfügung gestellt hat.
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Der TV schränkt den Kreis der Anspruchsberechtigten, anders als § 98 SGB III, nicht ein. Da insoweit zu bedenken ist, dass § 6 Nr. 4.1 BRTV das Betriebsrisiko auf den Arbeitnehmer verlagert, muss eine solche Risikoverlagerung stets eindeutig und klar sein. Sofern der Anspruch vollständig abbedungen werden soll und der Arbeitnehmer allein auf die Ansprüche auf ersatzweise eintretende Sozialleistungen verwiesen werden soll, muss dies in einer tarifvertraglichen Regelung eindeutig zum Ausdruck kommen2. Dies ist bei § 6 Nr. 4.1 BRTV nicht der Fall. Von Bedeutung ist diese Frage insbesondere dann, wenn dem Arbeitnehmer die persönlichen Voraussetzungen für das Saisonkurzarbeitergeld fehlen, etwa dann, wenn er im Zeitpunkt der Kurzarbeit nicht in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis steht (§ 98 Abs. 1 Nr. 2 SGB III)3. Der Arbeitgeber hat damit unabhängig davon, ob für einen einzelnen Arbeitnehmer persönlich die Anspruchsvoraussetzungen vorliegen, Zahlungen in der gesetzlichen Höhe des Kurzarbeitergeldes zu leisten. Soweit der Arbeitnehmer Kündigungsschutzklage erhoben hat und er mit dieser durchdringt, besteht ein ungekündigtes Arbeitsverhältnis fort und die Anspruchsvoraussetzungen des Saison-Kurzarbeitergelds bestehen rückwirkend, so dass der Arbeitgeber in diesem Fall nachträglich Erstattung erhält4. Das Gleiche gilt aber auch dann, wenn der Arbeitgeber den Arbeitsausfall nicht (rechtzeitig) bei der Agentur für Arbeit angezeigt hat5. Insgesamt dient § 6 Nr. 4.1 BRTV damit 1 Vgl. dazu insgesamt Striebinger in Gagel, § 320 SGB III Rz. 16. 2 BAG v. 22.4.2009 – 5 AZR 310/08, NZA 2009, 913 (914). 3 Ob dies auch dann gilt, wenn der Arbeitnehmer eine Kündigungsschutzklage erhoben hat, ist strittig, vgl. Bieback in Gagel, § 98 SGB III Rz. 39; BAG v. 22.4.2009 – 5 AZR 310/08, NZA 2009, 913 (914) m.w.N. 4 Vgl. hierzu Geschäftsanweisungen zum Konjunkturellen Kurzarbeitergeld, Saisonkurzarbeitergeld, Transfermaßnahmen und Transferkurzarbeitergeld (T-Kug), Gemeinsame Vorschriften, Verfahren, Anlagen der Bundesagentur für Arbeit Stand Juni 2013, S. 91 ff., mit weiteren Hinweisen zum Umgang mit gekündigten Arbeitsverhältnissen. 5 BAG v. 22.4.2009 – 5 AZR 310/08, NZA 2009, 913 (914).
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Standortsicherung/Beschftigungssicherung/Arbeitsplatzsicherung
Rz. 16
Teil 5 (19)
dazu, die tarifvertraglichen Anspruchsvoraussetzungen von denen des SGB III zu entkoppeln. Zentrales Element des Anspruchs nach § 4 Nr. 6.1 BRTV ist, wie auch im SGB III, die 15 vorrangige Auflösung von Arbeitszeitguthaben. Diese werden nach § 3 Nr. 1.4 BRTV gebildet, wobei ein Höchstwert von 150 Stunden Guthabenstunden erreicht werden kann. Der Verwendungszweck des Guthabenkontos besteht in erster Linie darin, einen verstetigten Monatslohn bei witterungsbedingtem Arbeitsausfall zu sichern. Guthabenstunden sind daher aufzulösen, bevor Kurzarbeit eingeführt wird. § 4 Nr. 6.4 BRTV schreibt vor, dass der Arbeitgeber über den Arbeitsausfall nach billi- 16 gem Ermessen entscheidet. Er muss den Betriebsrat vorher anhören. Der TV verlangt keine Zustimmung des Betriebsrats1. Gleichwohl schließt die Regelung das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG nicht aus, weil sie nicht abschließend formuliert ist2 (zur Beteiligung des Betriebsrats bei der Einführung von Kurzarbeit vgl. R (13) Kurzarbeitsregelungen, Rz. 5 f.). Die Entscheidung des Arbeitgebers muss unter Berücksichtigung der beiderseitigen Interessen von Arbeitgeber und Arbeitnehmern getroffen werden. Maßgebliches Kriterium ist die voraussichtliche Wetterentwicklung. Dabei müssen die Wetterlage und der auf Wettervorhersagen basierende voraussichtliche Witterungsverlauf, die individuellen Besonderheiten der Baustelle, wie etwa deren Lage und die Art der Bauarbeiten, der Stand der Bauarbeiten und die Witterungsempfindlichkeit der verwendeten Baustoffe berücksichtigt werden. Ist die Entscheidung über die Einstellung unbillig oder wird der Betriebsrat nicht angehört, tritt mit der Einstellung der Arbeiten Annahmeverzug des Arbeitgebers ein. Die Arbeitnehmer behalten bei einer unbilligen Entscheidung ihren Entgeltanspruch. Umgekehrt begehen die Arbeitnehmer keine Pflichtverletzung, wenn sie eine unbillige oder ohne Anhörung des Betriebsrats verlangte Wiederaufnahme oder Fortsetzung der Arbeiten verweigern. Soweit lediglich ein Teil der Arbeit ausfällt, hat der Arbeitgeber auch die Auswahl zwischen den betroffenen Arbeitnehmern nach billigem Ermessen vorzunehmen3. § 4 Nr. 6.3 BRTV schreibt vor, dass die Arbeitnehmer bis zur Entscheidung des Arbeitgebers auf der Baustelle zu verbleiben haben.
(19) Standortsicherung/Beschäftigungssicherung/Arbeitsplatzsicherung Literatur: Bauer, Betriebliche Bündnisse für Arbeit vor dem Aus?, NZA 1999, 957; Berger, Zulässigkeit eines gewerkschaftlichen Zustimmungsvorbehalts zu Kündigungen, NZA 2015, 208; Däubler, Rechtswidrige Unternehmerentscheidung und betriebsbedingte Kündigung, DB 2012, 2100; Ehlers, Personalabbau in schwierigen Zeiten – Ein Plädoyer für einen Beschäftigungspakt und die Mediation, NJW 2003, 2337; Etzel, Die „Orlando-Kündigung“: Kündigung tariflich unkündbarer Arbeitnehmer, ZTR 2003, 210; Hromadka, Bündnisse für Arbeit – Angriff auf die Tarifautonomie?, DB 2003, 42; Hümmerich/Welslau, Beschäftigungssicherung trotz Personalabbau, NZA 2005, 610; Kort, Arbeitszeitverlängerndes „Bündnis für Arbeit“ zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat – Verstoß gegen die Tarifautonomie?, NJW 1997, 1476; Lehmann, Betriebliches Bünd-
1 Vgl. hierzu Biedermann/Möller, BRTV § 4 S. 426 f. 2 LAG Berlin-Brandenburg v. 9.10.2009 – 14 Sa 1172/09, NZA-RR 2010, 244 (245). 3 Biedermann/Möller, BRTV § 4 S. 432.
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Standortsicherung/Beschftigungssicherung/Arbeitsplatzsicherung
Rz. 16
Teil 5 (19)
dazu, die tarifvertraglichen Anspruchsvoraussetzungen von denen des SGB III zu entkoppeln. Zentrales Element des Anspruchs nach § 4 Nr. 6.1 BRTV ist, wie auch im SGB III, die 15 vorrangige Auflösung von Arbeitszeitguthaben. Diese werden nach § 3 Nr. 1.4 BRTV gebildet, wobei ein Höchstwert von 150 Stunden Guthabenstunden erreicht werden kann. Der Verwendungszweck des Guthabenkontos besteht in erster Linie darin, einen verstetigten Monatslohn bei witterungsbedingtem Arbeitsausfall zu sichern. Guthabenstunden sind daher aufzulösen, bevor Kurzarbeit eingeführt wird. § 4 Nr. 6.4 BRTV schreibt vor, dass der Arbeitgeber über den Arbeitsausfall nach billi- 16 gem Ermessen entscheidet. Er muss den Betriebsrat vorher anhören. Der TV verlangt keine Zustimmung des Betriebsrats1. Gleichwohl schließt die Regelung das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG nicht aus, weil sie nicht abschließend formuliert ist2 (zur Beteiligung des Betriebsrats bei der Einführung von Kurzarbeit vgl. R (13) Kurzarbeitsregelungen, Rz. 5 f.). Die Entscheidung des Arbeitgebers muss unter Berücksichtigung der beiderseitigen Interessen von Arbeitgeber und Arbeitnehmern getroffen werden. Maßgebliches Kriterium ist die voraussichtliche Wetterentwicklung. Dabei müssen die Wetterlage und der auf Wettervorhersagen basierende voraussichtliche Witterungsverlauf, die individuellen Besonderheiten der Baustelle, wie etwa deren Lage und die Art der Bauarbeiten, der Stand der Bauarbeiten und die Witterungsempfindlichkeit der verwendeten Baustoffe berücksichtigt werden. Ist die Entscheidung über die Einstellung unbillig oder wird der Betriebsrat nicht angehört, tritt mit der Einstellung der Arbeiten Annahmeverzug des Arbeitgebers ein. Die Arbeitnehmer behalten bei einer unbilligen Entscheidung ihren Entgeltanspruch. Umgekehrt begehen die Arbeitnehmer keine Pflichtverletzung, wenn sie eine unbillige oder ohne Anhörung des Betriebsrats verlangte Wiederaufnahme oder Fortsetzung der Arbeiten verweigern. Soweit lediglich ein Teil der Arbeit ausfällt, hat der Arbeitgeber auch die Auswahl zwischen den betroffenen Arbeitnehmern nach billigem Ermessen vorzunehmen3. § 4 Nr. 6.3 BRTV schreibt vor, dass die Arbeitnehmer bis zur Entscheidung des Arbeitgebers auf der Baustelle zu verbleiben haben.
(19) Standortsicherung/Beschäftigungssicherung/Arbeitsplatzsicherung Literatur: Bauer, Betriebliche Bündnisse für Arbeit vor dem Aus?, NZA 1999, 957; Berger, Zulässigkeit eines gewerkschaftlichen Zustimmungsvorbehalts zu Kündigungen, NZA 2015, 208; Däubler, Rechtswidrige Unternehmerentscheidung und betriebsbedingte Kündigung, DB 2012, 2100; Ehlers, Personalabbau in schwierigen Zeiten – Ein Plädoyer für einen Beschäftigungspakt und die Mediation, NJW 2003, 2337; Etzel, Die „Orlando-Kündigung“: Kündigung tariflich unkündbarer Arbeitnehmer, ZTR 2003, 210; Hromadka, Bündnisse für Arbeit – Angriff auf die Tarifautonomie?, DB 2003, 42; Hümmerich/Welslau, Beschäftigungssicherung trotz Personalabbau, NZA 2005, 610; Kort, Arbeitszeitverlängerndes „Bündnis für Arbeit“ zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat – Verstoß gegen die Tarifautonomie?, NJW 1997, 1476; Lehmann, Betriebliches Bünd-
1 Vgl. hierzu Biedermann/Möller, BRTV § 4 S. 426 f. 2 LAG Berlin-Brandenburg v. 9.10.2009 – 14 Sa 1172/09, NZA-RR 2010, 244 (245). 3 Biedermann/Möller, BRTV § 4 S. 432.
Ulber/Hexel/Bork
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Teil 5 (19) Rz. 1
Katalog typischer Tarifnormen
nis für Arbeit, BB 2010, 2821; Papier, Der verfassungsrechtliche Rahmen für Privatautonomie im Arbeitsrecht, RdA 1989, 137; Robert, Betriebliche Bündnisse für Arbeit versus Tarifautonomie?, NZA 2004, 633; Schliemann, Tarifliches Günstigkeitsprinzip und Bindung der Rechtsprechung, NZA 2003, 122; Thüsing, Dreigliedrige Standortvereinbarungen, NZA 2008, 201; Wolter, Standortsicherung, Beschäftigungssicherung, Unternehmensautonomie, Tarifautonomie, RdA 2002, 218.
I. Zweck und Kontext 1 Aus § 1 Abs. 1 TVG ergibt sich, dass der Regelungsauftrag der TV-Parteien sich nicht auf die Schaffung von Normen über die Inhalte von Arbeitsverträgen (vgl. Teil 4 Rz. 11 ff.) und deren Abschluss (vgl. Teil 4 Rz. 43 ff.) beschränkt. Auch Fragen der Beendigung von Arbeitsverhältnissen gehören zu den tariflich regelbaren Gegenständen (vgl. Teil 4 Rz. 61 ff.). So enthalten die TVe der meisten Branchen Regelungen über die Kündigung von Arbeitsverhältnissen, insbesondere hinsichtlich zu wahrender Kündigungsfristen (vgl. R (21) Unkündbarkeiten/Kündigungsklauseln/Fristen Rz. 18 ff.). Sie zählen zu den typischen Regelungen in MantelTVen. 2 Es gibt daneben TV-Regelungen, die einem bestimmten Mitarbeiterkreis – häufig älteren Arbeitnehmern (vgl. R (21) Unkündbarkeiten/Kündigungsklauseln/Fristen Rz. 10 ff.) – losgelöst von einem bestimmten Anlass einen höheren Kündigungsschutz zukommen lassen. Auch diese erfassen als Bestandteil von FlächenTVen oft die Arbeitsverhältnisse einer gesamten Branche. Hingegen finden sich generelle Regelungen, die nicht auf den Schutz bestimmter Mitarbeitergruppen ausgerichtet sind, sondern Mitarbeiter ganz allgemein vor (betriebsbedingten) Kündigungen schützen, wie insbesondere Standortsicherungszusagen oder allgemeine Kündigungsbeschränkungen, typischerweise nicht in FlächenTVen. In vielen Fällen werden derartige Vereinbarungen anlassbezogen getroffen. Es geht dann mitunter nicht um die Reaktion auf branchenweite Krisen, sondern um die besondere Situation einzelner Arbeitgeber, weshalb sich solche Zusagen in aller Regel in FirmenTVen oder in firmenbezogenen VerbandsTVen finden lassen. 3 In aller Regel werden Arbeitgeber nur bereit sein, Standortsicherungszusagen zu geben oder Maßnahmen zur Arbeitsplatzsicherung verbindlich zu versprechen, wenn die Arbeitnehmerschaft im Gegenzug ihrerseits einen Beitrag zur Sicherung der Fortführung des Unternehmens leistet. Dies erfolgt meist, indem die Beschäftigten, regelmäßig zeitlich befristetet, auf Teile ihres Arbeitsentgelts (z.B. Urlaubs- oder Weihnachtsgeld, Zulagen) verzichten oder für einen gewissen Zeitraum einer untertariflichen Entlohnung, z.B. auch durch eine vorübergehende Erhöhung der wöchentlichen Arbeitszeit ohne Entgeltausgleich, zustimmen1. Klauseln über Standort- oder Beschäftigungssicherung stellen daher typische Elemente von Beschäftigungspakten dar, wie sie sich häufig in SanierungsTVen finden (vgl. Teil 12 Rz. 28 ff.). 4 Ein häufig gewähltes Mittel, um den Abbau von Arbeitsplätzen bei geringerem Beschäftigungsbedarf zu verhindern, besteht darin, die tariflich an und für sich vorgesehene wöchentliche Regelarbeitszeit vorübergehend zu verkürzen. Solche Maßnah-
1 Vgl. Lehmann, BB 2010, 2821 (2823).
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Standortsicherung/Beschftigungssicherung/Arbeitsplatzsicherung
Rz. 6 Teil 5 (19)
men der TV-Parteien sind als Mittel der Beschäftigungssicherung – auch mit Blick auf die Berufsfreiheit der betroffenen Arbeitnehmer – grundsätzlich zulässig1. Insbesondere liegt darin nach Auffassung des BAG keine „verdeckte“ Umwandlung von Vollzeitbeschäftigungsverhältnissen in Teilzeitbeschäftigung und auch keine unverhältnismäßige und damit unzulässige Einschränkung der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) der betroffenen Arbeitnehmer2. Vielmehr komme die nur vorübergehende Reduzierung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit in ihren Auswirkungen der Einführung von Kurzarbeit gleich. Dadurch würden nicht, auch nicht vorübergehend, Teilzeitarbeitsverhältnisse oktroyiert, sondern es würde lediglich zum Zwecke der Beschäftigungssicherung vorübergehend die vorhandene Arbeit auf alle vorhandenen Arbeitnehmer verteilt, um betriebsbedingte Kündigungen zu vermeiden3. Tariflichen Regelungen über beiderseitige Sanierungsbeiträge, in denen die Arbeitneh- 5 mer eine für sie nachteilige Abweichung von dem tariflichen Vergütungssystem akzeptieren, um im Gegenzug die Zusage einer Arbeitsplatzsicherung zu erhalten, kommt in der Praxis eine erhebliche Bedeutung zu4. Einer Durchsetzung solcher Bündnisse für Arbeit durch Betriebsvereinbarungen steht regelmäßig die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG entgegen5 (vgl. auch Teil 9 Rz. 262 ff.). Bei tarifgebundenen Arbeitgebern erweist sich auch die einzelvertragliche Umsetzung solcher Bündnisse, selbst wenn sie von einer – nicht von § 77 Abs. 3 BetrVG erfassten – Regelungsabrede flankiert werden, als rechtlich problematisch. Es wird nach wie vor darüber diskutiert, ob eine entsprechende Vereinbarung (Entgeltverzicht gegen Arbeitsplatzschutz), wenn sie auf einzelvertraglicher Basis getroffen wird, mit dem Günstigkeitsprinzip vereinbar ist oder nicht (vgl. auch Teil 9 Rz. 221 ff. und 235 ff.)6. In der sog. Burda-Entscheidung des 1. Senats vom 20. April 19997 hat das BAG dazu ausgeführt, dass es § 4 Abs. 3 TVG nicht zulasse, dass Tarifbestimmungen über die Höhe des Arbeitsentgelts und über die Dauer der regelmäßigen Arbeitszeit mit einer betrieblichen Arbeitsplatzgarantie verglichen würden. Methodisch sei ein solcher Vergleich („Äpfel mit Birnen“) nicht möglich. Wenn die Beteiligten eine rechtssichere Lösung schaffen möchten, können sie Abwei- 6 chungen von tariflich festgelegten Arbeitsbedingungen zulasten der Arbeitnehmer mit dem Ziel der Beschäftigungssicherung somit im Ergebnis nur durch einen TV regeln8. Die Initiative zur Eingehung eines Bündnisses für Arbeit geht ungeachtet dessen in der Praxis häufig von den Betriebsparteien aus. Wenn diese dann – zur rechtlichen Absicherung einer betrieblichen Regelung – die Koalitionspartner in ihre Verhandlungen mit einbeziehen und die notwendigen Regelungswerke von den TVParteien mit unterzeichnen lassen, so birgt jedoch auch dies Risiken. Dies zeigen Ent-
1 2 3 4 5 6
BAG v. 28.6.2001 – 6 AZR 114/00, NZA 2002, 331. BAG v. 25.10.2000 – 4 AZR 438/99, NZA 2001, 328. BAG v. 25.10.2000 – 4 AZR 438/99, NZA 2001, 328. Vgl. Lehmann, BB 2010, 2821. Vgl. Nachweise bei Robert, NZA 2004, 633 (634). Vgl. bereits Papier, RdA 1989, 137 (141); Kort, NJW 1997, 1476 (1478 f.); Robert, NZA 2004, 633 (635 f.); Hromadka, DB 2003, 42 (43 f.); Schliemann, NZA 2003, 122 (124 ff.); Ehlers, NJW 2003, 2337 (2343). 7 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887; kritisch dazu: Bauer, NZA 1999, 957. 8 Lehmann, BB 2010, 2821 (2824).
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Teil 5 (19) Rz. 7
Katalog typischer Tarifnormen
scheidungen des BAG zum Gebot der sog. Rechtsquellenklarheit1, welches in Teil 12 Rz. 13 ff. näher beschrieben ist. 7 Der Bedarf, in der Praxis Lösungen zu finden, um einen Abbau von Arbeitsplätzen selbst in Zeiten der Krise möglichst zu vermeiden, ist unverkennbar. Da entsprechende Vereinbarungen in vielen Fällen sowohl im Interesse des Arbeitgebers wie auch im Interesse der Belegschaft – zumindest in ihrer Gesamtheit – liegen, werden die TV-Parteien sich oft freiwillig, ggf. auch aufgrund entsprechenden Drängens der betrieblichen Sozialpartner, zur Vereinbarung eines auf Konsens basierenden Beschäftigungspaktes zusammen finden2. Gegen die Annahme einer Erstreikbarkeit von Standortsicherungsklauseln oder Arbeitsplatzschutzregelungen bestehen hingegen Bedenken. Die Implementierung solcher Instrumente der Beschäftigungssicherung gegen den Willen des Arbeitgebers stünde nicht im Einklang mit der Unternehmerfreiheit (vgl. Teil 12 Rz. 36 f., 41). 8 Bei der Implementierung von Bündnissen für Arbeit mittels tarifvertraglicher Regelungen stellt sich schließlich die Frage, wie sich die Durchsetzung der von den TV-Parteien vereinbarten Regelungen gegenüber Außenseitern auf Arbeitnehmerseite bewirken lässt. Dies gilt naturgemäß insbesondere für die Zugeständnisse (z.B. Lohnverzicht oder Reduzierung der Arbeitszeit mit Lohnabsenkung), die im Rahmen solcher Bündnisse üblicherweise zulasten der Arbeitnehmer verhandelt werden. Eine Erstreckung von Regelungen eines tariflichen Beschäftigungssicherungspakets auf nicht tarifgebundene Arbeitnehmer ist denkbar, wenn man den Regelungen die Qualität einer Betriebsnorm (vgl. Teil 4 Rz. 86 ff.) beimessen kann3. Im Hinblick auf Bündnisse für Arbeit lässt sich beispielsweise argumentieren, dass es zwar durchaus naturwissenschaftlich möglich, jedoch evident sachlogisch unzweckmäßig wäre, eine als Maßnahme der Beschäftigungssicherung vereinbarte Verkürzung der regelmäßigen Wochenarbeitszeit individualrechtlich umzusetzen4. Eine Differenzierung zwischen organisierten und nichtorganisierten Arbeitnehmern ist in diesem Kontext praktisch kaum durchführbar und würde das Ziel der Beschäftigungssicherung und der langfristigen Erhaltung der Einrichtung nicht erreichen. Nur wenn die Arbeitszeit im Betrieb bzw. einzelnen Abteilungen einheitlich geregelt wird, ist das Ziel der Beschäftigungssicherung erreichbar und betriebswirtschaftlich sinnvoll5. Auch das BAG sieht die Möglichkeit, Normen zur Beschäftigungssicherung als Betriebsnormen zu implementieren6. Voraussetzung dafür sei aber, dass die tariflichen Bestimmungen eine normative Regelung enthielten, die eine über das einzelne Arbeitsverhältnis hinausgehende unmittelbare und zwingende Geltung auch gegenüber dem Arbeitnehmer beanspruchten und der Sache nach beanspruchen dürften. Ohne normativen Regelungsgehalt handele es sich nicht um eine Rechtsnorm i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 TVG (vgl. Teil 4 Rz. 91)7.
1 BAG v. 7.11.2000 – 1 AZR 175/00, NZA 2001, 727; BAG v. 15.4.2008 – 1 AZR 86/07, NZA 2008, 1074. 2 Wolter, RdA 2002, 218 (222). 3 Thüsing, NZA 2008, 201 (204); LAG Schleswig-Holstein v. 15.1.2009 – 4 Sa 269/08. 4 So LAG Baden-Württemberg v. 27.4.1999 – 10 Sa 82/98. 5 LAG Baden-Württemberg v. 27.4.1999 – 10 Sa 82/98. 6 BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 388/99, DB 2001, 2609. 7 BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 388/99, DB 2001, 2609.
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Standortsicherung/Beschftigungssicherung/Arbeitsplatzsicherung
Rz. 10
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II. Beispiele § 7 des Tarifvertrages zwischen der Karstadt Warenhaus GmbH und der Gewerk- 9 schaft ver.di zur Sanierung und Beschftigungssicherung (SanierungsTV)1 § 7 Standortsicherung Die in der Anlage 4 aufgefhrten Betriebssttten: – 89 große Warenhuser (Verkaufsflche ber 8000 m2), – 32 Sporthuser, – 67 kleine Warenhuser (Verkaufsflche unter 8000 m2) fr die Dauer ihrer Zugehçrigkeit zum … Konzern, – die Hauptverwaltung …, werden bis 31.12.2007 nicht geschlossen. §§ 7 bis 9 des Tarifvertrages zum Rationalisierungsschutz und zur Beschftigungssicherung fr die T-Systems Business Services GmbH (TV Ratio TS BS) § 7 Weiterbeschftigungsmçglichkeit (1) Der Arbeitgeber hat zu prfen, ob der Arbeitnehmer auf einem anderen freien Arbeitsplatz in demselben Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens weiterbeschftigt werden kann. Besteht ein derartiger freier Arbeitsplatz, wird er dem Arbeitnehmer angeboten, sofern die fachlich/funktionale Eignung des Arbeitnehmers gegeben ist oder durch eine vom Umfang her auf lngstens vier Monate begrenzte Qualifizierungsmaßnahme erworben werden kann. Sofern vorhanden, wird ein gleichwertiger und zumutbarer Arbeitsplatz angeboten. Besteht ein derartiger Arbeitsplatz nicht, wird, sofern vorhanden, ein freier unzumutbarer Arbeitplatz angeboten. Hierbei hat ein gleichwertiger Arbeitsplatz Vorrang vor einem ungleichwertigen Arbeitsplatz. (2) Bei der Auswahl der Arbeitnehmer, denen ein freier Arbeitsplatz angeboten werden soll, ist als vorrangiges Kriterium die soziale Schutzwrdigkeit aufgrund der Sozialauswahl zu bercksichtigen. Bei der Auswahl zwischen mehreren anbietbaren Arbeitspltzen sind die rumliche Nhe zum Wohnort sowie die Gleichwertigkeits- und die Zumutbarkeitskriterien des Arbeitsplatzes zu beachten. (3)–(6) (…) § 8 Folgen der Ablehnung eines Arbeitsplatzangebots (1) Kann dem Arbeitnehmer ein zumutbarer und gleichwertiger Arbeitsplatz angeboten werden, so ist er verpflichtet, diesen anzunehmen. Lehnt er das zumutbare und gleichwertige Arbeitsplatzangebot ab, verliert er die Rechte aus diesem Tarifvertrag; dies kann zur Kndigung des Arbeitsverhltnisses fhren. (2), (3) (…)
1 Vgl. LAG Sachsen v. 24.5.2007 – 6 Sa 454/06.
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(4) Lehnt der Arbeitnehmer ein unzumutbares und/oder ein zumutbares, aber ungleichwertiges Arbeitsplatzangebot ab bzw. kann ein Arbeitsplatzangebot nicht unterbreitet werden, erhlt der Arbeitnehmer im Zusammenhang mit der Kndigung/ Aufhebungsvertrag aus betrieblichem Anlass eine Abfindung bzw. bei Abschluss eines rechtswirksamen Aufhebungsvertrags aus betrieblichem Anlass anstelle der Abfindung einen befristeten Zugang zur Vivento. § 9 Zumutbarkeitskriterien (1) Zumutbar im Sinne der §§ 7 und 8 ist ein Arbeitsplatz, wenn er in funktioneller, zeitlicher, gesundheitlicher und sozialer Hinsicht zumutbar ist. (2) Funktionelle Zumutbarkeit Die funktionelle Zumutbarkeit ist gegeben, wenn der Arbeitnehmer nach seiner Befhigung, Ausbildung und Eignung den anderen Arbeitsplatz ausfhren kann oder der Arbeitnehmer die fehlende Befhigung oder Ausbildung durch eine vom Umfang her auf lngstens vier Monate begrenzte Qualifizierungsmaßnahme erwerben kann. (3) Zeitliche Zumutbarkeit Lediglich bei Arbeitnehmern, in deren Haushalt ein Kind unter 12 Jahren berwiegend lebt, ist eine neue, außerhalb des bisherigen maßgebenden Arbeitszeitrahmens zu leistende Arbeitzeit zwischen 16 Uhr und 8 Uhr nicht zumutbar, wenn hierdurch die Betreuung des Kindes nicht mçglich ist. Voraussetzung hierfr ist, dass die Betreuung nicht von einer anderen im Haushalt lebenden Person wahrgenommen werden kann. (4) Gesundheitliche Zumutbarkeit Die gesundheitliche Zumutbarkeit ist gegeben, wenn fr den neuen Arbeitsplatz eine arbeitsmedizinische Untersuchung nach den einschlgigen Regelungen nicht durchzufhren ist bzw. wenn der Betriebsarzt in den Fllen, in denen eine solche Untersuchung durchzufhren ist, keine Einwnde gegen den Einsatz auf dem neuen Arbeitsplatz hat. (5) Soziale Zumutbarkeit Die soziale Zumutbarkeit ist gegeben, wenn die Annahme des neuen Arbeitsplatzes fr den betroffenen Arbeitnehmer keine gravierende soziale Hrte darstellt. Eine gravierende soziale Hrte kann vorliegen, wenn durch den Wechsel auf einen anderen Arbeitsplatz mit erforderlichem Wohnortwechsel eine bereits bislang tatschlich durchgefhrte und nach rztlichem Gutachten auch knftig durch den Arbeitnehmer erforderliche ortsgebundene Pflege des Ehegatten oder eines Verwandten in gerader Linie nicht mehr mçglich wre oder gravierend erschwert wrde oder eine andere, damit vergleichbare Hrte vorliegt.
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Standortsicherung/Beschftigungssicherung/Arbeitsplatzsicherung
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Teil 5 (19)
§ 12 eines FirmenTVes gemß § 6 des Tarifvertrages zur Beschftigungssicherung fr 11 die metallverarbeitende Industrie Nordrhein-Westfalens1 § 12 Beschftigungssicherung Whrend der Laufzeit dieser Vereinbarung bedrfen Kndigungen der Zustimmung des Betriebsrats und bei Meinungsverschiedenheiten ber die Berechtigung der Nichterteilung der Zustimmung entscheidet die Einigungsstelle gemß §§ 76, 102 Abs. 6 BetrVG.
III. Kommentierung 1. § 7 des TVes zwischen der Karstadt Warenhaus GmbH und der Gewerkschaft ver.di zur Sanierung und Beschäftigungssicherung (SanierungsTV) (Rz. 9) Der von der Karstadt Warenhaus GmbH im Jahre 2004 mit der Gewerkschaft ver.di in 12 Form eines FirmenTVes abgeschlossene SanierungsTV enthält eine klassische Standortsicherungsklausel. Sie erstreckt sich auf die Erhaltung der im Einzelnen in einer Anlage aufgelisteten Betriebsstätten (Warenhäuser). Anders als in manchen anderen Standortsicherungsvereinbarungen haben die TV-Parteien hier darauf verzichtet, zusätzlich zum Erhalt der Standorte als solcher auch eine Mindestgröße zu definieren. Dies dürfte von der Vorstellung getragen sein, dass ein Warenhaus, so lange es betrieben wird, ohnehin einer gewissen Zahl von Beschäftigten bedarf und dass eine Teilschließung bzw. Verkleinerung der Häuser angesichts des Konzepts der Warenhauskette wenig wahrscheinlich war. Häufig definieren die Parteien im Kontext einer Standortgarantie bestimmte Mindestgrößen, beispielsweise eine Zahl von Arbeitsplätzen, die am Standort nicht unterschritten werden darf, oder im Falle von Produktionsbetrieben die Aufrechterhaltung eines bestimmten Produktionsvolumens. So kann sich die Arbeitnehmerseite davor schützen, dass der Arbeitgeber versuchen könnte, eine Zusage zum Erhalt eines Standorts innerhalb der Laufzeit der Standortzusage durch eine schleichende Verkleinerung der Betriebsstätte zu unterwandern. Die Rechtswirkungen, welche die TV-Parteien einer Standortsicherungszusage bei- 13 messen möchten, ist durch Auslegung zu ermitteln (vgl. zur Auslegung von TVen Teil 3 Rz. 128 ff.). Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen im Rahmen einer Standortgarantie ein Standort geschlossen werden darf oder nicht, ist zu trennen von der Frage, ob an diesem Standort (betriebsbedingte) Kündigungen ausgesprochen werden dürfen2. Mit einer Standortzusage ist nicht zwangsläufig das Verbot betriebsbedingter Kündigungen schlechthin verbunden. Regelungen dazu müssen die TV-Parteien vielmehr gesondert treffen. Wenn dies auch nicht ausdrücklich geschehen muss, so muss sich ein Kündigungsverbot aus den Tarifregelungen doch mit ausreichender Klarheit ergeben. Nicht ausreichend ist es beispielsweise, wenn die TV-Parteien einerseits ein Verbot der Standortschließung vereinbaren und gleichzeitig bestimmen, wie Schadensersatz berechnet wird, falls entgegen dem Verbot betriebsbedingte Kündigungen ausgesprochen werden. Diese Regelungen zum Schadenersatz sprechen dann viel-
1 Zitiert aus dem Sachverhalt BAG v. 24.1.2001 – 4 AZR 655/99, NZA 2001, 788. 2 LAG Sachsen v. 25.9.2007 – 7 Sa 697/06.
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mehr für die Auslegung, dass ein absolutes Kündigungsverbot nicht gewollt war1. Kündigungen, die entgegen der Vereinbarung ausgesprochen werden, sind in diesem Fall nicht unwirksam, sondern lösen allenfalls die vereinbarten Schadenersatz- bzw. Kompensationsansprüche aus. Insgesamt sprechen, wenn nicht ausdrücklich ein Kündigungsverbot in den TV aufgenommen wurde, Regelungen zu den Konsequenzen der Nichteinhaltung der vom Arbeitgeber gegebenen Zusagen im Rahmen der Auslegung eher gegen die Annahme eines Kündigungsverbots2. Wenn hingegen ein tarifliches Kündigungsverbot statuiert wird, so sind vom Arbeitgeber gleichwohl erklärte Kündigungen unwirksam3. 14
Falls die Auslegung eines StandortsicherungsTVes ergibt, dass die Parteien kein Kündigungsverbot statuieren wollten, so ist weiter zu prüfen, welche anderen Sanktionen dem Arbeitgeber im Falle eines Verstoßes gegen seine Zusage drohen. Auch hierzu können die TV-Parteien ausdrückliche Regelungen treffen, wie beispielsweise Sonderkündigungsrechte der Gewerkschaft oder die Rückgängigmachung von finanziellen Beiträgen, welche die Arbeitnehmerschaft im Rahmen der Standortsicherungsvereinbarung erbracht haben (z.B. Nachzahlung von Entgelt, auf das verzichtet worden war). Fehlt es in einem TV an explizit vereinbarten Sanktionsmechanismen, so steht die Arbeitnehmerseite dennoch nicht schutzlos da, wenn der Arbeitgeber Maßnahmen ergreift, die nicht mit dem Geist der Standortsicherung vereinbar sind. Ein Verstoß gegen eine Standortsicherungszusage, auch wenn diese im Einzelfall mangels entsprechenden Regelungswillens nicht normativ auf die Arbeitsverhältnisse der Mitarbeiter am Standort einwirkt, führt zumindest zu einer Verletzung der schuldrechtlichen Verpflichtungen des Arbeitgebers aus dem TV gegenüber der Gewerkschaft (vgl. zu obligatorischen Normen Teil 4 Rz. 113 ff.). Deswegen hat die Gewerkschaft, soweit es um einen FirmenTV geht, gegenüber dem Arbeitgeber einen unmittelbaren – schuldrechtlichen – Anspruch auf Unterlassung von Maßnahmen, die gegen die Standortzusage verstoßen. Diesen Anspruch kann sie bei Vorliegen eines ausreichenden Verfügungsgrundes auch im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes geltend machen4. 2. §§ 7 bis 9 des TVes zum Rationalisierungsschutz und zur Beschäftigungssicherung für die T-Systems Business Services GmbH (TV Ratio TS BS) (Rz. 10)
15
Die Vereinbarungen, welche die Deutsche Telekom AG und einige ihrer Tochtergesellschaften unter dem Titel Rationalisierungsschutz und Beschäftigungssicherung – TV Ratio – geschlossen haben, sind wiederholt Gegenstand von arbeitsgerichtlichen Entscheidungen gewesen5. Die Deutsche Telekom sah sich vor die Aufgabe gestellt, zur Erhaltung, Sicherung und Steigerung sowohl ihrer Wettbewerbsfähigkeit als auch ihrer Marktanteile wirtschaftliche, organisatorische und personelle Maßnahmen zu ergreifen, um eine kontinuierliche Qualitäts- und Produktivitätsverbesserung sowie eine flexible Anpassung an technologische und nachfragebezogene Veränderungen sicherzustellen. Wie bei vielen Arbeitgebern bestand dabei einerseits die Notwendigkeit, in größerem Umfang Arbeitsplätze abzubauen, während im Rahmen des Um1 2 3 4 5
Vgl. LAG Köln v. 10.3.2008 – 2 Sa 1411/07, AE 2009, 140. Vgl. LAG Köln v. 17.1.2012 – 12 Sa 580/11, ArbR 2012, 357. Thüsing, NZA 2008, 201 (206); Däubler, DB 2012, 2100 (2102). Vgl. LAG Niedersachsen v. 18.5.2011 – 17 SaGa 1939/10, AiB 2011, 481. Vgl. zuletzt z.B. BAG v. 29.1.2015 – 2 AZR 1005/13, NZA-RR 2015, 523.
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Standortsicherung/Beschftigungssicherung/Arbeitsplatzsicherung
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baus der Gesamtorganisation an anderer Stelle innerhalb des Konzerns Arbeitsplätze geschaffen wurden. Um Mitarbeiter, deren Arbeitsplatz im Rahmen der Reorganisation des Konzerns weg- 16 fiel, nach Möglichkeit vor einer betriebsbedingten Kündigung zu bewahren, wurden umfassende Regelungen zur bevorzugten Ausschöpfung von anderweitigen Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten vereinbart. Bei der Deutsche Telekom AG selbst wurde vorübergehend eine Verpflichtung des Arbeitgebers zum Angebot von anderen Dauerarbeitsplätzen – ggf. auch bei Beteiligungsunternehmen – festgeschrieben. Während dieser Zeit waren dort betriebsbedingte Beendigungskündigungen ausgeschlossen. Der hier beispielhaft betrachtete TV Ratio der T-Systems Business Services GmbH sieht eine solche unbedingte Verpflichtung zum Angebot anderweitiger Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten nicht vor. Auch er zielt aber auf eine Beschäftigungssicherung ab und sieht als Möglichkeiten dafür eine befristete kollektive Arbeitszeitabsenkung oder eine Entgeltreduzierung vor. Der TV beinhaltet darüber hinaus in seinen §§ 7 bis 9 als wesentliches Kernelement ein mit der Gewerkschaft ver.di vereinbartes Konzept zum Angebot von Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten. An diesem Konzept können sich beim Wegfall von Arbeitsplätzen sowohl der Arbeitgeber wie auch die betroffenen Personen orientieren. So können sie beurteilen, ob und unter welchen Voraussetzungen der Arbeitgeber durch das Angebot von anderweitigen Beschäftigungsmöglichkeiten vermeiden kann, Mitarbeitern, die er auf ihrem bisherigen Arbeitsplatz nicht mehr weiter beschäftigen kann, Leistungen nach dem TV Ratio (Abfindung oder Möglichkeit des Eintritts in die Vermittlungs- und Qualifizierungseinheit Vivento1) gewähren zu müssen. Das Prinzip ist vom Grundgedanken her einfach. Ist ein zumutbarer und gleichwerti- 17 ger Arbeitsplatz vorhanden, hat ihn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer anzubieten. Falls sich diese Möglichkeit nicht bietet, ist auch ein „unzumutbarer“ Arbeitsplatz anzubieten. Die Kriterien, an denen die Zumutbarkeit zu messen ist, haben die TV-Parteien in § 9 des TVes festgeschrieben (funktionelle, zeitliche, gesundheitliche und soziale Zumutbarkeit). Soweit mehrere unzumutbare Arbeitsplätze vorhanden sind, ist vorrangig ein gleichwertiger und erst danach ein ungleichwertiger Arbeitsplatz anzubieten, vgl. § 7 Abs. 1 Satz 5 TV Ratio TS BS. Bietet der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer einen zumutbaren und gleichwertigen Arbeitsplatz an, so besteht nach § 8 Abs. 1 TV Ratio TS BS eine Verpflichtung des Arbeitnehmers, dieses Angebot anzunehmen. Tut er dies nicht, so verliert er seine Rechte aus dem TV und riskiert die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses. Der Arbeitnehmer ist andererseits nicht verpflichtet, ein unzumutbares oder ein zumutbares, aber ungleichwertiges Angebot anzunehmen. Schlägt er solche Angebote aus, behält er seinen Anspruch auf eine Abfindung nach dem TV oder auf den Zugang zur Vivento. Die Regelungen orientieren sich erkennbar an den Vorgaben des § 1 KSchG zur Prüfung von Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten bei betriebsbedingten Kündigungen, schaffen aber durch die Definition der Zumutbarkeitskriterien mehr Transparenz, als sie alleine aufgrund der gesetzlichen Regelungen bestünde. Wichtig ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass die Rechtsprechung an das „Angebot“ des Arbeitgebers, der Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten sieht, gewisse Anforderungen stellt. So hat das LAG Schleswig-Holstein zum TV Ratio der 1 Vgl. dazu Hümmerich/Welslau, NZA 2005, 610; s. auch BAG v. 18.9.2008 – 2 AZR 414/07, ArbRB 2009, 40.
Hexel/Bork
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Teil 5 (19) Rz. 18
Katalog typischer Tarifnormen
Deutsche Telekom AG festgestellt, dass ein Angebot nicht darin gesehen werden könne, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer Stellen nachweise und ihn auffordere, sich auf diese zu bewerben. Ein Angebot könne vielmehr begrifflich nur dann abgegeben sein, wenn das Zustandekommen des abändernden Vertrags nur noch von der Annahme durch den Vertragspartner abhänge1. Werde ein Arbeitnehmer hingegen aufgefordert, sich auf eine Stelle zu bewerben, so gebe er selbst mit seiner Bewerbung ein Angebot auf Vertragsschluss ab, das dann von dem Arbeitgeber angenommen werden müsse. Ein Angebot könne mithin nicht darin liegen, dass der Kläger in Konkurrenz zu anderen Stellenbewerbern treten müsse. Dabei handele es sich allenfalls um eine „invitatio ad offerendum“2. 3. § 12 eines Firmen-TVes gemäß § 6 des Tarifvertrages zur Beschäftigungssicherung für die metallverarbeitende Industrie Nordrhein-Westfalens (Rz. 11) 18
Neben der oben (Rz. 12) dargestellten Möglichkeit des Arbeitgebers, im Rahmen einer Vereinbarung zur Beschäftigungssicherung seiner Belegschaft im Gegenzug für deren zeitweiligen Verzicht auf tarifliche Ansprüche die Beibehaltung eines Standorts oder einer bestimmten Mindestanzahl von Arbeitsplätzen zuzusagen, kann der Arbeitgeber auch generell auf betriebsbedingte Kündigungen verzichten. Ein solcher „absoluter“ Kündigungsschutz geht für den Arbeitgeber jedoch mit erheblichen Risiken einher. Gerade bei längeren Laufzeiten von Beschäftigungspakten ist für den Arbeitgeber nicht absehbar, ob nicht doch einmal der Bedarf für den Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen entsteht. Wäre der Arbeitgeber in dieser Situation alleine auf das Mittel der sog. „Orlando-Kündigung“, also einer außerordentlichen Kündigung aus wichtigem Grund nach § 626 Abs. 1 BGB, verwiesen3, so wäre damit für ihn eine erhebliche Rechtsunsicherheit verbunden. Angesichts der hohen Schwellen für die Begründung einer Kündigung aus wichtigem Grund (vgl. zu Unkündbarkeitsregelungen R (21) Unkündbarkeiten/Kündigungsklauseln/Fristen Rz. 14 ff.) müsste der Arbeitgeber regelmäßig fürchten, in einem sich anschließenden Kündigungsschutzprozess zu unterliegen.
19
Soweit sich Arbeitgeber auf einen vorübergehenden Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen einlassen, werden sie vor diesem Hintergrund regelmäßig darauf drängen, unter bestimmten, in den jeweiligen tariflichen Regelungen zu definierenden Voraussetzungen ausnahmsweise doch betriebsbedingte Kündigungen aussprechen zu dürfen oder sogar ganz von dem vereinbarten Kündigungsverbot befreit zu werden. So kann als „Befreiungstatbestand“ in diesem Sinne vereinbart werden, dass das Verbot betriebsbedingter Kündigungen nicht gilt, wenn sie als Teil einer späteren Betriebsänderung i.S.v. § 111 BetrVG notwendig werden und der Arbeitgeber vor Ausspruch der Kündigungen mit dem zuständigen Betriebsrat einen Interessenausgleich sowie ggf. einen Sozialplan vereinbart hat. Die Aufhebung des Kündigungsverbots setzt dann voraus, dass der Arbeitgeber den Interessenausgleich nicht nur im Sinne der einschlägigen Rechtsprechung des BAG „versucht“4, sondern dass es tatsächlich zur Vereinbarung eines Interessenausgleiches kommt. 1 2 3 4
LAG Schleswig-Holstein v. 11.8.2004 – 2 Sa 475/03. LAG Schleswig-Holstein v. 11.8.2004 – 2 Sa 475/03. Vgl. Schaub/Linck, ArbR-Hdb., § 128 Rz. 15; Etzel, ZTR 2003, 210 (210 f.). Vgl. BAG v. 26.10.2004 – 1 AZR 493/03, NZA 2005, 237; BAG v. 16.8.2011 – 1 AZR 44/10, NZA 2012, 640.
492 Hexel/Bork
Standortsicherung/Beschftigungssicherung/Arbeitsplatzsicherung
Rz. 21
Teil 5 (19)
In dem hier beispielhaft betrachteten FirmenTV zur Beschäftigungssicherung in einem 20 Unternehmen der Metallindustrie in Nordrhein-Westfalen sind die TV-Parteien einem anderen, ebenso üblichen Weg gefolgt. Sie haben nicht von vornherein bestimmte Situationen definiert, in denen eine Ausnahme von dem tariflich vereinbarten Kündigungsverbot gelten soll. Stattdessen haben sie die Wirksamkeit von Kündigungen während der Laufzeit der Vereinbarung zur Beschäftigungssicherung generell von der Zustimmung des Betriebsrats abhängig gemacht. Während eine solche Regelung, die zur Inanspruchnahme der Betriebsparteien führt, einzelvertraglich nicht wirksam getroffen werden kann1, ist die Möglichkeit der TV-Parteien, auf § 102 Abs. 6 BetrVG zurückzugreifen, allgemein anerkannt2 (vgl. auch Teil 12 Rz. 42). Der Vorteil einer solchen Regelung liegt erkennbar darin, dass sie die TV-Parteien von der Notwendigkeit befreit, im Vorhinein spezielle Ausnahmetatbestände oder besondere Konstellationen zu beschreiben, die zu einer Aufhebung oder Einschränkung des Kündigungsverbots führen sollen. Angesichts der Vielzahl denkbarer Sachverhaltskonstellationen und der Unvorhersehbarkeit der Entwicklung des betroffenen Unternehmens – gerade bei Beschäftigungssicherungsvereinbarungen mit längerer Laufzeit – erweist sich eine praxistaugliche Regelung solcher „Ausstiegsszenarien“ erfahrungsgemäß als sehr schwieriges Unterfangen. Die Wirksamkeit von Kündigungen stattdessen unter Nutzung der in § 102 Abs. 6 BetrVG vorgesehenen Möglichkeit von der Zustimmung des Betriebsrats abhängig zu machen, bietet demgegenüber einige Vorteile. Zunächst erlaubt das Verfahren eine Einzelfallbetrachtung und Bewertung der Situation zu dem Zeitpunkt, in dem der Arbeitgeber sich tatsächlich zum Ausspruch von Kündigungen veranlasst sieht. Dabei ist nach überwiegender Auffassung der Betriebsrat in seiner Entscheidung über die Erteilung oder Verweigerung der Zustimmung nicht frei, sondern an die Maßstäbe des KSchG gebunden. Er hat einen Beurteilungsspielraum, jedoch keinen Ermessensspielraum3. Nach überwiegender Meinung muss im Übrigen der Arbeitgeber immer die Möglichkeit haben, die vom Betriebsrat verweigerte Zustimmung ersetzen zu lassen, sei es durch den Spruch einer Einigungsstelle oder durch das Arbeitsgericht4. Als weiteren Vorteil erlangt der Arbeitgeber, sobald die Zustimmung des Betriebsrats vorliegt, eine gewisse Rechtssicherheit, weil in einem etwaigen späteren Kündigungsschutzprozess die Voraussetzungen für eine Ausnahme des Kündigungsverbots nicht nochmals geprüft werden müssen. Außerdem entfällt das gesetzliche Widerspruchsrecht des Betriebsrats nach § 102 Abs. 3 BetrVG und damit der besondere gesetzliche Weiterbeschäftigungsanspruch des gekündigten Arbeitnehmers nach § 102 Abs. 5 BetrVG5. Der Arbeitgeber trägt insoweit nur die verbleibenden, ganz allgemein mit einem Kündigungsschutzprozess einhergehenden Risiken. Auffällig an der hier betrachteten Regelung ist, dass sie nicht nur betriebsbedingte Kündigungen erfasst, sondern jegliche Kündigung während der Laufzeit der Vereinbarung6. Oftmals sind personen- oder verhaltensbedingte Kündigungen von Kündi1 2 3 4
BAG v. 23.4.2009 – 6 AZR 263/08, NZA 2009, 915. Vgl. zuletzt BAG v. 24.2.2011 – 2 AZR 830/09, NZA 2011, 708 m.w.N.; KR/Etzel, § 102 BetrVG Rz. 249a; ErfK/Kania, § 102 BetrVG Rz. 45. ErfK/Kania, § 102 BetrVG Rz. 44 (m.w.N.); Gleiches soll nach Berger auch für Zustimmungsvorbehalte der Gewerkschaft gelten, vgl. Berger, NZA 2015, 208 (213). 5 ErfK/Kania, § 102 BetrVG Rz. 47; Fitting, § 102 BetrVG Rz. 125. 6 Ob die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung von einer Zustimmung des Betriebsrats abhängig gemacht werden kann, wovon die h.M. ausgeht, ist nicht ganz unumstritten (zum Streitstand: Fitting, § 102 BetrVG Rz. 124).
Hexel/Bork
493
21
Teil 5 (19) Rz. 1
Katalog typischer Tarifnormen
gungsverboten, die im Rahmen eines Paktes zur Beschäftigungssicherung vereinbart werden, ausgenommen. Die Regelung enthält darüber hinaus keine Vorschriften zum Verfahren der Zustimmungserteilung. Insbesondere haben die TV-Parteien nicht vorgesehen, dass die Zustimmung des Betriebsrats als erteilt gilt, wenn er auf das Zustimmungsersuchen des Arbeitgebers nicht innerhalb einer bestimmten Frist reagiert. Eine solche Regelung in einem TV wäre möglich; sie muss aber ausdrücklich vereinbart werden1. Die TV-Parteien haben hingegen von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, für den Fall der Nichterteilung der Zustimmung die Zuständigkeit der Einigungsstelle zu begründen. Auch dies ist zulässig. Nach Auffassung des BAG dürfen die TV-Parteien sogar selbst einen direkten Zugang zu den Gerichten für Arbeitssachen unter Umgehung der Einigungsstelle vorsehen2. Ob die Betriebsparteien im Rahmen einer Betriebsvereinbarung nach § 102 Abs. 6 BetrVG ebenfalls den direkten Weg zu den Arbeitsgerichten ohne Vorschaltung eines Einigungsstellenverfahrens vorsehen dürfen, wovon das BAG ausgeht3, ist nicht unumstritten4.
(20) Tarifkollisionsklausel I. Zweck und Kontext 1 Die Klausel ist angelehnt an den „TV zur Regelung von Grundsatzfragen“ zwischen AGV Move und GDL v. 30.6.2015. Sie soll nach Inkrafttreten des Tarifeinheitsgesetzes die Wirkungen der gesetzlichen Kollisionsregel (§ 4a TVG) ausschließen und damit die praktizierte Tarifautonomie auch in Betrieben sichern, in denen die tarifschließende Gewerkschaft Minderheitsgewerkschaft ist.
II. Beispiel 2 (1) Die X-AG [tarifschließendes Unternehmen beim FirmenTV]5 und die Gewerkschaft A bedingen im Verhltnis zueinander fr die Laufzeit dieses TVs die Geltung von § 4a TVG ab. Die Gewerkschaft A bleibt in ihrem Zustndigkeitsbereich Tarifpartner des Unternehmens6. Zwischen ihnen geschlossene TVe gelten fr Mitglieder der Gewerkschaft A unabhngig von der Erfllung der Voraussetzungen des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG unmittelbar und zwingend. (2) Die X-AG verpflichtet sich, Mitgliedern der Gewerkschaft A die Anwendung der mit der Gewerkschaft A geschlossenen TVe unabhngig von ihrer normativen Geltung anzubieten. Eine darauf gerichtete arbeitsvertragliche Vereinbarung zwischen dem jeweiligen Gewerkschaftsmitglied und der X-AG fhrt [im Zweifel] zur Anwendung der zwischen der X-AG und der Gewerkschaft A geschlossenen, fr das Arbeits-
1 2 3 4 5 6
KR/Etzel, § 102 BetrVG Rz. 244; BAG v. 21.6.2000 – 4 AZR 379/99, NZA 2001, 271. BAG v. 21.6.2000 – 4 AZR 379/99, NZA 2001, 271. Vgl. BAG v. 21.6.2000 – 4 AZR 379/99, NZA 2001, 271. Vgl. Nachweise bei Fitting, § 102 BetrVG Rz. 126. Alternativ: „der Arbeitgeberverband Y“ beim VerbandsTV. Alternativ: „des Arbeitgeberverbandes Y“ beim VerbandsTV.
494 Hexel/Bork/Greiner
Teil 5 (19) Rz. 1
Katalog typischer Tarifnormen
gungsverboten, die im Rahmen eines Paktes zur Beschäftigungssicherung vereinbart werden, ausgenommen. Die Regelung enthält darüber hinaus keine Vorschriften zum Verfahren der Zustimmungserteilung. Insbesondere haben die TV-Parteien nicht vorgesehen, dass die Zustimmung des Betriebsrats als erteilt gilt, wenn er auf das Zustimmungsersuchen des Arbeitgebers nicht innerhalb einer bestimmten Frist reagiert. Eine solche Regelung in einem TV wäre möglich; sie muss aber ausdrücklich vereinbart werden1. Die TV-Parteien haben hingegen von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, für den Fall der Nichterteilung der Zustimmung die Zuständigkeit der Einigungsstelle zu begründen. Auch dies ist zulässig. Nach Auffassung des BAG dürfen die TV-Parteien sogar selbst einen direkten Zugang zu den Gerichten für Arbeitssachen unter Umgehung der Einigungsstelle vorsehen2. Ob die Betriebsparteien im Rahmen einer Betriebsvereinbarung nach § 102 Abs. 6 BetrVG ebenfalls den direkten Weg zu den Arbeitsgerichten ohne Vorschaltung eines Einigungsstellenverfahrens vorsehen dürfen, wovon das BAG ausgeht3, ist nicht unumstritten4.
(20) Tarifkollisionsklausel I. Zweck und Kontext 1 Die Klausel ist angelehnt an den „TV zur Regelung von Grundsatzfragen“ zwischen AGV Move und GDL v. 30.6.2015. Sie soll nach Inkrafttreten des Tarifeinheitsgesetzes die Wirkungen der gesetzlichen Kollisionsregel (§ 4a TVG) ausschließen und damit die praktizierte Tarifautonomie auch in Betrieben sichern, in denen die tarifschließende Gewerkschaft Minderheitsgewerkschaft ist.
II. Beispiel 2 (1) Die X-AG [tarifschließendes Unternehmen beim FirmenTV]5 und die Gewerkschaft A bedingen im Verhltnis zueinander fr die Laufzeit dieses TVs die Geltung von § 4a TVG ab. Die Gewerkschaft A bleibt in ihrem Zustndigkeitsbereich Tarifpartner des Unternehmens6. Zwischen ihnen geschlossene TVe gelten fr Mitglieder der Gewerkschaft A unabhngig von der Erfllung der Voraussetzungen des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG unmittelbar und zwingend. (2) Die X-AG verpflichtet sich, Mitgliedern der Gewerkschaft A die Anwendung der mit der Gewerkschaft A geschlossenen TVe unabhngig von ihrer normativen Geltung anzubieten. Eine darauf gerichtete arbeitsvertragliche Vereinbarung zwischen dem jeweiligen Gewerkschaftsmitglied und der X-AG fhrt [im Zweifel] zur Anwendung der zwischen der X-AG und der Gewerkschaft A geschlossenen, fr das Arbeits-
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KR/Etzel, § 102 BetrVG Rz. 244; BAG v. 21.6.2000 – 4 AZR 379/99, NZA 2001, 271. BAG v. 21.6.2000 – 4 AZR 379/99, NZA 2001, 271. Vgl. BAG v. 21.6.2000 – 4 AZR 379/99, NZA 2001, 271. Vgl. Nachweise bei Fitting, § 102 BetrVG Rz. 126. Alternativ: „der Arbeitgeberverband Y“ beim VerbandsTV. Alternativ: „des Arbeitgeberverbandes Y“ beim VerbandsTV.
494 Hexel/Bork/Greiner
Tarifkollisionsklausel
Rz. 4 Teil 5 (20)
verhltnis einschlgigen TVe insgesamt und in ihrer jeweils geltenden Fassung. [Den Anspruch auf nderung des Arbeitsvertrags nach Satz 1 und 2 kann jedes betroffene Mitglied der Gewerkschaft A selbstndig gegenber der X-AG geltend machen.]
III. Kommentierung Abs. 1 Satz 1 bedingt § 4a TVG ab und soll dazu führen, dass sich die normative Wir- 3 kung der TVe weiterhin allein nach den §§ 3, 4 TVG richtet. Die Regelung will somit den Rechtszustand vor Inkrafttreten des Tarifeinheitsgesetzes fortschreiben. Abs. 1 Satz 2 enthält den tarifpolitischen Programmsatz, dass die Gewerkschaft in ihrem gesamten Zuständigkeitsbereich (und damit unabhängig von Mehrheitsverhältnissen) vollwertiger Tarifpartner des Unternehmens bleibt. Abs. 1 Satz 3 ordnet klarstellend die normative Wirkung geschlossener TVe für Mitglieder der tarifschließenden Gewerkschaft entgegen § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG an. Angesichts der auf gesellschaftspolitische Belange abzielenden Intention von § 4a TVG 4 (s. Teil 9 Rz. 110 ff.) ist – die Verfassungskonformität der gesetzlichen Kollisionsregel unterstellt (zum Problem ausf. Teil 9 Rz. 161 ff.) – die Rechtswirksamkeit einer solchen Abbedingung nicht zweifelsfrei1. Ihre Beurteilung hängt maßgeblich von der dogmatischen Grundlage der Tarifautonomie ab: Folgt man einem strengen Legitimationsdenken und interpretiert Tarifautonomie als „kollektiv ausgeübte Privatautonomie“, mag einiges dafür sprechen, die privatautonome Regel zur Anwendung zu bringen, dass grundsätzlich auch ein gesetzlich vorgegebenes Ordnungsmodell vertragsdispositiv sein soll, solange seine Abbedingung nicht explizit oder nach dem Regelungszweck des Gesetzes ausgeschlossen ist2. Betont man dagegen mit der Delegationstheorie die gesetzesvertretende und insofern heteronome Wirkung der Tarifmacht, spricht mehr für eine zwingende Bindung an die durch den Gesetzgeber mit dem Delegationsakt verbundenen Ordnungsvorstellungen: Diese sind auf Tarifeinheit im Betrieb gerichtet und schließen eine normative Tarifpluralität strikt aus. § 4a TVG beruht ersichtlich auf einem derartigen Delegationsdenken. Für den zwingenden Charakter spricht ferner die belastende Wirkung, die im Falle eines VerbandsTVs von der Abbedingung der gesetzlichen Kollisionsregel für die normgebundenen Unternehmen ausgeht: Dafür soll nach der Regelungsintention des Tarifeinheitsgesetzes erkennbar kein Raum sein. Richtig ist aber der Einwand, dass hierzu die verfahrensrechtliche Ausgestaltung des Tarifeinheitsgesetzes, insbesondere das Fehlen von Antragsbefugnissen der normativ gebundenen Arbeitsvertragsparteien im Verfahren nach § 99 ArbGG, nicht recht passen will3. Für die Zulässigkeit einer derartigen Abbedingung wird auch auf den gesetzgeberischen Willen verwiesen, dass vorrangig die TV-Parteien einvernehmliche Lösungen herbeiführen sollen4. Das ist zwar zutreffend (vgl. Teil 9 Rz. 151 ff.); allerdings dürfte auch bei
1 Ausf. und abwägend zum Meinungsstand und i.Erg. die Rechtswirksamkeit bejahend: Däubler/ Bepler/Bepler, Das neue Tarifeinheitsrecht, Rz. 291 ff. 2 Darauf rekurrierend Däubler/Bepler/Bepler, Das neue Tarifeinheitsrecht, Rz. 292. 3 Vgl. Däubler/Bepler/Bepler, Das neue Tarifeinheitsrecht, Rz. 295; zur Problematik und denkbaren Lösungen (analoge Anwendung von § 97 Abs. 5 ArbGG oder materiell-rechtliche Gestaltungswirkung eines Beschlusses nach §§ 2a Abs. 1 Nr. 6, 99 ArbGG) s. Teil 9 Rz. 130, 112a; weiterhin Löwisch, NZA 2015, 1369. 4 ErfK/Franzen, § 4a TVG Rz. 22.
Greiner
495
Teil 5 (20) Rz. 5
Katalog typischer Tarifnormen
der Ausgestaltung einvernehmlicher Lösungen ein gesetzlich zwingend vorgegebener Ordnungsrahmen zu beachten sein, sodass dieser Gesichtspunkt für die vorrangige Frage, ob der gesetzliche Ordnungsrahmen zwingend oder dispositiv ist, ohne echte Aussagekraft ist. 5 Insbesondere wenn man das Verfahren nach §§ 2a Abs. 1 Nr. 6, 99 ArbGG als Gestaltungsklagerecht interpretiert, bei dem erst der rechtskräftige Beschluss materiellrechtlich die Tarifeinheit im Betrieb herstellt1, wird die tarifverdrängende Wirkung nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG parteidispositiv (vgl. Teil 9 Rz. 112, 112a, 130). Abs. 1 der vorliegenden Klausel hätte dann praktisch nur noch die Wirkung eines pactum de non petendo im Hinblick auf das Verfahren nach §§ 2a Abs. 1 Nr. 6, 99 ArbGG. Wegen der dauerhaften Selbstbindung der Tarifparteien, die dem in § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG gesetzlich verankerten Ordnungsmodell entgegengesetzt wird, wäre seine Rechtswirksamkeit ebenfalls nicht zweifelsfrei2. Vor allem aber erreicht die Klausel bei dieser Lesart keine rechtssichere Abbedingung der Tarifeinheit im Betrieb, denn eine konkurrierende, an der Klageverzichtsvereinbarung nicht beteiligte Gewerkschaft hätte weiterhin die Möglichkeit, das Verfahren nach §§ 2a Abs. 1 Nr. 6, 99 ArbGG zu beantragen, dessen rechtskräftiger Abschluss dann – nach obigen Erwägungen wohl zwingend – die Verdrängungswirkung nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG herbeiführt. 6 Angesichts der Zweifel, ob Abs. 1 das angestrebte Ziel einer wirksamen Abbedingung der gesetzlichen Kollisionsregel erreichen kann, erlangt Abs. 2 der hier vorgestellten Klausel umso größere Bedeutung. Durch die schuldrechtliche Vereinbarung in Abs. 2 Satz 1 verpflichtet sich die Tarifpartei auf Arbeitgeberseite dazu, die arbeitsvertraglichen Voraussetzungen für eine nicht-normative Geltung der Tarifinhalte zu schaffen (zu dieser Möglichkeit ausf. Teil 9 Rz. 154 ff.). Demnach ist den Mitgliedern der tarifschließenden Gewerkschaft eine darauf gerichtete Änderung ihres Arbeitsvertrags anzubieten. Satz 2 stellt den Inhalt der anzubietenden Vertragsänderung – hier freilich (optional) nur im Sinne einer Zweifelsregel, die Raum für eine abweichende arbeitsvertragliche Ausgestaltung lässt – klar: Regelmäßig interessengerecht ist eine umfassende und zugleich zeitdynamische Anwendung der für das jeweilige Arbeitsverhältnis einschlägigen Tarifnormen. Geschuldet ist damit das Angebot einer kleinen dynamischen Inbezugnahme der geschlossenen TVe. Erfolgt die arbeitsvertragliche Umsetzung nicht durch ein ausdrückliches Angebot auf Abschluss eines Änderungsvertrags, sondern konkludent im Wege der betrieblichen Übung (vgl. Teil 9 Rz. 157), erweist sich in besonderem Maße der Wert der in Satz 2 erfolgten Zweifelsregelung. Hierdurch wird auch der ansonsten möglicherweise unklare Inhalt der betrieblichen Übung abgegrenzt. Im Verhältnis zu einer neben die arbeitsvertragliche Bezugnahme tretenden normativen Tarifgeltung gilt in allen Konstellationen das Günstigkeitsprinzip, § 4 Abs. 3 TVG (vgl. Teil 9 Rz. 181 ff.). 7 Ohne weiteres praktikabel ist eine solche Verpflichtung zur Herbeiführung einer nicht-normativen Tarifgeltung nur dann, wenn sie für die Tarifpartei auf Arbeitgeberseite lediglich eine schuldrechtliche Selbstverpflichtung beinhaltet. Dies ist nur dann
1 Dafür Löwisch, NZA 2015, 1369 unter Berufung auf BVerfG v. 6.10.2015 – 1 BvR 1571/15 u.a., NZA 2015, 1271. 2 Exemplarisch zur Unwirksamkeit eines auf zwingende familienrechtliche Ansprüche bezogenen pactum de non petendo BGH v. 29.1.2014 – XII ZB 303/13, NJW 2014, 1101.
496 Greiner
Unkndbarkeiten/Kndigungsklauseln/Fristen
Rz. 2 Teil 5 (21)
der Fall, wenn Tarifpartei das Unternehmen (also der Vertragsarbeitgeber der durch die Klausel begünstigten Arbeitnehmer) selbst ist. Dies ist nur bei FirmenTVen der Fall (vgl. Teil 9 Rz. 158). Bei unternehmens- oder konzernbezogenen VerbandsTVen bietet sich als praktischer Ausweg an, dem TV insofern zugleich die Wirkungen eines FirmenTVs beizulegen, indem der tarifschließende Verband auch als rechtsgeschäftlicher Vertreter seiner Mitgliedsunternehmen fungiert1. Deutlich wirkungsschwächer wäre die Vereinbarung einer Einwirkungspflicht des Arbeitgeberverbands gegenüber seinen Mitgliedsunternehmen. Abs. 2 Satz 3 regelt (optional), dass jedes betroffene Gewerkschaftsmitglied gegenüber 8 dem Unternehmen individuell einen Anspruch auf Unterbreitung eines Änderungsangebots i.S.d. Abs. 2 Satz 1 und 2 geltend machen kann. Die Regelung verdeutlicht damit die Rechtsnatur der Vereinbarung: Bei Abs. 2 handelt es sich um einen echten Vertrag zugunsten Dritter i.S.d. § 328 Abs. 1 BGB; begünstigte Dritte sind die Mitglieder der tarifschließenden Gewerkschaft.
(21) Unkündbarkeiten/Kündigungsklauseln/Fristen Literatur: Adam, Abschied vom „Unkündbaren“, NZA 1999, 846; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/ Langenbrinck, Kommentar TVöD, Tarif- und Arbeitsrecht im öffentlichen Dienst, Loseblatt; Bröhl, Kündigung im öffentlichen Dienst nach dem neuen TVöD, ZTR 2006, 174; Gaul/Ludwig/ Jung, Der tarifliche Sonderkündigungsschutz für ältere Arbeitnehmer auf dem Prüfstand, ArbRB 2014, 146; Lingemann/Gotham, AGG – Benachteiligungen wegen des Alters in kollektivrechtlichen Regelungen, NZA 2007, 663; Wendeling-Schröder, Der Prüfungsmaßstab bei Altersdiskriminierungen, NZA 2007, 1399.
I. Zweck und Kontext Die gesetzlichen Regelungen in § 622 Abs. 1 bis 3 BGB sehen für die ordentliche Kündi- 1 gung Kündigungsfristen und Kündigungstermine vor. Durch die Regelungen wird die Vertragsbeendigungsfreiheit eingeschränkt und ein zeitlich limitierter Kündigungsschutz bewirkt2. Durch die gesetzlich festgeschriebenen Mindestkündigungsfristen soll sichergestellt werden, dass sich der Arbeitnehmer frei von finanziellen Einbußen um einen neuen Arbeitsplatz bemühen kann3. In diesem Zusammenhang erfahren gerade ältere Beschäftigte durch die Beschränkung des Beendigungstermins auf das Ende eines Kalendermonats sowie insbesondere durch die verlängerten Kündigungsfristen des § 622 Abs. 2 BGB einen besonderen Schutz. Die Regelungen des § 622 BGB binden die Arbeitsvertragsparteien. Gemäß § 622 Abs. 4 BGB kann durch TV von den gesetzlichen Kündigungsfristen ab- 2 gewichen werden. Von dieser Möglichkeit wird in fast allen Branchen Gebrauch gemacht. Anders als im Individualarbeitsverhältnis – hier ist allenfalls eine Verlänge-
1 Formulierungsvorschlag zu Abs. 1: „Der Arbeitgeberverband Y, zugleich handelnd für seine Mitgliedsunternehmen, …“. 2 BAG v. 18.4.1985 – 2 AZR 197/84, NZA 1986, 229. 3 ErfK/Müller-Glöge, § 622 BGB Rz. 1.
Greiner/Hexel/Bork
497
Unkndbarkeiten/Kndigungsklauseln/Fristen
Rz. 2 Teil 5 (21)
der Fall, wenn Tarifpartei das Unternehmen (also der Vertragsarbeitgeber der durch die Klausel begünstigten Arbeitnehmer) selbst ist. Dies ist nur bei FirmenTVen der Fall (vgl. Teil 9 Rz. 158). Bei unternehmens- oder konzernbezogenen VerbandsTVen bietet sich als praktischer Ausweg an, dem TV insofern zugleich die Wirkungen eines FirmenTVs beizulegen, indem der tarifschließende Verband auch als rechtsgeschäftlicher Vertreter seiner Mitgliedsunternehmen fungiert1. Deutlich wirkungsschwächer wäre die Vereinbarung einer Einwirkungspflicht des Arbeitgeberverbands gegenüber seinen Mitgliedsunternehmen. Abs. 2 Satz 3 regelt (optional), dass jedes betroffene Gewerkschaftsmitglied gegenüber 8 dem Unternehmen individuell einen Anspruch auf Unterbreitung eines Änderungsangebots i.S.d. Abs. 2 Satz 1 und 2 geltend machen kann. Die Regelung verdeutlicht damit die Rechtsnatur der Vereinbarung: Bei Abs. 2 handelt es sich um einen echten Vertrag zugunsten Dritter i.S.d. § 328 Abs. 1 BGB; begünstigte Dritte sind die Mitglieder der tarifschließenden Gewerkschaft.
(21) Unkündbarkeiten/Kündigungsklauseln/Fristen Literatur: Adam, Abschied vom „Unkündbaren“, NZA 1999, 846; Breier/Dassau/Kiefer/Lang/ Langenbrinck, Kommentar TVöD, Tarif- und Arbeitsrecht im öffentlichen Dienst, Loseblatt; Bröhl, Kündigung im öffentlichen Dienst nach dem neuen TVöD, ZTR 2006, 174; Gaul/Ludwig/ Jung, Der tarifliche Sonderkündigungsschutz für ältere Arbeitnehmer auf dem Prüfstand, ArbRB 2014, 146; Lingemann/Gotham, AGG – Benachteiligungen wegen des Alters in kollektivrechtlichen Regelungen, NZA 2007, 663; Wendeling-Schröder, Der Prüfungsmaßstab bei Altersdiskriminierungen, NZA 2007, 1399.
I. Zweck und Kontext Die gesetzlichen Regelungen in § 622 Abs. 1 bis 3 BGB sehen für die ordentliche Kündi- 1 gung Kündigungsfristen und Kündigungstermine vor. Durch die Regelungen wird die Vertragsbeendigungsfreiheit eingeschränkt und ein zeitlich limitierter Kündigungsschutz bewirkt2. Durch die gesetzlich festgeschriebenen Mindestkündigungsfristen soll sichergestellt werden, dass sich der Arbeitnehmer frei von finanziellen Einbußen um einen neuen Arbeitsplatz bemühen kann3. In diesem Zusammenhang erfahren gerade ältere Beschäftigte durch die Beschränkung des Beendigungstermins auf das Ende eines Kalendermonats sowie insbesondere durch die verlängerten Kündigungsfristen des § 622 Abs. 2 BGB einen besonderen Schutz. Die Regelungen des § 622 BGB binden die Arbeitsvertragsparteien. Gemäß § 622 Abs. 4 BGB kann durch TV von den gesetzlichen Kündigungsfristen ab- 2 gewichen werden. Von dieser Möglichkeit wird in fast allen Branchen Gebrauch gemacht. Anders als im Individualarbeitsverhältnis – hier ist allenfalls eine Verlänge-
1 Formulierungsvorschlag zu Abs. 1: „Der Arbeitgeberverband Y, zugleich handelnd für seine Mitgliedsunternehmen, …“. 2 BAG v. 18.4.1985 – 2 AZR 197/84, NZA 1986, 229. 3 ErfK/Müller-Glöge, § 622 BGB Rz. 1.
Greiner/Hexel/Bork
497
Teil 5 (21) Rz. 3
Katalog typischer Tarifnormen
rung der Kündigungsfristen durch Vereinbarung der Vertragsparteien in Erwägung zu ziehen (vgl. § 622 Abs. 5 Satz 2 BGB) –, räumt die Öffnungsklausel in § 622 Abs. 4 Satz 1 BGB den TV-Parteien das Recht ein, nahezu uneingeschränkt von den gesetzlichen Regelungen des § 622 Abs. 1–3 BGB abzuweichen. Durch die Tarifdispositivität soll nach dem Willen des Gesetzgebers den Besonderheiten der einzelnen Wirtschaftsbereiche und Beschäftigtengruppen Rechnung getragen werden1. Entsprechend den Bedürfnissen der jeweiligen Branche können so in TVen, abweichend von den gesetzlichen Regelungen, längere oder kürzere Kündigungsfristen – bis hin zu einem gänzlichen Verzicht auf eine Kündigungsfrist – vorgesehen werden. Die Vereinbarung längerer Kündigungsfristen stellt in der Praxis den Regelfall dar. Die Verlängerung der Kündigungsfristen bezieht sich in diesem Zusammenhang regelmäßig nicht nur auf die Grundkündigungsfrist, sondern insbesondere auch auf ein Abweichen von den an die Betriebszugehörigkeit anknüpfenden bereits verlängerten Kündigungsfristen des § 622 Abs. 2 BGB. Die TV-Parteien sind in ihrer Gestaltungsfreiheit nur insoweit eingeschränkt, als auch im Rahmen eines TVes für die Eigenkündigung des Arbeitnehmers keine längeren Fristen als für die Kündigung des Arbeitgebers vereinbart werden dürfen (vgl. § 622 Abs. 6 BGB). Neben der Möglichkeit der Regelung von Kündigungsfristen lässt die Öffnungsklausel auch Raum für abweichende Regelungen der TV-Parteien zu den Kündigungsterminen. 3 Machen die TV-Parteien von ihren Rechten nach § 622 Abs. 4 BGB Gebrauch, haben sie dabei die gleichen Anforderungen wie der Gesetzgeber einzuhalten. Beispielsweise darf die Tarifnorm nicht gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz oder die Vorgaben des allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) verstoßen (vgl. Rz. 13). 4 Ebenso stehen die Vorschriften des KSchG im Wesentlichen nicht zur Disposition der TV-Parteien (vgl. hierzu – insbesondere auch zu den Ausnahmen – im Einzelnen Teil 4 Rz. 69). 5 Zulässig soll es sein, dass die TV-Parteien die Rechte des Arbeitgebers zur ordentlichen Kündigung von Arbeitsverhältnissen, insbesondere für ältere Arbeitnehmer, beschränken. Nicht selten sehen TVe in diesem Zusammenhang sog. Unkündbarkeitsregelungen vor (vgl. Rz. 10 ff.). Hierbei handelt es sich um Regelungen, wonach den Beschäftigten, sofern sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen (in der Regel das Erreichen eines bestimmten Alters und/oder einer bestimmten Betriebszugehörigkeitszeit), nur noch außerordentlich gekündigt werden kann. Die ordentliche Kündigung durch den Arbeitgeber ist hingegen ausgeschlossen. Erfüllt ein Beschäftigter die für seine Branche geltenden Unkündbarkeitsvoraussetzungen, ist es dem Arbeitgeber versagt, Sachverhalte zum Anlass einer arbeitgeberseitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu nehmen, auch wenn sie eine Kündigung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG rechtfertigen würden. Möglich bleibt allein die Kündigung aus wichtigem Grund im Sinne von § 626 BGB. Der Sinn und Zweck derartiger Unkündbarkeitsregelungen in TVen besteht vorwiegend darin, den länger beschäftigten und älteren Arbeitnehmern einen weitergehenden Arbeitsplatzschutz zu gewähren.
1 BT-Drucks. 12/4902, B. Besonderer Teil, zu Artikel 1 (Änderung von § 622 des Bürgerlichen Gesetzbuches), S. 9.
498 Hexel/Bork
Unkndbarkeiten/Kndigungsklauseln/Fristen
Rz. 7 Teil 5 (21)
II. Beispiele § 4 des Manteltarifvertrags fr Beschftigte der Metall- und Elektroindustrie in Sd- 6 wrttemberg-Hohenzollern – Kndigung, Aufhebungsvertrag 4.1
Die Beendigung des Arbeitsverhltnisses durch Kndigung oder Auflçsungsvertrag bedarf zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform; die elektronische Form ist ausgeschlossen.
4.2
Die Kndigungsfrist beginnt frhestens mit dem Tag der vereinbarten Arbeitsaufnahme zu laufen. Eine hiervon abweichende Regelung muss schriftlich vereinbart sein.
4.3
Auf Wunsch ist dem Beschftigten nach Kndigung unter Fortzahlung des Arbeitsentgelts angemessene Zeit zu gewhren, um sich eine neue Stelle zu suchen.
4.4
Einem Beschftigten, der das 53., aber noch nicht das 65. Lebensjahr vollendet hat und dem Betrieb mindestens drei Jahre angehçrt, kann nur noch aus wichtigem Grund gekndigt werden. Dies gilt auch fr eine nderungskndigung.
4.5
Kndigungsfristen
4.5.1
Die beiderseitige Kndigungsfrist betrgt
4.5.1.1 innerhalb der ersten drei Monate Betriebszugehçrigkeit einen Monat zum Monatsende; 4.5.1.2 nach Ablauf der ersten drei Monate zwei Monate zum Monatsende. 4.5.2
Die Kndigungsfrist des Arbeitgebers betrgt gegenber dem Beschftigten nach einer Betriebszugehçrigkeit von 5 Jahren mindestens 3 Monate 8 Jahren mindestens 4 Monate 10 Jahren mindestens 5 Monate 12 Jahren mindestens 6 Monate jeweils zum Schluss eines Kalendervierteljahres.
4.5.3
Bei der Berechnung der Betriebszugehçrigkeit gemß § 4.5.2 werden Beschftigungszeiten, die vor der Vollendung des 25. Lebensjahres liegen, nicht bercksichtigt.
4.6
Fr fristlose Kndigungen gelten die gesetzlichen Bestimmungen. 7
§ 34 TVçD – Kndigung des Arbeitsverhltnisses (1) Bis zum Ende des sechsten Monats seit Beginn des Arbeitsverhltnisses betrgt die Kndigungsfrist zwei Wochen zum Monatsschluss. Im brigen betrgt die Kndigungsfrist bei einer Beschftigungszeit (Absatz 3 Satz 1 und 2) bis zu einem Jahr ein Monat zum Monatsschluss, von mehr als einem Jahr 6 Wochen Hexel/Bork
499
Teil 5 (21) Rz. 8
Katalog typischer Tarifnormen
von mindestens 5 Jahren 3 Monate von mindestens 8 Jahren 4 Monate von mindestens 10 Jahren 5 Monate von mindestens 12 Jahren 6 Monate zum Schluss eines Kalendervierteljahres. (2) Arbeitsverhltnisse von Beschftigten, die das 40. Lebensjahr vollendet haben und fr die die Regelungen des Tarifgebiets West Anwendung finden, kçnnen nach einer Beschftigungszeit (Absatz 3 Satz 1 und 2) von mehr als 15 Jahren durch den Arbeitgeber nur aus einem wichtigen Grund gekndigt werden. Soweit Beschftigte nach den bis zum 30. September 2005 geltenden Tarifregelungen unkndbar waren, verbleibt es dabei. (3) Beschftigungszeit ist die bei demselben Arbeitgeber im Arbeitsverhltnis zurckgelegte Zeit, auch wenn sie unterbrochen ist. Unbercksichtigt bleibt die Zeit eines Sonderurlaubs gemß § 28, es sei denn, der Arbeitgeber hat vor Antritt des Sonderurlaubs schriftlich ein dienstliches oder betriebliches Interesse anerkannt. Wechseln Beschftigte zwischen Arbeitgebern, die vom Geltungsbereich dieses Tarifvertrages erfasst werden, werden die Zeiten bei dem anderen Arbeitgeber als Beschftigungszeit anerkannt. Satz 3 gilt entsprechend bei einem Wechsel von einem anderen çffentlich-rechtlichen Arbeitgeber. 8 § 12 des Bundesrahmentarifvertrags fr das Baugewerbe (BRTV-Bau) – Beendigung des Arbeitsverhltnisses 1. Kndigungsfristen und Schriftformerfordernis 1.1 Allgemeine Kndigungsfrist Das Arbeitsverhltnis kann beiderseitig unter Einhaltung einer Frist von 6 Werktagen, nach sechsmonatiger Dauer von 12 Werktagen, gekndigt werden. 1.2 Verlngerte Kndigungsfrist fr ltere Arbeitnehmer mit lngerer Betriebszugehçrigkeit Die Kndigungsfrist fr den Arbeitgeber erhçht sich, wenn das Arbeitsverhltnis in demselben Betrieb oder Unternehmen drei Jahre bestanden hat, auf einen Monat zum Monatsende, fnf Jahre bestanden hat, auf zwei Monate zum Monatsende, acht Jahre bestanden hat, auf drei Monate zum Monatsende, zehn Jahre bestanden hat, auf vier Monate zum Monatsende, zwçlf Jahre bestanden hat, auf fnf Monate zum Monatsende, fnfzehn Jahre bestanden hat, auf sechs Monate zum Monatsende, zwanzig Jahre bestanden hat, auf sieben Monate zum Monatsende
500 Hexel/Bork
Unkndbarkeiten/Kndigungsklauseln/Fristen
Rz. 10
Teil 5 (21)
Bei der Berechnung der Beschftigungsdauer werden Zeiten, die vor der Vollendung des 25. Lebensjahres liegen, nicht bercksichtigt. Zeiten unterbrochener Betriebszugehçrigkeit werden zusammengerechnet, wenn die Unterbrechung nicht vom Arbeitnehmer veranlasst wurde und wenn sie nicht lnger als sechs Monate gedauert hat. 1.3 Schriftformerfordernis Jede Kndigung hat schriftlich zu erfolgen. 2. Kndigungsausschluss Das Arbeitsverhltnis kann in der Zeit vom 1. November bis 31. Mrz (Schlechtwetterzeit) nicht aus Witterungsgrnden gekndigt werden. 3. (…)
III. Kommentierung 1. § 4 MTV für Beschäftigte der Metall- und Elektroindustrie in Südwürttemberg-Hohenzollern – Kündigung, Aufhebungsvertrag (Rz. 6) Die Regelung des § 4 des Manteltarifvertrags für Beschäftigte der Metall- und Elektro- 9 industrie kann exemplarisch für eine tarifvertragliche Kündigungsvorschrift herangezogen werden, die insbesondere den älteren Beschäftigten dieser Branche einen sehr weitreichenden Sonderkündigungsschutz einräumt (vgl. insbesondere Rz. 10 ff.). In formeller Hinsicht wird durch Ziff. 4.1 zunächst festgelegt, dass die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Kündigung oder Auflösungsvertrag zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform bedarf1. Derartige, in TVen heute noch vielfach zu findende Regelungen, sind spätestens seit der Einführung des § 623 BGB und dem damit einhergehenden zwingenden gesetzlichen Schriftformerfordernis obsolet. Ziff. 4.1 kommt mithin lediglich eine deklaratorische Bedeutung zu. a) Ausschluss der ordentlichen Kündigung (Ziff. 4.4) Die Regelung in Ziff. 4.4 des § 4 beinhaltet einen tariflichen Ausschluss der ordentli- 10 chen Kündigung. Die Unkündbarkeit eines Beschäftigten wird darin an zwei Voraussetzungen geknüpft. Zum einen muss der Beschäftigte das 53., aber noch nicht das 65. Lebensjahr vollendet haben. Zum anderen setzt der tarifliche Ausschluss der ordentlichen Kündigung eine mindestens dreijährige Betriebszugehörigkeit2 voraus. Da-
1 Ebenfalls an die Form der Kündigung anknüpfend finden sich Regelungen, nach denen der Arbeitgeber nach Ausspruch einer ordentlichen Kündigung zum Schutz des Arbeitnehmers auf dessen Verlangen den Kündigungsgrund mitzuteilen hat, vgl. z.B. § 11 Ziff. III 1. des Manteltarifvertrags für die chemische Industrie Nordrhein. 2 Nicht zuletzt wegen dieser Voraussetzung wird oftmals auf die besondere Tragweite dieser Tarifnorm hingewiesen, vgl. z.B. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1974; andere TVe setzen für die Unkündbarkeit eine deutlich längere Betriebszugehörigkeit voraus, vgl. z.B. § 34 Abs. 2 TVöD, der für den Unkündbarkeitsstatus eine Beschäftigungszeit von mehr als 15 Jahren verlangt.
Hexel/Bork
501
Teil 5 (21) Rz. 11
Katalog typischer Tarifnormen
rüber hinausgehende Voraussetzungen werden für die Unkündbarkeit eines Beschäftigten in der Metall und Elektroindustrie in Baden-Württemberg nicht gefordert1. 11
Erfüllt ein Beschäftigter die oben genannten Voraussetzungen, ist dem Arbeitgeber der Ausspruch einer ordentlichen Kündigung verwehrt. Dies soll neben der ordentlichen Beendigungskündigung auch für die ordentliche Änderungskündigung gelten2. Durch Ziff. 4.4 Satz 2 wird dies noch einmal ausdrücklich klargestellt. Sollte sich ein Arbeitgeber dennoch für die ordentliche Kündigung eines tariflich unkündbaren Mitarbeiters entscheiden, wäre diese Kündigung wegen Verstoßes gegen das tarifliche Kündigungsverbot nach § 4 TVG i.V.m. § 134 BGB nichtig3. Für die Annahme der Unwirksamkeit müssen die genannten Voraussetzungen der Unkündbarkeit beim Zugang der Kündigung vorgelegen haben4. Eine unwirksame ordentliche Kündigung kann nicht in eine außerordentliche fristlose Kündigung umgedeutet werden, weil eine Umdeutung nicht zu einer rechtlich weitergehenden Folge führen darf5. Zulässig sein könnte allenfalls eine Umdeutung in eine außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist (vgl. Rz. 15)6. Möchte sich ein unkündbarer Beschäftigter gegen die ordentliche Kündigung seines Arbeitsverhältnisses durch seinen Arbeitgeber zur Wehr setzen, hat er die dreiwöchige Klagefrist des § 4 KSchG einzuhalten7.
12
Da der besondere Kündigungsschutz nur zugunsten der Beschäftigten wirkt, ist der Beschäftigte selbst nicht daran gehindert, seinerseits sein Arbeitsverhältnis durch ordentliche Eigenkündigung innerhalb der allgemeinen tariflich festgelegten Fristen gemäß der Regelungen in Ziff. 4.5 (vgl. Rz. 18) zu beenden.
13
Eine im Zusammenhang mit dem tariflichen Sonderkündigungsschutz vermehrt diskutierte Frage ist, ob ein tariflich unkündbarer Beschäftigter im Fall von betriebsbedingten Kündigungen in die Sozialauswahl mit einzubeziehen ist. Dies wird teilweise mit der Begründung befürwortet, dass den TV-Parteien nicht das Recht zustehe, einem Arbeitnehmer einen Arbeitsplatz auf Kosten eines anderen zu „reservieren“8. Die TV-Parteien dürften nicht gezielt durch die Festlegung der Unkündbarkeit kraft nur zweier Sozialauswahlkriterien (Dauer der Betriebszugehörigkeit, Lebensalter) die Sozialauswahl zu Lasten der anderen Arbeitnehmer steuern9. Nach der wohl überwiegend vertretenen Ansicht sind unkündbare Arbeitnehmer jedoch grundsätzlich aus der Sozialauswahl herauszunehmen10, wenn nicht der TV selbst aufzeigt, dass den geschützten Arbeitnehmern in bestimmten Situationen, z.B. bei kollektiven 1 So bezieht sich z.B. die Altersgrenze für die anrechenbaren Beschäftigungszeiten in Ziff. 4.5.3 (vgl. hierzu unten Rz. 20) systematisch nicht auf die Regelung zur Unkündbarkeit. 2 BAG v. 10.3.1982 – 4 AZR 158/79, DB 1982, 1520; ErfK/Müller-Glöge, § 622 BGB Rz. 47. 3 ErfK/Müller-Glöge, § 622 BGB Rz. 47; vgl. hierzu auch BAG v. 10.2.1999 – 2 AZR 422/98, NZA 1999, 657. 4 Vgl. BAG v. 16.10.1987 – 7 AZR 204/87, NZA 1988, 877. 5 So bereits BAG v. 12.9.1974 – 2 AZR 535/73, DB 1975, 214. 6 Bröhl, Die außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist, 251 f.; dies zumindest nicht ausschließend auch ErfK/Müller-Glöge, § 620 BGB Rz. 62. 7 BAG v. 8.11.2007 – 2 AZR 314/06, NZA 2008, 936; Ascheid/Preis/Schmidt, § 4 KSchG Rz. 10a; Görg/Guth/Hamer/Pieper/Guth, § 34 TVöD Rz. 34. 8 Vgl. z.B. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1971; Adam, NZA 1999, 847 f. 9 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1971. 10 So KR/Griebeling/Rachor, § 1 KSchG Rz. 665d; Däubler/Hensche/Heuschmid, § 1 TVG Rz. 826; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 681 f.
502 Hexel/Bork
Unkndbarkeiten/Kndigungsklauseln/Fristen
Rz. 13a Teil 5 (21)
Maßnahmen, doch Solidarität mit der Gesamtbelegschaft abverlangt werden soll1. Begründet wird die grundsätzliche Herausnahme aus der Sozialauswahl unter anderem damit, dass dadurch eine Einschränkung des Kündigungsschutzes der ordentlich Kündbaren nur mittelbar erfolge. Ferner könne selbst der Arbeitgeber auch über andere Wege – zum Beispiel durch Versetzungsklauseln – den in die Sozialauswahl einzubeziehenden Personenkreis beeinflussen2. Das BAG hat zunächst in einer Entscheidung aus dem Jahre 2008 zu der wortgleichen Ziff. 4.4 des Manteltarifvertrags der Metallindustrie Nordwürttemberg/Nordbaden in einem obiter dictum einen vermittelnden Standpunkt eingenommen3. Nach Ansicht des Gerichts sind Unkündbarkeitsregelungen grundsätzlich als zulässig anzusehen mit der Folge, dass sie grundsätzlich zu einer Herausnahme der Geschützten aus der Sozialauswahl führen. Die Regelungen über den Sonderkündigungsschutz müssten jedoch dann einschränkend angewendet werden bzw. sollen dann keine Wirkung entfalten, wenn hierdurch der Kündigungsschutz anderer Beschäftigter „grob fehlerhaft“ gemindert würde. Als Beispiel für einen solchen „Extremfall“ bildete das BAG den Fall, in dem ein 53-jähriger seit drei Jahren beschäftigter Arbeitnehmer ohne Unterhaltspflichten auf Grund der tarifvertraglichen Regelung aus der Sozialauswahl ausscheiden soll, während ein 52-jähriger seit 35 Jahren im Betrieb beschäftigter Arbeitnehmer mit mehrfachen Unterhaltspflichten zur Kündigung ansteht. Für derartig schwerwiegende Fälle müssten nach Auffassung des Gerichts für die Anwendung der Ziff. 4.4 Einschränkungen gelten. Die Regelung sei dann im Hinblick auf die Grundrechte des ordentlich kündbaren Mitarbeiters verfassungskonform auszulegen bzw. im Hinblick auf die Regelungen zur Altersdiskriminierung gemeinschaftskonform einzuschränken oder im Einzelfall durch einen ungeschriebenen Ausnahmetatbestand innerhalb der Tarifnorm anzupassen4. Mit dieser letzten Aussage macht das Gericht deutlich, dass Unkündbarkeitsklauseln – mit Ausnahme der oben genannten grob fehlerhaften Auswahl – auch mit Blick auf das europarechtliche Verbot der Altersdiskriminierung, das auch jüngere Menschen schützt, grundsätzlich zulässig sein können. Im Regelfall ist damit nicht von einem Verstoß der Regelungen zum Sonderkündigungsschutz gegen das AGG auszugehen5. Inzwischen hat das BAG in einer weiteren Entscheidung – diesmal zu der hier bespro- 13a chenen Regelung in Ziff. 4.4 des MTV der Metall-/Elektroindustrie in Südwürttemberg-Hohenzollern – seine Auffassung bestätigt6. Zwar führe die Regelung in § 4.4 Satz 1 MTV zu einer unmittelbaren Benachteiligung der von ihr nicht erfassten Arbeitnehmer i.S.v. § 3 Abs. 1, § 1 AGG wegen des Merkmals Alter. Sie sei aber bei einer gesetzes- und verfassungskonformen Auslegung, die auch an ihrem Sinn und Zweck zu orientieren sei, nach § 10 Satz 1 und Satz 2 AGG gerechtfertigt. Die Regelung sei, auch wenn der Wortlaut dies nicht zum Ausdruck bringe, begrenzend dahingehend auszulegen, dass sie nur anwendbar sei, soweit dadurch nicht der Kündigungsschutz anderer Beschäftigter im Rahmen der Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 des 1 Vgl. zur entsprechenden Auslegung des § 2 des „TV-Westfalen“ (Textilindustrie): BAG v. 5.6.2014 – 2 AZR 418/13, EzA § 4 TVG Textilindustrie Nr. 2. 2 Thüsing/Braun/Mengel/Burg, 5. Kap. Sonderkündigungsschutz Rz. 5. 3 BAG v. 5.6.2008 – 2 AZR 907/06, NZA 2008, 1120. 4 BAG v. 5.6.2008 – 2 AZR 907/06, NZA 2008, 1120. 5 Vgl. hierzu allgemein Lingemann/Gotham, NZA 2007, 663 (665); Wendeling-Schröder, NZA 2007, 1399 (1404). 6 BAG v. 20.6.2013 – 2 AZR 295/12, NZA 2014, 208; Gaul/Ludwig/Jung, ArbRB 2014, 146.
Hexel/Bork
503
Teil 5 (21) Rz. 14
Katalog typischer Tarifnormen
Kündigungsschutzgesetzes grob fehlerhaft gemindert wird1. Damit kann im Einzelfall in besonders krassen Konstellationen, wie sie das BAG beispielhaft aufgezeigt hat, eine sachgerechte Lösung gefunden werden. Das Risiko der Entscheidung, ob die verfassungskonforme Auslegung im konkreten Einzelfall eine Ausnahme vom Sonderkündigungsschutz indiziert, trägt – wie generell im Rahmen der Sozialauswahl – der Arbeitgeber. Abzuwarten bleibt, ob das BAG dem Arbeitgeber auch in diesem Kontext den ihm bei der Sozialauswahl einzuräumenden Wertungsspielraum zugesteht2. 14
Einen absoluten Kündigungsschutz einzelner Mitarbeiter können selbst die TV-Parteien nicht begründen. Bei dem Recht zur außerordentlichen Kündigung handelt es sich um ein zwingendes Recht, von dem auch durch TV nicht wirksam abgewichen werden kann3. Dahinter steht die allgemeine Überlegung, dass keine Vertragspartei zur Fortführung eines unzumutbaren Arbeitsverhältnisses verpflichtet werden kann. Vielmehr muss ein Dauerschuldverhältnis für den Fall seiner Unzumutbarkeit kündbar bleiben4. Hiervon Abweichendes kann auch nicht in TVen geregelt werden5. Die TV-Parteien können damit lediglich die nach § 626 BGB geltende Rechtslage übernehmen6. Folgerichtig wird in Ziff. 4.4 Satz 1 darauf verwiesen, dass das Arbeitsverhältnis des Beschäftigten „aus wichtigem Grund“ jederzeit kündbar bleibt.
15
Offen bleibt schließlich die Frage, wie im Rahmen der tariflichen Regelungen mit einem Arbeitnehmer umzugehen ist, der die Voraussetzungen der Ziff. 4.4 erfüllt und damit Sonderkündigungsschutz genießt, dessen Arbeitsplatz jedoch bereits zum Zeitpunkt der Vollendung des 54. Lebensjahres des Arbeitnehmers, beispielsweise aufgrund einer Betriebsstilllegung, wegfällt. Ohne einen wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung wäre der Arbeitgeber nach dem bislang Gesagten in dieser Konstellation dazu verpflichtet, diesem Arbeitnehmer für die vielen Jahre bis zum Erreichen des Renteneintrittsalters sein Gehalt fortzuzahlen, ohne dafür eine entsprechende Gegenleistung zu erhalten. Diesem Risiko einer Ewigkeitsbindung7 versucht die Rechtsprechung mittels der so genannten „außerordentlichen Kündigung mit notwendiger Auslauffrist“ zu begegnen. Hierbei handelt es sich um ein Rechtsinstitut, das von der Rechtsprechung ursprünglich für die Kündigung von Arbeitnehmern mit gesetzlichem Sonderkündigungsschutz – insbesondere für die in § 15 Abs. 1–3a KSchG geschützten Personen8 – entwickelt und in der Folgezeit auch auf Arbeitnehmer mit tariflichem Sonderkündigungsschutz übertragen wurde. Ausnahmsweise soll danach eine vorzeitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses eines Arbeitnehmers mit Sonderkündigungsschutz zulässig sein. Die notwendige Auslauffrist entspricht dabei regel1 BAG v. 20.6.2013 – 2 AZR 295/12, NZA 2014, 208. 2 Vgl. dazu zuletzt BAG v. 29.1.2015 – 2 AZR 164/14, NZA 2015, 426: Weder muss der Arbeitgeber die „bestmögliche“ Sozialauswahl durchführen, noch ist entscheidend, ob das Arbeitsgericht dieselbe Auswahl getroffen hätte. 3 BAG v. 25.4.2007 – 6 AZR 746/06, NZA 2007, 881. 4 Vgl. auch Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 686, mit der Anmerkung, dass das Recht zur Kündigung eines Dauerschuldverhältnisses aus wichtigem Grund zu den zwingenden Grundprinzipien des Privatrechts gehört. 5 Vgl. BAG v. 27.6.2002 – 2 AZR 367/01, DB 2003, 102. 6 Zu der Möglichkeit der TV-Parteien, im Sinne einer Konkretisierung der Regelungen des § 626 BGB bestimmte Gründe als Rechtfertigung für eine außerordentliche Kündigung nicht anzuerkennen, vgl. Teil 4 Rz. 70. 7 Zu dieser Begrifflichkeit vgl. Bröhl, FS Schaub, 1998, S. 55 (67). 8 Vgl. hierzu allgemein Ascheid/Preis/Schmidt, § 15 KSchG Rz. 128 f.
504 Hexel/Bork
Unkndbarkeiten/Kndigungsklauseln/Fristen
Rz. 16
Teil 5 (21)
mäßig der im Falle einer ordentlichen Arbeitgeberkündigung zu wahrenden Kündigungsfrist des Arbeitnehmers. Nach der Rechtsprechung kann auf das Mittel der außerordentlichen Kündigung mit 16 notwendiger Auslauffrist nur in sehr engen Grenzen zurückgegriffen werden. Schließlich hat sich der Arbeitgeber durch seinen Verbandsbeitritt bewusst für die Anwendbarkeit der für die Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie geltenden Tarifnormen entschieden. Von diesem freiwillig übernommenen Beschäftigungsrisiko soll er sich nicht ohne weiteres lösen können. Darüber hinaus bedeutet der Unkündbarkeitsstatus auch ein nicht unerhebliches Maß an Rechtssicherheit für den Arbeitnehmer. Er soll darauf vertrauen können, dass sein Arbeitsverhältnis – sofern er keine schwerwiegende Pflichtverletzung begeht – nicht vorzeitig von Seiten des Arbeitgebers beendet werden kann. Eine außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist muss nicht zuletzt aufgrund dieser Gründe regelmäßig das letzte Mittel darstellen. Sie kann deshalb nur in Betracht kommen, wenn der Arbeitnehmer im Betrieb – z.B. in den Fällen einer Betriebseinschränkung oder -stilllegung – überhaupt nicht mehr mit sinnvoller Arbeit beschäftigt werden kann (sog. „sinnentleertes Arbeitsverhältnis“)1. Möchte der Arbeitgeber eine außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist aussprechen, muss er nach der Rechtsprechung des BAG zuvor sämtliche geeignete Maßnahmen ausgereizt haben, um den Ausspruch der Kündigung zu vermeiden2. Zunächst sind die im Rahmen von § 1 Abs. 3 KSchG vergleichbaren oder die in § 1 Abs. 2 Satz 3 KSchG genannten freien Arbeitsplätze einzubeziehen. Auch ist der Arbeitgeber verpflichtet zu prüfen, ob gegebenenfalls durch eine Umorganisation die Beendigung des Arbeitsverhältnisses vermieden werden könnte3. Wie das BAG zuletzt betont hat, ist bei der Prüfung, ob eine außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist gegenüber einem tariflich ordentlich unkündbaren Arbeitnehmer zulässig ist, zunächst insbesondere auch die tarifliche Ausgestaltung des Sonderkündigungsschutzes als solche zu berücksichtigen. Stelle schon die tarifliche Regelung selbst dem Arbeitgeber bestimmte Reaktionsmöglichkeiten zur Verfügung, um sich bei dringenden betrieblichen Gründen aus einem unzumutbar gewordenen vertraglichen Zustand zu lösen, so habe er zunächst von diesen Gebrauch zu machen4. Auf der anderen Seite soll der Arbeitgeber angesichts seiner unternehmerischen Freiheit nach Auffassung des BAG regelmäßig selbst dann nicht von einer Fremdvergabe von Tätigkeiten absehen müssen, wenn dadurch einem ordentlich nicht mehr kündbaren Arbeitsverhältnis die Grundlage entzogen werde5. In der Praxis erweist sich die Durchsetzung solcher Kündigungen dennoch als schwierig: Das Fehlen jeglicher, auch anderweitiger Beschäftigungsmöglichkeiten stellt bei der außerordentlichen betriebsbedingten Kündigung mit notwendiger Auslauffrist regelmäßig einen Teil des wichtigen Grundes im Sinne von § 626 BGB dar und ist deshalb
1 Vgl. BAG v. 5.2.1998 – 2 AZR 227/97, DB 1998, 1035; BAG v. 27.6.2002 – 2 AZR 376/01, DB 2003, 102. 2 Vgl. BAG v. 26.3.2009 – 2 AZR 879/07, DB 2009, 2381; BAG v. 26.11.2009 – 2 AZR 272/08, MDR 2010, 876; BAG v. 22.11.2012 – 2 AZR 673/11, NZA 2013, 730. 3 So z.B. BAG v. 12.8.1999 – 2 AZR 748/98, NZA 1999, 1267; BAG v. 6.10.2005 – 2 AZR 362/04, NZA-RR 2006, 416. 4 BAG v. 22.11.2012 – 2 AZR 673/11, NZA 2013, 730. 5 BAG v. 22.11.2012 – 2 AZR 673/11, NZA 2013, 730; kritisch dazu Stein, DB 2013, 1299 (1300); vgl. auch BAG v. 18.6.2015 – 2 AZR 480/14, NZA 2015, 1315.
Hexel/Bork
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Teil 5 (21) Rz. 17
Katalog typischer Tarifnormen
im Kündigungsschutzprozess gleich auf der ersten Stufe der ansonsten abgestuften Darlegungs- und Beweislast vom Arbeitgeber von sich aus hinreichend darzulegen1. 17
Ob die Pflichten des Arbeitgebers nach der Vorstellung der Rechtsprechung so weit gehen, dass er für den Erhalt des Arbeitsplatzes des Arbeitnehmers mit tariflichem Sonderkündigungsschutz das Arbeitsverhältnis eines von den dringenden betrieblichen Gründen nicht betroffenen und im Sinne von § 1 Abs. 3 KSchG nicht vergleichbaren kündbaren Arbeitnehmers beenden muss, hat das BAG bislang nicht abschließend entschieden. Es hat zu der mit Ziff. 4.4 vergleichbaren Vorschrift des § 55 Abs. 2 UAbs. 1 BAT klargestellt, dass eine Freikündigungspflicht des Arbeitgebers jedenfalls dann ausscheidet, wenn der Arbeitnehmer mit Sonderkündigungsschutz den freigekündigten Arbeitsplatz nicht innerhalb der für einen qualifizierten Stellenbewerber ausreichenden Einarbeitungszeit ausfüllen kann2. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass eine Freikündigungspflicht des Arbeitgebers allenfalls für die Fälle in Betracht kommt, in denen dem tariflich Unkündbaren durch die Freikündigung ein „gleichwertiger Arbeitsplatz“ zur Verfügung gestellt werden kann. Darüber hinaus lassen sich vereinzelte Entscheidungen finden, in denen hinsichtlich eines tariflich unkündbaren Arbeitnehmers die Möglichkeit einer Freikündigung als milderes Mittel in Betracht gezogen wurde3. Trotz alledem scheint das BAG nach wie vor Zweifel daran zu haben, ob sich die Freikündigungspflicht des Arbeitgebers als ein allgemeines Prinzip für Arbeitnehmer mit Sonderkündigungsschutz heranziehen lässt4. Dagegen ließe sich insbesondere anführen, dass das BAG die Freikündigungspflicht des Arbeitgebers ursprünglich aus dem besonderen Zweck des § 15 Abs. 5 KSchG – eine Vorschrift, die dem Schutz der Funktionsfähigkeit des Betriebsrates dient – herleitete5. b) Kündigungsfristen (Ziff. 4.5)
18
Durch Ziff. 4.5.1 des Manteltarifvertrags für die Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie in Südwürttemberg-Hohenzollern werden die Kündigungsfristen geregelt, die während der ersten fünf Beschäftigungsjahre sowohl für den Arbeitnehmer als auch für den Arbeitgeber gelten. Die Länge der Kündigungsfrist ist jeweils abhängig von der Betriebszugehörigkeit des einzelnen Beschäftigten. Während der ersten drei Beschäftigungsmonate kann ein Arbeitsverhältnis gemäß Ziff. 4.5.1.1 innerhalb eines Monats zum Monatsende gekündigt werden. Die Regelung geht damit insoweit über die gesetzliche Regelung des § 622 Abs. 1 BGB hinaus, als das Arbeitsverhältnis
1 BAG v. 6.10.2005 – 2 AZR 362/04, NZA-RR 2006, 416; BAG v. 22.11.2012 – 2 AZR 673/11, NZA 2013, 730; BAG v. 18.6.2015 – 2 AZR 480/14, NZA 2015, 1315. 2 BAG v. 18.5.2006 – 2 AZR 207/05, BB 2007, 668. 3 Vgl. BAG v. 6.10.2005 – 2 AZR 362/04, NZA-RR 2006, 416; ebenso BAG v. 25.4.2007 – 6 AZR 746/06, NZA 2007, 881; dies ablehnend LAG Schleswig-Holstein v. 4.9.2007 – 5 Sa 61/07, ZTR 2007, 684. 4 Vgl. hierzu insbesondere BAG v. 18.5.2006 – 2 AZR 207/05, BB 2007, 668: Der Senat hob in dieser Entscheidung hervor, dass eine Freikündigungspflicht bisher nur im Rahmen des § 15 Abs. 5 KSchG anerkannt sei; vgl. auch BAG v. 27.6.2002 – 2 AZR 367/01, DB 2003, 102: Hier wollte sich das Gericht nicht festlegen, ob auch hinsichtlich eines tariflich Unkündbaren eine Freikündigungspflicht des Arbeitgebers als milderes Mittel in Betracht kommen kann. 5 Vgl. hierzu BAG v. 18.10.2000 – 2 AZR 494/99, NZA 2001, 98; BAG v. 12.3.2009 – 2 AZR 47/08, DB 2009, 1712.
506 Hexel/Bork
Unkndbarkeiten/Kndigungsklauseln/Fristen
Rz. 21
Teil 5 (21)
nur zum Ende und nicht auch zum Fünfzehnten eines Kalendermonats gekündigt werden kann. Auch die Regelung in Ziff. 4.5.1.2 ist für den Arbeitnehmer deutlich günstiger als die gesetzliche Regelung. Unter dem TV kann das Arbeitsverhältnis bereits nach Ablauf der ersten drei Beschäftigungsmonate nur mit einer Frist von zwei Monaten zum Kalendermonatsende gekündigt werden. Das Gesetz sieht in § 622 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BGB eine zweimonatige Kündigungsfrist erst nach einer fünfjährigen Betriebszugehörigkeit vor. Nach Ablauf einer Betriebszugehörigkeit von fünf Jahren kommen schließlich für Kün- 19 digungen des Arbeitgebers die verlängerten Kündigungsfristen der Ziff. 4.5.2 zur Anwendung. Auch diese liegen jeweils über dem gesetzlich für Arbeitsverträge vorgeschriebenen Mindestrahmen (vgl. § 622 Abs. 2 BGB). Darüber hinaus legt Ziff. 4.5.2 abweichende Kündigungstermine fest. Statt zum Ende des Kalendermonats – wie es § 622 Abs. 2 BGB für sämtliche Stufen vorsieht – kann eine Kündigung gemäß Ziff. 4.5.2 nur zum Ende des Kalendervierteljahres erfolgen. Insgesamt sieht die Tarifnorm vier Stufen vor. Die Dauer der verlängerten Kündigungsfrist ist wiederum abhängig von der Betriebszugehörigkeit des Beschäftigten. Die Kündigungsfrist beträgt nach fünf Beschäftigungsjahren mindestens drei Monate, nach acht Beschäftigungsjahren mindestens vier Monate, nach zehn Beschäftigungsjahren mindestens fünf Monate und nach zwölf Jahren mindestens sechs Monate zum Ende des Kalendervierteljahres. Problematisch ist in diesem Zusammenhang, dass nach Ziff. 4.5.3 bei der Berechnung 20 der Betriebszugehörigkeit gemäß Ziff. 4.5.2 Beschäftigungszeiten, die vor der Vollendung des 25. Lebensjahres liegen, unberücksichtigt bleiben sollen. § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB sieht eine entsprechende Regelung vor. Mit einer Entscheidung aus dem Jahr 2010 hat der EuGH auf Vorlage des LAG Düsseldorf festgestellt, dass § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB mit dem Unionsrecht, insbesondere dem Verbot der Altersdiskriminierung (RL 2000/78/EG), unvereinbar ist1. Soweit eine europarechtskonforme Auslegung wegen der Klarheit und Eindeutigkeit ausscheide, müsse die Bestimmung unangewendet bleiben. Das LAG Düsseldorf sah keine Auslegungsmöglichkeit und ließ § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB unangewendet2. Die EuGH-Entscheidung sorgte damit für Rechtsklarheit. Es dürfte heute feststehen, dass auch die Betriebszugehörigkeit, die ein Arbeitnehmer vor Vollendung des 25. Lebensjahres zurückgelegt hat, bei der Berechnung der gesetzlichen Kündigungsfristen mit zu berücksichtigen ist. Für die Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie in Südwürttemberg-Hohenzollern gilt Entsprechendes. Ziff. 4.5.3 findet zukünftig wegen Verstoßes gegen das Verbot der Altersdiskriminierung bzw. wegen Verstoßes gegen das entsprechende Verbot nach § 7 Abs. 1, § 1 AGG auf sie keine Anwendung. Die TV-Parteien werden die Tarifnorm bei Gelegenheit entsprechend anpassen müssen. 2. § 34 TVöD – Kündigung des Arbeitsverhältnisses (Rz. 7) Die Regelung des § 34 TVöD ähnelt in weiten Teilen dem unter Rz. 9 ff. kommentierten § 4 des Manteltarifvertrags für Beschäftigte der Metall- und Elektroindustrie. Im Folgenden soll deshalb nur auf einige Besonderheiten dieser Tarifnorm des öffentlichen Sektors näher eingegangen werden. 1 EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07, DB 2010, 228 – Kücükdeveci. 2 LAG Düsseldorf v. 17.2.2010 – 12 Sa 1311/07, DB 2010, 905.
Hexel/Bork
507
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Teil 5 (21) Rz. 22
Katalog typischer Tarifnormen
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Anders als im Falle der Kündigungsklausel für die Metall- und Elektroindustrie wird durch § 34 TVöD das Schutzniveau im Vergleich zu den gesetzlichen Regelungen nicht ausschließlich zugunsten der Arbeitnehmer angehoben. Für die ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses sieht § 34 Abs. 1 Satz 1 TVöD eine Kündigungsfrist von lediglich zwei Wochen zum Monatsende vor, die für beide Parteien des Arbeitsvertrages gilt. Diese gegenüber § 622 Abs. 1 BGB verkürzte tarifliche Kündigungsfrist verfolgt insbesondere den Zweck, die Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers zu erproben. Beiden Vertragsparteien soll die Möglichkeit eingeräumt werden, sich schnell von dem Arbeitsverhältnis zu lösen, sofern eine dauerhafte Zusammenarbeit unzumutbar erscheint. Anders als gemäß den gesetzlichen Regelungen des BGB (§ 622 Abs. 3 BGB) gilt die kurze Kündigungsfrist im Geltungsbereich des TVöD völlig unabhängig davon, ob die Parteien im Arbeitsvertrag ausdrücklich eine Vereinbarung über eine Probezeit treffen1.
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Nach Ablauf der ersten sechs Monate sieht § 34 Abs. 1 Satz 2 TVöD gestaffelte Kündigungsfristen und auch veränderte Kündigungstermine vor, die regelmäßig über den gesetzlich vorgeschriebenen Rahmen des § 622 Abs. 2 BGB hinausgehen. Ein Unterschied zu der oben erläuterten Regelungen für die Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie besteht jedoch darin, dass die hier geregelten Fristen nicht nur vom Arbeitgeber, sondern ebenso von den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes im Falle einer Eigenkündigung einzuhalten sind. Eine solche beidseitige Bindung auch an die verlängerten Kündigungsfristen entspricht nicht dem Regelfall. Das BAG hat jedoch bereits zu der – hinsichtlich der verlängerten Kündigungsfristen – wortgleichen Vorgängernorm des § 53 BAT entschieden, dass die darin zum Ausdruck kommende beidseitige Bindung an die verlängerten Kündigungsfristen für beide Parteien interessengerecht ist2.
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Schließlich sieht auch § 34 TVöD in seinem Abs. 2 einen tariflichen Ausschluss der ordentlichen Kündigung vor. Beschäftigte des Tarifgebietes West gelten als unkündbar, sofern sie das 40. Lebensjahr vollendet haben und eine Beschäftigungszeit von mehr als 15 Jahren vorweisen können. Hinsichtlich dieser Regelungen zur Unkündbarkeit kann weitestgehend auf die obigen Ausführungen (Rz. 10 ff.) verwiesen werden. Auch im TVöD schließt der Wortlaut der Bestimmung zwar eine Kündigung ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes aus, nicht aber eine Kündigung aus wichtigem Grund mit Auslauffrist (vgl. Rz. 15 ff.)3. Allerdings dürfte die in § 34 Abs. 2 TVöD vorgenommene Differenzierung zwischen Arbeitnehmern des Tarifgebiets West und Ost nicht ganz unbedenklich sein4. 3. § 12 BRTV-Bau – Beendigung des Arbeitsverhältnisses (Rz. 8)
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Anhand der Regelung des § 12 BRTV-Bau soll schließlich aufgezeigt werden, wie weitreichend die TV-Parteien im Rahmen der ihnen zukommenden Tarifdispositivität (§ 622 Abs. 4 BGB) auch zu Lasten der Beschäftigten von den gesetzlichen Kündigungsvorschriften abweichen können. Die darin für die Beschäftigten des Baugewerbes während der ersten drei Beschäftigungsjahre vorgesehenen Kündigungsfristen unterschreiten deutlich den in § 622 BGB normierten gesetzlichen Rahmen. Gemäß Ziff. 1.1.1 des 1 2 3 4
Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, § 34 TVöD Rz. 11. BAG v. 20.12.1990 – 2 AZR 412/90, NZA 1991, 569. BAG v. 13.5.2015 – 2 AZR 531/14, BB 2015, 2682. Vgl. hierzu Bröhl, ZTR 2006, 174 (178).
508 Hexel/Bork
Rz. 1 Teil 5 (22)
Urlaubsklauseln
TVes kann das Arbeitsverhältnis während der ersten sechs Monate der Betriebszugehörigkeit von beiden Parteien innerhalb von sechs Werktagen gekündigt werden. Ist der Beschäftigte länger als sechs Monate, aber weniger als drei Jahre beschäftigt, kann das Beschäftigungsverhältnis beiderseitig innerhalb einer Frist von 12 Werktagen gekündigt werden. Dabei muss die Kündigung in beiden Fällen weder zum 15. noch zum Ende eines Monats erfolgen. Die Regelung trägt den besonderen Gegebenheiten der Baubranche Rechnung. Die Baubranche unterliegt in ihrem produktiven Bereich insbesondere saisonalen Einflüssen und Witterungsverhältnissen. Hinzu kommt eine sehr starke Konjunkturabhängigkeit, da in der Baubranche nicht auf Vorrat, sondern auftragsabhängig produziert wird. Erst nach Ablauf einer dreijährigen Betriebszugehörigkeit werden die Kündigungsfristen für die Arbeitgeberkündigung zu Gunsten des Beschäftigten angehoben. Sie entsprechen ab diesem Zeitpunkt den in § 622 Abs. 2 BGB vorgesehenen vertraglichen Mindestfristen. Die auch hier für die Berechnung der Beschäftigungsdauer vorgesehene Altersgrenze von 25. Jahren kommt aus den in Rz. 20 genannten Gründen nicht zur Anwendung. Abschließend ist auf § 12 Ziff. 2 BRTV-Bau hinzuweisen. Hiernach ist es dem Arbeit- 26 geber generell versagt, während der gesetzlichen Schlechtwetterzeit vom 1. Dezember bis zum 31. März (vgl. § 101 SGB III) Kündigungen auszusprechen. Die Regelung soll der Förderung einer ganzjährigen Beschäftigung im Baugewerbe dienen. Arbeitsausfälle sollen in diesen Monaten durch die Zahlung des sog. „Saison-Kurzarbeitergeldes“ (vgl. hierzu § 101 SGB III) überbrückt werden.
(22) Urlaubsklauseln Literatur: Bauer/v. Medem, Von Schultz-Hoff zu Schulte – der EuGH erweist sich als lernfähig, NZA 2012, 113; Bayreuther, Kurzarbeit, Urlaub und der EuGH, DB 2012, 2748; Beckschulze/Erarslan, Urlaubsansprüche trotz Arbeitsunfähigkeit, NWB 2010, 2154; Benecke, Urlaub und Urlaubsabgeltung, RdA 2011, 241; Düwell, Abgeltung des Urlaubsanspruchs als Surrogat? – Ein Luxemburger Missverständnis!, DB 2011, 2492; Düwell, Urlaub bei Erwerbsunfähigkeit, DB 2012, 1749; Franzen, Zeitliche Begrenzung der Urlaubsansprüche langzeiterkrankter Arbeitnehmer, NZA 2011, 1403; Jesgarzewski, Keine Urlaubsabgeltung bei Tod des Arbeitnehmers, BB 2012, 1347; Leinemann, Berechnung der Urlaubsdauer bei regelmäßig und unregelmäßig verteilter Arbeitszeit, DB 1999, 1499; Moderegger, Rolle rückwärts im Urlaubsrecht?, ArbRB 2012, 54; B. Natzel, Bundesurlaubsrecht, Handkommentar, 4. Aufl. 1988; I. Natzel, Die Betriebszugehörigkeit im Arbeitsrecht, Diss., 2000; I. Natzel, Tilgungsbestimmung – Heilmittel im Urlaubsrecht?, NZA 2011, 77; Oertel/Chmel, Verfällt der Urlaub bei Krankheit nun doch?, DB 2012, 460; Plüm, Wohin im Urlaub?, NZA 2013, 11; Powietzka/Christ, Urlaubsanspruch im ruhenden Arbeitsverhältnis – oder noch nicht?, NZA 2013, 18; Schiefer/Brasse, Verfallbarkeit wegen Krankheit nicht genommenen Urlaubs – Richtungswechsel?, DB 2011, 1976; Weiss, Kommentar zum MTV Metall NRW, 5. Aufl. 2012; Wicht, Urlaub im ruhenden Arbeitsverhältnis, BB 2012, 1349.
I. Zweck und Kontext Während früher das Urlaubsrecht Gegenstand landesrechtlicher Regelungen war, be- 1 steht mit Inkrafttreten des BUrlG im Jahre 1963 eine bundeseinheitliche Urlaubsregelung, die aufgrund § 13 BUrlG unabdingbare Mindestbedingungen festlegt. Allerdings ist die Unabdingbarkeit auf die Vorschriften der §§ 1, 2 und 3 Abs. 1 BUrlG beschränkt. Hexel/Bork/Natzel
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Rz. 1 Teil 5 (22)
Urlaubsklauseln
TVes kann das Arbeitsverhältnis während der ersten sechs Monate der Betriebszugehörigkeit von beiden Parteien innerhalb von sechs Werktagen gekündigt werden. Ist der Beschäftigte länger als sechs Monate, aber weniger als drei Jahre beschäftigt, kann das Beschäftigungsverhältnis beiderseitig innerhalb einer Frist von 12 Werktagen gekündigt werden. Dabei muss die Kündigung in beiden Fällen weder zum 15. noch zum Ende eines Monats erfolgen. Die Regelung trägt den besonderen Gegebenheiten der Baubranche Rechnung. Die Baubranche unterliegt in ihrem produktiven Bereich insbesondere saisonalen Einflüssen und Witterungsverhältnissen. Hinzu kommt eine sehr starke Konjunkturabhängigkeit, da in der Baubranche nicht auf Vorrat, sondern auftragsabhängig produziert wird. Erst nach Ablauf einer dreijährigen Betriebszugehörigkeit werden die Kündigungsfristen für die Arbeitgeberkündigung zu Gunsten des Beschäftigten angehoben. Sie entsprechen ab diesem Zeitpunkt den in § 622 Abs. 2 BGB vorgesehenen vertraglichen Mindestfristen. Die auch hier für die Berechnung der Beschäftigungsdauer vorgesehene Altersgrenze von 25. Jahren kommt aus den in Rz. 20 genannten Gründen nicht zur Anwendung. Abschließend ist auf § 12 Ziff. 2 BRTV-Bau hinzuweisen. Hiernach ist es dem Arbeit- 26 geber generell versagt, während der gesetzlichen Schlechtwetterzeit vom 1. Dezember bis zum 31. März (vgl. § 101 SGB III) Kündigungen auszusprechen. Die Regelung soll der Förderung einer ganzjährigen Beschäftigung im Baugewerbe dienen. Arbeitsausfälle sollen in diesen Monaten durch die Zahlung des sog. „Saison-Kurzarbeitergeldes“ (vgl. hierzu § 101 SGB III) überbrückt werden.
(22) Urlaubsklauseln Literatur: Bauer/v. Medem, Von Schultz-Hoff zu Schulte – der EuGH erweist sich als lernfähig, NZA 2012, 113; Bayreuther, Kurzarbeit, Urlaub und der EuGH, DB 2012, 2748; Beckschulze/Erarslan, Urlaubsansprüche trotz Arbeitsunfähigkeit, NWB 2010, 2154; Benecke, Urlaub und Urlaubsabgeltung, RdA 2011, 241; Düwell, Abgeltung des Urlaubsanspruchs als Surrogat? – Ein Luxemburger Missverständnis!, DB 2011, 2492; Düwell, Urlaub bei Erwerbsunfähigkeit, DB 2012, 1749; Franzen, Zeitliche Begrenzung der Urlaubsansprüche langzeiterkrankter Arbeitnehmer, NZA 2011, 1403; Jesgarzewski, Keine Urlaubsabgeltung bei Tod des Arbeitnehmers, BB 2012, 1347; Leinemann, Berechnung der Urlaubsdauer bei regelmäßig und unregelmäßig verteilter Arbeitszeit, DB 1999, 1499; Moderegger, Rolle rückwärts im Urlaubsrecht?, ArbRB 2012, 54; B. Natzel, Bundesurlaubsrecht, Handkommentar, 4. Aufl. 1988; I. Natzel, Die Betriebszugehörigkeit im Arbeitsrecht, Diss., 2000; I. Natzel, Tilgungsbestimmung – Heilmittel im Urlaubsrecht?, NZA 2011, 77; Oertel/Chmel, Verfällt der Urlaub bei Krankheit nun doch?, DB 2012, 460; Plüm, Wohin im Urlaub?, NZA 2013, 11; Powietzka/Christ, Urlaubsanspruch im ruhenden Arbeitsverhältnis – oder noch nicht?, NZA 2013, 18; Schiefer/Brasse, Verfallbarkeit wegen Krankheit nicht genommenen Urlaubs – Richtungswechsel?, DB 2011, 1976; Weiss, Kommentar zum MTV Metall NRW, 5. Aufl. 2012; Wicht, Urlaub im ruhenden Arbeitsverhältnis, BB 2012, 1349.
I. Zweck und Kontext Während früher das Urlaubsrecht Gegenstand landesrechtlicher Regelungen war, be- 1 steht mit Inkrafttreten des BUrlG im Jahre 1963 eine bundeseinheitliche Urlaubsregelung, die aufgrund § 13 BUrlG unabdingbare Mindestbedingungen festlegt. Allerdings ist die Unabdingbarkeit auf die Vorschriften der §§ 1, 2 und 3 Abs. 1 BUrlG beschränkt. Hexel/Bork/Natzel
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Teil 5 (22) Rz. 2
Katalog typischer Tarifnormen
Außerhalb der zitierten Bestimmungen sind auch Vereinbarungen zuungunsten von Arbeitnehmern in einem bestimmten Rahmen zulässig, wenn sie in einem TV erfolgen. Diesen Bestimmungen gilt dann der Vorrang vor den gesetzlichen Bestimmungen (tarifliches Vorrangprinzip). Darüber hinaus sind selbstredend günstigere Regelungen zulässig, die einzel- oder kollektivrechtlich vom Gesetz abweichen. 2 Als Abweichung ist bspw. eine tarifliche Regelung zulässig, – die zuungunsten die Wartezeit des § 4 BUrlG verlängert, – nach der ein Arbeitnehmer bei Ausscheiden während der Wartezeit entgegen § 5 Abs. 1 BUrlG keinen Anspruch auf Teilurlaub hat1, – die die Fälligkeit von Teilurlaubsansprüchen hinausschiebt2 oder – die zur Bemessung des Urlaubsentgelts anstelle des Referenzprinzips das Entgeltausfallprinzip vorsieht (§ 11 Abs. 1 BUrlG). Unabhängig davon ist eine Regelung zulässig, die einen über das Gesetz hinausgehenden Urlaubsanspruch eigenständigen Regelungen unterwirft. Dies darf die tarifliche Regelung, da der über den gesetzlichen Mindesturlaub hinaus gewährte Mehrurlaub nicht den Schutzvorschriften des BUrlG untersteht3. Mehrurlaub kann also von den Tarifpartnern – Gleiches gilt für die Einzelvertragsparteien – ohne Rücksicht auf die Unabdingbarkeitsregelung des Gesetzes, also unter vom Gesetz abweichenden Bedingungen und mit besonderen Vorbehalten gewährt werden. 3 Verstößt eine auch den gesetzlichen Teil des Urlaubs mit umfassende tarifvertragliche Regelung unmittelbar oder mittelbar gegen die Bestimmungen der §§ 1, 2 oder 3 Abs. 1 BUrlG, so ist sie gemäß § 134 BGB insoweit, nicht aber vollständig nichtig4. 4 Die Regelungen der TV-Parteien schießen vielfach – insbesesondere hinsichtlich der Urlaubsdauer – über das Gesetz hinaus. Dann ist zu prüfen, ob die tarifliche Regelung auch diesen Teil des Urlaubs den gesetzlichen Bestimmungen bzw. der dazu ergangenen Rechtsprechung unterwirft oder diesen eigenständigen Regelungen unterstellt. Diese Frage wurde gerade durch die bekannte Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Schultz-Hoff5 in besonderer Weise virulent. Dort hatte das Gericht die RL 2003/88/EG (Arbeitszeitrichtlinie) so ausgelegt, dass die in der Bundesrepublik nach § 7 Abs. 3 BUrlG geltenden Verfallsfristen für Urlaubsansprüche nur dann zulässig sind, wenn sie Ausnahmen für arbeitsunfähige Beschäftigte vorsehen. Damit wurde zugleich die vom BAG in ständiger Rechtsprechung6 vertretene Auffassung gekippt, dass der Arbeitnehmer auch dann keinen finanziellen Ausgleich für nicht in Anspruch genommenen Urlaub verlangen kann, wenn er zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses und darüber hinaus bis zum Zeitpunkt des Anspruchsverfalls nach Ende des Übertragungszeitraums arbeitsunfähig erkrankt war7. Der geänderten Recht1 BAG v. 5.10.1967 – 5 AZR 119/67 sowie v. 27.6.1978 – 6 AZR 59/77, AP Nr. 10 und 12 zu § 13 BUrlG m. Anm. Wiedemann. 2 BAG v. 15.12.1983 – 6 AZR 606/80, AP Nr. 14 zu § 13 BUrlG. 3 BAG v. 21.6.1968 – 5 AZR 408/67, BB 1968, 996. 4 B. Natzel, § 13 BUrlG Rz. 31. 5 EuGH v. 20.1.2009 – Rs. C-350/06, NZA 2009, 135. 6 Vgl. nur BAG v. 10.5.2005 – 9 AZR 253/04, NZA-RR 2006, 112. 7 S. insoweit Dornbusch/Ahner, NZA 2009, 180; Subatzus, DB 2009, 510.
510 Natzel
Urlaubsklauseln
Rz. 5 Teil 5 (22)
sprechung des EuGH ist späterhin das vorlegende LAG1 ebenso gefolgt wie das BAG als Revisionsinstanz2. Dabei vertrat es die Auffassung, § 7 Abs. 3 und 4 BUrlG aufgrund der EuGH-Entscheidung gemeinschaftskonform fortbilden zu müssen. Diese Rechtsprechungsänderung führt dazu, nunmehr einer eingehenden Prüfung zu unterwerfen, wann ein über das BUrlG hinausgehender Urlaubsanspruch den Bestimmungen des BUrlG und der dazu unter Berücksichtigung der EuGH-Rechtsprechung ergangenen Rechtsprechung unterfällt und wann nicht. Zur Frage des Zusatzurlaubs für schwerbehinderte Menschen nach § 125 SGB IX entschied das BAG bereits, dass dieser das Schicksal des gesetzlichen Mindesturlaubs teile3. Ansonsten unterwirft es aber einer Prüfung, inwiefern ein TV zwischen gesetzlichen und übergesetzlichen Urlaubsansprüchen trennt. Denn es erkennt an, dass die TV-Parteien den nicht unionsrechtlich verbürgten Teil des Urlaubs (Mehrurlaub) in der Weise regeln können, dass der Arbeitnehmer das Risiko der Inanspruchnahme bis zu einem von den TV-Parteien festgelegten Zeitpunkt trage4. Es führt insoweit aus, dass die richtlinienkonforme Fortbildung oder unionsrechtskonforme Auslegung von Vorschriften des BUrlG nicht auf den tariflichen Mehrurlaub anzuwenden sei, wenn ein TV eine eigenständige Regelung treffe. Hierzu müsse die Auslegung ergeben, dass der TV vom grundsätzlichen Gleichlauf zwischen gesetzlichem Mindesturlaub und tariflichen Mehrurlaub abweiche. Ein solcher Fall der Abweichung sei gegeben, wenn der TV entweder zwischen gesetzlichem Urlaub und tariflichen Mehrurlaub unterscheide5 oder sowohl für Mindest- als auch Mehrurlaub wesentlich von § 7 Abs. 3 BUrlG abweichende Übertragungs- und Verfallsregeln bestimme6. Hierzu müssen im Rahmen der Auslegung nach §§ 133, 157 BGB „deutliche Anhaltspunkte“ bestehen7. Allerdings müssen die TV-Parteien nicht etwa im Wortlaut des Tariftextes eine Differenzierung vornehmen. Vielmehr genügt es für die Annahme der Unterscheidbarkeit, dass sich die TV-Parteien in weiten Teilen vom gesetzlichen Urlaubsregime lösen und stattdessen eigene Regeln aufstellen. Im Fall einer solchen eigenständigen, zusammenhängenden und in sich konsistenten Regelung ist ohne entgegenstehende Anhaltspunkte i.d.R. davon auszugehen, dass die (Tarif-)Vertragsparteien Ansprüche nur begründen und fortbestehen lassen wollen, soweit eine gesetzliche Verpflichtung besteht8. Auch wenn die „Rolle rückwärts im Urlaubsrecht“9 mit der Entscheidung des EuGH v. 22.11.201110 eingeleitet ist und der EuGH zudem entschieden hat, dass die Arbeits1 2 3 4 5
6 7 8 9 10
LAG Düsseldorf v. 23.1.2009 – 12 Sa 486/06, NZA-RR 2009, 242. BAG v. 23.9.2010 – 9 AZR 128/09, NZA 2010, 810. BAG v. 23.3.2010 – 9 AZR 128/09, NZA 2010, 810. BAG v. 12.4.2011 – 9 AZR 80/10, NZA 2011, 1050. So z.B. noch MTV Chemie v. 2.2.1953 i.d.F. vom 20.4.1956 in § 14 IV: „Verhältnis der tariflichen Urlaubsregelungen zu den Urlaubsgesetzen: Die TV-Parteien sind sich einig, dass diese für das Bundesgebiet getroffene Urlaubsregelung unter Beachtung der in den einzelnen Ländern bestehenden Urlaubsgesetze erfolgt ist und insgesamt über diese hinausgeht. Sie hat daher im Einzelfall den Vorrang vor diesen Urlaubsgesetzen“. BAG v. 12.4.2011 – 9 AZR 80/10, NZA 2011, 1050; v. 17.11.2015 – 9 AZR 275/14. BAG v. 24.3.2009 – 9 AZR 983/07, NZA 2009, 538; s. dazu auch Beckschulze/Erarslan, NWB 2010, 2154. BAG v. 23.3.2010 – 9 AZR 128/09, NZA 2010, 810. So Moderegger, ArbRB 2012, 54. EuGH v. 22.11.2011 – Rs. C-214/10, NZA 2011, 1333; dazu: Bauer/v. Medem, NZA 2012, 113; Franzen, NZA 2011, 1403; Oertel, DB 2012, 460; Schiefer/Brasse, DB 2011, 1976; Schinz, RdA 2012, 181.
Natzel
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Teil 5 (22) Rz. 6
Katalog typischer Tarifnormen
zeitrichtlinie keiner nationalen Bestimmung entgegenstehe, nach der je nach Ursache der Fehlzeiten eines krankgeschriebenen Arbeitnehmers die Dauer des bezahlten Jahresurlaubs länger als die von dieser Richtlinie gewährleistete Mindestdauer von vier Wochen oder genau so lang wie diese ist1, hat nunmehr auch das BAG2 eingelenkt. Das BAG legt nunmehr § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG für Fälle langjährig arbeitsunfähiger Arbeitnehmer unionsrechtskonform so aus, dass der Urlaubsanspruch 15 Monate nach Ablauf eines Kalenderjahres entfällt. Dennoch: Angesichts divergierender gesetzlicher, kollektiv- sowie individualvertraglicher Regelungen wird man weiterhin diese oder jene Sachverhalts- und Normenkonstellationen klären lassen müssen. 6 Zu typischerweise in TVen enthaltenen und im Zusammenhang mit Urlaubsrechtssachverhalten stehenden Fragen wurde neben den bereits erwähnten Fragestellungen bislang mitunter ausgeurteilt: – Auch wenn für den gesetzlichen Mindesturlaub der Grundsatz gilt, dass dieser unabhängig von der erbrachten Arbeitsleistung entsteht, kann ein TV den Anspruch auf darüber hinausgehenden Urlaub vom Erbringen von Arbeitsleistung abhängig machen. So fordert § 46 Nr. 7 TVöD-BT-V eine „Arbeitsleistung“ als Voraussetzung für den Anspruch auf Zusatzurlaub. Hierzu hat das BAG3 entschieden, dass die geforderte Tätigkeit tatsächlich erbracht werden muss und weder der rechtliche Bestand des Arbeitsverhältnisses noch die bloße Einteilung des Arbeitnehmers im Schichtplan ausreichend sei. Insoweit verweist das Gericht auf Sinn und Zweck der Tarifvorschrift, einen Ausgleich für die Belastungen durch Schichtarbeit zu gewähren. – Soweit TV-Regelungen den Verfall von Urlaubsansprüchen vorsehen, ist dies zulässig. Dies gilt für tariflichen Mehrurlaub, aber nach der EuGH-Entscheidung v. 22.11.20114, wonach einzelstaatliche Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten die Ansammlung von Urlaubsansprüchen dadurch einschränken könnten, dass sie einen Übertragungszeitraum von 15 Monaten vorsehen, nach dessen Ablauf der Urlaubsanspruch erlischt, auch für den gesetzlichen Mindesturlaub5. TVe gehören als Regelungen mit Normwirkung zu den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten, die den unionsrechtlich vorgesehenen Urlaubsanspruch näher ausgestalten können. Eine insoweit getroffene Regelung ist auch mit dem BUrlG vereinbar, da sie die Vorschriften der §§ 1, 2 und 3 Abs. 1 unangetastet lässt6. – Nachdem das BAG die Surrogationstheorie, die besagt, dass der Anspruch auf Urlaubsabgeltung ein Surrogat zum Urlaubsanspruch selbst darstelle, aufgegeben hat7, unterliegt der Urlaubsabgeltungsanspruch als reiner Geldanspruch, der sich nicht von anderen Entgeltansprüchen aus dem Arbeitsverhältnis unterscheidet,
1 EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10, NZA 2012, 139. 2 S. BAG v. 7.8.2012 – 9 AZR 353/10, BB 2012, 2886; vgl. hierzu bereits zuvor mit entsprechenden Hinweisen: Düwell, DB 2012, 1749; Wicht, BB 2012, 1349. 3 BAG v. 17.11.2009 – 9 AZR 923/08, NZA 2010, 672. 4 EuGH v. 22.11.2011 – Rs. C-214/10, NZA 2011, 1333. 5 EuGH v. 22.11.2011 – Rs. C-214/10, NZA 2011, 1333; BAG v. 13.12.2011 – 9 AZR 399/10, NZA 2012, 514; s. ferner: Bauer/v. Medem, NZA 2012, 116. 6 Bauer/v. Medem, NZA 2012, 116. 7 S. BAG v. 4.5.2010 – 9 AZR 183/09, NZA 2010, 1011, bestätigt durch BAG v. 19.6.2012 – 9 AZR 652/10, NZA 2012, 1087; dazu: Benecke, RdA 2011, 241; Düwell, DB 2011, 2492.
512 Natzel
Urlaubsklauseln
Rz. 7 Teil 5 (22)
den tarifvertraglichen Ausschlussfristen1. Die Anwendung von tariflichen Ausschlussfristen für Urlaubsabgeltungsansprüche verstößt nicht gegen Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie und ist insbesondere mit Art. 7 Abs. 2 der Arbeitszeitrichtlinie und den hierzu vom EuGH aufgestellten Grundsätzen vereinbar2. Der Abgeltungsanspruch entsteht bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses und wird mangels anderweitiger Regelungen auch zu diesem Zeitpunkt fällig3. Soweit infolge einer Ausschlussfrist ein Verfall vorgesehen ist, ist der vom EuGH aufgestellte Rechtssatz, dass die Dauer des Übertragungszeitraums, innerhalb dessen der Urlaubsanspruch bei durchgängiger Arbeitsunfähigkeit nicht verfallen kann, die Dauer des Bezugszeitraums deutlich übersteigen muss, nicht auf die Länge einer tariflichen Ausschlussfrist für die Geltendmachung von Urlaubsabgeltungsansprüchen übertragbar. Diese kann für die Geltendmachung des Urlaubsabgeltungsanspruchs deutlich kürzer als ein Jahr sein4. – Fordert die Regelung einer tariflichen Ausschlussfrist eine schriftliche Geltendmachung von Ansprüchen aus dem Arbeitsverhältnis, ist diese Voraussetzung nicht mit der Erhebung einer Kündigungsschutzklage erfüllt5. – Als Folge der EuGH-Entscheidung in der Rechtssache Schultz-Hoff6 wurden auch tarifvertragliche Regelungen angedacht, die das Verhältnis vom tariflichen zum gesetzlichen Urlaub regeln sollten7. Damit sollte gewährleistet werden, dass der Arbeitgeber mit der Gewährung von Urlaub zunächst den gesetzlichen Mindesturlaub erfüllt. Solcher Tilgungsbestimmungen bedarf es nicht, da der tarifliche Urlaub regelmäßig neben den gesetzlichen tritt und er damit auf mehrere Anspruchsgrundlagen gestützt werden kann. Gewährt der Arbeitgeber Urlaub, leistet er auf zugleich unterschiedliche Anspruchsgrundlagen hin8. Das BAG betonte insoweit auch, dass die zwingenden Regelungen des BUrlG nicht ausschließen, dass Vertragsparteien neben den gesetzlichen Rechten auch vertragliche Ansprüche begründen9.
II. Beispiele § 12 MTV Chemie
7
I. Urlaubsanspruch Der Urlaub dient der Erholung und der Erhaltung der Arbeitskraft. Whrend des Urlaubs darf der Arbeitnehmer keine Erwerbsttigkeit leisten. 1 BAG v. 21.2.2012 – 10 AZR 486/10, DB 2012, 1388; ein Abgeltungsanspruch steht allerdings nach BAG v. 20.9.2011 – 9 AZR 416/10, NZA 2012, 326 sowie v. 12.3.2013 – 9 AZR 532/11, DB 2013, 1418 nicht den Erben zu, wenn das Arbeitsverhältnis infolge Todes endete und Urlaubsansprüche noch ausstanden; s. dazu auch Jesgarzewski, BB 2012, 1347. 2 BAG v. 9.8.2011 – 9 AZR 352/10, BB 2011, 2035. 3 BAG v. 21.2.2012 – 10 AZR 486/10, DB 2012, 1388. 4 BAG v. 13.12.2011 – 9 AZR 399/10, NZA 2012, 514. 5 BAG v. 21.2.2012 – 10 AZR 486/10, DB 2012, 1388. 6 EuGH v. 20.1.2009 – Rs. C-350/06, NZA 2009, 135. 7 So z.B. noch MTV Chemie v. 2.2.1953 i.d.F. vom 20.4.1956. 8 BAG v. 7.8.2012 – 9 AZR 760/10, NZA 2013, 104; Natzel, NZA 2011, 77. 9 BAG v. 18.10.2011 – 9 AZR 303/10, DB 2012, 407.
Natzel
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Teil 5 (22) Rz. 7
Katalog typischer Tarifnormen
Der Arbeitnehmer hat fr jedes Kalenderjahr Anspruch auf bezahlten Urlaub. Das Urlaubsjahr ist das Kalenderjahr. Im Eintrittsjahr hat der Arbeitnehmer fr jeden angefangenen Beschftigungsmonat im Unternehmen Anspruch auf ein Zwçlftel des Jahresurlaubs. Der Urlaub, der ihm fr diese Beschftigungsmonate bereits von einem anderen Unternehmen gewhrt oder abgegolten worden ist, wird angerechnet. Der Anspruch auf ein Urlaubszwçlftel setzt voraus, dass das Arbeitsverhltnis mindestens einen Monat bestanden hat. Der Arbeitnehmer kann den Urlaub fr das Eintrittsjahr nach sechs Monaten Betriebszugehçrigkeit, sptestens aber im Dezember, geltend machen. Der Anspruch auf vollen Jahresurlaub entsteht erstmals fr das auf das Eintrittsjahr folgende Urlaubsjahr, sobald das Arbeitsverhltnis sechs Monate bestanden hat. Die Regelung fr das Austrittsjahr gemß Ziff. 5 bleibt hiervon unberhrt. Im Austrittsjahr hat der Arbeitnehmer fr jeden angefangenen Beschftigungsmonat im Unternehmen Anspruch auf ein Zwçlftel des Jahresurlaubs. (…) (…) Bruchteile von Urlaubstagen von 0,5 an aufwrts sind auf volle Urlaubstage aufzurunden, Bruchteile darunter entsprechend abzurunden. Eine krankheitsbedingte Arbeitsunfhigkeit, die durch rztliches Zeugnis nachgewiesen wird, unterbricht den Urlaub. Der Arbeitnehmer muss mit dem Arbeitgeber vereinbaren, wann er den Resturlaub nehmen kann. Der Urlaub ist grundstzlich in lngeren zusammenhngenden Abschnitten zu nehmen und zu gewhren. Bei der Aufstellung des Urlaubsplanes sind die betrieblichen Notwendigkeiten und die Wnsche des einzelnen Arbeitnehmers zu bercksichtigen. Ergeben sich hierbei Schwierigkeiten, erfolgt eine Regelung im Einvernehmen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat. (…) Der Urlaub ist sptestens bis 31. Mrz des folgenden Kalenderjahres zu gewhren. Der Urlaubsanspruch erlischt, wenn er nicht bis dahin geltend gemacht worden ist. II. Urlaubsdauer Der Urlaub betrgt 30 Urlaubstage. (…) Fr die Berechnung des sich aus den Ziff. 1, 2 und 3 ergebenden Urlaubs zhlen als Urlaubstage grundstzlich die Arbeitstage mit Ausnahme der Sonntage und der gesetzlichen Feiertage. Fr Arbeitnehmer, die regelmßig in 5-Tage-Woche mit einem arbeitsfreien Werktag, insbesondere mit arbeitsfreiem Samstag, beschftigt sind, zhlen als Arbeitstage die Tage, an denen der Arbeitnehmer aufgrund der regelmßigen tariflichen wçchentlichen Arbeitszeit zu arbeiten htte. Arbeitnehmern, deren regelmßige Arbeitszeit auf mehr oder weniger als 5 Werktage in der Woche verteilt ist, ist ein zeitlich gleichwertiger Urlaub zu gewhrleisten; 514 Natzel
Urlaubsklauseln
Rz. 8 Teil 5 (22)
das gilt insbesondere fr Arbeitnehmer in regelmßiger Schichtarbeit, Arbeitnehmer mit Arbeitsbereitschaft und fr Teilzeitbeschftigte. Der Urlaub dieser Arbeitnehmer gilt dann als zeitlich gleichwertig, wenn er unter Einrechnung der in die Urlaubszeit fallenden arbeitsfreien Werktage ebenso viele Werktage umfasst, wie bei der Urlaubsberechnung nach Abs. 2; hierbei sind die jeweiligen Schichtplne und die danach anfallenden arbeitsfreien Werktage zu bercksichtigen. Bei einer ungleichmßigen Verteilung der Arbeitszeit muss sichergestellt werden, dass der Urlaub zeitlich und in Bezug auf die ausfallende Arbeitszeit gleichwertig ist. (…) III. Urlaubsentgelt Fr den Urlaub ist ein Entgelt zu zahlen in Hçhe des Arbeitsverdienstes, den der Arbeitnehmer erhalten wrde, wenn er gearbeitet htte. Das Urlaubsentgelt bemisst sich nach der tariflichen regelmßigen Arbeitszeit oder der davon abweichend vereinbarten Arbeitszeit ohne Mehrarbeit und Mehrarbeitszuschlge, auch soweit diese pauschaliert sind. (…) (…) IV. Urlaubsabgeltung Der Urlaub kann grundstzlich nicht abgegolten werden. Soweit jedoch bei der Beendigung des Arbeitsverhltnisses der Urlaubsanspruch noch nicht erfllt ist, ist er abzugelten. Nicht erfllbare Urlaubsansprche sind nicht abzugelten. (…) Der Anspruch auf Urlaubsabgeltung ist nicht bertragbar. 8
Abschn. III TV ber Einmalzahlungen und Altersvorsorge III. Zustzliches Urlaubsgeld § 10 Vollzeitbeschftigten Arbeitnehmern wird ein Urlaubsgeld von 20,45 Euro fr jeden tariflichen Urlaubstag gemß § 12 Abschnitt II Ziffern 1 und 2 des Manteltarifvertrages fr die chemische Industrie neben dem Urlaubsentgelt gewhrt. (…) Teilzeitbeschftigte erhalten ein anteiliges Urlaubsgeld im Verhltnis ihrer vertraglichen Arbeitszeit zu der tariflichen Arbeitszeit. § 11 Die Auszahlung des Urlaubsgeldes ist im Einvernehmen mit dem Betriebsrat zu regeln. (…) (…)
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Teil 5 (22) Rz. 9
Katalog typischer Tarifnormen
§ 14 Wenn der Arbeitnehmer durch eigenes schwerwiegendes Verschulden aus einem Grund entlassen wird, der eine fristlose Kndigung rechtfertigt, oder der Arbeitnehmer das Arbeitsverhltnis unberechtigt ohne Einhaltung der Kndigungsfrist lçst, entfllt der Anspruch auf Urlaubsgeld. 9 Einheitlicher Manteltarifvertrag fr die Metall- und Elektroindustrie NRW (EMTV) § 11 Grundstze der Urlaubsgewhrung 1. Beschftigte/Auszubildende haben nach Maßgabe der nachstehenden Bestimmungen in jedem Urlaubsjahr Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub. Urlaubsjahr ist das Kalenderjahr. Der Urlaubsanspruch erlischt drei Monate nach Ablauf des Kalenderjahres, es sei denn, dass er erfolglos geltend gemacht wurde oder dass Urlaub aus betrieblichen Grnden nicht genommen werden konnte. Konnte der Urlaub wegen Krankheit nicht genommen werden, erlischt der Urlaubsanspruch zwçlf Monate nach Ablauf des Zeitraums nach Abs. 2. 2. Der Urlaub soll der Erholung dienen. Beschftigte/Auszubildende drfen whrend der Urlaubszeit keine dem Urlaubszweck widersprechende Erwerbsarbeit bernehmen. Unter Beachtung des Grundsatzes von Abs. 1 Satz 1 soll bei Urlaubsteilung – bei einem Urlaubsanspruch von mindestens 15 Arbeitstagen – einer der Urlaubsteile mindestens zehn aufeinander folgende Arbeitstage umfassen. Davon kann abgewichen werden, wenn das Interesse der Beschftigten oder die Belange des Betriebes dies erforderlich machen. (…) 3. Eine Abgeltung des Urlaubsanspruchs ist nur bei Beendigung des Arbeitsverhltnisses/Ausbildungsverhltnisses zulssig. Die Urlaubsabgeltung entfllt ausnahmsweise, wenn der/die Beschftigte durch eigenes schwer wiegendes Verschulden aus einem Grund entlassen worden ist, der eine fristlose Kndigung rechtfertigt oder das Arbeitsverhltnis unberechtigt vorzeitig gelçst hat und in diesen Fllen eine grobe Verletzung der Treuepflicht aus dem Arbeitsverhltnis vorliegt. (…) 6. Die Rechtsnatur des Urlaubs schließt eine Vererblichkeit des Anspruchs im Todesfall des/der Beschftigten/Auszubildenden aus. (…) § 12 Allgemeine Urlaubsbestimmungen 1. Der Zeitpunkt des Urlaubs richtet sich nach dem aufgestellten Urlaubsplan. (…) 2. Im Ein- und Austrittsjahr haben Beschftigte/Auszubildende gegen den alten und neuen Arbeitgeber/Ausbildenden Anspruch auf so viele Zwçlftel des ihnen zustehen-
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Rz. 9 Teil 5 (22)
den Urlaubs, als sie Monate bei ihnen gearbeitet haben (Beschftigungsmonate)/ausgebildet wurden (Ausbildungsmonate). Ein angefangener Monat wird voll gerechnet, wenn die Beschftigung/Ausbildung mindestens zehn Kalendertage bestanden hat. Fr eine Beschftigung/Ausbildung bis zu zwei Wochen besteht kein Urlaubsanspruch. Dieser Anspruch kann bei Eintritt bis zum 31. Mai nach sechsmonatiger Betriebszugehçrigkeit, bei Eintritt nach dem 31. Mai ab 1. Dezember geltend gemacht werden. 3. In den auf das Eintrittsjahr folgenden Kalenderjahren ist der volle Jahresurlaub zu gewhren, wenn das Arbeitsverhltnis durch ordentliche Kndigung des Arbeitgebers nach dem 1. April beendet wird. Fr Beschftigte, die wegen Erhalts einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung aus dem Betrieb ausscheiden, gilt § 12 Nr. 2 Abs. 1. 4. Die durch rztliches Zeugnis nachgewiesenen Tage der Arbeitsunfhigkeit whrend des Urlaubs werden auf den Jahresurlaub nicht angerechnet. Es besteht Anspruch auf Nachgewhrung dieser Urlaubstage. Der/die Beschftigte/Auszubildende ist verpflichtet, den Arbeitgeber/Ausbildenden ber seine Arbeitsunfhigkeit durch Vorlage einer rztlichen Bescheinigung unverzglich in Kenntnis zu setzen. (…) 5. Ergeben sich bei dem anteiligen Urlaubsanspruch Bruchteile von Tagen, so werden Bruchteile von weniger als einem halben Tag nicht bercksichtigt, Bruchteile von einem halben Tag und mehr werden auf volle Tage aufgerundet. 6. Ein Urlaubsanspruch besteht insoweit nicht, als dem/der Beschftigten/Auszubildenden fr das Urlaubsjahr bereits von einem anderen Arbeitgeber/Ausbildenden Urlaub gewhrt oder abgegolten worden ist. Beim Ausscheiden aus dem Arbeitsverhltnis/Ausbildungsverhltnis ist dem/der Beschftigten/Auszubildenden ein Nachweis ber den erhaltenen Urlaub zu erteilen. Dieser Nachweis ist bei Beginn eines neuen Arbeitsverhltnisses/Ausbildungsverhltnisses dem neuen Arbeitgeber/Ausbildenden vorzulegen. § 13 Urlaubsdauer 1. Der Urlaub betrgt fr Beschftigte/Auszubildende 30 Arbeitstage/Ausbildungstage bei einer Verteilung der regelmßigen Arbeitszeit auf fnf Tage/Woche. (…) 7. Aufgrund freiwilliger Betriebsvereinbarung kann ein Urlaubskonto in Urlaubsstunden gefhrt werden. § 14 Urlaubsvergtung 1. Den Beschftigten und Auszubildenden wird whrend des Urlaubs das regelmßige Arbeitsentgelt/die regelmßige Ausbildungsvergtung weitergezahlt (…). Sie erhalten darber hinaus eine zustzliche Urlaubsvergtung, die bei 30 Urlaubstagen gemß § 13 Nr. 1 je Urlaubstag 2,4 % des monatlichen regelmßigen Arbeitsentgelts/der regelmßigen Ausbildungsvergtung ausmacht. (…)
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Teil 5 (22) Rz. 10
Katalog typischer Tarifnormen
Berechnungsgrundlage der zustzlichen Urlaubsvergtung sind die festen Entgeltbestandteile des laufenden Monats zuzglich des Monatsdurchschnitts der gemß § 16 Nr. 1 zu bercksichtigenden variablen Entgeltbestandteile der letzten sechs abgerechneten Monate. 2. Die Urlaubsvergtung ist auf Wunsch des/der Beschftigten/Auszubildenden vor Antritt des Urlaubs zu zahlen, sofern der Urlaub mindestens zwei Wochen umfasst. Statt der Urlaubsvergtung kann ein entsprechender Abschlag geleistet werden. (…) 3. (…) Steht dem/der Beschftigten/Auszubildenden bei Ausscheiden aus dem Arbeitsverhltnis/Ausbildungsverhltnis ein anteiliger Urlaubsanspruch zu, kann die zu viel gezahlte zustzliche Urlaubsvergtung zurckgefordert werden. 10
§ 26 TVçD – Erholungsurlaub (1) Beschftigte haben in jedem Kalenderjahr Anspruch auf Erholungsurlaub unter Fortzahlung des Entgelts (§ 21). Bei Verteilung der wçchentlichen Arbeitszeit auf fnf Tage in der Kalenderwoche betrgt der Urlaubsanspruch in jedem Kalenderjahr 30 Arbeitstage. Bei einer anderen Verteilung der wçchentlichen Arbeitszeit als auf fnf Tage in der Woche erhçht oder vermindert sich der Urlaubsanspruch entsprechend. Verbleibt bei der Berechnung des Urlaubs ein Bruchteil, der mindestens einen halben Urlaubstag ergibt, wird er auf einen vollen Urlaubstag aufgerundet; Bruchteile von weniger als einem halben Urlaubstag bleiben unbercksichtigt. Der Erholungsurlaub muss im laufenden Kalenderjahr gewhrt und kann auch in Teilen genommen werden. Protokollerklrung zu Absatz 1 Satz 5: Der Urlaub soll grundstzlich zusammenhngend gewhrt werden; dabei soll ein Urlaubsteil von zwei Wochen Dauer angestrebt werden. (2) Im brigen gilt das Bundesurlaubsgesetz mit folgenden Maßgaben: a) Im Falle der bertragung muss der Erholungsurlaub in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahres angetreten werden. Kann der Erholungsurlaub wegen Arbeitsunfhigkeit oder aus betrieblichen/dienstlichen Grnden nicht bis zum 31. Mrz angetreten werden, ist er bis zum 31. Mai anzutreten. b) Beginnt oder endet das Arbeitsverhltnis im Laufe eines Jahres, erhlt die/der Beschftigte als Erholungsurlaub fr jeden vollen Monat des Arbeitsverhltnisses ein Zwçlftel des Urlaubsanspruchs nach Absatz 1; § 5 BUrlG bleibt unberhrt. c) Ruht das Arbeitsverhltnis, so vermindert sich die Dauer des Erholungsurlaubs einschließlich eines etwaigen Zusatzurlaubs fr jeden vollen Kalendermonat um ein Zwçlftel. d) Das nach Absatz 1 Satz 1 fortzuzahlende Entgelt wird zu dem in § 24 genannten Zeitpunkt gezahlt.
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Urlaubsklauseln
Rz. 12
Teil 5 (22) 11
§ 27 TVçD – Zusatzurlaub (1) Beschftigte, die stndig Wechselschichtarbeit nach § 7 Abs. 1 oder stndig Schichtarbeit nach § 7 Abs. 2 leisten und denen die Zulage nach § 8 Abs. 5 Satz 1 oder Abs. 6 Satz 1 zusteht, erhalten a) bei Wechselschichtarbeit fr je zwei zusammenhngende Monate und b) bei Schichtarbeit fr je vier zusammenhngende Monate einen Arbeitstag Zusatzurlaub. (…) (4) Zusatzurlaub nach diesem Tarifvertrag und sonstigen Bestimmungen mit Ausnahme von § 125 SGB IX wird nur bis zu insgesamt sechs Arbeitstagen im Kalenderjahr gewhrt. Erholungsurlaub und Zusatzurlaub (Gesamturlaub) drfen im Kalenderjahr zusammen 35 Arbeitstage nicht berschreiten. Satz 2 ist fr Zusatzurlaub nach den Abstzen 1 und 2 hierzu nicht anzuwenden. (…) Protokollerklrung zu den Abstzen 1 und 2: Der Anspruch auf Zusatzurlaub bemisst sich nach der abgeleisteten Schicht- oder Wechselschichtarbeit und entsteht im laufenden Jahr, sobald die Voraussetzungen nach Satz 1 und 2 erfllt sind. Fr die Feststellung, ob stndige Wechselschichtarbeit oder stndige Schichtarbeit vorliegt, ist eine Unterbrechung durch Arbeitsbefreiung, Freizeitausgleich, bezahlten Urlaub oder Arbeitsunfhigkeit in den Grenzen des § 22 unschdlich.
11a
§ 28 TVçD – Sonderurlaub Beschftigte kçnnen bei Vorliegen eines wichtigen Grundes unter Verzicht auf die Fortzahlung des Entgelts Sonderurlaub erhalten.
III. Kommentierung 1. § 12 MTV Chemie (Rz. 7 f.) Arbeits- und TV-Parteien können einen von ihnen geregelten Urlaubsanspruch eige- 12 nen Konditionen unterwerfen.1 Davon haben die TV-Parteien der chemischen Industrie weitgehend Gebrauch gemacht. Dementsprechend hat auch das LAG Hamm2 und dem inzwischen folgend auch das BAG3 zu der Urlaubsregelung des MTV Chemie aufgrund eingehender Analyse der einzelnen Vorschriften festgestellt, dass diese den tariflichen Urlaub gegenüber dem gesetzlichen eigenständig regelt. Da nach § 12 IV Ziff. 2 MTV Chemie nur erfüllbare Urlaubsansprüche abzugelten sind, versagte es einem arbeitsunfähig ausgeschiedenen Arbeitnehmer die Abgeltung des noch ausste-
1 BAG v. 12.4.2011 – 9 AZR 80/10, DB 2011, 2150. 2 LAG Hamm v. 2.12.2010 – 16 Sa 1097/10, ArbR 2011, 386, bestätigt durch BAG v. 13.11.2012 – 9 AZR 64/11, DB 2013, 468. 3 BAG v. 17.11.2015 – 9 AZR 275/14.
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Teil 5 (22) Rz. 13
Katalog typischer Tarifnormen
henden Urlaubs. Es bestätigte damit, dass TV-Parteien darin frei sind, an welche Voraussetzungen sie über das Gesetz hinausgehende Urlaubsansprüche knüpfen.1 13
Der Einleitungssatz von Abschnitt I definiert den Urlaubszweck. Der Urlaub dient der Erholung. Auch wenn der Arbeitgeber nicht in das Privatleben von Arbeitnehmern Eingriff zu nehmen befugt ist, hat der Arbeitnehmer sein Verhalten an dem Erholungszweck zu orientieren. Insbesondere darf während des Urlaubs keine Erwerbstätigkeit ausgeübt werden, die dem Urlaubszweck widerspricht.
14
Der Urlaubsanspruch erwächst jedem Arbeitnehmer oder Auszubildenden, der vom Geltungsbereich des MTV erfasst wird, und zwar unabhängig von erbrachter Arbeitsleistung2. Auf die Art der konkreten Ausgestaltung des Rechtsverhältnisses (befristet/ unbefristet, Teilzeit/Vollzeit usw.) kommt es nicht an.
15
Der Urlaubsanspruch ist ein kalenderjährlich entstehender Anspruch (§ 12 I Ziff. 1, 2 MTV, § 1 BUrlG). Zugleich ist er aber auch ein kalendertagesbezogener Anspruch. Dies schließt es grds. aus, dass der Jahresurlaub entsprechend der im Jahr anfallenden Sollarbeitszeit berechnet wird. Lediglich dann wird von der Rechtsprechung auch eine stundenbezogene Kontrollbetrachtung anerkannt, soweit die Ungleichmäßigkeit der Arbeitszeitverteilung dies zur Herstellung eines gleichwertigen Urlaubs3 gebietet. Für diesen Fall wurde die Herstellung der Gleichwertigkeit sowohl hinsichtlich der ausfallenden Arbeitszeit als auch der Anzahl ausfallender Tage mit Arbeitspflicht bestätigt4.
16
Für den Fall, dass der Bestand des Beschäftigungsverhältnisses nicht dem Kalenderjahr entspricht, sieht der TV Sonderregelungen vor. So heißt es in § 12 I Ziff. 3 MTV Chemie, dass im Eintrittsjahr der Arbeitnehmer für jeden angefangenen Beschäftigungsmonat im Unternehmen Anspruch auf ein Zwölftel des Jahresurlaubs hat. Ebenso dieses Zwölftelungsprinzip gilt (mit Ausnahmen) für das Austrittsjahr (§ 12 I Ziff. 5 MTV Chemie). Jeweils wird dabei auf „jeden angefangenen Beschäftigungsmonat“ abgestellt. Dieser bezeichnet jeden Monat des Bestehens des Arbeitsverhältnisses und ist damit nicht deckungsgleich mit dem Kalendermonat. Damit weicht der TV zugunsten der Arbeitnehmer von der gesetzlichen Regelung ab; nach § 5 Abs. 1 BUrlG besteht nur für jeden vollen Monat des Bestehens des Arbeitsverhältnisses ein Anspruch auf 1/12 des Jahresurlaubs.
17
Um im Eintrittsjahr den anteiligen Urlaub beanspruchen zu können, muss das Arbeitsverhältnis im Kalenderjahr mindestens einen Monat bestanden hat (§ 12 I Ziff. 3 Satz 3). Befindet sich ein im Laufe der zweiten Hälfte des Kalenderjahres neu eingestellter Arbeitnehmer noch in der Wartezeit, hat er für die entsprechend dem Zwölftelungsprinzip für das Eintrittsjahr zu errechnenden Teilurlaubsansprüche spätestens im Dezember des Kalenderjahres geltend zu machen. Laut BAG kann das Zwölftelungsprinzip nicht auf gesetzlich festgelegte zusätzliche Urlaubsansprüche angewendet werden5. 1 2 3 4 5
Dgl. LAG Berlin-Brandenburg v. 15.10.2014 – 24 Sa 923/14 (n.v.). S. dazu BAG v. 4.9.1987 – 8 AZR 96/85, n.v. Zur Gleichwertigkeit s. noch im Folgenden. BAG v. 5.11.2002 – 9 AZR 470/01, DB 2003, 1393. So für den Schwerbehindertenurlaub: BAG v. 8.3.1994 – 9 AZR 49/93, DB 1994, 1528.
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Rz. 21
Teil 5 (22)
Für den Fall eines Arbeitgeberwechsels enthält § 6 BUrlG eine Kollisionsregel, um 18 den Kalenderjahresbezug des Urlaubsanspruchs sicherzustellen. So soll nach § 6 Abs. 1 BUrlG bereits bei einem früheren Arbeitgeber gewährter Urlaub einen Urlaubsanspruch beim Folgearbeitgeber ausschließen. Selbiges nimmt auch § 12 I Ziff. 3 Satz 2 MTV Chemie auf, wonach bereits bei einem früheren Arbeitgeber gewährter Urlaub anzurechnen ist. Nicht aber soll sich ein nach § 12 IV Ziff. 2 MTV grundsätzlich abgeltungspflichtiger Arbeitgeber darauf berufen können, dass der Arbeitnehmer gegenüber einem nachfolgenden Arbeitgeber den Urlaubsanspruch geltend machen könnte. Denn Sinn der Kollisionsregel ist allein der Ausschluss zusätzlicher Urlaubsansprüche in einem nachfolgenden Arbeitsverhältnis1. Wie andere TVe üblicherweise auch enthält der MTV Chemie Regelungen zu Über- 19 tragbarkeit, Verfall und Abgeltung von Urlaubsansprüchen; diese stehen bekanntlich seit der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Schultz-Hoff2 im Zentrum der Aufmerksamkeit. Gemäß § 12 I Ziff. 11 Satz 1 MTV Chemie ist der Urlaub spätestens bis 31. März des folgenden Kalenderjahres zu gewähren. Damit wird nicht der Grundsatz durchbrochen, dass der Urlaub im jeweiligen Kalenderjahr zu nehmen bzw. zu gewähren ist; eine generelle Möglichkeit der Übertragbarkeit gibt es also nicht. Vielmehr ist die Übertragung daran gebunden, dass dem Arbeitnehmer aus dringenden betrieblichen Gründen oder in seiner Person liegenden Gründen eine Realisierung des Urlaubsanspruchs nicht möglich war. Die tarifliche Regelung ermöglicht keine Übertragung des Urlaubs über den 31. März 20 des auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres hinaus. Den Arbeitgeber trifft daher die Verpflichtung, dem Arbeitnehmer den übertragenen und wirksam geltend gemachten Urlaub bis zum 31. März zu gewähren. Dabei ist der Arbeitnehmer verpflichtet, den Urlaub so frühzeitig geltend zu machen, dass er noch innerhalb des Übertragungszeitraums bis zum 31. März genommen werden kann; er muss ihn also rechtzeitig vor dem 31. März anmelden, so dass er tatsächlich in der Lage ist, den Urlaub vor Ablauf des Übertragungszeitraums zu nehmen. Mit Beendigung des Übertragungszeitraums verfällt der Urlaubsanspruch. Zum Verfall des Urlaubs, der bis zum 31. März nicht realisiert wurde, kam es auch 21 dann, soweit das Arbeitnehmer zu diesem Zeitpunkt arbeitsunfähig erkrankt war3. Hiervon kann allerdings infolge der EuGH-Rechtsprechung in der Rechtssache Schultz-Hoff4 nur hinsichtlich des tariflichen Urlaubs ausgegangen werden. Hinsichtlich des kraft Gesetzes bestehenden Urlaubsanspruchs, der der Unabdingbarkeit unterliegt, ist nach der Folgeentscheidung des EuGH in der Rechtssache Schulte5 davon auszugehen, dass dieser spätestens 15 Monate nach Ende des Urlaubsjahres verfällt6.
1 BAG v. 28.2.1991 – 8 AZR 196/90, BB 1991, 1788 f. 2 EuGH v. 20.1.2009 – Rs. C-350/06, NZA 2009, 135. 3 BAG v. 31.10.1986 – 8 AZR 244/84, DB 1987, 844; BAG v. 4.9.1987 – 8 AZR 552/85; BAG v. 21.3.1995 – 9 AZR 959/93, n.v. 4 EuGH v. 20.1.2009 – Rs. C-350/06, NZA 2009, 135. 5 EuGH v. 22.11.2011 – Rs. C-214/10, DB 2011, 2722. 6 BAG v. 7.8.2012 – 9 AZR 353/10, BB 2012, 2886; ebenso bereits LAG Baden-Württemberg v. 21.12.2011 – 10 Sa 19/11, BB 2012, 1353.
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Teil 5 (22) Rz. 22
Katalog typischer Tarifnormen
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Die Höhe des tarifvertraglichen Mindesturlaubs beträgt in der chemischen Industrie 30 Urlaubstage. Der TV bezeichnet die Tage als Urlaubstage, an denen der Arbeitnehmer von einer ansonsten bestehenden Arbeitspflicht freigestellt ist. Das hat zur Folge, dass ein Wechselschichtarbeitnehmer, der an einem Feiertag hätte arbeiten müssen, aber frei haben will, sich für diesen Tag auch Urlaub nehmen muss.
23
Teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmern, die nur an bestimmten Arbeitstagen Arbeitsleistung erbringen, ist – wie Arbeitnehmern in Wechselschicht auch – ein gleichwertiger Urlaub zu gewähren. Ein mit bspw. 20 Wochenstunden teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer, der fünf Tage jeweils vier Stunden Arbeitsleistung erbringt, ist also gleichzustellen mit einem ebensolchen Teilzeitbeschäftigten, der an lediglich zwei Tagen der Woche dieser Arbeitsverpflichtung nachkommt. Ändert sich im Verlauf eines Kalenderjahres die Verteilung der Arbeitszeit auf weniger oder auf mehr Arbeitstage einer Kalenderwoche, verkürzt oder verlängert sich entsprechend die Dauer des dem Arbeitnehmer zustehenden Urlaubs. Er ist dann jeweils unter Berücksichtigung der nunmehr für den Arbeitnehmer maßgeblichen Verteilung der Arbeitszeit neu zu berechnen. Dies gilt nach der problematischen Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Tirol1, der das BAG mit Urt. v. 10.2.20152 gefolgt ist, für den Fall des Wechsels von einer Voll- in eine Teilzeitbeschäftigung für den während der Vollzeit erworbenen Urlaubsanspruch.
24
Wie bei Teilzeitbeschäftigten gilt auch sonst der Grundsatz, dass ein zeitlich gleichwertiger Urlaub zu gewähren ist, soweit sich die regelmäßige Arbeitszeit auf mehr oder weniger als fünf Werktage in der Woche verteilt ist (§ 12 II Ziff. 4 Abs. 3 MTV Chemie). Die Formulierung „zeitlich gleichwertig“ folgt einem wochenbezogenen Verständnis des Urlaubsanspruchs3. Dem Arbeitnehmer muss es möglich sein, bei zusammenhängender Urlaubsgewährung unter Berücksichtigung der ohnehin freien Tage auf eine wöchentliche Freistellung zu kommen, die dem Grundmodell des Urlaubs bei Zugrundelegung einer Fünf-Tage-Woche entspricht. Der Urlaub muss aber nicht nur zeitlich, sondern auch in Bezug auf die ausfallende Arbeitszeit gleichwertig sein (doppelte Gleichwertigkeit). Zwar muss keine keine völlige Gleichheit sichergestellt sein; aber es dürfen keine ins Gewicht fallenden Unterschiede bestehen. Kleinere Abweichungen, die mit den besonderen Schwierigkeiten der Urlaubsberechnung bei unregelmäßiger Arbeitszeit zusammenhängen, sind also hinzunehmen4.
25
Der Grundsatz der doppelten Gleichwertigkeit bedingt, dass bei der Berechnung des individuellen Urlaubsanspruchs auch dem Umstand der durchschnittlichen regelmäßigen Arbeitszeit pro Tag Rechnung zu tragen ist, die regelmäßig bei Schichtarbeitnehmern gegenüber anderen Arbeitnehmern aufgrund des Schichtrhythmus abweicht. Dauert eine Schicht des in Wechselschicht eingesetzten Arbeitnehmers 8 Std./Tag gegenüber 7,5 Std./Tag, die ein nicht in Schichtarbeit tätiger Arbeitnehmer zu leisten hat, ist dies also bei der Bemessung der Urlaubsschichten zu berücksichtigen5. 1 2 3 4
EuGH v. 22.4.2010 – Rs. C-486/08, NZA 2010, 557. BAG v. 10.2.2015 – 9 AZR 53/14 (Pressemitteilung Nr. 3/15). BAG v. 22.10.1991 – 9 AZR 621/90, DB 1993, 841. BAG v. 22.10.1991 – 9 AZR 621/90, DB 1993, 841; ausführlich zur Urlaubsberechnung bei regelmäßig und unregelmäßig verteilter Arbeitszeit s. Leinemann, DB 1999, 1499. 5 BAG v. 5.11.2002 – 9 AZR 470/01, DB 2003, 1393.
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Urlaubsklauseln
Rz. 29a Teil 5 (22)
Dem Arbeitnehmer steht für jeden Urlaubstag ein Anspruch auf Entgelt gemäß dem 26 Entgeltausfallprinzip zu, wobei die jeweilige Arbeitszeit zugrunde zu legen ist. Die Anwendung des Entgeltausfallprinzips führt dazu, dass dem Arbeitnehmer auch etwaige Zuschläge fortzuzahlen sind, die der Arbeitnehmer erhalten hätte, wenn er, anstelle Urlaub zu nehmen, gearbeitet hätte1. Mehrarbeitsvergütung sowie Mehrarbeitszuschläge fließen jedoch nicht in die Berechnung der Urlaubsvergütung ein. Allerdings sind während des Urlaubs eintretende Entgeltänderungen zu berücksichtigen. Abweichend vom Entgeltausfallprinzip kann auch das Referenzprinzip zur Grundlage 27 der Entgeltfortzahlung gemacht werden. Dies regelt eine Protokollnotiz zum TV, nach der bei der Entgeltfortzahlung Entgeltbestandteile, die monatlich regelmäßig aber nicht in gleicher Höhe anfallen, nach den durchschnittlichen Verhältnissen der letzten zwölf abgerechneten Kalendermonate oder eines durch Betriebsvereinbarung festzulegenden Zeitraums berechnet werden können. Weist der Arbeitnehmer eine geringere Betriebszugehörigkeit auf, ist Bemessungsgrundlage dieser kürzere Zeitraum. Bei einem Statuswechsel (z.B. Wechsel von Voll- in Teilzeit oder aus einem Ausbil- 28 dungs- in ein Arbeitsverhältnis hinein) gilt das Glück-/Pech-Prinzip. Wurde bereits in dem früheren Beschäftigtenstatus der gesamte Urlaubsanspruch verbraucht, ist nach einem Statuswechsel der Anspruch auf Urlaubsentgelt nicht rückwirkend neu zu berechnen. Ist der Urlaubsanspruch bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch nicht erfüllt, 29 ist er abzugelten. Mangels Erfüllbarkeit bestand – bis zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Schultz-Hoff2 unstreitig – kein Abgeltungsanspruch, wenn der Arbeitnehmer bei seinem Ausscheiden arbeitsunfähig erkrankt war und über das Ende des Urlaubsjahres hinaus sowie im Übertragungszeitraum arbeitsunfähig krank bleibt. Da aber das BAG nach Aufgabe der Surrogationstheorie3 den Urlaubsabgeltungsanspruch als reinen Geldanspruch ansieht, wird hieran – jedenfalls, was den verbliebenen gesetzlichen Teil des Urlaubsanspruchs anbetrifft – nicht mehr festgehalten werden können. Allerdings unterliegt dieser Geldanspruch, der sich nicht von anderen Entgeltansprüchen aus dem Arbeitsverhältnis unterscheidet, auch den tarifvertraglichen Ausschlussfristen4. Besteht ein Abgeltungsanspruch bezogen auf einen Urlaub, der wegen Elternzeit 29a nicht in Anspruch genommen werden konnte, kann dieser nicht nachträglich unter Berufung auf die auf die Elternzeit selbst bezogenen Kürzungsvorschrift des § 17 BEEG vermindert werden. Dies ist auch Ergebnis des veränderten Verständnisses des Urlaubsanspruchs als entgeltwerter Anspruch, wie die Entscheidung des BAG v. 19.5.20155 belegt. Aus diesem Grunde lautet der Praxistipp, die (anteilige) Kürzung des Erholungsurlaubs jeweils bezogen auf das konkrete Kalenderjahr ausdrücklich zu erklären. Aufgrund des kalenderjährlich bezogenen Urlaubsanspruchs sollte die Er-
1 BAG v. 15.2.2005 – 9 AZR 632/03. 2 EuGH v. 20.1.2009 – Rs. C-350/06, NZA 2009, 135. 3 S. BAG v. 4.5.2010 – 9 AZR 183/09, NZA 2010, 1011, bestätigt durch BAG v. 19.6.2012 – 9 AZR 652/10, Pressemitteilung Nr. 43/12; dazu: Benecke, RdA 2011, 241; Düwell, DB 2011, 2492. 4 BAG v. 20.9.2011 – 9 AZR 416/10, NZA 2012, 326; dazu auch Jesgarzewski, BB 2012, 1347. 5 BAG v. 19.5.2015 – 9 AZR 725/13 (Pressemitteilung).
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Teil 5 (22) Rz. 30
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klärung nicht im Vorgriff auch auf künftige Urlaubsjahre erfolgen, sondern jeweils am Anfang eines Kalenderjahres (= Urlaubsjahr) konkret bezogen auf dieses Jahr. 30
Der MTV Chemie enthielt früher auch einen Anspruch auf ein zusätzliches Urlaubsgeld. Die Regelungen hierzu wurden in den TV über Einmalzahlungen und Altersvorsorge (TEA) überführt, um diesen Entgeltbetrag auch der Entgeltumwandlung zuzuführen, deren Zweck jener TV dient. Der Anspruch auf das zusätzliche Urlaubsgeld erwächst für jeden tariflichen Urlaubstag und richtet sich nach dessen Schicksal; er ist also akzessorisch zur Urlaubsgewährung. Er entsteht für Teilzeitbeschäftigte entsprechend dem Pro-rata-temporis-Prinzip. Soweit der Urlaubsanspruch entsprechend dem Grundsatz der Gleichwertigkeit umgerechnet wird, sind auch dann dem Anspruch auf das zusätzliche Urlaubsgeld die tarifvertraglich zustehenden Urlaubstage zugrunde zu legen.
31
Das zusätzliche Urlaubsgeld wird „für jeden tariflichen Urlaubstag“ gewährt. Ist also aufgrund anderweitiger Regelungen Urlaub zu gewähren, entsteht dieser Anspruch nicht. Verfällt also der tarifliche Urlaubsanspruch aufgrund der Regelung des § 12 I Ziff. 11 MTV Chemie ganz oder teilweise, besteht nicht etwa ein Anspruch auf das zusätzliche Urlaubsgeld bezogen auf den ggf. verbleibenden gesetzlichen Urlaubsanspruch. 2. § 11 EMTV (Rz. 9)
32
Die Regelung des § 11 EMTV beschäftigt sich zunächst mit dem Grundanspruch auf Erholungsurlaub. Dieser entsteht wie im sonstigen Urlaubsrecht auch für das jeweilige Kalenderjahr unabhängig von erbrachter oder zu erbringender Arbeitsleistung1. Er erlischt nach dem TV drei Monate nach Ablauf des Kalenderjahres, es sei denn, dass er erfolglos geltend gemacht wurde oder aus betrieblichen Gründen nicht genommen werden konnte. Konnte er wegen Krankheit nicht genommen werden, erlischt der Urlaubsanspruch zwölf Monate nach vorerwähntem Zeitraum von drei Monaten, also spätestens nach 15 Monaten. Dies ist auch durch den EuGH2 bestätigt, der sich konkret in mit der Entscheidung v. 22.11.2011 mit der Verfallsregelung des § 11 EMTV beschäftigen musste und damit auch seine „Kehrwende rückwärts“ im Urlaubsrecht einleitete. Da die Tarifregelung mit ihrem normativen Charakter zu den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften gehört, die zu überprüfen der EuGH im Vorabentscheidungsverfahren befugt ist, konnte er deren Übereinstimmung mit der Arbeitszeitrichtlinie feststellen. Somit bestätigte er die Möglichkeit, Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub für einen während mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähigen Arbeitnehmer dahingehend zu beschränken, dass diese nach einem Übertragungszeitraum von 15 Monaten erlöschen. Dies gilt für den gesamten, also den gesetzlichen wie tarifvertraglichen Anspruch auf Erholungsurlaub. Auch ist dies ausschließlich an den Fall der Übertragung wegen Krankheit, nicht aber dem Umstand eines anderen Leistungshindernisses (z.B. eine ohne Arbeitsunfähigkeit durchgeführte Maßnahme der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation) gebunden3. 1 BAG v. 8.3.1984 – 6 AZR 442/83, BB 1984, 1874. 2 EuGH v. 22.11.2011 – Rs. C-214/10, NZA 2011, 1333; dazu: Bauer/v. Medem, NZA 2012, 113; Franzen, NZA 2011, 1403; Oertel, DB 2012, 460; Schiefer/Brasse, DB 2011, 1976; Schinz, RdA 2012, 181. 3 Weiss, EMTV § 11 Anm. 4.
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Rz. 38
Teil 5 (22)
Die Bindung des Urlaubsanspruchs an das Kalenderjahr gebietet, dass der Urlaubs- 33 anspruch grundsätzlich befristet ist, es sei denn, ein Übertragungsgrund nach Maßgabe des § 7 Abs. 3 BUrlG liegt vor. Kann der Arbeitnehmer bis zum Ablauf des Kalenderjahres seinen Urlaub nehmen, tut er es dennoch aus von ihm zu vertretenden Gründen aber nicht, verfällt er also1. Dies gilt allerdings vorbehaltlich einer anderweitigen Regelung, die der § 11 EMTV insoweit enthält, als der maßgebliche Stichtag für das Erlöschen ohne rechtzeitige Geltendmachung nicht wie im gesetzlichen Urlaubsrecht der 31.12. des Kalenderjahres, sondern der 31.3. des Folgejahres ist. Dann erlischt der Urlaubsanspruch, es sei denn, er wurde erfolglos geltend gemacht oder konnte aus betrieblichen Gründen nicht genommen werden. Aufgrund der Unabdingbarkeit des gesetzlichen Urlaubsanspruchs kann der Verfall infolge der EuGH-Rechtsprechung in der Rechtssache Schultz-Hoff2 allerdings nicht hinsichtlich des kraft Gesetzes bestehenden Urlaubsanspruchs eintreten. Hier gilt aufgrund der Folgeentscheidung des EuGH in der Rechtssache Schulte3, dass dieser spätestens 15 Monate nach Ende des Urlaubsjahres verfällt4. Rechtzeitige Geltendmachung bedeutet, dass der Urlaubsanspruch noch vor dem Ein- 34 tritt seines Verfalls realisiert werden kann. Dabei ist, was die Realisierbarkeit anbetrifft, nicht nur auf die freien Resttage, sondern auch die organisatorische Umsetzbarkeit des geltend gemachten Urlaubsanspruchs durch den Arbeitgeber abzustellen5. In § 11 Ziff. 3 beschäftigt sich der TV mit der Frage der Urlaubsabgeltung. Nachdem 35 das BAG inzwischen die Surrogationstheorie aufgegeben hat6, entsteht der Abgeltungsanspruch als reiner Geldanspruch mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses, unterliegt aber auch insoweit den tarifvertraglichen Ausschlussfristen7. Soweit ein Anspruch auf Urlaubsabgeltung besteht, ist dieser ebenso zu bemessen 36 wie der Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Falle der Inanspruchnahme des Urlaubs. Der Anspruch auf Urlaubsabgeltung soll laut TV ausnahmsweise entfallen, wenn ein 37 schwerwiegendes Verschulden des Arbeitnehmers zur Auflösung seines Arbeitsverhältnisses geführt hat. Diese Regelung entfaltet nur für den tarifvertraglichen Teil des Urlaubsanspruchs Wirkung. Soweit der gesetzliche Teil betroffen ist, hat das BAG eine solche Regelung für unwirksam erklärt8. Der TV schließt unter Verweis auf die Rechtsnatur des Urlaubsanspruchs dessen Ver- 38 erblichkeit im Todesfall aus. Dies hat auch das BAG so bestätigt: Mit dem Tod des Arbeitnehmers erlischt der Urlaubsanspruch; er wandelt sich nicht nach § 7 Abs. 4 BUrlG in einen Abgeltungsanspruch um9. 1 2 3 4 5 6 7 8 9
BAG v. 9.8.2011 – 9 AZR 425/10, NZA 2012, 29. EuGH v. 20.1.2009 – Rs. C-350/06, NZA 2009, 135. EuGH v. 22.11.2011 – Rs. C-214/10, DB 2011, 2722. BAG v. 7.8.2012 – 9 AZR 353/10, BB 2012, 2886; ebenso bereits LAG Baden-Württemberg v. 21.12.2011 – 10 Sa 19/11, BB 2012, 1353. BAG v. 7.11.1985 – 6 AZR 62/84, NZA 1986, 393. BAG v. 4.5.2010 – 9 AZR 183/09, NZA 2010, 1011. BAG v. 9.8.2011 – 9 AZR 365/10, NZA 2011, 1421. BAG v. 30.11.1977 – 5 AZR 667/76, DB 1978, 847. BAG v. 20.9.2011 – 9 AZR 416/10, DB 2012, 235; v. 12.3.2013 – 9 AZR 532/11, DB 2013, 1418.
Natzel
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Teil 5 (22) Rz. 39
Katalog typischer Tarifnormen
39
In § 12 EMTV regelt der TV die allgemeinen Urlaubsgrundsätze. Wie in anderen Tarifbereichen auch wird dabei die Höhe des Urlaubsanspruchs mittels des Zwölftelungsprinzips für das Ein- und Austrittsjahr festgelegt. Dabei knüpft der TV an den Bestand des Arbeitsverhältnisses an, nicht jedoch an die tatsächliche Ausübung von Beschäftigung1. Wie stets – das stellt auch eine aus anderen Tarifbereichen bekannte Problematik dar – ist im Falle der Kürzung von Urlaubsansprüchen die Kontrollprüfung anzustrengen, dass von dieser nicht der gesetzliche Urlaubsanspruch tangiert sein darf; dieser ist durch den Unabdingbarkeitsgrundsatz geschützt2.
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Wie gelegentlich in anderen Tarifbereichen auch, enthält der TV mit § 12 Ziff. 4 eine Regelung zur Kollision von Urlaub und Krankheit; jene wird auf den Urlaub nicht angerechnet, was de facto zu einem Nachgewährungsanspruch führt. Voraussetzung ist allerdings, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitsunfähigkeit durch ein ärztliches Attest nachweist.
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Der Urlaubsanspruch ist tagesbezogen. Hieraus begründet sich auch die in § 12 Ziff. 5 geregelte Behandlung von Bruchteilen, die entsprechend zu runden sind.
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Der Urlaubsanspruch ist aber auch ein auf das Kalenderjahr bezogener. Aus diesem Grunde bedarf es auch des § 12 Ziff. 6 EMTV, der den Fall des Arbeitgeberwechsels behandelt. Um das Entstehen doppelter Ansprüche zu vermeiden, regelt er, dass ein Urlaubsanspruch insoweit nicht besteht, als für das Urlaubsjahr bereits von einem anderen Arbeitgeber Urlaub gewährt worden ist. Um dies nachprüfen zu können, hat der Arbeitnehmer die Urlaubsbescheinigung seines bisherigen Arbeitgebers vorzulegen.
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Die Dauer des Urlaubs regelt § 13 EMTV. Dabei wird eine Verteilung der regelmäßigen Arbeitszeit auf fünf Tage in der Woche zugrunde gelegt. Ist sie länger oder kürzer, ist die Dauer des Urlaubs entsprechend den Grundsätzen der Gleichwertigkeit umzurechnen3.
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Eine – zulässige – Durchbrechung des Grundsatzes, dass der Urlaubsanspruch ein tagesbezogener ist, eröffnet § 13 Ziff. 7. Danach kann aufgrund freiwilliger Betriebsvereinbarung ein Urlaubskonto eingerichtet werden, das in Urlaubsstunden geführt wird.
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Um den besonderen Aufwendungen von Arbeitnehmern zur Bestreitung ihres Urlaubs Rechnung zu tragen, regelt § 14 EMTV neben dem fortzuzahlenden Arbeitsentgelt eine zusätzliche Urlaubsvergütung, die sich anhand eines Prozentsatzes des monatlichen regelmäßigen Arbeitsentgelts bemisst. Sie verhält sich zum Urlaubsanspruch selbst streng akzessorisch, kann also nur verbunden mit der Inanspruchnahme von Urlaub geltend gemacht werden. 3. § 26 TVöD (Rz. 10 f.)
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Der TVöD regelt in § 26 den Anspruch auf Erholungsurlaub. Abweichend von der Regelung in § 7 Abs. 3 BUrlG bestimmt er in seinem Abs. 2a, dass der Erholungsurlaub 1 BAG v. 13.10.2009 – 9 AZR 763/08, NZA 2010, 416; zu dieser Problematik s. auch I. Natzel, Die Betriebszugehörigkeit, S. 151 ff. 2 BAG v. 23.4.1996 – 9 AZR 317/95, DB 1996, 2391. 3 S. dazu Weiss, EMTV § 13 Anm. 4.
526 Natzel
Urlaubsklauseln
Rz. 49
Teil 5 (22)
im Falle seiner Übertragung bis zum 31.5. des Folgejahres angetreten werden muss, wenn er wegen Arbeitsunfähigkeit nicht bis zum 31.3. desselben Jahres angetreten werden konnte. Zu dieser Regelung hat das BAG mit Urteil v. 22.5.20121 festgestellt, dass sich die TV-Parteien mit der Regelung des § 26 Abs. 2 TVöD hinreichend deutlich vom gesetzlichen Fristenregime des § 7 Abs. 3 BUrlG gelöst und Übertragung wie Verfall des Urlaubsanspruchs eigenständig geregelt hätten. Damit könne von einem Gleichlauf von gesetzlichem Mindesturlaub und tariflichem Mehrurlaub nicht die Rede sein. Unbeschadet jener Entscheidung urteilte es allerdings zugleich zur Regelung des TVöD aus, dass dieser TV nicht den Verfall von Urlaubsansprüchen regeln könne, soweit der gesetzliche Urlaubsanspruch betroffen sei; dieser stehe nicht zur Disposition der TV-Parteien, was nach der Entscheidung des EuGH v. 22.11.20112 nach Auffassung des BAG dazu führt, dass wegen lang andauernder Arbeitsunfähigkeit übertragene Urlaubsansprüche 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahres verfallen. Insoweit wird man die Verfallsregelung des § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG nach der Rechtsprechung des BAG unionsrechtskonform auszulegen haben. Im Übrigen – d.h. in Bezug auf Urlaubsregelungen, die kraft anderweitiger als der gesetzlichen Regelung im Arbeitsverhältnis gelten – wird man Verfallsklauseln weiterhin anwenden können; Grundsätze des Gemeinschaftsrechts wird man dem nicht entgegenhalten können. Die Regelung des § 26 Abs. 1 TVöD bildete auch Gegenstand der BAG-Entscheidung 47 v. 15.3.20113. Dort hatte das Gericht festgestellt, dass bei einer Verteilung der Arbeitszeit auf mehr oder weniger als fünf Wochentagen die Anzahl der Urlaubstage mit dem Ziel einer gleichwertigen Urlaubsdauer durch „Umrechnung“ zu ermitteln sei. Damit bestätigte das Gericht seine Rechtsprechung zur Gleichwertigkeit des Urlaubs auch für den TVöD. Der TVöD ist aufgrund der Entscheidung des BAG v. 20.3.20124 neu gefasst worden. 48 Dort beschäftigte sich das Gericht mit der bislang bestehenden altersabhängigen Staffelung der Urlaubsdauer und erklärte diese für unwirksam. Nunmehr beträgt die Urlaubsdauer bei Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit auf fünf Tage in der Kalenderwoche im Kalenderjahr einheitlich 30 Arbeitstage. Wie bereits ausgeführt „erhöht oder vermindert sich“, wie es im TV-Text heißt, bei einer anderen Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit als auf fünf Tage der Urlaubsanspruch entsprechend. Die Formulierung „erhöht oder vermindert sich“ ist nicht ganz glücklich, da es letztendlich um keine Erhöhung oder Verminderung eines Anspruchs, sondern die Herstellung der Gleichwertigkeit bei ungleichmäßiger Arbeitszeitverteilung geht. Der Begriff „Arbeitstag“ meint jeden Kalendertag, an dem eine Arbeitspflicht besteht. Damit muss der Arbeitnehmer auch für den Arbeitstag einen Urlaubstag einbringen, der auf einen Sonntag oder gesetzlichen Feiertag fällt.5 Wie andere TV-Regelungen auch enthält der TVöD eine Regelung zum Teilurlaub für 49 den Fall, dass das Arbeitsverhältnis unterjährig beginnt oder endet. Beginnt oder en-
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BAG v. 22.5.2012 – 9 AZR 618/10, DB 2012, 2050. EuGH v. 22.11.2011 – Rs. C-214/10, NZA 2011, 1333. BAG v. 15.3.2011 – 9 AZR 799/09, DB 2011, 1814. BAG v. 20.3.2012 – 9 AZR 529/10, BB 2012, 1728. BAG v. 15.1.2013 – 9 AZR 430/11, NZA 2013, 1091.
Natzel
527
Teil 5 (22) Rz. 50
Katalog typischer Tarifnormen
det das Arbeitsverhältnis im Laufe eines Jahres, erhält die/der Beschäftigte als Erholungsurlaub für jeden vollen Monat des Arbeitsverhältnisses ein Zwölftel des Urlaubsanspruchs nach Abs. 1; § 5 BUrlG bleibt unberührt. Letzteres soll sicherstellen, dass der gesetzliche Mindesturlaub durch die Zwölftelungsregelung nicht unterschritten wird, was es im Rahmen einer Vergleichsbetrachtung zu überprüfen gilt. 50
Eine ebensolche Teilurlaubsregelung wie für den Fall des unterjährigen Ein- und Austritts regelt der TV für den Fall des Ruhens des Arbeitsverhältnisses infolge von Elternzeit oder Sonderurlaub. Hierzu hat das BAG1 festgestellt, dass der nicht abdingbare gesetzliche Urlaubsanspruch nicht durch eine solche Ruhensregelung abbedungen werden könne2.
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Hinsichtlich der Fortzahlung des Entgelts ergeben sich im Bereich des TVöD keine Besonderheiten. Dieses ist entsprechend dem in § 21 TVöD festgelegten Referenzprinzip fortzuzahlen. Kann der dort vorgesehene Referenzzeitraum von drei Monaten nicht erreicht werden, ist der Entgeltfortzahlung ein kürzerer Zeitraum zugrunde zu legen3. Auszahlungszeitpunkt ist der letzte Tag des Monats, wie sich aus dem Verweis auf § 24 TVöD ergibt. Dieser Tag ist also auch für den Lauf von Ausschlussfristen von Bedeutung. Kein Anspruch auf Fortzahlung des Entgelts besteht selbstredend im Falle der Gewährung von Sonderurlaub. Hierauf besteht bei Vorliegen eines wichtigen Grundes aufgrund § 28 TVöD ein Anspruch. Vorsicht ist allerdings geboten. Denn das BAG4 vertritt die zweifelhafte Auffassung, dass die Suspendierung der wechselseitigen Hauptpflichten aus dem Arbeitsverhältnis grundsätzlich nicht das Entstehen gesetzlicher Urlaubsansprüche hindere. Es beruft sich dabei darauf, dass das BUrlG allein auf den Bestand eines Arbeitsverhältnisses abstelle und den Urlaubsanspruch nicht unter der Bedingung entstehe, dass der Arbeitnehmer im Bezugszeitraum eine Arbeitsleistung erbracht hat. Auch durch TV könne im Ruhensfall das Entstehen gesetzlicher Urlaubsansprüche nicht wirksam ausgeschlossen werden. Ebenso hilft es auch nicht weiter, über eine entsprechende Regelung in der Ruhensvereinbarung sicherzustellen, dass während des ruhenden Rechtsverhältnisses keine Urlaubsansprüche erworben werden können. Dennoch sollte man sie in Bezug auf diejenigen Urlaubsansprüche treffen, die auf Rechtsgrundlagen außerhalb BUrlG erworben werden. Dort, wo wie im Falle der Elternzeit (s. dazu § 17 BEEG) gesetzliche Kürzungsmöglichkeiten entsprechend der Zeit des Ruhens des Arbeitsverhältnisses Kürzungstatbestände festgelegt sind, kann der Arbeitgeber hiervon einseitig Gebrauch machen.
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Einen Anspruch auf zusätzlichen Erholungsurlaub legt § 27 TVöD für in Wechselschicht eingesetzte Arbeitnehmer fest. Der TV differenziert hier zwischen der Länge zusammenhängender Monate in Wechselschichtarbeit5. Überdies legt § 27 Abs. 4 TVöD für den Fall des Zusammentreffens des Grundurlaubs sowie des Zusatzurlaubs eine Höchstgrenze fest. Diese findet aber auf den nach § 125 SGB IX zu gewährenden Zusatzurlaub keine Anwendung.
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S. BAG v. 7.8.2012 – 9 AZR 353/10, BB 2012, 2886; dazu: Powietzka/Christ, NZA 2013, 18. Zu dieser Regelung s. bereits auch Wicht, BB 2012, 1349. BAG v. 23.2.2010 – 9 AZR 52/09, ZTR 2010, 367. BAGE v. 6.5.2014 – 9 AZR 678/12, DB 2014, 1992. Zu dieser Regelung s. MünchArbR/Giesen, § 326 Rz. 94.
528 Natzel
Verfallklauseln/Ausschlussklauseln
Rz. 2 Teil 5 (23)
(23) Verfallklauseln/Ausschlussklauseln I. Zweck und Kontext Ausschlussklauseln oder Verfallklauseln gehören zu den typischen tarifvertraglichen 1 Regelungen, die sich meist in den entsprechenden Mantel- oder RahmenTVen finden. Das TVG sieht Ausschlussfristen für die Geltendmachung tariflicher Rechte in § 4 Abs. 4 Satz 3 TVG ausdrücklich vor. Sie regeln, dass bestimmte Ansprüche verfallen, wenn sie nicht innerhalb einer bestimmten Frist und regelmäßig in einer bestimmten Form (schriftlich) geltend gemacht werden1. Nach Ablauf der Frist kann das Recht nicht mehr geltend gemacht werden2; ob es darüber hinaus erlischt, ist eine dogmatisch nicht abschließend geklärte Frage3. Jedenfalls ist der Anspruch des Klägers ausgeschlossen, soweit er von der Ausschlussregelung erfasst wird. Das Eingreifen einer tariflichen Ausschlussregelung ist von Amts wegen zu beachten. Erkennt das Arbeitsgericht aus dem Vortrag der Parteien, dass ein TV Anwendung findet, hat es den TV und die mögliche Anwendung von Ausschlussfristen nach § 293 ZPO von Amts wegen zu ermitteln. Allerdings muss das Gericht keine Nachforschungen darüber anstellen, ob überhaupt ein TV auf das Arbeitsverhältnis Anwendung findet4. Ausschlussund Verfallklauseln wirken in der Praxis nicht lediglich kollektivrechtlich aufgrund beiderseitiger Tarifbindung, sondern sind auch häufig Bestandteil eines für allgemeinverbindlich erklärten TVes. Zudem finden sie oft aufgrund einer Inbezugnahme des einschlägigen TVes im Arbeitsvertrag Anwendung5. Maßgeblicher Zweck von Ausschluss- und Verfallklauseln ist die Herstellung von 2 Rechtssicherheit. Die Parteien des Arbeitsvertrags sollen angehalten werden, ihre Ansprüche gegenüber dem anderen Teil alsbald geltend zu machen, damit sich der Schuldner auf möglicherweise noch offene Forderungen rechtzeitig einstellen kann6. In aller Regel liegen die Fristen in den TVen zwischen zwei und sechs Monaten. Da Ausschluss- und Verfallklauseln zu den Inhaltsnormen zählen, wirken sie nach Ablauf des TVes nach7 und werden nach einem Betriebsübergang gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB Inhalt des Arbeitsverhältnisses8. Einer gesonderten Geltendmachung bedarf es dann nicht, wenn der Anspruch vom Schuldner bereits anerkannt worden ist, wobei das Anerkenntnis auch in der Erteilung der Gehaltsabrechnung9 oder der Mitteilung des Arbeitgebers an den Arbeitnehmer über den Stand des Arbeitszeitkontos liegen kann10. Die Obliegenheit zur Geltendmachung lebt auch dann nicht wieder auf, wenn der Arbeitgeber die Forderung später bestreitet11. 1 Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 1. 2 BAG v. 16.1.2001 – 5 AZR 430/00, NZA 2002, 746 (747). 3 So etwa Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 719; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 73; Däubler/ Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1185. 4 BAG v. 15.6.1993 – 9 AZR 208/92, NZA 1994, 274; Schaub, ArbR-Hdb., § 205 Rz. 1; HWK/ Henssler, § 4 TVG Rz. 73. 5 Vgl. etwa BAG v. 22.6.2005 – 10 AZR 459/04, AP Nr. 183 zu § 4 TVG Ausschlussfrist. 6 BAG v. 13.12.2007 – 6 AZR 222/07, NZA 2008, 478, Rz. 18; Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 3 m.w.N. 7 BAG v. 23.4.1961 – 1 AZR 239/59, DB 1961, 1198. 8 BAG v. 27.11.1991 – 4 AZR 211/91, NZA 1992, 800; Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1105. 9 BAG v. 29.5.1985 – 7 AZR 124/83, AP TVG § 4 Ausschlussfristen Nr. 92. 10 BAG v. 28.7.2010 – 5 AZR 521/09, NZA 2010, 1241. 11 BAG v. 21.4.1993 – 5 AZR 399/92, NZA 1993, 1091.
Steffan
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Teil 5 (23) Rz. 3
Katalog typischer Tarifnormen
II. Beispiele 3 Verfall- und Ausschlussklauseln kommen als sog. einstufige oder zweistufige Klauseln in Betracht (vgl. nachfolgende Beispiele): § 37 TVçD – Ausschlussfrist (1) Ansprche aus dem Arbeitsverhltnis verfallen, wenn sie nicht innerhalb einer Ausschlussfrist von sechs Monaten nach Flligkeit von der/dem Beschftigten oder vom Arbeitgeber schriftlich geltend gemacht werden. Fr denselben Sachverhalt reicht die einmalige Geltendmachung des Anspruchs auch fr spter fllige Leistungen aus. (2) Absatz 1 gilt nicht fr Ansprche aus einem Sozialplan. 4 § 17 MTV Chemie – Ausschlussfristen (1) Der Arbeitnehmer ist verpflichtet, die richtige und vollstndige Abrechnung von Vergtungen fr Schicht-, Mehr-, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit sowie bei Barzahlungen die bereinstimmung des in der Abrechnung genannten Betrages mit der tatschlichen Auszahlung unverzglich zu berprfen. (2) Die Ansprche beider Seiten aus dem Arbeitsverhltnis mssen innerhalb einer Ausschlussfrist von drei Monaten nach Flligkeit schriftlich geltend gemacht werden. Nach Ablauf dieser Frist ist die Geltendmachung ausgeschlossen. Das gilt nicht, wenn die Berufung auf die Ausschlussfrist wegen des Vorliegens besonderer Umstnde eine unzulssige Rechtsausbung ist. (3) Im Falle des Ausscheidens mssen die Ansprche beider Seiten sptestens einen Monat nach Beendigung des Arbeitsverhltnisses geltend gemacht werden. (4) Wird ein Anspruch erst nach Beendigung des Arbeitsverhltnisses fllig, muss er sptestens einen Monat nach Flligkeit geltend gemacht werden. (5) Die genannten Ausschlussfristen gelten nicht fr beiderseitige Schadensersatzansprche sowie fr beiderseitige nachwirkende Ansprche aus dem Arbeitsverhltnis. 5 § 15 BRTV Bau – Ausschlussfristen (1) Alle beiderseitigen Ansprche aus dem Arbeitsverhltnis und solche, die mit dem Arbeitsverhltnis in Verbindung stehen, verfallen, wenn sie nicht innerhalb von zwei Monaten nach der Flligkeit gegenber der anderen Vertragspartei schriftlich erhoben werden; besteht bei Ausscheiden des Arbeitnehmers ein Arbeitszeitguthaben, betrgt die Frist fr dieses Arbeitszeitguthaben jedoch sechs Monate. (2) Lehnt die Gegenpartei den Anspruch ab oder erklrt sie sich nicht innerhalb von zwei Wochen nach der Geltendmachung des Anspruchs, so verfllt dieser, wenn er nicht innerhalb von zwei Monaten nach der Ablehnung oder dem Fristablauf gerichtlich geltend gemacht wird. Dies gilt nicht fr Zahlungsansprche des Arbeitnehmers, die whrend eines Kndigungsschutzprozesses fllig werden und von seinem Ausgang abhngen. Fr diese Ansprche beginnt die Verfallfrist von zwei Monaten nach rechtskrftiger Beendigung des Kndigungsschutzverfahrens.
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Verfallklauseln/Ausschlussklauseln
Rz. 7 Teil 5 (23)
III. Kommentierung 1. Zeitlicher Ablauf der Fristen und Geltendmachung Bei den einstufigen Klauseln verfallen die Ansprüche nur dann, wenn sie nicht inner- 6 halb der geregelten Frist und in der geforderten Form gegenüber der anderen (Arbeitsvertrags-)Partei geltend gemacht wurden. Maßgeblich für den Fristbeginn ist die Fälligkeit des Anspruchs1. Die Rechtsprechung geht hierbei zum Teil von einem subjektiv geprägten Fälligkeitsbegriff aus, nach dem die Ausschlussfrist erst dann zu laufen beginnt, wenn der Gläubiger den Anspruch der Höhe nach beziffern kann2. Soweit eine Ausschlussfrist auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses abstellt (vgl. § 17 Abs. 3 MTV Chemie, oben Rz. 4), beginnt sie nicht mit der tatsächlichen, sondern der rechtlichen Beendigung, also im Falle eines Kündigungsschutzprozesses erst mit Rechtskraft des Urteils3. Werden Ansprüche erst nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig (so z.B. bei variablen Entgeltbestandteilen nach Ablauf des Geschäftsjahres), beginnt die Ausschlussfrist erst mit Fälligkeit (vgl. § 17 Abs. 4 MTV Chemie, oben Rz. 4)4. Bei zweistufigen Klauseln ist mit der Geltendmachung gegenüber dem Vertragspartner 7 die Gefahr des Anspruchsverlustes noch nicht gebannt. Lehnt dieser den Anspruch ab oder äußert er sich gar nicht zu dem Verlangen, greift eine zweite Frist ein, innerhalb derer der Gläubiger seinen vermeintlichen Anspruch gerichtlich geltend machen muss. Für die Wahrung der Frist genügt regelmäßig der rechtzeitige Eingang der Klageschrift bei Gericht (§§ 46 Abs. 2 ArbGG, 167 ZPO). Versäumt der Gläubiger die rechtzeitige Klageerhebung, kann der Anspruch auch dann nicht mehr durchgesetzt werden, wenn er ihn zunächst gegenüber seinem Schuldner zeit- und formgerecht geltend gemacht hatte. Zur Anspruchswahrung von Zahlungsansprüchen reichte nach der früheren Rechtsprechung des BAG alleine die Erhebung der Kündigungsschutzklage nicht aus. Sie wahrte nur die erste Stufe der Ausschlussfrist, während der Arbeitnehmer zur Wahrung auch der zweiten Stufe gehalten war, den Anspruch bereits während des noch laufenden Kündigungsschutzprozesses durch Zahlungsklage geltend und damit zum Streitgegenstand zu machen5. Die Frist der zweiten Stufe beginnt, wenn der Schuldner den Anspruch ablehnt oder sich innerhalb einer bestimmten Frist nicht äußert (vgl. § 15 Abs. 2 BRTV Bau, oben Rz. 5). Als Ablehnung gilt auch der Klageabweisungsantrag des Arbeitgebers im Kündigungsschutzverfahren; in diesem Fall bedarf es keiner ausdrücklichen schriftlichen Ablehnung mehr6. Beginnt die Frist für Zahlungsansprüche bei einer zweistufigen Klausel nach der tariflichen Regelung dagegen erst dann, wenn der Kündigungsschutzprozess beendet ist (vgl. § 15 Abs. 2 Satz 2 BRTV Bau, oben
1 HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 80; Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 9. 2 BAG v. 16.5.2007 – 8 AZR 709/06, NZA 2007, 1154. 3 BAG v. 3.12.1970 – 5 AZR 68/70, DB 1971, 485; Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 9. 4 BAG v. 17.10.1974 – 3 AZR 4/74, DB 1975, 455; Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 9. 5 BAG v. 26.4.2006 – 5 AZR 403/05, NZA 2006, 845; kritisch ErfK/Preis, §§ 194–218 BGB Rz. 64. 6 BAG v. 17.11.2009 – 9 AZR 745/08, juris, Rz. 36; BAG v. 26.4.2006 – 5 AZR 403/05, NZA 2006, 845 (846); anders noch BAG v. 11.12.2001 – 9 AZR 510/00, NZA 2002, 816.
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Teil 5 (23) Rz. 8
Katalog typischer Tarifnormen
Rz. 5), kann der Anspruch nicht vor diesem Zeitpunkt fristwahrend geltend gemacht werden1. Grundsätzlich können hingegen nach der neueren Rechtsprechung Ansprüche auch schon vor Fälligkeit geltend gemacht werden, weil der Warnfunktion der Ausschlussklausel auch dann genügt ist, wenn der Gläubiger seinen Anspruch vorzeitig geltend macht2. Dies gilt auch dann, wenn die Geltendmachung im Rahmen eines Betriebsübergangs gegenüber dem Betriebsveräußerer erfolgte, weil der Erwerber die Fristwahrung gegenüber dem Betriebsveräußerer gegen sich gelten lassen muss3. 8 Die Notwendigkeit, zur Sicherung der Entgeltansprüche eine separate Leistungsklage vor Abschluss des Kündigungsschutzprozesses zu erheben, war nicht unbestritten und wurde zum Teil insbesondere im Lichte verfassungsrechtlicher Anforderungen als übertriebener Formalismus angesehen4. Die Diskussion um die zusätzliche Leistungsklage während des Kündigungsschutzprozesses dürfte sich seit dem Kammerbeschluss des BVerfG vom 1.12.2010 erledigt haben5. Danach darf der Zugang zu den Gerichten den Prozessparteien nicht in unzumutbarer, sachlich nicht zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Das Kostenrisiko darf zu dem mit dem Verfahren angestrebten Erfolg nicht außer Verhältnis stehen, sodass die Inanspruchnahme von Gerichten nicht mehr sinnvoll erscheint. Daraus wird geschlossen, dass es bei zweistufigen Ausschlussklauseln der Erhebung einer Leistungsklage bereits vor rechtskräftigem Abschluss des Kündigungsschutzprozesses jedenfalls dann nicht mehr bedarf, wenn diese sich streitwerterhöhend gegenüber der Kündigungsschutzklage auswirkt6. Der zuständige 5. Senat des BAG hat aufgrund der Entscheidung des BVerfG seine Rechtsprechung geändert. Danach sind tarifvertragliche Ausschlussfristen, die eine rechtzeitige gerichtliche Geltendmachung vorsehen, verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass die vom Erfolg einer Bestandsschutzstreitigkeit abhängigen Ansprüche bereits mit der Klage in der Bestandsstreitigkeit gerichtlich geltend gemacht sind7. Durch die verfassungskonforme Auslegung bleibt das tarifliche Erfordernis der gerichtlichen Geltendmachung von Ansprüchen, die nicht vom Ausgang einer Bestandsschutzstreitigkeit abhängig sind, erhalten8. Damit behält die zweistufige tarifliche Ausschlussfrist außerhalb von Bestandsschutzstreitigkeiten ihre Bedeutung. Vgl. ausführlich zur gerichtlichen Geltendmachung der zweiten Stufe Teil 16 Rz. 76 ff. Von dem Verzicht der separaten Zahlungsklage zu trennen ist die Frage, ob zur Begründung des Annahmeverzugs ein (wörtliches) Angebot nach § 296 BGB entbehrlich ist. Das BAG geht davon aus, dass dies nur bei einer unwirksamen Arbeitgeberkündigung der Fall ist, nicht jedoch z.B. bei einer unwirksamen Befristung9. Bietet der Arbeitnehmer
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BAG v. 22.10.1980 – 5 AZR 453/78, NJW 1981, 1751. BAG v. 11.12.2003 – 6 AZR 539/02, AP Nr. 1 zu § 63 BMT-G II. BAG v. 13.2.2003 – 8 AZR 236/02, AP Nr. 244 zu § 613a BGB. ErfK/Preis, §§ 194–218 BGB Rz. 64. BVerfG v. 1.12.2010 – 1 BvR 1682/07, NZA 2011, 354; dazu ErfK/Preis, §§ 194–218 BGB Rz. 64; Nägele/Gertler, NZA 2011, 442 (445); Brecht-Heitzmann, DB 2011, 1523; Temming, jurisPRArbR 20/2011 Anm. 2. ErfK/Preis, §§ 194–218 BGB Rz. 64. BAG v. 19.9.2012 – 5 AZR 627/1, NZA 2013, 101, Rz. 18; dazu Sievers, jurisPR-ArbR 5/2013 Anm. 1. BAG v. 19.9.2012 – 5 AZR 627/1, NZA 2013, 101, Rz. 24; dazu ErfK/Preis, §§ 194–218 BGB Rz. 64a. BAG v. 19.9.2012 – 5 AZR 627/1, NZA 2013, 101, Rz. 28; kritisch dazu Sievers, jurisPR-ArbR 5/2013 Anm. 1.
532 Steffan
Verfallklauseln/Ausschlussklauseln
Rz. 10
Teil 5 (23)
seine Arbeitskraft nicht spätestens am letzten Tag der Befristung tatsächlich an, liegen die Voraussetzungen des Annahmeverzugs erst mit Erhebung der Befristungskontrollklage vor. Für die Zeit bis zur Zustellung der Klage kann er dann keine Vergütung aus dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs verlangen1. Zu einer ordnungsgemäßen Geltendmachung gehört, dass die andere Seite zur Erfül- 9 lung des Anspruchs zwar nicht wörtlich, aber eindeutig aufgefordert wird2. Nicht ausreichend ist der Hinweis des Gläubigers, er behalte sich die Verfolgung von Ansprüchen vor3, oder eine Aufforderung zur korrekten Abrechnung, zur Prüfung oder ähnliches4. Zudem muss der Schuldner nach Sinn und Zweck der Ausschlussfrist erkennen können, welche Forderung nach Grund, Höhe und Zeitraum beansprucht wird5. Anderes gilt bezüglich der Höhe des Anspruchs nur dann, wenn dem Schuldner die Höhe des Anspruchs bekannt ist oder er sie ohne weiteres errechnen kann, so etwa bei Lohnansprüchen. Im Übrigen ist die Geltendmachung eines Anspruchs eine einseitige rechtsgeschäftsähnliche Handlung, auf deren Auslegung die §§ 133, 157 BGB entsprechend anzuwenden sind6; dasselbe gilt für § 130 Abs. 1 BGB. Dagegen ist § 174 BGB über die Zurückweisung vollmachtloser Vertreter nach Sinn und Zweck der Ausschlussregelungen nicht entsprechend anwendbar. Hier ist der Erklärungsempfänger nicht in gleicher Weise schützenswert wie etwa bei der Ausübung von Gestaltungsrechten (z.B. Kündigungen), denn auch bei der vollmachtlosen Geltendmachung kann sich der Empfänger darauf einstellen, eine Forderung ggf. noch erfüllen zu müssen7. Versäumt der Gläubiger die rechtzeitige Geltendmachung, weil ihm die Ausschluss- 10 klausel unbekannt ist, läuft die Ausschlussfrist gleichwohl. Aus dem Rechtsnormcharakter des TVes folgt, dass die Normunterworfenen für dessen Eingreifen keine positive Kenntnis der einzelnen Bestimmungen haben müssen8. Vielmehr ist ihnen zuzumuten, sich über die geltenden TVe zu unterrichten, was auch dann gilt, wenn der TV – und damit die Ausschlussklausel – über eine Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag eingreift9. So ist z.B. der Arbeitgeber nicht gehalten, die diesbezügliche Unkenntnis des Arbeitnehmers zu beseitigen. Selbst wenn der Arbeitgeber gegen seine Verpflichtung zur Bekanntgabe nach § 8 TVG verstößt, hindert das die Geltung der Ausschlussklausel nicht10. Allerdings kann sich der Arbeitgeber auf die Ausschlussklausel nicht berufen, wenn er den Arbeitnehmer von der rechtzeitigen Gel1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Sievers, jurisPR-ArbR 5/2013 Anm. 1. Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1155. Schaub, ArbR-Hdb., § 205 Rz. 30. BAG v. 22.6.2005 – 10 AZR 459/04, AP Nr. 183 zu § 4 TVG Ausschlussfrist; ausführlich Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1155. BAG v. 22.4.2004 – 8 AZR 652/02, AP BAT-O §§ 22, 23 Nr. 12; Schaub, ArbR-Hdb., § 205 Rz. 30; Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 10. BAG v. 11.12.2003 – 6 AZR 539/02, AP Nr. 1 zu § 63 BMT-G II; Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 11. BAG v. 14.8.2002 – 5 AZR 341/01, NZA 2002, 1344; Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1157; a.A. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1769. BAG v. 18.2.1992 – 9 AZR 611/90, NZA 1992, 881; Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 14; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 733. Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 14. BAG v. 23.1.2002 – 4 AZR 56/01, NZA 2002, 800; BAG v. 22.1.2008 – 9 AZR 416/07, NZA-RR 2008, 525 Rz. 38; Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 14; kritisch hierzu mit Blick auf § 307 BGB Erk/Preis, §§ 194–218 BGB Rz. 35.
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tendmachung abgehalten hat oder den Eindruck erweckt hat, er werde die Forderung erfüllen, ohne dass es einer förmlichen Geltendmachung bedürfe1. Die Rechtsprechung stellt allerdings hohe Anforderungen an einen entsprechenden Tatsachenvortrag des Arbeitnehmers. 11
Welche Form der Anspruchsinhaber bei seiner Geltendmachung zu beachten hat, richtet sich nach der Regelung in der konkreten Ausschlussfrist. Regelmäßig wird hierbei eine schriftliche Geltendmachung verlangt (vgl. dazu die Beispiele oben Rz. 3–5). Die Schriftform ist jedenfalls bei einer § 126 BGB entsprechenden Form gewahrt, also durch unterzeichnetes Schreiben. Ausreichend zur Formwahrung ist auch ein Fax2. Zur umstrittenen Frage, ob daneben auch eine E-Mail ausreichend ist, hat das BAG neuerdings für eine arbeitsvertragliche Ausschlussfrist Stellung bezogen: Nach § 127 Abs. 2 Satz 1 BGB genügt zur Wahrung der durch Rechtsgeschäft bestimmten schriftlichen Form, soweit nicht ein anderer Wille anzunehmen ist, die telekommunikative Übermittlung. Erfasst sind damit unter den Voraussetzungen des § 126b BGB neben dem Telefax auch die E-Mail. Der Text muss demnach so zugehen, dass er dauerhaft aufbewahrt werden kann oder der Empfänger einen Ausdruck anfertigen kann. Es wird auf die Unterschrift, nicht aber auf eine textlich verkörperte Erklärung verzichtet3. Zur Wahrung der Schriftform genügt auch die Erhebung der Kündigungsschutzklage für diejenigen Ansprüche, die während des Rechtsstreits fällig werden und von dessen Ausgang abhängen. Dies gilt allerdings nicht für die notwendige gerichtliche Geltendmachung einer zweistufigen Ausschlussklausel. Hier muss der Gläubiger vielmehr nach derzeitiger Ansicht des BAG Zahlungsklage erheben und die Vergütungsansprüche zum Streitgegenstand machen (vgl. dazu im Einzelnen Teil 16 Rz. 78 ff.). 2. Regelungskompetenz und Reichweite
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Ausschlussfristen für die Geltendmachung tariflicher Rechte können nach § 4 Abs. 3 TVG nur die TV-Parteien vereinbaren. Damit sind diesbezügliche Regelungen in Arbeitsverträgen oder Betriebsvereinbarungen zumindest insoweit unwirksam, wie sie sich auf tarifvertragliche Ansprüche beziehen4. Im Übrigen unterliegen Ausschlussfristen in Betriebsvereinbarungen ohnehin der Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG5. Da die Regelung von Ausschlussfristen – wenn nicht im einschlägigen TV ohnehin vorhanden – zumindest „tarifüblich“ ist, dürfte eine Regelung in einer Betriebsvereinbarung nur bei einer Öffnungsklausel im TV in Betracht kommen6. Dass sich eine tarifvertragliche Ausschlussfrist gegenüber Betriebsvereinbarungen und sonstigen kollektiven Tatbeständen durchsetzt, folgt zudem aus § 77 Abs. 4 Satz 4 BetrVG. Das gilt auch für in Bezug genommene Ausschlussfristen, sofern die Inbezugnahme den gesamten TV erfasst7. 1 Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1188. 2 BAG v. 10.11.2000 – 5 AZR 313/99, NZA 2001, 231. 3 BAG v. 16.12.2009 – 5 AZR 888/08, NZA 2010, 401; ebenso ErfK/Preis, § 127 BGB Rz. 44; a.A. Thüsing/Braun/Mengel/Burg, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 12; Schaub, ArbR-Hdb., § 205 Rz. 33; Peetz/Rose, DB 2006, 2346. 4 ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 48. 5 Die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG gilt nach h.M. auch für formelle Arbeitsbedingungen, vgl. Fitting, § 77 BetrVG Rz. 71. 6 Vgl. BAG v. 9.4.1991 – 1 AZR 406/90, NZA 1991, 734; Husemann, NZA-RR 2011, 337 (338). 7 BAG v. 27.1.2004 – 1 AZR 148/03, NZA 2004, 667; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 76; Däubler/ Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1087.
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Verfallklauseln/Ausschlussklauseln
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Ob eine Ausschlussfrist sich inhaltlich auf tarifrechtliche Rechte beschränkt oder da- 13 rüber hinaus geht, ist zunächst aus dem Wortlaut der Klausel und ggf. durch Auslegung zu ermitteln, die sich nach den allgemeinen Regeln zur Auslegung von TVen richtet1. Gilt die Frist nur für „Ansprüche aus diesem Tarifvertrag“, erfasst sie keine gesetzlichen oder vertraglichen Ansprüche2. Regelmäßig formulieren die TVe jedoch weitergehend, dass „sämtliche beiderseitigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis“ der Ausschlussfrist unterliegen, teilweise ergänzt um den Passus „und solche, die mit dem Arbeitsverhältnis in Verbindung stehen“ (vgl. dazu auch die Beispiele oben Rz. 3 ff.). Davon erfasst sind im Wesentlichen alle Ansprüche, die sich aus den Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer als einheitlichem Lebensvorgang ergeben3. Derartige umfassende Regelungen sind zulässig und werden von der Rechtsprechung sehr weitgehend interpretiert4. Dass tarifvertragliche Ausschlussfristen über die reinen tarifvertraglichen Ansprüche hinausgehen können, folgt aus der Rechtsetzungsbefugnis der TV-Parteien und der Ordnungsfunktion des TVes5. Die Reichweite der Tarifmacht bestimmt auch, für welche Rechte Ausschlussklauseln überhaupt geschaffen werden dürfen6. Davon ausgehend können grundsätzlich arbeitsvertragliche Ansprüche einbezogen werden7. Richtigerweise erfassen Ausschlussklauseln jedoch nicht die Grundlagen des Arbeitsverhältnisses (auch Stammrechte genannt), etwa eine falsche Eingruppierung, eine zu Unrecht unterlassene Höhergruppierung oder überhaupt das Recht auf vertragsgemäße Beschäftigung. Anderes gilt allerdings für die aus dem Stammrecht folgenden Einzelansprüche8, sodass zwar nicht der Anspruch auf Höhergruppierung nach Ablauf der Ausschlussfrist erlischt, wohl aber der Anspruch auf die dementsprechende rückwirkende Vergütung. Ebenfalls nicht erfasst werden sog. statusbestimmende Vertragsansprüche, wie etwa Verschaffung der Altersversorgung, Ansprüche wegen Eingriffs in das Persönlichkeitsrecht oder Abfindungen nach §§ 9, 10 KSchG9. Auch Ansprüche, die zum Teil im Persönlichkeitsrecht begründet sind, gehören hierher, wie etwa der Anspruch auf Beseitigung einer Abmahnung oder auf Schadensersatz wegen Verletzung von Persönlichkeitsrechten10. Wegen des grundsätzlichen Vorrangs des TVes (vgl. Rz. 8) können Ausschlussklauseln Ansprüche aus Betriebsvereinbarungen erfassen und somit auch Sozialplanansprüche11. Dies gilt nicht nur für zukünftige Ansprüche aus einer Betriebsvereinbarung, sondern deren Regelungen können auch nachträglich einer Ausschlussklausel unterworfen werden12. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Ausschlussklausel kol1 ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 49. 2 BAG v. 15.11.2001 – 8 AZR 95/01, NZA 2002, 612; Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 7. 3 Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1128 mit Hinweis auf BAG v. 18.11.2004 – 6 AZR 651/03, NZA 2005, 516. 4 HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 74 m.w.N. 5 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 741; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 74; Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1080. 6 Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1080. 7 BAG v. 24.10.1990 – 6 AZR 37/89, NZA 1991, 378; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 743. 8 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 743; ErfK/Koch, § 46 ArbGG Rz. 34. 9 Vgl. Beispiele bei Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 744 f. 10 Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 8. 11 BAG v. 19.1.1999 – 1 AZR 606/98, NZA 1999, 879; Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 8. 12 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 750.
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lektivrechtlich aufgrund beiderseitiger Tarifbindung oder individualrechtlich über eine Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag Anwendung findet1. Dagegen sollen betriebsverfassungsrechtliche Rechte, die sich aus der Stellung eines Betriebsratsmitglieds ergeben, deshalb nicht erfasst werden, weil sie nicht auf dem Arbeitsverhältnis beruhen2. Dies ist zumindest zweifelhaft. Werden arbeitsvertragliche Ansprüche nur von der betriebsverfassungsrechtlichen Stellung beeinflusst, so etwa der Anspruch aus § 37 Abs. 4 BetrVG auf eine Vergütung entsprechend der beruflichen Entwicklung vergleichbarer Arbeitnehmer, soll die Ausschlussklausel eingreifen3. 15
Auch unabdingbare gesetzliche Ansprüche unterwirft die Rechtsprechung weitgehend der Begrenzung durch Ausschlussklauseln. Dies gilt etwa für Entgeltfortzahlung, Feiertagslohn, Nachteilsausgleich oder den Zeugnisanspruch. Die Zulässigkeit solcher Einschränkungen stützt das BAG auf seine dogmatische Grundannahme, dass die Ausschlussfrist zwar die Durchsetzung der jeweiligen Rechte hindert, die Rechte selbst aber unangetastet lässt. Unabhängig davon, dass auch das BAG die Theorie der „Substanzerhaltung“ nicht durchgängig beachtet, ist sie alleine keine ausreichende Grundlage für den allgemeinen Verlust gesetzlicher Ansprüche. Richtigerweise wird man auf die Ausgestaltung des jeweiligen Gesetzes abstellen müssen, sodass eine Ausschlussklausel nur tarifdispositives Gesetzesrecht erfasst4. Insgesamt hat sich zur Frage, welche Ansprüche von einer Ausschlussklausel erfasste werden (können), eine weitreichende Kasuistik entwickelt, wobei die Grenzen hier fließend sind.
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Der Urlaubsabgeltungsanspruch unterlag nach der früheren Rechtsprechung des BAG nicht den tariflichen Ausschlussfristen, selbst wenn diese umfassend alle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis betrafen5. Begründet wurde dies damit, dass der Abgeltungsanspruch kein einfacher Geldanspruch, sondern ein Surrogat des Urlaubsanspruchs sei. Als Ersatz für den unantastbaren Urlaubsanspruch nach § 1 und § 3 Abs. 1 BUrlG stehe er nicht zur Disposition der TV-Parteien und sei deshalb wie dieser nach § 13 Abs. 1 BUrlG unabdingbar6. An dieser Rechtsprechung hält das BAG mit Hinweis auf die Aufgabe der Surrogatstheorie nicht mehr fest7. Jedenfalls bei lang andauernder Arbeitsunfähigkeit und der insoweit erfolgten Aufgabe der Surrogatstheorie stellt der Urlaubsabgeltungsanspruch einen reinen Geldanspruch dar, der sich nicht mehr von sonstigen Entgeltansprüchen aus dem Arbeitsverhältnis unterscheidet. Er unterfällt damit auch den Bedingungen des TVes für die Geltendmachung von 1 BAG v. 27.1.2004 – 1 AZR 148/03, NZA 2004, 667; Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1087. 2 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 751, unter Hinweis auf BAG v. 30.1.1973 – 1 ABR 1/73, AP Nr. 3 zu § 40 BetrVG 1972. 3 BAG v. 19.1.2005 – 7 AZR 208/04, n.v.; Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1128. 4 So Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 752, 757 ff.; Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1082 ff.; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 1665 ff., lösen die Frage indes über die Länge (bzw. Kürze) der Fristen. 5 BAG v. 20.1.2009 – 9 AZR 650/07, ArbRB 2009, 98; BAG v. 20.5.2008 – 9 AZR 219/07, NZA 2008, 1237; anders dagegen die überwiegende Meinung in der Instanzrechtsprechung und der Literatur; LAG Hamm v. 16.6.2011 – 16 Sa 1089/10; LAG Niedersachsen v. 14.12.2010 – 13 Sa 1050/10; HWK/Schinz, § 7 BUrlG Rz. 108a, sowie die Nachweise bei BAG v. 9.8.2011 – 9 AZR 365/10, NZA 2011, 1421 Rz. 23. 6 BAG v. 20.1.2009 – 9 AZR 650/07, ArbRB 2009, 98; BAG v. 20.5.2008 – 9 AZR 219/07, NZA 2008, 1237. 7 BAG v. 9.8.2011 – 9 AZR 365/10, NZA 2011, 1421 Rz. 15; dazu ausführlich C. Schubert, RdA 2014, 9.
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Verfallklauseln/Ausschlussklauseln
Rz. 18
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Geldansprüchen. Dazu gehören auch die tariflichen Ausschlussfristen1. Fällig wird der Urlaubsabgeltungsanspruch auch im Fall der Arbeitsunfähigkeit mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses2. Anders als im Fall des Annahmeverzugslohns (vgl. Rz. 8) genügt nach Ansicht des 9. Senats des BAG die Erhebung einer Kündigungsschutzklage nicht für die schriftliche Geltendmachung von Urlaubsabgeltungsansprüchen3. Dem ist zuzustimmen, weil die Konstellationen der Annahmeverzugsvergütung und der Urlaubsabgeltung nicht deckungsgleich sind. Mit einer Bestandsschutzklage will der Arbeitnehmer den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses erreichen, während der Urlaubsabgeltungsanspruch gerade die Beendigung des Arbeitsverhältnisses voraussetzt4. Im bestehenden Arbeitsverhältnis greifen dagegen auch bei langanhaltender krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit Ausschlussfristen bezüglich des Urlaubsanspruchs nicht ein5. Zulässig ist auch die Einführung einseitiger Ausschlussfristen nur für Ansprüche der 17 Arbeitnehmer. Maßgeblicher Grund dafür ist, dass es sich bei Ansprüchen von Arbeitnehmern gegenüber ihrem Arbeitgeber um Massentatbestände handeln kann, während dies umgekehrt nicht der Fall ist6. Ansprüche der Arbeitnehmer untereinander unterfallen hingegen nicht den Ausschlussfristen; selbst dann nicht, wenn sie z.B. nach § 6 EFZG auf den Arbeitgeber übergegangen sind7. 3. Inhaltskontrolle und Grenzen Tarifvertragliche Ausschlussfristen sind wie jede Tarifnorm dem Bestimmtheitserfor- 18 dernis unterworfen. Danach müssen TV-Normen so formuliert sein, dass der von ihnen angestrebte Regelungsinhalt zumindest im Wege der Auslegung bestimmbar ist. Eine faktische Delegation auf den entscheidenden Richter ist unzulässig8. Danach muss zumindest mit den herkömmlichen Auslegungsmethoden erkennbar sein, welcher Anspruch unter welchen Voraussetzungen und bis zu welchem Zeitpunkt geltend zu machen ist, um einen Verfall zu verhindern. Eine Inhaltskontrolle findet dagegen anders als bei arbeitsvertraglichen Ausschlussklauseln nicht statt9. Bereits vor der Ausdehnung des Anwendungsbereichs des AGB-Rechts auf Arbeitsverhältnisse wurde angenommen, dass aus der Parität der TV-Parteien eine Angemessenheit für die zwischen ihnen vereinbarte Regelung gefolgert werden kann. Aus diesem Grund lehnte die Rechtsprechung eine Inhaltskontrolle tarifvertraglicher Bestimmungen ge-
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BAG v. 9.8.2011 – 9 AZR 365/10, NZA 2011, 1421 Rz. 16, 23. BAG v. 9.8.2011 – 9 AZR 365/10, NZA 2011, 1421 Rz. 21. BAG v. 21.2.2012 (NZA 2012, 750). ErfK/Gallner, § 7 BUrlG Rz. 66. Pulz, jurisPR-ArbR 6/2012 Anm. 3; Gaul/Bonanni/Ludwig, DB 2009, 1013 (1014); LAG Düsseldorf v. 5.5.2010 – 7 Sa 1571/09, NZA-RR 2010, 568 Rz. 46 ff. BAG v. 4.12.1997 – 2 AZR 809/96, NZA 1998, 431; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 49; ErfK/Preis, §§ 194–218 BGB Rz. 39 plädiert im Einzelfall für eine Angemessenheitskontrolle nach § 307 BGB. ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 49. BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920 Rz. 25 (zu Differenzierungsklauseln); Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 230. Zur Inhaltskontrolle vertraglicher Ausschlussfristen etwa ErfK/Preis §§ 194–218 BGB Rz. 44 ff.
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Teil 5 (23) Rz. 1
Katalog typischer Tarifnormen
nerell ab1. Eine Überprüfung tarifvertraglicher Regelungen erfolgte deshalb nur auf Verstöße gegen Verfassungsrecht, zwingendes Gesetzesrecht, gute Sitten und tragende Grundsätze des Arbeitsrechts2. Ob die tarifliche Regelung eine gerechte und zweckmäßige Lösung darstellt und/oder zu ausgewogenen und sinnvollen Ergebnissen führt, entzieht sich hingegen der gerichtlichen Kontrolle3. Dies gilt auch für Ausschlussfristen4. Mit § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB hat diese Rechtsprechung ihre gesetzliche Bestätigung erhalten. Unterliegt damit die Dauer der Ausschlussfrist keiner Inhaltskontrolle, können die TV-Parteien aufgrund der Tarifautonomie auch relativ kurze Fristen vereinbaren5. Extrem kurze Fristen können dagegen wegen eines Verstoßes gegen das Gebot von Treu und Glauben oder das Verbot der Sittenwidrigkeit unwirksam sein6. Auch unter der Prämisse der zügigen Rechtsklarheit muss dem Gläubiger noch eine effektive Chance zur Geltendmachung seiner Ansprüche verbleiben. Vorgeschlagen wird eine Untergrenze von einem Monat7. Wegen § 310 Abs. 4 Satz 3 BGB findet eine Inhaltskontrolle auch dann nicht statt, wenn der Arbeitsvertrag einen TV insgesamt in Bezug nimmt; dagegen ist bei einer Teilverweisung eine Inhaltskontrolle vorzunehmen8.
(24) Wiedereinstellungsklauseln Literatur: Beckschulze, Der Wiedereinstellungsanspruch nach betriebsbedingter Kündigung, DB 1998, 417; Boewer, Der Wiedereinstellungsanspruch – Teil 1, NZA 1999, 1121; Boewer, Der Wiedereinstellungsanspruch – Teil 2, NZA 1999, 1177; Bram/Rühl, Praktische Probleme des Wiedereinstellungsanspruchs nach wirksamer Kündigung, NZA 1990, 753; Kleinebrink, Die Gestaltung von Wiedereinstellungszusagen, ArbRB 2008, 317; Kleinebrink, Grundsätze der Gestaltung von Tarifverträgen zur Sanierung eines Unternehmens, ArbRB 2008, 279; Schrader/Straube, Die arbeitsrechtliche (Wieder-)Einstellungszusage, NZA-RR 2003, 337.
I. Zweck und Kontext 1 Nicht selten enthalten TVe sog. Wiedereinstellungsklauseln. Sie sind als Abschlussnormen im Sinne des § 1 Abs. 1 TVG zu qualifizieren (vgl. Teil 4 Rz. 43 ff.) und verpflichten den Arbeitgeber einseitig zur Einstellung9. Wiedereinstellungsklauseln kommen regelmäßig dann zur Anwendung, wenn das Arbeitsverhältnis mit einem Ar1 Vgl. etwa BAG v. 30.9.1971 – 5 AZR 146/71, AP Nr. 36 zu § 620 BGB Befristeter Arbeitsvertrag. 2 Vgl. ErfK/Preis, §§ 194–218 BGB Rz. 43. 3 BAG v. 22.9.1999 – 10 AZR 839/98, NZA 2000, 551 Rz. 54; Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 4. 4 Vgl. BAG v. 22.9.1999 – 10 AZR 839/98, NZA 2000, 551; Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 5; ErfK/Preis, §§ 194–218 BGB Rz. 43. 5 Husemann, NZA-RR 2011, 337 (338). 6 BAG v. 16.11.1965 – 1 AZR 160/65, DB 1966, 272; BAG v. 22.9.1999 – 10 AZR 839/98, NZA 2000, 551. 7 Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1090. 8 BAG v. 6.5.2009 – 10 AZR 390/08, NZA-RR 2009, 593; ErfK/Preis, §§ 194–218 BGB Rz. 43. 9 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 2139; Thüsing/Braun/Mengel/Burg, 5. Kap. Wiedereinstellung Rz. 1.
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Teil 5 (23) Rz. 1
Katalog typischer Tarifnormen
nerell ab1. Eine Überprüfung tarifvertraglicher Regelungen erfolgte deshalb nur auf Verstöße gegen Verfassungsrecht, zwingendes Gesetzesrecht, gute Sitten und tragende Grundsätze des Arbeitsrechts2. Ob die tarifliche Regelung eine gerechte und zweckmäßige Lösung darstellt und/oder zu ausgewogenen und sinnvollen Ergebnissen führt, entzieht sich hingegen der gerichtlichen Kontrolle3. Dies gilt auch für Ausschlussfristen4. Mit § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB hat diese Rechtsprechung ihre gesetzliche Bestätigung erhalten. Unterliegt damit die Dauer der Ausschlussfrist keiner Inhaltskontrolle, können die TV-Parteien aufgrund der Tarifautonomie auch relativ kurze Fristen vereinbaren5. Extrem kurze Fristen können dagegen wegen eines Verstoßes gegen das Gebot von Treu und Glauben oder das Verbot der Sittenwidrigkeit unwirksam sein6. Auch unter der Prämisse der zügigen Rechtsklarheit muss dem Gläubiger noch eine effektive Chance zur Geltendmachung seiner Ansprüche verbleiben. Vorgeschlagen wird eine Untergrenze von einem Monat7. Wegen § 310 Abs. 4 Satz 3 BGB findet eine Inhaltskontrolle auch dann nicht statt, wenn der Arbeitsvertrag einen TV insgesamt in Bezug nimmt; dagegen ist bei einer Teilverweisung eine Inhaltskontrolle vorzunehmen8.
(24) Wiedereinstellungsklauseln Literatur: Beckschulze, Der Wiedereinstellungsanspruch nach betriebsbedingter Kündigung, DB 1998, 417; Boewer, Der Wiedereinstellungsanspruch – Teil 1, NZA 1999, 1121; Boewer, Der Wiedereinstellungsanspruch – Teil 2, NZA 1999, 1177; Bram/Rühl, Praktische Probleme des Wiedereinstellungsanspruchs nach wirksamer Kündigung, NZA 1990, 753; Kleinebrink, Die Gestaltung von Wiedereinstellungszusagen, ArbRB 2008, 317; Kleinebrink, Grundsätze der Gestaltung von Tarifverträgen zur Sanierung eines Unternehmens, ArbRB 2008, 279; Schrader/Straube, Die arbeitsrechtliche (Wieder-)Einstellungszusage, NZA-RR 2003, 337.
I. Zweck und Kontext 1 Nicht selten enthalten TVe sog. Wiedereinstellungsklauseln. Sie sind als Abschlussnormen im Sinne des § 1 Abs. 1 TVG zu qualifizieren (vgl. Teil 4 Rz. 43 ff.) und verpflichten den Arbeitgeber einseitig zur Einstellung9. Wiedereinstellungsklauseln kommen regelmäßig dann zur Anwendung, wenn das Arbeitsverhältnis mit einem Ar1 Vgl. etwa BAG v. 30.9.1971 – 5 AZR 146/71, AP Nr. 36 zu § 620 BGB Befristeter Arbeitsvertrag. 2 Vgl. ErfK/Preis, §§ 194–218 BGB Rz. 43. 3 BAG v. 22.9.1999 – 10 AZR 839/98, NZA 2000, 551 Rz. 54; Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 4. 4 Vgl. BAG v. 22.9.1999 – 10 AZR 839/98, NZA 2000, 551; Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Ausschlussklauseln Rz. 5; ErfK/Preis, §§ 194–218 BGB Rz. 43. 5 Husemann, NZA-RR 2011, 337 (338). 6 BAG v. 16.11.1965 – 1 AZR 160/65, DB 1966, 272; BAG v. 22.9.1999 – 10 AZR 839/98, NZA 2000, 551. 7 Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1090. 8 BAG v. 6.5.2009 – 10 AZR 390/08, NZA-RR 2009, 593; ErfK/Preis, §§ 194–218 BGB Rz. 43. 9 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 2139; Thüsing/Braun/Mengel/Burg, 5. Kap. Wiedereinstellung Rz. 1.
538 Steffan/Hexel/Bork
Wiedereinstellungsklauseln
Rz. 3 Teil 5 (24)
beitnehmer bereits sein Ende gefunden hat oder beendet werden soll. Die Wiedereinstellungszusage zielt darauf ab, das Arbeitsverhältnis zu gleichen oder zu veränderten Bedingungen zu einem in der Zukunft liegenden Zeitpunkt neu zu begründen. Abzugrenzen sind Wiedereinstellungszusagen von Weiterbeschäftigungszusagen, die auf die (nahtlose) Fortführung eines bestehenden Arbeitsverhältnisses gerichtet sind1. Zu welchem Zeitpunkt und mit welchem Inhalt die Wiedereinstellung und damit die Begründung des neuen Arbeitsverhältnisses erfolgen soll, ist gegebenenfalls durch Auslegung zu ermitteln. Wiedereinstellungszusagen können einfach, bedingt und/oder befristet ausgestaltet sein. Durch eine einfache bzw. unbedingte Wiedereinstellungszusage wird dem einzelnen 2 Mitarbeiter die Zusage einer zukünftigen Einstellung erteilt, ohne dass diese an das Vorliegen besonderer Umstände zum Zeitpunkt der Wiedereinstellung geknüpft wird oder konkrete Rahmenbedingungen als Voraussetzung für die Wiedereinstellung festlegt (z.B. Dauer der Einstellungszusage). Derartige Wiedereinstellungsklauseln können ein erhebliches Risiko für den Arbeitgeber darstellen, der darauf vertrauen muss, dass sich die Umstände, unter denen er die Einstellungszusage erteilt hat, bis zum Wiedereintrittszeitpunkt nicht zu seinem Nachteil verändern2. Auch für den betroffenen Arbeitnehmer besteht eine nicht unerhebliche Rechtsunsicherheit, da die Auslegung der Reichweite unbedingter Wiedereinstellungsklauseln durch die Gerichte nicht immer vorhersehbar ist3. Häufig finden sich deshalb in der Praxis sog. bedingte Wiedereinstellungszusagen. 3 Mit ihnen kann der Arbeitgeber seine Zusage zur Wiedereinstellung ausdrücklich von dem Vorliegen ganz bestimmter Voraussetzungen abhängig machen. Beispielsweise kann eine Klausel vorsehen, dass das Recht auf Wiedereinstellung bei einer schlechten Auftrags- oder Beschäftigungslage oder bei einer Betriebsstilllegung entfällt4. Die Wiedereinstellungszusage kann aber auch in der Form eingeschränkt sein, dass die vorübergehende Beendigung des Arbeitsverhältnisses einem konkreten Zweck dienen soll und die Zusage entfällt, soweit sich der ehemalige Arbeitnehmer nicht dem Zweck entsprechend verhält5. Schließlich gibt es auch TVe, in denen sich eine Wiedereinstellungszusage darauf beschränkt, dass der frühere Arbeitnehmer bei der zukünftigen Besetzung freier Arbeitsplätze externen Bewerbern gegenüber eine bevorzugte Berücksichtigung findet (vgl. Rz. 7, 11)6. Auch wenn solche bedingten Wiedereinstellungszusagen beiden Parteien ein deutlich höheres Maß an Rechtssicherheit bieten, ist es nicht auszuschließen, dass sich im Falle einer gerichtlichen 1 Vgl. BAG v. 24.8.2006 – 8 AZR 317/05, NZA 2007, 1287. 2 Schrader/Straube, NZA-RR 2003, 337 (339); vgl. auch Thüsing/Braun/Mengel/Burg, 5. Kap. Wiedereinstellung Rz. 1, die sogar von einem unzulässigen Eingriff in die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers ausgehen, wenn die Wiedereinstellungsklausel eine unbedingte Verpflichtung zur Einstellung enthält. 3 Vgl. hierzu BAG v. 15.7.1982 – 2 AZR 1054/79; ArbG Bonn v. 13.10.1999 – 5 Ca 1311/99 EU, EWiR 2000, 317; das Gericht hat hier den Standpunkt vertreten, dass eine einfache Wiedereinstellungszusage stets dahingehend auszulegen sei, dass eine Wiedereinstellung nur im Rahmen der betrieblichen Möglichkeiten und des Auftragsbestandes erfolgen soll; hierzu kritisch Moll/ Reufels, Kurzkommentar zum Urteil des ArbG Bonn, EWiR 2000, 317. 4 Schrader/Straube, NZA-RR 2003, 337 (340). 5 Vgl. zu einer solchen Regelung in einer Betriebsvereinbarung LAG Hessen v. 10.11.1999 – 13 Sa 2769/98. 6 Vgl. hierzu auch Kleinebrink, ArbRB 2008, 317 (319); § 59 BAT sah eine Soll-Regelung vor.
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Teil 5 (24) Rz. 4
Katalog typischer Tarifnormen
Überprüfung auch hier Auslegungsschwierigkeiten ergeben. Dies zeigt beispielsweise eine Entscheidung des LAG Hessen zur Auslegung einer Wiedereinstellungszusage in einer Betriebsvereinbarung1. Das Gericht hat einer Wiedereinstellungszusage, die nach dem ausdrücklich zum Ausdruck gebrachten Willen des Arbeitgebers nur für den Fall des Vorhandenseins eines geeigneten Arbeitsplatzes gelten sollte, letztlich doch die Wirkung einer unbedingten Wiedereinstellungszusage beigemessen. Es hat dieses Ergebnis damit begründet, dass trotz des eindeutigen Wortlauts der Klausel für den Arbeitgeber die weitergehende Verpflichtung bestanden hätte, gegebenenfalls den Zuschnitt bestehender Stellen im Rahmen einer Umorganisation zu ändern, um auf diese Weise die zugesagte Wiedereinstellung zu ermöglichen. 4 Neben der Möglichkeit, die Wirkung und damit aus Arbeitgebersicht das Risiko einer Wiedereinstellungszusage durch inhaltliche Beschränkungen zu steuern, kommt auch eine Befristung der Zusage in Betracht. Befristete Wiedereinstellungszusagen zeichnen sich dadurch aus, dass sie nur bis zu einem bestimmten Zeitpunkt gelten sollen. In der Regel muss sich der ehemalige Arbeitnehmer innerhalb eines in der Zusage definierten Zeitraums gegenüber dem Arbeitgeber erklären, wenn er die Möglichkeit seiner Wiedereinstellung wahrnehmen möchte (vgl. Rz. 8, 21). Äußert sich der Adressat der Zusage erst nach Ablauf der gesetzten Frist, wird in diesen Fällen kein neues Arbeitsverhältnis mit dem früheren Arbeitgeber begründet. 5 Inhaltlich gehen tarifvertragliche Wiedereinstellungsklauseln oftmals über den von der Rechtsprechung entwickelten allgemeinen Wiedereinstellungsanspruch, der vor allem bei Veränderungen der tatsächlichen Umstände während des Laufs der Kündigungsfrist entsteht2, hinaus3. In der Vergangenheit spielten Wiedereinstellungsklauseln insbesondere im Zusammenhang mit Arbeitskämpfen eine wichtige Rolle. Arbeitgeber konnten sich als Antwort auf langandauernde Streikmaßnahmen mittels der sog. „lösenden Aussperrung“ von ihren Arbeitnehmern trennen4. Nach Beendigung des Arbeitskampfes stand dann oftmals die Frage der Wiedereinstellung dieser Arbeitnehmer im Raum. Wiedereinstellungsvereinbarungen waren deshalb zwischen den TV-Parteien bereits in den 1920er Jahren ein beliebtes Instrument, um die streikbedingt eingetretenen Lücken in der Belegschaft möglichst schnell wieder zu schließen5. Heute ist die lösende Aussperrung dagegen nur noch in Ausnahmefällen rechtmäßig. Das BAG geht bereits seit Mitte der 1950er Jahre davon aus, dass rechtmäßige Streiks lediglich zu einer Suspendierung des Arbeitsverhältnisses führen6 und hat mit seiner grundlegenden Entscheidung aus dem Jahr 1971 entsprechendes für die Aussperrung bestätigt7. Im Bereich des Arbeitskampfrechts ist damit der Bedarf für Wiedereinstellungsvereinbarungen im Wesentlichen entfallen. 1 LAG Hessen v. 10.11.1999 – 13 Sa 2769/98; vgl. dazu auch Schrader/Straube, NZA-RR 2003, 337 (340). 2 Vgl. hierzu BAG v. 27.2.1997 – 2 AZR 160/96, DB 1997, 1414; BAG v. 6.8.1997 – 7 AZR 557/96, NZA 1998, 254; BAG v. 4.12.1997 – 2 AZR 140/97, DB 1998, 1087; vgl. hierzu allgemein Boewer, NZA 1999, 1121 ff. 3 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 2135 f.: Der Wiedereinstellungsanspruch kann vom richterrechtlichen zum tarifrechtlichen Anspruch gemacht werden oder aber die Grenzen des richterlichen Anspruchs überschreiten. 4 Thüsing/Braun/Mengel/Burg, 5. Kap., Wiedereinstellung Rz. 3. 5 Vgl. z.B. RG v. 20.6.1925 – III 371/24, RGZ 111, 166. 6 BAG v. 28.1.1955 – GS 1/54, BB 1955, 605. 7 BAG v. 21.4.1971 – GS 1/68, BB 1971, 701.
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Wiedereinstellungsklauseln
Rz. 8 Teil 5 (24)
In der Gegenwart haben sich für Wiedereinstellungsklauseln die folgenden Fallgrup- 6 pen herausgebildet: In der Praxis finden sich Wiedereinstellungszusagen überwiegend im Zusammenhang mit dem Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen (vgl. Rz. 10)1. Relevant wird diese Fallgruppe insbesondere auch bei Saisonbetrieben sowie bei Unternehmen des Baugewerbes. Dort werden regelmäßig zum Saisonende bzw. zum Beginn der Schlechtwetterperiode Kündigungen ausgesprochen, die jedoch mit der Zusage an die Arbeitnehmer verbunden werden, sie zum Saisonbeginn wieder einzustellen. Ebenfalls zu finden sind Wiedereinstellungszusagen in FirmenTVen in der Gestalt sog. SanierungsTVe2 (vgl. auch Teil 12). Schließlich gibt es tarifvertragliche Regelungen, die zum Beispiel eine Wiedereinstellung nach der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit nach überwundener Berufsunfähigkeit vorsehen3, oder die Arbeitnehmern, die zur Betreuung ihres Kindes über die nach dem BEEG gesetzlich bestehenden Zeiträume hinaus aus dem Arbeitsverhältnis ausscheiden, einen Wiedereinstellungsanspruch gewähren (vgl. Rz. 19).
II. Beispiele § 13 Abs. 6 des Manteltarifvertrages fr die chemische Industrie – Wiedereinstellung und betriebsbedingte Umsetzungen
7
1. Aus betriebsbedingten Grnden entlassene Arbeitnehmer, die lnger als 12 Monate dem Betrieb angehçrt haben und deren Entlassung nicht mehr als 12 Monate zurckliegt, werden im Falle der Neubesetzung von fr sie geeigneten Arbeitspltzen bevorzugt wieder eingestellt. Kommen mehr entlassene Arbeitnehmer in Betracht, als Arbeitspltze wieder zur Verfgung stehen, hat der Arbeitgeber unter Beachtung des Mitbestimmungsrechtes des Betriebsrates gemß § 99 BetrVG eine sachgerechte Auswahl zu treffen. 2. (…) § 13 Ziff. 4 des Manteltarifvertrages fr Beschftigte der Metall- und Elektroindus- 8 trie (Sdbaden) – Wiedereinstellung nach Zeiten der Kindererziehung 13.4.1 Beschftigte, die im Anschluss an den gesetzlichen Erziehungsurlaub zur Betreuung eines Kindes aus dem Betrieb ausscheiden, haben einmalig einen Anspruch auf Wiedereinstellung auf einen vergleichbaren und gleichwertigen Arbeitsplatz, es sei denn, ein geeigneter Arbeitsplatz ist zum Zeitpunkt der Wiedereinstellung nicht vorhanden und steht auf absehbare Zeit nicht zur Verfgung. 13.4.2 Voraussetzung ist eine mindestens 5-jhrige ununterbrochene Betriebszugehçrigkeit. 13.4.3 Der Anspruch ist bis zur Vollendung des 5. Lebensjahres des Kindes begrenzt. 13.4.4 (…) 1 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 2135. 2 Vgl. hierzu allgemein Kleinebrink, ArbRB 2008, 279. 3 So z.B. § 59 Abs. 5 BAT (Stand: 1.11.2006).
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Teil 5 (24) Rz. 9
Katalog typischer Tarifnormen
13.4.5 Frhere Beschftigungszeiten werden bei Wiedereinstellung angerechnet. 13.4.6 Die Wiederaufnahme des Arbeitsverhltnisses ist mindestens 6 Monate vorher anzukndigen. 13.4.7 Betriebe mit weniger als 500 Beschftigten sind von dieser Regelung ausgenommen. 9 § 30 Abs. 2 des Tarifvertrages fr den çffentlichen Dienst (TVçD) – Befristete Arbeitsvertrge (1) (…) (2) Kalendermßig befristete Arbeitsvertrge mit sachlichem Grund sind nur zulssig, wenn die Dauer des einzelnen Vertrages fnf Jahre nicht bersteigt; weitergehende Regelungen im Sinne von § 23 TzBfG bleiben unberhrt. Beschftigte mit einem Arbeitsvertrag nach Satz 1 sind bei der Besetzung von Dauerarbeitspltzen bevorzugt zu bercksichtigen, wenn die sachlichen und persçnlichen Voraussetzungen erfllt sind.
III. Kommentierung 1. § 13 Abs. 6 MTV Chemie (Rz. 7) 10
In tarifvertraglichen Wiedereinstellungsklauseln wird der Geltungsbereich der Regelung oftmals auf bestimmte Konstellationen beschränkt. So verhält es sich auch bei § 13 Abs. 6 MTV Chemie. Nach Ziff. 1 der Regelung werden betriebsbedingt gekündigte Arbeitnehmer (persönlicher Geltungsbereich) bei der Neubesetzung der weggefallenen Stellen bevorzugt wiedereingestellt. Die Vorschrift betrifft damit den für Wiedereinstellungszusagen bereits erwähnten Hauptanwendungsfall der betriebsbedingten Kündigung. Anlass für die Verknüpfung einer betriebsbedingten Kündigung mit einer Wiedereinstellungszusage ist regelmäßig, dass im Zeitpunkt der Kündigung entweder noch nicht absehbar ist, wann genau in Zukunft wieder entsprechende Beschäftigungsmöglichkeiten bestehen werden, oder dass eine Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses dem Arbeitgeber für den vorhersehbaren Überbrückungszeitraum nicht zuzumuten ist1.
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Betrachtet man die Regelung in § 13 Abs. 6 Ziff. 1 MTV Chemie, so fällt auf, dass dem Arbeitnehmer durch die Regelung kein Anspruch auf Wiedereinstellung, sondern lediglich ein Anspruch auf bevorzugte Berücksichtigung eingeräumt wird. Darüber hinaus handelt es sich um eine bedingte Zusage, da der Anspruch nur für den Fall bestehen soll, dass sich der Arbeitgeber für eine Neubesetzung der zunächst entfallenden Stellen entscheidet.
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Wie für Wiedereinstellungsklauseln typisch wird auch durch § 13 Abs. 6 Ziff. 1 MTV Chemie eine bestimmte Frist vorgegeben, innerhalb derer die bevorzugte Berücksichtigung von dem ausgeschiedenen Arbeitnehmer geltend gemacht werden muss. Die Frist beträgt zwölf Monate ab dem Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Es handelt sich um eine befristete Wiedereinstellungszusage. Die zeitliche Begrenzung 1 Schrader/Straube, NZA-RR 2003, 337 (342) m.w.N.
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Wiedereinstellungsklauseln
Rz. 13
Teil 5 (24)
der Zusage macht insbesondere aus Sicht des Arbeitgebers Sinn, damit er sich nicht noch Jahre später, in unter Umständen wirtschaftlich schlechten Zeiten, einer Forderung auf Wiedereinstellung ausgesetzt sieht1. Schließlich wird der Anspruch auf bevorzugte Wiedereinstellung noch an eine weitere Voraussetzung geknüpft: Er kann nur von solchen Mitarbeitern der chemischen Industrie geltend gemacht werden, die eine Betriebszugehörigkeit von mehr als zwölf Monaten vorweisen können2. Probleme ergeben sich regelmäßig dann, wenn eine größere Anzahl von Arbeitneh- 13 mern entlassen werden muss, als später Arbeitsplätze für eine mögliche Wiedereinstellung zur Verfügung stehen. Dann stellt sich die Frage nach der Auswahl der privilegierten Personen. Grundsätzlich sind die TV-Parteien in der Bestimmung des berechtigten Personenkreises und der Auswahlkriterien frei. Sie sind insbesondere nicht zwingend an das Gebot der sozialen Auswahl gemäß § 1 Abs. 3 KSchG gebunden3. Stattdessen kann der TV bestimmen, dass auch andere als soziale Gesichtspunkte bei der Auswahl Berücksichtigung finden sollen. So kann er beispielsweise vorsehen, dass innerbetriebliche Bewerber wiedereinzustellenden Arbeitnehmern vorzuziehen sind4. Ebenso könnten die TV-Parteien vereinbaren, dass ältere Arbeitnehmer bevorzugt wiedereinzustellen sind. Das LAG Köln hat entschieden, dass eine bevorzugte Berücksichtigung älterer Arbeitnehmer bei der Wiedereinstellung keine unzulässige Altersdiskriminierung darstellt5. Zwar ist in einer derartigen Regelung erkennbar eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters zu sehen. Diese erweise sich jedoch durch das berechtigte Anliegen, ältere Arbeitnehmer im Erwerbsleben wegen der für sie bestehenden faktischen Nachteile besonders zu schützen, als gerechtfertigt. Der Regelung des § 13 Abs. 6 Ziff. 1 des MTV Chemie lassen sich keine konkreten Vorgaben hinsichtlich der Auswahl der wiedereinzustellenden Mitarbeiter entnehmen. Nach Ansicht des BAG hat der Arbeitgeber in diesen Fällen gemäß § 315 BGB nach billigem Ermessen zu entscheiden6. Dem entspricht die hier kommentierte tarifliche Regelung im zweiten Absatz der Ziff. 1, nach der der Arbeitgeber eine „sachgerechte“ Auswahl zu treffen hat. Die Vorschrift räumt ihm ein Auswahlermessen ein. Der Arbeitgeber ist gemäß § 315 Abs. 1 BGB verpflichtet, bei der Prüfung des Wiedereinstellungsantrags alle wesentlichen Umstände zu würdigen. Er hat zumindest auch die sozialen Belange der um die neu zu besetzenden Stellen konkurrierenden Arbeitnehmer mit zu berücksichtigen7.
1 Nach Ansicht von Löwisch/Rieble soll das beendete Arbeitsverhältnis, wenn der TV hierzu keine Regelungen vorsieht, spätestens nach fünf Jahren (Arg. § 624 BGB) „verblasst“ sein, so dass später keine Wiedereinstellung in Betracht kommt, vgl. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 2139. 2 In anderen TVen wird stattdessen oder als weitere Anspruchsvoraussetzung auf eine bestimmte Betriebsgröße abgestellt. 3 BAG v. 15.3.1984 – 2 AZR 24/83, NZA 1984, 226: Das geltende Arbeitsrecht kenne weder eine „sozialwidrige Einstellung“ noch eine „sozial ungerechtfertigte Nichteinstellung“; beachte aber: Eine Ausnahme soll laut BAG gelten, wenn sich der Arbeitgeber noch während der Kündigungsfrist entschließt, den Betrieb mit einer geringeren Anzahl von Arbeitnehmern fortzuführen, vgl. BAG v. 4.12.1997 – 2 AZR 140/97, DB 1998, 1087; vgl. dazu auch Boewer, NZA 1999, 1177. 4 Kleinebrink, ArbRB 2008, 317 (319). 5 LAG Köln v. 11.5.2012 – 5 Sa 1009/10. 6 BAG v. 28.6.2000 – 7 AZR 904/98, DB 2000, 2171. 7 So BAG v. 23.1.1996 – 7 AZR 602/95, NZA 1996 823 (zu § 59 Abs. 5 BAT).
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Katalog typischer Tarifnormen
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Weiterhin ergibt sich aus dem zweiten Absatz der Ziff. 1, dass der Arbeitgeber im Rahmen seiner Wiedereinstellungsentscheidung die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats zu beachten hat. Ob dem Betriebsrat bei der Wiedereinstellung ehemaliger Mitarbeiter gemäß § 99 BetrVG ein Mitbestimmungsrecht zusteht, wurde lange Zeit insbesondere im Schrifttum diskutiert und überwiegend verneint1. Zur Begründung ist vorgebracht worden, dass der Arbeitnehmer bereits einmal in den Betrieb eingegliedert war und dass es sich deshalb bei der Wiedereinstellung nicht mehr um eine klassische Einstellung im Sinne des § 99 BetrVG handele2. Ferner wurde darauf verwiesen, dass das Beteiligungsrecht des Betriebsrats bei Einstellungen primär das Ziel verfolge, die Belegschaft im Falle von Einstellungen zu schützen. Dieser Zweck entfalle jedoch, wenn es um die Wiedereinstellung eines bereits im Unternehmen bekannten Arbeitnehmers gehe3. Andere Stimmen sprachen sich hingegen für ein Mitbestimmungsrecht aus und sahen ein wesentliches Argument dafür insbesondere darin, dass der Arbeitnehmer durch die Wiedereinstellung neu in den Betrieb eingegliedert werde, womit der Arbeitgeber das Beteiligungsrecht des Betriebsrats auslöse4.
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Mit einem Urteil aus dem Jahr 2001 schien das BAG in der Streitfrage Klarheit schaffen zu wollen und führte aus, dass eine Wiedereinstellung jedenfalls dann eine Einstellung i.S.v. § 95 BetrVG darstelle, wenn dem Arbeitgeber hinsichtlich des Einsatzes des Arbeitnehmers nicht jeglicher Entscheidungsspielraum fehle5.
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Blickt man auf den Wortlaut von § 13 Abs. 6 Ziff. 1 Abs. 2 MTV Chemie, wird man von einem Entscheidungsspielraum des Arbeitgebers hinsichtlich des Einsatzes des Arbeitnehmers ausgehen können. Die Klausel stellt nicht starr auf eine bevorzugte Berücksichtigung hinsichtlich des früher besetzten Arbeitsplatzes, sondern vielmehr flexibel auf jeden für den Bewerber geeigneten Arbeitsplatz ab. Damit verbleibt für den Arbeitgeber ein Entscheidungsspielraum im Sinne der Rechtsprechung. Ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats wird demnach in den dieser Tarifnorm unterfallenden Fällen regelmäßig zu bejahen sein. Dem Verweis in § 13 Abs. 6 Ziff. 1 Abs. 2 MTV Chemie auf § 99 BetrVG kommt damit lediglich eine deklaratorische Bedeutung zu.
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Es lässt sich jedoch nicht bei allen Wiedereinstellungszusagen so unproblematisch ein Beteiligungsrecht des Betriebsrats feststellen. Damit stellt sich die Frage, wo die Grenze einer mitbestimmungspflichtigen Wiedereinstellung zu ziehen ist und ab wann die Wiedereinstellung keine Mitbestimmung mehr erfordert. Folgt man dem BAG und seinen in der oben genannten Entscheidung dargestellten Ausführungen, kann die Schwelle für einen ausreichenden Entscheidungsspielraum des Arbeitgebers selbst dann erreicht sein, wenn ein Arbeitnehmer nur auf einer einzigen freie Stelle 1 Vgl. z.B. Beckschulze, DB 1998, 417 (420 f.) m.w.N. 2 Vgl. Beckschulze, DB 1998, 417 (421) für Fälle, in denen es um die Wiedereinstellung eines Arbeitnehmers auf seinem „bisherigen“ Arbeitsplatz während des Laufs der Kündigungsfrist geht. 3 Vgl. hierzu auch Nicolai, MDR 2001, 1243 (1245). 4 Vgl. z.B. Bram/Rühl, NZA 1990, 752 (758). 5 BAG v. 5.4.2001 – 2 AZR 580/99, NZA 2001, 893; drei Jahre zuvor hatte der 1. Senat des BAG noch entschieden, dass eine Wiedereinstellung (nach einem ruhenden Arbeitsverhältnis) dann eine Einstellung im Sinne der §§ 95, 99 BetrVG darstelle, wenn sich die Umstände der Beschäftigung grundlegend änderten, vgl. BAG v. 28.4.1998 – 1 ABR 63/97, BB 1998, 2525.
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im Unternehmen – bei der es sich nicht um seinen früheren Arbeitsplatz handelt –, eingesetzt werden kann. Dem BAG genügte offenbar bereits der Umstand, dass bei Abgabe der Wiedereinstellungszusage weder der Zeitpunkt der Rückkehr feststand noch endgültig abzusehen war, welcher konkrete Arbeitsbereich dem Kläger im Falle der Wiedereinstellung zugewiesen werden würde1. Es sind damit nur wenige Fälle denkbar, in denen es an einem Entscheidungsspielraum des Arbeitgebers hinsichtlich des Einsatzes des Arbeitnehmers fehlt, sodass ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach §§ 95, 99 BetrVG ausgeschlossen wäre. Dies wird man in Betracht ziehen können, wenn die Stelle, auf der ein Arbeitnehmer eingesetzt werden soll, zum Zeitpunkt der Zusage bereits verbindlich feststeht. In der Praxis ist davon insbesondere auszugehen, wenn sich die Wiedereinstellungszusage auf die Position bezieht, die der Arbeitnehmer vor der Beendigung seines Arbeitsverhältnisses innehatte. In anderen Fällen darf sich die Tätigkeit des Arbeitnehmers und ihr Umfeld innerhalb der Belegschaft jedenfalls nicht wesentlich verändern, wenn ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei der Wiedereinstellung ausgeschlossen sein soll2. Angesichts der offenen Fragen hinsichtlich der Beteiligungsrechte des Betriebsrats bei der Wiedereinstellung bleiben weitere klärende Entscheidungen des BAG abzuwarten. In der Praxis empfiehlt es sich schon aus Gründen der Rechtssicherheit, den Betriebs- 18 rat – so wie es § 13 Abs. 6 Ziff. 1 Abs. 2 MTV Chemie vorsieht – bei der Entscheidung über den Einsatz eines Mitarbeiters grundsätzlich miteinzubeziehen. Dies ist nicht zuletzt zur Vermeidung von Risiken ratsam. Wird ein Arbeitnehmer aufgrund einer Wiedereinstellungszusage mit neuem Arbeitsvertrag in den Betrieb eingegliedert, könnte der Betriebsrat, wenn er nicht ordnungsgemäß beteiligt wurde, gemäß § 101 Satz 1 BetrVG dem Arbeitgeber gerichtlich auferlegen lassen, die Beschäftigung des Arbeitnehmers zu beenden. Dem Arbeitgeber droht die Verpflichtung zur Zahlung von Zwangsgeld (§ 101 Satz 2 BetrVG), wenn er eine solche gerichtliche Entscheidung nicht befolgt3. 2. § 13 Ziff. 4 des MantelTVes für Beschäftigte der Metall- und Elektroindustrie (Südbaden) – Wiedereinstellung nach Zeiten der Kindererziehung (Rz. 8) Im Unterschied zu dem oben genannten Klauselbeispiel aus der chemischen Industrie 19 (Rz. 7) ist die Ausgangskonstellation in § 13 Ziff. 4 des MantelTVes für Beschäftigte der Metall- und Elektroindustrie eine andere. Die Vorschrift sieht eine Wiedereinstellungsmöglichkeit nach Zeiten der Kindererziehung vor. Seit es mit dem BEEG bzw. dem früheren BErzGG gesetzliche Regelungen für Erziehungszeiten gibt, kommt TVen vor allem dann eine wichtige Bedeutung zu, wenn sie über die gesetzlich festgeschriebenen Ansprüche hinaus Möglichkeiten zur Wahrnehmung von Erziehungszeiten vorsehen4. § 13 Ziff. 4 des MantelTVes für die Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie bietet hierfür ein Beispiel. Nach Ziff. 4.1 können Beschäftigte, die
1 BAG v. 5.4.2001 – 2 AZR 580/99, NZA 2001, 893. 2 Ähnlich auch Nicolai, MDR 2001, 1243, (1244) Kurzkommentar zum Urteil des BAG v. 5.4.2001 – 2 AZR 580/99, NZA 2001, 893. 3 Kleinebrink, ArbRB 2008, 317 (320). 4 § 9 des Manteltarifvertrages für das private Versicherungsgewerbe sieht bspw. nach Ablauf der gesetzlichen Elternzeit die Möglichkeit einer darüber hinausgehenden tariflichen Elternzeit von bis zu sechs Monaten vor.
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nach Ablauf der gesetzlichen Elternzeit zur Betreuung ihres Kindes aus dem Betrieb ausscheiden1, einmalig die Wiedereinstellung auf einem vergleichbaren und gleichwertigen Arbeitsplatz beanspruchen. Die Klausel gewährt den Arbeitnehmern ausdrücklich einen Anspruch auf Wiedereinstellung. Allerdings steht auch dieser Anspruch unter einer Bedingung. Gemäß Ziff. 4.1 ist der Wiedereinstellungsanspruch ausgeschlossen, wenn es zum Zeitpunkt der Wiedereinstellung an einem geeigneten Arbeitsplatz fehlt und ein solcher auf absehbare Zeit auch nicht zur Verfügung steht. 20
Schließlich werden in § 13 Ziff. 4 des MTV der Metall- und Elektroindustrie weitere Anspruchskriterien aufgestellt. So setzt der Wiedereinstellungsanspruch für die Beschäftigten eine mindestens fünfjährige ununterbrochene Betriebszugehörigkeit voraus (vgl. § 13 Ziff. 4.2). Darüber hinaus kann die Wiedereinstellung nach Zeiten der Kindererziehung nur in solchen Betrieben beansprucht werden, in denen nicht weniger als 500 Mitarbeiter beschäftigt werden (vgl. § 13 Ziff. 4.7). Sind die genannten Anspruchsvoraussetzungen erfüllt, kann die Wiedereinstellung bis zur Vollendung des 5. Lebensjahres des Kindes geltend gemacht werden (befristete Wiedereinstellungszusage). Der Anspruch gemäß Ziff. 4.3 ist insoweit zeitlich begrenzt.
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Hinsichtlich der Geltendmachung des Wiedereinstellungsanspruchs stellt sich regelmäßig die Frage, von wem die Initiative für den Abschluss des neuen Arbeitsvertrags ausgehen muss. Man spricht in diesem Zusammenhang von der sog. „Initiativlast“2. TVe sehen oftmals auch hierzu Regelungen vor3. § 13 des MantelTVes für die Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie enthält in seiner Ziff. 4.6 eine Regelung zum Verfahren der Geltendmachung: Möchte der Arbeitnehmer nach Zeiten der Kindererziehung in den Betrieb zurückkehren, ist er zur Ankündigung seiner Rückkehr verpflichtet. Er hat seine Rückkehrabsicht mindestens sechs Monate im Voraus anzuzeigen. Ferner bietet Ziff. 4.5 ein Beispiel dafür, dass in TVen nicht selten auch die Folgen der Wiedereinstellung geregelt werden. Konkret sieht die Klausel vor, dass im Falle einer Wiedereinstellung und der damit einhergehenden Neubegründung des Arbeitsverhältnisses die früheren Betriebszugehörigkeiten angerechnet werden. 3. § 30 Abs. 2 TVöD (Rz. 9)
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§ 30 Abs. 2 TVöD steht abschließend für ein Klauselbeispiel, aus dem sich für den betroffenen Arbeitnehmer weder ein Anspruch auf Wiedereinstellung noch ein Anspruch auf bevorzugte Wiedereinstellung herleiten lässt. Es handelt es sich um die Nachfolgeregelung zur früheren Protokollnotiz Nr. 4 zu Nr. 1 SR 2y BAT, die nahezu identisch in § 30 Abs. 2 TVöD übernommen wurde. Gemäß § 30 Abs. 2 Satz 2 TVöD sind Beschäftigte mit einem befristeten Arbeitsvertrag nach § 30 Abs. 2 Satz 1 TVöD bei der Besetzung von Dauerarbeitsplätzen bevorzugt zu berücksichtigen, soweit die sachlichen und persönlichen Voraussetzungen erfüllt sind.
1 Beachte: Während der Elternzeit ruhen die Hauptleistungspflichten aus dem Arbeitsverhältnis lediglich kraft Gesetzes, vgl. bereits BAG v. 24.5.1995 – 10 AZR 619/94, NZA 1996, 31. 2 Vgl. z.B. Thüsing/Braun/Mengel/Burg, 5. Kap., Wiedereinstellung Rz. 4; Kleinebrink, ArbRB 2008, 317 (319). 3 Vgl. z.B. § 46 Abs. 3 Satz 2 des Rahmentarifvertrages des Maler- und Lackiererhandwerks im Bund (ohne Saarland), wonach der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über die Wiederaufnahme der Arbeit im Saisonbetrieb zu unterrichten hat.
546 Hexel/Bork
Rz. 3 Teil 5 (25)
Zulagen-/Zuschlagsregelungen
Das BAG hatte bereits im Jahr 2003 über die mit § 30 Abs. 2 TVöD wortgleiche Proto- 23 kollnotiz Nr. 4 zu Nr. 1 SR 2y BAT zu entscheiden und festgestellt, dass die Klausel zu unbestimmt sei und deshalb als Anspruchsgrundlage für den Abschluss eines unbefristeten Arbeitsvertrags nicht in Betracht komme1. Anspruchsgrundlage für eine Einstellung in den öffentlichen Dienst könne nach Ansicht des Gerichts im Übrigen auch im Anwendungsbereich der Regelung nur Art. 33 Abs. 2 GG sein, der für die Einstellung eines Bewerbers allein auf dessen Qualifikation abstellt. Damit werde jedem garantiert, bei seiner Bewerbung nach den in Art. 33 Abs. 2 GG aufgestellten Merkmalen beurteilt zu werden. Anstatt ein allgemeines Anstellungsgebot zu begründen, wird nach Auffassung des 24 BAG durch die Tarifnorm allein das Ermessen des Arbeitgebers bei der Auswahl der Bewerber für Dauerarbeitsplätze eingeschränkt. Diese Ermessensreduzierung könne jedoch nur für den Fall der im Wesentlichen gleichen Eignung zweier Bewerber gelten. Nur dann dürfe die vorherige befristete Beschäftigung ausschlaggebend sein. Die Klausel hindere den Arbeitgeber hingegen nicht, den freien Arbeitsplatz mit einem aus seiner Sicht besser geeigneten Bewerber zu besetzen, um so gegenüber diesem Arbeitnehmer seiner aus Art. 33 Abs. 2 GG folgenden Pflicht zur „Bestenauslese“ nachzukommen2. Entsprechendes wird heute für den wortgleichen § 30 Abs. 2 TVöD gelten.
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(25) Zulagen-/Zuschlagsregelungen I. Zweck und Kontext Zulagen und Zuschläge sind gesondert ausgewiesene Vergütungsbestandteile, die für 1 tatsächlich geleistete Arbeit neben dem Grundentgelt gezahlt werden. Sie dienen der Vergütung besonderer, mit der Arbeit verbundener Leistungen und erfüllen damit einen besonderen Zweck innerhalb des Arbeitsverhältnisses, Rechtlich können sie daher auch abweichend vom Grundentgelt behandelt werden3. Die Unterscheidung zwischen Zulagen und Zuschlägen hat einen steuer-/sozialver- 2 sicherungsrechtlichen Hintergrund. Während Zulagen stets der Steuer- und Sozialversicherungspflicht unterliegen, gilt dies für Zuschläge nur in bestimmten Grenzen (s. § 3b EStG). Zulagen und Zuschläge werden in mannigfaltiger Form gewährt. Zu nennen sind bspw.: – Erschwerniszulagen, die als Ausgleich für besondere Belastungen (Schmutz, Erschütterung, Hitze, Gefahren, usw.) gewährt werden4. – Leistungszulagen, mit denen besondere Leistungen vergütet werden sollen. 1 2 3 4
BAG v. 2.7.2003 – 7 AZR 529/02, DB 2004, 80. BAG v. 2.7.2003 – 7 AZR 529/02, DB 2004, 80. MünchArbR/Krause, § 57 Rz. 50. So bspw. § 6 Bundesentgelttarifvertrag für die chemische Industrie; § 19 TVöD.
Hexel/Bork/Natzel
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Rz. 3 Teil 5 (25)
Zulagen-/Zuschlagsregelungen
Das BAG hatte bereits im Jahr 2003 über die mit § 30 Abs. 2 TVöD wortgleiche Proto- 23 kollnotiz Nr. 4 zu Nr. 1 SR 2y BAT zu entscheiden und festgestellt, dass die Klausel zu unbestimmt sei und deshalb als Anspruchsgrundlage für den Abschluss eines unbefristeten Arbeitsvertrags nicht in Betracht komme1. Anspruchsgrundlage für eine Einstellung in den öffentlichen Dienst könne nach Ansicht des Gerichts im Übrigen auch im Anwendungsbereich der Regelung nur Art. 33 Abs. 2 GG sein, der für die Einstellung eines Bewerbers allein auf dessen Qualifikation abstellt. Damit werde jedem garantiert, bei seiner Bewerbung nach den in Art. 33 Abs. 2 GG aufgestellten Merkmalen beurteilt zu werden. Anstatt ein allgemeines Anstellungsgebot zu begründen, wird nach Auffassung des 24 BAG durch die Tarifnorm allein das Ermessen des Arbeitgebers bei der Auswahl der Bewerber für Dauerarbeitsplätze eingeschränkt. Diese Ermessensreduzierung könne jedoch nur für den Fall der im Wesentlichen gleichen Eignung zweier Bewerber gelten. Nur dann dürfe die vorherige befristete Beschäftigung ausschlaggebend sein. Die Klausel hindere den Arbeitgeber hingegen nicht, den freien Arbeitsplatz mit einem aus seiner Sicht besser geeigneten Bewerber zu besetzen, um so gegenüber diesem Arbeitnehmer seiner aus Art. 33 Abs. 2 GG folgenden Pflicht zur „Bestenauslese“ nachzukommen2. Entsprechendes wird heute für den wortgleichen § 30 Abs. 2 TVöD gelten.
25
(25) Zulagen-/Zuschlagsregelungen I. Zweck und Kontext Zulagen und Zuschläge sind gesondert ausgewiesene Vergütungsbestandteile, die für 1 tatsächlich geleistete Arbeit neben dem Grundentgelt gezahlt werden. Sie dienen der Vergütung besonderer, mit der Arbeit verbundener Leistungen und erfüllen damit einen besonderen Zweck innerhalb des Arbeitsverhältnisses, Rechtlich können sie daher auch abweichend vom Grundentgelt behandelt werden3. Die Unterscheidung zwischen Zulagen und Zuschlägen hat einen steuer-/sozialver- 2 sicherungsrechtlichen Hintergrund. Während Zulagen stets der Steuer- und Sozialversicherungspflicht unterliegen, gilt dies für Zuschläge nur in bestimmten Grenzen (s. § 3b EStG). Zulagen und Zuschläge werden in mannigfaltiger Form gewährt. Zu nennen sind bspw.: – Erschwerniszulagen, die als Ausgleich für besondere Belastungen (Schmutz, Erschütterung, Hitze, Gefahren, usw.) gewährt werden4. – Leistungszulagen, mit denen besondere Leistungen vergütet werden sollen. 1 2 3 4
BAG v. 2.7.2003 – 7 AZR 529/02, DB 2004, 80. BAG v. 2.7.2003 – 7 AZR 529/02, DB 2004, 80. MünchArbR/Krause, § 57 Rz. 50. So bspw. § 6 Bundesentgelttarifvertrag für die chemische Industrie; § 19 TVöD.
Hexel/Bork/Natzel
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Teil 5 (25) Rz. 4
Katalog typischer Tarifnormen
– Ausgleichszulagen bei Ausübung einer höherwertigen Tätigkeit1. – Funktionszulagen, die dem Ausgleich für die Übernahme zusätzlicher Verantwortung dienen2. – Sozialzulagen, wie sie teilweise noch im öffentlichen Dienst anzutreffen sind. – (Wechsel-)Schichtzulagen3. – Nachtarbeitszuschlag, wie er vorbehaltlich einer tarifvertraglichen Regelung nach Maßgabe des § 6 Abs. 5 ArbZG zu gewähren ist. – Mehrarbeitszuschlag, worunter in TVen zumeist der Zuschlag für angeordnete Arbeit zu verstehen ist, die über die tarifliche wöchentliche oder über die in diesem Rahmen betrieblich festgelegte regelmäßige Arbeitszeit hinausgeht4. – Sonn-/Feiertagszuschlag, auf den es im Gegensatz zur Nachtarbeit keinen gesetzlichen Anspruch gibt5. 4 Von den beispielhaft aufgeführten Zulagen und Zuschlägen abzugrenzen sind Aufwandsentschädigungen, die eine Ersatzleistung für ein vom Arbeitnehmer erbrachtes Vermögensopfer darstellen. Sie sind nicht dem steuer- und beitragspflichtigen Arbeitsentgelt zuzurechnen. 5 § 3b EStG bestimmt die Bedingungen für die Steuerfreiheit, legt indes nicht fest, dass diese Zuschläge in der dort genannten Höhe auch gezahlt werden müssen. So sind nach § 3b Abs. 1 EStG Zuschläge, die für tatsächlich geleistete Sonntags-, Feiertagsoder Nachtarbeit neben dem Grundlohn gezahlt werden, steuerfrei, soweit sie den jeweils gesetzlich bestimmten Prozentsatz des Grundlohns nicht übersteigen. Als Grundlohn definiert das Gesetz den laufenden Arbeitslohn, der dem Arbeitnehmer bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit für den jeweiligen Lohnzahlungszeitraum zusteht; er ist in einen Stundenlohn umzurechnen und mit höchstens 50 Euro anzusetzen. Ziff. 30 der Lohnsteuer-Richtlinien präzisiert den Begriff des Grundlohnes. Danach gehören auch Ansprüche auf Sachbezüge, Aufwendungszuschüsse und vermögenswirksame Leistungen zum Grundlohn, wenn sie dem laufenden Arbeitslohn zuzurechnen sind. 6 Die Anwendung des § 3b EStG erfordert einen Einzelnachweis der geleisteten Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit, um im Falle der Lohnsteuerprüfung die Voraussetzungen für die Steuerfreiheit der gezahlten Zuschläge zu belegen. Denn steuerfrei sind nur Zuschläge, die für tatsächlich geleistete Sonntags-, Feiertags- oder Nachtarbeit neben dem Grundentgelt gezahlt werden; anderenfalls unterliegen sie der Steuer- und Sozialversicherung. Vereinbaren die Arbeitsvertragsparteien zur Gewährleistung eines verstetigten Einkommens ein fixes Gesamtentgelt, das sich aus dem Grundentgelt und pauschalierten Zuschlägen für Sonn-, Feiertags- und Nachtarbeit zusammensetzt,
1 So bspw. § 3 Ziff. 5 Bundesentgelttarifvertrag für die chemische Industrie; § 14 TVöD. 2 So bspw. die nach § 5 Bundesentgelttarifvertrag für die chemische Industrie zu gewährende Vorarbeiterzulage. 3 So bspw. geregelt in § 4 III MTV für die chemische Industrie. 4 So bspw. geregelt in § 4 III MTV für die chemische Industrie. 5 BAG v. 11.1.2006 – 5 AZR 97/05, NZA 2006, 372.
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Zulagen-/Zuschlagsregelungen
Rz. 8 Teil 5 (25)
sind auch diese im Rahmen des § 3b EStG steuerfrei, wenn sie getrennt vom Grundentgelt vereinbart und für den tatsächlichen Sonntags-, Feiertags- und Nacht-Einsatz gezahlt werden1.
II. Beispiele Die nachfolgenden Beispiele für tarifvertragliche Zulagen-/Zuschlagsregelungen 7 stammen aus dem Bereich der chemischen Industrie. Sie finden sich so oder in ähnlicher Form auch in TVen anderer Branchen wieder, weshalb im Folgenden auf Beispiele anderer Branchen verzichtet, wohl aber hierauf im Rahmen der Kommentierung eingegangen wird. § 4 MTV Chemie – Zuschlge und Schichtzulagen
8
I. Zuschlge fr Mehrarbeit, Nachtarbeit, Sonn- und Feiertagsarbeit Die Zuschlge betragen 1. fr Mehrarbeit
25 %
2. fr regelmßige Nachtarbeit
15 %
3. fr nichtregelmßige Nachtarbeit
20 %
4. fr Arbeiten an Sonntagen und gesetzlichen Feiertagen
60 %
5. fr Arbeiten am 24. Dezember ab 13 Uhr
100 %
6. fr Arbeiten an den Wochenfeiertagen, an denen aufgrund gesetzlicher Bestimmungen der Arbeitsausfall zu vergten ist; fr Arbeiten am 1. Mai, an den Oster-, Pfingst- und Weihnachtsfeiertagen, am Neujahrstag, auch dann, wenn diese Feiertage auf einen Sonntag oder auf einen an sich arbeitsfreien Werktag fallen
150 %
II. Berechnung der Zuschlge 1. Berechnungsgrundlage fr die Zuschlge und jede nicht mit dem Monatsentgelt abgegoltene Arbeitsstunde ist der auf eine Arbeitsstunde entfallende Teil2 des Monatsentgelts fr den laufenden oder letzten Entgeltabrechnungszeitraum – ohne Zuschlge gemß Abschnitt I. 2. Fr die Berechnung von Mehrarbeits-, Nachtarbeits- und Sonntagsarbeitszuschlgen bleibt die Schichtzulage außer Betracht. Feiertagszuschlge werden hingegen auch von der Schichtzulage berechnet. 3. Treffen Zuschlge von 60 % oder hçhere Zuschlge mit anderen Zuschlgen zusammen, so ist nur der hçhere Zuschlag zu zahlen. Ausgenommen hiervon sind die Zuschlge fr Nachtarbeit nach Abschnitt I Ziffern 2 und 3, die in jedem Falle zu zahlen sind.
1 BFH v. 17.6.2010 – VI R 50/09, DStR 2010, 1886. 2 Der Divisor zur Ermittlung des Stundenentgelts wird durch Multiplikation der jeweiligen regelmäßigen tariflichen Wochenarbeitszeit mit dem Faktor 4,35 festgestellt.
Natzel
549
Teil 5 (25) Rz. 8
Katalog typischer Tarifnormen
4. Wird stundenweise Sonntags- oder Feiertagsarbeit angeordnet, so ist der sich nach den vorstehenden Bestimmungen ergebende Betrag fr mindestens drei Arbeitsstunden zu zahlen. Dies gilt jedoch nicht, wenn die Sonntags- und Feiertagsarbeit unmittelbar vor oder in unmittelbarem Anschluss an die Werktagsarbeit geleistet wird. III. Schichtzulage 1. Arbeitnehmer, die in vollkontinuierlicher oder teilkontinuierlicher Wechselschichtarbeit eingesetzt sind und die regelmßig in ihrem Schichtenturnus Nachtschichten leisten, erhalten nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen eine Schichtzulage. Als vollkontinuierlich im Sinne dieser Bestimmungen gelten solche Arbeitspltze, die auch in der Zeit von Samstag 14 Uhr bis Montag 6 Uhr ganz oder zeitweise besetzt sind. Als teilkontinuierlich gelten solche kontinuierlich besetzten Arbeitspltze, die von Samstag 14 Uhr bis Montag 6 Uhr nicht, auch nicht zeitweise, besetzt sind. Sind die Arbeitspltze an einzelnen Samstagen lnger als bis 14 Uhr besetzt, wird aber diese Zeit innerhalb eines Zeitraumes von 3 Wochen am Freitag oder am Samstag vor 14 Uhr ausgeglichen, so gilt die Teilkontinuitt als gegeben. Der in den Abstzen 2 und 3 genannte Zeitraum von Samstag 14 Uhr bis Montag 6 Uhr kann im Einvernehmen mit dem Betriebsrat aus Verkehrsgrnden am Samstag und am Montag geringfgig verkrzt werden; die Teilkontinuitt der Arbeitspltze bleibt in diesem Fall erhalten. 2. Die Schichtzulage betrgt fr Schichtarbeit –
in vollkontinuierlichen Betrieben
10 %
–
in teilkontinuierlichen Betrieben
6%
des Tarifentgelts. Ist der Arbeitnehmer im Abrechnungszeitraum nur zeitweise in Wechselschicht eingesetzt, ist fr die Berechnung der Schichtzulage je Arbeitsstunde dieses Zeitraums ein Tarifstundenentgelt in Ansatz zu bringen. berschreitet die Schichtarbeit im Durchschnitt des Schichtenturnus die regelmßige tarifliche wçchentliche Arbeitszeit, so ist fr die Berechnung der Schichtzulage je zustzliche Stunde ein Tarifstundenentgelt mit in Ansatz zu bringen. 3. Die Schichtzulage ist neben den Zuschlgen nach Abschnitt I zu zahlen. Die Schichtzulage erhalten auch diejenigen Arbeitnehmer, die nur zeitweise an kontinuierlichen Arbeitspltzen volle Nachtschichten leisten, und zwar fr die Dauer dieser Nachtschichten. Das Gleiche gilt fr diejenigen Arbeitnehmer, die an kontinuierlichen Arbeitspltzen ausschließlich Nachtschichten leisten. Die Schichtzulage erhalten auch diejenigen Arbeitnehmer, die vertretungsweise mindestens fr die Dauer eines normalen Wechsels zwischen den Tag- und Nachtschichten in kontinuierlicher Wechselschichtarbeit eingesetzt sind, und zwar fr die Dauer dieses Einsatzes. 550 Natzel
Zulagen-/Zuschlagsregelungen
Rz. 10
Teil 5 (25)
IV. Pauschalierung 1. Die nach den vorstehenden Bestimmungen zu zahlenden Vergtungen kçnnen durch Pauschale abgegolten werden. 2. Bei der Pauschalierung muss erkennbar sein, welche Vergtungsarten mit der Pauschale abgegolten werden sollen. Soweit hierbei steuerfreie tarifliche Zuschlge fr Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit pauschaliert werden, muss deren Anteil an der Pauschale gesondert festgesetzt oder feststellbar sein. 3. Die Pauschale muss mindestens den durchschnittlich im Zeitraum eines Jahres anfallenden Einzelleistungen entsprechen. Verndern sich die Grundlagen dieser Berechnung, so ist die Pauschale entsprechend anzupassen; geringe Abweichungen kçnnen jedoch unbercksichtigt bleiben. 9
§ 3 Bundesentgelttarifvertrag Chemie: Allg. Bestimmungen 5. bt ein in die Entgeltgruppen E 1 bis E 6 eingruppierter Arbeitnehmer auf Anordnung des Vorgesetzten vorbergehend (mindestens eine volle Schicht) vollwertig eine Ttigkeit aus, die nicht zu seinem persçnlichen Arbeitsbereich gehçrt und die der Voraussetzung einer hçheren Entgeltgruppe entspricht, ist ihm fr diese Zeit das Tarifentgelt der hçheren Entgeltgruppe zu zahlen. bt ein in den Entgeltgruppen E 7 bis E 12 eingruppierter Arbeitnehmer auf Anordnung des Vorgesetzten vorbergehend vollwertig eine Ttigkeit aus, die einer hçheren Entgeltgruppe zugeordnet ist, so hat er unter Anrechnung einer etwaigen Ausgleichszulage rckwirkend einen tariflichen Anspruch auf den Differenzbetrag zwischen seinem Tarifentgelt und dem Tarifentgelt der hçheren Entgeltgruppe, wenn diese Ttigkeit zusammenhngend lnger als vier Wochen dauert. Dabei ist das Gruppenjahr der hçheren Entgeltgruppe zugrunde zu legen, dessen Entgeltsatz am nchsten ber seinem bisherigen tariflichen Entgeltsatz liegt. Der Anspruch entsteht nicht, wenn der Einsatz zu Trainingszwecken oder zum Zwecke der beruflichen Weiterbildung erfolgt. (…) 8. Zuschlge und Zulagen sowie sonstige variable Entgeltbestandteile kçnnen, jeder fr sich oder insgesamt, pauschaliert werden.
10
§ 5 Bundesentgelttarifvertrag Chemie: Vorarbeiter Vorarbeiter und Arbeitnehmer in gleicher Funktion sind Arbeitnehmer, denen unmittelbar unter der Meisterebene (nicht nur Meisterstellvertreter) die Aufsicht ber eine Arbeitsgruppe bertragen worden ist und die in ihrer Funktion vom Arbeitgeber schriftlich bestellt bzw. besttigt worden sind. Vorarbeiter erhalten eine Zulage von 10 % des Tarifentgelts ihrer Entgeltgruppe, in die sie entsprechend ihrer Ttigkeit gemß § 3 des Tarifvertrages einzugruppieren sind. Auf die Vorarbeiterzulage sind einschlgige betriebliche Zulagen anrechenbar. Bei Vorarbeitern, die wegen dieser Stellung im Betrieb in eine hçhere Entgeltgruppe als nach § 3 eingruppiert sind, wird die Differenz zwischen den Entgeltgruppen auf die Vorarbeiterzulage angerechnet.
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Katalog typischer Tarifnormen
§ 6 Bundesentgelttarifvertrag Chemie: Erschwerniszulagen 1. Bei Schmutzarbeiten und anderen lstigen Arbeiten, bei denen Arbeitnehmer nachhaltigen Einwirkungen, z.B. von Rauch, Ruß, heißer Asche, Staub, Nsse, hohen Temperaturen, besonders belastendem Lrm oder besonders grellem knstlichen Licht ausgesetzt sind, oder bei Arbeiten in abgedunkelten Rumen ohne Belichtung oder mit lstigem farbigem Licht und bei Arbeiten mit Presslufthmmern erhalten Arbeitnehmer eine Erschwerniszulage. Die Hçhe dieser Zulage bestimmt sich nach dem Grad der Lstigkeit, darf jedoch nicht unter 3 % des arithmetischen Durchschnitts der Tarifentgeltstundenstze der Entgeltgruppen E 1 bis E 8 (Anfangsstze bei E 5 bis E 8) betragen. 2. Wenn bei der Arbeit zur Vermeidung gesundheitsgefhrdender Einwirkungen regelmßig lstige persçnliche Schutzausrstungen, z.B. Sandstrahlhelme, Gehçrschutzhelme, Staub-, Gasmasken und Frischluftgerte oder andere Atemschutzmittel verwendet werden mssen, so betrgt der Zuschlag nicht unter 5 % des in Ziffer 1 genannten Durchschnittsbetrages. 3. Fr Arbeiten, bei denen der Arbeitnehmer besonderen Gefahren ausgesetzt ist, ist von Fall zu Fall fr die Dauer der besonderen Gefhrdung eine betriebliche Regelung ber die Hçhe der Sonderzulagen zu treffen. Das gilt insbesondere fr Betriebe der Sprengstoffindustrie. 4. Welche Arbeitnehmer Anspruch auf die Zulagen nach Ziffer 1 bis Ziffer 3 haben, fr welche Zeit und in welcher Hçhe sie zu gewhren sind, wird im Einvernehmen mit dem Betriebsrat festgelegt. 5. In gleicher Weise ist betrieblich festzulegen, fr welche Arbeiten auf Kosten des Betriebes Schutzkleidung zu stellen ist. Instandsetzung und Reinigung gehen in diesen Fllen grundstzlich zu Lasten des Betriebes.
III. Kommentierung 1. § 4 MTV Chemie – Zuschläge und Schichtzulagen (Rz. 8) 12
§ 4 MTV Chemie regelt die Zuschläge für Mehr-, Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit (zur Mehrarbeitsregelung s. bereits R (15) Mehrarbeitsregelungen) sowie das Thema voll-/teilkontinuierlicher Schichtarbeit und dafür zu gewährender Schichtzulagen.
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Zunächst differenziert der TV zwischen regelmäßiger und nicht regelmäßiger Nachtarbeit und weist hierfür abweichende Zuschläge aus1. Von regelmäßiger Nachtarbeit ist zu sprechen, wenn die Nachtarbeit mit einer gewissen Gleichmäßigkeit, also in gleichen Abständen, wiederkehrt. Hiervon ist stets auszugehen, wenn Nachtarbeit im Rahmen eines Schichtplanes geleistet wird. Aber auch bei beständig auftretenden Wartungs- und Reparaturarbeiten ist mit einem wiederkehrenden Arbeitsanfall zu rechnen, so dass dann regelmäßige Nachtarbeit angenommen werden kann. Regelmäßig ist nicht dauernd. Daraus folgt, dass regelmäßig auch die Nachtarbeit sein kann, die für eine vorübergehende Periode geleistet wird. Unregelmäßige Nachtarbeit liegt dagegen 1 Eine solche Differenzierung enthalten bspw. der TVöD oder der EMTV für die M+E-Industrie NRW nicht.
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Zulagen-/Zuschlagsregelungen
Rz. 18
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vor, wenn sich der Arbeitnehmer nicht auf sie einstellen kann, weil er ihren Eintritt infolge der vom Arbeitgeber ungleichmäßig anberaumten Arbeitsleistung nicht voraussehen konnte1. Das Bundesarbeitsgericht hat am 11.1.2006 bestätigt, dass es einen gesetzlichen An- 14 spruch auf Lohnzuschlag für Sonn- und Feiertagsarbeit nicht gibt2. Für den Bereich der chemischen Industrie ist ein solcher Anspruch allerdings tarifvertraglich vorgesehen. So ist für Sonn- und Feiertagsarbeit ein Zuschlag von 60 % vorgesehen. Als eine solche Arbeit definiert der Manteltarifvertrag in § 3 III die Arbeit an Sonn- und Feiertagen von 6 Uhr bis 6 Uhr des folgenden Tages, wobei unter Beibehaltung der 24-stündigen Zeitspanne ein anderer Zeitraum festgelegt werden kann3. Arbeitnehmer, die aufgrund gesetzlicher Bestimmungen gegen Fortzahlung der Vergütung keine Arbeitsleistung erbringen müssten und dies dennoch machen, gehen infolge dessen ihres Entgeltfortzahlungsanspruchs verlustig. Um dies auszugleichen, sieht der TV für Arbeiten an Wochenfeiertagen, an denen aufgrund gesetzlicher Bestimmungen der Arbeitsausfall zu vergüten ist, einen auf 150 % erhöhten Zuschlag vor. Dieser ist unbeschadet der BAG-Entscheidung vom 17.3.20104 auch für Arbeiten an einem Osteroder Pfingstsonntag zu zahlen, da der tarifvertragliche Feiertagszuschlag anders als in dem vom BAG entschiedenen Fall nicht voraussetzt, dass es sich um einen „gesetzlichen“ Feiertag handelt. Wird der Arbeitnehmer lediglich stundenweise zur Sonn- und Feiertagsarbeit heran- 15 gezogen, steht ihm unabhängig vom Umfang der Arbeitsleistung ein auf drei Stunden bemessenes Stundenentgelt zzgl. des Zuschlags für mindestens drei Stunden zu. Diese Regelung soll unbillige Härten im Falle lediglich kurzfristiger Heranziehung zur Arbeit ausgleichen bzw. diese so gering wie möglich halten. Allerdings regelt der TV lediglich die stundenweise Heranziehung. Bzgl. kürzerer Arbeitseinsätze obliegt es der betrieblichen Regelung, wie diese billigerweise vergütet werden. Aus dem Zweck der Regelung über den stundenweisen Arbeitseinsatz folgt zugleich, 16 dass bei mehrfachen stundenweisen Arbeitseinsätzen der auf drei Arbeitsstunden bezogene Zuschlag außerhalb von Rufbereitschaften mehrmalig anfallen kann. Dies gilt jedenfalls, soweit ein zeitlich-sachlicher Zusammenhang zwischen den Arbeitseinsätzen nicht besteht. Ein solcher ist allerdings stets in Fällen der Rufbereitschaft anzunehmen, da es hier gerade zum Wesen der Rufbereitschaft zählt, dass der Arbeitnehmer mit seiner Heranziehung zur Arbeitsleistung zu rechnen hat. Für den Fall des Zusammentreffens mehrerer Zuschläge ist tarifvertraglich vorgese- 17 hen, dass jeweils nur der höhere Zuschlag zu zahlen ist (§ 4 II Ziff. 3 MTV Chemie). Lediglich der Nachtarbeitszuschlag ist stets zu zahlen. Damit folgt der TV den Vorgaben des § 6 Abs. 5 ArbZG. Schichtarbeit ist in der chemischen Industrie weit verbreitet. Die im TV vorgesehene 18 Schichtzulage wird nur im Rahmen eines Wechselschichtsystems gewährt. Diese Schichtsysteme sind dadurch geprägt, dass die zur Schichtarbeit eingeteilten Arbeit1 2 3 4
LAG Düsseldorf v. 14.7.1961 – 1 Sa 144/61, BB 1961, 1237. BAG v. 11.1.2006 – 5 AZR 97/05, NZA 2006, 372. Ebenso § 5 I Ziff. 4 EMTV für die M+E-Industrie NRW. BAG v. 17.3.2010 – 5 AZR 317/09, DB 2010, 1406.
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Teil 5 (25) Rz. 19
Katalog typischer Tarifnormen
nehmer an den anfallenden Schichten in einem wechselnden, sich aus Früh-, Spät- und Nachtschichten zusammensetzenden Rhythmus periodisch abwechseln1. Keine Schichtarbeit leisten Arbeitnehmer, die in 24-Stundendiensten neben Phasen der Arbeit in gleicher Länge Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsruhezeiten haben. Diese in Arbeitsbereitschaft eingesetzten Arbeitnehmer erbringen also keine durchgehende Arbeitsleistung und unterscheiden sich dadurch von Schichtarbeitnehmern, die in unterschiedlichen Zeiträumen an der gleichen Arbeitsstelle Arbeitsleistung erbringen. 19
Um einen Anspruch auf Schichtzulage zu haben, muss der Arbeitnehmer auf einem Arbeitsplatz eingesetzt sein, der voll- oder teilkontinuierlich eingerichtet ist (arbeitsplatzbezogene Kontinuität). Zudem muss der individuelle Arbeitseinsatz nach dem für den einzelnen Arbeitnehmer maßgebenden Schichtplan kontinuierlich und auch zu Nachtzeiten erfolgen (personenbezogene Kontinuität). An Letzterem fehlt es bspw., wenn in einem kontinuierlich angelegten Schichtbetrieb zwischenzeitlich Schichten am Sonntag mit zusätzlichen Besetzungen eingeschoben werden.
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Maßgeblicher Bemessungszeitraum für die Gewährung der Schichtzulage ist der Schichtenturnus, also der Zeitraum, der eine Regelmäßigkeit im Aufeinanderfolgen von Nachtschichten erkennen lässt. Wird der Schichtrhythmus durch eine zwischenzeitlich einschichtige Beschäftigung unterbrochen, besteht für den Zeitraum der Tätigkeit im Ein-Schicht-Betrieb kein Anspruch auf eine Schichtzulage.
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Ist der Arbeitnehmer nur zeitweise an einem kontinuierlich eingerichteten Arbeitsplatz eingesetzt, fällt die Zulage bezogen auf den konkreten Arbeitseinsatz an; für die Berechnung der Schichtzulage ist also die konkrete Arbeitsstunde und das dafür zu gewährende Tarifstundenentgelt maßgeblich (§ 4 III Ziff. 2 Abs. 2 MTV Chemie). Gleiches gilt für den Fall, dass die Schichtarbeit im Durchschnitt eines Schichtenturnus die regelmäßige tarifliche wöchentliche Arbeitszeit überschreitet (§ 4 III Ziff. 2 Abs. 3 MTV Chemie).
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Wird ein Arbeitnehmer vertretungsweise auf einem kontinuierlich besetzten Arbeitsplatz eingesetzt, erhält er ebenfalls die Schichtzulage, und zwar für die Dauer des Einsatzes (§ 4 III Ziff. 3 Abs. 3 MTV Chemie). Allerdings muss der Einsatz für die Dauer eines normalen Wechsels zwischen Tag- und Nachtschichten erfolgen, der im Normalfall eines Drei-Schicht-Betriebes mit Früh-, Spät- und Nachtschichten drei Wochen beträgt. 2. § 3 Bundesentgelttarifvertrag Chemie: Allg. Bestimmungen sowie § 4 IV MTV Chemie (Pauschalierung von Zuschlägen und Zulagen) (Rz. 9, 8)
23
Nach § 3 Ziff. 8 BETV können Zuschläge, Zulagen und sonstige variable Entgeltbestandteile wie Erschwerniszulagen oder Leistungsvergütungen – jede für sich oder 1 S. insoweit auch § 7 TVöD: „(1) Wechselschichtarbeit ist die Arbeit nach einem Schichtplan, der einen regelmäßigen Wechsel der täglichen Arbeitszeit in Wechselschichten vorsieht, bei denen Beschäftigte durchschnittlich längstens nach Ablauf eines Monats erneut zur Nachtschicht herangezogen werden. Wechselschichten sind wechselnde Arbeitsschichten, in denen ununterbrochen bei Tag und Nacht, werktags, sonntags und feiertags gearbeitet wird. … (2) Schichtarbeit ist die Arbeit nach einem Schichtplan, der einen regelmäßigen Wechsel des Beginns der täglichen Arbeitszeit um mindestens zwei Stunden in Zeitabschnitten von längstens einem Monat vorsieht, und die innerhalb einer Zeitspanne von mindestens 13 Stunden geleistet wird. …“
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Zulagen-/Zuschlagsregelungen
Rz. 25
Teil 5 (25)
insgesamt – pauschaliert werden1. Dies wird auch durch den MTV Chemie (dort: § 4 IV) bestätigt. Die Pauschalierung muss erkennen lassen, welche Zulagen und Zuschläge im Einzelnen abgegolten sein sollen. Es ist damit nach Zuschlägen für Sonn-, Feiertags- und Nachtarbeit sowie Schichtzulagen zu trennen. Dies gilt umso mehr, als es um steuerfrei zu stellende Zuschläge geht2. Zudem muss die Pauschalierung den durchschnittlich im Zeitraum des Jahres tatsächlich anfallenden Einzelleistungen entsprechen. Die Pauschalierung macht damit eine Ermittlung von Einzelleistungen nicht entbehrlich. Die hiermit verbundenen Zulagen und Zuschläge sind jeweils vor der Erstellung der Lohnsteuerbescheinigung zu verrechnen, spätestens somit zum Ende des Kalenderjahres bzw. zusätzlich beim Ausscheiden des Arbeitnehmers aus dem Dienstverhältnis. 3. § 3 Bundesentgelttarifvertrag Chemie: Allg. Bestimmungen (Ausübung höherwertiger Tätigkeit) (Rz. 9) Eingruppierungen3 wirken starr und tragen nicht dem Umstand Rechnung, dass der Ar- 24 beitnehmer vorübergehend auch andere Tätigkeiten ausübt, die nicht von dem der Eingruppierung folgenden Entgelt abgedeckt sind. Für diesen Fall sieht § 3 Ziff. 5 BETV eine Vertretungszulage vor4. Dort wird unterschieden zwischen Tätigkeiten von Arbeitnehmern der Entgeltgruppen E 1 bis E 6 sowie der Entgeltgruppen E 7 bis E 12. Im ersten Fall wird mindestens eine volle Schichtvertretung verlangt, im zweiten Fall eine zusammenhängende Tätigkeit von länger als vier Wochen. Auch im Hinblick auf die Rechtsfolge unterscheiden sich die Vertretungsregelungen: Während Arbeitnehmer der Entgeltgruppen E 1 bis E 6 für die Zeit der Vertretung das Tarifentgelt der höheren Entgeltgruppe erhalten, haben Arbeitnehmer der Entgeltgruppen E 7 bis E 12 einen tariflichen Anspruch auf den Differenzbetrag zwischen ihrem Tarifentgelt und dem Tarifentgelt der höheren Entgeltgruppe. Dies kann Auswirkungen auf etwaige Folgebezüge haben. 4. § 5 Bundesentgelttarifvertrag Chemie: Vorarbeiter (Rz. 10) Der Stellung als Vorarbeiter kann in TVen in zweifacher Weise Rechnung getragen 25 werden: Entweder bildet die Stellung als Vorarbeiter ein Eingruppierungsmerkmal oder sie wird mittels einer Vorarbeiterzulage besonders vergütet. Die TV-Parteien der chemischen Industrie haben in § 5 BETV vom letzteren Regelungsmodell Gebrauch gemacht. Vorarbeiter und Arbeitnehmer in gleicher Funktion werden dort als Arbeit1 Eine Pauschalierungsklausel, nach der „einzelvertragliche neben dem Tarifentgelt zustehende Entgeltbestandteile (z.B. Zeitzuschläge, Erschwerniszuschläge) pauschaliert werden können“, enthält auch § 24 Abs. 6 TVöD. 2 Dazu BFH v. 27.8.2002 – VI R 64/96, DB 2002, 2519. 3 Grundsätzlich zur Bedeutung und Technik der Eingruppierung s. Kleinebrink, BB 2013, 2357. 4 Der Fall der Ausübung einer höherwertigen Tätigkeit ist auch Gegenstand des § 14 TVöD: Wird dem Beschäftigten vorübergehend eine andere Tätigkeit übertragen, die den Tätigkeitsmerkmalen einer höheren Entgeltgruppe entspricht, erhält er danach für die Dauer der Ausübung der Tätigkeit eine persönliche Zulage, deren Höhe sich entweder aus dem Unterschiedsbetrag zu dem Tabellenentgelt ergibt, das sich für den Beschäftigten bei dauerhafter Übertragung ergeben hätte, oder dessen Höhe 4,5 % des individuellen Tabellenentgelts des Beschäftigten beträgt.
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Teil 5 (25) Rz. 26
Katalog typischer Tarifnormen
nehmer definiert, denen unmittelbar unter der Meisterebene die Aufsicht über eine Arbeitsgruppe übertragen worden ist und die in ihrer Funktion vom Arbeitgeber schriftlich bestellt bzw. bestätigt worden sind. 26
Die Vorarbeiterzulage ist eine an die Funktion als Vorarbeiter gebundene Zulage. Sie setzt eine schriftliche Bestellung zum Vorarbeiter oder zumindest eine entsprechende Bestätigung einer Bestellung voraus1. Für eine funktionsgebundene Zulage wie die Vorarbeiterzulage ist es genügend, dass sich der Arbeitnehmer kraft Bestellung in der Vorarbeiterfunktion befindet. Es ist also nicht erforderlich, dass der Arbeitnehmer diese Funktion auch tatsächlich ausübt. Somit ist die Vorarbeiterzulage auch für Zeiten auszuzahlen, in denen die Funktion nicht wahrgenommen wird.
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Die Bestellung zum Vorarbeiter stellt keine im Sinne des § 99 BetrVG mitbestimmungspflichtige Maßnahme dar, da sie nicht mit einer Umgruppierung des Arbeitnehmers verbunden ist. Auch kann nicht von einer Versetzung gesprochen werden, da sich in aller Regel das Tätigkeitsbild als solches mit dem Bestellungsakt nicht wesentlich ändert.
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Die Vorarbeiterzulage beträgt in der chemischen Industrie 10 % des Tarifentgelts der Entgeltgruppe, in die der Arbeitnehmer entsprechend seiner Tätigkeit eingruppiert ist. Auf die Zulage können – soweit vorhanden – einschlägige betriebliche Zulagen angerechnet werden. 5. § 6 Bundesentgelttarifvertrag Chemie: Erschwerniszulagen (Rz. 11)
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Erschwerniszulagen gehören zum Standard in TVen. So sieht § 19 TVöD Erschwerniszuschläge für Arbeiten vor, die außergewöhnliche Erschwernisse beinhalten, soweit diese nicht mit dem der Eingruppierung zugrunde liegenden Berufs- oder Tätigkeitsbild verbunden sind, wie es bspw. bei einem Feuerwehrmann der Fall ist, der sich typischerweise besonderen Gefahren zu stellen hat.
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Für die chemische Industrie regelt § 6 BETV den Ausgleich für besondere Erschwernisse mittels einer entsprechenden Zulage. Besondere Erschwernisse können die Erschwernis durch Schmutzarbeiten und andere lästige Arbeiten bilden, die Erschwernis durch regelmäßige Verwendung lästiger persönlicher Ausrüstungen oder die durch besondere Gefahren. Erschwernis bedeutet mehr als eine bloße Lästigkeit. Sie muss aus dem betrieblichen Bereich und damit aus der vom Arbeitgeber beeinflussbaren Sphäre stammen. Nicht erfasst werden demzufolge externe, insbesondere temporäre Belästigungen wie die Arbeit bei sommerlicher Hitze.
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Die Erschwerniszulage ist unmittelbar mit der Ausübung der Tätigkeit verbunden. Der Arbeitnehmer muss einer Erschwernis also tatsächlich ausgesetzt sein.
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Die TV-Parteien haben die nähere Ausgestaltung der Erschwerniszulage der betrieblichen Regelung überlassen. Den Betriebsparteien obliegt es damit, einen Katalog erschwerniszulagenpflichtiger Arbeiten zu erstellen, die Zuordnung der einzelnen zuschlagspflichtigen Arbeiten zu bestimmten Lästigkeits- bzw. Erschwernisgruppen vorzunehmen und die Festlegung des Verhältnisses der Gruppen untereinander zu be1 BAG v. 15.2.1989 – 4 AZR 488/88, n.v.
556 Natzel
Zulagen-/Zuschlagsregelungen
Rz. 33
Teil 5 (25)
stimmen1. Selbiges ist mitbestimmungspflichtig nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG. Allerdings besteht kein Mitbestimmungsrecht hinsichtlich der Höhe der Erschwerniszulage über die tariflichen Mindestbedingungen hinaus, und zwar unabhängig davon, ob die Höhe der Erschwerniszulage in absoluten Beträgen ausgewiesen oder in bestimmter Weise an eine vorgegebene Größe, etwa den Tariflohn, angebunden ist2. Eine besonders ausgestaltete Erschwerniszulage ist in den in § 6 MTV Chemie geregelten Wasch- und Umkleidezeiten zu sehen (abgedruckt unter Stichwort R 5 (5) „Arbeitszeit“ Rz. 11a). Diese Zeiten stellen also keine vergütungspflichtige Arbeitszeit dar und können dieser auch nicht zugerechnet werden.3 Als besonders gestaltete Erschwerniszulage können diese Zeiten in Zeit oder Geld ausgeglichen werden. Werden sie in Zeit ausgeglichen, kann dies innerhalb wie außerhalb der Arbeitszeit geschehen.
1 BAG v. 22.12.1981 – 1 ABR 38/79, DB 1982, 1274. 2 BAG v. 22.12.1981 – 1 ABR 38/79, DB 1982, 1274. 3 BAG v. 25.4.1962 – 4 AZR 213/61, BB 1962, 715; v. 11.10.2000 – 5 AZR 122/99, NZA 2001, 458.
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33
Teil 6 Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft Rz.
Rz. A. Grundsätze der Tarifgebundenheit von Arbeitgeber und Arbeitnehmer I. Begriff und Grundlagen der normativen Tarifgebundenheit . . . . . . . . II. Legitimation der Tarifgebundenheit 1. Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Tarifgebundenheit kraft hoheitlichen Aktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Tarifgebundenheit kraft Rechtsscheins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
5
4. Sonderfall: Blitzaustritt, Blitzaufhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ausschluss eines Mitglieds . . . . . . . . 6. Weitere Beendigungsgründe . . . . . . . .
48 53 60
C. Nachbindung an Tarifverträge gemäß § 3 Abs. 3 TVG . . . . . . . . . . . .
61
I. Zweck, Legitimation und Verfassungsmäßigkeit. . . . . . . . . . . . . . . .
62
B. Beginn und Ende der Mitgliedschaft .
13
Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Mitgliedschaft im Verband . . . . . . . . . Beendigung der Mitgliedschaft. . . . . . Sonstige Voraussetzungen der Tarifgebundenheit . . . . . . . . . . . . . . . .
I. Erwerb der Mitgliedschaft . . . . . . . . . 1. Verbandsbeitritt durch Aufnahmevertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aufnahmeanspruch gegen den Verband. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mängel des Verbandsbeitritts . . . . . . . 4. Umwandlung des Verbandes . . . . . . .
14
III. Rechtsfolge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76
IV. Ende der Nachbindung . . . . . . . . . . . .
82
II. 1. 2. 3.
33 34 43 44
Beendigung der Mitgliedschaft . . . . . Verbandsaustritt . . . . . . . . . . . . . . . . . Außerordentliche Kündigung. . . . . . . Aufhebungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . .
10 11
15 24 29 32
II. 1. 2. 3.
67 68 69 73
D. Betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Normen gemäß § 3 Abs. 2 TVG I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
90
II. Normative Wirkung . . . . . . . . . . . . . .
95
III. Verfassungsmäßigkeit und verfassungskonforme Auslegung . . . . . . 101
Literatur: Arnold, Betriebliche Tarifnormen und Außenseiter, 2007; Bauer, Flucht aus Tarifverträgen: Königs- oder Irrweg?, in: Festschrift Schaub, 1998, S. 19; Bauer, Informationsobliegenheiten bei „Blitzaustritt“ und „Blitzwechsel“, in: Festschrift Picker, 2010, S. 889; Bauer/Diller, Flucht aus Tarifverträgen – Konsequenzen und Probleme, DB 1993, 1085; Bauer/Haußmann, Blitzaustritt und Blitzwechsel: Wirksam, aber ohne Wirkung?, RdA 2009, 99; Bauer/Haußmann, Tarifwechsel durch Verbandswechsel, DB 1999, 1114; Bauer/Rolf, „Blitzaustritt“ aus dem Arbeitgeberverband, DB 2003, 1519; Bieback, Tarifrechtliche Probleme des Verbandswechsels von Arbeitgebern, DB 1989, 477; Bogs, Autonomie und verbandliche Selbstverwaltung im modernen Arbeits- und Sozialrecht, RdA 1956, 1; Büdenbender, Tarifbindung trotz Austritts aus dem Arbeitgeberverband – eine notwendige oder korrekturbedürftige Regelung?, NZA 2000, 509; Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971; Canaris, Handelsrecht, 24. Aufl. 2006; Creutzfeld, Nachdenken über die Nachwirkung von allgemeinverbindlichen Tarifverträgen, in: Festschrift Bepler, 2012, S. 45; Däubler, Tarifausstieg – Erscheinungsformen und Rechtsfolgen, NZA 1996, 225; Däubler/ Mayer-Maly, Negative Koalitionsfreiheit?, 1971; Dieterich, Die betrieblichen Normen nach dem Tarifvertragsgesetz vom 9.4.1949, 1964; Dieterich, Die Grundrechtsbindung von Tarifverträgen, in: Festschrift Schaub, 1998, S. 117; Dieterich, Zur Verfassungsmäßigkeit tariflicher Rechtsnormen, in: Festschrift Däubler, 1999, S. 451; Dieterich/Hanau/Henssler/Oetker/Wank/Wiedemann, Empfehlungen zur Entwicklung des Tarifvertragsrechts, RdA 2004, 65; Fleischer, Zur Auslegung von Gesellschaftsverträgen und Satzungen, DB 2013, 1466; Franzen, Das Ende der Tarifeinheit und die Folgen, RdA 2008, 193; Franzen, Gesetzesbindung im Tarifvertragsrecht, in: Festschrift Picker, 2010, S. 929; Galperin, Vereinsautonomie und Kontrahierungszwang im Koalitionsrecht, DB 1969, 704; Gaumann, Gewerkschaftsausschluss wegen Betriebsratskandidatur
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Teil 6
Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft
auf konkurrierender Liste, NJW 2002, 2155; Giesen, Tarifvertragliche Erweiterung von Betriebsratsrechten beim Leiharbeitseinsatz, ZfA 2012, 143; Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, 2002; Grunewald, Der Ausschluß aus Gesellschaft und Verein, 1987; H. Hanau, Zur Verfassungsmäßigkeit von tarifvertraglichen Betriebsnormen am Beispiel der qualitativen Besetzungsregeln, RdA 1996, 158; P. Hanau, Der Kampf um die Verknüpfung von Tarifgeltung und Verbandsmitgliedschaft, NZA 2012, 825; P. Hanau, Der Tarifvertrag in der Krise, RdA 1998, 65; P. 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AP TVG § 3 Nr. 36; Höpfner, Blitzaustritt und Blitzwechsel in die OTMitgliedschaft, ZfA 2009, 541; Höpfner, Die unbegrenzte Nachbindung an Tarifverträge, NJW 2010, 2173; Höpfner, Normativer und schuldrechtlicher Konzerntarifvertrag – Gestaltungsformen einer konzerneinheitlichen Tarifbindung, in: Rieble/Junker/Giesen (Hrsg.), Arbeitsrecht im Konzern, 2010, S. 113; Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht II, 2. Aufl. 1954; Hueck, Normen des Tarifvertrags über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen, BB 1949, 53; Immenga/ Mestmäcker (Hrsg.), Wettbewerbsrecht, Band 2: GWB, 4. Aufl. 2007; Ingelfinger, Arbeitsplatzgestaltung durch Betriebsnormen, 1996; Jacobi, Betrieb und Unternehmen als Rechtsbegriffe, in: Festschrift Ehrenberg, 1926, S. 1; Jacobs, Anm. AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 26; Jacobs/Krois, Anm. 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Grundstze der Tarifgebundenheit von Arbeitgeber und Arbeitnehmer
Rz. 2 Teil 6
Verhandlungen des 61. DJT, 1. Band, S. B1; Richardi, Von der Tarifautonomie zur tariflichen Ersatzgesetzgebung, in: Festschrift Konzen, 2006, S. 791; Rieble, Anm. AP BGB § 613a Nr. 431; Rieble, „Blitzaustritt“ und tarifliche Vorbindung, RdA 2009, 280; Rieble, Der Tarifvertrag als kollektiv-privatautonomer Vertrag, ZfA 2000, 5; Rieble, Konzerntarifvertrag (Teil I), Der Konzern 2005, 475; Säcker/Oetker, Tarifliche Kurzarbeits-Ankündigungsfristen im Gefüge des Individualarbeitsrechts und des kollektiven Arbeitsrechts, ZfA 1991, 131; Säcker/Rancke, Verbandsgewalt, Vereinsautonomie und richterliche Inhaltskontrolle, AuR 1981, 1; Sauter/Schweyer/Waldner, Der eingetragene Verein, 19. Aufl. 2010; Schäfer, Die Lehre vom fehlerhaften Verband, 2002; Schleusener, Der Begriff der betrieblichen Norm im Lichte der negativen Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) und des Demokratieprinzips (Art. 20 GG), ZTR 1998, 100; Schmidt-Eriksen, Tarifvertragliche Betriebsnormen, 1992; Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002; Karsten Schmidt, Handelsrecht, 6. Aufl. 2014; Kristina Schmidt, Die normative Tarifbindung am Beispiel des allgemeinen koalitionsrechtlichen Unterlassungsanspruchs, RdA 2004, 152; Schwarze, Der Betriebsrat im Dienst der Tarifvertragsparteien, 1991; Schweibert, Die Verkürzung der Wochenarbeitszeit durch Tarifvertrag, 1994; Stöber/Otto, Handbuch zum Vereinsrecht, 10. Aufl. 2012; Walker, Zur Zulässigkeit von Betriebsbußen, in: Festschrift Kissel, 1994, S. 1205; Waltermann, Zu den Grundlagen der Rechtsetzung durch Tarifvertrag, in: Festschrift Söllner, 2000, S. 1251; Waltermann, Zu den Grundlagen der Tarifautonomie, ZfA 2000, 53; Wank, Kündigung und Wegfall der Geschäftsgrundlage bei Tarifverträgen, in: Festschrift Schaub, 1998, S. 761; Wiedemann, Anm. AP TVG § 3 Betriebsnorm Nr. 5; Wiedemann, Blitzaustritt und Tarifflucht, in: Festschrift Reuter, 2010, S. 889; Wiedemann, Der nicht organisierte Arbeitnehmer im kollektiven Arbeitsrecht, RdA 2007, 65; Willemsen/Mehrens, Ablösung tariflicher Bestimmungen nach einem Verbandsaustritt – Kein Ende in Sicht!, NZA 2010, 307; Willemsen/Mehrens, Die Rechtsprechung des BAG zum „Blitzaustritt“ und ihre Auswirkungen auf die Praxis, NZA 2009, 1916; Zöllner, Das Wesen der Tarifnormen, RdA 1964, 443; Zöllner, Tarifmacht und Außenseiter, RdA 1962, 453.
A. Grundsätze der Tarifgebundenheit von Arbeitgeber und Arbeitnehmer I. Begriff und Grundlagen der normativen Tarifgebundenheit Unter normativer Tarifgebundenheit1 versteht man die Bindung der Arbeitsvertrags- 1 parteien an die nach § 4 Abs. 1 TVG unmittelbar und zwingend geltenden Rechtsnormen eines TVs. § 3 Abs. 1 TVG bestimmt den Personenkreis, für den die TV-Parteien mit gesetzesgleicher Wirkung Tarifnormen setzen dürfen2: Tarifgebunden sind die Mitglieder der TV-Parteien und der Arbeitgeber, der selbst Partei des TVs ist. Die normative Tarifgebundenheit der Arbeitsvertragsparteien schränkt deren Recht ein, Abschluss, Inhalt und Form des Arbeitsvertrags frei zu vereinbaren (§ 105 Satz 1 GewO)3. Darin unterscheidet sich die normative Tarifgebundenheit von der nur schuldrechtlichen Tarifbindung kraft arbeitsvertraglicher Inbezugnahme eines TVs. Während erstere die individuelle Vertragsfreiheit der Arbeitsvertragsparteien einschränkt, ist letztere gerade Ausfluss ihrer Privatautonomie. Die Tarifgebundenheit bezieht sich allein auf den normativen Teil des TVs, d.h. auf 2 die Rechtsnormen i.S.d. § 1 Abs. 1 TVG, die den Inhalt, den Abschluss und die Been-
1 Zum Begriff der Tarifgebundenheit vgl. Herschel, ZfA 1973, 183 (190) sowie die Begründung des Gewerkschaftsrates der Vereinten Zonen zum Entwurf des TVG, in: ZfA 1973, 129 (147). 2 Vgl. Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 7; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 1. 3 Staudinger/Richardi/Fischinger, Vorb. zu §§ 611 ff. BGB Rz. 686.
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Teil 6 Rz. 3
Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft
digung von Arbeitsverhältnissen sowie betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen ordnen. Der schuldrechtliche Teil gilt aufgrund des Grundsatzes der Relativität der Schuldverhältnisse allein zwischen den TV-Parteien (§§ 145 ff. BGB). Bei drittschützenden Vereinbarungen, insb. der Friedenspflicht, kommt eine Erweiterung der vertraglichen Bindung nach den Grundsätzen des Vertrags zugunsten Dritter (§ 328 BGB) in Betracht1. 3 Die Tarifgebundenheit ist eine subjektive, d.h. an die Parteien des Arbeitsvertrags gebundene, Voraussetzung für die Wirkung eines TVs im Arbeitsverhältnis2. Sie beschränkt die tarifvertragliche Regelungsbefugnis der TV-Parteien auf den in § 3 Abs. 1 TVG genannten Personenkreis3. Die Tarifgebundenheit ist nicht zu verwechseln mit dem Geltungsbereich eines TVs. Dieser legt fest, auf welche konkreten Arbeitsverhältnisse ein bestimmter TV Anwendung findet4. Der persönliche Geltungsbereich stellt hierfür entweder auf persönliche Eigenschaften des einzelnen Arbeitnehmers (Lebensalter, Dauer der Betriebszugehörigkeit etc.) ab oder beschränkt den Anwendungsbereich des TVs von vornherein auf bestimmte Arbeitgeber (etwa beim firmenbezogenen VerbandsTV)5. Die TV-Parteien können den Geltungsbereich eines TVs innerhalb ihrer sich deckenden Tarifzuständigkeit grundsätzlich frei bestimmen6. Demgegenüber regelt § 3 Abs. 1 TVG den Umfang der Tarifgebundenheit abschließend und zwingend7. Die Tarifgebundenheit ist der Satzungshoheit der Verbände entzogen. Sie gründet im freien Entschluss des einzelnen Arbeitgebers oder Arbeitnehmers, einem Verband beizutreten, und ist insofern Ausfluss der individuellen Koalitionsfreiheit8. Die TV-Parteien können die Tarifgebundenheit nicht über den Kreis ihrer Mitglieder hinaus ausdehnen9. Umgekehrt können sie auch nicht die Tarifgebundenheit an einen bestimmten TV einschränken. Sie können aber die Rechtswirkungen des TVs durch Einschränkung des Geltungsbereiches auf bestimmte Mitglieder(gruppen) begrenzen10. Unzulässig ist es aber, die Tarifzuständigkeit des Verbandes mitgliedschaftsbezogen an das Merkmal der Tarifgebundenheit zu koppeln, da sonst die zwingende Nachbindung des aus dem Verband ausgetretenen Arbeitgebers gemäß § 3 Abs. 3 TVG sowie die Allgemeinverbindlicherklärung von TVen gemäß § 5 Abs. 4 TVG ohne weiteres unterlaufen werden könnten11. Zulässig ist es dagegen, den Geltungsbereich des TVs auf die (Voll-)Mitglieder des Verbandes zu beschränken12. Hierin liegt keine unzulässige Umgehung der Nachbindung, da der Geltungsbereich des TVs – anders als die Tarifzuständigkeit des Verbandes – nur im Einvernehmen mit dem Sozialpartner
1 Vgl. nur Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 12. 2 Oetker, in: Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 6 Rz. 8. 3 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 8; Staudinger/Richardi/Fischinger, Vorb. zu §§ 611 ff. BGB Rz. 687. 4 HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 15. 5 Vgl. HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 21; zu den terminologischen Unterschieden vgl. Jacobs, in: Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 5 Rz. 14 ff.; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 100 f. 6 Vgl. zu den Grenzen Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 110. 7 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 9. 8 BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 (1228). 9 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 22; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 2. 10 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 24; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 15. 11 Vgl. BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 (1229); Höpfner, ZfA 2009, 541 (546). 12 Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 230 ff.; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 22; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 16.
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Grundstze der Tarifgebundenheit von Arbeitgeber und Arbeitnehmer
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festgelegt werden kann und die TV-Parteien ohnehin jederzeit die Nachbindung durch Aufhebung und Neuabschluss des TVs beenden könnten. Angesichts der weitreichenden Wirkungen einer derartigen Beschränkung (Ausschluss der Nachbindung, keine Wirkung allgemeinverbindlich erklärter oder erstreckter TVe außerhalb des Geltungsbereichs, keine Privilegierung im Rahmen der AGB-Kontrolle bei Inbezugnahme) sind hierfür jedoch deutliche Anhaltspunkte im TV für einen entsprechenden Regelungswillen der TV-Parteien erforderlich.1 Prozessual wird die Tarifgebundenheit von den Arbeitsgerichten inzident im jewei- 4 ligen Rechtsstreit geprüft2. Ein eigenständiges Beschlussverfahren kommt nicht in Betracht, da die Tarifgebundenheit keine Eigenschaft des Verbandes, sondern des einzelnen Arbeitgebers oder Arbeitnehmers ist. Auch eine Feststellungsklage nach § 256 ZPO scheidet aus, weil die Tarifgebundenheit kein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis darstellt3. Zulässig ist aber eine Klage auf Feststellung der Anwendbarkeit eines TVs im konkreten Arbeitsverhältnis4. Ein Feststellungsinteresse besteht dann, wenn hiervon die Entscheidung über mehrere Forderungen aus dem Arbeitsverhältnis abhängt5. Demgegenüber sind Streitigkeiten zwischen Verband und Mitglied über das Bestehen der vereinsrechtlichen Mitgliedschaft vor den ordentlichen Gerichten ohne Beteiligung des jeweiligen Arbeits- und Tarifvertragspartners auszutragen6.
II. Legitimation der Tarifgebundenheit 1. Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft Die Legitimation der Tarifautonomie und insb. der Normsetzungsbefugnis der TVParteien ist Gegenstand einer seit den Anfängen des Tarifrechts bis heute geführten lebhaften Diskussion7. Sie kann an dieser Stelle nicht fortgeführt werden. Festzustellen ist jedenfalls, dass die Rechtsetzungskompetenz der TV-Parteien nach dem Regelungsmodell des § 3 Abs. 1 TVG grundsätzlich auf deren Mitglieder beschränkt ist. Damit folgt das TVG sowohl für die Normsetzungsbefugnis der TV-Parteien8 als auch für die Tarifgebundenheit der Arbeitsvertragsparteien im Grundsatz dem Legitimati-
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8
BAG v. 21.1.2015 – 4 AZR 797/13, NZA 2015, 1521 Rz. 66. BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 (1228). BAG v. 24.4.2007 – 1 ABR 27/06, NZA 2007, 1011 (1012); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 345. BAG v. 26.7.2001 – 7 AZR 759/00, AP ZPO 1977 § 256 Nr. 63; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 346. BAG v. 28.5.1997 – 4 AZR 663/95, NZA 1997, 1066 (1067); BAG v. 27.11.2002 – 4 AZR 661/01, AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 28; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 46. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 336 ff. (auch zur Bindungswirkung der Entscheidung für anschließende arbeitsgerichtliche Verfahren). Vgl. aus jüngerer Zeit nur Bayreuther, Tarifautonomie, passim; Dieterich, FS Schaub, S. 117; Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit, S. 101 ff.; Höpfner, Tarifgeltung, S. 308 ff.; Picker, GS Knobbe-Keuk, S. 879; Picker, ZfA 1998, 573; Richardi, FS Konzen, S. 791; Richardi, ZfA 2003, 655; Rieble, ZfA 2000, 5; Waltermann, FS Söllner, S. 1251; Waltermann, ZfA 2000, 53. Die unmittelbare und zwingende Wirkung der Tarifnormen setzt darüber hinaus einen staatlichen Anerkennungsakt voraus, der in §§ 1 Abs. 1, 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG zu erblicken ist, vgl. Bayreuther, Tarifautonomie, S. 232; Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 32; Waltermann, ZfA 2000, 53 (82); a.A. Rieble, ZfA 2000, 5 (12 ff., 16 ff.).
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Teil 6 Rz. 6
Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft
onsmodell kraft Mitgliedschaft im Verband1. Die normative Wirkung des TVs in einem Arbeitsverhältnis setzt danach die durch Mitgliedschaft in den TV-schließendenden Verbänden vermittelte beiderseitige Tarifgebundenheit der Arbeitsvertragsparteien voraus. Die Verbandsmitgliedschaft nur einer Arbeitsvertragspartei begründet auch dann keine Tarifgebundenheit, wenn der TV Pflichten ausschließlich für diese Partei festlegt2. 6 Tarifgebunden sind die Parteien des Arbeitsvertrags, die Mitglied im tarifschließenden Verband sind. Auf Arbeitgeberseite ist dies die juristische Person oder die Personengesellschaft als Trägerin des Unternehmens bzw. bei einzelkaufmännischen Unternehmen der Kaufmann3. Denn nur der Unternehmensträger kann Arbeitgeber sein4. Das Unternehmen ist eine bloße organisatorische Einheit und als solche nicht rechtsfähig5. Es kann daher nicht die Mitgliedschaft in einem Verband erwerben6. Gleiches gilt für den Betrieb7. Auch der Konzern ist als wirtschaftliche Einheit rechtlich selbständiger Unternehmen nicht rechtsfähig. Die Mitgliedschaft der Konzernobergesellschaft im Arbeitgeberverband begründet keine Tarifgebundenheit der übrigen Konzerngesellschaften. Einen „tarifrechtlichen Durchgriff“ im Konzern gibt es nicht8. 7 Arbeitgeber in der Rechtsform einer Personengesellschaft sind nur dann tarifgebunden, wenn die Gesellschaft selbst Mitglied im Verband ist9. Die Mitgliedschaft der Gesellschafter ist nicht notwendig, aber auch nicht ausreichend, um die fehlende Mitgliedschaft der Gesellschaft zu ersetzen10. Dies gilt selbst dann, wenn alle Gesellschafter oder alle Komplementäre der Kommanditgesellschaft Mitglied im Verband sind. Sofern allerdings sämtliche (persönlich haftenden) Gesellschafter zugleich dem Arbeitgeberverband beitreten, wird man die Beitrittserklärung regelmäßig als Beitritt der Gesellschaft auslegen können11. 8 Bisher noch ungeklärt ist, ob es eine sog. „betriebsbezogene Mitgliedschaft“ des Arbeitgebers im Verband geben kann12. Vereinsrechtlich ist dies nicht möglich. Dies folgt aus dem Doppelcharakter der Mitgliedschaft. Zwar könnte das schuldrechtliche Rechtsverhältnis zwischen Mitglied und Verband aufgrund der Vertragsfreiheit der Parteien 1 Vgl. BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, NJW 1977, 2255 (2258); BVerfG v. 14.6.1983 – 2 BvR 488/80, NJW 1984, 1225; BAG v. 14.10.1997 – 7 AZR 811/96, NZA 1998, 778 (779); BAG v. 25.2.1998 – 7 AZR 641/96, NZA 1998, 715 (716); BAG v. 11.3.1998 – 7 AZR 700/96, NZA 1998, 716 (718). 2 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 7. 3 Vgl. HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 7; Oetker, in: Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 6 Rz. 24 f. 4 Karsten Schmidt, Handelsrecht, § 4 IV 2 a. 5 Vgl. ErfK/Müller-Glöge, § 611 BGB Rz. 240; Karsten Schmidt, Handelsrecht, § 4 IV 1 a. 6 Insoweit unpräzise Oetker, in: Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 6 Rz. 23. 7 Grundlegend zu den Begriffen „Betrieb“ und „Unternehmen“ Jacobi, FS Ehrenberg, 1926, S. 1 (9 ff.; 16 ff.). 8 BAG v. 17.10.2007 – 4 AZR 1005/06, NZA 2008, 713 (715); Höpfner, in: Arbeitsrecht im Konzern, S. 113 (117 ff.) m.w.N. 9 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 (485); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 7; Oetker, in: Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 6 Rz. 25. 10 Oetker, in: Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 6 Rz. 25. 11 Großzügiger BAG v. 4.5.1994 – 4 AZR 418/93, NZA 1995, 638 (639); BAG v. 22.2.1957 – 1 AZR 426/56, AP TVG § 2 Nr. 2; Oetker, in: Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 6 Rz. 25; Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 19; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 35. 12 Dazu Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 61 ff.
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Grundstze der Tarifgebundenheit von Arbeitgeber und Arbeitnehmer
Rz. 10 Teil 6
grundsätzlich beschränkt werden. Jedoch stellt die Mitgliedschaft zugleich ein subjektives Recht dar (vgl. Teil 2 Rz. 23). Als solches ist sie notwendig mit dem jeweiligen Mitglied als Rechtssubjekt verknüpft und ebenso wenig wie dieses rechtlich „teilbar“. Nicht von vornherein ausgeschlossen ist dagegen eine tarifrechtliche Aufspaltung der Mitgliedschaft. Eine „betriebsbezogene Mitgliedschaft“ wäre nichts anderes als eine Kombination aus Vollmitgliedschaft hinsichtlich des einen und OT-Mitgliedschaft hinsichtlich des anderen Betriebs. Rechtsdogmatisch handelte es sich ebenso wie bei der OT-Mitgliedschaft um eine Form gewillkürter Tarifunwilligkeit des Verbandes. Die mitgliedschaftliche Legitimation des Verbandes erstreckte sich bei einem solchen tarifrechtlich gespaltenen Verbandsbeitritt von vornherein nur auf den der Vollmitgliedschaft zuzuordnenden Betrieb. Mitglied i.S.d. § 3 Abs. 1 TVG wäre der Arbeitgeber dann nur in Ansehung dieses Betriebs. Lässt man diese Form tarifrechtlich „gespaltener Mitgliedschaft“ zu, so ergeben sich wohl keine Probleme mit dem Gebot der Trennung der Befugnisse von Voll- und OT-Mitgliedern (vgl. Teil 2 Rz. 157 ff.). Als (auch) Vollmitglied hat der Arbeitgeber die vollen Teilhaberechte am Verband und uneingeschränktes Stimmrecht auch in tarif- und arbeitskampfpolitischen Angelegenheiten. Für die Tarifgebundenheit ist nicht die Mitgliedschaft im Zeitpunkt des Abschlusses 9 des TVs maßgebend. Die Tarifgebundenheit ist vielmehr „dynamisch“ angelegt, d.h. sie besteht (nur) in dem Zeitraum, in dem die Arbeitsvertragspartei bzw. auf Arbeitgeberseite der Rechtsnachfolger1 Mitglied der tarifschließenden Vereinigung ist2. VerbandsTVe begründen somit ein „Optionsrecht“ für die Nichtorganisierten: Sofern die andere Partei des Arbeitsvertrags bereits tarifgebunden ist, kann der Nichtorganisierte durch Eintritt in den tarifschließenden Verband die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis begründen3. Umgekehrt wird das „Optionsrecht“ der Verbandsmitglieder, die Tarifgebundenheit durch Austritt zu beenden, durch § 3 Abs. 3 TVG weitgehend eingeschränkt. 2. Tarifgebundenheit kraft hoheitlichen Aktes Die Lehre von der mitgliedschaftlichen Legitimation kann nicht alle Fälle der Tarif- 10 gebundenheit erklären4. So setzen etwa die Allgemeinverbindlicherklärung gemäß § 5 TVG, die Erstreckung von TVen im Anwendungsbereich des AEntG (§ 7 Abs. 1 AEntG) sowie die Anwendung tariflicher Mindeststundenentgelte für Leiharbeitnehmer (§ 3a Abs. 2 AÜG) zwingend einen staatlichen Mitwirkungsakt voraus5. Auch die Geltung von betriebs- und betriebsverfassungsrechtlichen Normen nach § 3 Abs. 2 TVG (vgl. Rz. 90 ff.) bei einseitiger Tarifgebundenheit nur des Arbeitgebers ist privatautonom nicht vollständig zu erklären, wenn man die Arbeitnehmer nicht nur reflexartig erfassen wollte (vgl. Rz. 97)6. Schließlich lässt sich jedenfalls eine zeitlich 1 Vgl. Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 21. 2 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 10. 3 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 10 f.; rechtspolitische Kritik an der Tarifbindung später eingetretener Verbandsmitglieder üben Hartmann/Lobinger, NZA 2010, 421 (426 f.). 4 Vgl. ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 1. 5 Vgl. BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, NJW 1977, 2255 (2257 f.); BVerfG v. 14.6.1983 – 2 BvR 488/80, NJW 1984, 1225 (1225 f.); Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 29; Creutzfeld, FS Bepler, S. 45 (46); Höpfner, Tarifgeltung, S. 27, 389 ff. 6 So Rieble, ZfA 2000, 5 (16); vgl. auch Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1514 ff.; Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 236 f.
Hçpfner 565
Teil 6 Rz. 11
Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft
unbegrenzte Nachbindung an TVe nach Verbandsaustritt gemäß § 3 Abs. 3 TVG, wie das BAG sie vertritt1, nicht allein mit der durch die frühere Beitrittserklärung vermittelten mitgliedschaftlichen Legitimation begründen2. In diesen Fällen ist neben der mitgliedschaftlichen Legitimation ein hoheitlicher Akt notwendig, der die Tarifgebundenheit der Arbeitsvertragsparteien rechtfertigt und der wiederum als Eingriff in die Privatautonomie und die Berufsfreiheit seinerseits verfassungsrechtlich einer Rechtfertigung bedarf. 3. Tarifgebundenheit kraft Rechtsscheins 11
Umstritten ist, ob eine Tarifgebundenheit kraft Rechtsscheins möglich ist. Dabei sind zwei Fälle zu unterscheiden: Erstens geht es um das Problem, ob der Abschluss eines TVs im Wege der Rechtsscheinhaftung möglich ist (vgl. Teil 3 Rz. 37)3. Zweitens ist zu fragen, ob der zurechenbare Rechtsschein einer Verbandsmitgliedschaft die Bindung an einen VerbandsTV begründen kann. Das BAG ist zunächst in einem obiter dictum davon ausgegangen, dass eine Geltung von Tarifnormen aus Gründen des Vertrauensschutzes dann in Betracht kommt, wenn der Arbeitgeber die tariflichen Bestimmungen schon angewandt hat4. In einer späteren Entscheidung hat es dagegen ausdrücklich offen gelassen, ob es eine Tarifgebundenheit kraft Rechtsscheins einer Mitgliedschaft geben kann5. Das Schrifttum geht überwiegend davon aus, dass der Rechtsschein einer Mitgliedschaft keine Tarifgebundenheit begründen kann6.
12
Richtigerweise wird man differenzieren müssen: Möglich ist zunächst eine „Verbandsmitgliedschaft kraft Rechtsscheins“, wenn der Beitrittsvertrag seitens des Verbandes von einem falsus procurator abschlossen wird, aber die Voraussetzungen einer Anscheins- oder Duldungsmacht vorliegen. In diesen Fällen ersetzt die Rechtsscheinvollmacht die fehlende Vertretungsmacht, so dass der Beitretende „echtes“ Verbandsmitglied wird und als solches gemäß § 3 Abs. 1 TVG tarifgebunden ist7. Davon zu unterscheiden ist der Fall, in dem ein Nicht- oder OT-Mitglied bei Abschluss eines Arbeitsvertrags den Anschein erweckt oder auf die Frage des Vertragspartners8 wahrheitswidrig behauptet, (Voll-)Mitglied eines Verbandes zu sein9. Dieser „Rechtsschein der Verbandsmitgliedschaft“ kann eine normative Tarifgebundenheit i.S.d. § 3 Abs. 1 TVG
1 BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53. 2 Vgl. Höpfner, NJW 2010, 2173 (2175); Henssler, FS Picker, S. 987 (1004); Lobinger, JZ 2013, 915 (917); a.A. Willemsen/Mehrens, NZA 2010, 307 (308). 3 Dafür BAG v. 13.12.1994 – 3 AZR 347/94, NZA 1996, 139 (142); BAG v. 29.6.2004 – 1 AZR 143/03, AP TVG § 1 Nr. 36; dagegen Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 188; MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 165 Rz. 23. 4 BAG v. 2.12.1992 – 4 AZR 277/92, NZA 1993, 655 (658). 5 BAG v. 24.2.1999 – 4 AZR 62/98, NZA 1999, 995 (996); ebenso schon die Vorinstanz LAG Hessen v. 6.10.1997 – 16 Sa 585/97, LAGE § 97 ArbGG 1979 Nr. 1. 6 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 5; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 287; Kristina Schmidt, RdA 2004, 152 (156); a.A. Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 12. 7 Vgl. dazu KG v. 26.2.2004 – 1 W 549/01, OLG-NL 2004, 101 (106); MünchKomm/Arnold, § 26 BGB Rz. 24; a.A. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 290 f. 8 Zum Fragerecht des Arbeitnehmers nach der Verbandszugehörigkeit des Arbeitgebers vgl. BAG v. 19.3.2003 – 4 AZR 331/02, NZA 2003, 1207 (1208); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 327 f. 9 Vgl. dazu Canaris, Vertrauenshaftung, S. 262 f.
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Beginn und Ende der Mitgliedschaft
Rz. 15 Teil 6
nicht begründen1. Dagegen kommt eine Rechtsscheinhaftung im Individualarbeitsverhältnis gegenüber dem Vertragspartner nach den allgemeinen Grundsätzen in Betracht, sofern und soweit der zurechenbare Rechtsschein für den Vertragsschluss mit dem gutgläubigen Dritten kausal ist2. Insoweit wird nicht der gute Glaube einer Arbeitsvertragspartei an die Tarifgebundenheit seines Vertragspartners geschützt3, sondern das Vertrauen auf die Richtigkeit der bei Vertragsschluss getätigten Aussagen. Darüber hinaus ist (jenseits der Rechtsscheinhaftung) eine Bezugnahme auf einen TV kraft betrieblicher Übung möglich, sofern die Voraussetzungen hierfür vorliegen (vgl. Teil 10 Rz. 103 ff.). Keinesfalls können dagegen Handlungen eines Arbeitgebers oder Arbeitnehmers gegenüber dem Verband, die dem Arbeitsvertragspartner nicht bekannt sind (z.B. Zahlung von Beiträgen, Rechtsberatung), eine Rechtsscheinhaftung im Arbeitsverhältnis begründen4.
B. Beginn und Ende der Mitgliedschaft Die normative Gebundenheit an VerbandsTV gemäß § 3 Abs. 1 TVG setzt die Mit- 13 gliedschaft in der jeweiligen tarifschließenden Vereinigung voraus. Der tarifrechtliche Mitgliedschaftsbegriff deckt sich jedoch nicht mit der vereinsrechtlichen Verbandszugehörigkeit. So kann ein Verband eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung vorsehen, die vereinsrechtlich eine echte Mitgliedschaft darstellt, aber gleichwohl keine Mitgliedschaft i.S.d. § 3 Abs. 1 TVG begründet (vgl. Teil 2 Rz. 148 ff.). Der tarifrechtliche Mitgliedschaftsbegriff ist insofern enger als der vereinsrechtliche. Umgekehrt gilt dies jedoch nicht. Jede tarifrechtliche Mitgliedschaft setzt zwingend die vereinsrechtliche Verbandszugehörigkeit voraus. Ohne Beitritt zum Verband fehlt die mitgliedschaftliche Legitimation zur Normsetzung durch VerbandsTVe.
I. Erwerb der Mitgliedschaft Die Verbandszugehörigkeit richtet sich allein nach dem allgemeinen Vereinsrecht 14 (vgl. Teil 2 Rz. 1). Sie entsteht durch Beteiligung an der Vereinsgründung (vgl. Teil 2 Rz. 9 ff.) oder durch Eintritt in einen bereits existierenden Verein5. 1. Verbandsbeitritt durch Aufnahmevertrag Der Erwerb der Mitgliedschaft im Wege des Eintritts setzt einen wirksamen Aufnahmevertrag zwischen dem Bewerber und dem Verein voraus6. Der Vertrag kommt re1 LAG Baden-Württemberg v. 24.10.2000 – 10 TaBV 2/99, AP TVG § 3 Verbandszugehörigkeit Nr. 18; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 20; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 287; unklar Canaris, Vertrauenshaftung, S. 262: „Scheintarifgebundenheit“. 2 Vgl. LAG Baden-Württemberg v. 24.10.2000 – 10 TaBV 2/99, AP TVG § 3 Verbandszugehörigkeit Nr. 18; Kristina Schmidt, RdA 2004, 152 (156); ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 5; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 294 ff. 3 Vgl. dazu Oetker, in: Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 6 Rz. 22. 4 A.A. wohl Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 138. 5 Vgl. Palandt/Ellenberger, § 38 BGB Rz. 4; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 38 Rz. 9; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 6. 6 BGH v. 29.6.1987 – II ZR 295/86, NJW 1987, 2503; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 38 Rz. 10.
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Beginn und Ende der Mitgliedschaft
Rz. 15 Teil 6
nicht begründen1. Dagegen kommt eine Rechtsscheinhaftung im Individualarbeitsverhältnis gegenüber dem Vertragspartner nach den allgemeinen Grundsätzen in Betracht, sofern und soweit der zurechenbare Rechtsschein für den Vertragsschluss mit dem gutgläubigen Dritten kausal ist2. Insoweit wird nicht der gute Glaube einer Arbeitsvertragspartei an die Tarifgebundenheit seines Vertragspartners geschützt3, sondern das Vertrauen auf die Richtigkeit der bei Vertragsschluss getätigten Aussagen. Darüber hinaus ist (jenseits der Rechtsscheinhaftung) eine Bezugnahme auf einen TV kraft betrieblicher Übung möglich, sofern die Voraussetzungen hierfür vorliegen (vgl. Teil 10 Rz. 103 ff.). Keinesfalls können dagegen Handlungen eines Arbeitgebers oder Arbeitnehmers gegenüber dem Verband, die dem Arbeitsvertragspartner nicht bekannt sind (z.B. Zahlung von Beiträgen, Rechtsberatung), eine Rechtsscheinhaftung im Arbeitsverhältnis begründen4.
B. Beginn und Ende der Mitgliedschaft Die normative Gebundenheit an VerbandsTV gemäß § 3 Abs. 1 TVG setzt die Mit- 13 gliedschaft in der jeweiligen tarifschließenden Vereinigung voraus. Der tarifrechtliche Mitgliedschaftsbegriff deckt sich jedoch nicht mit der vereinsrechtlichen Verbandszugehörigkeit. So kann ein Verband eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung vorsehen, die vereinsrechtlich eine echte Mitgliedschaft darstellt, aber gleichwohl keine Mitgliedschaft i.S.d. § 3 Abs. 1 TVG begründet (vgl. Teil 2 Rz. 148 ff.). Der tarifrechtliche Mitgliedschaftsbegriff ist insofern enger als der vereinsrechtliche. Umgekehrt gilt dies jedoch nicht. Jede tarifrechtliche Mitgliedschaft setzt zwingend die vereinsrechtliche Verbandszugehörigkeit voraus. Ohne Beitritt zum Verband fehlt die mitgliedschaftliche Legitimation zur Normsetzung durch VerbandsTVe.
I. Erwerb der Mitgliedschaft Die Verbandszugehörigkeit richtet sich allein nach dem allgemeinen Vereinsrecht 14 (vgl. Teil 2 Rz. 1). Sie entsteht durch Beteiligung an der Vereinsgründung (vgl. Teil 2 Rz. 9 ff.) oder durch Eintritt in einen bereits existierenden Verein5. 1. Verbandsbeitritt durch Aufnahmevertrag Der Erwerb der Mitgliedschaft im Wege des Eintritts setzt einen wirksamen Aufnahmevertrag zwischen dem Bewerber und dem Verein voraus6. Der Vertrag kommt re1 LAG Baden-Württemberg v. 24.10.2000 – 10 TaBV 2/99, AP TVG § 3 Verbandszugehörigkeit Nr. 18; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 20; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 287; unklar Canaris, Vertrauenshaftung, S. 262: „Scheintarifgebundenheit“. 2 Vgl. LAG Baden-Württemberg v. 24.10.2000 – 10 TaBV 2/99, AP TVG § 3 Verbandszugehörigkeit Nr. 18; Kristina Schmidt, RdA 2004, 152 (156); ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 5; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 294 ff. 3 Vgl. dazu Oetker, in: Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 6 Rz. 22. 4 A.A. wohl Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 138. 5 Vgl. Palandt/Ellenberger, § 38 BGB Rz. 4; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 38 Rz. 9; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 6. 6 BGH v. 29.6.1987 – II ZR 295/86, NJW 1987, 2503; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 38 Rz. 10.
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Teil 6 Rz. 16
Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft
gelmäßig durch die Beitrittserklärung des Bewerbers (Angebot) und die anschließende Aufnahmeerklärung des Vorstands im Namen des Vereins (Annahme) zustande1. Ein Verzicht auf den Zugang der Annahmeerklärung gemäß § 151 Satz 1 BGB kommt beim Vereinseintritt den Umständen nach nicht in Frage2. 16
Gemäß §§ 58 Nr. 1, 60 Abs. 1 BGB soll die Satzung Bestimmungen über den Eintritt enthalten. Zu regeln ist insbesondere, ob zum Eintritt die Erklärungen des Bewerbers und des Vereinsvorstands genügen oder ob ein besonderes Aufnahmeverfahren stattfinden soll3. Enthält die Satzung keine ausdrückliche Bestimmung über die Form der Aufnahmeerklärungen, so kann der Aufnahmevertrag auch mündlich oder durch schlüssiges Verhalten zustande kommen4. Eine Satzungsregelung, wonach der Erwerb der Mitgliedschaft von der Entgegennahme eines Mitgliedsausweises abhängig ist, hat konstitutive Wirkung, d.h. die Mitgliedschaft beginnt erst, wenn alle Voraussetzungen (Vertragsschluss und Übergabe des Ausweises) vorliegen5.
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Ein Eintritt durch einseitiges Rechtsgeschäft des Bewerbers ist grundsätzlich nicht zulässig. Möglich ist es aber, dass die Satzung von einem gesonderten Aufnahmeakt seitens des Vereins absieht. In diesem Fall entsteht die Mitgliedschaft bereits mit dem Zugang der Beitrittserklärung6. Rechtsdogmatisch handelt es sich dabei jedoch nicht um ein einseitiges Rechtsgeschäft7, sondern um ein antizipiertes Angebot des Vereins – entweder „ad incertas personas“ oder an einen anhand bestimmter Merkmale begrenzten Personenkreis –, welches der Beitretende durch seine Beitrittserklärung annimmt.
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Der Aufnahmevertrag setzt voraus, dass der Bewerber im Zeitpunkt des Vertragsschlusses geschäftsfähig ist. Bei Minderjährigen ist die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters erforderlich (§§ 107, 108 Abs. 1 BGB). Dies gilt auch dann, wenn der Minderjährige den Mitgliedsbeitrag mit eigenen Mitteln bewirken kann. § 110 BGB ist nicht anwendbar, weil die aus der Mitgliedschaft erwachsenden Pflichten sich nicht in der Beitragszahlung erschöpfen8. Ist der Minderjährige aber zur Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses ermächtigt, so umfasst seine partielle Geschäftsfähigkeit gemäß § 113 Abs. 1 BGB auch den Eintritt in eine Gewerkschaft9.
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Auf Seiten des Verbandes ist grundsätzlich der Vorstand zur Abgabe der Annahmeerklärung ermächtigt (§ 26 Abs. 1 Satz 2 BGB). Bei den bundesweit agierenden Gewerkschaften hat regelmäßig der „Bundesvorstand“ die Stellung des Vorstands i.S.d. 1 BeckOK-BGB/Schöpflin, § 38 Rz. 10; Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, Rz. 1006 ff. 2 BGH v. 29.6.1987 – II ZR 295/86, NJW 1987, 2503; Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, Rz. 1009; a.A. Soergel/Hadding, § 38 BGB Rz. 7a; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 68. 3 Vgl. BayObLG v. 24.3.1972 – BReg 2 Z 131/71, NJW 1972, 1323; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 58 Rz. 3. 4 Vgl. BGH v. 24.10.1988 – II ZR 311/87, NJW 1989, 1724 (1725); OLG Hamm v. 6.9.2010 – 8 U 8/10, NZG 2011, 35 (36); MünchKomm/Arnold, § 58 BGB Rz. 2. 5 AG Duisburg v. 22.5.2002 – 3 C 746/02, NZG 2002, 1072. 6 BayObLG v. 24.3.1972 – BReg 2 Z 131/71, NJW 1972, 1323 (1324); Palandt/Ellenberger, § 38 BGB Rz. 4; Erman/Westermann, § 38 BGB Rz. 4. 7 Soergel/Hadding, § 38 BGB Rz. 7a; a.A. Erman/Westermann, § 38 BGB Rz. 4; Jauernig/Mansel, § 38 BGB Rz. 2. 8 Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, Rz. 1011. 9 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 6; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 8; MünchKomm/Schmitt, § 113 BGB Rz. 24.
568 Hçpfner
Beginn und Ende der Mitgliedschaft
Rz. 22 Teil 6
§ 26 BGB1. Die Satzung kann aber gemäß § 30 BGB einen „besonderen Vertreter“ mit beschränkter organschaftlicher Vertretungsmacht bestimmen, der bei Eintragung der Vertretung im Vereinsregister analog § 64 BGB2 auch für die Annahme von Beitrittserklärungen ermächtigt sein kann3. Darunter fällt etwa der nach der Satzung von ver.di für die Annahme bzw. Ablehnung des Beitritts zuständige „Bezirksvorstand“4. Daneben ist nach den allgemeinen Grundsätzen der §§ 164 ff. BGB auch eine rechtsgeschäftliche Vertretung des Vereins möglich. Die Satzung kann den Kreis möglicher Verbandsmitglieder einschränken. So beschrän- 20 ken Gewerkschaften ihren Mitgliederkreis regelmäßig auf Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis in den Organisationsbereich der Gewerkschaft fällt5. Gleiches gilt für Arbeitgeberverbände. Regional tätige Verbände setzen darüber hinaus meist voraus, dass der Arbeitgeber bzw. dessen Unternehmen oder zumindest einzelne Betriebe dem räumlichen Tätigkeitsbereich des Verbandes unterfallen. Ein Verein kann den Kreis seiner Mitglieder auch auf Körperschaften beschränken. Als derartige „Vereinsverbände“ treten üblicherweise die Spitzenorganisationen i.S.d. § 2 Abs. 2 TVG auf6. Fraglich ist, ob der zuständige Vertreter des Vereins ein Angebot eines Bewerbers, der 21 die satzungsmäßigen Voraussetzungen an eine Mitgliedschaft nicht erfüllt, rechtswirksam annehmen kann. Ausgangspunkt ist die umfassende und unbeschränkte Vertretungsmacht des Vorstands gemäß § 26 Abs. 1 BGB. Insbesondere ist die Vertretungsmacht nicht durch den Vereinszweck beschränkt (vgl. Teil 2 Rz. 28). Der Umfang der Vertretungsmacht kann aber gemäß § 26 Abs. 1 Satz 3 BGB mit Wirkung gegen Dritte durch die Satzung beschränkt werden. Allerdings ist eine Beschränkung der Vertretungsmacht nur wirksam, wenn sie in der Satzung eindeutig zum Ausdruck kommt7. Die bloße Einschränkung des Kreises potentieller Verbandsmitglieder reicht hierfür nicht aus. Der Aufnahmevertrag ist daher grundsätzlich auch wirksam, wenn der Bewerber die satzungsmäßigen Anforderungen an die Mitgliedschaft nicht erfüllt oder wenn der Aufnahme ein vereinsinternes Aufnahmeverfahren hätte vorangehen müssen8. Der Aufnahmevertrag kann nach überwiegender Auffassung unter einer Bedingung 22 oder Befristung geschlossen werden9. Die Mitgliedschaft wird dann erst in dem Zeit-
1 Vgl. etwa § 42 Ziff. 3 der Satzung von ver.di v. 26.9.2015; § 18 Ziff. 1, 3 der Satzung der IG Metall v. 22.10.2015. 2 Vgl. BayObLG v. 11.3.1981 – BReg 2 Z 12/81, NJW 1981, 2068; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 30 Rz. 11. 3 Vgl. dazu Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, Rz. 2845 ff. 4 § 7 Ziff. 2 der Satzung von ver.di v. 26.9.2015; ähnlich § 3 Ziff. 6 der Satzung der IG Metall v. 22.10.2015: „Ortsvorstand“. 5 Vgl. etwa § 6 Ziff. 1 der Satzung von ver.di v. 26.9.2015; § 1 Ziff. 3 der Satzung der IG BCE v. 12.10.2009. 6 Einer Spitzenorganisation steht es jedoch frei, nach ihrer Satzung auch Einzelmitglieder zuzulassen, vgl. BAG v. 6.5.2003 – 1 AZR 241/02, NZA 2004, 562; BAG v. 22.3.2000 – 4 ABR 79/98, NZA 2000, 893; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 27. 7 BGH v. 22.4.1996 – II ZR 65/95, NJW-RR 1996, 866; BayObLG v. 19.8.1999 – 2Z BR 63/99, NJWRR 2000, 41; MünchKomm/Arnold, § 26 BGB Rz. 14; Staudinger/Weick, § 26 BGB Rz. 11. 8 Stöber/Otto, Vereinsrecht, Rz. 242; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 38 Rz. 11. 9 BAG v. 22.11.2000 – 4 AZR 688/99, NZA 2001, 980 (982); RG v. 24.10.1938 – IV 94/38, JW 1938, 3229 (3230); Palandt/Ellenberger, § 38 BGB Rz. 4; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 38 Rz. 11;
Hçpfner 569
Teil 6 Rz. 23
Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft
punkt erworben, in dem die Bedingung eintritt (aufschiebende Bedingung), bzw. sie endet automatisch zu diesem Termin (auflösende Bedingung). 23
Umstritten ist, ob ein rückwirkender Verbandsbeitritt zulässig ist. Die Frage hat für das Tarifrecht keine große Bedeutung. Denn auch wenn man einen rückwirkenden Beitritt mit der überwiegenden Auffassung verbandsrechtlich für zulässig hält1, besteht Einigkeit, dass dieser jedenfalls nicht rückwirkend die Tarifgebundenheit des Verbandsmitglieds begründet. Für die Mitgliedschaft i.S.d. § 3 Abs. 1 TVG kommt es allein auf den „tatsächlichen Beitritt“ an2. So kann etwa auch ein Arbeitnehmer, der unter dem Jahr rückwirkend zum Jahresbeginn in die Gewerkschaft eintritt, nur Zahlung des Tariflohns ab dem Zeitpunkt des Abschlusses des Aufnahmevertrags verlangen. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob die TV-Parteien im TV eine Rückwirkung der Tarifnormen vorsehen können (vgl. Teil 8 Rz. 92). 2. Aufnahmeanspruch gegen den Verband
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Nach dem Grundsatz der Vertragsfreiheit kann der Verband selbst frei entscheiden, wen er als Mitglied aufnehmen will. Einen Kontrahierungszwang gibt es grundsätzlich nicht, auch wenn der Bewerber die satzungsgemäßen Voraussetzungen an eine Mitgliedschaft erfüllt. Ein Aufnahmeanspruch besteht nur ausnahmsweise, wenn der Verband gesetzlich dazu verpflichtet ist, sich durch die Satzung selbst gebunden hat oder eine Monopol- oder monopolähnliche Stellung besitzt3.
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Der Verband kann sich in der Satzung gegenüber denjenigen Bewerbern, die bestimmte satzungsmäßig vorgegebene Bedingungen für die Mitgliedschaft erfüllen, zur Aufnahme verpflichten. Möglich ist auch ein Anspruch des OT-Mitglieds auf Wechsel in die Vollmitgliedschaft4. Ein Aufnahmeanspruch kraft Selbstbindung des Verbandes ist jedoch so ungewöhnlich, dass sich aus der Satzung gesicherte Anhaltspunkte für einen Individualanspruch des Bewerbers ergeben müssen5. Im Zweifel ist ein Rechtsanspruch auf Aufnahme nicht gewollt6.
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Das Kartellrecht kennt in § 20 Abs. 6 GWB einen Aufnahmeanspruch gegenüber Wirtschafts- und Berufsvereinigungen. Darunter versteht man freiwillige Verbindungen von Unternehmen, die eine umfassende Förderung der gemeinsamen wirtschaftlichen, berufsständischen und sozialen Interessen ihrer Mitglieder und ihre Vertretung
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Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, Rz. 1014; differenzierend MünchKomm/Westermann, § 158 BGB Rz. 33; a.A. Staudinger/Weick, § 35 BGB Rz. 26. BAG v. 22.11.2000 – 4 AZR 688/99, NZA 2001, 980 (981); KG v. 19.8.2010 – 1 W 232/10, RPfleger 2011, 90; FG München v. 15.12.2010 – 4 K 2771/07, StE 2011, 347; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 38 Rz. 11; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 20; a.A. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 94; Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, Rz. 1014. BAG v. 22.11.2000 – 4 AZR 688/99, NZA 2001, 980 (981 f.); BAG v. 20.12.1988 – 1 ABR 57/87, NZA 1989, 564 (565); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 38; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 39; Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 10. Vgl. dazu Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, Rz. 1048 ff. Vgl. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 97. BGH v. 29.6.1987 – II ZR 295/86, NJW 1987, 2503 (2504); Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, Rz. 1049. BGH v. 1.10.1984 – II ZR 292/83, NJW 1985, 1214 (1215).
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Beginn und Ende der Mitgliedschaft
Rz. 29 Teil 6
nach außen zum Ziel haben1. Nach dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers findet die Norm jedoch auf Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, deren Zweck sich ausschließlich auf die Wahrnehmung der Interessen ihrer Mitglieder auf arbeitsrechtlichem Gebiet beschränkt, keine Anwendung2. Gegenüber Tarifverbänden, die in ihrem Zuständigkeitsbereich eine Monopol- oder 27 monopolähnliche Stellung hinsichtlich der Vertretung von Arbeitnehmern oder Unternehmen innehaben, besteht jedoch ein vergleichbarer Aufnahmeanspruch aus § 826 BGB3. Dieser setzt weder die Unternehmenseigenschaft des Bewerbers voraus, noch muss der zur Aufnahme verpflichtete Verband eine Berufs- oder Wirtschaftsvereinigung sein4. Erforderlich ist stets eine umfassende Abwägung der Interessen des Bewerbers und des Verbandes im jeweiligen Einzelfall. Ein Aufnahmeanspruch ist gegeben, wenn der Verband eine überragende Machtstellung und der Bewerber ein wesentliches Interesse am Erwerb der Mitgliedschaft hat und kein berechtigter Grund zur Ablehnung vorliegt5. Bei Gewerkschaften ist dabei insbesondere zu berücksichtigen, ob für den Beitrittswilligen weitere Gewerkschaften tarifzuständig und vergleichbar durchsetzungsstark sind6. Der Aufnahmeanspruch besteht nur in den Grenzen der satzungsmäßigen Voraussetzungen an die Mitgliedschaft. Die Satzung einer Gewerkschaft kann vorsehen, dass ein Beitritt nicht zulässig ist, wenn der Arbeitnehmer bereits Mitglied einer konkurrierenden Gewerkschaft ist7. Entsprechendes gilt für Mitglieder einer gewerkschaftsfeindlichen Partei sowie nach der Rechtsprechung für Arbeitnehmer, die auf einer gewerkschaftsfremden Liste für den Betriebsrat kandidieren8. Die Ablehnung eines Aufnahmegesuchs ist zu begründen, um eine gerichtliche Überprüfung zu ermöglichen9. Der abgelehnte Bewerber kann Leistungsklage auf Abschluss des Aufnahmevertrags erheben10. Im Falle des Obsiegens gilt die Aufnahmeerklärung des Vereins gemäß § 894 ZPO als abgegeben11.
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3. Mängel des Verbandsbeitritts Wie jeder Vertrag kann auch der Aufnahmevertrag an Mängeln leiden. In Betracht 29 kommen alle Arten von Nichtigkeitstatbeständen für Willenserklärungen (§§ 105,
1 Immenga/Mestmäcker/Markert, § 20 GWB Rz. 330. 2 Vgl. den Bericht des Wirtschaftsausschusses zu BT-Drucks. II/3644, S. 29; Galperin, DB 1969, 704 (705); Immenga/Mestmäcker/Markert, § 20 GWB Rz. 334. 3 BGH v. 10.12.1984 – II ZR 91/84, NJW 1985, 1216; bestätigt durch BGH v. 19.10.1987 – II ZR 43/87, NJW 1988, 552 (555); vgl. auch ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 8; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 9; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 239 ff.; a.A. Säcker/Rancke, AuR 1981, 1 (12). 4 Vgl. Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Dorß, § 20 GWB Rz. 214 f. 5 Vgl. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 98. 6 Weitergehend Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 241, wonach tariffähige Vereinigungen stets zur Aufnahme verpflichtet sind; wie hier wohl Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 23. 7 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 108 ff.; vgl. auch BGH v. 25.3.1991 – II ZR 170/90, NJW-RR 1992, 246 (zum Ausschluss aus der Gewerkschaft). 8 Vgl. BVerfG v. 24.2.1999 – 1 BvR 123/93, NJW 1999, 2657 (zum Ausschluss); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 102; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 242 f.; Popp, ZfA 1977, 401; Reuter, ZGR 1980, 101 (124 ff.); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 448 ff. 9 Vgl. Galperin, DB 1969, 704 (707); Küttner, NJW 1980, 968 (970). 10 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 447. 11 Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, Rz. 1078.
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Teil 6 Rz. 30
Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft
107 f., 117 f., 134, 138, 142 BGB). Ficht das Verbandsmitglied seine auf den Abschluss des Aufnahmevertrags gerichtete Willenserklärung an (§§ 119, 123 BGB), so werden die Wirkungen des Beitritts gemäß § 142 Abs. 1 BGB grundsätzlich rückwirkend wieder beseitigt. Die überwiegende Auffassung schränkt die gesetzliche Regelung jedoch nach den Grundsätzen des fehlerhaften Verbandsbeitritts ein1. Danach wird die Mitgliedschaft grundsätzlich erst ex nunc, d.h. mit Zugang der Anfechtungserklärung, beendet. 30
Bis zur Geltendmachung des Beitrittsmangels ist das (fehlerhafte) Verbandsmitglied gemäß § 3 Abs. 1 TVG tarifgebunden. Verbandsrechtlich hat die Anfechtung der Beitrittserklärung somit die Wirkung einer außerordentlichen fristlosen Kündigung der Mitgliedschaft. Im Gegensatz zu dieser schließt sich an die Anfechtung jedoch keine Nachbindung gemäß § 3 Abs. 3 TVG an2. Dies entspräche zwar der Fiktion der fehlerhaften Mitgliedschaft als eine vollwertige Mitgliedschaft im Innen- und Außenverhältnis3. Entscheidend sind jedoch vorrangig der Normzweck des § 3 Abs. 3 TVG sowie der Zweck des fehlerhaften Beitritts: Die Nachbindung soll eine Tarifflucht des Mitglieds durch Austritt aus dem Verband vermeiden (vgl. Rz. 62). Die Lehre vom fehlerhaften Verbandsbeitritt will Rückabwicklungsschwierigkeiten im Verhältnis von Verband und Mitglied verhindern und dient darüber hinaus dem Verkehrsschutz4. Beide Zwecke verlangen nicht die Fortgeltung der Tarifnormen für die Zukunft über den Zeitpunkt der Anfechtung hinaus.
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Nicht anwendbar ist die Lehre vom fehlerhaften Verband dagegen, wenn der Verbandszweck unmittelbar gegen die §§ 134, 138 BGB verstößt, wenn der vorrangige Schutz Geschäftsunfähiger und beschränkt Geschäftsfähiger eingreift oder wenn der Beitretende arglistig getäuscht wurde5. In diesem Fall gilt der Beitritt als von Anfang an unwirksam. Mangels mitgliedschaftlicher Legitimation besteht dann auch keine Tarifgebundenheit gemäß § 3 Abs. 1 TVG. 4. Umwandlung des Verbandes
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Die Umwandlung des Verbandes führt zur Sukzession der Mitgliedschaften6. Bei der Verschmelzung durch Aufnahme werden die Mitglieder des übertragenden Vereins gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 3 Satz 1 UmwG Mitglieder des aufnehmenden Vereins7. Bei einer Verschmelzung durch Neugründung werden die Mitglieder der übertragenden Vereine kraft Gesetzes Mitglieder des neuen Vereins, wenn die Eintragung in das Ver-
1 OLG Hamm v. 6.9.2010 – 8 U 8/10, NZG 2011, 35 (36); MünchKomm/Arnold, § 38 BGB Rz. 57; Staudinger/Weick, § 35 BGB Rz. 26; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 38 Rz. 12; ausführlich zur Lehre vom fehlerhaften Beitritt Schäfer, S. 302 ff. 2 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 87; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 7; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 8; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 17 I 1 d. 3 Vgl. MünchKomm/Arnold, § 38 BGB Rz. 57; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 83 f.; Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 6 III 2, V 1 a. 4 Vgl. MünchKomm-HGB/Karsten Schmidt, § 105 HGB Rz. 232 m.w.N. 5 Vgl. Soergel/Hadding, § 705 BGB Rz. 81 f.; Staudinger/Habermeier, § 705 BGB Rz. 70; MünchKomm/Ulmer, § 705 BGB Rz. 340 m.w.N.; für § 123 BGB a.A. Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 6 V 1 a. 6 Vgl. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 171. 7 BeckOK-BGB/Schöpflin, § 38 Rz. 9.
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Beginn und Ende der Mitgliedschaft
Rz. 35 Teil 6
einsregister erfolgt (§§ 36 Abs. 1, 20 Abs. 1 Nr. 3 Satz 1 UmwG)1. Zur Umwandlung der Mitgliedsunternehmen vgl. Rz. 60.
II. Beendigung der Mitgliedschaft Mit der Beendigung der Mitgliedschaft im Verband endet die normative Tarifgebun- 33 denheit gemäß § 3 Abs. 1 TVG, und es schließt sich grundsätzlich die Nachbindung gemäß § 3 Abs. 3 TVG an. Ebenso wie der Erwerb bestimmt sich auch die Beendigung der Mitgliedschaft nach dem allgemeinen Verbandsrecht. Als Beendigungsgründe kommen in Betracht: Austritt, Kündigung, Aufhebungsvertrag, Ausschluss, Eintritt einer auflösenden Bedingung oder Befristung, Auflösung des Verbandes, Tod des Mitglieds, Umwandlung oder Vollbeendigung des Mitgliedsunternehmens. 1. Verbandsaustritt In den meisten Fällen wird die Mitgliedschaft durch Austritt aus dem Verband been- 34 det. Der Austritt ist ein einseitiges Rechtsgeschäft. Er erfolgt durch eine auf Beendigung der Mitgliedschaft gerichtete, empfangsbedürftige Willenserklärung des Mitglieds gegenüber dem Verband2. In der Sache handelt es sich beim Austritt um eine ordentliche Kündigung der Mitgliedschaft durch das Verbandsmitglied3. Das Austrittsverfahren richtet sich in erster Linie nach der Verbandssatzung. Gemäß § 58 Nr. 1 BGB soll bereits die Gründungssatzung Bestimmungen über den Austritt der Mitglieder enthalten. Die Satzungshoheit des Vereins wird jedoch beschränkt durch das in § 39 Abs. 1 BGB garantierte Recht zum Austritt. Darüber hinaus darf die Kündigungsfrist in Satzungen von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden abweichend von § 39 Abs. 2 Halbs. 2 BGB höchstens sechs Monate betragen (vgl. Rz. 37 ff.). § 39 BGB ist Ausfluss der negativen Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 1 und 3 GG. Von ihr kann weder durch die Satzung noch durch individuelle Vereinbarung zwischen Verein und Mitglied abgewichen werden (vgl. § 40 BGB). Abreden, die das Recht zum Austritt beschränken (z.B. ein Austrittsverbot für Vorstandsmitglieder), sind gemäß § 134 BGB bzw. Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG nichtig4. Die Erklärung des Austritts ist grundsätzlich formlos möglich5. Sie kann auch kon- 35 kludent erfolgen6. Die Satzung kann die Einhaltung einer bestimmten Form als Wirksamkeitsvoraussetzung des Austritts verlangen, sofern das Austrittsrecht hierdurch nicht unzulässig erschwert wird7. Zulässig ist ein einfaches Schriftformerfordernis. Trotz des Normcharakters der Satzung handelt es sich dabei um eine gewillkürte 1 BeckOK-BGB/Schöpflin, § 38 Rz. 9. 2 Vgl. BayObLG v. 23.12.1986 – BReg 3 Z 126/86, BayObLGZ 1986, 528 (533); Reichert, Vereinsund Verbandsrecht, Rz. 1085. 3 So spricht etwa § 39 Abs. 2 BGB gleichbedeutend von „Kündigungsfrist“; vgl. auch BeckOKBGB/Schöpflin, § 39 Rz. 1. 4 Vgl. Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, Rz. 1084; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 39 Rz. 1. 5 Vgl. BayObLG v. 23.12.1986 – BReg 3 Z 126/86, BayObLGZ 1986, 528 (533); BeckOK-BGB/ Schöpflin, § 39 Rz. 2. 6 Vgl. RG v. 13.12.1911 – 257/11, Das Recht 1912, Nr. 541; BayObLG v. 23.12.1986 – BReg 3 Z 126/86, BayObLGZ 1986, 528 (534). 7 Vgl. MünchKomm/Arnold, § 39 BGB Rz. 4.
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Teil 6 Rz. 36
Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft
Schriftform, die gemäß § 127 Abs. 2 BGB auch durch Telefax oder E-Mail gewahrt wird1. Verlangt die Satzung eine Erklärung in Form des Einschreibens, so genügt die Einhaltung der einfachen Schriftform, wenn die nicht eingeschriebene Sendung ihren bestimmungsgemäßen Empfänger erreicht2. Ein konstitutives Einschreibeerfordernis ist dagegen als unzulässige Erschwerung des Austrittsrechts unwirksam3. Entsprechendes gilt für die Rückgabe eines Mitgliedsausweises oder Mitgliedsbuches. Verlangt eine Satzung neben der schriftlichen Austrittserklärung, dass der Mitgliedsausweis zurückgegeben werden muss4, so handelt es sich nicht um eine konstitutive Wirksamkeitsvoraussetzung des Austritts, sondern lediglich um eine schuldrechtliche Herausgabepflicht5. Zulässig ist aber eine Regelung, wonach die Rückgabe des Mitgliedsausweises als konkludente Austrittserklärung gilt6. 36
Im Gegensatz zum Verbandsbeitritt ist der Austritt als Gestaltungsrecht nach überwiegender Auffassung bedingungsfeindlich7. Zulässig sind nur solche (Potestativ-)Bedingungen, deren Eintritt allein vom Willen des Verbandes abhängt8.
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Nach dem Gesetz muss beim Austritt aus einem Verein keine Frist eingehalten werden. Allerdings kann die Satzung bestimmen, dass der Austritt nur am Schluss eines Geschäftsjahres oder erst nach Ablauf einer Austrittsfrist zulässig ist (§ 39 Abs. 2 Halbs. 1 BGB). Als Höchstfrist nennt § 39 Abs. 2 Halbs. 2 BGB einen Zeitraum von zwei Jahren. Für den Austritt aus einer Gewerkschaft wird dieser Zeitraum unter Berücksichtigung der negativen Koalitionsfreiheit des Arbeitnehmers allgemein für zu lang gehalten. Zudem ist die positive Koalitionsfreiheit desjenigen zu beachten, der von einer Gewerkschaft zu einer anderen wechseln will. Angesichts der verbreitet anzutreffenden tarif- und satzungsrechtlichen Einschränkung einer Doppelmitgliedschaft9 würde der Arbeitnehmer durch eine übermäßig lange Kündigungsfrist in seiner positiven Koalitionsfreiheit beeinträchtigt.10 Nach der Rechtsprechung des BGH, die im Schrifttum weitgehend auf Zustimmung gestoßen ist11, ist eine Kündigungs-
1 Vgl. BGH v. 22.4.1996 – II ZR 65/95, NJW-RR 1996, 866 (867); MünchKomm/Arnold, § 39 BGB Rz. 4; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 39 Rz. 3; kritisch Oetker, DZWiR 2015, 47 (48). 2 BAG v. 9.11.1956 – 1 AZR 421/54, NJW 1957, 358; BGH v. 22.4.1996 – II ZR 65/95, NJW-RR 1996, 866 (867). 3 Staudinger/Weick, § 39 BGB Rz. 3; Palandt/Ellenberger, § 39 BGB Rz. 2; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 129; a.A. Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, Rz. 1092; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 39 Rz. 3. 4 So etwa § 8 Nr. 1 der Satzung der IG Metall v. 22.10.2015. 5 Vgl. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 129; Staudinger/Weick, § 39 BGB Rz. 3. 6 OLG Hamm v. 14.7.1999 – 8 U 22/98, NJW 2000, 523 (524); Palandt/Ellenberger, § 39 BGB Rz. 2. 7 Vgl. MünchKomm/Westermann, § 158 BGB Rz. 33; Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, Rz. 1086; Waldner/Wörle-Himmel, in: Sauter/Schweyer/Waldner, Rz. 81. 8 Vgl. OLG Dresden v. 26.4.1907 – 3 O 1/07, SeuffArch. 62 Nr. 248, S. 436 f.; Reichert, Vereinsund Verbandsrecht, Rz. 1086; MünchKomm/Ulmer/Schäfer, § 723 BGB Rz. 16 (zur GbR). 9 Vgl. BAG v. 14.12.2004 – 1 ABR 51/03, AP TVG § 2 Tariffähigkeit Nr. 1; BGH v. 25.3.1991 – II ZR 170/90, NJW-RR 1992, 246 (zum Ausschluss aus der Gewerkschaft); Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 24; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 49, 107 ff.; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 108 ff.; Franzen, RdA 2008, 193 (198). 10 Däubler/Mayer-Maly, Negative Koalitionsfreiheit?, S. 19; Höpfner, Tarifgeltung, S. 355 f. 11 Vgl. HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 11; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 45; MünchKomm/Arnold, § 39 BGB Rz. 9.
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Beginn und Ende der Mitgliedschaft
Rz. 39 Teil 6
frist von drei Monaten mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar, eine mehr als halbjährige Frist demgegenüber unzulässig1. Dogmatischer Anknüpfungspunkt für die im Vergleich zu § 39 BGB reduzierte Höchstfrist ist Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG: Soweit eine satzungsmäßige Regelung der Austrittsfrist über die der Mitgliedschaft in einer Koalition immanente Beschränkung der Kündigungsfreiheit hinausgeht, ist sie als unzulässige Einschränkung der Koalitionsfreiheit nichtig2. Die ausnahmsweise unmittelbare Wirkung des Grundrechts im Privatrechtsverkehr geht insofern einer verbandsrechtlichen Angemessenheitskontrolle der Satzung vor3. Das BAG hat bisher ausdrücklich offengelassen, welche Höchstfrist für den Austritt 38 aus einem Arbeitgeberverband gilt4. Die überwiegende Auffassung im Schrifttum wendet hierfür dieselben Fristen wie für den Austritt aus einer Gewerkschaft an5. Dem ist zuzustimmen. Zwar sind Arbeitgeberverbände im Gegensatz zu den Gewerkschaften in der Regel keine Massenorganisationen und auch nicht als solche angelegt, so dass ein gesteigertes Interesse am Fortbestand jeder einzelnen Mitgliedschaft bestehen kann6. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Hürden für eine Beendigung der Tarifbindung nach geltendem Tarifrecht (§§ 3 Abs. 3, 4 Abs. 5 TVG) derart hoch liegen, dass der Verbandsaustritt für den Arbeitgeber regelmäßig ohnehin eher unattraktiv sein wird. Wollte man zusätzlich Austrittsfristen von mehr als sechs Monaten zulassen, so würde durch dieses „Gesamtpaket“ ein unzulässiger Zwang auf den Arbeitgeber ausgeübt werden, Mitglied im Verband zu bleiben7. Dieser Auffassung hat sich jüngst auch der BGH angeschlossen. Danach erlaubt Art. 9 Abs. 3 GG eine maximale Austrittsfrist aus dem Arbeitgeberverband von sechs Monaten8. Sieht die Verbandssatzung eine zu lange Austrittsfrist vor, wird diese nach überwie- 39 gender Auffassung auf das erlaubte Maß reduziert9. Zwar führt die Einschränkung der Koalitionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG im Ausgangspunkt zur Nichtigkeit der satzungsmäßigen Regelung über die Austrittsfrist10. Die hierdurch eintretende planwidrige Regelungslücke in der Satzung ist aber nach dem hypothetischen Willen der Satzungsgeber im Wege der Umdeutung gemäß § 140 BGB dahingehend auszufül-
1 BGH v. 4.7.1977 – II ZR 30/76, AP GG Art. 9 Nr. 25; BGH v. 22.9.1980 – II ZR 34/80, NJW 1981, 340; insoweit nicht konkretisiert durch BGH v. 29.7.2014 – II ZR 243/13, NJW 2014, 3239 Rz. 27. 2 MünchKomm/Arnold, § 39 BGB Rz. 9; Reuter, RdA 2006, 117 (118 f.). 3 A.A. Oetker, ZfA 1998, 41 (59 ff.); Reitze, NZA 1999, 70 (72). 4 BAG v. 1.12.2004 – 4 AZR 55/04, NZA 2005, 645; BAG v. 19.9.2006 – 1 ABR 2/06, NZA 2007, 622; für die Zulässigkeit einer sechsmonatigen Kündigungsfrist LAG Saarland v. 22.10.2003 – 2 Sa 48/03, LAGReport 2004, 123. 5 HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 11; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 123; Thüsing/Braun/Braun, 6. Kap. Rz. 17; Däubler, NZA 1996, 225 (226); im Grundsatz auch Reitze, NZA 1999, 70 (71); a.A. ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 38 und noch Oetker, ZfA 1998, 41 (69 ff.). 6 Vgl. Oetker, ZfA 1998, 41 (71 f.); Reitze, NZA 1999, 70 (71). 7 Vgl. zu den Anforderungen an einen Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit BVerfG v. 3.7.2000 – 1 BvR 945/00, NZA 2000, 947. 8 BGH v. 29.7.2014 – II ZR 243/13, NJW 2014, 3239 Rz. 27; zustimmend Oetker, DZWiR 2015, 47; ablehnend BKS/Dierßen, § 3 TVG Rz. 31a. 9 BGH v. 29.7.2014 – II ZR 243/13, NJW 2014, 3239 Rz. 32; RG v. 26.5.1937 – K 76/37, JW 1937, 3236; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 125; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 11; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 53; Reuter, RdA 2006, 117 (120). 10 Insoweit a.A. Reuter, RdA 2006, 117 (120).
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Teil 6 Rz. 40
Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft
len, dass an die Stelle der unwirksamen Austrittsfrist die längste, im konkreten Einzelfall noch erlaubte Frist tritt1. Das Verbot der geltungserhaltenden Reduktion2 steht dem schon deshalb nicht entgegen, weil es sich bei Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG nicht um eine Inhaltskontrolle der Verbandssatzung handelt3. 40
Kündigt das Verbandsmitglied die Mitgliedschaft „zum nächstmöglichen Termin“, so ist die Erklärung nach Auffassung des BAG in der Regel im Sinne einer Beendigung des Mitgliedschaftsverhältnisses zum satzungsgemäß berechneten Termin auszulegen4. Auf die Wirksamkeit der in der Satzung festgelegten Austrittsfrist soll es danach grundsätzlich nicht ankommen. Im Ausgangspunkt ist der Rechtsprechung zu folgen. Für die Auslegung der Erklärung ist gemäß §§ 133, 157 BGB der objektive Empfängerhorizont entscheidend. Der nach dem Wortlaut der Erklärung maßgebende „nächstmögliche“ Termin bestimmt sich primär nach der satzungsrechtlichen Ausgestaltung der Austrittsfrist. Nur wenn diese offenkundig gegen § 39 Abs. 2 Halbs. 2 BGB bzw. gegen die nach der Rechtsprechung für den Austritt aus einer Koalition verkürzte Höchstfrist verstößt, ist dies bei der Auslegung der Erklärung zu berücksichtigen bzw. ist ein Rückgriff auf die satzungsmäßige Frist nach § 242 BGB ausgeschlossen5.
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Will ein Verband die satzungsmäßige Austrittsfrist verkürzen oder ein „Sonderaustrittsrecht“ für bestimmte Fälle einführen, so ist für dessen Wirksamkeit neben dem Beschluss der Mitgliederversammlung die Eintragung in das Vereinsregister gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 BGB erforderlich6. Die vom BGH entwickelten Grundsätze zur sog. „punktuellen Satzungsänderung“, wonach eine einen Einzelfall regelnde Satzungsdurchbrechung auch ohne Einhaltung der formellen Voraussetzungen einer Satzungsänderung wirksam sein kann7, gelten für Regelungen über Austrittsfristen nicht8.
42
Über die Wirksamkeit einer in der Satzung festgelegten Austrittsfrist ist als Vorfrage der Tarifgebundenheit des Verbandsmitglieds im arbeitsgerichtlichen Verfahren zu entscheiden. Ein vereinsrechtliches Verfahren vor den ordentlichen Gerichten würde lediglich Rechtskraft zwischen Verband und Mitglied entfalten9.
1 Vgl. Höpfner, ZfA 2009, 541 (554); Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 47, der aber für den Austritt aus Arbeitgeberverbänden eine einjährige Frist für zulässig hält; a.A. Oetker, DZWiR 2015, 47 (52) mit Verweis auf den normähnlichen Charakter der Vereinssatzung; dagegen zu Recht Fleischer, DB 2013, 1466. 2 Dafür AG Ettenheim v. 28.9.1984 – C 172/84, NJW 1985, 979 (980); BeckOK-BGB/Schöpflin, § 39 Rz. 4; im Grundsatz auch Reitze, NZA 1999, 70 (72). 3 Vgl. Reuter, RdA 2006, 117 (120). 4 BAG v. 1.12.2004 – 4 AZR 55/04, NZA 2005, 645; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 9; Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, Rz. 1102; a.A. Oetker, Anm. AP TVG § 3 Nr. 12; Reuter, RdA 2006, 117 (117 f.); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 126. 5 Vgl. MünchKomm/Schubert, § 242 BGB Rz. 219 ff. zum Rückgriff auf eine missbräuchlich begründete Rechtsstellung. 6 BAG v. 20.2.2008 – 4 AZR 64/07, NZA 2008, 946 (947). 7 Vgl. BGH v. 7.6.1993 – II ZR 81/92, NJW 1993, 2246; MünchKomm/Arnold, § 33 BGB Rz. 10. 8 Vgl. BAG v. 20.2.2008 – 4 AZR 64/07, NZA 2008, 946 (947); Höpfner, ZfA 2009, 541 (555 f.); Konzen, FS Bauer, S. 559 (569); Wiedemann, FS Reuter, S. 889 (891). 9 BAG v. 1.12.2004 – 4 AZR 55/04, NZA 2005, 645; Reuter, RdA 2006, 117 (117).
576 Hçpfner
Beginn und Ende der Mitgliedschaft
Rz. 44 Teil 6
2. Außerordentliche Kündigung Wie jedes Dauerschuldverhältnis auch ist die Mitgliedschaft in einem Verband aus 43 wichtigem Grund gemäß § 314 BGB außerordentlich fristlos kündbar, selbst wenn die Satzung nur einen befristeten Austritt erlaubt. Ein solcher „fristloser Austritt“ ist möglich, wenn der Verbleib im Verband bis zum nächsten ordentlichen Austrittstermin unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls für das Mitglied nicht zumutbar ist1. Als wichtiger Grund gelten nicht bereits die Erhöhung des Mitgliedsbeitrags2 oder der Neuabschluss eines unliebsamen TVs3. Auch Ursachen aus der Risikosphäre des Mitglieds stellen grundsätzlich keine unerträgliche Belastung dar, die zum fristlosen Austritt berechtigen4. Daher können auch Unternehmen mit prekärer Finanzlage sich nicht ohne weiteres durch außerordentliche Kündigung der Verbandsmitgliedschaft ihrer Tarifbindung entledigen5. Ein fristloser Austritt ist vielmehr nur in den ganz außergewöhnlichen Ausnahmefällen möglich, in denen der Verband selbst den TV gemäß § 314 BGB kündigen darf6, obwohl die Arbeitgeberseite grundsätzlich das Risiko sich verändernder wirtschaftlicher Rahmenbedingungen zu tragen hat7. Unter diesen engen Voraussetzungen muss dann auch die Nachbindung gemäß § 3 Abs. 3 TVG entfallen, da anderenfalls die Wirkung des fristlosen Austritts konterkariert würde8. 3. Aufhebungsvertrag Neben der einseitigen Beendigung durch Austritt oder Kündigung kann die Mitglied- 44 schaft ohne weiteres auch einvernehmlich durch Abschluss eines Aufhebungsvertrags beendet werden. Eine satzungsmäßige Grundlage hierfür ist nicht erforderlich. Ein Aufhebungsvertrag ist als actus contrarius zum Aufnahmevertrag stets zulässig9, ohne dass es eines wichtigen Grundes bedarf10. Bei der Beendigung der Mitgliedschaft handelt es sich um eine von der Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit geschützte interne Angelegenheit des Verbandes und seiner Mitglieder. Es besteht keine Verpflichtung des Verbandes gegenüber dem sozialen Gegenspieler, den eigenen Mitgliederbestand auf einem möglichst hohen Niveau fortbestehen zu lassen. 1 BGH v. 1.4.1953 – II ZR 235/52, NJW 1953, 780; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 11; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 139; MünchKomm/Arnold, § 39 BGB Rz. 11; Oetker, ZfA 1998, 41 (79). 2 AG Essen v. 3.3.1961 – 15 C 51/61, DWW 1961, 119; LG Aurich v. 22.10.1986 – 1 S 279/86, RPfleger 1987, 115 (116); MünchKomm/Arnold, § 39 BGB Rz. 11; a.A. AG Nürnberg v. 4.9.1987 – 20 C 2367/87, RPfleger 1988, 109 (Erhöhung des Mitgliedsbeitrags um 25 % ohne nachvollziehbare Begründung). 3 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 10. 4 OLG Oldenburg v. 18.12.2008 – 8 U 182/08, OLGR 2009, 612 = NZG 2009, 917 (Ls.).; BeckOKBGB/Schöpflin, § 39 Rz. 7. 5 Insoweit zutreffend ArbG Berlin v. 8.5.2003 – 96 Ca 5296/03, DB 2003, 1518; zu weitgehend Beuthien/Meik, DB 1993, 1518. 6 Vgl. dazu Wank, FS Schaub, S. 761 (764 ff.); Oetker, RdA 1995, 82 (93 ff.). 7 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 10; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 141; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 54. 8 Mückl/Krings, BB 2012, 769 (771 f.); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 11; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 10; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 284; a.A. Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 54; BKS/Dierßen, § 3 TVG Rz. 33. 9 Zutreffend Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 146; Oetker, ZfA 1998, 41 (52); Jacobs/Krois, FS Reuter, S. 555 (560). 10 Thüsing/Braun/Braun, 6. Kap. Rz. 19; Bauer/Rolf, DB 2003, 1519 (1520).
Hçpfner 577
Teil 6 Rz. 45
Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft
45
Die einvernehmliche Beendigung der Mitgliedschaft ist mit sofortiger Wirkung möglich, selbst wenn die Satzung eine Austrittsfrist vorsieht und die Voraussetzungen für eine außerordentliche Kündigung nicht vorliegen1. Dagegen wird eine Vereinbarung, wonach die Mitgliedschaft rückwirkend zu einem früheren Termin beendet wird, teilweise für unzulässig erachtet2. Daran ist richtig, dass bereits ausgeübte, in der Mitgliedschaft wurzelnde Teilhaberechte (etwa die Ausübung von Stimmrechten) nicht mehr rückwirkend beseitigt werden können. Es ist jedoch kein Grund ersichtlich, weshalb Verband und Mitglied nicht in Ausübung ihrer Vertragsfreiheit vereinbaren dürften, dass die gegenseitigen schuldrechtlichen Verpflichtungen (etwa die Zahlung des Mitgliedsbeitrags) bereits zu einem bestimmten Zeitpunkt vor Abschluss des Aufhebungsvertrags enden sollen3. Keinesfalls kann jedoch eine bereits bestehende Tarifbindung des Mitglieds durch Aufhebungsvertrag rückwirkend beseitigt werden4. Eine entsprechende Vereinbarung zwischen Verband und Mitglied ist insoweit wegen Umgehung der §§ 3 Abs. 3, 4 Abs. 5 TVG tarifrechtlich unwirksam (vgl. Teil 2 Rz. 7).
46
Auf Seiten des Verbandes ist gemäß § 26 Abs. 1 Satz 2 BGB grundsätzlich der Vorstand zum Abschluss von Aufhebungsverträgen berechtigt5. Darüber hinaus kann die Satzung – wie für den Aufnahmevertrag – gemäß § 30 BGB einen „besonderen Vertreter“ mit organschaftlicher Vertretungsmacht dazu bestimmen. Schließlich ist nach den allgemeinen Grundsätzen der §§ 164 ff. BGB auch eine rechtsgeschäftliche Vertretung des Verbandes möglich. Die Verbandssatzung kann die Vertretungsmacht des Vorstandes gemäß § 26 Abs. 1 Satz 3 BGB dahingehend beschränken, dass dieser Aufhebungsverträge im Namen des Verbandes nicht oder nur unter Einhaltung einer bestimmten Frist abschließen darf. Die Beschränkung ist jedoch nach außen nur wirksam, wenn sie in der Satzung eindeutig zum Ausdruck kommt6. In diesem Fall ist der Aufhebungsvertrag gemäß § 177 Abs. 1 BGB schwebend unwirksam. Die Mitgliederversammlung als satzungsgebendes Organ bzw. das nach der Satzung zuständige Organ kann dann den Vertrag genehmigen. Das hat zur Folge, dass die Mitgliedschaft rückwirkend im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses beendet ist (§ 184 Abs. 1 BGB)7. Eine in der Schwebephase begründete Tarifbindung bleibt davon jedoch unberührt8.
47
Eine unwirksame Austrittserklärung kann gemäß § 140 BGB in ein Angebot zur Aufhebung der Mitgliedschaft umgedeutet werden9. Denn es ist grundsätzlich davon aus1 BAG v. 18.5.2011 – 4 AZR 457/09, NZA 2011, 1378; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 55; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 146; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 11; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 52; Jacobs/Krois, Anm. AP TVG § 3 Nr. 38; Jacobs/Krois, FS Reuter, S. 555 (561); a.A. ArbG Berlin v. 8.5.2003 – 96 Ca 5296/03, DB 2003, 1518; Plander, NZA 2005, 897 (898 f.); einschränkend auch Konzen, FS Bauer, S. 559 (569). 2 Vgl. Bauer/Haußmann, RdA 2009, 99 (101); Däubler, NZA 1996, 225 (226); Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 52; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 150. 3 Ähnlich Oetker, ZfA 1998, 41 (50 f.). 4 Für die allg. Auffassung vgl. ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 11; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 150; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 55; Oetker, ZfA 1998, 41 (51). 5 Vgl. Oetker, ZfA 1998, 41 (52). 6 Vgl. BAG v. 18.5.2011 – 4 AZR 457/09, NZA 2011, 1378; Jacobs/Krois, Anm. AP TVG § 3 Nr. 38. 7 A.A. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 149. 8 Insoweit übereinstimmend Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 149. 9 BAG v. 20.2.2008 – 4 AZR 64/07, NZA 2008, 946 (948); Bauer/Haußmann, RdA 2009, 99 (101).
578 Hçpfner
Beginn und Ende der Mitgliedschaft
Rz. 49 Teil 6
zugehen, dass das Verbandsmitglied bei Kenntnis der Unwirksamkeit des Austritts den Abschluss eines Aufhebungsvertrags gewollt hätte, durch den sein Interesse an der Beendigung der Mitgliedschaft gleichermaßen gewahrt wird. Dieses Angebot kann anschließend durch das nach der Satzung vertretungsbefugte Organ des Verbandes angenommen werden. Hierfür ist jedoch grundsätzlich ein Rechtsbindungswille des Annehmenden erforderlich. Dieser ist zweifelhaft, wenn das Verbandsorgan den Austritt des Mitglieds in der Annahme von dessen Wirksamkeit lediglich zu Dokumentations- und Beweiszwecken „bestätigt“1 oder „zur Kenntnis nimmt“2. Daher wird man von einer Annahmeerklärung grundsätzlich erst dann ausgehen können, wenn von Seiten des Verbandes neben die bloße Empfangsbestätigung eine inhaltliche Zustimmung zur Beendigung der Mitgliedschaft hinzutritt3. Das ist etwa dann der Fall, wenn der Vorstand erklärt, der Verband habe „die Austrittserklärung erhalten und nimmt sie hiermit an“4. 4. Sonderfall: Blitzaustritt, Blitzaufhebung Nach den dargelegten Grundsätzen ist eine sofortige Beendigung der Mitgliedschaft 48 durch Aufhebungsvertrag und, sofern die Verbandssatzung keine Austrittsfrist vorsieht, durch einseitige Austrittserklärung ohne weiteres zulässig. Da eine Bindung an TVe, die nach Beendigung der Mitgliedschaft abgeschlossen werden, nach § 3 Abs. 1 TVG nicht in Betracht kommt, kann der Arbeitgeber einen sog. „Blitzaustritt“ strategisch nutzen, wenn der Abschluss eines aus seiner Sicht unliebsamen TVs zu erwarten ist. Entsprechendes gilt für eine „Blitzaufhebung“ der Mitgliedschaft im Einvernehmen mit dem Verband. Der 4. Senat des BAG hat die Anforderungen an die Wirksamkeit eines Blitzaustritts 49 in den letzten Jahren deutlich verschärft5. Die vereinsrechtlich an sich zulässige fristlose Beendigung der Mitgliedschaft soll gemäß Art. 9 Abs. 3 Satz 2 BGB i.V.m. § 134 BGB tarifrechtlich unwirksam sein, wenn hierdurch die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie gefährdet werde. Das soll zwar nicht bereits durch die kurzfristige Beendigung der Mitgliedschaft an sich, wohl aber durch fehlende Transparenz des Austritts der Fall sein6. Tarifrechtlich unwirksam ist danach ein kurzfristiger und unvorhersehbarer Wechsel in eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung, der nach Beginn der Tarifverhandlungen, aber noch vor Unterzeichnung des TVs erfolgt, wenn er für die an der Verhandlung beteiligte Gewerkschaft vor dem endgültigen Tarif-
1 Höpfner, ZfA 2009, 541 (557); vgl. auch BAG v. 13.4.1972 – 2 AZR 243/71, AP BGB § 626 Nr. 6 zum „Akzeptieren“ einer Kündigung des Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber. 2 Vgl. zum Austritt aus einer GmbH BGH v. 18.2.2014 – II ZR 174/11, MittBayNot 2015, 420 m. Anm. Höpfner. 3 Höpfner, ZfA 2009, 541 (557 f.); großzügiger aber BAG v. 20.2.2008 – 4 AZR 64/07, NZA 2008, 946 (948). 4 So der Sachverhalt von BAG v. 20.2.2008 – 4 AZR 64/07, NZA 2008, 946; insoweit ist die Entscheidung im Ergebnis zutreffend. 5 BAG v. 20.2.2008 – 4 AZR 64/07, NZA 2008, 946; BAG v. 18.5.2011 – 4 AZR 457/09, NZA 2011, 1378; dem folgend BAG v. 17.2.2010 – 5 AZR 191/09, AP TVG § 1 Tarifverträge: Metallindustrie Nr. 209. 6 BAG v. 20.2.2008 – 4 AZR 64/07, NZA 2008, 946 (949 f.); BAG v. 19.6.2012 – 1 AZR 775/10, NZA 2012, 1372 Rz. 30.
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Teil 6 Rz. 50
Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft
abschluss nicht erkennbar ist und deshalb die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie beeinträchtigt wird1. 50
Dieser Rechtsprechung kann ebenso wenig gefolgt werden wie der entsprechenden tarifrechtlichen Einschränkung des sog. „Blitzwechsels“ in die OT-Mitgliedschaft durch das BAG (vgl. Teil 2 Rz. 173 ff.)2. Es ist nicht einzusehen, weshalb gerade die fehlende Offenlegung des Austritts die Tarifautonomie gefährden soll. Die Reaktionsmöglichkeiten der Gewerkschaft werden hierdurch nicht berührt: Sie kann entscheiden, ob sie Tarifverhandlungen mit dem ausgetretenen Arbeitgeber führen will oder nicht. Vor dieser Entscheidung steht sie aber ebenfalls, wenn sie erst nach Abschluss des VerbandsTVs vom Austritt des Arbeitgebers erfährt. Auf die Mobilisierung der Mitglieder hat die zeitliche Verzögerung keinen Einfluss3. Darüber hinaus besteht stets eine Ungewissheit über den Mitgliederbestand einer Koalition, der aufgrund fristgebundener Austritte jederzeit variabel ist. Entsprechende Informationsdefizite der Sozialpartner sind Tarifverhandlungen immanent. Es gibt keine sachliche Rechtfertigung, dies ausgerechnet beim Blitzaustritt anders zu beurteilen4. Selbst wenn man mit dem BAG eine Informationsobliegenheit annehmen wollte, kann deren Verletzung schließlich mangels Kausalität keine Tarifbindung des wirksam ausgetretenen Mitglieds begründen5.
51
Richtigerweise sind Blitzaustritte während laufender Tarifverhandlungen grundsätzlich wirksam. Die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie wird hierdurch nicht beeinträchtigt. Es gilt vielmehr das Gegenteil: Auf der Grundlage des heute herrschenden privatautonomen Verständnisses der Tarifautonomie nimmt gerade derjenige an dem von Art. 9 Abs. 3 GG geschützten „Wettbewerb der Koalitionen“ teil, der einen Verband aufgrund seiner Unzufriedenheit mit den erzielten Tarifabschlüssen verlässt, um anschließend einem konkurrierenden Verband beizutreten oder sich selbst Verhandlungen mit der Gewerkschaft um einen FirmenTV zu stellen. Nur in ganz engen Ausnahmefällen kommt eine tarifrechtliche Unwirksamkeit gemäß Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG i.V.m. § 134 BGB in Betracht, wenn der gesamte Verband oder eine maßgebende Gruppe von Mitgliedern das Instrument des Blitzaustritts rechtsmissbräuchlich zur gezielten Schädigung der Gegenseite nutzt6. Solche Fälle sind bisher nicht bekannt und kaum zu erwarten.
1 BAG v. 18.5.2011 – 4 AZR 457/09, NZA 2011, 1378; BAG v. 17.2.2010 – 5 AZR 191/09, AP TVG § 1 Tarifverträge: Metallindustrie Nr. 209. 2 Ebenso Bauer, FS Picker, S. 889 (895 ff.); Bauer/Haußmann, RdA 2009, 99 (104 ff.); Franzen, FS Picker, S. 929 (936 ff.); Höpfner, ZfA 2009, 541 (561 ff.); Jacobs/Krois, Anm. AP TVG § 3 Nr. 38; Jacobs/Krois, FS Reuter, S. 555 (566 ff.); Konzen, FS Bauer, S. 559 (565 ff.); Willemsen/ Mehrens, NJW 2009, 1916 (1917 ff.); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 239 ff.; Heinz, Tarifgeltung ohne Mitgliedschaft, passim; dem BAG grds. zustimmend Krause, GS Zachert, S. 605; Kocher/ Sudhof, NZA 2013, 875 (876); Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 204 Rz. 25 f.; Kittner/Zwanziger/ Deinert/Deinert, § 8 Rz. 5. 3 Vgl. Höpfner, ZfA 2009, 541 (564). 4 Vgl. Bauer, FS Picker, S. 889 (899); Bauer/Haußmann, RdA 2009, 99 (104); Franzen, FS Picker, S. 929 (937 f.); Jacobs/Krois, Anm. AP TVG § 3 Nr. 38; Konzen, FS Bauer, S. 559 (574 ff.); Rieble, RdA 2009, 280 (283 f.); Willemsen/Mehrens, NZA 2009, 1916 (1917 f.). 5 Vgl. Franzen, FS Picker, S. 929 (938 f.); Höpfner, ZfA 2009, 541 (567 ff.). 6 Höpfner, ZfA 2009, 541 (565).
580 Hçpfner
Beginn und Ende der Mitgliedschaft
Rz. 55 Teil 6
Nach den allgemeinen Grundsätzen müsste der Arbeitnehmer, der sich auf die tarif- 52 rechtliche Unwirksamkeit eines Blitzaustritts oder Aufhebungsvertrags beruft, im Prozess darlegen und beweisen, dass eine Störung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie vorliegt. Das BAG geht jedoch von einer abgestuften Darlegungs- und Beweislast aus: Der Arbeitnehmer muss zunächst vortragen, dass die TV-Verhandlungen sich im Zeitpunkt des Austritts in einem Stadium befanden, in dem eine Störung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie in Betracht kam. Er muss darüber hinaus darlegen, dass der Austritt des Arbeitgebers für die Gewerkschaft nicht transparent war. Der Arbeitgeber hat anschließend substantiiert darzulegen, aus welchen Umständen sich eine Transparenz des Verhaltens für die Gewerkschaftsseite ergeben habe. Nach einer solchen Darlegung ist es wiederum Aufgabe des Arbeitnehmers, diese Behauptungen im Wege des Beweises zu entkräften1. 5. Ausschluss eines Mitglieds Die Mitgliedschaft kann nicht nur von Seiten des Mitglieds beendet werden. Auch 53 der Verband kann ein Mitgliedschaftsverhältnis kündigen oder Mitglieder ausschließen. Eine Kündigung durch den Verband ist nur möglich, wenn die Verbandssatzung dies ausdrücklich erlaubt2. Die Satzung darf ein Kündigungsrecht ohne sachlichen Grund nur vorsehen, wenn der Verband keinem Aufnahmezwang unterliegt3. Bei Tarifverbänden, die in ihrem Zuständigkeitsbereich eine Monopol- oder monopolähnliche Stellung hinsichtlich der Vertretung von Arbeitnehmern oder Unternehmen innehaben (vgl. Rz. 27), ist ein ordentliches Kündigungsrecht daher unzulässig4. Auch bei Monopol- oder monopolähnlichen Verbänden zulässig ist dagegen ein 54 grundsätzlich fristloser Ausschluss aus wichtigem Grund5. Nach § 314 BGB gilt dies auch dann, wenn die Satzung kein Ausschlussrecht vorsieht6. Der Verbandsausschluss ist ein einseitiges Rechtsgeschäft, das auf die Beendigung der Mitgliedschaft gerichtet ist und mit Zugang der Ausschlusserklärung an das Mitglied wirksam wird. In der Sache handelt es sich dabei um eine außerordentliche fristlose Kündigung der Mitgliedschaft7. Der wirksame Ausschluss hat zur Folge, dass an die Stelle der Tarifbindung des Mitglieds gemäß § 3 Abs. 1 TVG die Nachbindung gemäß § 3 Abs. 3 TVG tritt, bis der TV endet8. Der Ausschluss setzt einen wichtigen Grund voraus, der die Fortsetzung des Mitgliedschaftsverhältnisses nach Abwägung der beiderseitigen Interessen im konkreten 1 BAG v. 18.5.2011 – 4 AZR 457/09, NZA 2011, 1378; ebenso zum Blitzaustritt BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1373); abweichend Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 238. 2 Vgl. Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, Rz. 1124. 3 BGH v. 9.6.1997 – II ZR 303/95, NJW 1997, 3368 (3370); Grunewald, Ausschluß aus Gesellschaft und Verein, S. 228; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 25 Rz. 75; Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, Rz. 2948. 4 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 154; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 245; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 448. 5 BGH v. 28.9.1972 – II ZR 5/70, NJW 1973, 35 (36) zum Ausschluss eines NPD-Mitglieds aus der Gewerkschaft. 6 Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, Rz. 2958, 2969; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 156; unzutreffend Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 56. 7 Vgl. auch Säcker/Rancke, AuR 1981, 1 (3). 8 BAG v. 6.10.1994 – 6 AZR 324/94, NZA 1995, 1057 (1058).
Hçpfner 581
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Teil 6 Rz. 56
Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft
Einzelfall für den Verband unzumutbar macht1. Ein Verschulden des Mitglieds ist keine notwendige Voraussetzung für einen Ausschluss2, aber bei der Interessenabwägung zu Lasten des Mitglieds zu berücksichtigen. Die Beendigung der Mitgliedschaft muss das äußerste und letzte Mittel sein3. Aufgrund der verbandsrechtlichen Treuepflicht kommt sie nicht in Betracht, wenn andere gangbare Wege zur Beseitigung des Missstandes (insb. eine Abmahnung)4 vorhanden sind5. 56
Der wichtige Grund, auf den der Verband den Ausschluss stützt, muss im Ausschließungsbeschluss bezeichnet werden6. Tatsachen, die im Ausschlussverfahren nicht festgestellt worden sind, können in einem anschließenden gerichtlichen Verfahren nicht nachgeschoben werden7. Zählt die Satzung enumerativ bestimmte Ausschließungstatbestände auf, so ist ein Ausschluss aus einem nicht genannten Grund grundsätzlich nicht möglich8. Als Gründe für den Ausschluss aus einer Gewerkschaft hat die Rechtsprechung anerkannt9: Mitgliedschaft in einer gewerkschaftsfeindlichen Partei10 oder einer undemokratischen Vereinigung11, grob illoyales Verhalten gegenüber der Gewerkschaft, Streikbrecherarbeit12, Bekämpfung des Wahlvorschlags des zuständigen Gewerkschaftsorgans13, Kandidatur zum Betriebsrat auf einer gewerkschaftsfremden (nicht notwendig gewerkschaftsfeindlichen) konkurrierenden Liste14. Nicht ausreichend ist dagegen bloße innerverbandliche Kritik15.
57
Die gerichtliche Überprüfung des Ausschlusses ist wie bei sonstigen Vereinsstrafen auch nur eingeschränkt möglich. Sie erschöpft sich neben einer unbeschränkten Tatsachenermittlung16 grundsätzlich in einer Willkürkontrolle17. Etwas anderes gilt je1 Vgl. BGH v. 3.3.1971 – KZR 5/70, NJW 1971, 879 (880); OLG Frankfurt v. 19.12.1990 – 7 U 155/90, NJW-RR 1991, 1276; Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, Rz. 2970. 2 Vgl. BGH v. 26.2.1959 – II ZR 137/57, NJW 1959, 982 (983); BGH v. 13.7.1972 – II ZR 55/70, NJW 1972, 1892; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 25 Rz. 78; anders für den Ausschluss wegen „Schädigung“ des Verbandes, vgl. RG v. 25.6.1935 – II 264/34, RGZ 148, 225 (233 f.); Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, Rz. 2964. 3 Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, Rz. 2989. 4 LG Leipzig v. 23.20.2001 – 5 (O) 7294/01, NZG 2002, 434. 5 BGH v. 17.2.1955 – II ZR 316/53, NJW 1955, 667; OLG Frankfurt v. 22.8.2001 – 23 U 177/00, NZA-RR 2002, 531 (535); Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, Rz. 2989. 6 BGH v. 10.7.1989 – II ZR 30/89, NJW 1990, 40 (41). 7 BGH v. 13.6.1966 – II ZR 130/64, NJW 1966, 1751; BGH v. 19.10.1987 – II ZR 43/87, NJW 1988, 552 (554). 8 Vgl. BayObLG v. 23.12.1986 – BReg 3 Z 126/86, BayObLGZ 1986, 528 (535); Reichert, Vereinsund Verbandsrecht, Rz. 2961. 9 Vgl. BeckOK-BGB/Schöpflin, § 25 Rz. 80; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 249; zu möglichen Ausschlussgründen auf Arbeitgeberseite vgl. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 156. 10 BGH v. 28.9.1972 – II ZR 5/70, NJW 1973, 35 (36); BGH v. 15.10.1990 – II ZR 255/89, NJW 1991, 485; BGH v. 4.3.1991 – II ZR 90/90, NJW-RR 1991, 888 (889); BGH v. 27.9.1993 – II ZR 25/93, NJW 1994, 43 (44). 11 OLG Düsseldorf v. 18.5.1994 – 7 W 14/94, NJW-RR 1994, 1402 (1403). 12 Vgl. BGH v. 19.1.1978 – II ZR 192/76, NJW 1978, 990 (992). 13 BGH v. 25.3.1991 – II ZR 170/90, NJW-RR 1992, 246 (247 f.). 14 Vgl. BVerfG v. 24.2.1999 – 1 BvR 123/93, NJW 1999, 2657; BGH v. 25.3.1991 – II ZR 170/90, NJW-RR 1992, 246 (247); anders noch BGH v. 19.10.1987 – II ZR 43/87, NJW 1988, 552 (555); krit. zur neueren Rechtsprechung Gaumann, NJW 2002, 2155. 15 HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 12. 16 Vgl. OLG Hamm v. 25.4.2001 – 8 U 139/00, NJW-RR 2001, 1480 (1481). 17 BGH v. 30.5.1983 – II ZR 138/82, NJW 1984, 918 (919).
582 Hçpfner
Beginn und Ende der Mitgliedschaft
Rz. 59 Teil 6
doch für (Tarif-)Verbände mit Monopol- oder monopolähnlicher Stellung. In diesem Fall haben die Gerichte in vollem Maße nachzuprüfen, ob der Ausschluss durch sachliche Gründe gerechtfertigt und somit nicht unbillig ist1. Dabei ist zwar der Vereinigung in Anerkennung ihrer Autonomie zur Wert- und Zielsetzung ein Beurteilungsspielraum zuzubilligen. Das Gericht kann daher nicht ohne weiteres seine eigene Überzeugung und Wertmaßstäbe an die Stelle derjenigen des Verbandes setzen. Da ein Ausschluss aber umso eher unbillig sein wird, je wichtiger für den Betroffenen die Mitgliedschaft ist, sind diesem Beurteilungs- und Ermessensspielraum enge Grenzen gesetzt2. Darüber hinaus kann die Satzung vorsehen, dass das „Streichen“ eines Mitglieds aus 58 der Liste der Mitglieder als Beendigung der Mitgliedschaft gilt (sog. „vereinfachtes Ausschließungsverfahren“)3. Dazu ist es erforderlich, dass die Satzung den Grund für die Streichung klar und eindeutig benennt4, so etwa § 8 Nr. 2 Abs. 1 der Satzung der IG Metall5: „Mitglieder, die eine Stundung ihrer Beiträge nicht beantragt haben und mit ihren Beiträgen maximal drei Monate nach Fälligkeit im Rückstand sind, können nach erfolgloser Aufforderung … als Mitglied gestrichen werden.“ Schließlich kann die Satzung Umstände regeln, die zur automatischen Beendigung 59 der Mitgliedschaft führen, ohne dass es dazu einer gesonderten Erklärung bedarf6. Rechtsdogmatisch handelt es sich dabei um eine auflösende Bedingung der Mitgliedschaft7. Die entsprechenden Sachverhalte müssen ebenfalls in der Satzung klar und auch für Nichtjuristen verständlich geregelt sein8, etwa die Nichtzahlung eines Beitrags, der Verzug mit der Beitragszahlung9 oder der „Übertritt in eine andere DGB-Gewerkschaft“10. Fallen bei einem Verbandsmitglied die Voraussetzungen der Mitgliedschaft weg, so führt dies nicht automatisch, sondern nur dann zur Beendigung der Mitgliedschaft, wenn dies in der Satzung ausdrücklich bestimmt ist11. So bleibt etwa ein Arbeitgeber nach einem Branchenwechsel grundsätzlich weiterhin Mitglied im für die bisherige Branche zuständigen Arbeitgeberverband, auch wenn er die Voraus-
1 BGH v. 19.10.1987 – II ZR 43/87, NJW 1988, 552 (555); OLG Frankfurt v. 22.8.2001 – 23 U 177/00, NZA-RR 2002, 531 (533); Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 245; a.A. Säcker/Rancke, AuR 1981, 1 (11 ff.). 2 BGH v. 19.10.1987 – II ZR 43/87, NJW 1988, 552 (555); OLG Frankfurt v. 22.8.2001 – 23 U 177/00, NZA-RR 2002, 531 (533); ebenso schon BGH v. 10.12.1984, NJW 1985, 1216 (1217) zur Aufnahmeentscheidung des Verbandes. 3 Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, Rz. 1127. 4 Vgl. Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, Rz. 1128. 5 Aktuelle Fassung v. 22.10.2015. 6 Vgl. Grunewald, Ausschluß aus Gesellschaft und Verein, S. 202; BeckOK-BGB/Schöpflin, § 25 Rz. 76; Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, Rz. 2953 ff. 7 Vgl. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 157 ff. 8 Reichert, Vereins- und Verbandsrecht, Rz. 2953; vgl. auch OLG Celle v. 13.6.1988 – 1 U 13/88, NJW-RR 1989, 313 (314 f.). 9 Vgl. BeckOK-BGB/Schöpflin, § 25 Rz. 76 m.w.N. 10 So § 11 Nr. 1 lit. b der Satzung von ver.di v. 29./30.10.2006. Präziser müsste vom „Eintritt“ die Rede sein, da ein „Übertritt“ per definitionem bereits den Austritt aus der bisherigen Gewerkschaft enthält. In der aktuellen Satzung vom 26.9.2015 ist diese Regelung nicht mehr enthalten. 11 OLG Oldenburg v. 18.12.2008 – 8 U 182/08, OLGR 2009, 612 = NZG 2009, 917 (Ls.).
Hçpfner 583
Teil 6 Rz. 60
Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft
setzungen an eine (Neu-)Mitgliedschaft nicht mehr erfüllt1. Da jedoch die Tarifzuständigkeit des Verbandes regelmäßig mit den satzungsgemäßen Anforderungen an die Mitgliedschaft korrespondiert2, wächst das Mitglied durch den Branchenwechsel aus der Tarifzuständigkeit des Verbandes und damit auch aus dem maximalen Geltungsbereich der VerbandsTVe heraus, so dass die Tarifbindung des Mitglieds ohne Nachbindung endet3. 6. Weitere Beendigungsgründe 60
Weitere Gründe, die zur Beendigung der Verbandsmitgliedschaft führen, sind der Tod des Mitglieds (§ 38 Satz 1 BGB) und die Vollbeendigung der juristischen Person bzw. der rechtsfähigen Personengesellschaft. Die Auflösungsbeschluss oder die Insolvenz des Mitglieds beenden die Mitgliedschaft dagegen grundsätzlich nicht4. Die Satzung kann aber die Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder der Liquidation als auflösende Bedingung der Mitgliedschaft vorsehen5. Gemäß § 38 Satz 1 BGB ist die Mitgliedschaft nicht übertragbar, sofern die Satzung keine anderweitige Regelung trifft. Das gilt für jede Form der Rechtsnachfolge, auch wenn sie im Wege der Umwandlung6 oder kraft Gesetzes7 erfolgt. Die Mitgliedschaft muss vielmehr von der Nachfolgegesellschaft neu erworben werden8. Schließlich führt die Vollbeendigung des Verbandes zur Beendigung sämtlicher Mitgliedschaftsverhältnisse (zur Verbandsauflösung näher Teil 2 Rz. 18 ff.), während bei einer Verschmelzung des Verbandes gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 3 UmwG bzw. § 36 Abs. 1 UmwG eine Sukzession der Mitgliedschaften erfolgt (vgl. Rz. 32)9.
C. Nachbindung an Tarifverträge gemäß § 3 Abs. 3 TVG 61
Im System des deutschen Tarifrechts ist die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers oder Arbeitnehmers grundsätzlich an die Mitgliedschaft in einer TV-Partei geknüpft. § 3 Abs. 1 TVG trägt dem Grundsatz Rechnung, „dass der Staat seine Normsetzungsbefugnis nicht in beliebigem Umfang außerstaatlichen Stellen überlassen und den Bürger nicht schrankenlos der normsetzenden Gewalt autonomer Gremien ausliefern darf, die ihm gegenüber nicht demokratisch bzw. mitgliedschaftlich legitimiert sind“10. Eine mitgliedschaftlich legitimierte Tarifbindung endet daher grundsätzlich im Zeitpunkt der Beendigung der Verbandsmitgliedschaft. Zu dieser Grundregel
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So wohl auch Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 268. Vgl. HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 44; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 77. Vgl. Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 257; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 43. Vgl. BAG v. 28.1.1987 – 4 AZR 150/86, NZA 1987, 455; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 160. Mückl/Krings, BB 2012, 769 (771); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 13; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 160. Vgl. BAG v. 4.12.1974 – 5 AZR 75/74, AP TVG § 3 Nr. 2; AG Kaiserslautern v. 3.9.2004 – 3 C 915/04, NZA-RR 2005, 319 (320); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 164; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 14; Thüsing/Braun/Braun, 6. Kap. Rz. 26. OLG Hamm v. 6.9.2010 – 8 U 8/10, NZG 2033, 35 (36); BeckOK-BGB/Schöpflin, § 38 Rz. 32. BAG v. 10.11.1993 – 4 AZR 375/92, NZA 1994, 948. BeckOK-BGB/Schöpflin, § 38 Rz. 9; ausführlich Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 171. BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, NJW 1977, 2255 (2258).
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Teil 6 Rz. 60
Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft
setzungen an eine (Neu-)Mitgliedschaft nicht mehr erfüllt1. Da jedoch die Tarifzuständigkeit des Verbandes regelmäßig mit den satzungsgemäßen Anforderungen an die Mitgliedschaft korrespondiert2, wächst das Mitglied durch den Branchenwechsel aus der Tarifzuständigkeit des Verbandes und damit auch aus dem maximalen Geltungsbereich der VerbandsTVe heraus, so dass die Tarifbindung des Mitglieds ohne Nachbindung endet3. 6. Weitere Beendigungsgründe 60
Weitere Gründe, die zur Beendigung der Verbandsmitgliedschaft führen, sind der Tod des Mitglieds (§ 38 Satz 1 BGB) und die Vollbeendigung der juristischen Person bzw. der rechtsfähigen Personengesellschaft. Die Auflösungsbeschluss oder die Insolvenz des Mitglieds beenden die Mitgliedschaft dagegen grundsätzlich nicht4. Die Satzung kann aber die Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder der Liquidation als auflösende Bedingung der Mitgliedschaft vorsehen5. Gemäß § 38 Satz 1 BGB ist die Mitgliedschaft nicht übertragbar, sofern die Satzung keine anderweitige Regelung trifft. Das gilt für jede Form der Rechtsnachfolge, auch wenn sie im Wege der Umwandlung6 oder kraft Gesetzes7 erfolgt. Die Mitgliedschaft muss vielmehr von der Nachfolgegesellschaft neu erworben werden8. Schließlich führt die Vollbeendigung des Verbandes zur Beendigung sämtlicher Mitgliedschaftsverhältnisse (zur Verbandsauflösung näher Teil 2 Rz. 18 ff.), während bei einer Verschmelzung des Verbandes gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 3 UmwG bzw. § 36 Abs. 1 UmwG eine Sukzession der Mitgliedschaften erfolgt (vgl. Rz. 32)9.
C. Nachbindung an Tarifverträge gemäß § 3 Abs. 3 TVG 61
Im System des deutschen Tarifrechts ist die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers oder Arbeitnehmers grundsätzlich an die Mitgliedschaft in einer TV-Partei geknüpft. § 3 Abs. 1 TVG trägt dem Grundsatz Rechnung, „dass der Staat seine Normsetzungsbefugnis nicht in beliebigem Umfang außerstaatlichen Stellen überlassen und den Bürger nicht schrankenlos der normsetzenden Gewalt autonomer Gremien ausliefern darf, die ihm gegenüber nicht demokratisch bzw. mitgliedschaftlich legitimiert sind“10. Eine mitgliedschaftlich legitimierte Tarifbindung endet daher grundsätzlich im Zeitpunkt der Beendigung der Verbandsmitgliedschaft. Zu dieser Grundregel
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So wohl auch Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 268. Vgl. HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 44; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 77. Vgl. Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 257; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 43. Vgl. BAG v. 28.1.1987 – 4 AZR 150/86, NZA 1987, 455; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 160. Mückl/Krings, BB 2012, 769 (771); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 13; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 160. Vgl. BAG v. 4.12.1974 – 5 AZR 75/74, AP TVG § 3 Nr. 2; AG Kaiserslautern v. 3.9.2004 – 3 C 915/04, NZA-RR 2005, 319 (320); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 164; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 14; Thüsing/Braun/Braun, 6. Kap. Rz. 26. OLG Hamm v. 6.9.2010 – 8 U 8/10, NZG 2033, 35 (36); BeckOK-BGB/Schöpflin, § 38 Rz. 32. BAG v. 10.11.1993 – 4 AZR 375/92, NZA 1994, 948. BeckOK-BGB/Schöpflin, § 38 Rz. 9; ausführlich Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 171. BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, NJW 1977, 2255 (2258).
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Nachbindung an Tarifvertrge gemß § 3 Abs. 3 TVG
Rz. 64 Teil 6
stellt § 3 Abs. 3 TVG jedoch eine wichtige Ausnahme dar. Danach bleibt die Tarifgebundenheit trotz Beendigung der Mitgliedschaft solange fortbestehen, bis der TV endet.
I. Zweck, Legitimation und Verfassungsmäßigkeit Die sog. „Fortwirkung“ von Tarifnormen oder „Nachbindung“ an TVe hat den Zweck, 62 eine „Flucht aus dem TV“ zu verhindern1. Der Arbeitgeber oder (in seltenen Fällen) der Arbeitnehmer soll sich seiner kraft Verbandsmitgliedschaft erworbenen Tarifbindung nicht ohne weiteres durch Austritt entziehen können. Anderenfalls wäre die ordnende Wirkung von TVen erheblich gefährdet2, und den Verbänden wäre es kaum möglich, dem TV-Partner die Durchsetzung des TVs für dessen Laufzeit zuzusagen3. § 3 Abs. 3 TVG schützt also die Erhaltung der Tariftreue der Verbandsmitglieder, die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie und zugleich den Bestand und die Kontinuität der Verbände4. § 3 Abs. 3 TVG ordnet konstitutiv die Fortwirkung der Tarifnormen an, indem der 63 Fortbestand der Verbandsmitgliedschaft fingiert wird. Dogmatisch handelt es sich bei der Nachbindung um eine spezialgesetzliche Ausprägung des Verbots des Rechtsmissbrauchs, wobei auf subjektive Anforderungen verzichtet wird5. Der Gesetzgeber ging davon aus, dass die Mitglieder der TV-Parteien während der Laufzeit des TVs ihre „Tarifvertragstreue“ zu wahren haben6. Der vorzeitige Austritt vor Beendigung des TVs wird zwar nicht unmittelbar sanktioniert. Seine verbandsrechtliche Zulässigkeit bleibt unberührt. Das Gesetz nimmt ihm aber die tarifrechtliche Wirkung und schließt so „alle Manipulationen“7 der Tarifgebundenheit aus. Obwohl § 3 Abs. 3 TVG eine Tarifbindung ohne Mitgliedschaft begründet, lässt sich 64 auch die Nachbindung an TVe im Grundsatz privatautonom erklären8. Die mitgliedschaftliche Legitimation des Verbandes zum Abschluss von TVen mit unmittelbarer und zwingender Wirkung für seine Mitglieder folgt aus der Beitrittserklärung des betreffenden Mitglieds9. Sie umfasst auch die von den TV-Parteien vereinbarten Lauf-
1 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 (485); BAG v. 17.5.2000 – 4 AZR 363/99, NZA 2001, 453 (456); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 228; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 41; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 79. 2 Vgl. Lieb, NZA 1994, 337. 3 Vgl. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 228. 4 Vgl. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 228; Herschel, ZfA 1973, 183 (192); Höpfner, NJW 2010, 2173 (2174). 5 Höpfner, NJW 2010, 2173 (2174); ähnlich Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 60. 6 Vgl. den Bericht des Abg. Richter über die 24. Vollversammlung des Wirtschaftsrats des Vereinigten Wirtschaftsgebietes, in: ZfA 1973, 129 (160). 7 Herschel, ZfA 1973, 183 (192). 8 Vgl. BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (58); Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1231 ff.; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 226; Henssler, FS Picker, S. 987 (1003 f.); Heinz, Tarifgeltung ohne Mitgliedschaft, S. 87 ff.; Höpfner, Tarifgeltung, S. 389 ff.; a.A. Bayreuther, Tarifautonomie, S. 224 ff.; Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 48; Waltermann, ZfA 2000, 53 (76). 9 Henssler, FS Picker, S. 987 (1003); a.A. Bayreuther, Tarifautonomie, S. 225.
Hçpfner 585
Teil 6 Rz. 65
Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft
zeiten und Kündigungsfristen der TVe1. Das Mitglied kann dem Verband diese Ermächtigung zwar jederzeit unter Beachtung der satzungsmäßigen Austrittsfristen wieder entziehen. Das gilt jedoch stets erst ab dem Zeitpunkt der Beendigung der Mitgliedschaft. Die durch die bestehende Mitgliedschaft vermittelte Legitimation zum Tarifabschluss kann nicht rückwirkend durch Austritt entzogen werden2. 65
Die mitgliedschaftliche Legitimation des Verbandes ist jedoch nicht unbeschränkt. Ihre Grenzen ergeben sich aus der Auslegung der Beitrittserklärung. Es wäre lebensfremd, dem Verbandsmitglied den Willen zu unterstellen, sich bei seinem Beitritt den vom Verband geschlossenen TVen für alle Zeiten unterwerfen zu wollen, ohne selbst eine Beendigungsmöglichkeit zu haben3. Unter diesem Gesichtspunkt ist eine Nachbindung an von vornherein befristete EntgeltTVe in der Regel legitimatorisch nicht zu beanstanden. Eine „Ewigkeitsbindung“ des ausgetretenen Mitglieds an unbefristete MantelTVe lässt sich dagegen mit der früheren Verbandsmitgliedschaft nicht rechtfertigen. Insoweit beruht die Tarifbindung allein auf der gesetzlichen Anordnung des § 3 Abs. 3 TVG.
66
Aus verfassungsrechtlicher Sicht bestehen gegen die Nachbindung an sich keine Bedenken4. Sie ist ein notwendiges Instrument, um die Gestaltungsfunktion von TVen und somit die Funktionsfähigkeit des Tarifsystems zu gewährleisten. Da die Nachbindung auf der freiwilligen Entscheidung des Arbeitgebers oder Arbeitnehmers beruht, einem Tarifverband beizutreten und sich den von diesem abgeschlossenen TVen zu unterwerfen, liegt kein unzulässiger Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit vor. Etwas anderes gilt jedoch für eine zeitlich unbegrenzte Nachbindung an unbefristete TVe ohne mitgliedschaftliche Legitimationsgrundlage, die als faktische Beitrittshürde gar zu einer Schwächung des Tarifsystems führt5. In seinem Beschluss zur Verfassungsmäßigkeit der Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG hat das BVerfG einen unzulässigen Zwang oder Druck auf den Arbeitgeber, im Verband zu verbleiben, mit dem Argument abgelehnt, dieser habe es selbst in der Hand, die Nachwirkung durch eine andere Abmachung mit dem Arbeitnehmer zu beenden6. Legt man dieses Kriterium zugrunde, so hält eine zeitlich unbegrenzte Nachbindung einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand, da § 3 Abs. 3 TVG gerade keine abweichende arbeitsvertragliche Regelung zulässt. Zu den erforderlichen zeitlichen Einschränkungen der Nachbindung vgl. Rz. 86 ff.
1 BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (58); Büdenbender, NZA 2000, 509 (516 f.). 2 Büdenbender, NZA 2000, 509 (516 f.); Höpfner, NJW 2010, 2173 (2174 f.). 3 Henssler, FS Picker, S. 987 (1004); Höpfner, NJW 2010, 2173 (2175); Lobinger, JZ 2013, 915 (917). 4 Vgl. BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (57 ff.); BAG v. 4.8.1993 – 4 AZR 499/92, NZA 1994, 34 (35); Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 61; Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 48; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 82; Bayreuther, Tarifautonomie, S. 726 ff.; Heinz, Tarifgeltung ohne Mitgliedschaft, S. 95, 97; Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 153; Lieb, NZA 1994, 337; Willemsen/Mehrens, NZA 2010, 307 (308); grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedenken dagegen bei Reuter, ZfA 1995, 1 (40). 5 Vgl. Henssler, FS Picker, S. 987 (1004 ff.); Höpfner, NJW 2010, 2173 (2175 f.); Löwisch, JZ 1996, 812 (821). 6 BVerfG v. 3.7.2000 – 1 BvR 945/00, NZA 2000, 947 (948); großzügiger dagegen noch BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, NJW 1977, 2255 zu § 5 TVG.
586 Hçpfner
Nachbindung an Tarifvertrge gemß § 3 Abs. 3 TVG
Rz. 70 Teil 6
II. Voraussetzungen Voraussetzung der gemäß § 3 Abs. 3 TVG verlängerten Tarifgebundenheit des Arbeit- 67 gebers oder Arbeitnehmers ist, dass dieser zu einem beliebigen Zeitpunkt während der Laufzeit, also zwischen Inkrafttreten und Beendigung des TVs, Mitglied im jeweiligen Verband war. Entsprechend dem Zweck, eine Tarifflucht durch Verbandsaustritt zu vermeiden, fingiert § 3 Abs. 3 TVG allein den Fortbestand der Verbandsmitgliedschaft1. Die Nachbindung tritt somit nur ein, wenn alle übrigen Voraussetzungen der Tarifgebundenheit erfüllt sind. Die Voraussetzungen sind im Einzelnen: 1. Mitgliedschaft im Verband Zunächst muss die Arbeitsvertragspartei, deren Verbandsmitgliedschaft fingiert wer- 68 den soll, im Zeitpunkt des Inkrafttretens des fortgeltenden TVs oder zu einem beliebigen späteren Zeitpunkt während der Laufzeit des TVs tatsächlich Mitglied im tarifschließenden Verband gewesen sein2. Dies setzt einen wirksamen Beitritt voraus, der den Verband zum Abschluss von TVen legitimiert. Im Fall eines anfechtbaren oder nichtigen Aufnahmevertrags wird die Mitgliedschaft nach der Lehre vom fehlerhaften Verband bis zur Anfechtung oder zur Geltendmachung des Nichtigkeitsgrundes fingiert (vgl. aber Rz. 70). Bei einem Austritt nach Abschluss, aber noch vor Inkrafttreten eines TVs ist § 3 Abs. 3 TVG nicht anwendbar3. 2. Beendigung der Mitgliedschaft § 3 Abs. 3 TVG setzt voraus, dass die Mitgliedschaft nach Inkrafttreten des fortgelten- 69 den TVs beendet wird. Auf den Beendigungsgrund kommt es dabei grundsätzlich nicht an. Der in der Praxis wichtigste Fall der Nachbindung ist der Verbandsaustritt. Sie tritt aber auch ein, wenn das Mitglied aus dem Verband ausgeschlossen wird oder wenn die Parteien die Mitgliedschaft durch Aufhebungsvertrag einvernehmlich beenden4. Der Wechsel eines Vollmitglieds in die OT- oder Gast-Mitgliedschaft wird ebenfalls von § 3 Abs. 3 TVG erfasst5, da hierdurch die tarifrechtliche Mitgliedschaft beendet wird (vgl. Teil 2 Rz. 172). Demgegenüber kommt eine Nachbindung nicht in Betracht, wenn ein Mitglied einen 70 Beitrittsmangel geltend macht und so die fehlerhafte Mitgliedschaft beendet. Denn weder die Lehre vom fehlerhaften Verbandsbeitritt noch der Normzweck des § 3 Abs. 3 TVG verlangen eine Fortgeltung der Tarifnormen für die Zukunft über den Zeitpunkt der Anfechtung hinaus (vgl. Rz. 30).
1 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 (486); Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 68. 2 HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 42; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 66. 3 I.E. zutreffend Hanau, NZA 2012, 825 (828), allerdings mit unzutreffendem Rekurs auf BAG v. 16.5.2012 – 4 AZR 321/10, NZA 2012, 923 Rz. 19 ff. Diese Entscheidung betraf die Transformation eines TVs nach Betriebsübergang gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB; dazu Höpfner, Tarifgeltung, S. 442; Rieble, AP BGB § 613a Nr. 431. 4 Vgl. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 247; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 64. 5 BAG v. 25.2.2009 – 4 AZR 986/07, AP TVG § 3 Nr. 40.
Hçpfner 587
Teil 6 Rz. 71
Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft
71
§ 3 Abs. 3 TVG begründet keine neue Tarifgebundenheit, sondern fingiert lediglich den Fortbestand der Verbandsmitgliedschaft1. Die Vorschrift ist daher nicht anwendbar, wenn die Mitgliedschaft im Verband durch Tod der natürlichen Person oder durch Untergang des Rechtsträgers (infolge der Vollbeendigung oder Umwandlung) beendet wird2. Die Auswirkungen einer Umwandlung auf die Tarifbindung des Arbeitgebers richten sich nach § 324 UmwG i.V.m. § 613a Abs. 1 Sätze 2–4 BGB3.
72
Schließlich gilt § 3 Abs. 3 TVG im Fall der Verbandsauflösung entgegen der Auffassung des BAG weder direkt noch analog4. Es ist vielmehr zu differenzieren (vgl. Teil 2 Rz. 18 ff.): Sofern mit dem Auflösungsbeschluss ein Liquidationsverfahren stattfindet, bleibt die Tarifbindung davon unberührt. Der Verband in Liquidation ist weiterhin gemäß § 3 Abs. 1 TVG tarifgebunden. Mit Vollbeendigung erlischt der Verband als Rechtsträger, so dass die Tarifbindung der (ehemaligen) Mitglieder ohne Nachbindung endet. Stattdessen schließt sich direkt die Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG an5. 3. Sonstige Voraussetzungen der Tarifgebundenheit
73
§ 3 Abs. 3 TVG hilft allein über die fehlende Verbandsmitgliedschaft hinweg. Eine Fortwirkung der Tarifnormen setzt voraus, dass daneben die allgemeinen Voraussetzungen der Tarifgebundenheit vorliegen. So kommt eine Nachbindung nicht in Betracht, wenn der Arbeitgeber aus dem Geltungsbereich des TVs oder aus der Tarifzuständigkeit des Arbeitgeberverbandes hinauswächst6. In diesen Fällen gilt unmittelbar die allgemeine Auffangregelung des § 4 Abs. 5 TVG.
74
Für die unmittelbare und zwingende Wirkung von Tarifnormen ist gemäß § 4 Abs. 1 TVG die beiderseitige Tarifgebundenheit von Arbeitgeber und Arbeitnehmer erforderlich. Eine Fortwirkung der Tarifnormen gemäß § 3 Abs. 3 TVG findet in der Regel statt, wenn eine der Arbeitsvertragsparteien Mitglied in der entsprechenden Vereinigung und die andere aus dem Verband ausgetreten ist. Sie tritt aber auch dann ein, wenn eine Arbeitsvertragspartei erst während des Fortwirkungszeitraums dem tarifschließenden Verband beitritt7 oder wenn das Arbeitsverhältnis mit einer verbandsangehörigen Partei erst im Fortwirkungszeitraum begründet wird8. § 3 Abs. 3 TVG
1 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 65. 2 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 24; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 249; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 65. 3 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 24; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 48; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 249. 4 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 24; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 251; a.A. und in sich widersprüchlich BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 312/01, NZA 2008, 771 (Rz. 12 einerseits, Rz. 27 andererseits); krit. dazu Höpfner, Anm. AP TVG § 3 Nr. 36. 5 Bergerhoff, Tarifflucht, S. 183; Höpfner, Anm. AP TVG § 3 Nr. 36. 6 BAG v. 26.9.1979 – 4 AZR 819/77, NJW 1980, 1591; BAG v. 14.6.1994 – 9 AZR 89/93, NJW 1995, 178 (179); BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 (486); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 43; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 68, 70 m.w.N. 7 BAG v. 6.7.2011 – 4 AZR 424/09, NZA 2012, 281 (284); BAG v. 4.8.1993 – 4 AZR 499/92, NZA 1994, 34 (35); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 225; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 84. 8 BAG v. 7.11.2001 – 4 AZR 703/00, NZA 2002, 748 (749); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 42; Oetker, in: Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 6 Rz. 59.
588 Hçpfner
Nachbindung an Tarifvertrge gemß § 3 Abs. 3 TVG
Rz. 77 Teil 6
setzt nicht voraus, dass eine beiderseitige Tarifgebundenheit bereits bei Beendigung der Mitgliedschaft bestanden hat1. Schließlich wirken die Tarifnormen nach dem Wortlaut des § 3 Abs. 3 TVG auch 75 dann unmittelbar und zwingend, wenn beide Parteien während der Laufzeit des TVs aus dem jeweiligen Verband austreten2. Vor dem Hintergrund des Normzwecks erscheint das zweifelhaft. Bei einer beiderseitigen Beendigung der Mitgliedschaft in den tarifschließenden Verbänden kann von einer „Tarifflucht“ keine Rede sein. Der Arbeitnehmer gibt durch seinen freiwilligen Gewerkschaftsaustritt zu erkennen, dass er eines besonderen Schutzes vor Rechtsmissbrauch nicht bedarf. Damit entfällt die Legitimation der zwingenden Normwirkung im Fortwirkungszeitraum. Auch die Ordnungswirkung des TVs ist durch diesen Ausnahmefall nicht in Frage gestellt. Schließlich verlangt auch die Einordnung der Verbandsmitgliedschaft als „Optionsrecht“ für die Gegenseite, die normative Tarifwirkung durch Verbandsbeitritt zu begründen3, keine Nachbindung beim Verbandsaustritt beider Parteien, da die zuletzt austretende Partei durch die Beendigung der Mitgliedschaft von ihrem Optionsrecht abschließend Gebrauch gemacht hat. Es spricht daher vieles für eine teleologische Reduktion des § 3 Abs. 3 TVG dahingehend, dass die Vorschrift auf den Fall des beiderseitigen Verbandsaustritts nicht anzuwenden ist. Stattdessen tritt unmittelbar die Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG ein mit der Folge, dass eine arbeitsvertragliche Abweichung vom TV zulässig ist.
III. Rechtsfolge Rechtsfolge des § 3 Abs. 3 TVG ist die Fortwirkung der Tarifnormen infolge der fin- 76 gierten Verbandsmitgliedschaft bzw. aus Sicht des ehemaligen Verbandsmitglieds der Fortbestand der Tarifgebundenheit. Da § 3 Abs. 3 TVG lediglich zu einer zeitlichen Verlängerung der ursprünglichen Tarifgebundenheit führt, wirken die Tarifnormen für die beiderseits Tarifgebundenen gemäß § 4 Abs. 1 TVG im Fortwirkungszeitraum unmittelbar und zwingend4. Die Fortwirkung betrifft zunächst den normativen Teil des TVs. Umstritten ist, ob 77 auch der schuldrechtliche Teil von § 3 Abs. 3 TVG erfasst wird5. Praktisch relevant ist dies vor allem bei der Frage, ob die TV-Parteien nach Beendigung des TVs weiterhin der Friedenspflicht aus dem fortwirkenden TV unterliegen6. Nach dem Wortlaut 1 2 3 4 5
Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 67; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 225. HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 42. Vgl. oben Rz. 9 und Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 10 f., 225. Vgl. Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 77. Dafür: ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 28; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 78 f.; Oetker, in: Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 6 Rz. 64; Thüsing/Braun/Braun, 6. Kap. Rz. 58; dagegen: LAG Hessen v. 31.1.1991 – 16 Sa 119/91, DB 1991, 1126; LAG Rheinland-Pfalz v. 20.12.1996 – 7 Sa 1247/96, NZA-RR 1998, 131; LAG Hamm v. 17.9.2008 – 9 SaGa 1442/08, NZA-RR 2009, 26 (28 f.) zum Wechsel in die OT-Mitgliedschaft; Konzen, ZfA 1975, 401 (418); Krause, in: Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 4 Rz. 151; Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 78; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 254; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 117; Rieble, AP BGB § 613a Nr. 431; im Grundsatz auch Willemsen/Mehrens, NZA 2009, 169 (171); differenzierend Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 17 I 5 f. 6 Dazu näher Willemsen/Mehrens, NZA 2009, 169; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 260 ff.
Hçpfner 589
Teil 6 Rz. 78
Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft
des § 3 Abs. 3 TVG und der systematischen Stellung der Regelung im Anschluss an die Tarifgebundenheit gemäß § 3 Abs. 1 TVG betrifft die Fortwirkung lediglich den normativen Teil des TVs (vgl. Rz. 2). Denn nur insoweit besteht eine Tarifgebundenheit der Arbeitsvertragsparteien. Schuldrechtliche Regelungen in TVen wirken aufgrund der Relativität des Schuldverhältnisses ausschließlich zwischen den TV-Parteien. Eine Außenwirkung drittschützender schuldrechtlicher Abreden gegenüber den Arbeitsvertragsparteien erfolgt nicht nach § 3 Abs. 1 TVG, sondern nach den Grundsätzen des Vertrags zugunsten Dritter1. Eine Nachbindung an den schuldrechtlichen Teil eines TVs kommt daher nicht in Betracht. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob die Friedenspflicht in ihrer Gestalt als Vertrag zugunsten Dritter notwendig mit Beendigung der Verbandsmitgliedschaft entfällt oder darüber hinaus wirksam ist (vgl. Teil 4 Rz. 117 f.). 78
In der Praxis betrifft die Nachbindung primär den Arbeitgeber, der aus dem Verband ausgetreten ist. Nach dem Wortlaut des § 3 Abs. 3 TVG wird aber auch der aus der Gewerkschaft ausgetretene Arbeitnehmer erfasst2. Aus den Materialien zum TVG3 ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass die Normsetzer die Nachbindung auf den Arbeitgeber beschränken wollten. Zwar findet sich bei Herschel ein Hinweis, dass § 3 Abs. 3 TVG „insbesondere … als Maßnahme zum Bestandsschutz der Arbeitgeberverbände gedacht“ war4. Sicherlich liegt der primäre Anwendungsbereich der Norm auf Arbeitgeberseite5. Daraus kann aber nicht der Schluss gezogen werden, dass der Normzweck – der darin besteht, die „Mitglieder der Tarifvertragsparteien [zu verpflichten], auch die Tarifvertragstreue zu wahren“6 – generell auf Arbeitgeber beschränkt ist7. Vielmehr zeigt der Vergleich mit § 3 Abs. 2 TVG, dass der Gesetzgeber in anderen Fällen durchaus zwischen der Tarifgebundenheit von Arbeitgeber und Arbeitnehmer differenziert, diese Unterscheidung aber für die Nachbindung gerade nicht getroffen hat.
79
Der Fortbestand der Tarifgebundenheit hat grundsätzlich nur statische Wirkung8. § 3 Abs. 3 TVG erfasst die VerbandsTVe in ihrer im Zeitpunkt der Beendigung der Mitgliedschaft geltenden Fassung. Spätere Änderungen des TVs werden nicht nur nicht berücksichtigt, sondern führen zum Wegfall der Nachbindung (vgl. Rz. 84). Etwas anderes kann jedoch für fortwirkende StufenTVe gelten. Hier ist zu differenzieren: Enthält bereits der TV selbst eine abschließende Regelung sämtlicher Stufen (sog. „un1 So auch Konzen, ZfA 1975, 401 (418 ff.); Willemsen/Mehrens, NZA 2009, 169 (170 f.); a.A. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 261; wohl auch Reuter, RdA 1996, 201 (208). 2 BAG v. 4.4.2001 – 4 AZR 237/00, NZA 2001, 1085 (1086); BAG v. 16.5.2001 – 10 AZR 357/00, SAE 2002, 113; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 80; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 23; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 42; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 246; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 76; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 17 I 5 e; a.A. Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 156; Jacobs, Anm. AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 26. 3 ZfA 1973, 129. 4 Herschel, ZfA 1973, 183 (192). 5 Vgl. Konzen, ZfA 1975, 401 (411). 6 ZfA 1973, 129 (160). 7 So aber Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 156 sowie Jacobs, Anm. AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 26, der aus diesem Grunde folgerichtig für eine teleologische Reduktion des § 3 Abs. 3 TVG auf den Verbandsaustritt des Arbeitgebers plädiert. 8 Vgl. BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 316/07, AP TVG § 3 Nr. 37; Thüsing/Braun/Braun, 6. Kap. Rz. 53.
590 Hçpfner
Nachbindung an Tarifvertrge gemß § 3 Abs. 3 TVG
Rz. 81 Teil 6
mittelbarer StufenTV“)1, so bleibt die TV-immanente Aufstiegsdynamik im Fortwirkungszeitraum erhalten2. Der Arbeitgeber kann sich der Automatik der Stufen nicht durch Verbandsaustritt entziehen3. Sind dagegen zur Umsetzung des StufenTVs weitere ausführende TVe erforderlich (sog. „mittelbarer StufenTV“), so beschränkt sich die Nachbindung auf diejenigen TVe, die im Zeitpunkt der Beendigung der Verbandsmitgliedschaft bereits in Kraft getreten waren4. Wird für die Umsetzung der einzelnen Stufen dynamisch auf einen anderen TV verwiesen, so endet mit dessen Änderung die Nachbindung5. Eine Nachbindung an eine schuldrechtliche Regelung zwischen den TV-Parteien, die den Inhalt künftiger AusführungsTVe verbindlich festschreibt, kommt nicht in Betracht, da § 3 Abs. 3 TVG nur den normativen Teil des TVs erfasst (vgl. Rz. 77)6. Bei einem Wechsel des Arbeitgebers in einen konkurrierenden Verband, der mit der- 80 selben Gewerkschaft TVe abgeschlossen hat, oder beim Abschluss eines FirmenTVs nach Verbandsaustritt mit der Gewerkschaft, die auch Vertragspartnerin des Verbandes ist, tritt neben die Nachbindung nach § 3 Abs. 3 TVG eine Tarifgebundenheit gemäß § 3 Abs. 1 TVG. Entsprechendes gilt, wenn der Arbeitnehmer in eine Gewerkschaft wechselt, die mit dem Arbeitgeber bzw. dessen Verband ebenfalls TVe abgeschlossen hat. In diesen Fällen entsteht eine echte Tarifkonkurrenz, da dasselbe Arbeitsverhältnis von mehreren TVen erfasst wird7. Wie dieses Konkurrenzverhältnis aufzulösen ist, ist umstritten. Einige sehen in § 3 81 Abs. 3 TVG eine abschließende Spezialvorschrift, hinter die eine Geltung anderer TVe stets oder jedenfalls dann, wenn diese für den Arbeitnehmer ungünstiger sind, zurücktreten müsse8. Andere gehen von einem Vorrang des kraft aktueller Verbandsmitgliedschaft geltenden TVs bzw. des FirmenTVs aus, weil dieser eine stärkere Legitimation als der fortwirkende TV aufweisen soll9. Das BAG wendet auch in dieser Situation die von ihm entwickelten allgemeinen Grundsätze zur Auflösung von Tarifkonkurrenzen
1 Zur Terminologie vgl. Hanau/Kania, DB 1995, 1229. 2 Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 125; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 41; Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 74; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 80; Hanau/Kania, DB 1995, 1229 (1231 f.); Rieble, AP BGB § 613a Nr. 431; a.A. Bauer/Diller, DB 1993, 1085 (1088). 3 Oetker, in: Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 6 Rz. 66. 4 Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 125; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 41; Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 74; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 81; Hanau/Kania, DB 1995, 1229 (1233). 5 BAG v. 17.5.2000 – 4 AZR 363/99, NZA 2001, 453 (456); BAG v. 22.2.2012 – 4 AZR 8/10, ZTR 2012, 436 (437); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 276; Henssler/Parpart, SAE 2002, 210 (213); a.A. Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 126. 6 Im Ergebnis ebenso Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 81; a.A. Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 74; Hanau/Kania, DB 1995, 1229 (1233). 7 Vgl. ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 65; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 269; Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 279; Däubler, NZA 1996, 225 (230); Konzen, ZfA 1975, 401 (429); Melms, NZA 2002, 296 (297). 8 Vgl. (mit Unterschieden in Einzelheiten) Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 109; Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 80; Kempen, NZA 2003, 415; Bieback, DB 1989, 477 (480 f.); Däubler, NZA 1996, 225 (230); Konzen, ZfA 1975, 401 (429); für den Verbandsaustritt Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 282 ff.; i.E. auch Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1814 f. 9 Bauer/Haußmann, DB 1999, 1114 (1115); ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 69; Henssler, FS Schaub, S. 311 (325); Höpfner, Tarifgeltung, S. 517 f.
Hçpfner 591
Teil 6 Rz. 82
Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft
an1. Danach ist die Kollision primär nach dem Spezialitätsprinzip aufzulösen, was hier zu einem Vorrang des FirmenTVs gegenüber dem fortwirkenden VerbandsTV führt2. Im Verhältnis zwischen mehreren VerbandsTVen spricht das BAG keinem TV einen generellen Vorrang zu. Es stellt auch keinen Günstigkeitsvergleich an. Entscheidend soll vielmehr sein, welcher TV im Einzelfall den besonderen Erfordernissen und Eigenarten des betreffenden Betriebs und der darin beschäftigten Arbeitnehmer am besten gerecht wird3.
IV. Ende der Nachbindung 82
§ 3 Abs. 3 TVG verlängert die normative Tarifgebundenheit nach Beendigung der Verbandsmitgliedschaft bis zu dem Zeitpunkt, in dem der TV endet. Daran schließt sich nach ständiger Rechtsprechung des BAG4 die Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG an (vgl. Teil 9 Rz. 35). Das Gesetz kennt keine generelle Frist, mit deren Ablauf die normative Tarifgebundenheit des ehemaligen Verbandsmitglieds einheitlich endet. Vielmehr ist das „Ende des TVs“ für jeden TV gesondert festzustellen5. Da es in der Praxis durchaus üblich ist, dass für Lohn- und MantelTVe verschiedene Laufzeiten oder Kündigungsfristen vereinbart werden, kann der aus dem Verband ausgetretene Arbeitgeber ein alternatives Regelungssystem der Arbeitsbedingungen ohne die Mitwirkung von Gewerkschaften oftmals nur gestuft einführen6.
83
Befristete TVe enden grundsätzlich mit Ablauf des im Vertrag bestimmten Enddatums bzw. Zeitraums. Die Verlängerung eines abgelaufenen TVs7 durch die TV-Parteien stellt rechtsdogmatisch einen Neuabschluss dar, der von § 3 Abs. 3 TVG nicht erfasst wird, weil er sich nicht auf die mitgliedschaftliche Legitimation des ausgetretenen Verbandsmitglieds stützen kann8. Davon zu unterscheiden ist die Situation, dass der TV selbst eine automatische Verlängerung vorsieht, wenn die TV-Parteien nicht (rechtzeitig) von ihrem Kündigungsrecht Gebrauch machen. In diesem Fall ist die Fortdauer bereits im „Normenprogramm“ des TVs angelegt und – vorbehaltlich von Höchstfristen der Nachbindung (vgl. Rz. 87 ff.) – durch die frühere Mitgliedschaft legitimiert9.
1 BAG v. 26.10.1983 – 4 AZR 219/81, AP TVG § 3 Nr. 3; BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 312/01, NZA 2008, 771 (773 f.); ebenso Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 286. 2 Vgl. Reuter, RdA 1996, 201 (208); Höpfner, NJW 2010, 2173 (2175); insoweit auch Oetker, in: Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 6 Rz. 87. 3 BAG v. 26.10.1983 – 4 AZR 219/81, AP TVG § 3 Nr. 3; ebenso Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 286; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 17 I 5 c. 4 Vgl. nur BAG v. 13.12.1995 – 4 AZR 1062/94, NZA 1996, 769 (771); BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (59); BAG v. 6.7.2011 – 4 AZR 424/09, NZA 2012, 281 (285). 5 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 268; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 84. 6 Berechtigt daher die rechtspolitische Kritik von Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 268; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 84; Dieterich/Hanau/Henssler/Oetker/Wank/Wiedemann, RdA 2004, 65 (76). 7 Entsprechendes gilt für die vorzeitige Verlängerung eines ablaufenden TVs. 8 Vgl. Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 86; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 44; Kempen/Zachert/ Kempen, § 3 TVG Rz. 70. 9 Höpfner, NJW 2010, 2173 (2176); Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 116; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 87.
592 Hçpfner
Nachbindung an Tarifvertrge gemß § 3 Abs. 3 TVG
Rz. 86 Teil 6
Die Nachbindung an unbefristete TVe endet erst, wenn der TV durch Kündigung, ein- 84 vernehmliche Aufhebung oder in sonstiger Weise (Ablösung durch neuen TV, Anfechtung mit Wirkung ex nunc, Erlöschen einer TV-Partei)1 endet. Eine inhaltliche Änderung des TVs steht der Beendigung gleich2. Die Entstehungsgeschichte des TVG deutet zwar eher gegen eine Gleichsetzung von Änderung und Ende des TVs3. Die Gesetzgebungsmaterialien sind jedoch in dieser Frage keineswegs eindeutig. Entscheidend für ein Ende der Nachbindung spricht, dass eine inhaltliche Änderung des TVs nicht durch die frühere Verbandsmitgliedschaft legitimiert ist und daher für das ehemalige Mitglied nicht normativ verbindlich sein kann4. Das gilt für jede (auch unerhebliche) Änderung von Inhalts-, Abschluss- oder Beendigungsnormen bzw. von betrieblichen oder betriebsverfassungsrechtlichen Fragen, selbst wenn diese Änderungen nicht den Wortlaut des TVs selbst, sondern nur die „durch den TV normierte Rechtslage“ betreffen5. Nach der zutreffenden Rechtsprechung des BAG entfällt mit einer Änderung des TVs auch die Nachbindung an die Bestimmungen des TVs, die von der Änderung nicht berührt werden6. Von der Änderung des TVs zu unterscheiden ist die Teilkündigung7. Für diesen Fall 85 wird vertreten, dass der verbliebene, nicht gekündigte Teil des TVs gemäß § 3 Abs. 3 TVG weiter fortwirken soll, sofern er eine sinnvolle Regelung darstellt8. Dem ist nur zuzustimmen, sofern und soweit der Wegfall des gekündigten Regelungskomplexes nicht zu einer inhaltlichen Veränderung des fortbestehenden Tarifwerks führt. Denn eine Nachbindung an einen zwar in sich stimmigen (Teil-)TV, der aber infolge der Teilkündigung eine ganz andere inhaltliche Ausrichtung erhält als der ursprünglich vereinbarte TV, ist weder mitgliedschaftlich nicht legitimiert, noch kommt ihm eine Richtigkeitsgewähr zu. Die bloße Kündigungsmöglichkeit beendet die Nachbindung dagegen nicht9. Die Ge- 86 setzgebung hat in § 3 Abs. 3 TVG ausdrücklich auf den tatsächlichen Beendigungster1 Vgl. im Einzelnen HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 22 ff.; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1355 ff. 2 BAG v. 18.3.1992 – 4 AZR 339/91, NZA 1992, 700 (701); BAG v. 7.11.2001 – 4 AZR 703/00, NZA 2002, 748 (749 f.); BAG v. 22.2.2012 – 4 AZR 8/10, AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 108; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 44; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 272; Wiedemann/ Oetker, § 3 TVG Rz. 95 f., 102. 3 Vgl. die Stellungnahme des Gewerkschaftsrates der Vereinten Zonen, in: ZfA 1973, 129 (146); dazu Höpfner, Tarifgeltung, S. 397 f. 4 Vgl. BAG v. 25.2.2009 – 4 AZR 986/07, AP TVG § 3 Nr. 40; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 272; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 96. 5 BAG v. 25.2.2009 – 4 AZR 986/07, AP TVG § 3 Nr. 40; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 26; Thüsing/ Braun/Braun, 6. Kap. Rz. 60. 6 BAG v. 18.3.1992 – 4 AZR 339/91, NZA 1992, 700 (701); BAG v. 7.11.2001 – 4 AZR 703/00, NZA 2002, 748 (749 f.); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 272; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 102; a.A. Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 122; Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 71. 7 Vgl. zu deren Zulässigkeit Oetker, RdA 1995, 82 (98 f.) m.w.N.; BAG v. 15.4.2008 – 1 AZR 86/07, NZA 2008, 1074 (1076). 8 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 26; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 17 I 5 d; Kittner/ Zwanziger/Deinert/Deinert, § 8 Rz. 238; wohl auch Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 112. 9 BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (57); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 44; Kempen/ Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 70; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 266; Hanau/Kania, DB 1995, 1229 (1232); Höpfner, NJW 2010, 2173 (2176); Willemsen/Mehrens, NZA 2010, 307 (308); a.A. ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 27; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 266; Hanau, RdA 1998, 65 (69).
Hçpfner 593
Teil 6 Rz. 87
Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft
min abgestellt und ist insoweit ganz bewusst von einem früheren Referentenentwurf abgewichen, wonach die Tarifgebundenheit „mit dem Zeitpunkte [erlischt], zu dem die Kündigung des Tarifvertrags bei ihrem Ausscheiden frühestens zulässig ist.“1 Hinzu kommt, dass die Nichtausübung eines Kündigungsrechts wertungsmäßig der automatischen Verlängerung eines befristeten TVs entspricht und ebenso wie diese bereits Bestandteil der mitgliedschaftlich legitimierten Einigung der TV-Parteien ist2. 87
Damit besteht jedoch v.a. bei unbefristeten TVen und bei TVen, deren Laufzeit sich automatisch verlängert, die Gefahr einer „Ewigkeitsbindung“ des ehemaligen Verbandsmitglieds. Denn dieses kann weder den TV selbst kündigen noch – aufgrund der Beendigung seiner Mitgliedschaft – verbandsintern auf eine Kündigung hinwirken. Im Schrifttum werden daher verschiedene Ansätze verfolgt, die Dauer der Nachbindung zu begrenzen3. Das BAG hat diese nicht aufgegriffen und erteilte der im Schrifttum fast einhellig geteilten Auffassung eine Absage4. Dem ist zu widersprechen. Eine unbegrenzte Nachbindung ist nicht erforderlich, um eine „Tarifflucht“ zu vermeiden. Sie kann sich nicht auf eine mitgliedschaftliche Legitimation stützen und verstößt darüber hinaus gegen die negative Koalitionsfreiheit (vgl. Rz. 65 f.)5.
88
Da ein Rückgriff auf den nächstmöglichen Kündigungstermin nicht möglich ist (vgl. Rz. 86), kommt allein eine starre zeitliche Höchstgrenze in Betracht. Diese Lösung hat den Vorteil, dass die maximale Dauer der Nachbindung für sämtliche VerbandsTVe einheitlich geregelt ist. In der Literatur werden verschiedene arbeitsrechtliche Vorschriften genannt, deren Wertungen auf die Bemessung einer zeitlichen Höchstgrenze ausstrahlen sollen. Zum Teil wird eine Übertragung der fünfjährigen Frist des § 624 BGB befürwortet6. Dagegen spricht jedoch, dass dessen Normzweck, der Schutz des Mobilitätsinteresses und der persönlichen Freiheit des Arbeitnehmers, mit der Dauer der Tarifgebundenheit keine Berührungspunkte hat7. Näher liegt eine Anlehnung an die Jahresfrist des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB8. De lege ferenda überzeugt das schon deshalb, weil dadurch die bestehenden Wertungswidersprüche zwischen den in weiten Teilen vergleichbaren Regelungsmodellen9 des § 613a BGB und der §§ 3 1 § 13 Abs. 2 des Referentenentwurfs zur Angleichung des deutschen und österreichischen Tarifrechts vom Mai 1931, abgedr. bei Wiedemann/Oetker, Geschichte Rz. 14. 2 Höpfner, NJW 2010, 2173 (2176). 3 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 27; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 265 ff.; Bauer, FS Schaub, S. 19 (24); Däubler, NZA 1996, 225 (226 f.); Hanau, RdA 1998, 65 (69); Kittner, AuR 1998, 469 (471); Henssler, FS Picker, S. 987 (993 ff.); Höpfner, NJW 2010, 2173 (2174 ff.); de lege ferenda Dieterich/Hanau/Henssler/Oetker/Wank/Wiedemann, RdA 2004, 65 (75 f.); Konzen, NZA 1995, 913 (920); Lieb, NZA 1994, 337. 4 BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (57 ff.); ebenso AnwK-Arb/Friedrich, § 3 TVG Rz. 57. 5 Henssler, FS Picker, S. 987 (1004 ff.); Höpfner, NJW 2010, 2173 (2175 f.); Löwisch, JZ 1996, 812 (821); a.A. BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (57 ff.); Schaub/Treber, ArbRHdb., § 204 Rz. 31. 6 Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 223; Däubler, NZA 1996, 225 (227); Hanau/ Kania, DB 1995, 1229 (1233). 7 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 94; entsprechendes gilt für § 15 Abs. 4 TzBfG, vgl. Höpfner, Tarifgeltung, S. 400. 8 Dafür Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1557; Willemsen/Mehrens, NZA 2010, 307 (309). 9 Vgl. dazu BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (47 f.); Höpfner, Tarifgeltung, S. 435 ff.; dezidiert a.A. Franzen, FS Picker, S. 929 (944 ff.).
594 Hçpfner
Nachbindung an Tarifvertrge gemß § 3 Abs. 3 TVG
Rz. 89 Teil 6
Abs. 3, 4 Abs. 5 TVG beseitigt würden1. Gleichwohl ist eine Übertragung der Jahresfrist auf die Nachbindung de lege lata nicht möglich2. Die Frist nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB soll dem Betriebserwerber die Anpassung der Arbeitsbedingungen der übernommenen Arbeitnehmer an die in seinem Unternehmen üblichen Arbeitsbedingungen ermöglichen. Dieses Regelungsanliegen lässt sich auf einen Verbandsaustritt und die sonstigen Fälle des § 3 Abs. 3 TVG nicht übertragen. Denn in diesen Fällen bleiben die betriebliche und die unternehmerische Einheit unangetastet. Es entstehen gerade keine divergierenden Arbeitsbedingungen im Betrieb, die es anzupassen gilt. Schließlich kann auch eine Begrenzung der Nachbindung (und Nachwirkung) in Analogie zu § 199 Abs. 4 BGB auf 10 Jahre ab Verbandsaustritt3 nicht überzeugen, da die Verjährung die Entstehung eines Anspruchs voraussetzt und die bloße Tarifbindung damit nicht gleichzusetzen ist. Schon nach geltender Rechtslage zulässig ist dagegen eine Begrenzung der Nachbin- 89 dung durch Rückgriff auf allgemeine verbandsrechtliche Grundsätze. Dafür bietet sich weniger die Zwei-Jahres-Höchstfrist des § 39 Abs. 2 BGB für die Kündigung der Vereinsmitgliedschaft an4, da die Nachbindung die verbandsrechtliche Wirksamkeit des Austritts nicht berührt. In Betracht kommt aber eine Übertragung der Wertungen über die Nachhaftung des ausgetretenen Gesellschafters einer Personengesellschaft5. Dieser haftet gemäß § 160 HGB (ggf. i.V.m. § 736 Abs. 2 BGB) für die Altverbindlichkeiten der Gesellschaft für fünf Jahre ab Eintragung des Ausscheidens im Handelsregister6. Zwar betreffen die akzessorische Nachhaftung für Gesellschaftsschulden und die Bindung an TVe dogmatisch verschiedene Sachverhalte. Die zugrundeliegenden Wertungen sind jedoch vergleichbar7. In beiden Fällen geht es um eine durch den Verband begründete Verpflichtung des Verbandsmitglieds gegenüber Dritten. Der Gesetzgeber hat mit § 160 HGB die bis 1994 geltende, nach seiner Auffassung „unzumutbare“ Rechtslage ändern wollen, wonach ein Gesellschafter für Verbindlichkeiten aus Dauerschuldverhältnissen unter Umständen noch Jahrzehnte nach seinem Ausscheiden in Anspruch genommen werden konnte8. Bereits zuvor hatte der BGH zutreffend die Notwendigkeit einer zeitlichen Einschränkung der Nachhaftung anerkannt und die Haftung auf den Zeitraum bis zum ersten auf das Ausscheiden folgenden Kündigungstermin begrenzt9. Diese Lösung, die auf § 3 Abs. 3 TVG angesichts der Entstehungsgeschichte des TVG nicht übertragbar ist (vgl. Rz. 86), hat der Gesetzgeber durch eine allgemeine Höchstfrist ersetzt. Zwar bezieht sich § 160 HGB 1 So auch Dieterich/Hanau/Henssler/Oetker/Wank/Wiedemann, RdA 2004, 65 (75 f.); HWK/ Henssler, Einl. TVG Rz. 39; Henssler, FS Picker, S. 987 (1008); Konzen, NZA 1995, 913 (920). 2 Höpfner, NJW 2010, 2173 (2177); a.A. Willemsen/Mehrens, NZA 2010, 307 (309). 3 So ArbG Hannover v. 17.4.2008 – 10 Ca 436/07, DB 2006, 1050. 4 Dafür Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 94; Thüsing/Braun/Braun, 6. Kap. Rz. 66; Bayreuther, Tarifautonomie, S. 731. 5 Höpfner, NJW 2010, 2173 (2177); Höpfner, Anm. AP TVG § 3 Nr. 36; vgl. dazu schon Kittner, AuR 1998, 469 (471). 6 Für den Austritt aus der GbR ist mangels Eintragungsfähigkeit die Kenntnis des Gläubigers vom Ausscheiden des Gesellschafters maßgebend, vgl. BGH v. 24.9.2007 – II ZR 284/05, NJW 2007, 3784 (3785). 7 Ausführlich Höpfner, Tarifgeltung, S. 400 ff. 8 BT-Drucks. 12/1868, S. 1. 9 BGH v. 19.12.1977 – II ZR 202/76, NJW 1978, 636 (637); BGH v. 8.10.1984 – II ZR 312/83, NJW 1985, 1899; dazu Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 266; widersprüchlich daher die Abgrenzung von „Nachhaftung“ und „Tarifmacht“ bei § 2 TVG Rz. 171.
Hçpfner 595
Teil 6 Rz. 90
Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft
nur auf die persönliche Haftung des Gesellschafters. Aus der Norm und den Wertanschauungen der Gesetzgebung lässt sich jedoch ein allgemeiner Rechtssatz entnehmen, wonach niemand nach Beendigung seiner Mitgliedschaft in einem Verband länger als fünf Jahre für solche Verpflichtungen einzustehen hat, die nicht durch eigenes rechtsgeschäftliches Handeln, sondern allein infolge der Verbandsmitgliedschaft entstanden sind1. Übertragen auf § 3 Abs. 3 TVG bedeutet dies, dass die Nachbindung des ehemaligen Verbandsmitglieds vorbehaltlich sonstiger Beendigungsgründe de lege lata entgegen der Auffassung des BAG2 spätestens fünf Jahre nach der Beendigung der Mitgliedschaft endet.
D. Betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Normen gemäß § 3 Abs. 2 TVG I. Allgemeines 90
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG gelten Tarifnormen unmittelbar und zwingend nur zwischen den beiderseits Tarifgebundenen. Eine Ausnahme vom Prinzip der beiderseitigen Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft gilt jedoch für Tarifnormen über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen. Diese gelten gemäß §§ 3 Abs. 2, 4 Abs. 1 Satz 2 TVG für alle Betriebe, deren Arbeitgeber tarifgebunden ist. Auf eine durch Gewerkschaftszugehörigkeit vermittelte Tarifgebundenheit des Arbeitnehmers kommt es nicht an (vgl. aber Rz. 102).
91
Bei einem gemeinsamen Betrieb mehrerer Arbeitgeber müssen alle Arbeitgeber tarifgebunden sein und dem tarifschließenden Verband angehören oder den TV gemeinsam unterzeichnen3. Die Geltung betriebsverfassungsrechtlicher Tarifnormen in unternehmensübergreifenden BetriebsstrukturTVen im Konzern gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 2 und 3 BetrVG setzt einen konzernweit einheitlich geltenden TV4 und damit die Tarifgebundenheit aller beteiligten Arbeitgeber voraus5.
92
Betriebsnormen i.S.d. § 3 Abs. 2 TVG sind nach ständiger Rechtsprechung des BAG Regelungen, welche die Organisation und Gestaltung des Betriebs derart unmittelbar betreffen, dass eine individualvertragliche Regelung wegen „evident sachlogischer Unzweckmäßigkeit“ ausscheidet6. Sie betreffen danach das „betriebliche Rechtsverhältnis“ zwischen dem Arbeitgeber und der Belegschaft als Kollektiv (vgl. zur Kritik Rz. 99), nicht die Rechtsverhältnisse zwischen dem Arbeitgeber und einzelnen Arbeitnehmern, die von ihnen allenfalls mittelbar betroffen sind (vgl. näher Teil 4 Rz. 86 ff.). Keine Betriebsnormen sind danach tarifliche Regelungen zur absoluten Entgelthöhe, das ihnen zugrunde liegende abstrakte Vergütungsschema oder sonstige 1 Vgl. Höpfner, NJW 2010, 2173 (2177). 2 BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (57 ff.). 3 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 16; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 35; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 102; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 169; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 17 I 2 d. 4 Vgl. dazu Rieble, Der Konzern 2005, 475; Höpfner, in: Arbeitsrecht im Konzern, S. 113. 5 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 102. 6 BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, NZA 1990, 850 (853); BAG v. 17.6.1997 – 1 ABR 3/97, NZA 1998, 213 (214); BAG v. 11.11.2008 – 1 ABR 68/07, NZA 2009, 450 (452).
596 Hçpfner
Teil 6 Rz. 90
Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft
nur auf die persönliche Haftung des Gesellschafters. Aus der Norm und den Wertanschauungen der Gesetzgebung lässt sich jedoch ein allgemeiner Rechtssatz entnehmen, wonach niemand nach Beendigung seiner Mitgliedschaft in einem Verband länger als fünf Jahre für solche Verpflichtungen einzustehen hat, die nicht durch eigenes rechtsgeschäftliches Handeln, sondern allein infolge der Verbandsmitgliedschaft entstanden sind1. Übertragen auf § 3 Abs. 3 TVG bedeutet dies, dass die Nachbindung des ehemaligen Verbandsmitglieds vorbehaltlich sonstiger Beendigungsgründe de lege lata entgegen der Auffassung des BAG2 spätestens fünf Jahre nach der Beendigung der Mitgliedschaft endet.
D. Betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Normen gemäß § 3 Abs. 2 TVG I. Allgemeines 90
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG gelten Tarifnormen unmittelbar und zwingend nur zwischen den beiderseits Tarifgebundenen. Eine Ausnahme vom Prinzip der beiderseitigen Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft gilt jedoch für Tarifnormen über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen. Diese gelten gemäß §§ 3 Abs. 2, 4 Abs. 1 Satz 2 TVG für alle Betriebe, deren Arbeitgeber tarifgebunden ist. Auf eine durch Gewerkschaftszugehörigkeit vermittelte Tarifgebundenheit des Arbeitnehmers kommt es nicht an (vgl. aber Rz. 102).
91
Bei einem gemeinsamen Betrieb mehrerer Arbeitgeber müssen alle Arbeitgeber tarifgebunden sein und dem tarifschließenden Verband angehören oder den TV gemeinsam unterzeichnen3. Die Geltung betriebsverfassungsrechtlicher Tarifnormen in unternehmensübergreifenden BetriebsstrukturTVen im Konzern gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 2 und 3 BetrVG setzt einen konzernweit einheitlich geltenden TV4 und damit die Tarifgebundenheit aller beteiligten Arbeitgeber voraus5.
92
Betriebsnormen i.S.d. § 3 Abs. 2 TVG sind nach ständiger Rechtsprechung des BAG Regelungen, welche die Organisation und Gestaltung des Betriebs derart unmittelbar betreffen, dass eine individualvertragliche Regelung wegen „evident sachlogischer Unzweckmäßigkeit“ ausscheidet6. Sie betreffen danach das „betriebliche Rechtsverhältnis“ zwischen dem Arbeitgeber und der Belegschaft als Kollektiv (vgl. zur Kritik Rz. 99), nicht die Rechtsverhältnisse zwischen dem Arbeitgeber und einzelnen Arbeitnehmern, die von ihnen allenfalls mittelbar betroffen sind (vgl. näher Teil 4 Rz. 86 ff.). Keine Betriebsnormen sind danach tarifliche Regelungen zur absoluten Entgelthöhe, das ihnen zugrunde liegende abstrakte Vergütungsschema oder sonstige 1 Vgl. Höpfner, NJW 2010, 2173 (2177). 2 BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (57 ff.). 3 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 16; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 35; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 102; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 169; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 17 I 2 d. 4 Vgl. dazu Rieble, Der Konzern 2005, 475; Höpfner, in: Arbeitsrecht im Konzern, S. 113. 5 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 102. 6 BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, NZA 1990, 850 (853); BAG v. 17.6.1997 – 1 ABR 3/97, NZA 1998, 213 (214); BAG v. 11.11.2008 – 1 ABR 68/07, NZA 2009, 450 (452).
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Betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Normen gemß § 3 Abs. 2 TVG
Rz. 95 Teil 6
Entlohnungsgrundsätze1. Zu den betriebsverfassungsrechtlichen Normen vgl. Teil 4 Rz. 92 ff. Die Formulierung des § 3 Abs. 2 TVG entstammt einem Vorschlag Herschels, den der 93 Ausschuss für Arbeit billigte und um eine entsprechende Regelung in § 4 Abs. 1 Satz 2 TVG ergänzte2. Anlass für diese Ergänzungen war die Ausdehnung der Regelungskompetenzen der TV-Parteien in § 1 Abs. 1 TVG über die Inhaltsnormen hinaus u.a. auf betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen (sog. „Solidarnormen“ und „Ordnungsnormen“)3. Da diese regelmäßig nur einheitlich für alle betroffenen Arbeitnehmer geregelt werden können, waren sich die Normsetzer unter Einschluss der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände einig, die Wirkung betrieblicher und betriebsverfassungsrechtlicher Normen „ohne Berücksichtigung der Organisationszugehörigkeit der Arbeitnehmer“ anzuordnen4. U.a. sollte damit eine Schlechterstellung der Gewerkschaftsangehörigen gegenüber Unorganisierten, die sonst von der betrieblichen Regelung nicht erfasst würden, vermieden werden5. Aus rechtsdogmatischer Sicht handelt es sich bei § 3 Abs. 2 TVG um eine gesetzliche 94 Erweiterung der Tarifgebundenheit auf Arbeitnehmerseite über die Mitglieder der tarifschließenden Gewerkschaft hinaus auf sämtliche Arbeitnehmer der vom TV betroffenen Betriebe des Arbeitgebers6. Das ergibt sich zwar nicht aus dem Wortlaut der Vorschrift. Es folgt jedoch aus dem systematischen Zusammenhang mit § 4 Abs. 1 Satz 2 TVG. Diese Regelung wäre überflüssig, wenn bereits § 3 Abs. 2 TVG die „Geltung“ der Tarifnormen betreffen würde (vgl. Rz. 99). Dem methodischen Grundsatz folgend, wonach Rechtsnormen wenn möglich nicht so auszulegen sind, dass sie praktisch keinen Anwendungsbereich mehr haben7, ist daher an der dogmatischen Differenzierung zwischen der Regelung über die Tarifgebundenheit in § 3 TVG und derjenigen über die Geltung von Tarifnormen in § 4 Abs. 1 TVG auch hinsichtlich der betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Normen festzuhalten.
II. Normative Wirkung Im Ausgangspunkt unstreitig ist, dass die §§ 3 Abs. 2, 4 Abs. 1 Satz 2 TVG eine nor- 95 mative Wirkung von Betriebsnormen begründen8. Kontrovers diskutiert wird aller1 BAG v. 11.11.2008 – 1 ABR 68/07, NZA 2009, 450 (453); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 36. 2 Vgl. ZfA 1973, 129 (151, 155); dazu Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, S. 106 f.; Nautz, Durchsetzung der Tarifautonomie, S. 148. 3 Dazu Dieterich, Die betrieblichen Normen, S. 87 f.; Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 30; Loritz, in: Zöllner/Loritz/Hergenröder, § 38 Rz. 10; vgl. auch Herschel, ZfA 1973, 183 (187). 4 Herschel, ZfA 1973, 183 (191 f.); i.E. auch Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, S. 118 f. 5 Herschel, ZfA 1973, 183 (192). 6 Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht II, S. 437; Höpfner, Tarifgeltung, S. 448; für eine Erstreckung der Tarifgebundenheit auf Arbeitnehmerseite dagegen Bogs, RdA 1956, 1 (4); Greiner, Rechtsfragen, S. 384; Herschel, FS Bogs, S. 125 (133); Kreiling, Erstreckung, S. 15, 136, 277; Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 135. 7 Vgl. Canaris, Handelsrecht, S. 39 f.; Höpfner, NJW 2010, 2173 (2174). 8 Das erkennen auch diejenigen Stimmen an, welche die normative Wirkung von TVen privatrechtlich-mandatarisch rekonstruieren wollen, vgl. Arnold, Betriebliche Tarifnormen, S. 347 ff.; Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit, S. 181 f.
Hçpfner 597
Teil 6 Rz. 96
Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft
dings über den Inhalt und die Reichweite dieser normativen Wirkung. Dabei stehen sich im Wesentlichen zwei Auffassungen gegenüber, wobei sich aufgrund zahlreicher Ausnahmen und Differenzierungen vielfältige Überschneidungen ergeben1: 96
Die überwiegende Auffassung interpretiert die Regelungen der §§ 3 Abs. 2, 4 Abs. 1 Satz 2 TVG dahingehend, dass nicht nur der tarifgebundene Arbeitgeber, sondern auch die im erfassten Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer ohne Rücksicht auf ihre Koalitionszugehörigkeit an Betriebsnormen gebunden sind2. Die normative Wirkung von Betriebsnormen entspricht danach im Wesentlichen derjenigen von Inhaltsnormen. Von diesen unterscheiden sie sich vor allem in ihrem erweiterten Adressatenkreis und der dadurch erzielten „Breitenwirkung“3 im Betrieb4.
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Ein nicht unerheblicher Teil der Literatur begrenzt demgegenüber die normative Wirkung von Betriebsnormen auf den tarifgebundenen Arbeitgeber. Die im betroffenen Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer sind danach nur mittelbar oder reflexartig vom Inhalt der Betriebsnormen betroffen5. Die Bedeutung des § 4 Abs. 1 Satz 2 TVG reduziert sich nach dieser Auffassung darauf, den verbandsangehörigen Arbeitgeber rechtlich unmittelbar zu binden6. Häufig wird zur Begründung angeführt, die Betriebsnormen würden eine Bindung allein im „betrieblichen Rechtsverhältnis“ entfalten7. Unklar ist allerdings, in welcher Weise dieses Rechtsverhältnis konkret ausgestaltet ist. Berechtigt und verpflichtet soll neben dem Arbeitgeber die Belegschaft als Ganzes sein, die durch den Betriebsrat vertreten wird8. Das einzelne Arbeitsverhältnis soll dagegen nicht von der Normwirkung erfasst werden9. Zur (mittelbaren) Geltung der Betriebsnorm in den einzelnen Arbeitsverhältnissen ist somit ein Umsetzungsakt erforderlich, etwa durch Ausübung des Direktionsrechts des Arbeitgebers oder durch eine Betriebsvereinbarung10.
98
Ebenfalls zu einer Einschränkung der normativen Wirkung von Betriebsnormen führt eine nach dem Inhalt der Norm differenzierende Auffassung. Danach sollen die die 1 Vgl. ausführlich Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, S. 423 ff., 430 ff. 2 Vgl. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 717; Greiner, Rechtsfragen, S. 384; HWK/ Henssler, § 1 TVG Rz. 52; Kreiling, Erstreckung, S. 14 f.; Schmidt-Eriksen, Tarifvertragliche Betriebsnormen, S. 113 f.; Wiedemann, RdA 2007, 65 (67 f.). 3 So treffend Wiedemann, RdA 2007, 65 (69). 4 Zu den Unterschieden hinsichtlich des Norminhalts BAG v. 17.6.1997 – 1 ABR 3/97, AP TVG § 3 Betriebsnorm Nr. 2; BAG v. 26.1.2011 – 4 AZR 159/09, NZA 2011, 80 Rz. 24. 5 Vgl. Dieterich, FS Däubler, S. 451 (458 f.); Krause, in: Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 4 Rz. 57; Loritz, Tarifautonomie, S. 55 ff.; Richardi, in: Verhandlungen des 61. DJT, 1. Band, S. B1 (B69). 6 Krause, in: Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 4 Rz. 57; Richardi, in: Verhandlungen des 61. DJT, 1. Band, S. B1 (B69); Walker, FS Kissel, S. 1205 (1220 f.). 7 BAG v. 17.6.1997 – 1 ABR 3/97, AP TVG § 3 Betriebsnormen Nr. 2; Dieterich, FS Däubler, S. 451 (458 f.); Dieterich, Die betrieblichen Normen, S. 86; Hueck, BB 1949, 53 (532); Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 230 ff.; kritisch dazu Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, S. 298 f., 447; H. Hanau, RdA 1996, 158 (164 f.); Hentschel, Die betrieblichen Normen, S. 44 ff., 164 f.; Ingelfinger, Arbeitsplatzgestaltung durch Betriebsnormen, S. 48; Schmidt-Eriksen, Tarifvertragliche Betriebsnormen, S. 111 ff.; Wiedemann, RdA 2007, 65 (68). 8 Vgl. zur Kritik Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1526. 9 So ausdrücklich BAG v. 17.6.1997 – 1 ABR 3/97, AP TVG § 3 Betriebsnormen Nr. 2. 10 Vgl. dazu Kreiling, Erstreckung, S. 139; Zöllner, RdA 1962, 453 (459).
598 Hçpfner
Betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Normen gemß § 3 Abs. 2 TVG
Rz. 99 Teil 6
Arbeitnehmer begünstigenden Betriebsnormen (v.a. Solidarnormen) unmittelbare und zwingende Wirkung in sämtlichen Arbeitsverhältnissen des betroffenen Betriebs entfalten. Belastende Betriebsnormen sollen demgegenüber generell keine normative Wirkung zeitigen1 oder jedenfalls nur insoweit, als der Arbeitgeber eine entsprechende Anordnung auch einseitig durch Ausübung seines Direktionsrechts hätte erlassen können2. Sämtliche Versuche, die normative Wirkung von Betriebsnormen gem. §§ 3 Abs. 2, 4 99 Abs. 1 Satz 2 TVG bereits auf einer abstrakten Ebene zu beschränken, sind abzulehnen3. Sie widersprechen Wortlaut und Systematik des Gesetzes und finden keine Grundlage in den Regelungsabsichten der Normsetzer. Aus der systematischen Stellung des § 3 Abs. 2 TVG ergibt sich dessen Ausnahmecharakter zur Grundregel in § 3 Abs. 1 TVG4. Während die Rechtsnormen des TVs normative Wirkung gem. §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 Satz 1 TVG grundsätzlich nur in Arbeitsverhältnissen zwischen den beiderseits Tarifgebundenen entfalten, genügt hinsichtlich der speziellen Regelungsgruppe der Betriebs- und Betriebsverfassungsnormen die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers. Zwar können die Vertreter der Gegenauffassung sich für die Begrenzung der Normwirkung von Betriebsnormen auf das „betriebliche Rechtsverhältnis“ auf den ersten Blick auf den Wortlaut des § 3 Abs. 2 TVG stützen5. Danach gelten Betriebs- und Betriebsverfassungsnormen „für alle Betriebe, deren Arbeitgeber tarifgebunden ist“. Überzeugen kann dieses Argument jedoch nicht. § 3 Abs. 2 TVG ist sprachlich missglückt6. Würde die Vorschrift bereits die „Geltung“ von Betriebsnormen anordnen, bedürfte es der Regelung des § 4 Abs. 1 Satz 2 TVG nicht. Nach der dem TVG zugrunde liegenden Systematik wird die „Geltung“ des TVs, d.h. die unmittelbare und zwingende Wirkung der Tarifnormen, von § 4 Abs. 1 TVG begründet. § 3 TVG definiert lediglich das in § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG enthaltene Tatbestandsmerkmal der Tarifgebundenheit (vgl. Rz. 94). Auch der Rekurs auf ein „betriebliches Rechtsverhältnis“ führt nicht weiter, da dieses mangels Rechtsfähigkeit der Belegschaft keinen Gläubiger hervorbringt und zudem der tarifpolitisch zur Neutralität verpflichtete Betriebsrat als Vollstreckungsorgan der TV-Parteien missbraucht würde7.
1 Dieterich, FS Däubler, S. 451 (459); Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit, S. 182; Lieb, RdA 1967, 441 (442); Zöllner, RdA 1962, 453 (459). 2 Vgl. Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 236 f.; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1509 f.; Schliemann, ZTR 2000, 198 (204); Walker, FS Kissel, S. 1205 (1221 f.); Zöllner, RdA 1962, 453 (459); a.A. Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, S. 205 f.; Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit, S. 181 f.; Reuter, DZWir 1995, 353 (357 f.). 3 Im Ergebnis ähnlich Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, S. 294 ff., 445 ff.; vgl. auch Giesen, ZfA 2012, 143 (149); Schmidt-Eriksen, Tarifvertragliche Betriebsnormen, S. 113 f.; Schwarze, Betriebsrat, S. 58 ff.; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 752 f. 4 Zutreffend Dieterich, Die betrieblichen Normen, S. 85; Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 26; Kreiling, Erstreckung, S. 13 ff.; Schwarze, Betriebsrat, S. 59 f.; a.A. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 563; Schleusener, ZTR 1998, 100 (108 f.), die in § 3 Abs. 2 TVG eine Ausprägung des Ordnungsprinzips erblicken. 5 Vgl. auch Schwarze, Betriebsrat, S. 58, der eine Begrenzung der normativen Wirkung von Betriebsnormen jedoch ebenfalls ablehnt. 6 Vgl. bereits Nipperdey, RdA 1949, 81 (84); Wiedemann, AP TVG § 3 Betriebsnorm Nr. 5. 7 Treffend Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1526.
Hçpfner 599
Teil 6 Rz. 100
Normative Tarifgebundenheit kraft Mitgliedschaft
100 Nicht gefolgt werden kann auch der im Schrifttum teilweise vertretenen Beschränkung des Regelungsgehalts des § 4 Abs. 1 Satz 2 TVG auf die einseitige Bindung des tarifgebundenen Arbeitgebers1. Der einzige normative Anknüpfungspunkt für eine dergestaltige Einschränkung, die von § 4 Abs. 1 Satz 2 TVG angeordnete „entsprechende“ Geltung des Satzes 12, ist denkbar schwach. Bei der vom Gesetzgeber angeordneten „entsprechenden“ Anwendung einer Rechtsnorm handelt es sich um eine gängige Gesetzgebungstechnik, deren Ziel es allein ist, unnötige Wortwiederholungen zu vermeiden, ohne jedoch den Inhalt des Verweisungsobjekts wesentlich zu verändern3. § 4 Abs. 1 Satz 2 TVG stellt lediglich die Kurzfassung einer Regelung dar, die vollständig wie folgt lauten würde: „Die Rechtsnormen des Tarifvertrags, die betriebliche oder betriebsverfassungsrechtliche Fragen ordnen, gelten unmittelbar und zwingend zwischen dem tarifgebundenen Arbeitgeber und den Arbeitnehmern, die unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallen.“
III. Verfassungsmäßigkeit und verfassungskonforme Auslegung 101 Auf der Grundlage des hier vertretenen uneingeschränkten Geltungsanspruchs von Betriebsnormen in den einzelnen Arbeitsverhältnissen ohne Rücksicht auf die Verbandsmitgliedschaft des Arbeitnehmers liegen verfassungsrechtliche Bedenken an den Regelungen der §§ 3 Abs. 2, 4 Abs. 1 Satz 2 TVG auf der Hand4. Zwar hat das BAG die Verfassungsmäßigkeit des § 3 Abs. 2 TVG wiederholt bejaht5. Der Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit der Außenseiter sei „von der Sache her geboten“, sofern eine einheitliche Regelung auf betrieblicher Ebene erforderlich sei. Gleichwohl ist eine unbeschränkte Normsetzungskompetenz der TV-Parteien mit Wirkung auch für Außenseiter-Arbeitnehmer weder vom Gesetzgeber des TVG gewollt, noch mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar. Es ist daher notwendig, den Betriebsnormbegriff verfassungskonform auszulegen6: Unproblematisch sind Betriebsnormen mit lediglich arbeitnehmerbegünstigendem Regelungsinhalt. Dazu zählen vor allem die Solidarnormen, die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der §§ 3 Abs. 2, 4 Abs. 1 Satz 2 TVG im Sinn hatte. Zulässig sind darüber hinaus Ordnungsnormen, die – wie etwa Rauchverbote, Torkontrollen und Kleiderordnungen – von den Arbeitnehmern ein Verhalten einfordern, das der Arbeitgeber einseitig durch Ausübung seines Weisungsrechts herbeiführen könnte. Verfassungswidrig ist demgegenüber eine Normsetzungskompetenz der TV-Parteien für Betriebsnormen, die die Außenseiter-Arbeitnehmer belasten und deren Norminhalt nicht durch Ausübung des Direktionsrechts des Arbeit1 So Ingelfinger, Arbeitsplatzgestaltung durch Betriebsnormen, S. 48 f.; Krause, in: Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 4 Rz. 57; Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 236; Zöllner, RdA 1962, 453 (458 f.); Zöllner, RdA 1964, 443 (446 f.). 2 So ausdrücklich Dieterich, FS Däubler, 1999, S. 451 (455); Richardi, in: Verhandlungen des 61. DJT, 1. Band, S. B1 (B69). 3 Zutreffend Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 114. 4 Zutreffend Dieterich, FS Däubler, S. 451 (455); Kreiling, Erstreckung, S. 195 ff., 280 f.; Schleusener, ZTR 1988, 100 (108); HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 52; a.A. Greiner, Rechtsfragen, S. 386 f.; vgl. zum Meinungsstand H. Hanau, RdA 1996, 158 (165 ff.); Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 172 ff. 5 BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, NZA 1990, 850 (853); BAG v. 7.11.1995 – 3 AZR 676/94, NZA 1996, 1214 (1216); BAG v. 17.6.1997 – 1 ABR 3/97, NZA 1998, 213 (214). 6 Näher dazu Höpfner, Tarifgeltung, S. 453 ff.
600 Hçpfner
Betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Normen gemß § 3 Abs. 2 TVG
Rz. 102 Teil 6
gebers rekonstruiert werden kann. Dazu zählen insbesondere Maßnahmen zur Beschäftigungssicherung, etwa eine betriebseinheitliche Absenkung der Vergütung oder Änderung des Umfangs der Arbeitszeit. Diese sind daher aus dem Anwendungsbereich der §§ 3 Abs. 2, 4 Abs. 1 Satz 2 TVG auszuscheiden1. Nach der wohl h.M., der auch das BAG zuzuneigen scheint2, setzt die Geltung von 102 betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Normen entsprechend dem Wortlaut des § 3 Abs. 2 TVG ausschließlich die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers voraus3. Vor dem Hintergrund der auf die Mitglieder beschränkten Normsetzungskompetenz der TV-Parteien erscheint indes die Gegenauffassung überzeugender, wonach zusätzlich im Betrieb des Arbeitgebers mindestens ein Arbeitnehmer Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaft sein muss4. Denn nur in diesem Fall besteht die Gefahr einer Schlechterstellung von Gewerkschaftsangehörigen, der der Gesetzgeber mit § 3 Abs. 2 TVG entgegentreten wollte. Darüber hinaus gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gewerkschaft eine Kompetenz zum Abschluss von TVen über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen ohne jede mitgliedschaftliche Legitimation im Betrieb des Arbeitgebers eingeräumt werden sollte. Weder Art. 9 Abs. 3 GG noch § 3 Abs. 2 TVG verleihen ihr ein Mandat für die Nichtorganisierten5. Folgt man dieser Auffassung, so kommt es zur Fortwirkung der betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Tarifnormen gemäß § 3 Abs. 3 TVG, wenn infolge eines Gewerkschaftsaustritts, der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses oder der Versetzung eines Arbeitnehmers in einen anderen Betrieb während der Laufzeit des TVs kein Gewerkschaftsmitglied mehr im betreffenden Betrieb existiert6.
1 Ebenso i.E. Dieterich, FS Däubler, S. 451 (458); Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 26, 33; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 369 ff.; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1516 f.; für den Umfang der Arbeitszeit auch Krause, in: Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 4 Rz. 67; Richardi, DB 1990, 1613 (1614); wohl auch Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 748: nur Arbeitszeitverteilung; a.A. BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 388/99, AP TVG § 3 Betriebsnorm Nr. 5; HWK/ Henssler, § 1 TVG Rz. 52, 128; Däubler/Lorenz, TVG, § 3 Rz. 71 f.; Säcker/Oetker, ZfA 1991, 131 (143 f.); Schweibert, Verkürzung der Wochenarbeitszeit, S. 163 ff.; differenzierend H. Hanau, RdA 1996, 158 (174): nur vorübergehende, nicht aber dauerhafte Herabsetzung zulässig. 2 Vgl. BAG v. 5.9.1990 – 4 AZR 59/90, NZA 1991, 202 (204); BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736 (738). 3 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 168; Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 29; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 69; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 803; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 17 I 2 d; Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, S. 518 ff.; Dieterich, Die betrieblichen Normen, S. 86. 4 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 17; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 207; MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 177 Rz. 37; ähnlich schon Lieb, RdA 1967, 441 (446). 5 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 208. 6 Vgl. MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 177 Rz. 41.
Hçpfner 601
Teil 7 Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung Rz.
Rz. A. Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
B. Tarifgeltung aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG I. Einführung und rechtstatsächliche Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zweck der Allgemeinverbindlicherklärung 1. Arbeitnehmerschutz . . . . . . . . . . . . . 2. Wettbewerbsregulierung . . . . . . . . . . 3. Stärkung der Koalitionen . . . . . . . . . . 4. Finanzierung von gemeinsamen Einrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtsnatur der Allgemeinverbindlicherklärung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Voraussetzungen der Allgemeinverbindlicherklärung 1. Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Formelle Voraussetzungen der Allgemeinverbindlicherklärung a) Antrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beteiligungsverfahren . . . . . . . . . . c) Einvernehmen des Tarifausschusses. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Entscheidung des Ministeriums und Erlass der Allgemeinverbindlicherklärung aa) Staatlicher Erstreckungsakt . . bb) Bekanntmachung . . . . . . . . . . e) Möglichkeit einer Teil-Allgemeinverbindlicherklärung . . . . . . 3. Materielle Voraussetzungen der Allgemeinverbindlicherklärung . . . . a) Allgemeinverbindlicherklärbarer Tarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Arten von Tarifverträgen: . . . . bb) Regelungsgegenstände in Tarifverträgen: . . . . . . . . . . . . . b) Abschaffung des Quorums und Vorliegen des öffentlichen Interesses aa) Abschaffung des 50 %-Quorums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Konkretisiertes öffentliches Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Zweck des öffentlichen Interesses . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
7 8 11 14 18
22
23 28 29
32 34 37 38 39 40 41
42 45
(2) Vorliegen des öffentlichen Interesses . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Erforderlichkeit der Abwägung i.R. der Ermittlung des öffentlichen Interesses . . . . . . (b) Prüfungsmaßstab/Intendiertes Ermessen . . . . . . . . . . . . . . (c) Regelbeispiel Nr. 1: Tarifvertrag hat überwiegende Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Regelbeispiel Nr. 2: Absicherung der Wirksamkeit der tarifvertraglichen Normsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (e) Einfluss des MiLoG . . . . . . . . . c) Tarifverträge über gemeinsame Einrichtungen (Abs. 1a) aa) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . bb) Voraussetzungen (1) Tarifvertrag über eine gemeinsame Einrichtung. . . . . . . . . . . (2) Einziehung von Beiträgen oder Gewährung von Leistungen . . (3) Die einzelnen Katalogtatbestände (a) Erholungsurlaub, Urlaubsgeld oder zusätzliches Urlaubsgeld . . . . . . . . . . . . . . . (b) Betriebliche Altersversorge im Sinn des Betriebsrentengesetzes . . . . . . . . . . . . . (c) Ausbildungsvergütung und Ausbildung in überbetrieblichen Bildungsstätten . . . . . . (d) Zusätzliche betriebliche oder überbetriebliche Vermögensbildung. . . . . . . . . . (e) Lohnausfall bei Arbeitszeitausfall, -verkürzung oder -verlängerung . . . . . . . . . . . . . . (4) Sicherung der Funktionsfähigkeit der gemeinsamen Einrichtung . . . . . . . . . . . . . . . (5) Auswahlentscheidung bei konkurrierendem TV . . . . . . . cc) Praktische Relevanz . . . . . . . . d) Rückwirkung der Allgemeinverbindlicherklärung . . . . . . . . . . .
48
49 51
55
63 66
68
69 70
71
72
73
75
76
77 79 82 83
47
Sittard
603
Teil 7
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung Rz.
Rz. V. Tarifgeltung aufgrund einer Tarifnormerstreckung durch Allgemeinverbindlicherklärung 1. Tarifgebundenheit als Wirkung des § 5 Abs. 4 TVG a) Grundprinzipien der Erstreckungswirkung. . . . . . . . . . . . . . . . b) Verzicht, Verwirkung, Ausschlussfristen . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Von der Allgemeinverbindlicherklärung erfasste Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Allgemeinverbindlicherklärung und Tarifkonkurrenz . . . . . . . . . . . aa) AVE nach § 5 Abs. 1 TVG . . . . bb) AVE nach § 5 Abs. 1a TVG . . . e) Erstreckungswirkung bei internationalen Sachverhalten . . . . . . . 2. Beendigung der Wirkungen der Allgemeinverbindlicherklärung a) Ablauf des erstreckten Tarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Aufhebung der Allgemeinverbindlicherklärung. . . . . . . . . . . . . . c) Befristung der Allgemeinverbindlicherklärung. . . . . . . . . . . . . . d) Nachwirkung allgemeinverbindlicher Tarifverträge aa) Nachwirkung nach Ende der Allgemeinverbindlicherklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Nachwirkung bei Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrages . . . . VI. Vermeidung allgemeinverbindlicher Tarifverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Herauswachsen aus dem Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abschluss speziellerer Tarifverträge. 3. OT-Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . 4. Outsourcing. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
C. Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes I. Einführung und rechtstatsächliche Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 II. Zweck des AEntG . . . . . . . . . . . . . . . . 137 86 90
91 95 97 99 101
104 106 107
108
112 113 114 116 118 119
VII. Rechtsschutz in Zusammenhang mit Allgemeinverbindlicherklärungen 1. Rechtsschutz unmittelbar für/ gegen die Allgemeinverbindlicherklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 2. Inzidenter Rechtsschutz . . . . . . . . . . 126 VIII. Verfassungsmäßigkeit von § 5 TVG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
604 Sittard
III. Voraussetzungen der Tarifnormerstreckung durch das AEntG. . . . . . . . 1. Branchenzugehörigkeit . . . . . . . . . . . a) Zugehörigkeit zu einer ausdrücklich genannten Branche . . . . b) Nicht definierte Branchen. . . . . . . 2. Erfasste Arbeitsbedingungen . . . . . . . a) Mindestentgeltsätze. . . . . . . . . . . . b) Urlaubskassen . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Staatlicher Tarifnormerstreckungsakt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erstreckung kraft Allgemeinverbindlicherklärung (§ 3 Satz 1 Alt. 1 AEntG) . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erstreckung kraft Rechtsverordnung (§ 3 Satz 1 Alt. 2, §§ 7, 7a AEntG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Dogmatische Einordnung . . . . bb) Voraussetzungen für den Erlass der Rechtsverordnung nach § 7 Abs. 1 AEntG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Gemeinsamer Antrag . . . . . . . (2) Beteiligungsverfahren . . . . . . . (3) Beteiligung des Tarifausschusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Regelungsgegenstände und Geltungsbereich. . . . . . . . . . . . (5) Öffentliches Interesse . . . . . . . (6) Auswahlentscheidung bei sich überschneidendem Geltungsbereich. . . . . . . . . . . . (a) Sich überschneidender Geltungsbereich von Tarifverträgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Kollision mehrerer Anträge . . cc) Voraussetzungen für den Erlass der Rechtsverordnung nach § 7a AEntG . . . . . . . . . . . (1) Antrag/Auswahlentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Beteiligungsverfahren . . . . . . . (3) Beteiligung des Tarifausschusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Öffentliches Interesse und Entgegenwirkung eines Verdrängungswettbewerbes . .
139 140 143 148 149 151 154 155
156
158 159
162 163 164 165 166 169
171
172 176
178 179 180 182
183
Teil 7
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
IV. Tarifgeltung aufgrund des AEntG . . . 1. Grundprinzipien der Erstreckungswirkung a) Geltung unabhängig vom Vertragsstatut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verzicht, Verwirkung, Ausschlussfristen, Verjährung. . . . . . . c) Sonderregelung für Leiharbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nach dem AEntG erstreckte Tarifverträge bei Tarifkonkurrenz. . . a) Verdrängungswirkung des AEntG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Verdrängungswirkung . . . 3. Beendigung der Wirkungen des AEntG a) Beendigung der Wirkungen des AEntG bei Erstreckung kraft Allgemeinverbindlicherklärung . . b) Beendigung der Wirkungen des AEntG bei Erstreckung kraft Rechtsverordnung . . . . . . . . . . . . . c) Nachwirkung von nach dem AEntG erstreckten Tarifverträgen aa) Nachwirkung bei Erstreckung kraft Allgemeinverbindlicherklärung . . . . . . . . . . bb) Nachwirkung bei Erstreckung kraft Rechtsverordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Rz.
Rz.
184
VI. Rechtsschutz in Zusammenhang mit dem AEntG. . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 VII. Verfassungsmäßigkeit des AEntG . . 211
185 187 189 192 193 198
200
201
D. Mit der Tarifnormerstreckung vergleichbare Regelungsinstrumente I. Mindestlohn in der Pflegebranche 1. Anwendungsbereich und Zweck der Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 2. Mindestarbeitsbedingungen durch Rechtsverordnung. . . . . . . . . . . . . . . . 219 II. Grenzüberschreitender Bargeldtransport. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 III. Mindestlohn in der Zeitarbeitsbranche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zweck der Regelung . . . . . . . . . . . . . . 2. Lohnuntergrenze durch Rechtsverordnung a) Voraussetzungen des Rechtsverordnungserlasses . . . . . . . . . . . . b) Wirkung der Rechtsverordnung . . c) Verfassungsrechtliche Zweifel . . .
222 223
224 227 233
IV. Staatlicher Mindestlohn durch das MiLoG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
203
204
V. Vermeidung der Tarifgeltung nach dem AEntG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
V. Tariftreueerklärungen 1. Anwendungsbereich und Zweck der Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 2. Tariftreueerklärungen im Lichte der Rechtsprechung des BVerfG und EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 3. Tariftreuegesetze der einzelnen Bundesländer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
Literatur: Bader, § 98 ArbGG nF und die Frage der Aussetzung, NZA 2015, 644; Bayreuther, Einige Anmerkungen zur Verfassungsmäßigkeit des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes und des Mindestarbeitsbedingungengesetzes 2009, NJW 2009, 2006; Bepler, Stärkung der Tarifautonomie – Welche Änderungen des Tarifvertragsrechts empfehlen sich?, Gutachten B zum 70. Deutschen Juristentag, 2014; Besgen, Nachwirkung eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrages, SAE 2002, 224; Bispinck/Schulten, Aktuelle Mindestlohndebatte: Branchenlösungen oder gesetzlicher Mindestlohn?, WSI-Mitteilungen 2008, 151; Bötticher, Die gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, 1966; Csaki/Freundt, Europarechtskonformität von vergabegesetzlichen Mindestlöhnen?, KommJur 2012, 246; Deinert, Arbeitnehmerentsendung im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen innerhalb der Europäischen Union – Rechtsprobleme der Sonderanknüpfung eines „harten Kerns“ arbeitsrechtlicher Vorschriften des Arbeitsortes, RdA 1996, 339; Dieterich, Die Grundrechtsbindung von Tarifverträgen, in: Festschrift für Schaub, 1998, S. 117; Fenn, Der Grundsatz der Tarifeinheit, in: Festschrift für Kissel, 1994, S. 213; Forst, Die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen nach dem sogenannten Tarifautonomiestärkungsgesetz, RdA 2015, 25; Giesen, Staatsneutralität bei der Verbindlicherklärung von Tarifverträgen, ZfA 2008, 355; Hanau, Gemeinsame Einrichtungen von Tarifvertragsparteien als Instrument der Verbandspolitik, RdA 1970, 165; Henssler, Flexibilisierung der Arbeitsmarktordnung – Überlegungen zur Weiterentwicklung der tariflichen Regelungsmacht, ZfA 1994, 487; Henssler, Mindestlohn und
Sittard
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Teil 7
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
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Zur Rechtmäßigkeit der geplanten Tarifnormerstreckung in der Postbranche, NZA 2007, 1090; Sittard, Deutscher Mindestlohn: Zur Ausdehnung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes und zur Fluchtmöglichkeit für Arbeitgeber, ZIP 2007, 1444; Sittard, Neue Mindestlohngesetze in Deutschland, NZA 2009, 346; Sittard, Keine Nachwirkung von Mindestlohntarifverträgen, NZA 2012, 299; Sittard, Im Dschungel der Mindestlöhne – ein Versuch der Systematisierung, RdA 2013, 301; Sittard/Sassen, Mindestlohn & Co., ArbRB 2014, 142; Sodan/ Zimmermann, Die Beseitigung des Tarifvorrangs gegenüber staatlich festgelegten Mindestarbeitsentgelten auf dem Prüfstand der Koalitionsfreiheit – Zu den in Regierungsentwürfen vom Juli 2008 vorgesehenen Änderungen des Gesetzes über die Festsetzung von Mindesarbeitsbedingungen und des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes, ZfA 2008, 526; Thüsing, AEntG, MiArbG – Kommentar, 2010; Thüsing, Mindestlohn im Spannungsverhältnis staatlicher und privatautonomer Regelung – Zur notwendigen Tarifdispositivität eines gesetzlichen Mindestlohns, zur Dispositivität durch ausländische Tarifverträge und zur Auswahl des Tarifvertrags zur Branchenerstreckung bei konkurrierenden Regelungen nach einem neu gefassten AEntG, ZfA 2008, 590; Thüsing/v. Hoff, Leistungsbeziehungen und Differenzierungen nach der Gewerkschaftszugehörigkeit bei Gemeinsamen Einrichtungen, ZfA 2008, 77; Thüsing/v. Medem, Tarifeinheit und Koalitionspluralismus – Zur Zulässigkeit konkurrierender Tarifverträge im Betrieb, ZIP 2007, 510; Thüsing/Stelljes, Verbandsmitgliedschaft und Tarifgebundenheit – Mitgliedschaft OT und nicht tariffähige Parallelverbände als Ausfluss grundrechtlich geschützter Gestaltungsfreiheit, ZfA 2005, 527; Tugendreich, Mindestlohnvorgaben im Kontext des Vergaberechts, NZBau 2015, 395; Wank, Mindestlöhne – Begründung und Instrumente, in: Festschrift für Buchner, 2009, S. 898; Wiedemann, Zur Wirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung von Vorruhestandstarifverträgen, RdA 1987, 262;
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Tarifgeltung aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklrung nach § 5 TVG
Rz. 4 Teil 7
Wiedemann, Der nicht organisierte Arbeitnehmer im kollektiven Arbeitsrecht, RdA 2007, 65; Willemsen/Sagan, Mindestlohn und Grundgesetz – Staatliche Lohnfestsetzung versus Tarifautonomie, NZA 2008, 1216; Witteler, Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung – Kein geeignetes Mittel zur faktischen Einführung von Mindestlöhnen, BB 2007, 1620; Zachert, „Neue Kleider für die Allgemeinverbindlichkeitserklärung?“, NZA 2003, 132; Zöllner, Tarifmacht und Außenseiter, RdA 1962, 453.
A. Einführung Neben der Bindung an TVe kraft Mitgliedschaft nach §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG ent- 1 hält das deutsche Tarifrecht insbesondere zwei Grundlagen der Tarifgeltung aufgrund staatlicher Anordnung: Bei der Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG (AVE) handelt es sich um ein klassisches Instrument des Tarifrechts, das bereits in der Tarifvertragsordnung von 1918 enthalten war. Dabei knüpft die AVE akzessorisch an einen bestehenden TV an und erweitert dessen Rechtswirkungen. Auf die immer stärkere Internationalisierung der Arbeitsbeziehungen, die sich spätestens ab Mitte der 1990er Jahre an einer höheren Zahl von nach Deutschland entsandten Arbeitnehmern zeigte, reagierte der Gesetzgeber im Jahr 1996 mit dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG), das nach hier vertretener Ansicht im Ergebnis nur eine stärkere Form der AVE darstellt. Bei beiden Instrumenten handelt es sich um eine staatliche Tarifnormerstreckung auf Arbeitsverhältnisse, die nach §§ 3, 4 TVG nicht an den „erstreckten“ TV gebunden sind1. Das BAG hingegen sieht zumindest bei der Geltungserweiterung von TVen durch eine Rechtsverordnung nach dem AEntG (§ 7 AEntG) größere dogmatische Unterschiede (vgl. Rz. 159 ff.). Bis zum Inkrafttreten des MiLoG bildete das AEntG die zentrale Grundlage für (bran- 2 chenbezogene) Mindestlöhne in der Bundesrepublik; seit dem 1.1.2015 ergänzt es hinsichtlich der Mindestlohnsicherung das MiLoG durch Spezialregelungen für einzelne Branchen. Darüber hinaus werden durch das AEntG weitere tarifliche (§ 3) als auch gesetzliche (§ 2) Arbeitsbedingungen für international privatrechtlich zwingend erklärt.
B. Tarifgeltung aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG I. Einführung und rechtstatsächliche Bedeutung Die AVE nach § 5 TVG führt die Tarifbindung nicht durch Mitgliedschaft der Arbeits- 3 vertragsparteien im Verband (oder Abschluss eines „eigenen“ FirmenTVs), sondern durch einen staatlichen Akt der Tarifnormerstreckung herbei. Die Tarifbindung ist daher nicht privatautonom, sondern staatlich angeordnet2. Streng genommen ist zwischen dem staatlichen Akt der Tarifnormerstreckung und der dadurch verursachten Tarifbindung zu unterscheiden. Hinsichtlich des „Erstre-
1 Zum Begriff der Tarifnormerstreckung vgl. Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 1 ff. 2 Jacobs/Krause/Oetker/Schubert/Oetker, § 6 Rz. 88.
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Tarifgeltung aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklrung nach § 5 TVG
Rz. 4 Teil 7
Wiedemann, Der nicht organisierte Arbeitnehmer im kollektiven Arbeitsrecht, RdA 2007, 65; Willemsen/Sagan, Mindestlohn und Grundgesetz – Staatliche Lohnfestsetzung versus Tarifautonomie, NZA 2008, 1216; Witteler, Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung – Kein geeignetes Mittel zur faktischen Einführung von Mindestlöhnen, BB 2007, 1620; Zachert, „Neue Kleider für die Allgemeinverbindlichkeitserklärung?“, NZA 2003, 132; Zöllner, Tarifmacht und Außenseiter, RdA 1962, 453.
A. Einführung Neben der Bindung an TVe kraft Mitgliedschaft nach §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG ent- 1 hält das deutsche Tarifrecht insbesondere zwei Grundlagen der Tarifgeltung aufgrund staatlicher Anordnung: Bei der Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG (AVE) handelt es sich um ein klassisches Instrument des Tarifrechts, das bereits in der Tarifvertragsordnung von 1918 enthalten war. Dabei knüpft die AVE akzessorisch an einen bestehenden TV an und erweitert dessen Rechtswirkungen. Auf die immer stärkere Internationalisierung der Arbeitsbeziehungen, die sich spätestens ab Mitte der 1990er Jahre an einer höheren Zahl von nach Deutschland entsandten Arbeitnehmern zeigte, reagierte der Gesetzgeber im Jahr 1996 mit dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG), das nach hier vertretener Ansicht im Ergebnis nur eine stärkere Form der AVE darstellt. Bei beiden Instrumenten handelt es sich um eine staatliche Tarifnormerstreckung auf Arbeitsverhältnisse, die nach §§ 3, 4 TVG nicht an den „erstreckten“ TV gebunden sind1. Das BAG hingegen sieht zumindest bei der Geltungserweiterung von TVen durch eine Rechtsverordnung nach dem AEntG (§ 7 AEntG) größere dogmatische Unterschiede (vgl. Rz. 159 ff.). Bis zum Inkrafttreten des MiLoG bildete das AEntG die zentrale Grundlage für (bran- 2 chenbezogene) Mindestlöhne in der Bundesrepublik; seit dem 1.1.2015 ergänzt es hinsichtlich der Mindestlohnsicherung das MiLoG durch Spezialregelungen für einzelne Branchen. Darüber hinaus werden durch das AEntG weitere tarifliche (§ 3) als auch gesetzliche (§ 2) Arbeitsbedingungen für international privatrechtlich zwingend erklärt.
B. Tarifgeltung aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG I. Einführung und rechtstatsächliche Bedeutung Die AVE nach § 5 TVG führt die Tarifbindung nicht durch Mitgliedschaft der Arbeits- 3 vertragsparteien im Verband (oder Abschluss eines „eigenen“ FirmenTVs), sondern durch einen staatlichen Akt der Tarifnormerstreckung herbei. Die Tarifbindung ist daher nicht privatautonom, sondern staatlich angeordnet2. Streng genommen ist zwischen dem staatlichen Akt der Tarifnormerstreckung und der dadurch verursachten Tarifbindung zu unterscheiden. Hinsichtlich des „Erstre-
1 Zum Begriff der Tarifnormerstreckung vgl. Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 1 ff. 2 Jacobs/Krause/Oetker/Schubert/Oetker, § 6 Rz. 88.
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Teil 7 Rz. 5
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
ckungsaktes“ hat das BVerfG in seiner Grundsatzentscheidung zu § 5 TVG aus dem Jahr 19771 ausgeführt, die AVE von TVen stelle im Verhältnis zu den ohne sie nicht Tarifgebundenen einen Rechtsetzungsakt eigener Art zwischen autonomer Regelung und staatlicher Rechtsetzung dar. Die AVE sei weder Verwaltungsakt noch Rechtsverordnung. Sie sei ein an sich systemwidriger staatlicher Rechtsetzungsakt, der aber im Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen nach Art. 9 Abs. 3 GG möglich sei. In Art. 9 Abs. 3 GG liege wiederum die Grundlage der AVE. Diese These scheint allerdings vor dem Hintergrund des heute ganz herrschenden Verständnisses der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübter Privatautonomie2 kaum noch zu halten. Wenn Art. 9 Abs. 3 GG eine privatautonome Entscheidung für eine Tarifbindung voraussetzt, dann kann die AVE, die gerade ohne eine solche privatautonome Entscheidung auskommt, nicht auf die Koalitionsfreiheit gestützt werden. Vielmehr stellt jeder Akt der staatlichen Tarifnormerstreckung einen Eingriff in die Koalitionsfreiheit dar3. 5 Aus rechtstatsächlicher Sicht ist festzustellen, dass Ende 2015 von insgesamt ca. 71 900 TVen nur 490 allgemeinverbindlich waren (238 Ursprungs- und 252 Änderungs- bzw. ErgänzungsTVe)4. Die Anzahl der neu für allgemeinverbindlich erklärten Tarife lag im Jahr 2015 bei 38 (2011 waren es nur 15, 2010 nur 10), wobei die durch Rechtsverordnung nach dem AEntG erstreckten TVe ebenfalls erfasst sind. 1995 betrug die Gesamtzahl dagegen noch 6275. Schätzungen gehen davon aus, dass rund eine Million Arbeitnehmer in Deutschland allein aufgrund der Allgemeinverbindlichkeit (also nicht schon durch kongruente Tarifbindung oder durch individualrechtliche Bezugnahme) unter Rechtsnormen eines TVs fallen.6 Die Gesamtzahl der Beschäftigten, für die allgemeinverbindliche TVe gelten, betrug im Jahr 1995 für das Tarifgebiet West schätzungsweise 5,5 Millionen7, wird heute allerdings aufgrund der geringeren Anzahl von AVE darunter liegen. Im Anwendungsbereich des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes arbeiteten nach Schätzungen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales nach der Ausweitung der erfassten Branchen im Jahr 2009 ca. 3 Millionen Menschen. 6 Durch das Inkrafttreten des Tarifautonomiestärkungsgesetzes am 16.8.2014 kam es zu weitreichenden Änderungen von § 5 TVG sowie des AEntG. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers soll die AVE von TVen an neue Entwicklungen und Gegebenheiten angepasst werden. Insgesamt ist festzuhalten, dass die Anforderungen an die AVE sowie die Tarifnormerstreckung nach dem AEntG teilweise erheblich gesenkt worden sind.
1 BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, NJW 1977, 2255. 2 Vgl. grundlegend Zöllner, RdA 1962, 453 (456 ff.); Dieterich, FS Schaub, S. 117 (121); Picker, ZfA 1998, 573 (675 ff.). 3 Vgl. ausführlich Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 30 ff. 4 BMAS, Verzeichnis der für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge (Stand: 1.1.2016), S. 3. 5 BMAS, Verzeichnis der für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge, S. 6. 6 Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 13 m.w.N.; Bispinck/Schulten, WSI-Mitteilungen 2008, 151 (152) gehen von 570 000 Arbeitnehmern aus, lassen aber die vom AEntG erfassten allgemeinverbindlichen Tarifverträge außen vor. 7 Vgl. die Nachweise bei Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 2 ff.
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Tarifgeltung aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklrung nach § 5 TVG
Rz. 9 Teil 7
II. Zweck der Allgemeinverbindlicherklärung 1. Arbeitnehmerschutz Zentraler Normzweck von § 5 TVG ist der Schutz der nicht tarifgebundenen Arbeit- 7 nehmer1. Auch das BVerfG hat den Schutz der Arbeitsbedingungen der Außenseiter zumindest als Teilzweck der AVE bezeichnet2. § 5 TVG komme die Aufgabe zu, in bestimmten Wirtschaftsbereichen Mindestarbeitsbedingungen zu garantieren3. Unzutreffend ist es, den Schutzzweck der Norm allein auf die gewerkschaftsangehörigen, aber wegen der fehlenden Tarifgebundenheit des Arbeitgebers nicht vom TV normativ erfassten Arbeitnehmer zu reduzieren4. Denn ein Schutzbedürfnis besteht nicht nur für Gewerkschaftsmitglieder. Vielmehr kann der Staat, wenn er Mindestarbeitsbedingungen schaffen will, diese nicht von der Gewerkschaftsmitgliedschaft abhängig machen. Allein dieses Verständnis von Sinn und Zweck steht auch mit den Rechtsfolgen von § 5 Abs. 4 TVG in Einklang, bei denen nicht zwischen gewerkschaftsangehörigen und nichtgewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmern differenziert wird. Es ist daher davon auszugehen, dass § 5 TVG insgesamt den Schutz der Außenseiter-Arbeitnehmer bezweckt, womit die Arbeitnehmer gemeint sind, für die – gleichgültig aus welchem Grund – kein TV zwingend und unmittelbar anwendbar ist. 2. Wettbewerbsregulierung Insbesondere in der Rechtsprechung des BVerwG5 wird als weiterer Schutzzweck eine 8 Regulierung des Wettbewerbs genannt. Zum einen soll es dabei um den Schutz der Arbeitnehmer vor „billiger Konkurrenz“ durch nicht tarifgebundene Arbeitnehmer gehen, zum anderen um den Schutz der tarifgebundenen Arbeitgeber vor sog. „Schmutzkonkurrenz“ durch Außenseiter-Arbeitgeber. § 5 TVG schütze die (tarifgebundenen) Arbeitgeber davor, durch tarifungebundene Mitbewerber vom Markt verdrängt zu werden6. § 5 TVG habe die Funktion, solche „Schmutzkonkurrenz“ durch AußenseiterArbeitgeber zu unterbinden. Der Schutz anderer Arbeitnehmer vor solchen Arbeitnehmern, die zu untertariflichen 9 Arbeitsbedingungen arbeiten, kann als Schutzzweck indes vernachlässigt werden. Da Arbeitgeber – zumindest bislang – in der Praxis die Arbeitsbedingungen nicht von der Gewerkschaftszugehörigkeit abhängig machen (können), sondern einheitliche Arbeitsbedingungen gewähren, kommt es unter den Arbeitnehmern faktisch nicht zu einer Konkurrenz, die über die Arbeitsbedingungen geklärt wird.
1 BAG v. 28.3.1990 – 4 AZR 536/89, NZA 1990, 781 (782 f.); BVerwG v. 3.11.1988 – 7 C 115/86, NZA 1989, 364 (367); Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 9; ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 1; HWK/ Henssler, § 5 TVG Rz. 1; Giesen, ZfA 2008, 355 (368); Wiedemann, RdA 1987, 262 (265); Witteler, BB 2007, 1620 (1621). 2 BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, NJW 1977, 2255 (2256). 3 Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 9. 4 So aber Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 19, S. 886. 5 BVerwG v. 3.11.1988 – 7 C 115/86, NZA 1989, 364 (367); OVG Berlin v. 15.3.1957 – OVG II B 52.56, AP Nr. 3 zu § 5 TVG. 6 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 19, S. 885; Kirsch, WSI-Mitteilungen 2003, 405 (406).
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Teil 7 Rz. 10 10
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
Unbestreitbar ist indes die Konkurrenz unter Arbeitgebern, die selbstverständlich auch über die Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter ausgetragen wird. Die AVE verfolgt insoweit aber richtigerweise nicht den Zweck, Außenseiterkonkurrenz zu verhindern. Ein solches Verständnis wäre systemfremd, denn das deutsche Tarifvertragssystem basiert geradezu auf der in den §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG niedergelegten Differenzierung zwischen Tarifgebundenen und Tarifungebundenen. Außenseiter, gleich ob Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, müssen sich nicht an TVe halten, dürfen auch untertarifliche Bedingungen gewähren bzw. zu diesen arbeiten1. Es handelt sich dabei nicht um Lohndumping oder „Schmutzkonkurrenz“, sondern um vom Tarifrecht grundsätzlich gestattetes Verhalten am Markt. Das TVG verhindert im Grundsatz den Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt nicht, soweit es um die Außenseiter geht. Insoweit besteht keine Kartellwirkung2. Die Grenzen für den Wettbewerb ergeben sich – neben dem neu eingeführten branchenübergreifenden Mindestlohn des MiLoG sowie den Lohnuntergrenzen des AEntG und des AÜG für die Leiharbeit – insbesondere aus § 138 Abs. 1 und Abs. 2 BGB durch das Verbot sittenwidriger Verträge bzw. des Lohnwuchers3. Verstärkt wird diese Argumentation, wenn man zutreffender Weise von der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübter Privatautonomie ausgeht4. Tarifvertragliche Arbeitsbedingungen sind auf dieser Grundlage unzweifelhaft auf die freiwilligen Mitglieder der Koalitionen begrenzt. Außenseiterkonkurrenz ist daher nicht systemfremd, sondern offensichtlich im TVG angelegt und gewollt. In diese Richtung tendiert auch die Rechtsprechung des BAG5 und des BGH6, wonach eine AVE grundsätzlich nicht mit Konkurrenzerwägungen im Verhältnis der Arbeitgeber zueinander begründet werden kann7. 3. Stärkung der Koalitionen
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Jedenfalls in der Rechtsprechung des BVerfG wird deutlich, dass § 5 TVG auch dazu dient „die Effektivität der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklungen“ zu sichern. Die antragsabhängige AVE sei „ein Instrument, das die von Art. 9 Abs. 3 GG intendierte autonome Ordnung des Arbeitslebens durch die Koalitionen abstützen“ solle, indem sie „den Normen der TVe zu größerer Durchsetzungskraft“ verhelfe8. Diesen Ausführungen lässt sich entnehmen, dass es dem BVerfG um den Schutz der Koalitionen selbst geht. Auch das BVerwG will § 5 TVG „im Lichte von Art. 9 Abs. 3 GG dahingehend auslegen, dass die Begünstigung [der TV-Parteien] beabsichtigt ist.“9 1 S. nur BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887 (893); Kissel, FS Otto, S. 225 (235); Richardi, ZfA 2003, 655 (656). 2 MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 179 Rz. 4 f. 3 ErfK/Preis, § 612 BGB Rz. 3; Henssler/Sittard, RdA 2007, 159. 4 Dazu ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 6. 5 BAG v. 24.1.1979 – 4 AZR 377/77, AP Nr. 16 zu § 5 TVG; BAG v. 12.10.1988 – 4 AZR 244/88, ZTR 1989, 108. 6 BGH v. 3.12.1992 – I ZR 276/90, NJW 1993, 1010. 7 BAG v. 24.1.1979 – 4 AZR 377/77, AP Nr. 16 zu § 5 TVG; in diese Richtung, wettbewerbsrechtliche Gesichtspunkte aber noch nicht gänzlich ausschließend, BAG v. 4.5.1977 – 4 AZR 10/76, AP Nr. 30 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau. 8 BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, NJW 1977, 2255 (2256); BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86 u.a., NJW 1996, 185 (187). 9 BVerwG v. 3.11.1988 – 7 C 115/86, NZA 1989, 364 (367).
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Tarifgeltung aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklrung nach § 5 TVG
Rz. 15 Teil 7
Diese Auffassung ist kritisch zu hinterfragen: Zwar ist es zweifellos richtig, dass durch 12 die AVE eine effektivere Verwirklichung des Inhalts von TVen erreicht wird1. Wenn gemäß § 5 Abs. 4 Satz 1 TVG die Rechtsnormen eines TVs auch für die bisher nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer gelten, dann wird der Einfluss eines TVs in seinem Tarifgebiet gestärkt. Es ist auch kaum bestreitbar, dass es sich dabei um einen Zweck und nicht nur um eine faktische Folge von § 5 TVG handelt2. Weniger klar ist allerdings, ob § 5 TVG auch die am erstreckten TV als TV-Parteien beteiligten Koalitionen stärken will. Dagegen spricht, dass eine „Staatshilfe“ für die Tarifparteien aufgrund ihrer Unabhängigkeit vom Staat abzulehnen ist3. Der Staat darf den Tarifparteien keine Erfolge verschaffen, die sie aus eigener Kraft nicht erreichen können. Als Mittel gegen die Untergrabung der Koalitionen steht den Gewerkschaften der Arbeitskampf zur Verfügung. Dies wird durch die Rechtsprechung des BVerfG bestätigt, wonach der Gesetzgeber nicht verpflichtet ist, Disparitäten auszugleichen, die nicht strukturell bedingt sind4, sondern nur auf inneren Schwächen einer Koalition beruhen. Der Organisationsgrad einer Koalition liege außerhalb der Verantwortung des Gesetzgebers5. Die fehlende Durchsetzungskraft von TVen, die das BVerfG im Urteil zu § 5 TVG als Grund für die AVE nennt, basiert aber allein auf inneren Schwächen einer Koalition. Eine starke Gewerkschaft kann auch tarifungebundene Arbeitgeber durch Arbeitskampfmaßnahmen zur Anwendung von TVen zwingen. Kann sie dies – zumeist wegen zu geringer Mitgliederstärke in den Betrieben des Arbeitgebers – nicht, handelt es sich gerade um eine solche vom BVerfG angesprochene „innere Schwäche“. Richtigerweise handelt es sich also bei der faktischen Stärkung der beteiligten TV- 13 Parteien nicht um ein Ziel von § 5 TVG (mit dem Ergebnis, dass eine AVE nicht damit begründet werden kann), sondern nur um eine faktische Folge. 4. Finanzierung von gemeinsamen Einrichtungen Da die AVE die Basis der Beitragszahler von gemeinsamen Einrichtungen nach § 4 14 Abs. 2 TVG erhöht, ist heute als wesentlicher Zweck von § 5 TVG die sog. Finanzierungsfunktion anerkannt6. Diese hat durch die Einführung des § 5 Abs. 1a TVG, wonach eine AVE von TVen über gemeinsame Einrichtungen unter vereinfachten Voraussetzungen und mit Verdrängungswirkung gegenüber anderen TVen möglich ist, Bestätigung erfahren (vgl. Rz. 17). Gemeinsame Einrichtungen nach § 4 Abs. 2 TVG funktionieren regelmäßig nur, wenn 15 die gesamte Branche ohne Rücksicht auf die Tarifgebundenheit an die Regelungen ge1 Vgl. nur Hueck/Nipperdey/Nipperdey, § 34, S. 654 f. 2 ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 2. 3 Löwisch/Rieble, § 5 TVG Rz. 13; MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 179 Rz. 5; Jacobs, GS Walz, S. 289 (295); Rieble, NZA 2007, 1 (2); auch Schubert, RdA 2001, 199 (207) betont die Staatsunabhängigkeit der Tarifparteien. 4 BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86 u.a., BVerfGE 92, 365 = NZA 1995, 754. 5 BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86 u.a., NJW 1996, 185 (186); ähnlich schon BVerfG v. 15.7.1980 – 1 BvR 24/74 u.a., NJW 1981, 215 (216); BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, NZA 2007, 987 (994). 6 Vgl. nur ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 1; HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 2; Löwisch/Rieble, § 5 TVG Rz. 8 ff.; Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 3; Hanau, RdA 1970, 165 ff.; Henssler, ZfA 1994, 487 (513 f.); Koch, Zusatzversorgungskasse, 1994, Rz. 26; Zachert, NZA 2003, 132 (136).
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Teil 7 Rz. 16
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
bunden ist1. Die nicht organisierten Arbeitgeber werden verpflichtet, ebenso wie die tarifgebundenen Arbeitgeber Beiträge an die gemeinsame Einrichtung zu zahlen. In der Praxis haben dies die TV-Parteien erkannt und verpflichten sich häufig schon im TV, die AVE zu beantragen. Teilweise wird die Allgemeinverbindlichkeit des TVs für so elementar gehalten, dass das Inkrafttreten des TVs von der aufschiebenden Bedingung der AVE abhängig gemacht wird2. 16
Das beste Beispiel stellen dabei die Urlaubskassen in der Bauwirtschaft dar. Da die Baubranche durch eine große Mobilität der Arbeitnehmer geprägt ist, erfüllen die Arbeitnehmer bei einem Arbeitgeber häufig nicht die Wartezeit für den Anspruch auf zusammenhängenden Urlaub nach § 4 BUrlG. Die Urlaubskasse lässt die Zugehörigkeit zur Branche ausreichen und ermöglicht auf diese Weise den Arbeitnehmern, bei ihrem Anspruch auf zusammenhängenden Urlaub auf Beschäftigungszeiten bei anderen Arbeitgebern Bezug nehmen zu können. Gleichzeitig erstattet die Urlaubskasse die tarifvertragsgemäß an Arbeitnehmer gezahlte Urlaubsvergütung, auch wenn deren Ansprüche bei anderen Arbeitgebern erworben wurden. Hier zeigt sich, dass gemeinsame Einrichtungen sowohl bei wirtschaftlicher als auch bei sozialpolitischer Betrachtungsweise häufig auf die Allgemeinverbindlichkeit angewiesen sind3. Denn ein entscheidender Zweck der gemeinsamen Einrichtungen liegt in ihrer Ausgleichsfunktion. Ziel ist es, einen Ausgleich der Belastungen zwischen den Arbeitgebern im Geltungsbereich des TVs herzustellen4. Erst die Allgemeinverbindlichkeit ermöglicht durch ihre Erstreckungswirkung auf die gesamte Branche die Erbringung der Leistungen an die Arbeitnehmer. Zudem bezweckt die gleichmäßige Belastung der Arbeitgeber und die Angleichung der Ansprüche auf Arbeitnehmerseite in einzelnen Branchen (insbesondere im Baubereich) die Stabilisierung der Branche (sog. Stabilisierungsfunktion)5.
17
Gestärkt wird diese Funktion durch den neu eingeführten § 5 Abs. 1a TVG. Danach können TVe bereits dann für allgemeinverbindlich erklärt werden, wenn sie die Einziehung von Beiträgen und Gewährung von Leistungen mit im einzelnen benannten Gegenständen (insbesondere Urlaub, Urlaubsgeld, betriebliche Altersversorgung, Vermögensbildung etc.) durch eine gemeinsame Einrichtung regeln. Auf das gesonderte Erfordernis des öffentlichen Interesses wird verzichtet. Ebenfalls hinzugekommen ist der § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG, der den Arbeitgeber auch dann zur Einhaltung des nach § 5 Abs. 1a TVG für allgemeinverbindlich erklärten TVs verpflichtet, wenn er eigentlich gem. § 3 TVG an einen anderen TV gebunden ist. Hierdurch wird ein Vorrang des allgemeinverbindlichen TVs über eine gemeinsame Einrichtung im Rahmen einer Tarifpluralität bzw. Tarifkonkurrenz geregelt. Auf diese Weise wird die Finanzierung von gemeinsamen Einrichtungen deutlich vereinfacht und unabhängig von einer anderweitigen Tarifbindung eine branchenweite Geltung gesichert und damit die Funktionsweise der gemeinsamen Einrichtungen garantiert. 1 Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 11; Kempen/Zachert/Seifert, § 5 TVG Rz. 8; Löwisch/Rieble, § 5 TVG Rz. 8 f.; Bötticher, Gemeinsame Einrichtungen, S. 66; Kempen, FS Zusatzversorgungskasse, S. 77 (82). 2 Löwisch/Rieble, § 5 TVG Rz. 10; s. auch Bötticher, Gemeinsame Einrichtungen, S. 68. 3 Bötticher, Gemeinsame Einrichtungen, S. 67; Thüsing/v. Hoff, ZfA 2008, 77 (100 f.); zu den Schwierigkeiten bei fehlender Allgemeinverbindlichkeit vgl. ebenfalls Thüsing/v. Hoff, ZfA 2008, 77 (80 ff.). 4 Jacobs, Tarifeinheit, S. 294; Leinemann, FS Zusatzversorgungskasse, S. 89 (90 f.). 5 Jacobs, Tarifeinheit, S. 294 f.
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Tarifgeltung aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklrung nach § 5 TVG
Rz. 21 Teil 7
Zu den genauen Anforderungen und Rechtsfolgen von § 5 Abs. 1a, 4 Satz 2 TVG, vgl. Rz. 69 ff.
III. Rechtsnatur der Allgemeinverbindlicherklärung Bei der Einordnung der Rechtsnatur der AVE handelt es sich – entgegen dem ersten 18 Anschein – nicht um eine rein akademische Frage. Nach altem Recht hatte die Einordnung der AVE gravierende Bedeutung für den Rechtsschutz der durch die AVE Betroffenen. Durch die Neufassung des ArbGG wurde die Bedeutung dieser Frage reduziert (vgl. ausführlich Rz. 120 ff.). Das BVerfG hat in seiner Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 19771 die Detailfragen 19 offen gelassen und festgestellt, die AVE von TVen sei im Verhältnis zu den ohne sie nicht tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ein Rechtsetzungsakt eigener Art zwischen autonomer Regelung und staatlicher Rechtsetzung. Eine früher häufig vertretene Ansicht sah in der AVE einen Verwaltungsakt in Form 20 einer Allgemeinverfügung (vgl. § 35 Satz 2 VwVfG)2. Die Gegenansicht wollte die AVE als Rechtsverordnung qualifizieren3. Eine dritte Ansicht schrieb der AVE eine Doppelnatur zu, wonach diese im Verhältnis zu den TV-Parteien ein Verwaltungsakt, im Verhältnis zu den nicht Tarifgebundenen ein Rechtsetzungsakt eigener Art auf Grundlage von Art. 9 Abs. 3 GG sei4. Dieser Ansicht hat sich auch das BAG – ausdrücklich allerdings nur bezüglich der Rechtsnatur gegenüber den nicht Tarifgebundenen – angeschlossen5. Eine weitere Auffassung will in der AVE gegenüber allen Betroffenen einen einheitlichen Akt der Rechtsetzung sehen6. Umstritten innerhalb dieser Ansicht ist allerdings, ob von dem einheitlichen Rechtsakt der AVE die negative Entscheidung über den Antrag der TV-Partei(en) abzugrenzen ist7. Überzeugend erscheint es, die Entscheidung des jeweiligen Ministers nach § 5 TVG 21 als Schlusspunkt eines einheitlichen staatlichen Rechtsetzungsverfahrens sui generis anzusehen8. Dass das BVerfG die AVE ausdrücklich nur im Verhältnis zu den nicht Tarifgebundenen als Rechtsetzungsakt sui generis charakterisiert hat, steht einer einheitlichen Einordnung des Aktes nicht entgegen. Ein besonderer Akt der Annahme oder Ablehnung des Antrags der Tarifparteien auf AVE existiert nicht. Es geht bei der AVE nicht um die Regelung von Normsetzungsrechten der TV-Parteien. Zwar sind 1 BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, AP Nr. 15 zu § 5 TVG. 2 OVG Berlin v. 15.3.1957 – OVG II B 52.56, AP Nr. 3 zu § 5 TVG; Herschel, RdA 1983, 162 ff.; Hueck, DB 1949, 431 (432). 3 BVerwG v. 6.6.1958 – VII CB 187.57, AP Nr. 6 zu § 5 TVG; BVerwG v. 1.8.1958 – VII A 35.57, AP Nr. 7 zu § 5 TVG; OVG Münster v. 7.9.1973 – XIV A 778/72, NJW 1974, 253. 4 Jacobs/Krause/Oetker/Schubert/Oetker, § 6 Rz. 89; ähnlich Kempen, FS Zusatzversorgungskasse, S. 77 (83 f.). 5 BAG v. 10.10.1973 – 4 AZR 68/73, AP Nr. 13 zu § 5 TVG; BAG v. 19.3.1975 – 4 AZR 270/74, AP Nr. 14 zu § 5 TVG; BAG v. 28.3.1990 – 4 AZR 536/89, NZA 1990, 781. 6 VGH Baden-Württemberg v. 15.7.1986 – 10 S 2310/84, VBl. BW 1987, 181; Löwisch/Rieble, § 5 TVG Rz. 115; Kopp/Schenke/Schenke, Anh. § 42 VwGO Rz. 63; Schaub/Treber, ArbRHdb., § 205 Rz. 6 f. 7 Dafür Kempen/Zachert/Seifert, § 5 TVG Rz. 23 dagegen Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 49. 8 Löwisch/Rieble, § 5 TVG Rz. 115.
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Teil 7 Rz. 22
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
sie an diesem Verfahren beteiligt, dies hat aber nicht zur Konsequenz, dass der Rechtsetzungsakt ihnen gegenüber eine andere Bedeutung hat als gegenüber den betroffenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Dieselbe staatliche Maßnahme kann niemals gegenüber bestimmten Personen ein Verwaltungsakt, gegenüber anderen aber eine Rechtsnorm sein1.
IV. Voraussetzungen der Allgemeinverbindlicherklärung 1. Zuständigkeit 22
Zuständig für den Erlass einer AVE ist nach § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG grundsätzlich das Bundesarbeitsministerium (derzeit Bundesministerium für Arbeit und Soziales). Gemäß § 5 Abs. 6 TVG kann das Bundesministerium das Recht zur AVE auf eine oberste Landesbehörde eines Landes, also ein Landesministerium, übertragen. Nach § 12 der TVGDV setzt dies voraus, dass der TV einen „regional begrenzten Geltungsbereich“ aufweist. Nach teilweise vertretener Ansicht soll diese Voraussetzung schon erfüllt sein, wenn der Geltungsbereich nicht wesentlich über ein Bundesland hinausgeht, was in der Regel der Fall sei, wenn nur zwei Bundesländer betroffen sind2. Dieser Auffassung ist nicht zu folgen: Richtigerweise kann eine Übertragung auf eine Landesbehörde nur erfolgen, wenn der TV nur für das jeweilige Bundesland gilt. Alles andere widerspricht dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG), weil das jeweilige Landesministerium nur hinsichtlich des jeweiligen Landes demokratisch legitimiert ist. Diese Legitimation kann auch nicht über eine Delegation einer Bundesbehörde erreicht werden. Im Übrigen wird es der Landesbehörde auch an den notwendigen Statistiken (z.B. für die Beurteilung der „überwiegenden Bedeutung“ nach § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1) und den Branchenkenntnissen bezüglich des anderen Bundeslandes fehlen. Der Wortlaut von § 12 TVGDV ist also einschränkend auszulegen. 2. Formelle Voraussetzungen der Allgemeinverbindlicherklärung a) Antrag
23
Bis zum Inkrafttreten des Tarifautonomiestärkungsgesetzes war nur der Antrag einer am TV-Abschluss beteiligten TV-Partei Voraussetzungen einer AVE. § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG n.F. verlangt nun – wie bei der Rechtsverordnung nach § 7 AEntG – einen Antrag beider TV-Parteien. Dabei genügt es, wenn die Anträge der Parteien inhaltlich identisch sind; ein gemeinsamer Antrag im technischen Sinne (z.B. in einer Urkunde) ist nicht erforderlich3. Das Erfordernis ist durch den Gesetzgeber aufgenommen worden, um der AVE zusätzliche Legitimation zu verleihen.4 Im Ergebnis ist es „im Tausch“ gegen den Wegfall des 50 %-Quorums nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG a.F. (wonach nicht weniger als 50 % der Arbeitnehmer im Geltungsbereich des TVs bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt sein durften) eingeführt worden, verfolgt dabei aber eine gänzlich andere Zielrichtung. Das 50 %-Quorum stellte eine gewisse 1 Kopp/Schenke/Schenke, Anh. § 42 VwGO Rz. 8; a.A. allerdings das BVerwG v. 3.5.1956 – I C 89.55, BVerwGE 3, 258 (264); BVerwG v. 14.5.1964 – VII C 158.60, BVerwGE 16, 83 (84 f.). 2 Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 82. 3 ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 20. 4 Jöris, NZA 2014, 1313 (1314).
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Tarifgeltung aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklrung nach § 5 TVG
Rz. 27 Teil 7
branchenweite Repräsentativität des TVs sicher, wohingegen das Erfordernis eines beiderseitigen Antrags ausschließt, dass der TV unabhängig vom Willen einer TV-Partei auch für Außenseiter verbindlich wird. Das ist eine durchaus legitime Erwägung, ersetzt aber nicht das rechtspolitische und verfassungsrechtliche Bedürfnis nach der Repräsentativität eines TV, der unabhängig von mitgliedschaftlicher Legitimation branchenweit gelten soll. Als Antragsteller kommen in erster Linie Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände 24 in Betracht. Bei einer – faktisch nicht vorkommenden – AVE eines FirmenTVs kann indes auch ein einzelner Arbeitgeber – gemeinsam mit der tarifschließenden Gewerkschaft – Antragsteller sein. Eine TV-Partei kann jeweils nur einen Antrag für die Erstreckung eines TVs stellen, an dem sie selbst als Partei beteiligt ist. Bei mehrgliedrigen TVen kommt es zunächst darauf an, ob es sich tatsächlich um einen gemeinsamen TV mehrerer TV-Parteien (echter mehrgliederiger TV) oder um verschiedene TVe handelt. In der letztgenannten Situation ist unzweifelhaft nur der Antrag einer beteiligten Partei erforderlich, wobei dann selbstverständlich nur der jeweilige TV dieser Partei von der AVE erfasst wird. Im Ergebnis spricht aber viel dafür, dass es auch beim echten mehrgliedrigen TV nicht erforderlich ist, dass alle auf einer Vertragspartnerseite zusammengeschlossenen Verbände einen gemeinsamen Antrag stellen. Vielmehr dürfte es ausreichen, wenn bspw. ein Mitglied einer (echten) Tarifgemeinschaft einen Antrag stellt, um das Verfahren nach § 5 TVG einzuleiten. Zwar kann sich diese Auffassung nicht unmittelbar auf den Wortlaut von § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG stützen, es ist aber zu berücksichtigen, dass das Antragserfordernis von der Bedeutung her nicht überstrapaziert werden darf. Legt man die Voraussetzung zu eng aus, verhindert man letztlich eine Prüfung der materiellen Voraussetzungen des § 5 TVG durch das zuständige Ministerium. Regelungen zur Antragstellung im schuldrechtlichen Teil eines TVs sind für das Verfahren nach § 5 TVG bedeutungslos. Weder die Verpflichtung zur (gemeinsamen) Antragstellung noch die Einigung der TV-Parteien darauf, keinen Antrag zu stellen, steht der Einleitung des Tarifnormerstreckungsverfahrens nicht entgegen.
25
Der Antrag ist nach § 4 Abs. 1 TVGDV vom Bundesarbeitsministerium im Bundes- 26 anzeiger bekannt zu machen. Davon darf das Ministerium aber gem. § 4 Abs. 2 TVGDV absehen und den Antrag sofort abweisen, wenn die Erstreckungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 TVG offensichtlich nicht erfüllt sind. Dies dürfte – trotz fehlender Regelung in der TVGDV – auch gelten, wenn bei einem TV über gemeinsame Einrichtungen die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1a offensichtlich nicht vorliegen. Arbeitgeber sollten in der Praxis derartige Bekanntmachungen für ihre Branche/Region aufmerksam verfolgen, weil eine AVE u.U. auch rückwirkend erklärt werden kann (vgl. Rz. 83 ff.). Der Antrag nach § 5 TVG kann von den Antragstellern bis zum Erlass der AVE jederzeit zurückgenommen werden. Da das Gesetz einen Antrag zwingend voraussetzt, entzieht die Rücknahme dem (laufenden) Verfahren die Grundlage und es ist zu beenden1. Hierfür reicht es nach der Neufassung des § 5 Abs. 1 TVG durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz aus, wenn einer der Antragsteller den Antrag zurück nimmt.
1 Ebenso Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 81.
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Teil 7 Rz. 28
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
b) Beteiligungsverfahren 28
In einem zweiten Schritt muss das zuständige Ministerium das Beteiligungsverfahren (Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme für betroffene Koalitionen etc.) nach § 5 Abs. 2 TVG durchführen. Nach der Rechtsprechung des BVerwG zur Rechtsverordnung des AEntG führen Fehler im Beteiligungsverfahren zur Rechtswidrigkeit des staatlichen Tarifnormerstreckungsaktes (hier der AVE)1. Dabei ist insbesondere darauf zu achten, dass die Stellungnahmemöglichkeit (sowie die Veröffentlichung des Antrags im Bundesanzeiger nach § 4 Abs. 1 TVGDV) erneut zu gewähren ist, wenn der erstreckte TV im Laufe des Verfahrens geändert wird2. c) Einvernehmen des Tarifausschusses
29
Zudem ist für eine Tarifnormerstreckung nach § 5 TVG das Einvernehmen des sog. Tarifausschusses (§ 5 Abs. 1 Satz 1 TVG) erforderlich. Dem Tarifausschuss gehören je drei Mitglieder der Spitzenverbände der Arbeitgeber und Arbeitnehmer an. Einzelheiten zum Tarifausschuss regelt die Durchführungsverordnung zum TVG (TVGDV). Nach § 1 TVGDV werden die Mitglieder auf Vorschlag der Verbände für die Dauer von vier Jahren bestellt.
30
Die Zustimmung des Tarifausschusses gilt nur dann als erteilt, wenn die Mehrheit seiner Mitglieder einer AVE eines TVs zugestimmt hat, § 3 Abs. 1 TVGDV. Dem Vertreter des Bundesarbeitsministeriums, der die Sitzungen leitet, steht kein Stimmrecht zu. Daraus folgt, dass sich die beiden „Lager“ gegenseitig blockieren können. Dieser Umstand war Ursache einer Änderung des AEntG im Jahr 1998: Bis zum sog. Korrekturgesetz der rot-grünen Regierung vom 19. Dezember 19983 war auch für die Erstreckung von TVen über das AEntG eine AVE erforderlich. Da aber die Zustimmung des Tarifausschusses als „Hemmschuh“ des Gesetzes4 empfunden wurde, wurde in das AEntG eine Rechtsverordnungsermächtigung aufgenommen, die nicht an die Zustimmung des Tarifausschusses gekoppelt ist.
31
Ohne Zustimmung des Tarifausschusses kann eine AVE nach § 5 TVG also nicht erfolgen. Das zuständige Ministerium ist in diesem Fall gezwungen, den Antrag der TVParteien abzulehnen. d) Entscheidung des Ministeriums und Erlass der Allgemeinverbindlicherklärung aa) Staatlicher Erstreckungsakt
32
Im Fall einer Zustimmung des Tarifausschusses ist das Bundesarbeits- bzw. das jeweilige Landesarbeitsministerium aber nicht gezwungen, die AVE zu erlassen. Vielmehr ist das Ministerium zu weiteren Prüfungen berechtigt und verpflichtet. Insbesondere muss es das Vorliegen der materiellen Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 bzw. Abs. 1a TVG prüfen. Darüber hinaus steht dem Ministerium ein erheblicher Ermessensspielraum bezüglich des „Ob“ einer AVE zu5. Zu den materiellen Voraussetzungen vgl. Rz. 38 ff. 1 2 3 4 5
BVerwG v. 28.1.2010 – 8 C 19/09, NZA 2010, 718 (724 f.). BVerwG v. 28.1.2010 – 8 C 19/09, NZA 2010, 718 (724 f.). BGBl. I 1998, S. 3843. So Kreiling, NZA 2001, 1118 (1118); s. auch Thüsing, Europ. Arbeitsrecht, 2008, S. 266. Vgl. ausführlich zum Ermessen Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 162 ff.
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Tarifgeltung aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklrung nach § 5 TVG
Rz. 37 Teil 7
Wird das Ermessen dahingehend ausgeübt, dass die Tarifnormerstreckung erfolgen 33 soll, so erlässt das zuständige Ministerium die AVE als staatlichen Akt. bb) Bekanntmachung Nach § 5 Abs. 7 Satz 1 TVG, § 11 TVGDV bedarf die AVE der Bekanntmachung im Bundesanzeiger. Erst dadurch wird der öffentlich-rechtliche Akt der AVE wirksam.
34
Nach alter Rechtslage wurde von der Bekanntmachung nach § 11 TVGDV allerdings 35 nur der Akt der AVE, nicht hingegen der allgemeinverbindliche TV erfasst. Dies hat sich gem. § 5 Abs. 7 Satz 2 TVG nun geändert. Danach sind die AVE selber und die erfassten Rechtsnormen des TVs öffentlich bekanntzugeben. Weiterhin können Arbeitgeber und Arbeitnehmer gem. § 9 TVGDV eine Abschrift von den TV-Parteien gegen Erstattung des Selbstkostenpreises verlangen. Schließlich hat der Arbeitgeber gem. § 8 TVG den TV im Betrieb auszulegen. Mit dieser Änderung hat der Gesetzgeber auf die bezüglich der restriktiven Veröffent- 36 lichungspraxis bestehenden Bedenken reagiert. Auch wenn diese Änderung aus verfassungsrechtlicher Sicht als längst überfällig anzusehen ist, geht die Veröffentlichungspraxis immer noch nicht weit genug. Insbesondere gilt der § 5 Abs. 7 TVG unmittelbar nur für die Aufhebung der AVE, nicht hingegen für den Ablauf des TVs. Eine Bekanntmachung des Ablaufs des TVs schreibt das Gesetz nicht vor. Aufgrund der vereinfachten Publizierungsmöglichkeit wäre zudem eine vereinfachte Veröffentlichung im Internet (z.B. auf der Homepage des BMAS) wünschenswert1. e) Möglichkeit einer Teil-Allgemeinverbindlicherklärung Streitig ist, ob das zuständige Ministerium berechtigt ist, einen TV auch nur teilweise 37 für allgemeinverbindlich zu erklären2. Das BAG geht davon aus, dass im Rahmen einer sog. Einschränkungsklausel eine teilweise AVE möglich ist3, wobei die Einschränkung an Art. 3 Abs. 1 GG zu messen sei und zudem hinreichend bestimmt sein müsse4. Die Gegenauffassung hält eine teilweise AVE nicht für möglich5. Der TV sei als einheitliches Ganzes zu sehen. Die Richtigkeitsgewähr des TVs6 würde entfallen, wenn durch die Herausnahme einzelner Normen das Ergebnis des sorgfältig
1 Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 310 f.; zust. Forst, RdA 2015, 25 (28). 2 Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 171; Kempen/Zachert/Seifert, § 5 TVG Rz. 44; Löwisch/Rieble, § 5 TVG Rz. 65. 3 BAG v. 26.10.1983 – 4 AZR 219/81, AP Nr. 3 zu § 3 TVG; BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736; BAG v. 25.7.2001 – 10 AZR 599/00, NZA 2002, 1406 (1407); BAG v. 20.6.2007 – 10 AZR 302/06, NZA-RR 2008, 24 (27 f.). 4 BAG v. 26.10.1983 – 4 AZR 219/81, AP Nr. 3 zu § 3 TVG; BAG v. 20.6.2007 – 10 AZR 302/06, NZA-RR 2008, 24 (27 f.); BAG v. 20.6.2007 – 10 AZR 312/06, AP Nr. 34 zu § 5 TVG. 5 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1271; HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 8; Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 59. 6 BAG v. 31.3.1966 – 5 AZR 516/65, AP Nr. 54 zu § 611 BGB Gratifikation; BAG v. 6.9.1995 – 5 AZR 174/94, NZA 1996, 437 (439); BAG v. 24.3.2004 – 5 AZR 303/03, NZA 2004, 971 (973); Löwisch/Rieble, Grundl. TVG Rz. 194; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 246 m.w.N.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 7, S. 284 ff.; krit. aber Isensee/Kirchhof/Isensee, HbStR, Bd. IV, § 71 Rz. 122.
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Teil 7 Rz. 38
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
ausgehandelten Interessenausgleichs verändert würde1. Die überzeugenderen Argumente allerdings sprechen für die Möglichkeit einer teilweisen Tarifnormerstreckung: Aus Sicht des durch die Allgemeinverbindlichkeit belasteten Grundrechtsträgers kann eine teilweise Allgemeinverbindlichkeit ein milderes Mittel sein. Zudem ist zu bedenken, dass ein öffentliches Interesse i.S.v. § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG nicht für den ganzen TV, insbesondere nicht für den gesamten Geltungsbereich, bestehen muss. Insbesondere die Einschränkung des Geltungsbereichs, z.B. um Überschneidungen mit anderen TVen zu verhindern, muss daher zulässig sein2. 3. Materielle Voraussetzungen der Allgemeinverbindlicherklärung 38
Die materiellen Voraussetzungen für die AVE sind durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz erheblich geändert und im Ergebnis abgesenkt worden. Das bis zum Inkrafttreten des Tarifautonomiestärkungsgesetzes am 16.8.2014 vorgesehene 50 %-Quorum des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG a.F. wurde ebenso abgeschafft wie die Ausnahmeregelung zum Erlass einer AVE im Fall eines sozialen Notstands. Neu eingeführt wurden die Regelbeispiele des § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, 2 TVG, bei deren Vorliegen ein öffentlichen Interesses grundsätzlich gegeben sein soll. Weiterhin findet sich in § 5 Abs. 1a TVG eine Sonderregelung bezüglich der AVE von TVen über gemeinsame Einrichtungen der TV-Parteien. a) Allgemeinverbindlicherklärbarer Tarifvertrag
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Im Schrifttum wird diskutiert, ob es Arten von TVen bzw. einzelne Regelungsgegenstände gibt, die nicht für allgemeinverbindlich erklärt werden dürfen. Insoweit gilt Folgendes ((+) = AVE möglich; (–) AVE nicht möglich; (str.) = streitig): aa) Arten von Tarifverträgen:
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– ausländischer TV: (–); – VerbandsTV: (+); – FirmenTV: (str.); – TV über gemeinsame Einrichtungen: (+); – TV von Berufsgewerkschaften: (+). bb) Regelungsgegenstände in Tarifverträgen:
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– TV mit dynamischer Verweisung auf andere TVe: (–); – TV über prozessuale Schiedsgerichte nach § 101 Abs. 2 ArbGG: (str.)3;
1 Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 59. 2 BAG v. 26.10.1983 – 4 AZR 219/81, AP Nr. 3 zu § 3 TVG; BAG v. 19.7.2000 – 10 AZR 918/98, NZA-RR 2001, 148. 3 Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 66; Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 156; a.A. Löwisch/Rieble, § 5 TVG Rz. 48; differenzierend Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 212 ff.
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Tarifgeltung aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklrung nach § 5 TVG
Rz. 44 Teil 7
– TV mit Differenzierungsklauseln: (–)1; – TV mit Kündigungsbeschränkungen oder Rationalisierungsschutzabkommen: grds. (+), aber strenge Verhältnismäßigkeitskontrolle; – TV mit Vertragsstrafen ggü. Außenseitern: (str.)2. b) Abschaffung des Quorums und Vorliegen des öffentlichen Interesses aa) Abschaffung des 50 %-Quorums Eine von zwei zentralen Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG a.F. war das 42 Vorliegen eines 50 %-Quorums. Danach war eine AVE nur zulässig, wenn die tarifgebundenen Arbeitgeber mehr als die Hälfte der unter den Geltungsbereich des TVs fallenden Arbeitnehmer beschäftigen. Zum einen sollte so eine gewisse Repräsentativität sicherstellt werden und zum anderen verhindern werden, dass die nicht tarifgebundenen Arbeitgeber durch eine Minderheit von tarifgebundenen Arbeitgebern majorisiert werden3. Dieses Quorum wurde durch die Novellierung im Rahmen des Tarifautonomiestärkungsgesetzes abgeschafft. Stattdessen genügt jetzt für den Erlass einer AVE gem. § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG das Vorliegen des öffentlichen Interesses, das in § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 TVG eine nähere Konkretisierung erfährt. Auch nach alter Rechtslage war gem. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 TVG grds. ein öffentliches Interesse erforderlich. In der Literatur bestand seit Jahren die Forderung nach der Absenkung des Quorums4. 43 Der Gesetzgeber hat diese Kritik zum Anlass genommen und das Quorum nicht nur abgesenkt, sondern vollständig abgeschafft. In der Gesetzesbegründung heißt es, dass eine starre 50 % Hürde in Zeiten sinkender Tarifbindung dem hohen Nutzen der AVE nicht mehr gerecht werde5. Zwar waren 58 % der Beschäftigten in Deutschland 2014 tarifgebunden, im Jahr 1998 waren es aber noch etwa 73 %. Ein vergleichbarer Rückgang ist auch bei der Tarifbindung der Betriebe zu verzeichnen6. Häufig werden tarifliche Regelung nur noch durch individualvertragliche Verweisungsklauseln in den Arbeitsvertrag einbezogen oder mittels betrieblicher Übung angewendet7. Im Jahr 2014 konnten 21 % der Beschäftigten eine solche Orientierung am TV vorweisen, während es 1999 nur etwa 17 % waren8. Auf der anderen Seite regt sich gegen die vollständige Abschaffung auch Kritik. Die 44 vom Gesetzgeber vorgetragene Begründung könne den Verzicht auf das Quorum nicht rechtfertigen9. Dem ist zuzustimmen: Das 50 %-Quorum gewährleistete eine beson1 Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 214 ff. 2 Vgl. BAG v. 22.10.2003 – 10 AZR 13/03, AP Nr. 16 zu § 1 TVG Tarifverträge: Gebäudereinigung; Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 221 f. 3 Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 152 f.; Zachert, NZA 2003, 132 (135). 4 Nielebock, Mindestentgelte und Mindestarbeitsbedingungen, S. 187; Zachert, NZA 2003, 132 (134); Sittard, Vorauflage, Rz. 49. 5 BT-Drucks. 18/1558, S. 1. 6 IAB Betriebspanel 2014, abrufbar unter: http://www.boeckler.de/wsi-tarifarchiv_2257.htm (zuletzt abgerufen: 27.1.2016). 7 Jöris, NZA 2014, 1313 (1315). 8 IAB Betriebspanel 2014, abrufbar unter: http://www.boeckler.de/wsi-tarifarchiv_2257.htm (zuletzt abgerufen: 27.1.2016). 9 Henssler, RdA 2015, 43 (50).
Sittard
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Teil 7 Rz. 45
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
dere Repräsentativität des zu erstreckenden TV. Nur bei einem solchen, aufgrund mitgliedschaftlicher Legitimation breit getragenem, TV ist es gerechtfertigt, nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu binden. Daher ist es zweifelhaft, ob die Erstreckung eines nicht repräsentativen TV verfassungsrechtlich zulässig ist. Nach hier vertretener Auffassung kann auf dieses Merkmal nicht vollständig verzichtet werden, was bei der Auslegung von § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG zu berücksichtigen ist. Im Einzelnen zu den verfassungsrechtlichen Bedenken vgl. Rz. 128 f. bb) Konkretisiertes öffentliches Interesse 45
Wie bei der Vorgängernorm ist auch nach dem geänderten Gesetzeswortlaut das Bestehen eines öffentlichen Interesses Voraussetzung für eine AVE. In § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 TVG wird dieses öffentliche Interesse durch die Einführung zweier Regelbeispiele nun erstmals näher konkretisiert. Eine AVE ist danach in der Regel im öffentlichen Interesse, wenn der TV in seinem Geltungsbereich für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen überwiegende Bedeutung erlangt hat (Nr. 1) oder die Absicherung der Wirksamkeit der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklung eine AVE verlangt (Nr. 2).
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Ausreichend ist es nach dem Wortlaut, dass die AVE im „öffentlichen Interesse geboten erscheint“. Unter dieser Voraussetzung „kann“ das Ministerium den TV erstrecken. (1) Zweck des öffentlichen Interesses
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Wegen des Tatbestandsmerkmals des öffentlichen Interesses kann eine AVE nur erfolgen, wenn das Interesse an ihrem Erlass (insbesondere der bezweckte Arbeitnehmerschutz) die Nachteile (insbesondere den Eingriff in die Rechte der Arbeitgeber) überwiegt. Aufgabe des unbestimmten Rechtsbegriffs des öffentlichen Interesses ist es, die AVE wegen des mit ihr verbundenen Grundrechtseingriffs in die Berufsfreiheit (durch Art. 12 GG geschützte Arbeitsvertragsfreiheit) sowie die Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) auf Fälle zu begrenzen, in denen der durch die AVE erzeugte Arbeitnehmerschutz auch tatsächlich geboten ist. Zugleich wird der Rechtsakt der AVE durch das Merkmal des öffentlichen Interesses gerichtlich kontrollierbar. Die Neuregelungen in § 5 TVG – insbesondere die Schaffung der Regelbeispiele – sind mit Blick auf diese Zwecksetzung dabei durchaus kritisch zu betrachten (vgl. Rz. 55 ff.). (2) Vorliegen des öffentlichen Interesses
48
Durch die Formulierung „insbesondere“ in § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG wird deutlich, dass die Regelbeispiele in Nr. 1 und 2, bei deren Vorliegen von einem öffentlichen Interesse auszugehen ist, nicht abschließend sind. Weder ist bei ihrem (nur schwer subsumierbaren) Vorliegen immer ein öffentliches Interesse gegeben noch fehlt es immer an einem solchen, wenn die beiden Regelbeispiele nicht einschlägig sind. Richtigerweise muss das Vorliegen des öffentlichen Interesses damit im Grundsatz weiterhin anhand der bislang zu § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 TVG entwickelten Kriterien ermittelt werden, wobei ergänzend die Regelbeispiele heranzuziehen sind.
620 Sittard
Tarifgeltung aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklrung nach § 5 TVG
Rz. 50 Teil 7
(a) Erforderlichkeit der Abwägung i.R. der Ermittlung des öffentlichen Interesses Um die Prüfung des Vorliegens des öffentlichen Interesses nachvollziehbar und sein Vorliegen subsumierbar zu machen, muss die Prüfung im Wege einer Verhältnismäßigkeitsprüfung stattfinden. Dabei bietet sich folgende Vorgehensweise an: 1. Stufe:
2. Stufe:
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Grundsätzliches Bestehen eines öffentlichen Interesses an der Allgemeinverbindlichkeit: Trotz des nun missverständlichen Gesetzeswortlauts begründet die Einschlägigkeit eines Regelbeispiels nach Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 oder 2 TVG noch kein öffentliches Interesse. Vielmehr muss ein konkreter Bedarf an zusätzlichem Arbeitnehmerschutz festgestellt werden. Als zulässiger Zweck zur Begründung des öffentlichen Interesses kommt wegen des Zwecks von § 5 TVG regelmäßig nur der Arbeitnehmerschutz (einschließlich der Finanzierung gemeinsamer Einrichtungen nach § 4 Abs. 2 TVG zur Behebung eines konkreten Bedarfs) in Betracht. Wettbewerbsaspekte, sei es zwischen Arbeitgebern oder zwischen Gewerkschaften, können kein öffentliches Interesse begründen. Dieser tatsächlicher Bedarf an Arbeitnehmerschutz ist positiv festzustellen und er muss durch die AVE behoben oder reduziert werden können (Geeignetheit, siehe unten). Ermittlung der gegen die Allgemeinverbindlicherklärung stehenden Interessen Gegen die AVE können insbesondere die Interessen der betroffenen Arbeitgeber (Erhöhung der Lohnkosten), die Gefahr des Arbeitsplatzverlusts sowie die Benachteiligung unbeteiligter Koalitionen (keine Staatshilfe für einzelne Koalitionen) sprechen.
3. Stufe:
Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und des Gleichheitssatzes Auf der dritten Stufe sind dann insbesondere die Geeignet- und Erforderlichkeit der AVE zur Zweckerreichung sowie die Angemessenheit zu prüfen. Im Rahmen der Geeignetheit ist z.B. in einem ersten Schritt zu prüfen, ob die AVE des konkreten TVs überhaupt in der Lage ist, die Defizite beim Arbeitnehmerschutz im Geltungsbereich des TVs zu beheben. Die Erforderlichkeitsprüfung verlangt die Untersuchung milderer Mittel (z.B. einer Teil-AVE statt einer AVE des gesamten TVs). Bei der Angemessenheitskontrolle muss insbesondere überprüft werden, welche Folgewirkungen mit einer AVE einhergingen und ob sie in einem angemessenen Verhältnis zu dem zusätzlichen Schutz stehen.
Dieses Prüfungsraster zeigt, dass eine AVE nicht schon deshalb erfolgen darf, weil 50 dies für den betroffenen TV in der Vergangenheit regelmäßig so gehandhabt wurde („bekannt und bewährt“). Eine solche Erwägung ist ermessensfehlerhaft und führt zur Rechtswidrigkeit der AVE. Ebenso wäre es ermessensfehlerhaft, das öffentliche Interesse nur deshalb zu bejahen, weil bestimmte Regelungsmaterien (z.B. Entgelt oder betriebliche Altersversorgung) betroffen sind. Vielmehr muss immer eine einzelfallbezogene Prüfung stattfinden, ob der Erlass der konkreten AVE geeignet, erforderlich und angemessen ist. Dabei ist zu beachten, dass die Anforderungen an die AVE strenger werden, je stärker sich die Regelungsmaterien von den „Kernarbeitsbedingungen“ (insbesondere Entgelt, Urlaub etc.) entfernen. TVe über den Vorruhestand oder die Altersteilzeit können daher nur unter äußerst strengen Kriterien für allgemeinverbindlich erklärt werden. Hieran hat sich durch die Einführung der Regelbeispiele in § 5 Abs. 1 TVG im Grundsatz auch nichts geändert. Eine AVE muss weiterhin verhältnismäßig sein, ansonsten verstößt sie wegen ihres Eingriffscharakters (vgl. Rz. 129) jedenfalls gegen Art. 12 Abs. 1 GG. Sittard
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Teil 7 Rz. 51
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
(b) Prüfungsmaßstab/Intendiertes Ermessen 51
Bereits nach altem Recht ergab sich aus der Formulierung „geboten erscheint“ in § 5 Abs. 1 TVG a.F. ein gewisser Spielraum des zuständigen Ministeriums bei der Entscheidung über die AVE. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG steht der zuständigen Behörde sogar ein „außerordentlich weiter“ Beurteilungsspielraum zu1. Eine gerichtliche Überprüfung der Entscheidung komme nur insoweit in Betracht, als der Behörde wesentliche Fehler vorzuwerfen seien2. Auch das BVerwG teilt diese Position und hat sich ausführlich zur gerichtlichen Kontrolle des öffentlichen Interesses geäußert: Dem zuständigen Minister stehe ein weites normatives Ermessen zu, dessen rechtliche Grenzen erst überschritten seien, wenn die getroffene Entscheidung in Anbetracht des Zwecks der Ermächtigung und der hiernach zu berücksichtigenden öffentlichen und privaten Interessen schlechthin unvertretbar und unverhältnismäßig sei3.
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Der Rechtsprechung ist grundsätzlich zuzustimmen: Beim Erlass einer AVE handelt es sich um einen Akt der Normsetzung, sodass dem zuständigen Ministerium ein normatives Ermessen zusteht4. Der Gestaltungsspielraum des administrativen Normgebers ist dabei zwischen dem des Parlaments und dem „schlichten“ Verwaltungsermessen angesiedelt5. Zudem findet bei einem normativen Ermessen keine Differenzierung zwischen Ermessen und Beurteilungsspielraum statt6. Der weite Gestaltungsspielraum führt aber nicht dazu, dass die Behörde keinen Begrenzungen unterworfen ist. Obwohl sich das BAG (fälschlicherweise) in einer Entscheidung aus den 1980er Jahren auf den Standpunkt gestellt hat, bei der AVE handele es sich nicht um staatliche Rechtsetzung gegenüber Außenseitern, die wie ein Gesetz an den Grundrechten zu messen sei, sondern um die Erstreckung der Tarifbindung auf Außenseiter7, unterliegt der zuständige Minister bei einer AVE einer uneingeschränkten Grundrechtsbindung, was sich auf die Kontrolldichte der Gerichte bei der Frage des öffentlichen Interesses auswirkt. Daher gelten die allgemeinen rechtsstaatlichen Grenzen für normatives Handeln, also insbesondere der Verhältnismäßigkeits- und der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz. Da die AVE in Grundrechtspositionen insbesondere der bislang tarifungebundenen Arbeitgeber eingreift, muss dieser Prüfungsmaßstab uneingeschränkt gelten.
1 BAG v. 12.10.1988 – 4 AZR 244/88, ZTR 1989, 108; BAG v. 28.3.1990 – 4 AZR 538/89, NZA 1990, 781; BAG v. 22.10.2003 – 10 AZR 13/03, AP Nr. 16 zu § 1 TVG Tarifverträge: Gebäudereinigung. 2 BAG v. 22.10.2003 – 10 AZR 13/03, AP Nr. 16 zu § 1 TVG Tarifverträge: Gebäudereinigung. 3 BVerwG v. 3.11.1988 – 7 C 115/86, NZA 1989, 364 (368), wobei das BVerwG auf eine Entscheidung des BVerfG [v. 8.6.1977 – 2 BvR 499/74 u.a., BVerfGE 45, 142 (162)] Bezug nimmt. Dort hat das BVerfG ausgeführt, die Gerichte könnten nur kontrollieren, ob der Verordnungsgeber die Zweckbindung der gesetzlichen Ermächtigung überschreitet, ob sie schlechterdings ungeeignet ist, diesen Zweck zu erreichen, oder ob sie unverhältnismäßig ist. 4 Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 153; Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 165 f. 5 Maunz/Dürig/Schmidt-Aßmann, Art. 19 GG Rz. 217a; Birk, JuS 1978, 168 (169); krit. zu einer derartigen Einordnung Herdegen, AöR (114) 1989, S. 607 (609); Ossenbühl, FS Huber, S. 283 (287 f.). 6 Vgl. BVerfG v. 14.5.1969 – 1 BvR 615/67, BVerfGE 26, 16 (30); BVerfG v. 20.10.1981 – 2 BVR 201/80, NJW 1982, 373 (374); Weitzel, Rechtsetzungsermessen, 1998, S. 109 m.w.N. 7 BAG v. 23.11.1988 – 4 AZR 419/88, AP Nr. 100 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau.
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Tarifgeltung aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklrung nach § 5 TVG
Rz. 56 Teil 7
Einer Rechtmäßigkeitskontrolle insbesondere am Maßstab des Verhältnismäßigkeits- 53 prinzips kann keinesfalls das Verbot der Tarifzensur1 entgegen gehalten werden2. Bei dem überstrapazierten Verbot der Tarifzensur geht es allein darum, dass der Staat (grundsätzlich) nicht die Angemessenheit von TVen für die mitgliedschaftlich Tarifgebundenen kontrollieren darf. Sein Prüfungsrecht bei der Frage, ob bislang Tarifungebundene aufgrund eines staatlichen Akts von einem TV erfasst werden sollen, wird dadurch aber in keiner Form eingeschränkt. Teilweise wird angenommen, dass bei Vorliegen der Regelbeispiele des § 5 Abs. 1 Satz 2 54 TVG von einem „intendierten Ermessen“ auszugehen ist und daher regelmäßig eine AVE erfolgen muss3. Dies ist schon deshalb abzulehnen, weil allein die „überwiegende Bedeutung“ eines TVs nicht in der Lage ist, eine AVE zu rechtfertigen. Die AVE dient dem Arbeitnehmerschutz und nur wenn sie hierzu einen konkreten Beitrag leisten kann ohne dabei unverhältnismäßig in die Grundrechte insbesondere der erfassten Arbeitgeber einzugreifen, darf eine AVE erfolgen. Die Regelbeispiele sind damit nicht mehr als eine Orientierung für das BMAS, die es aber nicht von der Pflicht zu einer umfassenden (normativen) Ermessensausübung entbindet4. (c) Regelbeispiel Nr. 1: Tarifvertrag hat überwiegende Bedeutung Nach dem ersten durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz eingeführten Regelbei- 55 spiel soll ein öffentliches Interesse in der Regel vorliegen, wenn der TV in seinem Geltungsbereich für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen überwiegende Bedeutung erlangt hat. Zunächst ist zu fragen, welche Arbeitsverhältnisse im Rahmen der „überwiegenden 56 Bedeutung“ zu berücksichtigen sind. Dabei kommt es nur auf die Arbeitsverhältnisse im Geltungsbereich des zu erstreckenden TVs an. In dessen Rahmen ist dann zu ermitteln, welche Arbeitsverhältnis „tarifgemäß ausgestaltet“ sind. Nach der Gesetzesbegründung soll es für die „tarifgemäße Ausgestaltung“ ausreichen, wenn sich die Arbeitsbedingungen an dem zu erstreckenden TV „orientieren“. Dies soll z.B. anzunehmen sein bei inhaltsgleichen AnschlussTVen, vertraglichen Inbezugnahmen und anderweitiger Orientierung am TV5. Unter letztere sollen etwa die Fortgeltung oder die Nachwirkung des TVs sowie die betriebliche Übung fallen6. Auf diese Weise werden – entgegen der alten Regelung in § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG a.F. – auch andere Formen der rechtlichen und faktischen Bindung an den TV als die Tarifbindung nach § 3 TVG mit einbezogen. Es erscheint indes überzeugend, von einer solchen tarifgemäßen Ausgestaltung nur auszugehen, wenn die Arbeitsverhältnisse sich komplett an dem zu erstreckenden TV orientieren und nicht nur einzelne Arbeitsbedingungen (z.B.
1 Zum Verbot der Tarifzensur vgl. BAG v. 6.9.1995 – 5 AZR 174/94, NZA 1996, 437 (439); ErfK/ Schmidt, Einl. GG Rz. 48; Dieterich, FS Schaub, S. 117 (122 f.). 2 So aber wohl die Rechtsauffassung des BMAS, vgl. Urteilsgründe des VG Berlin v. 7.3.2008 – 4 A 439/07, NZA 2008, 482 (487). 3 Forst, RdA 2015, 25 (30). 4 In diese Richtung auch Jöris, NZA 2014, 1313, 1319; vgl. zum Unterschied zwischen intendiertem Ermessen und Regelbeispielen auch Stelkens/Bonk/Sachs/Sachs, VwVfG § 40 Rz. 30. 5 BT-Drucks. 18/1558, S. 48 f. 6 Forst, RdA 2015, 25 (29); mit weiteren Beispielen, Henssler, RdA 2015, 43 (50).
Sittard
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Teil 7 Rz. 57
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
das Entgelt) tarifgemäß ausgestaltet sind1. Sind nur einzelne Arbeitsbedingungen überwiegend angewandt, kommt allenfalls eine teilweise AVE (vgl. Rz. 37) hinsichtlich dieser Arbeitsbedingungen in Betracht. 57
Ungeklärt ist, wann von einem „Überwiegen“ i.S. des Regelbeispiels auszugehen ist. Für die Berechnung muss – wie beim Quorum nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG a.F. – zum einen die sog. große Zahl (alle unter den Geltungsbereich des TVs fallende Arbeitnehmer) und zum anderen die kleine Zahl (Gesamtzahl der Arbeitsverträge, die sich am TV orientieren, wobei es anders als nach alter Rechtslage nicht nur auf die originäre Tarifbindung des Arbeitgebers ankommt) ermittelt werden. Teilweise wird von einer überwiegenden Bedeutung ausgegangen, wenn die Zahl der Arbeitsverhältnisse, die im Geltungsbereich des TVs durch den für die AVE vorgesehenen TV ausgestaltet sind, größer ist als die Zahl auf die dies nicht zutrifft2. Eine überwiegende Bedeutung soll vorliegen, wenn die Anzahl der Arbeitsverhältnisse, die sich an den Regeln des TVs orientieren, größer ist als die Anzahl derer, die sich nicht daran orientieren. Teilweise wird hingegen in dieser Berechnung ein Wiederaufgreifen des alten 50 %-Schwellenwertes gesehen3. Richtigerweise kann auch von einer „überwiegenden Bedeutung“ erst gesprochen werden, wenn die Hälfte der Arbeitsverhältnisse – auf welche Weise auch immer – an den zu erstreckenden TV gebunden sind, weshalb weiterhin viel dafür spricht, dass die kleine Zahl mindestens 50 % betragen muss. Zudem ist zu berücksichtigen, dass eine Erstreckung von nicht repräsentativen TVen verfassungsrechtlich problematisch ist (vgl. Rz. 59 f.; 129). Jedenfalls wenn das alte 50 %-Quorum erfüllt ist, sollte der Anwendungsbereich der neuen Vorschrift eröffnet sein.
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Selbst wenn man die 50 %-Schwelle nach neuer Rechtslage nicht für maßgeblich hält, kann ein TV „überwiegende Bedeutung“ nur haben, wenn er wesentlich größere Bedeutung besitzt als ein konkurrierender TV.4
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Rechtspolitisch und verfassungsrechtlich ist die Neufassung kritisch zu betrachten: Der Gesetzgeber setzt in § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG n.F. das Bestehen eines öffentlichen Interesses mit der Erfüllung eines (unklaren) Schwellenwertes gleich. Dabei ist dem Gesetzgeber aber ein „Denkfehler“ unterlaufen: Allein aus der mit dem Merkmal der „überwiegenden Bedeutung“ verlangten Mindestrepräsentativität folgt noch kein öffentliches Interesse. Gerade bei einer hohen Tarifbindung kann es an einem Bedürfnis an einer AVE fehlen, weil auch ohne sie eine hinreichender Arbeitnehmerschutz in einer Branche sichergestellt wird5. Die Repräsentativität eines TVs ist notwendige, aber in keinem Fall hinreichende Bedingung für den Erlass einer AVE. Dies bestätigt auch ein Blick in die Rechtsprechung des BVerfG. In der Grundlagenentscheidung des BVerfG zur AVE aus dem Jahr 1977 betonte das Gericht ausdrücklich die Notwendigkeit eines eigenständigen öffentlichen Interesses – z.B. des Arbeitnehmerschutzes – an der AVE.6 Dieses kann sich allein aus der überwiegenden Bedeutung nicht ergeben. Durch die Absenkung der Voraussetzungen besteht nach dem Gesetzeswortlaut die 1 2 3 4 5 6
ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 14. ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 14. Henssler, RdA 2015, 43 (50). Forst, RdA 2015, 25 (28). Bepler, Stärkung der Tarifautonomie, S. B115. BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, NJW 1977, 2255 (2256).
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Tarifgeltung aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklrung nach § 5 TVG
Rz. 61 Teil 7
Gefahr, dass die AVE nicht mehr ihrem Primärzweck – dem Arbeitnehmerschutz – dient, sondern zur zwangsweisen Ordnung des Arbeitsmarktes eingesetzt wird1. Vor diesem Hintergrund ist eine verfassungskonforme Auslegung von § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG erforderlich. Allein die „überwiegende Bedeutung“ eines TVs kann kein öffentliches Interesse begründen. Es bedarf vielmehr weiterhin eines nachweisbaren Bedarfs an zusätzlichem Arbeitnehmerschutz, der durch Erstreckung des konkreten TVs erreicht werden kann.2 Hierzu ist die unter Rz. 49 dargestellte Abwägung vorzunehmen, wobei alleine die Repräsentativität eines TVs für sich – entgegen dem Gesetzeswortlaut – noch kein öffentliches Interesse indiziert. Hinsichtlich der Ermittlung der „überwiegenden Bedeutung“ gilt der Amtsermitt- 60 lungsgrundsatz3. Da eine völlig exakte Ermittlung der Bedeutung des TV in der Praxis kaum möglich ist, darf das zuständige Ministerium Schätzungen vornehmen4. Insoweit können die Überlegungen zum alten Quorum nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG a.F. übertragen werden. Auf das Mittel der Schätzung darf aber nur nach genauer Auswertung aller Erkenntnismittel zurückgegriffen werden5. Dies setzt voraus, dass das Ministerium – soweit nicht von anderer Stelle aussagekräftiges und aktuelles statistisches Material existiert6 – selbst Statistiken erhebt7. Der Rückgriff auf veraltetes Material ist unzulässig8. Ebenso wenig darf das Ministerium das statistische Material der beteiligten Verbände ungeprüft übernehmen, da auf Seiten der Verbände in der Regel ein erhebliches Eigeninteresse an der AVE besteht. Keinesfalls können auch Schätzungen auf der Basis von Erfahrungswerten ausreichen9. Eine andere Herangehensweise verletzt den Amtsermittlungsgrundsatz10. Es ist also zwingend erforderlich, dass das Ministerium vor jeder AVE (und sei sie auch branchenüblich) das Vorliegen der „überwiegenden Bedeutung“ möglichst genau prüft. Bei Zweifeln darf die AVE nicht erfolgen. Durch die vom Gesetzgeber gewünschte Einbeziehung von „Tarifgeltungen“ kraft in- 61 dividualvertraglicher Instrumente (Bezugnahmeklausel, betriebliche Übung etc; vgl. Rz. 55 f.) in die Prüfung der überwiegenden Bedeutung wird die Ermittlung dieses Kriteriums erheblich erschwert. Allein die Angaben der beteiligten TV-Parteien können regelmäßig nicht ausreichend sein, weil es gerade um Angaben (Anzahl der Arbeitgeber, die Bezugnahmeklauseln verwenden) geht, die auch bei den TV-Parteien regelmäßig nicht vorliegen. Hier erscheint es überzeugend, vom Ministerium eigenständige Ermittlungen zu verlangen, die z.B. in der repräsentativen Befragung nicht tarifgebundener Arbeitgeber im Geltungsbereich des TVs bestehen können. Dabei ist auch fest-
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Höpfner, RdA 2015, 94 (99). Zust. Jöris, NZA 2014, 1313, 1319. BeckOK-ArbR/Giesen, § 5 TVG Rz. 15. BAG v. 11.6.1975 – 4 AZR 395/74, AP Nr. 29 zu § 2 TVG; BAG v. 24.1.1979 – 4 AZR 377/77, AP Nr. 16 zu § 5 TVG; BAG v. 12.10.1988 – 4 AZR 244/88, ZTR 1989, 108; HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 11; Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 156. HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 11; Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 65. Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 89. Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 156. VG Düsseldorf v. 16.11.2010 – 3 K 8653/08, ZTR 2011, 87 ff. mit Anm. Sittard, ZTR 2011, 131 ff. Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 89. Sittard, Tarifnomrerstreckung, S. 156.
Sittard
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Teil 7 Rz. 62
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
zustellen, ob der gesamte TV z.B. durch Bezugnahmeklauseln überwiegende Bedeutung hat oder ob nur einzelne Regelungen (z.B. das Entgelt) in Bezug genommen werden. Die „überwiegende Bedeutung“ muss hinsichtlich des gesamten TV-Inhalts gerichtsfest vom Ministerium nachgewiesen werden. 62
Die praktische Handhabung der befassten Ministerien war diesbezüglich schon unter Geltung des strengen Quorums des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG a.F. häufig sehr großzügig. Vor diesem Hintergrund war es zu begrüßen, dass die Gerichte die Rechtmäßigkeit von AVE zwischenzeitlich kritischer geprüft haben1. Da die Darlegungsund Beweislast für die Erfüllung der Erstreckungsvoraussetzungen beim normerlassenden Ministerium liegt, muss (im Rahmen einer arbeitsgerichtlichen Klage gem. § 2a Abs. 1 Nr. 5 ArbGG) bei Zweifeln an der überwiegenden Bedeutung die AVE für rechtswidrig erklärt werden. (d) Regelbeispiel Nr. 2: Absicherung der Wirksamkeit der tarifvertraglichen Normsetzung
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Bereits das BVerfG hatte betont, dass es Ziel der AVE sei „die Effektivität der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklungen“ zu schützen2. Der Gesetzgeber hat diese Formulierung des BVerfG aufgegriffen und in § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG als zweites Regelbeispiel verwendet, bei dessen Vorliegen in der Regel von einem öffentlichen Interesse auszugehen sei. Die zahlreichen unbestimmten Rechtsbegriffe lassen sich auch unter Berücksichtigung der Gesetzesbegründung kaum mit Leben füllen. So liegt nach dem gesetzgeberischen Willen eine wirtschaftliche Fehlentwicklung vor, wenn „die Aushöhlung der tariflichen Ordnung den Arbeitsfrieden“ gefährdet oder in Regionen bzw. Wirtschaftszweigen „Tarifstrukturen erodieren“3. Die Norm ergibt in der Logik des Gesetzgebers neben der Nr. 1 nur Sinn, wenn sie TVe erfasst, die gerade nicht für die Mehrheit der Arbeitsverhältnisse gelten. Damit wird der Erlass einer AVE erlaubt, obwohl sich die Mehrzahl der in der Branche Tätigen gegen die Anwendung des TVs entschieden haben. Dies kann überhaupt nur als verfassungsgemäß angesehen werden, wenn über den Wortlaut hinaus zwingend vorausgesetzt wird, dass der TV im konkreten Bereich nicht völlig unbedeutend ist4. Zudem muss im Rahmen der erforderlichen Abwägung (Rz. 49) der konkrete Arbeitnehmerschutzbedarf so hoch sein, dass die Bindung von Außenseitern an einen nicht repräsentativen TV gerechtfertigt werden kann.
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Wann genau die Tatbestandsvoraussetzungen gegeben sind, also wann die durch die AVE verstärkte Tarifbindung wirtschaftliche Fehlentwicklungen ausgleichen kann, bleibt unklar. Unklar ist schon, wann von „wirtschaftlichen Fehlentwicklungen“ auszugehen ist. So ist es denkbar solche anzunehmen, wenn nicht tarifgebundene Unternehmen in besonders wettbewerbsstarken Wirtschaftszweigen Kostenvorteile durch eine untertarifliche Zahlung zu Wettbewerbszwecken nutzen5. Dies überzeugt
1 Vgl. nur VG Düsseldorf v. 16.11.2010 – 3 K 8653/08, ZTR 2011, 87 mit Anm. Sittard, ZTR 2011, 131 ff. 2 BVerfG v. 24.5.1977 – 2BvL 11/74, NJW 1777, 2255 (2256). 3 BT-Drucks. 18/1558, S. 49. 4 ErfK/Franzen, § 5 TVG, Rz. 14a; Henssler, RdA 2015, 43 (51); Forst, RdA 2015, 25 (27). 5 Jöris, NZA 2014, 1313 (1316).
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Tarifgeltung aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklrung nach § 5 TVG
Rz. 66 Teil 7
aber nicht: Die AVE verfolgt gerade nicht den Zweck, gleiche Wettbewerbsbedingungen herzustellen, sondern dient primär dem Arbeitnehmerschutz (vgl. Rz. 11). Wirtschaftliche Fehlentwicklungen können unter Berücksichtigung des Sinns und Zwecks von § 5 TVG nur Entwicklungen sein, die zu einer erheblichen Absenkung des Arbeitnehmerschutzstandards führen. Dies kann bspw. ein Abfallen des Vergütungsniveaus sein. Allein die (flächendeckende) Nichtweitergabe von Tariflohnerhöhungen bei nicht gem. § 3 TVG tarifgebunden Arbeitgebern alleine begründet keine wirtschaftliche Fehlentwicklung. Vielmehr kann dies gerade Ausdruck einer Abkoppelung des Tarifvertragsniveaus von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Unternehmen sein. Zudem ist im Bereich des Entgelts zu berücksichtigen, dass durch das MiLoG nun ein Mindestschutzstandard gewährleistet ist und damit die Anforderungen an die Rechtfertigung einer AVE im Entgeltbereich gestiegen sind1. Auch die Neuregelung des § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG ist rechtspolitisch und aus ver- 65 fassungsrechtlicher Sicht kritisch zu sehen2. Der Gesetzgeber hat mit dem in § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG aF normierten sozialen Notstand eine für die Praxis nicht relevante Regelung abgeschafft, zugleich aber mit § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG eine Norm geschaffen, deren Voraussetzungen noch unbestimmter sind und deren praktische Relevanz schwer vorauszusehen ist3. Durch das nach dem Gesetzeswortlaut von der Repräsentativität abgekoppelte Regelbeispiel wird die Gefahr einer Fremdbestimmung von Außenseitern durch einen MinderheitsTV geschaffen. Die Ausdehnung der Tarifgebundenheit auf Außenseiter bedarf aber nach der Rechtsprechung des BVerfG einer besonderen Rechtfertigung, da sich die Normsetzungsbefugnis der Koalition nur auf die Mitglieder der tarifvertragsschließenden Parteien bezieht. In § 5 Abs. 1 TVG a.F. sah das BVerfG diese strengen Bedingungen noch als erfüllt an4. Im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung dürfen deshalb – wie oben erläutert (Rz. 59) – TVe, die keine Mindestrepräsentativität aufweisen, nicht für allgemeinverbindlich erklärt werden. Dabei erscheint es kaum vorstellbar, dass ein TV, der nicht einmal 25 % der Arbeitnehmer (Hälfte des Quorums nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG a.F.) in seinem Geltungsbereich kraft originärer Tarifbindung oder kraft Bezugnahme erfasst, geeignet ist, um gem. § 5 Abs. 1 TVG erstreckt zu werden. Zudem ist es schwer vorstellbar, einen TV gem. § 5 Abs. 1 TVG zu erstrecken, wenn im Geltungsbereich ein anderer TV repräsentativer ist. Zwar lässt das Regelbeispiel der Nr. 2 dies zu, die verfassungsrechtlichen Hürden sind aber wegen der Majorisierungsgefahr hoch5. (e) Einfluss des MiLoG Im Rahmen der Ermittlung des öffentlichen Interesses darf bei der potentiellen AVE 66 von EntgeltTVen die Einführung des allgemeinen Mindestlohns durch das MiLoG nicht außer Acht gelassen werden. Allgemeinverbindliche TVe sind auch im Entgeltbereich neben dem Mindestlohn zumindest theoretisch denkbar, wobei der gesetzliche
1 Jöris, NZA 2014, 1313 (1317). 2 Henssler, RdA 2015, 43 (52); Jöris, NZA 2014, 1313 (1316f); Bepler, Stärkung der Tarifautonomie, S. B114. 3 Ebenso Schaub/Trebler ArbRHdb., § 205 Rz. 18; Forst, RdA 2015, 25 (30). 4 BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, NJW 1977, 2255 (2257). 5 Vgl. dazu nach alter Rechtslage Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 152 f.; Zachert, NZA 2003, 132 (135).
Sittard
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Teil 7 Rz. 67
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
Mindestlohn nicht unterschritten werden darf. Auch die Übergangsregelung des § 24 Abs. 1 MiLoG, wonach bis Ende 2017 aufgrund „repräsentativer TVe“ der Mindestlohn unterschritten werden darf, gilt für „nur“ allgemeinverbindliche TVe nach § 5 TVG nicht. Die Norm verlangt nämlich gem. § 24 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 MiLoG, dass der jeweilige TV auch für Arbeitsverhältnisse mit ausländischem Vertragsstatut gilt (vgl. Rz. 153, 232), was nur bei TVen der Fall ist, die vom AEntG erfasst werden (vgl. Rz. 131 ff.). Dies kann aber auch ein TV der Baubranche nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 AEntG sein (vgl. § 3 AEntG), allgemeinverbindliche TVe in anderen Branchen hingegen nicht. Der Gesetzgeber hatte bei dieser Abweichungsbefugnis insbesondere Regelungen zur Fälligkeit und Arbeitszeitkonten vor Augen1. 67
Aufgrund der Mindestabsicherung durch das MiLoG sind an eine AVE im Entgeltbereich gesteigerte Anforderungen zu stellen. Begründbar ist dies nur, wenn das gesetzliche Mindestlohnniveau für eine Branche als hinnehmbar eingestuft wird (was nur schwer vorstellbar ist) oder wenn sich der besondere Arbeitnehmerschutzbedarf gerade in höheren Entgeltgruppen zeigt und die Schutzlücke damit nicht im Bereich der Mindestlöhne besteht. Inwieweit dann ein öffentliches Interesse besteht bleibt im Einzelfall zu prüfen2. c) Tarifverträge über gemeinsame Einrichtungen (Abs. 1a) aa) Allgemeines
68
Der durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz neu eingeführte Abs. 1a enthält erstmals Spezialregelungen für TVe über gemeinsame Einrichtungen. Durch diese Einrichtungen werden typischerweise sozialstaatliche Ziele, wie z.B. die Finanzierung von Urlaubskassen, verfolgt. Sinn und Zweck dieser Einrichtungen ist es, die aus dieser Aufgabenerfüllung resultierenden Lasten möglichst breit auf die branchenzugehörigen Arbeitgeber zu verteilen und setzen deshalb die branchenweite Geltung voraus. Ziel der Neuregelung ist es, alle Arbeitgeber im Geltungsbereich des TVs einzubeziehen und so die Funktionsfähigkeit der Einrichtung zu gewährleisten3. Hierzu hat der Gesetzgeber sowohl bei den Voraussetzungen der AVE als auch bei den Wirkungen Änderungen vorgenommen, wobei diese teilweise nur klarstellenden Charakter haben. Zum einen können TVe über gemeinsame Einrichtungen unter den allgemeinen formellen Voraussetzungen bereits dann für allgemeinverbindlich erklärt werden, wenn der TV die Einziehung von Beträgen und Gewährung von Leistungen mit im einzelnen benannten Gegenständen durch die Einrichtung regelt4. Zum anderen wurde der Vorrang dieser TVe im Rahmen einer Tarifkonkurrenz geregelt. bb) Voraussetzungen (1) Tarifvertrag über eine gemeinsame Einrichtung
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Voraussetzung für die Anwendung von § 5 Abs. 1a TVG ist ein TV „über eine gemeinsame Einrichtung“. Der Begriff der gemeinsamen Einrichtung ist identisch mit dem in 1 2 3 4
BT-Drucks. 18/1558, S. 34. Jöris, NZA 2914, 1313 (1317). Henssler, RdA 2015, 43 (52 f.). ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 14b.
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Tarifgeltung aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklrung nach § 5 TVG
Rz. 72 Teil 7
§ 4 Abs. 2 TVG verwendeten Begriff. Es ist nicht erforderlich, dass der TV ausschließlich Normen über die gemeinsame Einrichtung enthält. Dann können die TV-Parteien zum einen beantragen nur die entsprechenden Normen für über Abs. 1a für allgemeinverbindlich zu erklären oder einen sog. Mischantrag stellen, also beantragen alle TVNormen für allgemeinverbindlich zu erklären. Dann müssen indes die Voraussetzungen des Abs. 1 bezüglich des ganzen TVs oder zumindest bezüglich des Teils gegeben sein, der sich nicht auf die gemeinsamen Einrichtungen bezieht1. (2) Einziehung von Beiträgen oder Gewährung von Leistungen Der TV muss die Einziehung von Beiträgen und Gewährung von Leistungen durch eine gemeinsame Einrichtung regeln. Dabei muss die Einrichtung einen der Regelungsgegenstände der Nr. 1–5 erfassen. Nach dem Willen des Gesetzgebers ist die AVE über die in Nr. 1–5 genannten Regelungsbereiche sozialpolitisch grundsätzlich erwünscht. Die Aufzählungen sind abschließend, für einen TV außerhalb der aufgezählten Bereiche bleibt aber die AVE über Abs. 1 weiterhin möglich2.
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(3) Die einzelnen Katalogtatbestände (a) Erholungsurlaub, Urlaubsgeld oder zusätzliches Urlaubsgeld Unter Erholungsurlaub fallen solche Freistellungen von der Arbeit, die der Freizeit 71 und Erholung des Arbeitnehmers dienen. Nicht erfasst sind hingegen die Elternzeit oder andere Bildungsfreistellungen. Urlaubsgeld bezeichnet das dem Arbeitnehmers gem. § 11 BUrlG zustehende Entgelt, während zusätzliches Urlaubsgeld eine darüber hinausgehende Leistung bezeichnet3. Die gemeinsame Einrichtung muss demnach Beiträge „einsammeln“, die zur Finanzierung von entsprechenden Leistungen dienen. Hier sind insbes. die Urlaubskassen des Baugewerbes zu nennen. Die im Baugewerbe typischen Unterbrechungen des Arbeitsverhältnisses (z.B. während der Schlechtwetterperiode) hätten für viele Arbeitnehmer zur Folge, dass diese nach dem BUrlG wegen der Mindestbeschäftigungszeit keinen Anspruch auf einen vollen Jahresurlaub erwerben könnten. Das Urlaubsverfahren gleicht die Nachteile, die sich für die Arbeitnehmer bei Anwendung der Grundsätze des BUrlG ergeben würden, durch Zusammenrechnung aller Beschäftigungszeiten in Baubetrieben aus. Der Arbeitgeber, der den Jahresurlaub gewährt (obwohl z.B. die Mindestbeschäftigungszeit nach dem BUrlG nicht erfüllt ist), erhält dann Ausgleichszahlungen der Urlaubskasse. (b) Betriebliche Altersversorge im Sinn des Betriebsrentengesetzes Ebenfalls privilegiert sind gemeinsame Einrichtungen, die Altersversorgungsleistung nach dem BetrAVG gewähren. Voraussetzung ist danach, dass es sich um Leistungen der Alters-, Invaliditäts- oder Hinterbliebenversorgung aus Anlass eines Arbeitsverhältnisses handelt (§ 1 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG).
1 Forst, RdA 2015, 25 (30 f.). 2 BT-Drucks. 18/1558, S. 49. 3 Ausführlich: ErfK/Gallner, § 11 BUrlG Rz. 28–30.
Sittard
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Teil 7 Rz. 73
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
(c) Ausbildungsvergütung und Ausbildung in überbetrieblichen Bildungsstätten 73
Darüber hinaus erfasst sind gemeinsame Einrichtungen, die die Vergütung von Auszubildenden oder die Ausbildung in überbetrieblichen Bildungsstätten regelt. Die Ausbildungsvergütung ist die dem Auszubildenden gem. § 17 Abs. 1 BBiG zustehende Vergütung. Auszubildender ist gem. § 1 Abs. 3 BBiG, wer die für die Ausübung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit notwendigen beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten aufgrund eines Berufsausbildungsvertrages vermittelt bekommt. Daher sind Leistungen an Praktikanten oder Aushilfskräfte nicht erfasst.
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Überbetriebliche Bildungsstätten können alle Lernorte i.S.d. § 2 BBiG sein, damit sind neben betrieblichen Berufsbildungseinrichtungen auch berufsbildende Schulen und außerbetriebliche Bildungsstätten wie Behinderten-, Umschulungswerkstätten und Berufsförderungswerke erfasst1. Diesbezüglich muss die gemeinsame Einrichtung nicht zwingend die Vergütung regeln, denkbar sind nach dem Gesetzeswortlaut auch andere Regelungsgegenstände. (d) Zusätzliche betriebliche oder überbetriebliche Vermögensbildung
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Vermögensbildung meint insbes. die vermögenswirksamen Leistungen Dabei handelt es sich um eine staatlich geförderte Sparform in Deutschland. Gesetzliche Grundlage ist das Fünfte Vermögensbildungsgesetz (5. VermBG). Allerdings enthält die Regelung keine Begrenzung auf Zahlungen i.S. des VermBG, vielmehr liegt eine Vermögensbildung immer dann vor, wenn der Arbeitnehmer kontinuierliche Beträge leistet, um Kapital aufzubauen2. (e) Lohnausfall bei Arbeitszeitausfall, -verkürzung oder -verlängerung
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§ 5 Abs. 1a Satz 1 Nr. 5 erfasst gemeinsame Einrichtungen, die Lohnausfallzahlungen leisten und zwar bei Arbeitszeitausfall, Arbeitszeitverkürzung oder Arbeitszeitverlängerung. Auch hier spielt die Baubranche wegen der häufigen Arbeitsausfälle aufgrund der Witterungsabhängigkeit eine große Rolle. Hier orientierte sich der Gesetzgeber vor allem am Baugewerbe, in dem Arbeitnehmer während der Schlechtwetterperiode häufig nicht beschäftigt werden. Die SOKA Bau erhebt aus diesem Grund eine s.g. Winterbeschäftigungs-Umlage, die unter anderem zur Finanzierung der ergänzenden Leistungen zum Saison-Kurzarbeitergeld genutzt wird. Dadurch werden den Arbeitgebern, die in den Wintermonaten auf die Entlassungen wegen saisonal bedingtem Arbeitsausfall verzichten, einen Teil der Lohnkosten erstattet. Die Arbeitnehmer erhalten dadurch ein gleichmäßiges, über das Jahr verteiltes Einkommen3. (4) Sicherung der Funktionsfähigkeit der gemeinsamen Einrichtung
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Der Wortlaut von § 5 Abs. 1a TVG lässt allein die Regelung dieser Gegenstände genügen. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass in diesen Fällen regelmäßig von einem 1 ErfK/Schlachter, § 2 BBiG Rz. 1–2. 2 Forst, RdA 2015, 25 (31 f.). 3 Merkblatt „Saison-Kurzarbeiterentgelt“, https://www.arbeitsagentur.de/web/wcm/idc/groups/ public/documents/webdatei/mdaw/mta1/~edisp/l6019022dstbai433560.pdf (zuletzt abgerufen am 29.1.2016); Forst, RdA 2015, 25 (31).
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Tarifgeltung aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklrung nach § 5 TVG
Rz. 81 Teil 7
öffentlichen Interesse auszugehen ist. Damit wird unterstellt, dass ein öffentliches Interesse an der AVE stets gegeben ist, wenn durch diese die Funktionsfähigkeit der gemeinsamen Einrichtung gewährleistet werden soll. Die Funktionsfähigkeit erfordert nämlich in der Tat eine branchenweite Beteiligung an den Beiträgen, damit auch die Leistungen unabhängig von der Tarifbindung des Arbeitgebers gewährt werden können. Wenn bspw. ein TV in der Baubranche die Gewährung des vollen Jahresurlaubs ermöglicht, obwohl ein Arbeitnehmer mehrfach den Arbeitgeber gewechselt hat, dann muss dies unabhängig von der Tarifbindung dieses Arbeitgebers möglich sein. Dazu ist es grds. notwendig, dass alle Arbeitgeber in den Geltungsbereich des TVs einbezogen werden1. Nur mit Hilfe auch aller Nichtorganisierten erhalten die Einrichtungen zahlreiche Leistungserbringern, um auf Dauer am Markt überleben zu können2 und die Leistungen flächendeckend gewähren zu können. Allerdings muss auch bei Abs. 1a richtigerweise ein Bedarf an der Leistung der ge- 78 meinsamen Einrichtung positiv festgestellt werden, um die AVE verfassungsrechtlich zu rechtfertigen. Trotz des entgegenstehenden Wortlauts ist daher das Bestehen eines öffentlichen Interesses zu fordern. Entgegen dem Gesetzeswortlaut müssen hier sogar gesteigerte Anforderungen gelten, da § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG den Vorrang allgemeinverbindlicher TVe im Fall einer Tarifkonkurrenz anordnet (vgl. Rz. 91 ff.). Mit dieser Vorrangwirkung geht neben dem Eingriff insbesondere in die Berufsfreiheit ein erheblicher Eingriff in die Koalitionsfreiheit der Parteien des verdrängten TV einher. Dies muss i.R. der Verhältnismäßigkeitsprüfung berücksichtigt werden. (5) Auswahlentscheidung bei konkurrierendem TV Gilt im Geltungsbereichs des TVs über die gemeinsame Einrichtung ein weiterer TV, 79 der ebenfalls eine gemeinsame Einrichtung mit zumindest teilweise gleichen Regelungsgenständen zum Gegenstand hat, muss das zuständige Ministerium bei der Entscheidung über die AVE gem. § 5 Abs. 1a Satz 3 TVG den § 7 Abs. 2 AEntG anwenden (vgl. Rz. 172 ff.). Bei der § 5 Abs. 1a Satz 3 TVG handelt es sich um einen partiellen Rechtsgrundverweis auf § 7 Abs. 2 AEntG. Unanwendbar bleiben die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 AEntG und die Weiterverweisung des § 7 Abs. 2 AEntG auf § 1 AEntG, insofern gilt § 5 Abs. 1a TVG3. Nach § 7 Abs. 2 AEntG kann eine AVE im Zweifel nur erfolgen, wenn der zu erstre- 80 ckende TV der repräsentativere ist, wobei für die Ermittlung der Repräsentativität die Kriterien des § 7 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 und 2 AEntG heranzuziehen sind (vgl. im Einzelnen Rz. 172). Allerdings enthält § 7 Abs. 2 AEntG keinen Zwang zur Erstreckung des repräsentativeren TVs, sondern verpflichtet das Ministerium nur zur Berücksichtigung der Repräsentativität im Rahmen der Gesamtabwägung. Auch diese Gesetzesformulierung zeigt, dass auch die Entscheidung über die AVE nach Abs. 1a eine Abwägungsentscheidung ist und ein öffentliches Interesse ermittelt werden muss. Existieren konkurrierende gemeinsame Einrichtungen (was nur selten der Fall sein 81 dürfte) muss das Ministerium allerdings genau prüfen, ob trotzdem ein besonderer Be-
1 BT-Drucks. 18/1558, S. 49. 2 Wank, in: Wiedemann, 6. Aufl. 1999, § 5 TVG, Rz. 150. 3 Forst, RdA 2015, 25 (33), wohl auch ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 14b.
Sittard
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Teil 7 Rz. 82
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
darf an Arbeitnehmerschutz besteht, der durch die AVE eines TVs über gemeinsame Einrichtungen behoben werden kann; die AVE darf nicht dazu genutzt werden, einen etwaigen „Konkurrenzkampf“ zwischen mehreren gemeinsamen Einrichtungen der TV-Parteien durch einen staatlichen Eingriff zu entscheiden. Konkurrieren also zwei ähnlich starke gemeinsame Einrichtungen miteinander muss eine AVE im Zweifel unterbleiben. cc) Praktische Relevanz 82
Der neue Abs. 1a hat im Bereich des Baugewerbes bereits erste praktische Relevanz erhalten: Das BMAS erklärte im Juli 2015 den TV über die Berufsbildung im Baugewerbe (BBTV), den TV über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) und den TV über eine zusätzliche Altersversorgung im Baugewerbe aufgrund der Regelung des § 5 Abs. 1a TVG für allgemeinverbindlich1. Durch die erleichterten Voraussetzungen der AVE für TVe über gemeinsame Einrichtungen, insbesondere die Streichung des 50 %-Quorums, könnten diese erheblich an Bedeutung gewinnen. Insbesondere im Bereich der betrieblichen Altersversorgung strebt die Bundesregierung eine vermehrte Bedeutung an.2 Wegen der Vorrangwirkung des § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG würden sich entsprechende TVe auch flächendeckend durchsetzen. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass hierin – gerade wegen der Verdrängungswirkung gegenüber anderen und sei es spezielleren TVen – ein erheblicher Eingriff sowohl in die Koalitionsfreiheit konkurrierender Verbände als auch die Berufsfreiheit des Arbeitgebers liegt. Auch aufgrund der Verdrängungswirkung muss streng geprüft werden, ob eine AVE eines TV über gemeinsame Einrichtungen verhältnismäßig ist (vgl. schon Rz. 77). d) Rückwirkung der Allgemeinverbindlicherklärung
83
Häufig stellen sich bei einer AVE Fragen der Rückwirkung. Dabei muss zwischen der AVE rückwirkender TVe und der rückwirkenden AVE differenziert werden.
84
Die Rückwirkung von TVen wird von der Rechtsprechung gebilligt3. Wird ein in wirksamer Weise rückwirkender TV gemäß § 5 TVG erstreckt, handelt es sich um die AVE eines rückwirkenden TVs.
85
Wird ein TV für die Vergangenheit für allgemeinverbindlich erklärt, liegt eine rückwirkende AVE vor. Auch diese wird von der h.M. für zulässig gehalten4. Dabei werden die Begrenzungen der Rückwirkung von Gesetzen (bzw. Verordnungen) auf die AVE übertragen5. Äußerste Grenze der Rückwirkung der AVE ist der Beginn der Nor-
1 BAnz AT v. 14.7.2015 B 2–4. 2 Vgl. dazu NJW-Spezial 2015, 84; ausführlich zu den Plänen der Bundesregierung Rolfs, NZABeilage 2015, 67. 3 BAG v. 20.6.1958 – 1 AZR 245/57, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Rückwirkung; BAG v. 23.11.1994 – 4 AZR 879/93, NZA 1995, 844 (845 ff.); BAG v. 17.5.2000 – 4 AZR 216/99, NZA 2000, 1297 (1298). 4 BAG v. 3.11.1982 – 4 AZR 1255/79, AP Nr. 18 zu § 5 TVG; BAG v. 25.9.1996 – 4 AZR 209/95, NZA 1997, 495 (496 f.); HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 28; Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 104 f.; krit. Löwisch/Rieble, § 5 TVG Rz. 82 ff. 5 BAG v. 3.11.1982 – 4 AZR 1255/79, AP Nr. 18 zu § 5 TVG; BAG v. 25.9.1996 – 4 AZR 209/95, NZA 1997, 495 (496 f.); ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 16; HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 28.
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Tarifgeltung aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklrung nach § 5 TVG
Rz. 86 Teil 7
menwirkung des TVs selbst1, da ansonsten der Geltungsbereich des TVs durch § 5 TVG erweitert würde, was per se ausgeschlossen ist (vgl. Rz. 88). Nach § 7 Satz 3 TVGDV bestimmt das BMAS im Benehmen mit dem Tarifausschuss den Zeitpunkt der Allgemeinverbindlichkeit. § 7 Satz 3 TVGDV sieht dabei vor, dass der Beginn der Erstreckungswirkung grundsätzlich nicht vor der Bekanntmachung des Antrags auf AVE liegt. D.h. aber auch, dass die AVE auch vor ihrer Veröffentlichung nach § 5 Abs. 7 Satz 1 TVG, also rückwirkend, wirksam werden kann. Die Einschränkung des § 7 Satz 3 TVGDV auf den Zeitraum ab der Bekanntmachung des Antrags gilt nur „in aller Regel“ und nur, wenn es sich nicht um die Erneuerung oder Änderung eines bereits allgemeinverbindlich erklärten TVs handelt. Bei einer Erneuerung einer AVE ist die Rückwirkung nach der TVGDV also nicht auf den Zeitpunkt ab der Bekanntmachung des Antrags beschränkt. Es ist allerdings zweifelhaft, ob die TVGDV insoweit rechtmäßig ist: Aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten dürfen nachteilige staatliche Akte (wie aus Arbeitgebersicht die AVE) grundsätzlich nicht rückwirkend ergehen2. Daher muss die Veröffentlichung und damit das Wirksamwerden der AVE nach § 5 Abs. 7 Satz 1 TVG den maßgeblichen Zeitpunkt bilden, ab dem die Tarifnormen allgemeinverbindlich wirken3. Dies gilt jedenfalls dann, wenn ansonsten ein Fall echter Rückwirkung gegeben wäre4.
V. Tarifgeltung aufgrund einer Tarifnormerstreckung durch Allgemeinverbindlicherklärung 1. Tarifgebundenheit als Wirkung des § 5 Abs. 4 TVG a) Grundprinzipien der Erstreckungswirkung Nach § 5 Abs. 4 Satz 1 TVG erfassen die Rechtsnormen des TVs in seinem Geltungs- 86 bereich mit der AVE auch die bisher nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Schon der Wortlaut stellt klar, dass allein die Rechtsnormen eines TVs auf bisher nicht Tarifgebundene erstreckt werden. § 5 Abs. 4 TVG statuiert damit neben der nach § 3 Abs. 1, 2, § 4 Abs. 1 TVG mitgliedschaftlich legitimierten eine weitere Art der Tarifgebundenheit5. Zwischen der Geltung des TVs kraft mitgliedschaftlicher Legitimation und der kraft staatlicher Normerstreckung nach § 5 TVG besteht grundsätzlich kein Unterschied. Die Tarifnormen sind unmittelbar und zwingend im gesamten Geltungsbereich des TVs anwendbar6. Wurde allerdings – was zumindest theoretisch denkbar ist – ein nur nachwirkender TV für allgemeinverbindlich erklärt, so entfaltet auch der allgemeinverbindliche TV nur die unmittelbare, aber nicht zwingende Wirkung, die einem „normalen“ nachwirkenden TV zukommt.
1 ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 10; HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 27; Jacobs/Krause/Oetker/Schubert/Oetker, § 6 Rz. 112; Kempen/Zachert/Seifert, § 5 TVG Rz. 72; Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 106; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 19, S. 897; Houben, Rückwirkung von Tarifverträgen, 2006, S. 307. 2 Maunz/Dürig/Grzeszick, Art. 20 GG VII Rz. 65, 69. 3 Ebenso Löwisch/Rieble, § 5 TVG Rz. 82. 4 Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 206 ff. 5 Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 164; Jacobs/Krause/Oetker/Schubert/Oetker, § 6 Rz. 116. 6 ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 5; HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 31; Kempen/Zachert/Seifert, § 5 TVG Rz. 77; Löwisch/Rieble, § 5 TVG Rz. 25; Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 127.
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Teil 7 Rz. 87
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
87
Der Inhalt des TVs bleibt durch die AVE unverändert1. Einschränkungen bestehen sowohl hinsichtlich des Geltungsbereichs als auch hinsichtlich einzelner Normen nur, wenn der zuständige Minister vom Recht zur teilweisen AVE Gebrauch gemacht hat. Dann wird der TV insoweit für allgemeinverbindlich erklärt wie der zuständige Minister dies anordnet.
88
Missverständnisse im Hinblick auf die Wirkungen der AVE entstehen teilweise durch die Formulierung, die AVE ändere den „persönlichen Anwendungsbereich“ des erfassten TVs2. Damit kann richtigerweise nicht der Geltungsbereich des TVs gemeint sein. Denn letzterer wird durch die AVE nie erweitert, § 5 Abs. 4 TVG setzt nicht beim Geltungsbereich, sondern bei der Tarifgebundenheit (§ 3 Abs. 1 TVG) an und verändert deren Voraussetzungen.
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Da es sich bei allgemeinverbindlichen Tarifnormen um Rechtsnormen handelt, tritt die Wirkung ab dem Zeitpunkt der öffentlichen Bekanntmachung gemäß § 5 Abs. 7 TVG auch unabhängig von der Kenntnis der Betroffenen ein3. b) Verzicht, Verwirkung, Ausschlussfristen
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Für Verzicht, Verwirkung und Ausschlussfristen gelten die Regelungen in § 4 Abs. 4 TVG. c) Von der Allgemeinverbindlicherklärung erfasste Arbeitsverhältnisse
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Adressaten einer AVE sind in erster Linie die bisher nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, d.h. Arbeitsverhältnisse, für die bislang keine Tarifbindung qua Mitgliedschaft (gemäß § 3 Abs. 1, 2 TVG) besteht.
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Neu eingeführt ist mit § 5 Abs. 4 Satz 2 i.V.m. § 5 Abs. 1a TVG für allgemeinverbindliche TV über gemeinsame Einrichtungen erstmals eine „Konkurrenzregelung“, die einen Vorrang dieser allgemeinverbindlichen TVen gegenüber konkurrierenden TVen regelt. Zur Stärkung der branchenweiten Geltung von Normen über gemeinsame Einrichtungen der TV-Parteien hat der Gesetzgeber eine Verdrängungswirkung zugunsten des allgemeinverbindlichen TVs über gemeinsame Einrichtungen aufgenommen (vgl. Rz. 99).
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Außerhalb der Sonderregelung des § 5 Abs. 1a, 4 TVG, erfasst die AVE nach Rechtsprechung4 und h.M. im Schrifttum5 auch Arbeitsverhältnisse, für die bereits eine kongruente Tarifbindung besteht. Folge dieser Auffassung ist, dass es im Fall einer AVE bei kollidierenden TVen regelmäßig zu einer Tarifkonkurrenz kommt. § 5 Abs. 4 Satz 1 TVG dehnt demnach den TV auf alle Arbeitsverhältnisse in seinem Geltungsbereich aus, ohne auf eine anderweitige kongruente Tarifbindung Rücksicht zu neh1 2 3 4
Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 165. BVerwG v. 6.6.1958 – VII CB 187.57, BVerwGE 7, 82 (84 f.). BAG v. 16.8.1983 – 3 AZR 206/82, AP Nr. 131 zu § 1 TVG Auslegung. BAG v. 19.1.1962 – 1 AZR 147/61, AP Nr. 11 zu § 5 TVG; BAG v. 24.9.1975 – 4 AZR 471/74, AP Nr. 11 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 14.6.1989 – 4 AZR 200/89, NZA 1990, 325; BAG v. 25.7.2001 – 10 AZR 599/00, NZA 2002, 1406 (1407 ff.). 5 Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 164 ff.; HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 31; Kempen/Zachert/Seifert, § 5 TVG Rz. 82; Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 146.
634 Sittard
Tarifgeltung aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklrung nach § 5 TVG
Rz. 96 Teil 7
men. Das bedeute jedoch nicht, dass der erstreckte TV zwingend Anwendung finden müsse, vielmehr handele es sich um ein Problem der Tarifkonkurrenz1. Nur für den Fall eines allgemeinverbindlichen TV nach Abs. 1a enthält § 5 Abs. 4 Satz 4 TVG eine Regelung zur Auflösung der Tarifkonkurrenz. Keine Anwendung findet in diesem Bereich der durch das Tarifeinheitsgesetz neu eingeführte § 4a TVG. Die in § 4a Abs. 2 TVG beschriebene Tarifkollision betrifft nicht das Verhältnis eines allgemeinverbindlich erklärten TVs zu einem anderen TV, an den der AG gem. § 3 TVG gebunden ist.2 Durch eine AVE kommt es auf Grundlage des Verständnisses der h.M. immer zu einer Tarifkonkurrenz (mehrere TVe gelten für ein Arbeitsverhältnis) und nicht nur zu einer Tarifpluralität im Betrieb. Die vom Verfasser vertretene Mindermeinung will hingegen einen allgemeinverbind- 94 lichen TV nach Abs. 1 nur auf solche Arbeitsverhältnisse anwenden, für die es an einer (kongruenten) Tarifbindung fehlt3. Allerdings muss es sich um einen zwingend wirkenden TV handeln, der auf das Arbeitsverhältnis Anwendung findet. Ein nur nachwirkender TV reicht nicht aus. Für diese „enge Auslegung“ von § 5 Abs. 4 Satz 1 TVG spricht neben dem Wortlaut der Norm, der ausdrücklich nur von einer Erstreckung auf „bisher nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer“ spricht, auch der Normzweck. Für kongruent tarifgebundene Arbeitsverhältnisse ist bereits ein – die Richtigkeitsgewähr in Anspruch nehmender – TV anwendbar, weshalb es nicht geboten ist, einen weiteren TV staatlich aufzuoktroyieren. Gestärkt wird diese Auffassung nun von der vorgenommenen Gesetzesänderung. Der bereits angesprochene § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG regelt ausdrücklich die Geltung eines allgemeinverbindlichen TV über gemeinsame Einrichtungen (Abs. 1a) auch für Arbeitsverhältnisse, die an einen anderen TV gem. § 3 TVG gebunden sind. Im Wege eines Umkehrschlusses muss daraus gefolgert werden, dass alle anderen allgemeinverbindlichen TVe nur auf Arbeitsverhältnisse Anwendung finden, für die noch keine anderweitige Tarifbindung besteht. Diese Sonderregelung und Ausnahme von der vom Verfasser vertretenen „engen Auslegung“ ist aufgrund der angesprochenen Finanzierungsfunktion (vgl. Rz. 14 ff.) von gemeinsamen Einrichtungen der TV-Parteien für TVe nach § 4 Abs. 2 TVG auch nachvollziehbar. d) Allgemeinverbindlicherklärung und Tarifkonkurrenz Folgt man, was der Praxis dringend zu raten ist, bei der Frage der Wirkungen der AVE 95 der Rechtsprechung und h.M., kommt es aufgrund einer AVE immer zu einer Tarifkonkurrenz, wenn bereits kraft Mitgliedschaft kongruent tarifgebundene Arbeitsverhältnisse (§ 3 Abs. 1, 2 TVG) zusätzlich noch von einem allgemeinverbindlichen TV erfasst werden. Allerdings wird eine Tarifkonkurrenz durch eine AVE von den zuständigen Ministe- 96 rien häufig durch eine sog. Einschränkungsklausel bei der AVE verhindert4. Dabei beschränkt das Ministerium den Geltungsbereich der AVE so, dass eine Überschneidung mit einem anderen TV vermieden wird.
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BAG v. 25.7.2001 – 10 AZR 599/00, NZA 2002, 1406 (1407 ff.). BT-Drucks. 18/4062, S. 12. Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 234 ff. Vgl. nur BAG v. 20.6.2007 – 10 AZR 302/06, NZA-RR 2008, 24 (27 f.).
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Teil 7 Rz. 97
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
aa) AVE nach § 5 Abs. 1 TVG 97
Fehlt es aber an einer solchen Einschränkungsklausel, finden nach h.M. im Anwendungsbereich von § 5 Abs. 4 Satz 1 TVG, d.h. für AVEen nach § 5 Abs. 1 TVG, die allgemeinen Regelungen zur Auflösung von Tarifkonkurrenzen (vgl. Teil 9 Rz. 91 ff.) auch auf die Tarifkonkurrenz mit einem allgemeinverbindlichen TV Anwendung. Nach der Rechtsprechung des BAG gilt damit das Spezialitätsprinzip auch bei einer Konkurrenz zwischen einem allgemeinverbindlichen und einem mitgliedschaftlich legitimierten TV bzw. FirmenTV1. In der Konsequenz folgt daraus, dass allgemeinverbindliche TVe nach § 5 Abs. 1 TVG durch speziellere FirmenTVe verdrängt werden können; dies gilt gem. § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG nicht für allgemeinverbindliche TVe nach Abs. 1a. Da es sich bei allgemeinverbindlichen TVen in der Praxis immer um VerbandsTVe handelt, werden diese regelmäßig durch spezielle FirmenTVe verdrängt.
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Die Anwendung des Spezialitätsprinzips ist aber nicht unumstritten: Eine – heute allerdings kaum noch vertretene – Auffassung will den allgemeinverbindlichen TV gegenüber konkurrierenden TVen vorrangig anwenden2. Das genaue Gegenteil vertritt eine im Vordringen befindliche Auffassung, wonach mitgliedschaftlich legitimierte TVe grundsätzlich dem allgemeinverbindlichen TV vorgehen3. Letztgenannte Ansicht erscheint überzeugend, verhindert sie doch, dass der TV, für den sich beide Arbeitsvertragsparteien privatautonom entschieden haben, durch einen staatlicherseits erstreckten TV verdrängt wird. Für eine solche Verdrängung gibt es – nimmt man die Richtigkeitsgewähr von TVen ernst – keinen Grund. Dieser subsidiäre Charakter der AVE gilt richtigerweise aber gem. § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG nicht für allgemeinverbindliche TVe über gemeinsame Einrichtungen i.S. des § 5 Abs. 1a TVG4. bb) AVE nach § 5 Abs. 1a TVG
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Im Anwendungsbereich von § 5 Abs. 1a TVG, also bei TVen über gemeinsame Einrichtungen nach § 4 Abs. 2 TVG, enthält § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG hingegen eine Regelung zur Auflösung von Tarifkonkurrenzen. Die Regelung ist § 8 Abs. 1 Satz 2 AEntG nachgebunden und regelt, obwohl dies im Wortlaut nicht eindeutig zum Ausdruck kommt, einen Vorrang der allgemeinverbindlichen TVe nach § 5 Abs. 1a TVG.
100 Die Vorrangwirkung muss allerdings wegen des damit einhergehenden Grundrechtseingriffs (insbesondere in die Koalitionsfreiheit anderer TV-Parteien sowie die Berufsfreiheit des Arbeitgebers) auf die Normen über die Gegenstände des Abs. 1a Sätze 1 und 2 TVG beschränkt sein; andere Inhalte des gleichen TV nehmen, selbst wenn der TV insgesamt für allgemeinverbindlich erklärt ist, nicht an der Vorrangwirkung teil.
1 BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736 (738 f.); BAG v. 25.7.2001 – 10 AZR 599/00, NZA 2002, 1406 (1407 ff.); BAG v. 18.10.2006 – 10 AZR 576/05, NZA 2007, 1111 (1115 f.). 2 Kempen, FS Zusatzversorgungskasse, S. 77 (87); G. Müller, DB 1989, 1970 ff. 3 Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 287 ff.; Fenn, FS Kissel, S. 213 (238); B. Müller, NZA 1989, 449 (452); Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 270 ff.; Thüsing/v. Medem, ZIP 2007, 510 (516) zu Tarifpluralität; Lembke, BB 2007, Heft 45, S. I; die Auffassung geht auf Löwisch in der ersten Auflage des Münchener Handbuchs zum Arbeitsrecht zurück (dort § 269 Rz. 24 ff.). 4 So bereits zum alten Recht, Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 274, 245 ff.
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Tarifgeltung aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklrung nach § 5 TVG
Rz. 103 Teil 7
e) Erstreckungswirkung bei internationalen Sachverhalten Nicht abschließend geklärt ist, ob Arbeitsverhältnisse zwischen einem ausländischen 101 Arbeitgeber und einem ausländischen Arbeitnehmer dem erstreckten TV unterfallen, wenn der Arbeitsvertrag sich nach einem ausländischen Vertragsstatut (vgl. Art. 8 Abs. 1 bis 4 Rom-I-Verordnung) richtet. Das kommt insbesondere in Fällen der Arbeitnehmerentsendung häufig vor. Liegt in diesem Fall nur ein nach § 5 TVG erstreckter TV und kein vom AEntG (vgl. Rz. 131 ff.) erfasster TV vor, stellt sich die Frage, ob die AVE auch Wirkungen für nicht dem deutschen Arbeitsvertragsrecht unterliegende Arbeitsverhältnisse entfaltet. Insoweit ist zunächst zu prüfen, ob der ausländische Arbeitnehmer überhaupt vom 102 Geltungsbereich des erstreckten TVs erfasst wird, weil die AVE nur dann Wirkung entfalten kann1. Damit werden Arbeitsverhältnisse ausländischer Arbeitnehmer nicht erfasst, wenn die jeweiligen Arbeitgeber ihren Betriebssitz im Ausland haben und der TV mit seinem räumlichen Geltungsbereich an den Betriebssitz und nicht den Arbeitsort anknüpft2. Virulent wird die Frage nach der Wirkung der AVE, wenn der TV das sog. Arbeitsortprinzip aufweist, d.h. an den Ort der Tätigkeit des Arbeitnehmers anknüpft. Dafür muss er grundsätzlich auf jedes Arbeitsverhältnis anwendbar sein, bei dem die Arbeit im (räumlichen) Geltungsbereich verrichtet wird3. Nur wenn dem so ist, kann der TV das Arbeitsverhältnis mit ausländischem Vertragsstatut überhaupt erfassen. Selbst wenn dies der Fall ist, ist die AVE nach der Rechtsprechung des 10. Senats des 103 BAG auf Arbeitsverhältnisse mit ausländischem Vertragsstatut nicht anwendbar. Danach können TVe – seien sie allgemeinverbindlich oder nicht – nur Arbeitsbedingungen für solche Arbeitverhältnisse regeln, die dem deutschen Recht unterliegen4. Da die AVE diesen Geltungsbereich nicht erweitern könne, erreiche eine allgemeinverbindliche Tarifnorm die dem ausländischen Recht unterfallenden Arbeitsverhältnisse nicht. Ob diese Begründung trägt, muss indes bezweifelt werden. Überzeugender erscheint es, die Frage der Geltung von allgemeinverbindlichen Tarifnormen über die Einordnung als international zwingende Eingriffsnorm i.S.v. Art. 9 Abs. 1 Rom-I-Verordnung (früher Art. 34 EGBGB) zu lösen. Denn das BAG kann nicht überzeugend begründen, warum deutsche TVe für ausländische Arbeitsverhältnisse generell unanwendbar sein sollen. Bei Tarifnormen handelt es sich um Rechtsnormen, deren Anwendung sich auf internationale Sachverhalte nach Art. 3, 8 und 9 Rom-I-Verordnung richtet. Im Ergebnis gelangt man so indes zum gleichen Resultat wie das BAG, da allgemeinverbindliche TVe nach h.M. keine Eingriffsnormen nach Art. 9 Rom-IVerordnung darstellen5, sodass sich der allgemeinverbindliche TV nicht gegen das abweichende ausländische Vertragsstatut durchzusetzen vermag. Gegen die Einordnung als Eingriffsnormen spricht neben der Existenz des AEntG (das zumindest teilweise überflüssig wäre, wenn schon § 5 TVG die Erstreckung auf ausländische Arbeitsver-
1 So schon BAG v. 4.5.1977 – 4 AZR 10/76, AP Nr. 30 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau. 2 MünchKommBGB/Martiny, Art. 8 Rom I-VO Rz. 159; Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 141; Deinert, RdA 1996, 339 (345). 3 Deinert, RdA 1996, 339 (345). 4 BAG v. 9.7.2003 – 10 AZR 593/02, NZA 2003, 1424. 5 Vgl. BAG v. 4.5.1977, AP Nr. 30 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG v. 12.1.2005 – 5 AZR 617/01, NZA 2005, 627 (629).
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Teil 7 Rz. 104
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
hältnisse anordnen würde) insbesondere die Möglichkeit der Verdrängung von allgemeinverbindlichen TVen über das Spezialitätsprinzip im Fall der Tarifkonkurrenz. Wenn allgemeinverbindliche TVe schon nach deutschem Recht durch speziellere TVe verdrängt werden können, so können sie nicht die zwingende Wirkung des Art. 9 Rom-I-Verordnung beanspruchen, die nur Vorschriften zukommt, deren Zweck sich nicht im Ausgleich widerstreitender Interessen erschöpft, sondern (auch) auf öffentliche Interessen gerichtet ist1. Zu einer abweichenden Auffassung könnte man wegen der Vorrangwirkung des § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG für allgemeinverbindliche TVe über gemeinsame Einrichtungen nach § 5 Abs. 1a TVG gelangen, weil der Gesetzgeber diesen Verdrängungswirkung beigemessen und damit die besondere Bedeutung hervorgehoben hat, die eine Einordnung als Eingriffsnorm erfordert. Dennoch erscheint es überzeugender, den Eingriffsnormcharakter nur bei TVen anzunehmen, die vom AEntG erfasst werden. Genau in der Anordnung des international-privatrechtlichen Charakters liegt nämlich die Bedeutung der §§ 2 und 3 AEntG. 2. Beendigung der Wirkungen der Allgemeinverbindlicherklärung a) Ablauf des erstreckten Tarifvertrages 104 Nach § 5 Abs. 5 Satz 3 TVG endet die – insoweit akzessorische – AVE mit dem Ablauf des erstreckten TVs. Verliert der TV seine unmittelbare und zwingende Wirkung für die mitgliedschaftlich gebundenen Arbeitsverhältnisse, gilt dies auch für die nur kraft § 5 TVG Tarifgebundenen. Ein Ablauf des TVs nach § 5 Abs. 5 Satz 3 TVG besteht neben dem Verstreichen der Laufzeit2 in jeder Form der Beendigung des TVs. Deshalb beendet z.B. auch eine einvernehmliche Aufhebung des TVs oder eine Kündigung die AVE3. 105 Bei einem mehrgliedrigen TV mit mehreren selbständigen TVen bewirkt eine Kündigung eines TVs aus dem TV-Verbund nur den Ablauf des konkret gekündigten TVs4. Damit endet nur insoweit die Allgemeinverbindlichkeit nach § 5 Abs. 5 S. 3 TVG. Bei einem echten mehrgliederigen TV führt die (zulässige) Kündigung einer Partei hingegen insgesamt zum Ablauf i.S.v. § 5 Abs. 5 Satz 3 TVG. b) Aufhebung der Allgemeinverbindlicherklärung 106 Zudem ist das zuständige Ministerium zur Aufhebung der AVE nach § 5 Abs. 5 Satz 1 TVG berechtigt. Erforderlich ist hierfür ein öffentliches Interesse an der Aufhebung. Zudem muss für die Aufhebung nach § 5 Abs. 5 Satz 1 TVG das Einvernehmen des Tarifausschusses vorliegen. Ohne Zustimmung dieses Gremiums kann eine Aufhebung also nicht erfolgen, selbst wenn das Ministerium ein öffentliches Interesse an der Aufhebung bejaht. Wegen der fehlenden demokratischen Legitimation des Tarifausschusses ist diese Bindung der Aufhebung an dessen Zustimmung verfassungs-
1 Staudinger/Magnus, Art. 8 Rom I-VO Rz. 257. 2 Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 185; ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 26; HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 29. 3 BAG v. 8.11.2006 – 4 AZR 590/05, NZA 2007, 576 (577); ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 26; HWK/ Henssler, § 5 TVG Rz. 29. 4 BAG v. 8.11.2006 – 4 AZR 590/05, NZA 2007, 576 ff.
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Tarifgeltung aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklrung nach § 5 TVG
Rz. 109 Teil 7
rechtlich allerdings äußert zweifelhaft. Gute Argumente sprechen dafür, dass dieser Zustimmungsvorbehalt wegen Verstoßes gegen das Demokratieprinzip verfassungswidrig ist1. Denn es ist mit dem Demokratieprinzip unvereinbar, einem demokratisch nicht legitimierten Gremium wie dem Tarifausschuss ein Vetorecht gegen die Beendigung eines Grundrechtseingriffs zuzubilligen. Einzig verfassungsgemäß wäre ein Anhörungsrecht, an dessen Ergebnis der zuständige Minister aber nicht gebunden sein darf. Für die Praxis ist aber darauf hinzuweisen, dass die Aufhebung einer AVE praktisch kaum vorkommt. c) Befristung der Allgemeinverbindlicherklärung Weitere Beendigungstatbestände ergeben sich daraus, dass das Ministerium eine AVE zeitlich befristen2 oder theoretisch sogar auflösend bedingen kann.
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d) Nachwirkung allgemeinverbindlicher Tarifverträge aa) Nachwirkung nach Ende der Allgemeinverbindlicherklärung Nach Rechtsprechung des BAG und herrschender Auffassung im Schrifttum3 gelten 108 in Bezug auf die Nachwirkung (§ 4 Abs. 5 TVG) allgemeinverbindlicher TVe keine Besonderheiten4. Die Nachwirkung allgemeinverbindlicher TVe trete auch gegenüber nur durch die AVE Tarifgebundenen ein. Die Nachwirkung soll – in analoger Anwendung von § 4 Abs. 5 TVG – selbst dann eintreten, wenn die AVE nach § 5 Abs. 5 Satz 1 TVG aufgehoben wird5. Dafür soll die Überbrückungsfunktion des § 4 Abs. 5 TVG sprechen, da ein solches Bedürfnis auch nach einer AVE bestehe6. Zudem sei die Tarifbindung nach § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG mit der Bindung nach § 5 Abs. 4 TVG vergleichbar7. Aus systematischer Hinsicht ist allerdings zweifelhaft, ob § 4 Abs. 5 TVG überhaupt 109 von § 5 Abs. 4 TVG in Bezug genommen wird. Zudem greift der primäre Zweck der Nachwirkung (Überbrückungsfunktion und Verhinderung inhaltsleerer Arbeitsverhältnisse) allenfalls dann, wenn in einer Branche und Region die AVE schon so typisch war, dass die Arbeitsvertragsparteien darauf vertraut haben, auf detaillierte vertragliche Regelungen verzichten zu können. Ist die AVE allerdings erst nach Arbeitsver-
1 Löwisch/Rieble, § 5 TVG Rz. 202; Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 284; in diese Richtung auch HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 30. 2 Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 184. 3 Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 193; ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 26; HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 33; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 684 sowie § 5 TVG Rz. 33; Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 125. 4 BAG v. 19.1.1962 – 1 AZR 147/61, AP Nr. 11 zu § 5 TVG; BAG v. 18.6.1980 – 4 AZR 463/78, AP Nr. 68 zu § 4 TVG Ausschlussfristen; BAG v. 27.11.1991 – 4 AZR 211/91, NZA 1992, 800 (801 ff.); BAG v. 25.10.2000 – 4 AZR 212/00, NZA 2001, 1146 ff. 5 BAG v. 19.1.1962 – 1 AZR 147/61, AP Nr. 11 zu § 5 TVG; Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 193; Kempen/Zachert/Seifert, § 5 TVG Rz. 72; Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 125. 6 BAG v. 25.10.2000 – 4 AZR 212/00, NZA 2001, 1146 (1147). 7 BAG v. 27.11.1991 – 4 AZR 211/91, NZA 1992, 800 (801 f.); BAG v. 25.10.2000 – 4 AZR 212/00, NZA 2001, 1146.
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Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
tragsschluss erfolgt, ist nicht ersichtlich, warum die Gefahr inhaltsleerer Arbeitsverhältnisse bestehen soll. Da es in Hinblick auf eine AVE aber ohnehin keinen Vertrauensschutz gibt, können sich die Arbeitsvertragsparteien nicht darauf verlassen, dass für sie in aller Zukunft ein allgemeinverbindlicher TV gilt, weshalb man insgesamt daran zweifeln kann, ob bei fehlender mitgliedschaftlicher Tarifgebundenheit überhaupt ein Grund besteht, die Arbeitsvertragsparteien vor inhaltsleeren Arbeitsverhältnissen zu schützen. 110 Vereinzelt wird die Nachwirkung allgemeinverbindlicher TVe daher bestritten1. Dafür spricht, dass jede Art der Tarifnormerstreckung und der damit einhergehende Eingriff in die Grundrechte (insbesondere der betroffenen Arbeitgeber) nur über den staatlichen Geltungsbefehl des Ministerakts zu rechtfertigen ist. Diese endet aber mit dem Ablauf eines TVs, weil die AVE auf den zeitlichen Geltungsbereich des TVs beschränkt ist. Auch der Wortlaut von § 5 Abs. 5 Satz 3 TVG lässt Zweifel aufkommen, ob allgemeinverbindliche Tarifnormen nachwirken, weil danach die Allgemeinverbindlichkeit eines TVs mit dessen Ablauf „endet“. Würde ein allgemeinverbindlicher TV aber nachwirken, so würde die Wirkung nicht völlig enden. 111 Unabhängig von der generellen Frage der Nachwirkung allgemeinverbindlicher TVe ist richtigerweise aber jedenfalls eine Nachwirkung nach Aufhebung der AVE abzulehnen2. In einer derartigen Situation sieht sich das zuständige Ministerium gezwungen, die AVE aufzuheben, weil dies – so verlangt es § 5 Abs. 5 Satz 1 TVG – im öffentlichen Interesse geboten erscheint, also erhebliche Gründe gegen den Fortbestand der AVE sprechen. Es ist aber kaum nachvollziehbar, dass dann dennoch der allgemeinverbindliche TV nachwirkend weiterhin gilt. Dagegen kann nicht angebracht werden, der nachwirkende TV sei ja durch eine andere Abmachung abdingbar. Eine solche ist nämlich durch den (durch die AVE in grundrechtlich relevanter Weise belasteten) Arbeitgeber kaum ohne Zustimmung des Arbeitnehmers oder ggf. des Betriebsrats erreichbar. Wenn die AVE aber nicht mehr fortbestehen kann, ist jegliche Bindung an den TV, die auf die staatliche Erstreckung zurückgeht, nicht mehr zu rechtfertigen. bb) Nachwirkung bei Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrages 112 Im Grundsatz herrscht Einigkeit, dass das Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eines TVs zur Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG führt3. Indes hat der 9. Senat des BAG die Nachwirkung allgemeinverbindlicher Tarifnormen bei einer Änderung des Betriebszwecks verneint4. Es fehle an einer Beendigung i.S.v. § 4 Abs. 5 TVG. Zusätzlich stützt der Senat seine Entscheidung auf den Umstand, dass der allgemeinverbind-
1 Ausführlich Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 289; vgl. auch Besgen, SAE 2002, 224 ff.; Hohenstatt, Anm. zu AP Nr. 38 zu § 4 TVG Nachwirkung; Krebs, SAE 1993, 132 (133 ff.); Oetker, Gem. Anm. zu EzA Nr. 14, 15 zu § 4 TVG Nachwirkung, S. 24 ff. 2 Krit. dazu Herschel, ZfA 1976, 89 (98); Jacobs, Tarifeinheit, S. 143; Krebs, SAE 1993, 132 (138); Löwisch/Rieble, Anm. zu AP Nr. 22 zu § 4 TVG Nachwirkung. 3 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 ff.; Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 886 ff.; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 5 f. 4 BAG v. 14.6.1994 – 9 AZR 89/93, NZA 1995, 178 (180).
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Tarifgeltung aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklrung nach § 5 TVG
Rz. 115 Teil 7
liche TV Normen über gemeinsame Einrichtungen gemäß § 4 Abs. 2 TVG enthielt. Im Anschluss an den 3. BAG-Senat1 hielt der 9. Senat § 4 Abs. 5 TVG bei TVen über gemeinsame Einrichtungen für nicht anwendbar. Durch das Herauswachsen aus dem Geltungsbereich ende die Beitragspflicht des Arbeitgebers. Wegen des unlösbaren Branchenbezugs der gemeinsamen Einrichtung käme eine Nachwirkung außerhalb des Geltungsbereichs des TVs nicht in Betracht2. Insgesamt, d.h. unabhängig vom Vorliegen des TVs nach § 4 Abs. 2 TVG, kann gegen die Nachwirkung allgemeinverbindlicher TVe bei Herauswachsen aus dem Geltungsbereich vorgebracht werden, dass die branchenbezogenen Erwägungen des für die Tarifnormerstreckung zuständigen Ministers die AVE auch jeweils nur für die konkrete Branche rechtfertigen. Scheidet der Arbeitgeber hingegen aus der Branche aus, so tragen die die AVE rechtfertigenden Gründe nicht mehr, insbesondere hat der Minister das öffentliche Interesse für die neue Branche nicht geprüft.
VI. Vermeidung allgemeinverbindlicher Tarifverträge Arbeitgeber im Geltungsbereich eines allgemeinverbindlichen TVs, die nicht bereits 113 selbst mitgliedschaftlich tarifgebunden sind, haben regelmäßig ein großes Interesse daran, nicht dem allgemeinverbindlichen TV zu unterfallen. Im Folgenden werden Vermeidungsstrategien speziell in Bezug auf allgemeinverbindliche TVe dargestellt. Im Übrigen sei auf Teil 15 verwiesen. 1. Herauswachsen aus dem Geltungsbereich Schwierig, aber erfolgversprechend ist das Herauswachsen aus dem Geltungsbereich 114 eines allgemeinverbindlichen TVs. Wird der Betrieb (bzw. die Einheit, an die der jeweilige TV für seinen Geltungsbereich anknüpft, z.B. eine Betriebsabteilung) so umstrukturiert, dass er nicht oder nicht mehr im Anwendungsbereich des allgemeinverbindlichen TVs liegt, findet dieser auf den Betrieb keine Anwendung mehr. Bestand allerdings vor dem Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eine Bindung an den allgemeinverbindlichen TV, so kommt es auf die umstrittene Frage der Nachwirkung allgemeinverbindlicher Tarifnormen beim Herauswachsen aus dem Geltungsbereich an (vgl. Rz. 112 ff.). Das BAG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass ein Herauswachsen aus 115 dem Geltungsbereich möglich ist, wenn im Betrieb bzw. der Betriebsabteilung nicht mehr arbeitszeitlich überwiegend die vom TV erfassten Tätigkeiten erbracht werden. Wirtschaftliche Gesichtspunkte wie Umsatz oder Verdienst seien dagegen unerheblich3. Aus Arbeitgebersicht muss das Ziel einer Umstrukturierung also sein, entweder die Tätigkeiten in dem Betrieb bzw. den Betrieben derart aufzuteilen, dass die überwiegende Tätigkeit nicht in den Geltungsbereich der allgemeinverbindlichen
1 BAG v. 5.10.1993 – 3 AZR 586/92, NZA 1994, 848 (850). 2 BAG v. 5.10.1993 – 3 AZR 586/92, NZA 1994, 848 (850); BAG v. 14.6.1994 – 9 AZR 89/93, NZA 1995, 178 (180); BAG v. 9.11.1999 – 3 AZR 690/98, NZA 2000, 730 (731). 3 BAG v. 25.1.2005 – 9 AZR 258/04, AP Nr. 20 zu § 1 AEntG; BAG v. 23.2.2005 – 10 AZR 382/04, AP Nr. 270 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; ebenso HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 16; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 150; Sittard, RdA 2009, 259 (260).
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Teil 7 Rz. 116
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
TVe fällt, oder die Betriebe in einer Weise einzurichten, dass nur in möglichst wenigen Betrieben die vom allgemeinverbindlichen TV erfassten Tätigkeiten überwiegen. Dies kann auch durch eine Zusammenlegung von Betrieben gelingen, wenn dadurch eine neue Gesamtbetriebsstruktur entsteht, in der schwerpunktmäßig nicht vom Geltungsbereich erfasste Tätigkeiten erbracht werden. Die Folge einer solchen Maßnahme ist die Änderung des arbeitstechnischen Zwecks in den jeweiligen Einheiten. Allerdings muss bei der Zusammenlegung von Betrieben darauf geachtet werden, dass in dem neuen Betrieb keine selbständigen Betriebsabteilungen entstehen, da viele TVe diese als Anknüpfungspunkt ausreichen lassen1. 2. Abschluss speziellerer Tarifverträge 116 Nach der Rechtsprechung des BAG kann ein allgemeinverbindlicher TV durch einen spezielleren TV verdrängt werden. Dies gilt allerdings aufgrund des Tarifautonomiestärkungsgesetzes nur noch für „normale“ allgemeinverbindliche TVe nach § 5 Abs. 1 TVG. Für allgemeinverbindliche TVe über gemeinsame Einrichtungen nach § 5 Abs. 1a TVG ist eine Verdrängung gem. § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG ausgeschlossen. Aus Sicht des Arbeitgebers kommt zur Vermeidung eines allgemeinverbindlichen TVs nach § 5 Abs. 1 TVG – insbesondere in Sanierungssituationen – der Abschluss eines spezielleren HausTVs in Betracht. Da es durch eine AVE bei anderweitiger Tarifbindung für die anderweitig tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse zu einer Tarifkonkurrenz kommt, erfolgt die Auflösung nicht über den neuen § 4a TVG (vgl. Rz. 93), sondern über das Spezialitätsprinzip (soweit nicht § 5 Abs. 1a, Abs. 4 Satz 2 TVG einschlägig ist). Danach verdrängt der speziellere TV für die (anders organisierten) Gewerkschaftsmitglieder den allgemeinverbindlichen TV. Für die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer bleibt es zumindest hinsichtlich der tarifvertraglichen Individualnormen bei der Anwendbarkeit des allgemeinverbindlichen TVs. Dieses Ergebnis erschwert den Abschluss von SanierungsTVen erheblich, da ein solcher TV die Gewerkschaftsmitglieder veranlassen könnte, aus der Gewerkschaft auszutreten. Damit einher geht die Gefahr, dass die Gewerkschaften den Abschluss von SanierungsTVen häufiger verweigern könnten, obwohl dies zur Rettung und/oder Sanierung des Unternehmens erforderlich ist. In der Praxis müssen hier – mit Unterstützung des Betriebsrates – im Einzelfall praktikable Lösungen gefunden werden, um den Kompromiss eines SanierungsTVs auf eine für die gesamte Belegschaft tragfähige Basis zu stellen. Ein weiterer Ansatz zum Erhalt der Flexibilisierungsmöglichkeiten besteht in einem weiten Verständnis der Betriebsnormen nach § 3 Abs. 2 TVG. Betriebsnormen gelten für die gesamte Belegschaft eines tarifgebundenen Arbeitgebers, erfassen also auch Außenseiter2. Es existieren entsprechende Ansätze im Schrifttum, wonach Tarifnormen zur Standortsicherung unter § 3 Abs. 2 TVG zu subsumieren sind3. Auf Grundlage eines solchen Verständnisses kommt es im gesamten Betrieb zu einer – unstreitig aufzulösenden – Tarifkonkurrenz4, bei der dem SanierungsTV jedenfalls aufgrund des Spezialitätsprinzips der Vorrang zukäme.
1 Vgl. Sittard, RdA 2009, 259 (260). 2 HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 52; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 712 ff. u. Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 163. Vgl. auch Wiedemann, RdA 2007, 65 (67 f.). 3 Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 743; Nielebock, FS Zusatzversorgungskasse, S. 107 (116 f.). 4 Jacobs, Tarifeinheit, S. 313.
642 Sittard
Tarifgeltung aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklrung nach § 5 TVG
Rz. 119 Teil 7
Ein Lösungsansatz aus Perspektive des zuständigen Ministeriums kann darin beste- 117 hen, in der AVE nach § 5 Abs. 1 TVG Einschränkungsklauseln für SanierungsTVe vorzusehen; bei einer AVE nach Abs. 1a TVG dürfte dem § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG entgegenstehen. Eine solche Einschränkungsklausel könnte die Wirkung des erstreckten TVs auf einen Betrieb oder ein Unternehmen davon abhängig machen, dass kein SanierungsTV geschlossen wurde. Hierin läge eine zulässige Beschränkung des Geltungsbereichs der Allgemeinverbindlichkeit. Die Schwierigkeit liegt hier in der präzisen Fassung der Einschränkungsklausel, die insbesondere dem Bestimmtheitsgebot genügen muss. Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG läge in einer solchen Einschränkungsklausel nicht, da ein Sanierungsfall die durch die Einschränkungsklausel entstehende Ungleichbehandlung rechtfertigen kann. 3. OT-Mitgliedschaft Die OT-Mitgliedschaft in einem Arbeitgeberverband „schützt“ den Arbeitgeber nach 118 der Rechtsprechung des BAG nicht vor der Anwendung allgemeinverbindlicher TVe. Nach der (richtigen) Auffassung des BAG knüpft die OT-Mitgliedschaft an die Tarifgebundenheit und nicht – wie teilweise im Schrifttum vertreten1 – an den Geltungsbereich des TVs an2. Die fehlende Tarifbindung wird aber gerade durch § 5 Abs. 4 TVG überwunden, sodass auch OT-Mitglieder vom allgemeinverbindlichen TV erfasst werden. 4. Outsourcing Auch in der Umstrukturierungspraxis übliche Gestaltungselemente wie ein Betriebs- 119 übergang nach § 613a BGB auf einen nicht tarifgebundenen Arbeitgeber führen – ebenso wie eine Umwandlung nach dem UmwG – im Anwendungsbereich eines allgemeinverbindlichen TVs nicht zum Abstreifen der Tarifbindung. Da diese beim allgemeinverbindlichen TV unabhängig von einer privatautonom begründeten Tarifbindung ist, hat ein Arbeitgeberwechsel auf die Tarifbindung keine Auswirkungen. Eine Ausgliederung einer speziellen Tätigkeit (z.B. in Form eines Betriebsteilübergangs) aus dem über § 5 Abs. 4 TVG tarifgebundenen Betrieb auf andere Rechtsträger führt nur dann zu einer Lösung vom allgemeinverbindlichen TV, wenn sie mit einem Herauswachsen des Betriebs aus dem Geltungsbereich eines allgemeinverbindlichen TVs verbunden ist3. Stellt der TV auf den Betrieb als Anknüpfungspunkt ab, so hat ein Betriebsübergang regelmäßig kein Herauswachsen aus dem Geltungsbereich zur Folge. Bei fehlerhafter Tarifbindung des Erwerbers gilt dann § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB. Wenn der TV als Anknüpfungspunkt auf das Unternehmen als Betriebsinhaber abstellt, reicht allein eine organisatorische Änderung des Betriebs nicht. Das Herauswachsen aus dem Geltungsbereich muss dann mit einer Änderung der Betriebsinhaberstellung auf ein anderes Unternehmen einhergehen, was durch einen Betriebsübergang aber gerade geschieht.
1 Vgl. nur Reuter, RdA 1996, 201 (202); Thüsing/Stelljes, ZfA 2005, 527 (561 ff.). 2 BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225 ff.; a.A. noch BAG v. 23.2.2005 – 4 AZR 186/04, NZA 2005, 1320. 3 Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 251.
Sittard
643
Teil 7 Rz. 120
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
VII. Rechtsschutz in Zusammenhang mit Allgemeinverbindlicherklärungen 1. Rechtsschutz unmittelbar für/gegen die Allgemeinverbindlicherklärung 120 Durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz hat sich der Rechtsschutz in Zusammenhang mit einer AVE erheblich geändert. Nach altem Recht fiel der unmittelbare Rechtsschutz in Bezug auf die AVE in die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte, da es sich sowohl beim Erlass der AVE als auch bei ihrer Ablehnung um einen Akt der öffentlichen Gewalt (§ 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO) durch den zuständigen Minister handelte. Nach § 2a Abs. 1 Nr. 5 ArbGG entscheiden nun die Gerichte für Arbeitssachen über die Wirksamkeit einer AVE. Durch diese Zuweisung zum – nach Auffassung des Gesetzgebers – sachnäheren Gericht sollte ein erhöhtes Maß an Rechtssicherheit erreicht werden1. 121 Bedauerlicherweise nicht geregelt ist in § 2a Abs. 1 Nr. 5 ArbGG hingegen die zumindest theoretisch mögliche Klage auf Erlass und gegen die Ablehnung einer AVE. Für die insofern denkbare, aber kaum praktisch relevante Klage der antragstellenden TVPartei gegen die Ablehnung oder auf Erlass der AVE, bliebe es bei der Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte. Eine andere Wertung lässt der eindeutige Wortlaut des §§ 2a Abs. 1 Nr. 5, 98 Abs. 1 ArbGG nicht zu. Da es sich nach richtiger Auffassung weder bei der AVE noch bei der Ablehnung um einen Verwaltungsakt handelt, kommt allein eine verwaltungsgerichtliche Feststellungsklage in Betracht. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht in älteren Entscheidungen Rechtsschutz in Zusammenhang mit einer AVE abgelehnt2, diese Rechtsprechung ist aber überholt. Inzwischen ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts anerkannt, dass schon allein aufgrund der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG auch eine Klage auf Normerlass in Betracht kommt3, wobei wegen des Ermessens des Normgebers regelmäßig nicht die Leistungsklage, sondern allein die Feststellungsklage die richtige Klageart darstellt. Im Schrifttum ist anerkannt, dass eine solche Klage jedenfalls von einer TVPartei gestellt werden kann, deren Antrag auf Erlass der AVE abgelehnt worden ist4. Eine Klage eines einzelnen Arbeitnehmers oder Arbeitgebers auf Erlass einer AVE ist hingegen unzulässig, weil es an einem konkreten Rechtsverhältnis zu dem zuständigen Ministerium fehlt. 122 Praktisch wichtiger ist der Rechtsschutz gegen eine vom zuständigen Ministerium ausgesprochene AVE. Als Kläger kommen hier sowohl die durch die AVE betroffenen Koalitionen als auch alle betroffenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Betracht, da in ihren Rechtskreis unmittelbar eingegriffen wird. Nach § 2a Abs. 1 Nr. 5 ArbGG sind die Gerichte für Arbeitssachen zuständig und entscheiden im Beschlussverfahren und zwar sowohl für Klagen von konkurrierenden Koalitionen als auch von erfassten Arbeitgebern und Arbeitnehmern (§ 98 Abs. 1 ArbGG). Zudem finden sich in § 98 ArbGG spezielle Vorschriften zur Überprüfung einer AVE. 123 Örtlich und sachlich zuständig ist gem. § 98 Abs. 2 ArbGG das Landesarbeitsgericht, in dessen Bezirk das Ministerium, das den TV für allgemeinverbindlich erklärt hat, 1 2 3 4
BT-Drucks. 18/1558, S. 26. Vgl. insb. BVerwG v. 6.6.1958 – VII CB 187.57, AP Nr. 6 zu § 5 TVG. Vgl. nur BVerwG v. 4.7.2002 – 2 C 13/01, NVwZ 2002, 1505. Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 171.
644 Sittard
Tarifgeltung aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklrung nach § 5 TVG
Rz. 127 Teil 7
seinen Sitz hat. Nach § 98 Abs. 1 Nr. 1 und 2 ArbGG ist jede natürliche und juristische Person oder eine Gewerkschaft sowie einer Vereinigung von Arbeitgebern antragsbefugt. Sie muss geltend machen, dass sie durch die AVE oder deren Anwendung in ihren Rechten verletzt ist oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden droht. Antragsbefugt sind jedenfalls die vom Geltungsbereich einer AVE erfassten Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Ansonsten ist die Norm dem § 47 Abs. 2 VwGO nachgebildet1, weshalb die dort aufgestellten Grundsätze entsprechend gelten. Insbesondere scheidet die Antragsbefugnis erst dann aus, wenn Rechte des Antragstellers offensichtlich und nach keiner Betrachtung verletzt sein können. Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbände können sich auf ihrer Rechte aus Art. 9 Abs. 3 GG berufen, soweit sie zumindest teilweise im Geltungsbereich des für allgemeinverbindlich erklärten TVs tätig geworden sind.2 Gegen die Entscheidung des LAG ist die Rechtsbeschwerde zum BAG möglich (§§ 98 Abs. 3 Satz 1, 92 ArbGG).
124
Das in § 98 ArbGG geregelte Verfahren ist kein kontradiktorisches Verfahren, son- 125 dern ein Normenkontrollverfahren3, in dem die Erlassbehörde lediglich Beteiligte ist, § 98 Abs. 3 Satz 3 ArbGG. Nach § 98 Abs. 4 Satz 1 ArbGG hat der rechtskräftige Beschluss des LAG oder BAG erga omnes Wirkung. Daher sind rechtskräftige Beschlüsse dem BMAS zu übersenden, das die Entscheidungsformel bekanntzumachen hat, § 98 Abs. 4 Satz 2, 3. ArbGG. Auf diese Weise sollen auch die nicht am Verfahren unmittelbar Beteiligten davon Kenntnis erlangen4. 2. Inzidenter Rechtsschutz Die Rechtmäßigkeit einer AVE kann aber auch inzident im Rahmen von Rechtsstrei- 126 tigkeiten vor den Arbeitsgerichten geklärt werden. Stützt ein Arbeitnehmer einen Anspruch auf einen TV, an den eine Tarifbindung nur über eine AVE bestehen kann (z.B. mangels Mitgliedschaft des Arbeitgebers im Arbeitgeberverband), so muss das Arbeitsgericht inzident über die Rechtmäßigkeit der AVE entscheiden. Dem Arbeitgeber ist es also unbenommen, im arbeitsgerichtlichen Verfahren die Rechtswidrigkeit der AVE zu rügen. Wird neben dem inzidenten Rechtsschutz ein Verfahren gem. § 98 ArbGG eingeleitet, so bestimmt § 98 Abs. 6 ArbGG die Aussetzung des Verfahrens, in dem die inzidente Prüfung erfolgt. Dabei gilt die Norm bereits für die Verfahren, die zur Zeit der Neuregelung anhängig waren. Auf diese Weise will der Gesetzgeber divergierende Entscheidungen mit sofortiger Wirkung vermeiden5. Diese Regelung wird kritisch betrachtet, da eine Verfahrensaussetzung bei jeder Ein- 127 leitung eines Verfahrens gem. § 98 ArbGG dem Beschleunigungsgrundsatz zuwiderlaufe und für die Durchsetzung eines individuellen Anspruchs – insbesondere auf Arbeitsentgelt – schwerwiegende Folgen hätte. Daher wird erwogen, die Aussetzung nur dann vorzunehmen, wenn der Anspruch im inzidenten Verfahren ausschließlich von 1 2 3 4 5
BT-Drucks. 18/1558, S. 45. ErfK/Koch, § 98 ArbGG, Rz. 3; Forst, RdA 2015, 25 (34). ErfK/Koch, § 98 ArbGG, Rz. 3. BT-Drucks. 18/1558, S. 45. BT-Drucks. 18/1558, S. 46; ausführlich zu den Voraussetzungen der Aussetzung Bader, NZA 2015, 644.
Sittard
645
Teil 7 Rz. 128
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
der Wirksamkeit der AVE abhängt und gegenüber der Geltung der AVE vernünftige Zweifel bestehen.1 Das BAG hat sich dieser Auffassung angeschlossen.2
VIII. Verfassungsmäßigkeit von § 5 TVG 128 Die Verfassungsmäßigkeit der AVE ist seit der Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 19773 im positiven Sinne geklärt. Durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz wurde § 5 TVG allerdings grundlegend geändert und zwar teilweise in einer Weise, die erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken auslöst. Aus verfassungsrechtlicher Sicht zu begrüßen sind die Anforderungen an die Bekanntmachung der AVE. Durch den neuen § 5 Abs. 7 Satz 2 TVG wird auch der Normtext des allgemeinverbindlichen TVs bekannt gemacht und nicht nur – wie früher – der Umstand der AVE. Die gegen die Veröffentlichungspraxis vormals erhobenen Bedenken4 sind damit weitgehend ausgeräumt. 129 Zahlreiche andere Neuerungen erscheinen indes verfassungsrechtlich bedenklich. Insbesondere die Absenkung der Voraussetzungen einer AVE und die Einführung der sehr abstrakt formulierten Regelbeispiele sind problematisch. Der Gesetzgeber hat durch die Novellierung versucht die Anforderungen an die AVE der sinkenden Tarifbindung anzupassen. Die über § 5 Abs. 4 Satz 1 TVG erzielte Tarifbindung ist allerdings eine „durch hoheitlichen Akt begründete Fremdbestimmung“5. Eine Zunahme von AVE, die durch das Absenken der Anforderungen begünstigt wird, führt damit zumindest langfristig gesehen nicht zu einer Stärkung der Tarifautonomie; jedenfalls dann, wenn man diese über die mitgliedschaftlich Legitimation definiert. Bedenklich und nach Auffassung des Verfassers verfassungswidrig ist der gänzliche Verzicht auf ein Repräsentativitätserfordernis. Es kann vor dem Hintergrund der Berufsfreiheit des Arbeitgebers und der negativen Koalitionsfreiheit nicht zulässig sein, einen klaren MinderheitenTV, der sich in der Branche nicht durchgesetzt hat, auf alle Arbeitsverhältnisse im Geltungsbereich auszudehnen. Ein MinderheitenTV genießt weniger Richtigkeitsgewähr, weshalb die AVE eines solchen TVen ebenfalls weniger legitimiert ist6. Statt der kompletten Abschaffung des 50 %-Quorums wäre als milderes Mittel bereits die Miteinbeziehung aller tarifgemäß ausgestalteten Arbeitsverhältnisse (vertragliche Inbezugnahmen und anderweitige Orientierungen) bei Beibehaltung des Quorums in Betracht gekommen. Dies hätte faktisch zu einer Absenkung des Quorums auf ca. 30 % geführt und die mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz verfolgten Ziele auf verfassungsfreundlichere Art erreicht7. Der Gesetzgeber hat außer Acht gelassen, dass eine Ausdehnung der AVE den Anreiz für eine Mitgliedschaft in Koalitionen senkt. Deshalb ist die Prämisse des Gesetzgebers, die AVE diene der Tarifautonomie, zumindest sehr fraglich. 130 Verfassungsrechtlich problematisch ist zudem die Verdrängungswirkung des § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG bei einer AVE von TVen über gemeinsame Einrichtungen. Durch 1 2 3 4 5 6 7
ErfK/Koch, § 99 ArbGG Rz. 7; a.A. Bader, NZA 2015, 644 (645). BAG v. 7.1.2015 – 10 AZB 109/14, NZA, 2015, 237 (239 f.). BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322. Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 310 f. Höpfner, RdA 2015, 94 (98). Sittard/Sassen, ArbRB 2014, 142 (145). Bepler, Stärkung der Tarifautonomie, S. B116.
646 Sittard
Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes
Rz. 132 Teil 7
die Verdrängungswirkung ist es z.B. denkbar, dass ein spezieller HausTV zur Altersversorgung durch den BranchenTV über eine gemeinsame Einrichtung verdrängt wird. Dies mag zwar aufgrund der Notwendigkeit zur branchenweiten Geltung von TVen über gemeinsame Einrichtungen verfassungsrechtlich zu rechtfertigen sein. Allerdings muss dann bei der Verdrängungswirkung eine verfassungskonforme Auslegung vorgenommen werden. Es gilt zu verhindern, dass § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG dazu führt, dass der Arbeitgeber de facto doppelte Leistungen erbringen muss. Dies ist denkbar, wenn man bei der Frage nach der Identität der Regelungsgegenstände einen zu strengen Maßstab anlegt und sich bspw. auf den Standpunkt stellt, eine in einem HausTV gewährte Direktzusage sei ein anderer Regelungsgegenstand als die Altersversorgung über eine gemeinsame Einrichtung.
C. Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes I. Einführung und rechtstatsächliche Bedeutung Das AEntG wurde im Jahr 1996 eingeführt. Hintergrund war ein verstärkter Einsatz 131 ausländischer Arbeitnehmer in der Bundesrepublik. Die damalige Bundesregierung ging davon aus, dass dies zu erheblichen Arbeitsplatzverlusten für deutsche Arbeitnehmer insbesondere in der Baubranche führen würde. Ziel des am 1. März 1996 in Kraft getretenen Gesetzes1 sollte die Unterbindung des „Sozialdumpings“ im Baugewerbe sein, um die Wettbewerbssituation der Bauunternehmer zu verbessern und die im Baubereich beschäftigten Arbeitnehmer vor „Lohndumping“ zu schützen2. § 1 AEntG in der damaligen Fassung verpflichtete (erstmals) auch ausländische Arbeitgeber in der Baubranche (und der Seeschifffahrtsassistenz3), den Arbeitnehmern in den Bereichen Mindestentgelt, Mindesturlaub und Urlaubsentgelt sowie zusätzliche Urlaubsgelder gewisse Mindeststandards zu gewährleisten. Dabei knüpfte das Gesetz an bereits nach § 5 TVG für allgemeinverbindlich erklärte TVe an, die über das AEntG auch für Arbeitsverhältnisse verbindlich wurden, für die ein ausländisches Arbeitsvertragsstatut gilt. Diese Tarifnormen wurden durch das AEntG zu Eingriffsnormen im Sinne des internationalen Privatrechts (damals Art. 34 EGBGB, heute Art. 9 Rom-I-Verordnung). 1998 wurde das AEntG – jetzt unter rot-grüner Regierung – um einen neuen § 1 132 Abs. 3a ergänzt. Die Vorschrift beinhaltete eine Rechtsverordnungsermächtigung zugunsten des Bundesarbeitsministeriums, durch die ein TV auf bisher nicht Tarifgebundene erstreckt werden kann. Das Bundesarbeitsministerium erhielt dadurch eine neue Rechtsnormerstreckungsalternative4, die nicht mehr von der AVE nach § 5 TVG abhängig ist5. Insbesondere sollte durch diese Gesetzesänderung das Verfahren der Tarifnormerstreckung vereinfacht werden. Die Rechtsverordnung bedurfte näm1 BGBl. I 1996, S. 227. 2 BT-Drucks. 13/2414, S. 6 f. 3 Vgl. § 1 Abs. 2 AEntG 1996. Im Jahr 2007 wurde die Seeschifffahrtsassistenz wieder aus dem Anwendungsbereich des Gesetzes herausgenommen, vgl. BGBl. I 2007, S. 576. Im Bereich der Seeschifffahrtsassistenz sollen nur ca. 100 Arbeitsverhältnisse betroffen gewesen sein (vgl. BTPlenarprotokoll 13/86 v. 8.2.1996, S. 7569). 4 Däubler/Lakies, § 1 AEntG Rz. 36. 5 Krit. dazu statt vieler jüngst Richardi, FS Konzen, S. 791 (802).
Sittard
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Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes
Rz. 132 Teil 7
die Verdrängungswirkung ist es z.B. denkbar, dass ein spezieller HausTV zur Altersversorgung durch den BranchenTV über eine gemeinsame Einrichtung verdrängt wird. Dies mag zwar aufgrund der Notwendigkeit zur branchenweiten Geltung von TVen über gemeinsame Einrichtungen verfassungsrechtlich zu rechtfertigen sein. Allerdings muss dann bei der Verdrängungswirkung eine verfassungskonforme Auslegung vorgenommen werden. Es gilt zu verhindern, dass § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG dazu führt, dass der Arbeitgeber de facto doppelte Leistungen erbringen muss. Dies ist denkbar, wenn man bei der Frage nach der Identität der Regelungsgegenstände einen zu strengen Maßstab anlegt und sich bspw. auf den Standpunkt stellt, eine in einem HausTV gewährte Direktzusage sei ein anderer Regelungsgegenstand als die Altersversorgung über eine gemeinsame Einrichtung.
C. Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes I. Einführung und rechtstatsächliche Bedeutung Das AEntG wurde im Jahr 1996 eingeführt. Hintergrund war ein verstärkter Einsatz 131 ausländischer Arbeitnehmer in der Bundesrepublik. Die damalige Bundesregierung ging davon aus, dass dies zu erheblichen Arbeitsplatzverlusten für deutsche Arbeitnehmer insbesondere in der Baubranche führen würde. Ziel des am 1. März 1996 in Kraft getretenen Gesetzes1 sollte die Unterbindung des „Sozialdumpings“ im Baugewerbe sein, um die Wettbewerbssituation der Bauunternehmer zu verbessern und die im Baubereich beschäftigten Arbeitnehmer vor „Lohndumping“ zu schützen2. § 1 AEntG in der damaligen Fassung verpflichtete (erstmals) auch ausländische Arbeitgeber in der Baubranche (und der Seeschifffahrtsassistenz3), den Arbeitnehmern in den Bereichen Mindestentgelt, Mindesturlaub und Urlaubsentgelt sowie zusätzliche Urlaubsgelder gewisse Mindeststandards zu gewährleisten. Dabei knüpfte das Gesetz an bereits nach § 5 TVG für allgemeinverbindlich erklärte TVe an, die über das AEntG auch für Arbeitsverhältnisse verbindlich wurden, für die ein ausländisches Arbeitsvertragsstatut gilt. Diese Tarifnormen wurden durch das AEntG zu Eingriffsnormen im Sinne des internationalen Privatrechts (damals Art. 34 EGBGB, heute Art. 9 Rom-I-Verordnung). 1998 wurde das AEntG – jetzt unter rot-grüner Regierung – um einen neuen § 1 132 Abs. 3a ergänzt. Die Vorschrift beinhaltete eine Rechtsverordnungsermächtigung zugunsten des Bundesarbeitsministeriums, durch die ein TV auf bisher nicht Tarifgebundene erstreckt werden kann. Das Bundesarbeitsministerium erhielt dadurch eine neue Rechtsnormerstreckungsalternative4, die nicht mehr von der AVE nach § 5 TVG abhängig ist5. Insbesondere sollte durch diese Gesetzesänderung das Verfahren der Tarifnormerstreckung vereinfacht werden. Die Rechtsverordnung bedurfte näm1 BGBl. I 1996, S. 227. 2 BT-Drucks. 13/2414, S. 6 f. 3 Vgl. § 1 Abs. 2 AEntG 1996. Im Jahr 2007 wurde die Seeschifffahrtsassistenz wieder aus dem Anwendungsbereich des Gesetzes herausgenommen, vgl. BGBl. I 2007, S. 576. Im Bereich der Seeschifffahrtsassistenz sollen nur ca. 100 Arbeitsverhältnisse betroffen gewesen sein (vgl. BTPlenarprotokoll 13/86 v. 8.2.1996, S. 7569). 4 Däubler/Lakies, § 1 AEntG Rz. 36. 5 Krit. dazu statt vieler jüngst Richardi, FS Konzen, S. 791 (802).
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Teil 7 Rz. 133
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
lich nicht der Zustimmung des Tarifausschusses nach § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG, in dem die Arbeitgeberseite stets ein Blockaderecht hat, es genügte vielmehr ein „Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung“ einer beteiligten TV-Partei. 133 Ab dem Jahr 2007 wurde das AEntG über die Baubranche hinaus ausgedehnt. Neben dem Gebäudereinigerhandwerk1 wurde nach einer heftig geführten politischen Diskussion der Bereich der Postdienstleistungen2 in den Anwendungsbereich des Gesetzes aufgenommen3. Es folgte im Rahmen der AEntG-Novelle vom 24. April 20094 die Ausdehnung des Geltungsbereichs auf fünf weitere Branchen. Im Jahr 2014 wurde dann noch die Fleischverarbeitungsbranche in das Gesetz aufgenommen5. 134 Die Gesetzesnovelle von 2009 beschränkte sich nicht auf die Erweiterung des Anwendungsbereichs, sondern strukturierte das gesamte Gesetz um. Neben einer veränderten Systematik, die den alten und völlig unübersichtlich gewordenen § 1 AEntG auf acht Paragraphen aufteilte, wurde das AEntG auch materiell geändert. So wird u.a. ausdrücklich geregelt, dass nach dem AEntG erstreckte TVe Vorrang vor konkurrierenden TVen haben (§ 8 Abs. 2 AEntG n.F.). Ferner werden dem Arbeitsministerium für den Erlass der Rechtsverordnung Auswahlkriterien vorgegeben, wenn mehrere TVe existieren, die erstreckt werden könnten. 135 Durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz6 wurde der Anwendungsbereich des AEntG sodann auf alle Branchen ausgedehnt. Nach dem neuen § 4 Abs. 2 AEntG kann eine Tarifnormerstreckung nach dem AEntG jetzt unabhängig von einer Aufnahme der Branche in das Gesetz (§ 4 Abs. 1 AEntG) erfolgen. Erforderlich ist nur, dass die allgemeinen Voraussetzungen nach § 3, § 4 Abs. 2 sowie § 5 und ggf. § 7 erfüllt sind (vgl. Rz. 140 f., 148 f.). 136 Weiterhin wurde durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz die Anwendung der AVE im Bereich des AEntG gem. § 3 Satz 1 Halbs. 1 AEntG auf die Baubranche begrenzt. Die Möglichkeit der Tarifnormerstreckung durch Rechtsverordnung wurde im Gegenzug erweitert und in § 7a AEntG ein separates Verfahren für den Erlass einer Rechtsverordnung für die nicht in § 4 Abs. 1 AEntG ausdrücklich genannten Branchen eingeführt.
II. Zweck des AEntG 137 Das AEntG nennt in § 1 ausdrücklich die Ziele des Gesetzes. Danach soll das AEntG durch die Erstreckung der Rechtsnormen von BranchenTVen dazu dienen, – angemessene Mindestarbeitsbedingungen zu schaffen und durchzusetzen, und zwar für grenzüberschreitend entsandte als auch für regelmäßig in Deutschland beschäftigte Arbeitnehmer, – einen fairen und funktionierenden Wettbewerb zu gewährleisten, 1 2 3 4 5 6
BGBl. I 2007, S. 576 ff.; vgl. dazu Sittard, ZIP 2007, 1444 ff. Dazu nur Sittard, NZA 2007, 1090 ff. BGBl. I 2007, S. 3140. BGBl. I 2009, S. 799 ff. BGBl. I 2014, S. 538. BGBl. I 2014, S. 1348.
648 Sittard
Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes
Rz. 140 Teil 7
– sozialversicherungsrechtliche Beschäftigung zu erhalten und – die Ordnungs- und Befriedungsfunktion der Tarifautonomie zu wahren. Dieser „Zweckkatalog“ ist durchaus kritisch zu hinterfragen: So ist zweifelhaft, ob 138 das AEntG tatsächlich dazu dient, sozialversicherungsrechtliche Beschäftigung zu erhalten, weil Mindestlöhne immer mit der Gefahr der Arbeitsplatzreduzierung einhergehen. Ebenso ist fraglich, ob man davon sprechen kann, dass das AEntG der Tarifautonomie dient. Jede staatliche Erstreckung von TVen steht in Widerspruch zur Tarifautonomie. Die Förderung von Autonomie kann an sich nicht darin bestehen, die Arbeitsvertragsparteien zur Anwendung von Tarifnormen zu zwingen. Im Kern geht es dem AEntG trotz dieser umfangreichen gesetzgeberischen Erklärung um den Arbeitnehmerschutz. Im Unterschied zur AVE nach § 5 TVG ist Zweck – schon aus europarechtlichen Gründen – auch der Schutz ausländischer Arbeitnehmer, die nur im Rahmen einer Entsendung in der Bundesrepublik eingesetzt werden.
III. Voraussetzungen der Tarifnormerstreckung durch das AEntG Das AEntG enthält Regelungen für zwei Arten von Normen: § 2 AEntG erklärt ge- 139 wisse gesetzlich bzw. durch eine Verordnung geregelte Arbeitsbedingungen für international-zwingend i.S.v. Art. 9 Abs. 1 Rom-I-Verordnung, sodass diese auch in Arbeitsverhältnissen mit ausländischem Vertragsstatut einzuhalten sind (bspw. die Höchstarbeits- und Mindestruhezeiten des ArbZG). Die §§ 3 bis 9 AEntG befassen sich dagegen mit der Erstreckung tarifvertraglicher Rechtsnormen. Eine Sonderstellung kommt der Pflegebranche zu (§§ 10 bis 13 AEntG), in der ohne Anknüpfung an TVe durch eine Kommission Mindestarbeitsbedingungen festgesetzt werden können. Im Folgenden werden die Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Erstreckung von tariflichen Normen durch das AEntG dargestellt. 1. Branchenzugehörigkeit Bis zum Inkrafttreten des Tarifautonomiestärkungsgesetzes galt der tarifrechtliche 140 Teil des AEntG nur für die durch § 4 AEntG a.F. ausdrücklich genannten Branchen. Durch die Gesetzesnovelle wird der Geltungsbereich des Gesetzes durch § 4 Abs. 2 AEntG auf alle Branchen erweitert. Unabhängig davon werden in Abs. 1 weiterhin folgende Branchen explizit genannt: – das Bauhaupt- und Baunebengewerbe, – die Gebäudereinigung, – die Briefdienstleistungen, – die Sicherheitsdienstleistungen, – die Bergbauspezialarbeiten auf Steinkohlebergwerken, – die Wäschereidienstleistungen im Objektkundengeschäft, – die Abfallwirtschaft (einschließlich Straßenreinigung und Winterdienst),
Sittard
649
Teil 7 Rz. 141
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
– die Aus- und Weiterbildungsbranche (nach SGB II und III) sowie – die Schlachter und Fleischverarbeitung. 141 Die Zugehörigkeit eines Unternehmens, Betriebs oder Betriebsteils zu einer bestimmten Branche ist durch die Einführung des Abs. 2 für die Anwendbarkeit des AEntG daher nicht mehr von entscheidender Bedeutung. Vielmehr kommt es zu einem Nebeneinander von ausdrücklich genannten und sonstigen Branchen, was nach der gesetzgeberischen Intention aber nicht ausschließen soll, dass auch künftig weitere Branchen in Abs. 1 aufgenommen werden können1. Damit gibt es zwei Möglichkeiten zur Anwendung des tarifrechtlichen Teils des AEntG zu gelangen: Zum einen durch die Zugehörigkeit zu einer ausdrücklich genannten Branche, zum anderen durch den allgemeinen Tatbestand des Abs. 2. Regelungssystematisch ist dies kritisch zu sehen. Konsequenter wäre es gewesen, auf die ausdrücklichen Branchenregelungen im Gesetz (§ 4 Abs. 1, § 6 AEntG) ganz zu verzichten und abstrakte branchenübergreifende Regelung vorzusehen. 142 Durch die Öffnung des AEntG auf alle Branchen bestünde jetzt theoretisch z.B. die Möglichkeit, flächendeckend branchenspezifische Mindestlöhne einzuführen, die oberhalb des Mindestlohnniveaus (vgl. § 1 Abs. 3 MiLoG sowie die Übergangsregelung des § 24 Abs. 1 MiLoG) liegen können. a) Zugehörigkeit zu einer ausdrücklich genannten Branche 143 Auf welche Einheit es als Anknüpfungspunkt (Unternehmen, Betrieb, Betriebsteil, Betriebsabteilung) für die Branchenzugehörigkeit ankommt, regeln für die Tarifnormerstreckung der Branchen des § 4 Abs. 1 AEntG die Vorschriften in § 6 Abs. 2 bis 10 AEntG. Entscheidend ist, ob in einem Betrieb oder einer selbständigen Betriebsabteilung überwiegend branchenbezogene Tätigkeiten erbracht werden. Das vom BAG entwickelte und nun für das AEntG kodifizierte sog. Überwiegensprinzip fragt danach, ob in der entsprechenden Einheit von den dort tätigen Mitarbeitern zeitlich überwiegend Leistungen aus dem Spektrum der vom AEntG erfassten Branche erbracht werden2. Nach richtiger Auffassung kann von einem Überwiegen nur gesprochen werden, wenn mehr als die Hälfte der Arbeitszeit auf vom TV erfasste Tätigkeiten verwendet wird. Das ergibt sich schon aus der grammatikalischen Auslegung des Begriffs3. Liegt ein solches Überwiegen vor, so wird die gesamte Einheit (Betrieb oder Betriebsabteilung) und nicht nur die Bereiche, in denen die überwiegende Tätigkeit erbracht wird, vom erstreckten TV erfasst. Bezugspunkt soll dabei grundsätzlich das Kalenderjahr sein4. Das ändert aber nichts daran, dass ein Unternehmen/Betrieb etc. durch Änderung des arbeitstechnischen Zwecks sofort aus dem Anwendungsbereich des AEntG herauswachsen kann. Die Jahresbetrachtung bietet insoweit nur einen Anhaltspunkt, damit sich der Schwerpunkt der Tätigkeit nicht z.B. durch kurzfristige Auftragseinbrüche oder -zunahmen verschiebt, obwohl es sich dabei nur um einen Kurzzeiteffekt handelt. 1 2 3 4
BT-Drucks. 18/1558, S. 50 f. Vgl. nur BAG v. 24.8.1994 – 10 AZR 980/93, NZA 1995, 1116 (1117). A.A. Thüsing/Braun/Braun, 6. Kap. Rz. 137. BAG v. 25.1.2005 – 9 AZR 146/04, AP Nr. 21 zu § 1 AEntG; HWK/Tillmanns, § 6 AEntG Rz. 3.
650 Sittard
Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes
Rz. 147 Teil 7
Der Sinn des Anknüpfens an kleinere Einheiten, wie die Betriebsabteilung, liegt 144 darin, den Anwendungsbereich des AEntG zu vergrößern. Denn bei Mischbetrieben genügt dann für die Geltung des AEntG (in der jeweiligen Abteilung) schon das Überwiegen in einer selbstständigen Betriebsabteilung. Allerdings setzt die Selbstständigkeit eine gewisse Eigenorganisation voraus, die eine bloß spezialisierte Arbeitsgruppe nicht erfüllt1. Werden ausländische Arbeitnehmer in Deutschland durch eine Niederlassung eines ausländischen Unternehmens koordiniert eingesetzt, so erfüllt dies regelmäßig die Anforderungen an eine selbstständige Abteilung2. Auffällig ist, dass nur bei § 6 Abs. 2 AEntG für die Baubranche davon die Rede ist, 145 dass Anknüpfungspunkt der Betrieb oder die selbstständige Betriebsabteilung im Sinne des fachlichen Geltungsbereichs des TVs sind. Für die anderen Branchen fehlt eine solche Einschränkung. Man muss davon ausgehen, dass es sich dabei um eine bewusste Differenzierung des Gesetzesgebers handelt. Virulent wird diese Frage, wenn der vom AEntG erstreckte TV in seinem Geltungsbereich nur auf den Betrieb und eben nicht auf eine Betriebsabteilung abstellt. Nach den allgemeinen Prinzipien der Tarifnormerstreckung kann eine solche aber nie weiter gehen als der jeweilige TV3. Daher sprechen gute Argumente dafür, dass in einer Situation, in der der TV nur auf die Betriebsabteilung abstellt, diese Anordnung des TVs gilt und es allein bei dem tariflichen Anknüpfungspunkt bleibt. Überwiegt dann nur in einer Betriebsabteilung die vom AEntG erfasste Tätigkeit, so ist der TV dennoch nicht über das AEntG anwendbar. Dass ein Betrieb/eine Betriebsabteilung zu einer bestimmten Branche gehört, muss 146 ein bspw. auf die Gewährung der Mindestarbeitsbedingung klagender Arbeitnehmer darlegen und beweisen. Allerdings dürfen insoweit an den prozessualen Vortrag keine zu hohen Anforderungen gestellt werden. Da allein dem Arbeitgeber das erforderliche Zahlenmaterial zur Verfügung steht, muss er auf einen substantiierten Vortrag des Arbeitnehmers4 im Wege einer abgestuften Darlegungs- und Beweislast darlegen, dass die vom AEntG erfassten Tätigkeiten im Betrieb/der Betriebsabteilung nicht überwiegen. § 6 Abs. 1 Satz 1AEntG enthält eine Beschränkung des Anwendungsbereichs des 147 AEntG, wonach die erstreckten TVe außerhalb der Baubranche (vgl. § 6 Abs. 1 Satz 2 AEntG i.V.m. § 101 Abs. 2 SGB III) nicht auf kurzfristige Erstmontage- und Einbauarbeiten im Rahmen von Lieferverträgen anwendbar sind, wenn die Montagezeit acht Tage nicht übersteigt. Tarifnormen über die Inhalte nach § 2 Nr. 3 bis 7 AEntG werden von der Ausnahme aber nicht erfasst, diese bezieht sich mithin nur auf Mindestlohn- und Urlaubsbestimmungen (§§ 6 Abs. 1 Satz 2, 5 Satz 1 Nr. 4 AEntG). Hintergrund der Vorschrift wäre eine zu starke Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit, wenn schon der kurze Einsatz zur Montage etc. von den Mindestlohnbestimmungen des Arbeitsortes bestimmt würde. Da in den derzeit vom AEntG erfassten Branchen (außerhalb der Baubranche) Montagearbeiten kaum anfallen dürften, hat die auf die
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HWK/Tillmanns, § 6 AEntG Rz. 3. BAG v. 28.9.2005 – 10 AZR 28/05, NZA 2006, 379. Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 12 ff. Die reine Behauptung dürfte hingegen nicht ausreichen, a.A. aber HWK/Tillmanns, § 6 AEntG Rz. 3.
Sittard
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Teil 7 Rz. 148
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
Entsenderichtlinie 96/71/EG (dort Art. 3 Abs. 2) zurückgehende Regelung faktisch kaum einen Anwendungsbereich. b) Nicht definierte Branchen 148 Durch die Neuregelung in Abs. 2 öffnet sich das AEntG faktisch für alle Branchen. Auch wenn § 6 AEntG hierzu keine Regelung enthält, wird im Regelfall ebenfalls das Überwiegensprinzip zur Anwendung kommen1. Damit ist die Rechtsnormerstreckung auch für die nicht ausdrücklich definierten Branchen nur für solche Betriebe bzw. selbständige Betriebsabteilungen maßgeblich, in denen überwiegend branchenspezifische Tätigkeiten ausgeübt werden (vgl. Rz. 143). Allerdings wäre es, mangels Begrenzung durch § 6 AEntG, möglich, dass in dem jeweiligen TVen eine andere Regelung zur Ermittlung des Anwendungsbereichs getroffen wird. Jedoch wird das zuständige Ministerium in diesem Fall prüfen müssen, ob ein öffentliches Interesse nach § 3 Abs. 2 AEntG besteht oder ob die Regelung des Anwendungsbereichs zu erheblichen Abgrenzungsschwierigkeiten führt, die einer Tarifnormerstreckung entgegenstehen. 2. Erfasste Arbeitsbedingungen 149 Anders als bei der AVE nach § 5 TVG kann die Tarifnormerstreckung des AEntG nur für einzelne gesetzlich festgelegte Mindestarbeitsbedingungen greifen. Dabei handelt es sich gemäß § 5 (i.V.m. § 2 Nr. 3 bis 7 AEntG) AEntG um – Mindestentgeltsätze (mit Differenzierungen nach der Tätigkeit und Qualifikation sowie der Region) einschließlich der Überstundensätze, – Regelungen zur Dauer des Erholungsurlaubs, des Urlaubsentgelts oder eines zusätzlichen Urlaubsgelds und – Beiträge und die Gewährung von Leistungen im Zusammenhang mit Urlaubsansprüchen durch eine gemeinsame Einrichtung der TV-Parteien. Dabei wird in § 5 Satz 2 AEntG festgelegt, dass auch tarifvertragliche Fälligkeitsregeln und Ausnahmen von der Fälligkeit als Bestandteil der erstreckungsfähigen Tarifbestimmungen anzusehen sind und ebenfalls erstreckungsfähig sind. 150 Gemäß § 5 Nr. 4 AEntG können weiterhin folgende Regelungsgegenstände erfasst werden: – Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten, – Bedingungen für die Überlassung von Arbeitskräften, insbesondere durch Leiharbeitsunternehmen, – Sicherheit, den Gesundheitsschutz und die Hygiene am Arbeitsplatz, – Schutzmaßnahmen im Zusammenhang mit den Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Schwangeren und Wöchnerinnen, Kindern und Jugendlichen und – Gleichbehandlung von Männern und Frauen sowie andere Nichtdiskriminierungsbestimmungen. 1 BT-Drucks. 18/1558, S. 51.
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Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes
Rz. 153 Teil 7
Nach der Altfassung des Gesetzes galt gem. § 7 Abs. 1 Satz 3 AEntG a.F. die Rechtsverordnungsermächtigung für diese Arbeitsbedingungen nicht. Da nach der Gesetzesnovellierung die Rechtsverordnungsermächtigung nun den Regelfall darstellen soll, werden die Arbeitsbedingungen künftig auch von § 7 AEntG erfasst, der § 7 Abs. 1 Satz 3 AEntG a.F. wurde ersatzlos gestrichen. a) Mindestentgeltsätze Trotz der Einführung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns sind dabei ins- 151 besondere die Mindestentgeltsätze (§ 5 Nr. 1 AEntG) praxisrelevant, denn in zahlreichen vom AEntG erfassten Branchen gelten derzeit1 erstreckte TVe zum Mindestlohn. Zudem erlaubt die Übergangsregelung des § 24 Abs. 1 MiLoG bis Ende 2017 eine Unterschreitung des gesetzlichen Mindestlohn durch diese Branchenmindestlöhne (vgl. Rz. 153). Hinsichtlich der Mindestentgeltsätze stellt sich die Frage, ob in einem vom AEntG 152 erfassten TV nur ein einheitlicher Mindestentgeltsatz festgelegt werden darf oder ob auch ein sog. Tarifgitter möglich ist. Unter einem Tarifgitter versteht man ein System verschiedener Entgeltgruppen, in die eine Eingruppierung erfolgen muss. Das Gesetz lässt Differenzierungen nach Art der Tätigkeit, Qualifikation und Region ausdrücklich zu. Nach der Gesetzesbegründung ist die Erstreckung eines gesamten Lohngitters unzulässig2 – im Wortlaut der Norm schlägt sich dies aber nur ansatzweise darin nieder, dass von Mindestentgeltsätzen die Rede ist. Nach der Gesetzesbegründung soll in Bezug auf die ausgeübte Tätigkeit z.B. eine Differenzierung nach gelernt/ungelernt zulässig sein. In der Praxis enthalten die AEntG-Rechtsverordnungen des BMAS teilweise zwei unterschiedliche Mindestlöhne. So differenziert z.B. die 9. AEntG-Rechtsverordnung zum Baugewerbe zwischen einfachen Bau- und Montagearbeiten, für die der „Mindestlohn 1“ gilt (derzeit 11,25 Euro) und „fachlichen begrenzten Arbeiten“, für die der „Mindestlohn 2“ mit immerhin 14,45 Euro gilt3. Unabhängig vom gesetzgeberischen Willen begrenzen jedenfalls Art. 12 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 3 GG die Gestaltungsfreiheit des Verordnungsgebers. Würden gesamte Tarifgitter vom AEntG erstreckt, so bestünde keinerlei Regelungsspielraum mehr für die Tarif- sowie die Arbeitsvertragsparteien. Das stellt nach richtiger Ansicht einen unverhältnismäßigen Grundrechtseingriff dar. Zudem dürfte eine solch weitgehende Regelung auch nicht mehr von der Entsenderichtlinie 96/71/EG gedeckt sein, die nur einen „harten Kern“ von Mindestarbeitsbedingungen (vgl. Erwägungsgrund 14) schützen will und damit auf unterste Lohngruppen abzielt. Damit bestehen bereits gegen die Differenzierung „gelernt/ungelernt“ europarechtliche Bedenken, da die Entsenderichtlinie hierfür keinen Anhaltspunkt liefert. Eine darüber hinausgehende Differenzierung dürfte aber in jedem Fall unzulässig sein. Im Verhältnis der Branchenmindestlöhne zum MiLoG ist zu beachten, dass das MiLoG gem. § 1 Abs. 3 im Grundsatz die unterste Lohngrenze vorsieht. Nach der Übergangsregelung in § 24 Abs. 1 MiLoG darf der gesetzliche Mindestlohn aber bis Ende 2017 unterschritten werden, wobei ab dem 1.1.2017 auch die tariflichen Mindestlöh1 Stand: Verzeichnis allgemeinverbindlicher Tarifverträge des BMAS v. 1.1.2016 (abrufbar auf bmas.de). 2 BT-Drucks. 16/10486, S. 12. 3 Stand 1.1.2016 für den Geltungsbereich West.
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153
Teil 7 Rz. 154
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
ne nach dem AEntG einen Betrag von 8,50 Euro erreichen (unabhängig von einer möglichen Mindestlohnerhöhung zum 1.1.2017). Tatsächlich erfasst von dieser Übergangsregelung sind zurzeit nur die Textil- und Bekleidungsindustrie (Ost inkl. Berlin: 8,25 Euro) die Land- und Forstwirtschaft (Ost inkl. Berlin: 7,90 Euro; West: 8,00 Euro) und die Wäschereidienstleistungen im Objektkundengeschäft (Ost inkl. Berlin: 8,00 Euro)1. b) Urlaubskassen 154 § 5 Nr. 3 AEntG zielt auf das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe ab (vgl. TV über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe). In Anlehnung an die EuGH-Rechtsprechung2 wird das sog. Doppelbelastungsverbot normiert, wonach Leistungen ausländischer Arbeitgeber mit gleicher Zwecksetzung im Heimatland durch Ausnahmen oder Anrechnungen berücksichtigt werden müssen3. Hierzu sind mit verschiedenen Staaten (z.B. Belgien, Frankreich, Niederlande, Dänemark und Österreich) Rahmenvereinbarungen zur Verfahrensvereinfachung geschlossen worden4. 3. Staatlicher Tarifnormerstreckungsakt 155 Wie auch die AVE nach § 5 TVG bedarf die Tarifnormerstreckung des AEntG eines staatlichen Aktes. § 3 AEntG lässt hierbei zwei Alternativen zu: – Entweder liegt eine AVE nach § 5 TVG (§ 3 Satz 1 Alt. 1 AEntG) vor oder – ein TV wird per Rechtsverordnung nach § 7 oder § 7a AEntG (§ 3 Satz 1 Alt. 2 AEntG) erstreckt. a) Erstreckung kraft Allgemeinverbindlicherklärung (§ 3 Satz 1 Alt. 1 AEntG) 156 Durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz ist AVE als Instrument im Rahmen des AEntG auf den Einsatz in der Baubranche beschränkt worden, vgl. § 3 Satz 1 Alt. 1 AEntG. Damit will der Gesetzgeber eine klarere Abgrenzung der unterschiedlichen gesetzlichen Regelungen und der Erstreckungsmechanismen erreichen. In der Baubranche bleibt es im Rahmen des AEntG bei der Möglichkeit der AVE, da den dortigen Besonderheiten Rechnung getragen werden müsse und insbesondere der Fortbestand der Regelungen der Sozialkasse der Bauwirtschaft gewährleistet werden soll5. Ist ein TV in der gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 1 AEntG genannten Baubranche nach § 5 TVG für allgemeinverbindlich erklärt, dann entfaltet er automatisch die in § 8 AEntG genannten besonderen Rechtsfolgen des AEntG, wenn und soweit er Arbeitsbedingungen i.S.v. § 5 AEntG zum Gegenstand hat (§ 3 Satz 1 Alt. 1 AEntG). Die Allgemeinverbindlicherklärung wird dann durch § 3 Satz 1 Alt. 1 i.V.m. §§ 8 ff. AEntG von den Rechtsfolgen her verstärkt.
1 WSI-Tarifarchiv (Stand: 1.1.2016). 2 EuGH v. 28.3.1996 – Rs. C-272/94, AP Nr. 2 zu Art. 59 EWG-Vertrag – Guiot; EuGH v. 23.11.1999 – Rs. C-369/96, AP Nr. 1 zu Art. 59 EG-Vertrag – Arblade. 3 Vgl. dazu näher ErfK/Schlachter, § 6 AEntG Rz. 6. 4 Ausführlich Preis/Temming, Die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse im Kontext des Gemeinschaftsrechts, 2006, S. 25 ff. 5 BT-Drucks. 18/1558, S. 50.
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Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes
Rz. 161 Teil 7
Voraussetzung ist, dass ein wirksam für allgemeinverbindlich erklärter TV gegeben 157 ist. Dies setzt voraus, dass die formellen und materiellen Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 TVG gegeben sind. Insoweit kann auf die Ausführungen zur AVE Bezug genommen werden (vgl. Rz. 22 ff.). Darüber hinaus muss es sich im Grundsatz um einen bundesweit geltenden TV handeln (vgl. § 3 Satz 1 AEntG). Dieses Erfordernis besteht indes nicht bei TVen über Urlaubsregelungen und gemeinsame Einrichtungen nach § 5 Nr. 2 und 3 AEntG, wenn die regionalen TVe zusammen das gesamte Bundesgebiet erfassen und sämtlich erstreckt werden (vgl. § 3 Satz 2 AEntG). Auch hier muss also sichergestellt sein, dass letztlich eine bundesweite Regelung besteht, die aber regional unterschiedlich sein darf. b) Erstreckung kraft Rechtsverordnung (§ 3 Satz 1 Alt. 2, §§ 7, 7a AEntG) Für alle Branchen außerhalb der Bauwirtschaft kommt statt der Anknüpfung an die 158 AVE eine Tarifnormerstreckung durch Rechtsverordnung nach §§ 7 Abs. 1, 7a AEntG in Betracht. Wegen der geringeren Voraussetzungen erfolgt die Tarifnormerstreckung des AEntG in der Praxis regelmäßig über eine Rechtsverordnung. Die Rechtsverordnung ist dabei von einer AVE gemäß § 5 TVG unabhängig. Da nun gem. § 4 Abs. 2 AEntG grundsätzliche alle Branchen erfasst sein können, hat der Gesetzgeber für diese nicht ausdrücklich genannten Branchen ein separates Verfahren in § 7a AEntG geschaffen (vgl. Rz. 178). aa) Dogmatische Einordnung Anders als die AVE ergeht gemäß §§ 7 Abs. 1, 7a Abs. 1 AEntG als staatlicher Akt kein Rechtsakt sui generis, sondern eine Rechtsverordnung i.S.v. Art. 80 Abs. 1 GG.
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Bei der klassischen AVE sowie § 3 Satz 1 Alt. 1 AEntG ist unstreitig, dass aufgrund 160 der Tarifnormerstreckung der (erstreckte) TV zwischen den bislang nicht Tarifgebundenen zur Anwendung gelangt. Zwar wird die Tarifgeltung staatlich legitimiert, es gilt aber der TV selbst in Form einer Tarifbindung kraft staatlichen Rechts. Anders wird dies für die Rechtsverordnung nach § 3 Satz 1 Alt. 2, § 7 AEntG gesehen. Das BAG geht hier im Einklang mit Teilen der Literatur1 davon aus, dass die Rechtsnormen des von der Verordnung erfassten TVs nicht selbst als Tarifnormen gelten, sondern unmittelbar zu staatlichem Recht werden2 und damit – jedenfalls im Verhältnis zu den bisher nicht Tarifgebundenen – ihren Charakter als Tarifnormen verlieren. Dem BAG nach finden die Regelungen der Rechtsverordnung und nicht etwa die Tarifnormen selbst auf die bislang nicht tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse Anwendung. Damit sieht das BAG in § 3 Satz 1 Alt. 2, § 7 AEntG gar keine „Tarifnormerstreckung“ kraft staatlichen Rechts, sondern eine „Tarifnormtransformation“ in staatliches Recht3. Überzeugender ist jedoch der Ansatz, auch in der Rechtsverordnungsvariante des 161 AEntG eine Tarifnormerstreckung zu sehen, sodass es der TV selbst bleibt, der für die bisher nicht Tarifgebundenen verbindlich wird. Dies zeigt sich u.a. am Wortlaut des 1 Thüsing/Bayreuther, § 8 AEntG Rz. 19. 2 BAG v. 20.4.2011 – 4 AZR 467/09, NZA 2011, 1105; krit. dazu Sittard, NZA 2012, 299 ff. 3 Vgl. Sittard, NZA 2012, 299 (301); Sittard, RdA 2013, 301 (303).
Sittard
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Teil 7 Rz. 162
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
§ 7 Abs. 1 sowie § 7a Abs. 1 AEntG, wonach es – wie bei § 5 TVG – die Rechtsnormen des TVs sind, die auf alle unter den Geltungsbereich fallenden und nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Anwendung finden. Hierfür spricht auch, dass die Tarifnormen in der Praxis des BMAS nur in einen Anhang zur Rechtsverordnung aufgenommen werden und nicht unmittelbar Bestandteil der Verordnung sind. Zudem sollte die Rechtsverordnungsermächtigung nach dem Willen des Gesetzgebers nur die Wirkungen des § 1 Abs. 1 AEntG a.F. auf vereinfachtem Wege erreichen und diente in erster Linie dazu, den Einfluss des Tarifausschusses (vgl. § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG) zu schmälern, der aufgrund der Blockade der Arbeitgeberverbände in den ersten Jahren seit Inkrafttreten des AEntG die Erstreckung von TVen verhinderte1. Eine Abkehr vom bis dahin etablierten System der Tarifnormerstreckung war durch die Einführung der Rechtsverordnungsvariante nicht beabsichtigt. Allein die Wahl eines anderen Verfahrens lässt nicht den Schluss zu, dass der Gesetzgeber eine gänzlich neue Basis für die Anwendung von TVen auf Außenseiter schaffen wollte. Eine Bestätigung dieses Verständnisses enthält § 8 Abs. 2 AEntG. Dort findet sich die Formulierung, dass ein TV, „durch … Rechtsverordnung … erstreckt wird“. Zudem heißt es in der gleichen Norm, dass der Arbeitgeber zur Einhaltung des TVs (und nicht der Rechtsverordnung!) verpflichtet ist2. Es handelt sich somit bei der Rechtsverordnung richtigerweise um einen Akt der Tarifnormerstreckung, der an die Stelle des Aktes der AVE nach § 5 TVG tritt. Es bleiben aber die Tarifnormen selbst, denen durch den Erstreckungsakt zu besonderen Rechtswirkungen verholfen wird3. bb) Voraussetzungen für den Erlass der Rechtsverordnung nach § 7 Abs. 1 AEntG 162 Das AEntG stellt in § 7 AEntG an den Erlass einer solchen Rechtsverordnung für die ausdrücklich in das Gesetz aufgenommen Branchen des § 4 Abs. 1 AEntG verschiedene formelle wie materielle Voraussetzungen auf. Für die nicht ausdrücklich aufgenommenen Branchen (§ 4 Abs. 2 TVG) enthält § 7a AEntG eine eigenständige Ermächtigungsgrundlage, die sich aber weitgehend an § 7 AEntG orientiert. Die Unterschiede zwischen dem Verfahren nach § 7 AEntG einerseits und § 7a AEntG andererseits liegen in gewissen zusätzlichen Voraussetzungen, weil es im Rahmen des § 7a AEntG an einer gesetzlichen Branchenabgrenzung fehlt, wie sie § 6 AEntG für die Branchen des § 4 Abs. 1 AEntG vorsieht. (1) Gemeinsamer Antrag 163 Für eine Rechtsverordnung gemäß § 7 Abs. 1 AEntG bedarf es eines gemeinsamen Antrags der Parteien des zu erstreckenden TVs. Im Regelfall müssen also Arbeitgeberverband (im theoretischen Ausnahmefall des FirmenTVs der einzelne Arbeitgeber) und Gewerkschaft einen gemeinsamen Antrag stellen, wobei es nach Sinn und Zweck nicht darauf ankommt, dass dieser Antrag auf einem „gemeinsamen“ Dokument eingereicht oder zwei Anträge eingereicht werden. Handelt es sich um einen mehrgliedrigen TV, so ist ein Antrag aller TV-Parteien erforderlich, denn § 7 Abs. 1 AEntG will verhindern, dass ein TV gegen den Willen einer TV-Partei erstreckt wird. Der Gesetzgeber hat bei der Reform des AEntG im Jahr 2009 bewusst einen gemein1 BT-Drucks. 14/45, S. 25 f. 2 Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 30. 3 Sittard, NZA 2012, 299 (301 f.).
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Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes
Rz. 165 Teil 7
samen Antrag zur Voraussetzung gemacht, sodass dieses Kriterium streng zu handhaben ist1. (2) Beteiligungsverfahren Das Verfahren zur Beteiligung möglicherweise von der Tarifnormerstreckung Betrof- 164 fener (in den Geltungsbereich der Rechtsverordnung fallende Arbeitgeber, die TV-Parteien sowie etwaige konkurrierende Koalitionen) richtet sich nach § 7 Abs. 4 AEntG. Die Vorschrift ist zwingend. Dabei ist darauf zu achten, dass eine Veränderung des TVs nach Durchführung des Beteiligungsverfahrens (aber vor Rechtsverordnungserlass) zur Folge hat, dass das Verfahren neu eingeleitet werden muss, wenn der geänderte TV erstreckt werden soll. Wird dies nicht beachtet, ist die Rechtsverordnung rechtswidrig2. (3) Beteiligung des Tarifausschusses Bei der Novellierung des AEntG im Jahr 2009 wurde erstmals eine Beteiligung des Ta- 165 rifausschusses nach § 5 Abs. 1 TVG (vgl. Rz. 28 ff.) im Tarifnormerstreckungsverfahren qua AEntG-Rechtsverordnung vorgesehen. Danach muss bei einem erstmaligen Antrag in einer Branche auf Erstreckung durch Rechtsverordnung zunächst der Tarifausschuss beteiligt werden (§ 7 Abs. 5 AEntG). Dies dient nach der Begründung zum Regierungsentwurf dazu, gesamtwirtschaftliche Erwägungen in den Entscheidungsprozess einfließen zu lassen3. Allerdings ist die Stellung des Tarifausschusses im AEntG gegenüber § 5 TVG aus zwei Gründen geschwächt. Zum einen wurde das Mehrheitserfordernis abgeschwächt. Stimmen zwei Drittel der Mitglieder des Tarifausschusses der Rechtsverordnung zu oder gibt der Ausschuss innerhalb von zwei Monaten keine Stellungnahme ab, so kann die Tarifnormerstreckung durch eine Verordnung des Bundesarbeitsministeriums erfolgen. Für eine Verordnung der Bundesregierung genügt hingegen die Zustimmung eines Drittels der Mitglieder des Tarifausschusses, gem. § 7 Abs. 5 Satz 3 AEntG. Das aus je drei Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern bestehende Gremium muss also – anders als bei § 5 TVG, wo eine Mehrheit der Stimmen erforderlich ist – keinen Konsens erzielen. Zum anderen ist der Tarifausschuss nicht bei jeder Tarifnormerstreckung zu beteiligen, sondern nur, wenn erstmalig ein Antrag auf Tarifnormerstreckung für eine Branche gestellt wird. Die 2009 in § 4 Abs. 1 AEntG neu eingeführten Branchen haben bisher alle zumindest einer Rechtsverordnung gem. § 7 AEntG unterlegen4. Daher wurde § 7 Abs. 5 Satz 4 AEntG entsprechend angepasst. Auch über die am 31.5.2014 neu in § 4 Abs. 1 Nr. 8 AEntG aufgenommene Fleischindustrie wurde mit Wirkung zum 1.8.2014 eine solche Rechtsverordnung erlassen5. Faktisch findet die Norm damit nur noch auf neu hinzukommende Branchen Anwendung. Der Wortlaut des Gesetzes macht dabei die Beteiligung nicht davon abhängig, ob der erstmalige Antrag erfolgreich war. Nach Sinn und Zweck ist dies aber zu verlangen. Kam eine Tarifnormerstreckung nach einer erfolgten Beteiligung des Tarifausschusses
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BR-Drucks. 542/08. BVerwG v. 28.1.2010 – 8 C 19/09, NZA 2010, 718 (724 f.). BR-Drucks. 542/08, S. 18. BT-Drucks. 18/1558, S. 52. BAnz. AT v. 31.7.2014 V1.
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Teil 7 Rz. 166
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
nicht zustande und wird später erneut ein Antrag gestellt, so muss auch der Tarifausschuss erneut beteiligt werden. (4) Regelungsgegenstände und Geltungsbereich 166 Qua Rechtsverordnung erstreckungsfähig sind die in § 5 Nr. 1 bis 4 AEntG genannten Regelungsgegenstände, d.h. Mindestentgelte (Nr. 1), Urlaubs- und Urlaubsentgelt- sowie Urlaubsgeldregelungen (Nr. 2) und Beiträge zu Urlaubskassen (gemeinsame Einrichtungen), wenn und soweit das sog. Doppelbelastungsverbot eingehalten ist (Nr. 3) und – nach Streichung des § 7 Abs. 1 Satz 3 AEntG a.F. – auch Arbeitsbedingungen i.S.d. § 2 Nr. 3 bis 7 (Nr. 4). 167 Entgegen einer teilweise vertretenen Ansicht1 hat diese Beschränkung aber nicht zur Folge, dass in dem zu erstreckenden TV allein diese Arbeitsbedingungen geregelt werden dürfen. Vielmehr beziehen sich die Rechtsfolgen des AEntG nur auf diese2. Es ist aber unschädlich, wenn in dem TV noch andere Arbeitsbedingungen geregelt sind. 168 Auch für die Erstreckung durch Rechtsverordnung bedarf es gemäß § 3 Satz 1 AEntG eines bundesweit geltenden TVs, wobei § 3 Satz 2 AEntG Ausnahmen für TVe bezüglich der Beitragspflicht zu Urlaubskassen sowie für Urlaubsregelungen vorsieht (§ 3 Satz 2 AEntG). Diese Ausnahme verfolgt insbesondere den Zweck, das Urlaubskassenverfahren der Baubranche einzubeziehen. Allerdings müssen dann die regionalen TVe zusammen das gesamte Bundesgebiet erfassen und müssen sämtlich erstreckt werden, sodass auch faktisch eine Gesamtregelung für die Bundesrepublik ohne „weiße Flecken“ gilt. (5) Öffentliches Interesse 169 Früher fand sich in § 7 Abs. 1 Satz 2 AEntG a.F. eine Verweisung auf § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 TVG a.F. Nun wurde das öffentliche Interesse in § 7 Abs. 1 AEntG ausdrücklich aufgenommen. Eine Erstreckung des TVs kommt nur in Betracht, wenn das Interesse an der Tarifnormerstreckung (insbesondere der mit ihr verbundene Arbeitnehmerschutz) die Nachteile (insbesondere den Eingriff in die Rechte der Arbeitgeber) überwiegt. Trotz der ausdrücklichen Aufnahme des öffentlichen Interesses, lassen sich die Merkmal zur Feststellung des allgemeinen öffentlichen Interesses im Rahmen von § 5 TVG auf § 7 AEntG übertragen (vgl. Rz. 48 ff.). Da die Regelbeispiele des § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG nicht in Bezug genommen wurden, dürften diese für das AEntG keine Bedeutung haben. 170 Wegen der stärkeren Wirkung des AEntG insbesondere auf länderübergreifende Sachverhalte (und den damit verbundenen Eingriff in die europäische Dienstleistungsfreiheit) sowie auf der Ebene der Tarifkonkurrenz muss im Rahmen der erforderlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung indes ein noch strengerer Maßstab herangezogen werden. So kommt richtigerweise eine Erstreckung über das Entsendegesetz im Regelfall nicht in Betracht, wenn es keinen Bedarf an der besonderen Wirkung des AEntG gibt, weil bspw. die betroffene Branche faktisch kaum von der Entsendung ausländischer Arbeitnehmer in die Bundesrepublik betroffen ist. Eine Ausweitung des AEntG auf 1 Thüsing/Bayreuther, § 7 AEntG Rz. 3. 2 Vgl. ausführlich Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 342 f.
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Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes
Rz. 173 Teil 7
Branchen ohne eine erhebliche Zahl von Entsendesachverhalten wäre daher bedenklich, weil dann ohne Not nur noch der rechtsfolgenintensivere Akt des AEntG zur Verfügung stünde, denn bei Einbeziehung einer Branche in das AEntG erhalten die AVE-TVe automatisch die Wirkung des AEntG (vgl. § 3 Satz 1 Alt. 1 AEntG). (6) Auswahlentscheidung bei sich überschneidendem Geltungsbereich § 7 Abs. 2 und 3 AEntG enthalten Regelungen für den Fall, dass mehr als ein TV zur 171 Erstreckung durch das AEntG in Frage kommt. Dann muss das zuständige Ministerium eine Auswahlentscheidung treffen. (a) Sich überschneidender Geltungsbereich von Tarifverträgen § 7 Abs. 2 Satz 1 AEntG regelt den Fall, dass ein TV über das AEntG erstreckt werden 172 soll und sich dessen Geltungsbereich zumindest teilweise mit anderen TVen überschneidet. Die Norm ordnet an, dass das zuständige Ministerium neben den Gesetzeszwecken des § 1 AEntG (Gewährung von Mindestarbeitsbedingungen, Gewährleistung eines fairen und funktionierenden Wettbewerbs, Erhalt von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung und Wahrung der Tarifautonomie) auch die Repräsentativität des zu erstreckenden TVs berücksichtigen muss. Diesbezüglich ist vorrangig auf die Zahl der von den jeweils tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigten, unter den Geltungsbereich fallenden Arbeitnehmer sowie die Zahl der jeweils unter den Geltungsbereich fallenden Mitglieder der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft abzustellen (§ 7 Abs. 2 Satz 2 AEntG). Nach dem Gesetzeswortlaut ist die Repräsentativität allerdings nur „ergänzend“ he- 173 ranzuziehen. Daraus folgt, dass der Gesetzgeber es grundsätzlich für denkbar hält, dass unter Umständen auch ein weniger repräsentativer TV erstreckt werden kann1. Hiergegen sprechen indes verfassungsrechtliche Erwägungen: Bei einer nur ergänzenden Heranziehung der Repräsentativität wäre es wegen der Verdrängungswirkung des AEntG möglich, dass eine Minderheit einer anderweitig tarifgebundenen Mehrheit ihren TV aufzwingt. Dies ist weder mit der negativen Koalitionsfreiheit der anders Tarifgebundenen noch mit der kollektiven Koalitionsfreiheit der konkurrierenden Koalitionen vereinbar2. Die Repräsentativität des TVs und die sich aus ihr ergebende höhere Richtigkeitsgewähr verringern den Rechtfertigungsdruck des Grundrechtseingriffs. Fehlt dem TV die Repräsentativität, kann die Verdrängung der anderen TVe verfassungsrechtlich kaum gerechtfertigt werden. § 7 Abs. 2 AEntG sollte daher so ausgelegt werden, dass bei einer Geltungsbereichsüberschneidung immer nur der repräsentativere Tarif erstreckt werden kann3. Ist der repräsentative TV aus anderen Gründen nicht erstreckungsfähig (z.B. weil für diesen TV kein Antrag auf Erstreckung gestellt ist), scheidet eine Tarifnormerstreckung insgesamt aus. Dieses Ergebnis ist auch deshalb sinnvoll, weil die in § 7 Abs. 2 AEntG vorgesehene Abwägung des Merkmals der Repräsentativität mit den Gesetzeszielen kaum möglich ist. Eine Abwägung von zu erreichenden Zielen mit einer Erlassvoraussetzung lässt sich nicht strukturiert durchführen. Thüsing spricht insoweit zu Recht von einer Vermengung 1 Hierfür auch Wank, FS Buchner, S. 898 (903). 2 Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 431 f. 3 Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 431 f.; Sittard, NZA 2009, 346 (348).
Sittard
659
Teil 7 Rz. 174
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
inkommensurabler Größen1. Der Vorschrift ist – wie auch § 7 Abs. 3 AEntG – ihr politischer Kompromisscharakter aus der Zeit der großen Koalition der 16. Legislaturperiode anzumerken, der allerdings auf Kosten der juristischen Klarheit und Subsumierbarkeit geht. 174 Zur Ermittlung der nach § 7 Abs. 2 AEntG erforderlichen Repräsentativität ist richtigerweise auf die höchste mitgliedschaftliche Legitimation abzustellen. Repräsentativ ist daher im Grundsatz der TV, an den die meisten Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemäß § 3 TVG gebunden sind. § 7 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AEntG stellt dabei auf die Repräsentativität bei den Arbeitgebern ab und ähnelt – nur ohne festes Quorum – § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG, wohingegen § 7 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AEntG darüber hinaus zur Prüfung zwingt, ob die Gewerkschaft des zu erstreckenden TVs repräsentativ ist. Beide Kriterien sind geltungsbereichsgebunden, sodass nicht abstrakt die Stärke der Verbände ermittelt wird, sondern konkret zu prüfen ist, welcher Verband im Geltungsbereich repräsentativer ist. Weisen beide Kriterien des § 7 Abs. 2 Satz 2 AEntG auf verschiedene TVe, kommt dem Verordnungsgeber ein Auswahlermessen zu. In der Regel dürfte dann aber der TV zu erstrecken sein, an den insgesamt mehr Arbeitsverhältnisse mitgliedschaftlich tarifgebunden sind. 175 Die Anordnung des § 7 Abs. 2 AEntG wird dadurch „verwässert“, dass die Kriterien zur Ermittlung der Repräsentativität nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AEntG nur „vorrangig“ heranzuziehen sind. Wenn es in der Begründung zum Regierungsentwurf heißt, dass auch eine „größere Repräsentantengruppe weniger repräsentativ sein kann“2, dann wird das Merkmal der Repräsentativität ausgehöhlt. Will man system- und verfassungskonforme Ergebnisse erzielen, sollte die Ermittlung der Repräsentativität deshalb nur anhand der Kriterien des § 7 Abs. 2 Satz 2 AEntG erfolgen3. (b) Kollision mehrerer Anträge 176 § 7 Abs. 3 AEntG bezieht sich auf die Situation, in der mehrere (kollidierende) Anträge auf Tarifnormerstreckung gestellt wurden und somit das Prinzip „nur einer kann gewinnen“ gilt. Die Vorschrift kann nur als misslungen bezeichnet werden: Zum einen ist der Wortlaut uneindeutig. Die Vorschrift ergibt nur Sinn, wenn sich die Geltungsbereiche der TVe, für die Anträge gestellt wurden, zumindest teilweise überschneiden. Eine entsprechende Einschränkung fehlt – anders als in Abs. 2 – in § 7 Abs. 3 AEntG. Zum anderen ist die Rechtsfolgenanordnung wenig sinnvoll: Nach Abs. 3 hat „der Verordnungsgeber mit besonderer Sorgfalt die von der Auswahlentscheidung betroffenen Güter von Verfassungsrang abzuwägen und die widerstreitenden Grundrechtsinteressen zu einem schonenden Ausgleich zu bringen“. Die Vorschrift ordnet Selbstverständliches an, da eine sorgfältige Gesamtabwägung im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzips immer erforderlich ist. Darüber hinaus bringt sie aber kaum Nutzen, weil ein schonender Ausgleich bei einer Entscheidung über eine Tarifnormerstreckung kaum möglich ist, denn der Verordnungsgeber kann sich regelmäßig nur für einen der TVe entscheiden. Ein schonender Ausgleich könnte allenfalls durch Einschränkungsklau-
1 Thüsing, ZfA 2008, 590 (633 f.). 2 BR-Drucks. 542/08, S. 16. 3 Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 431 f.
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Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes
Rz. 181 Teil 7
seln erfolgen, sodass Tarifkonkurrenzen durch die Tarifnormerstreckung vermieden werden. Letztlich entscheidend für die Frage, welcher von zwei konkurrierenden TVen zu er- 177 strecken ist, muss daher wohl § 7 Abs. 2 AEntG sein, womit richtigerweise die Repräsentativität entscheidend sein wird. In jedem Fall dürfte bei der Erstreckung des nicht repräsentativen TVs der erste Anschein für eine ermessensfehlerhafte Entscheidung des Verordnungsgebers sprechen. In diesem Fall muss der Verordnungsgeber anhand des Schutzzwecks des AEntG (vgl. § 1 AEntG) widerlegen, warum es erforderlich war, den weniger repräsentativen TV zu erstrecken. Dies ist wohl nur denkbar, wenn der weniger repräsentative TV aus Arbeitnehmersicht ungünstigere TV-Bedingungen enthält als der repräsentativere TV. Dann kann sich nämlich die Erstreckung des bspw. vom Entgeltniveau niedrigeren TVs als milderes Mittel im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips darstellen, was das Abweichen von der Repräsentativität rechtfertigt. cc) Voraussetzungen für den Erlass der Rechtsverordnung nach § 7a AEntG § 7a AEntG regelt für die Tarifnormerstreckung durch Rechtsverordnung für Bran- 178 chen außerhalb von § 4 Abs. 1 AEntG ein gesondertes Verfahren und stellt dabei zusätzliche Voraussetzungen auf. Damit will der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung tragen, dass die Branchen in § 4 Abs. 2 AEntG nicht ausdrücklich definiert sind und damit noch keine grundsätzlich Entscheidung über die Notwendigkeit einer Geltungserstreckung getroffen wurde1. (1) Antrag/Auswahlentscheidung Die formellen Voraussetzungen gleichen denen des § 7 AEntG. Insbesondere ist auch hier ein Antrag beider Parteien nötig, § 7a Abs. 1 AEntG. Gleiches gilt für die Reglungen zur Auswahlentscheidung nach § 7 Abs. 2 und 3 (vgl. § 7a Abs. 2 AEntG).
179
(2) Beteiligungsverfahren Das in § 7a Abs. 3 AEntG geregelte Beteiligungsverfahren wird gegenüber § 7 Abs. 4 180 AEntG erweitert. So ist hier, neben den möglicherweise von der Rechtsverordnung betroffenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, allen am Ausgang des Verfahrens interessierten Gewerkschaften und Vereinigungen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Anders als im Rahmen von § 7 Abs. 4 AEntG ist es für die Verfahrensbeteiligung nicht erforderlich, dass sich die Geltungsbereiche der Rechtsnormen der jeweiligen Institutionen (teilweise) überschneiden. Durch das weit gefasste Beteiligungsrecht sollen eventuelle Überschneidungen zu benachbarten Branchen verhindert oder zumindest im Verfahren erkannt werden2. Damit wird dem Fehlen einer mit § 6 AEntG vergleichbaren Regelung Rechnung getragen. Zudem sieht der § 7a Abs. 3 Satz 2 AEntG auch eine inhaltliche Konkretisierung der 181 Stellungnahme vor. Insbesondere soll sie die Frage umfassen, ob die Erstreckung des 1 BT-Drucks. 18/1558, S. 52. 2 BT-Drucks. 18/1558, S. 52.
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Teil 7 Rz. 182
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
TVs geeignet ist, die in § 1 AEntG genannten Ziele zu erreichen und einen Verdrängungswettbewerb über die Lohnkosten zu vermeiden. (3) Beteiligung des Tarifausschusses 182 Wegen der nicht vom Gesetzgeber legitimierten Aufnahme der Branche in das AEntG in Fällen des § 4 Abs. 2 AEntG hat der Gesetzgeber als „Ausgleich“ eine zwingende Beteiligung des Tarifausschusses vorgesehen(§ 7a Abs. 4 AEntG). Diese Befassung muss bei jedem Antrag in einer nicht in § 4 Abs. 1 AEntG aufgezählten Branche erfolgen, also nicht nur wie bei § 7 Abs. 5 AEntG bei einer erstmaligen Befassung. Für die Mehrheitsverhältnisse im Tarifausschuss gelten in § 7a Abs. 4 AEntG keine Besonderheiten gegenüber § 7 Abs. 5 AEntG. (4) Öffentliches Interesse und Entgegenwirkung eines Verdrängungswettbewerbes 183 Neben dem bereits in § 7 AEntG geforderten öffentlichen Interesse, wird bei § 7a AEntG gefordert, dass der Erlass der Rechtsverordnung einem Verdrängungswettbewerb über die Lohnkosten entgegenwirkt. Dabei handelt es sich um einen vom BVerfG herausgearbeiteten Aspekt, der die Erstreckung der Tarifnormen in besonderem Maße rechtfertigen soll1. Das dies allerdings eine echte Hürde für den Erlass einer Rechtsverordnung sein wird, ist bei der aktuellen Entscheidungspraxis des BMAS nicht zu erwarten. Die zuständige Erlassbehörde muss nur darlegen, dass ein ausländisches Unternehmen mit billiger entlohnten ausländischen Arbeitnehmern in Deutschland Aufträge annimmt. Damit soll dann zugleich ein Verdrängungswettbewerb zu Lasten deutscher Unternehmer feststehen2. Allerdings muss das zuständige Ministerium diese Voraussetzung prüfen und gerichtsfest einen solchen Verdrängungswettbewerb (oder jedenfalls die Gefahr der Entstehung) darstellen können.
IV. Tarifgeltung aufgrund des AEntG 184 Die §§ 8 und 9 AEntG enthalten Vorschriften zu den Rechtsfolgen der Tarifnormerstreckung. 1. Grundprinzipien der Erstreckungswirkung a) Geltung unabhängig vom Vertragsstatut 185 Nach § 8 Abs. 1 AEntG gelten die erstreckten TV-Bedingungen unabhängig vom anwendbaren Vertragsstatut für Arbeitgeber, wenn deren Arbeitnehmer im Geltungsbereich des jeweiligen TVs eingesetzt werden. Die TVe des AEntG gelten daher unabhängig davon, ob auf das Arbeitsverhältnis deutsches Recht anwendbar ist. Dies ist insbesondere in Entsendefällen von Relevanz, in denen oftmals das nationale Recht des Entsendestaates gilt (vgl. Art. 8 Rom-I-Verordnung). § 8 AEntG führt dann in Hinblick auf die Arbeitsbedingungen des AEntG-TVs über Art. 9 Abs. 1 Rom-I-Verord1 BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, NZA 2007, 42 (45); BVerfG v. 20.3.2007 – 1 BvR 1047/05, NZA 2007, 609 (611). 2 Henssler, RdA 2015, 43 (54).
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Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes
Rz. 190 Teil 7
nung (Eingriffsnormen) zu einer teilweisen Anwendbarkeit des deutschen Rechts in Form des TVs. Die Arbeitgeber sind insoweit verpflichtet, den erfassten Arbeitnehmern mindestens die tariflich geregelten Arbeitsbedingungen zu gewähren bzw. die entsprechenden Beiträge an die gemeinsame Einrichtung nach § 4 Abs. 2 TVG (Urlaubskassen) zu zahlen. Es gilt das sog. Arbeitsortprinzip, d.h. es ist immer die jeweils am tatsächlichen Be- 186 schäftigungsort geltende TV-Arbeitsbedingung zu gewähren (vgl. § 8 Abs. 1 Satz 1 AEntG). b) Verzicht, Verwirkung, Ausschlussfristen, Verjährung Für Verzicht, Verwirkung und Ausschlussfristen enthält § 9 AEntG einen von § 4 187 Abs. 4 TVG leicht abweichenden Schutzgehalt. Gemäß § 9 AEntG ist die Verwirkung des Anspruchs auf das Mindestentgelt ausgeschlossen und ein Verzicht nur durch gerichtlichen Vergleich möglich. Im Unterschied zu § 4 Abs. 4 TVG müssen jedoch die TV-Parteien im Anwendungsbereich des AEntG einen Vergleich nicht billigen. Die tariflich vereinbarten Ausschlussfristen greifen nach § 9 Satz 3 AEntG nur, wenn sie ebenfalls in dem erstreckten TV enthalten sind und mindestens sechs Monate betragen. Hinsichtlich der Verjährung gelten die allgemeinen Regeln der §§ 194 ff. BGB.
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c) Sonderregelung für Leiharbeitnehmer Für den Einsatz von Leiharbeitnehmern im Geltungsbereich eines für allgemeinver- 189 bindlich erklärten TVs nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 (Baubranche) oder einer Rechtsverordnung nach §§ 7, 7a AEntG enthält § 8 Abs. 3 AEntG eine Regelung, wonach Verleiher, unabhängig davon ob ihr Sitz in der Bundesrepublik oder im Ausland ist, verpflichtet sind, die in der Rechtsverordnung oder dem allgemeinverbindlichen TV der Baubranche vorgesehenen, zwingenden Arbeitsbedingungen des AEntG auch den Leiharbeitnehmern zu gewähren. Dies gilt wegen des Verweises auf § 5 AEntG auch hinsichtlich der Abführung von Beiträgen an Urlaubskassen. In der Neufassung wird in § 8 Abs. 3 Hs. 2 AEntG zudem klargestellt, dass es bei der Beurteilung nur auf den Leiharbeitnehmer selber und nicht auf die Zugehörigkeit des Entleiherbetriebes zum Geltungsbereich der Rechtsverordnung oder des TVs ankommt. Damit ist alleine maßgebend, dass der Leiharbeitnehmer überwiegend mit entsprechenden fachlichen Tätigkeiten befasst ist. Nach der Gesetzesbegründung soll dadurch die Rechtsprechung des BAG1, das ausdrücklich auf die Branchenzugehörigkeit des Entleiherbetriebes abgestellt hatte, revidiert werden2. Bei § 8 Abs. 3 AEntG handelt es sich dogmatisch nicht um einen Fall der Tarifnormerstreckung, denn eine Tarifnormerstreckung kann den Geltungsbereich eines TVs nie erweitern. Dies wäre bei einer Ausdehnung auf Leiharbeitnehmer aber der Fall. Die Regelung des § 8 Abs. 3 AEntG verhindert, dass Arbeitgeber in den Branchen des 190 AEntG auf Leiharbeit ausweichen, um die Mindestarbeitsbedingungen nicht gewähren zu müssen. Vor diesem Hintergrund ist hingegen die Einführung des § 8 Abs. 3 1 BAG v. 21.10.2009 – 5 AZR 951/08, BAGE 132, 228. 2 BT-Drucks. 18/1558, S. 52.
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Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
Halbs. 2 AEntG nicht verständlich. Fällt der Entleiherbetrieb gar nicht in den Geltungsbereich des AEntG, so ist auch keine Umgehung durch den Einsatz von Leiharbeitnehmern zu befürchten. Schließlich ergeben sich auch praktische Probleme. Bei der Ausübung mehrere Tätigkeiten durch den Leiharbeitnehmer, stellt sich die Frage, auf welche Tätigkeit abzustellen sein wird. Entsprechend der Regelung des § 6 Abs. 2–10 AEntG muss auch hier das Überwiegensprinzip anwendet werden. 191 Ein Unterschreiten des AEntG-Niveaus ist auch durch Geltung oder Inbezugnahme eines anderen TVs (§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 4, § 9 Nr. 2 AÜG) nicht möglich. Im Verhältnis zum Mindestlohn für die Zeitarbeitsbranche nach § 3a AÜG, der durch Rechtsverordnung erlassen wird1, dürfte man bei reiner Gesetzesanwendung zur Geltung des Günstigkeitsprinzips gelangen, womit in der Praxis der wohl meist höhere tarifliche Anspruch nach dem AEntG zu gewähren ist. Ob dies jedoch europarechtlich zulässig ist, erscheint fraglich. Denn die Entsenderichtlinie 96/71/EG lässt nach richtiger Auffassung nicht mehrere parallel geltende Mindestlöhne zu. Aus ihr folgt, dass eine doppelte Regelung des international zwingenden Charakters von Arbeitsbedingungen nicht zulässig ist2. Mindestbedingungen kann es schon von der Begrifflichkeit her nur einmal geben. Daher bestehen Zweifel, ob eine allgemeine Lohnuntergrenze in der Leiharbeit (§ 3a AÜG) mit (ggf. höheren) branchenspezifischen Mindestlöhnen des AEntG kombiniert werden darf. Es spricht viel dafür, dass Arbeitgeber aus dem EU-Ausland aufgrund der unzulässigen Doppelregelung nicht verpflichtet sind, in Entsendungsfällen den höheren Branchenmindestlohn zu zahlen. § 8 Abs. 3 AEntG läuft auf Grundlage dieser Auffassung zumindest für Arbeitgeber mit Sitz im EU-Ausland leer. 2. Nach dem AEntG erstreckte Tarifverträge bei Tarifkonkurrenz 192 § 8 Abs. 2 und § 7 Abs. 1 AEntG stellen zunächst einmal klar, dass sich die Wirkungen der Tarifnormerstreckung auf alle Arbeitsverhältnisse beziehen, die nicht an ihn, also den erstreckten TV, gebunden sind. Die Bindung an einen konkurrierenden TV ändert damit nichts an den zwingenden Wirkungen des AEntG. a) Verdrängungswirkung des AEntG 193 aa) § 8 Abs. 2 AEntG enthält eine spezielle Regelung zur Auflösung von Tarifkonkurrenzen unter Beteiligung eines nach dem AEntG erstreckten TVs. Diese ist danach zu Gunsten des AEntG-TVs aufzulösen3, soweit nicht der konkurrierende TV aus Arbeitnehmersicht günstigere Regelungen enthält4. Damit gilt im Anwendungsbereich des AEntG eine Verdrängungswirkung der AEntG-TVe gegenüber allen konkurrierenden ungünstigeren TVen. Im Anwendungsbereich des AEntG gilt daher auf Ebene konkurrierender Tarifregelungen das Günstigkeitsprinzip5. Das allgemein bei Tarifkonkurrenzen geltende Spezialitätsprinzip gilt hingegen nicht. Damit ist es Arbeitgebern nicht möglich, durch speziellere TVe die Wirkungen des AEntG auszuschließen. 1 Zweite Verordnung über eine Lohnuntergrenze in der Arbeitnehmerüberlassung, in Kraft seit 1.4.2015, BAnz AT v. 26.3.2014. 2 In diese Richtung EuGH v. 3.4.2008 – Rs. C-346/06, NZA 2008, 537 (539 ff.) – Rüffert. 3 S. dazu auch Maier, NZA 2009, 351 (352). 4 Ebenso Bayreuther, NJW 2009, 2006. 5 Hanau, RdA 2008, 98 (101); Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 389.
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Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes
Rz. 199 Teil 7
Zur Ermittlung der günstigeren Regelung ist ein Sachgruppenvergleich heranzuzie- 194 hen, der ermittelt, welche Regelung für die jeweilige Sachgruppe aus Arbeitnehmersicht günstiger ist1. Für die Sachgruppenbildung dürfte es sich anbieten, diese entsprechend der Aufzählung der Regelungsmaterien in § 5 AEntG zu bilden (modifizierter Sachgruppenvergleich), weil das Gesetz hier – anders als im TVG – die Sachgruppen vorgegeben hat. Daraus folgt auch, dass innerhalb der Sachgruppe ein gewisser Gesamtvergleich vorzunehmen ist. bb) Zumindest theoretisch ist eine Konkurrenz mehrerer erstreckter TVe mit sich überschneidenden Geltungsbereichen denkbar. Dabei kann es sowohl zur Konkurrenz eines nach § 5 Abs. 4 TVG und eines nach dem AEntG erstreckten Tarifs als auch zur Konkurrenz zweier AEntG-TVe kommen.
195
Bei der Konkurrenz eines nach AEntG und eines nach § 5 TVG erstreckten TVs setzt 196 sich gemäß § 8 Abs. 2 a.E. AEntG der TV des AEntG durch, soweit er die aus Arbeitnehmersicht günstigeren Regelungen enthält. Konkurrieren zwei nach dem AEntG erstreckte TVe, kann es nur darum gehen, eine für eine Branche bzw. Region einheitliche Lösung zu finden. Das BMAS ist daher verpflichtet, die Konkurrenzfrage durch Einschränkungsklauseln zu lösen. Dabei muss das Ministerium sein normatives Ermessen derart ausüben, dass der Gedanke der Repräsentativität zur Geltung kommt2. Keine Anwendung im Bereich des AEntG findet der im Rahmen des Tarifeinheitsgesetzes eingeführte § 4a TVG. Wie § 4a Abs. 2 TVG ausdrücklich normiert, geht es hier nur um die mitgliedschaftliche Bindung des Arbeitgebers an TVe mehrere Gewerkschaften3.
197
b) Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Verdrängungswirkung aa) Nicht abschließend geklärt ist, ob der mit der Verdrängungswirkung des § 8 Abs. 2 198 AEntG einhergehende Grundrechtseingriff in die Berufsfreiheit des betroffenen Arbeitsgebers (Art. 12 Abs. 1 GG), dessen (individuelle) negative Koalitionsfreiheit sowie die (kollektive) Koalitionsfreiheit der Koalition des verdrängten TVs (Art. 9 Abs. 3 GG) verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist4. Dies wird mit erheblichen Gründen in Frage gestellt. Insbesondere wird darauf hingewiesen, dass TVe im Bereich der Lohnfindung den Kernbereich der Koalitionsausübungsfreiheit bilden und besonders intensiv geschützt sind5. An die Rechtfertigung ihrer Verdrängung sind deshalb besonders strenge Anforderungen zu stellen. Diese könne nur gelingen, um „Hungerlöhne“ zu verhindern6. Da das AEntG darauf nicht zugeschnitten ist, wäre die Verdrängungsregelung in § 8 Abs. 2 AEntG bei Zugrundelegung dieser Auffassung verfassungswidrig. bb) Berücksichtigt man jedoch das weite Ermessen des Gesetzgebers, welches das 199 BVerfG diesem im Bereich der Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu1 2 3 4 5 6
In diese Richtung auch BAG v. 18.10.2006 – 10 AZR 576/05, NZA 2007, 1111 (1116). Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 397 f. Vgl. BT-Drucks. 18/4062, S. 12. Zur Einschlägigkeit der Grundrechte s. Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 38 ff. Sodan/Zimmermann, ZfA 2008, 526 ff.; Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1219). Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1219).
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Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
billigt1, so erscheint es möglich, den in der Tat erheblichen Grundrechtseingriff durch § 8 Abs. 2 AEntG zu rechtfertigen. Denn selbst im Bereich der Lohnfindung besteht kein absoluter Schutz der Tarifautonomie. Für die im AEntG angeordnete Verdrängungswirkung sprechen aber zwei wesentliche Gründe: Zum einen dient die Gewährleistung eines Mindestarbeitsentgelts der Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips nach Art. 20 Abs. 1 GG. Zum anderen verlangt nach richtiger Auffassung das Europarecht eine entsprechende Verdrängungswirkung. Nach der EuGH-Rechtsprechung in der Rechtssache Portugaia Construções ist es eine mit der Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) nicht zu vereinbarende Ungleichbehandlung, wenn sich ein in einem anderen Mitgliedstaat ansässiger Arbeitgeber, anders als ein Arbeitgeber aus dem Aufnahmestaat, nicht der Pflicht zur Zahlung des Mindestlohns entziehen kann, der in dem TV der jeweiligen Branche vorgesehen ist2. Es sei nicht zu rechtfertigen, wenn inländische Arbeitgeber durch den Abschluss eines anderen TVs (insbesondere eines FirmenTVs) den tariflichen Mindestlohn unterschreiten könnten, während dies einem ausländischen Arbeitgeber nicht möglich sei3. Hinzu kommt ein weiterer europarechtlicher Ansatzpunkt: Der EuGH hat in der Laval-Entscheidung hervorgehoben, dass er allein schon die fehlende Berücksichtigung von TVen aus dem Heimatstaat der entsandten Arbeitnehmer im Grundsatz für eine Diskriminierung hält4. Das Ignorieren eines TVs aus dem Heimatstaat sei unzulässig, wenn dadurch der ausländische Arbeitgeber genauso behandelt werde wie ein nationaler Arbeitgeber, der keinen TV abgeschlossen habe. Zwanziger hat daraus abgeleitet, dass der EuGH im Anwendungsbereich der Grundfreiheiten eine strikte Gleichbehandlung von ausländischen TVen verlange5. Dies kann zwar bezweifelt werden, es lässt sich der Entscheidung aber entnehmen, dass ein Verständnis, wonach deutsche TVe durch den AEntG-TV nicht verdrängt würden, ausländische TVe hingegen schon, vom EuGH als nicht zu rechtfertigende Diskriminierung eingeordnet würde6. Dabei ist es unbeachtlich, ob ein (Firmen-)TV nach Maßgabe des TVG auch von ausländischen Arbeitgebern mit einer deutschen Gewerkschaft geschlossen werden kann. Denn keinesfalls kann das AEntG den Vorrang rein ausländischer TVe (also ein TV mit zwei ausländischen Tarifparteien) akzeptieren. Denn dadurch würde der Zweck des AEntG völlig konterkariert, da jeder TV aus einem Mitgliedstaat der EU dann in der Lage wäre, eine Unterschreitung des AEntG-Niveaus zu legitimieren. Das häufig vorgebrachte Argument7 gegen die EuGHRechtsprechung, dass auch ausländische Arbeitgeber TVe mit einer deutschen Gewerkschaft vereinbaren könnten, geht damit am Kern des Problems vorbei und ändert nichts am Vorliegen einer Diskriminierung. Eine Rechtfertigung von Diskriminierungen kann nur über den Vorbehalt der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit
1 S. BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 ff. 2 EuGH v. 24.1.2002 – Rs. C-164/99, AP Nr. 4 zu Art. 49 EG – Portugaia Construções. 3 EuGH v. 24.1.2002 – Rs. C-164/99, AP Nr. 4 zu Art. 49 EG – Portugaia Construções; zustimmend Thüsing/Bayreuther, § 8 AEntG Rz. 20; Singer/Büsing, SAE 2003, 35 (39); a.A. Thüsing, ZfA 2008, 591 (621). 4 EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05, NZA 2008, 159, 167 f. – Laval; a.A. aber Thüsing, ZfA 2008, 590 (621 ff.). 5 Zwanziger, DB 2008, 294 (298); ähnlich Temming, ZESAR 2008, 231 (236); a.A. Thüsing, ZfA 2008, 590 (624 ff.). 6 S. auch Sittard, NZA 2009, 346 (349); ebenso Maier, NZA 2009, 351 (353); ähnlich Bayreuther, NJW 2009, 2006 (2010); a.A. Thüsing, ZfA 2008, 590 (619 ff.). 7 Jacobs/Krause/Oetker/Schubert/Jacobs, § 7 Rz. 225; Klebeck, NZA 2008, 446 (450).
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Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes
Rz. 201 Teil 7
nach Art. 62 i.V.m. Art. 52 AEUV gelingen1. Diese – vom EuGH äußerst restriktiv ausgelegte Vorschrift2 – bietet keine Möglichkeit, die hier vorliegende Diskriminierung zu rechtfertigen. Ein drittes Argument für den europarechtlichen Zwang einer Verdrängungswirkung ergibt sich aus der Entsenderichtlinie 96/71/EG. Zum einen soll der Mitgliedstaat nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie Mindestarbeitsbedingungen sicherstellen, was sich u.a. aus den Begriffen „Höchstarbeitszeiten“, „Mindestruhezeiten“ und „Mindestlohnsätze“ ergibt. Eine Möglichkeit zur Unterschreitung ist mit dieser Intention des europäischen Gesetzgebers nicht vereinbar. Zum anderen stellt die Richtlinie in Art. 3 Abs. 8 an einen allgemeinverbindlichen TV besondere Anforderungen. Danach muss der „für allgemein verbindlich erklärte“ TV „von allen in den jeweiligen geographischen Bereich fallenden und die betreffende Tätigkeit oder das Gewerbe ausübenden Unternehmen einzuhalten“ sein. Diese Voraussetzung erfüllt nur ein „nicht unterschreitbarer“ TV3. Damit hatte der deutsche Gesetzgeber letztlich gar keine andere Möglichkeit, als eine Verdrängungswirkung des AEntG gegenüber konkurrierenden (ungünstigeren) TVen anzuordnen. Insbesondere vor dem Hintergrund dieses europarechtlichen Zwangs, der gemäß Art. 23 Abs. 1 GG verfassungsrechtliche Relevanz hat, erscheint der Eingriff in die Grundrechte der Arbeitgeber jedenfalls bei restriktiver Handhabung des AEntG noch verfassungsgemäß. 3. Beendigung der Wirkungen des AEntG a) Beendigung der Wirkungen des AEntG bei Erstreckung kraft Allgemeinverbindlicherklärung Die Wirkung eines kraft AVE im Anwendungsbereich des AEntG erstreckten TVs (§ 3 200 Satz 1 Alt. 1 AEntG) ist akzessorisch zum Fortbestehen der AVE. Nur die Rechtsnormen eines für allgemeinverbindlich erklärten TVs können gemäß § 3 Satz 1 Alt. 1 AEntG zwingende Anwendung im Sinne des AEntG finden. Wenn demnach der allgemeinverbindliche TV abläuft, gekündigt wird oder auf sonstige Weise endet, kommt es nach § 5 Abs. 5 Satz 3 TVG zum Ende der Allgemeinverbindlichkeit, womit auch die Wirkung nach § 3 Satz 1 Alt. 1 AEntG endet. Gleiches gilt für die Aufhebung der AVE nach § 5 Abs. 5 Satz 1 TVG. Die zwingende Wirkung nach § 3 Satz 1 Alt. 1 AEntG wird zudem durch eine Befristung der Allgemeinverbindlichkeit (nicht des TVs) durch das zuständige Ministerium begrenzt. b) Beendigung der Wirkungen des AEntG bei Erstreckung kraft Rechtsverordnung Im Gegensatz zu der an die Allgemeinverbindlichkeit des TVs und damit an § 5 Abs. 5 201 TVG anknüpfenden Erstreckungsvariante des § 3 Satz 1 Alt. 1 AEntG für die Baubranche enthalten § 3 Satz 1 Alt. 2 und §§ 7, 7a AEntG für die Tarifnormerstreckung qua Rechtsverordnung keine Regelung zum automatischen Ende der Tarifnormerstreckung bei Ablauf oder sonstiger Beendigung des (erstreckten) TVs. Dementsprechend ist die Akzessorietät zwischen Tarifnormerstreckung durch Rechtsverordnung und dem TV durchbrochen oder zumindest gelockert. In Anlehnung an die Gesetzesbegründung4 ist davon auszugehen, dass die Rechtsverordnung bis zum Zeitpunkt ihrer förmlichen 1 2 3 4
EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05, NZA 2008, 159 (167 f.) – Laval. EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-355/98, NZA-RR 2000, 431 (433). Ausführlich Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 377 ff. BT-Drucks. 14/45, S. 26.
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Teil 7 Rz. 202
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
Aufhebung fortgilt und nicht vom Fortbestand des ihr zugrunde liegenden TVs abhängig ist1. Dieses Ergebnis steht zwar in Widerspruch zum Wesen einer Tarifnormerstreckung (die denklogisch immer akzessorisch sein muss)2, ist aber wegen des eindeutigen gesetzgeberischen Willens hinzunehmen. 202 Nach überzeugender Auffassung zwingen inhaltliche Änderungen oder die Beendigung des TVs das BMAS aber im Wege einer Ermessensreduzierung auf Null zu einer zeitnahen Anpassung bzw. Aufhebung der Rechtsverordnung3. Denn die Weitergeltung der Erstreckungswirkungen lässt sich ohne Geltung des erstreckten TVs kaum rechtfertigen. Mit Ablauf des TVs kann sich der Gesetzgeber nicht mehr auf die Richtigkeitsgewähr des TVs berufen, die aber Grundlage jeder Tarifnormerstreckung ist. Zusätzlich sollte – was in der Praxis durch das Bundesarbeitsministerium auch geschieht – die Rechtsverordnung befristet werden, wobei es sich anbietet, die Rechtsverordnung parallel zum Ablauf des TVs enden zu lassen. c) Nachwirkung von nach dem AEntG erstreckten Tarifverträgen aa) Nachwirkung bei Erstreckung kraft Allgemeinverbindlicherklärung 203 Hinsichtlich derjenigen TVe, die gemäß § 3 Satz 1 Alt. 1 AEntG, also aufgrund einer AVE erstreckt worden sind, können die Ausführungen zur Nachwirkung allgemeinverbindlicher TVe übertragen werden. Nach Auffassung des BAG und der h.M. wirken die erstreckten TVe auch für nur aufgrund der Tarifnormerstreckung Verpflichtete entsprechend § 4 Abs. 5 TVG nach4. Dies gilt konsequenterweise dann auch im Anwendungsbereich des AEntG. Gegen die Nachwirkung allgemeinverbindlicher TVe werden jedoch überzeugende Einwände erhoben5, die bereits im Zuge der Darstellung zur AVE ausführlich erörtert wurden und auf die hier verwiesen wird (vgl. Rz. 109 ff.). bb) Nachwirkung bei Erstreckung kraft Rechtsverordnung 204 Die Nachwirkungsproblematik für nur aufgrund des AEntG verpflichtete Arbeitsvertragsparteien ist bei der Tarifnormerstreckung durch Rechtsverordnung (§ 3 Satz 1 Alt. 2, §§ 7, 7a AEntG) wegen der fehlenden Akzessorietät des TVs zur Tarifnormerstreckung nur von Bedeutung, wenn entweder die Rechtsverordnung aufgehoben wird oder ihre Befristung abgelaufen ist. Die Beendigung des TVs selbst beendet die Wirkungen der Verordnung nicht, sodass sich (noch) kein Nachwirkungsproblem stellt, sondern es bei der zwingenden Wirkung des erstreckten TVs bleibt. 205 Zur Nachwirkung in der Rechtsverordnungsvariante hat sich das BAG 2011 erstmals geäußert. Dabei hat der 4. Senat des BAG eine Nachwirkung im Fall der Rechtsver-
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ErfK/Schlachter, § 7 AEntG Rz. 7; Ritgen, NZA 2005, 673 (675). Ausführlich Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 401. BT-Drucks. 14/45, S. 26; Ritgen, NZA 2005, 673; Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 400 ff. BAG v. 19.1.1962 – 1 AZR 147/61, AP Nr. 11 zu § 5 TVG; Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 193; Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 125. 5 Ausführlich jüngst Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 289; vgl. auch Besgen, SAE 2002, 224 ff.; Hohenstatt, Anm. zu AP Nr. 38 zu § 4 TVG Nachwirkung; Krebs, SAE 1993, 132 (133 ff.); Oetker, Gem. Anm. zu EzA Nr. 14, 15 zu § 4 TVG Nachwirkung, S. 24 ff.
668 Sittard
Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes
Rz. 206 Teil 7
ordnungsvariante abgelehnt1. Hintergrund dieser Auffassung ist das andere dogmatische Verständnis des 4. Senats von der dogmatischen Grundlage des § 3 Satz 1 Alt. 2, § 7 AEntG. Nach Auffassung des BAG liegt – wie dargestellt (vgl. Rz. 160) – gar keine echte Tarifnormerstreckung vor, sondern die Rechtsverordnung ordnet die Einhaltung der Mindestarbeitsbedingungen selbst an. Nur die Rechtsverordnung selbst wirke damit zwischen den nicht tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien. Auf eine Rechtsverordnung sei § 4 Abs. 5 TVG aber weder unmittelbar noch analog anwendbar. Eine unmittelbare Anwendung der Nachwirkung käme laut BAG nur in Betracht, wenn die Tarifnormerstreckung über eine AVE nach § 5 TVG erreicht worden sei. Es läge auch keine Regelungslücke vor, die durch eine analoge Anwendung der Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG auf die Rechtsverordnung bzw. den erstreckten TV auszufüllen wäre. Das Instrument des AEntG sei mit der AVE nicht zu vergleichen. Anders als die AVE als Rechtsakt sui generis zwischen staatlichem Recht und Tarifrecht, handele es sich bei der Verordnung nach § 7 AEntG um eine „normale“ Rechtsverordnung, d.h. um rein staatliches Recht. § 4 Abs. 5 TVG könne nicht dazu herangezogen werden, außer Kraft getretenes staatliches Recht wieder „in Geltung“ zu setzen2. Die Rechtsnormen eines TVs, die qua Rechtsverordnung über das AEntG erstreckt werden, seien deshalb unabhängig vom Fortbestand des betreffenden TVs und damit nur von der Geltung der Verordnung abhängig. Das Ende der Geltungsdauer ergebe sich allein aus der Verordnung selbst, d.h. einer Befristung oder aufgrund einer Aufhebung der Verordnung durch das zuständige Arbeitsministerium. Teilt man das dogmatische Verständnis des BAG zu § 7 AEntG, so ist diese Auffas- 206 sung folgerichtig. Aber selbst wenn man aufgrund des vom Verfasser bevorzugten Verständnisses der AEntG-Rechtsverordnung als Akt der Tarifnormerstreckung ausgeht (vgl. Rz. 161), sprechen die besseren Argumente gegen eine Nachwirkung von kraft Rechtsverordnung erstreckten TVen. Insoweit kann auf die Argumente gegen die Nachwirkung von TVen nach § 5 TVG zurückgegriffen werden. Wie auch bei der AVE fehlt es im Hinblick auf Arbeitsverhältnisse, die nur kraft der erstreckenden Rechtsverordnung tarifgebunden sind, an einer rechtlichen Grundlage für die Nachwirkung. Erforderlich wäre vielmehr ein zusätzlicher staatlicher, die Nachwirkung anordnender Akt. Selbst wenn dieser aber durch das zuständige Ministerium erfolgte, sei es in der ursprünglichen Rechtsverordnung oder nachträglich durch eine eigene „Nachwirkungs-Verordnung“, käme es im Anwendungsbereich des AEntG für Arbeitsverhältnisse mit ausländischem Vertragsstatut eines EU-Mitgliedstaates zu einem Widerspruch zu der Entsenderichtlinie 96/71/EG3. Da die Richtlinie für die international-zwingende Anwendung von nationalen Rechtsvorschriften und allgemeinverbindlichen TVen verlangt, dass diese nicht unterbietbare Mindestarbeitsbedingungen enthalten, können nachwirkende Mindestlohnsätze nicht von der Entsenderichtlinie gerechtfertigt werden4. Dies wäre wegen des mit dem AEntG verbundenen Eingriffs in die Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 AEUV aber erforderlich5. Der Zwang zu nicht unterbietbaren Mindestarbeitsbedingungen ergibt sich für allgemeinverbindliche TVe aus § 3 Abs. 8 der Richtlinie, wonach diese von „allen in 1 2 3 4 5
BAG v. 20.4.2011 – 4 AZR 467/09, NZA 2011, 1105 ff. BAG v. 20.4.2011 – 4 AZR 467/09, NZA 2011, 1105 ff.; vgl. auch Sittard, NZA 2012, 299 ff. ABl. L 18 v. 21.1.1997, S. 1. Vgl. auch Sittard, NZA 2012, 299 ff. Sittard, NZA 2012, 299 (303).
Sittard
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Teil 7 Rz. 207
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
den jeweiligen geographischen Bereich fallenden und die betreffende Tätigkeit […] ausübenden Unternehmen einzuhalten sind“. Nachwirkende TVe gelten aber nur unmittelbar und nicht mehr zwingend. „Dispositive Mindestlöhne“ lässt die Richtlinie nicht zu. Ein über das von der Entsenderichtlinie für zulässig erklärtes Schutzniveau ist mit der EuGH-Rechtsprechung nicht zu vereinbaren, da danach Art. 3 der Richtlinie den Grad an Arbeitnehmerschutz festlegt, den der Aufnahmestaat berechtigt ist, Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten abzuverlangen1.
V. Vermeidung der Tarifgeltung nach dem AEntG 207 Die Anwendung von nach dem AEntG erstreckten TVen kann durch den Arbeitgeber erfolgreich nur dadurch vermieden werden, dass er durch organisatorische Maßnahmen verhindert, dass seine Betriebe und Betriebsabteilungen in den branchenmäßigen Geltungsbereich des AEntG (§ 6 AEntG) bzw. der erstreckten TVe fallen (vgl. Rz. 140 ff.). Für Arbeitgeber mit Sitz im Ausland besteht eine in der Praxis häufig anzutreffende Vermeidungsstrategie darin, auf einen Betrieb und eine Betriebsabteilung in der Bundesrepublik ganz zu verzichten. Einzelne TVe versuchen auf diese Strategie jedoch wieder zu reagieren, indem für Arbeitgeber mit Sitz im Ausland eine „Gesamtheit von Arbeitnehmern, die außerhalb der stationären Betriebsstätte baugewerbliche Tätigkeiten ausführt“, als Betriebabteilung gelten soll (so z.B. § 1 Abschn. VI des BundesrahmenTV Bau). Ob dies europarechtlich zulässig ist, wird jedoch zum Teil bestritten2. 208 Der Abschluss spezieller TVe, insbesondere von FirmenTVen, kann wegen des in § 8 Abs. 2 AEntG ausdrücklich angeordneten Vorrangs der AEntG-TVe gegenüber aus Arbeitnehmersicht ungünstigeren TVen die Anwendung der erstreckten TVe nicht verhindern. 209 Wegen der mittelbaren Einbeziehung von Leiharbeitnehmern über § 8 Abs. 3 AEntG kann auch über das Instrument der Zeitarbeit die Einhaltung der branchenbezogenen Mindestarbeitsbedingungen des AEntG nicht vermieden werden.
VI. Rechtsschutz in Zusammenhang mit dem AEntG 210 Hinsichtlich des Rechtsschutzes in Zusammenhang mit dem AEntG kann auf die Ausführungen zum Rechtsschutz bei der AVE verwiesen werden (vgl. Rz. 120 ff.). Nach § 2a Abs. 1 Nr. 5 ArbGG sind für die Entscheidung über die Wirksamkeit einer Rechtsverordnung nach §§ 7, 7a AEntG die Arbeitsgerichte und dort erstinstanzlich die Landesarbeitsgerichte zuständig. Weiterhin findet auch bei der Überprüfung der Rechtsverordnung § 98 ArbGG Anwendung. Auch für die inzidente Normenkontrolle durch die Arbeitsgerichte kann auf die Ausführungen zur AVE verwiesen werden (vgl. Rz. 126 f.).
1 EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05, NZA 2008, 159 (167 f.) – Laval; EuGH v. 3.4.2008 – Rs. C-346/06, NZA 2008, 537 (540) – Rüffert; EuGH v. 19.6.2008 – Rs. C-319/06, NZA 2008, 865 (867 f.). 2 Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 405 ff.
670 Sittard
Tarifgeltung aufgrund des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes
Rz. 213 Teil 7
VII. Verfassungsmäßigkeit des AEntG Im Schrifttum werden teilweise Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des AEntG ge- 211 äußert1. Soweit sich das BVerfG bislang mit dem AEntG auseinander gesetzt hat, hat es keinen Verfassungsverstoß angenommen2. Allerdings geht die Entscheidung vom 18.7.2000 zur AEntG-Rechtsverordnung noch davon aus, dass durch § 1 Abs. 3a AEntG a.F. (heute § 7 AEntG) die gleichen Rechtsfolgen erzeugt werden, wie über § 5 TVG. Dies trifft jedenfalls seit der in § 8 Abs. 2 AEntG normierten Verdrängungswirkung des AEntG nicht mehr zu. Ebenfalls kritisch betrachtete werden die jüngst durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz vorgenommenen Änderungen, insbesondere mit Blick auf die Erweiterung der Rechtsverordnungsermächtigung auf Branchen, die nicht in das Gesetz aufgenommen wurden (§ 4 Abs. 2 AEntG, vgl. Rz. 216). Insoweit steht eine Entscheidung des BVerfG mithin noch aus. Eine zentrale Frage ist dabei die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Verdrängung 212 konkurrierender (aus Arbeitnehmersicht ungünstigerer) TVe durch die qua Rechtsverordnung erstreckten TVe. Hierin liegt unzweifelhaft ein Eingriff in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Arbeitsvertragsfreiheit, weil der Arbeitgeber – vergleichbar mit dem MiLoG – staatlicherseits zur Gewährung eines Mindestlohns verpflichtet wird. Ferner wird die kollektive Koalitionsfreiheit der Verbände (Art. 9 Abs. 3 GG) tangiert. Denn die Verdrängungswirkung schränkt die Betätigungsfreiheit der Koalitionen ein, deren TVe verdrängt werden3. Umstritten ist allein, ob auch ein Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit vorliegt4. Wie bereits bei der Darstellung der Rechtsfolgen des AEntG (vgl. Rz. 198 f.) erörtert, 213 können – wie in der Literatur geschehen5 – durchaus Zweifel an der Rechtfertigung dieser Grundrechtseingriffe angemeldet werden. Vor dem Hintergrund des weiten Einschätzungsspielraums, der dem Gesetzgeber bei der Regelung arbeitsrechtlicher Fragen vom BVerfG zugestanden wird6, erscheint es jedoch unwahrscheinlich, dass das BVerfG diese Regelungen des AEntG beanstanden wird. Denn unter Berücksichtigung dieses gesetzgeberischen Spielraums spricht viel dafür, dass man die Grundrechtseingriffe in Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 9 Abs. 3 GG als gerechtfertigt ansehen wird. Mit der Tarifnormerstreckung aufgrund des AEntG sollen Mindestarbeitsbedingungen zum Schutze der Arbeitnehmer geschaffen werden. Dieses Ziel hat jedenfalls in Form des Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1 GG) seinerseits verfassungsrechtlichen Niederschlag gefunden und kann daher im Wege der praktischen Konkordanz den Grundrechtseingriffen entgegengehalten werden7. Dies gilt zumindest dann uneingeschränkt, wenn man die Voraussetzungen für den Erlass einer Tarifnormerstreckung 1 Vgl. Henssler, RdA 2015, 43 (54); Moll, RdA 2010, 321 (325); Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1218 ff.). 2 Zum Mindestlohn im Baugewerbe durch Rechtsverordnung nach § 1 Abs. 3 AEntG a.F. BVerfG v. 18.7.2000 – 1 BvR 948/00, NZA 2000, 948 ff.; zur Bürgenhaftung BVerfG v. 20.3.2007 – 1 BvR 1047/05, NZA 2007, 609 ff. 3 Vgl. dazu auch BVerfG v. 24.4.1996 – 1 BvR 712/86, AP Nr. 2 zu § 57a HRG; Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1218). 4 Umfassend Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 39 ff. 5 Vgl. Moll, RdA 2010, 321 (325); Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216 (1218 ff.). 6 BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, AP Nr. 1 zu § 1 MitbestG; BVerfG v. 3.4.2001 – 1 BvL 32/97, AP Nr. 2 zu § 10 BUrlG Kur; BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, AP Nr. 129 zu Art. 9 GG. 7 Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 415.
Sittard
671
Teil 7 Rz. 214
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
nach dem AEntG streng handhabt, d.h. ein tatsächliches und nicht unerhebliches Defizit beim Arbeitnehmerschutz im Geltungsbereich des jeweiligen TVs verlangt. 214 Weiterhin ist im Rahmen der verfassungsrechtlichen Bewertung der Tarifnormerstreckung nach dem AEntG zu berücksichtigen, dass europarechtliche Vorgaben eine erhebliche Rolle spielen. Das AEntG dient auch der Umsetzung der europarechtlichen Entsenderichtlinie 96/71/EG, was zwar nicht dazu führt, dass die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes außer Betracht bleiben können1. Es wäre aus europarechtlicher Sicht aber nicht zu vertreten, wenn aufgrund des AEntG erstreckte TVe für deutsche Arbeitgeber keine Wirkung entfalten würden, da diese sich auf deutsche, den erstreckten TVen verdrängende TVe berufen könnten, ausländische Arbeitgeber jedoch an die erstreckten TVe gebunden wären, da für sie keine konkurrierenden deutschen TVe gälten. Ein solches Verständnis wäre, wie bereits dargestellt (Rz. 199), mit der europäischen Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) nicht zu vereinbaren, da dies eine Diskriminierung ausländischer Arbeitgeber bedeuten würde2. Eine Tarifnormerstreckung per AEntG mit einem möglichen Vorrang vor anderen, verdrängten TVen ist somit bereits aus europarechtlicher Sicht zwingend geboten. 215 Unabhängig von europarechtlichen Erwägungen und einer möglichen Rechtfertigung von Eingriffen in verfassungsrechtliche Positionen der Arbeitvertrags- und TV-Parteien, erscheint es höchst zweifelhaft, ob eine Verfassungswidrigkeit des AEntG in diesem Punkt überhaupt vorstellbar ist. Selbst wenn man nämlich davon ausgehen wollte, dass ein Eingriff in die genannten verfassungsrechtlichen Positionen im Einzelfall nicht gerechtfertigt wäre, würde dies nicht zur Verfassungswidrigkeit des AEntG als solchem führen. Dieses Ergebnis beruht auf dem Regelungsmechanismus, der zur Erstreckung eines TVs nach dem AEntG führt. Die durch die Erstreckung eines TVs herbeigeführte Verdrängung eines anderen TVs basiert nämlich nicht unmittelbar auf dem AEntG selbst, sondern geht auf die konkrete Rechtsverordnung bzw. AVE zurück. Nicht das AEntG, sondern die anhand des AEntG erlassene Rechtsverordnung bzw. AVE führt zur verfassungsrechtlich kritisierten Verdrängung von TVen. Legt man die Voraussetzungen des AEntG für eine zulässige Tarifnormerstreckung – wie hier vorgeschlagen – eng aus, sodass demnach eine Erstreckung von Tarifnormen aufgrund einer zu erlassenen Rechtsverordnung nur bei einem tatsächlichen und erheblichen Arbeitnehmerschutzbedarf in Betracht kommt, so ist die Rechtsverordnung bzw. AVE, nicht aber das AEntG verfassungswidrig. Denn aufgrund des erforderlichen Zwischenaktes des zuständigen Ministers spricht viel dafür, dass die verfassungsrechtlichen Zweifel nur zu einer verfassungskonformen Auslegung des AEntG zwingen und allein die konkrete Rechtsverordnung als verfassungswidrig und damit nichtig einzustufen wäre. 216 Inwieweit auch die Ausdehnung der Rechtsverordnungsermächtigung auf im Gesetz nicht genannte Branchen durch § 4 Abs. 2 AEntG mit der Verfassung vereinbar ist, wird unterschiedlich beurteilt. Kritisch gesehen wird die „Verlagerung aller wesentlicher Teile des Entscheidungsprozesses in den Bereich der Exekutive“3. Das BVerfG hatte in seiner Entscheidung aus dem Jahre 2000 zur alten Rechtslage angemerkt, 1 BVerfG v. 18.7.2000 – 1 BvR 948/00, NZA 2000, 948 ff.; Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 413 f.; a.A. Preis/Temming, Die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse im Kontext des Gemeinschaftsrechts, 2006, S. 203. 2 Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 379 f.; a.A. Thüsing, ZfA 2008, 590 (623 ff.). 3 Bepler, Stärkung der Tarifautonomie, S. B110 f.
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Mit der Tarifnormerstreckung vergleichbare Regelungsinstrumente
Rz. 220 Teil 7
dass klar erkennbar sein muss, „welche Arten von Tarifverträgen mit welchen Inhalten, welchen Regelungsgegenständen und welchem regelungsunterworfenen Personenkreis durch Rechtsverordnung auf Außenseiter erstreckt werden können“1. Ob diese Anforderungen bei der Neufassung des Gesetzes immer noch gewahrt sind, ist zumindest problematisch2. Die Einbeziehung des Tarifausschusses durch § 7a Abs. 4 AEntG kann dies jedenfalls nicht ausgleichen.
D. Mit der Tarifnormerstreckung vergleichbare Regelungsinstrumente I. Mindestlohn in der Pflegebranche 1. Anwendungsbereich und Zweck der Regelung Die §§ 10 bis 13 AEntG enthalten Sonderregelungen für die Festlegung von Mindest- 217 arbeitsbedingungen in der Pflegebranche. Die Branche (ambulante, teilstationäre oder stationäre Pflegeleistungen sowie ambulante Krankenpflegeleistungen) wird in § 10 AEntG umschrieben. Eine wichtige Negativabgrenzung findet sich in § 10 Satz 4 AEntG, wonach u.a. Krankenhäuser nicht zur Pflegebranche gehören. Die Sonderregelung geht auf die Besonderheiten der Pflegebranche zurück, in der die 218 beiden großen christlichen Kirchen eine zentrale Rolle spielen. Da diese (in der Regel) keine TVe abschließen3, wurde das Instrument der Tarifnormerstreckung für diese Branche als untauglich erachtet. Durch die Beratungen der Kommission, in der jeweils die kirchliche und nicht-kirchliche Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite gleichberechtigt vertreten sind, sollen Tarifverhandlungen „simuliert“ werden, wobei hinsichtlich der Richtigkeitsgewähr nicht davon auszugehen ist, dass diese ebenso weitgehend ist wie die von echten TVen. 2. Mindestarbeitsbedingungen durch Rechtsverordnung Mindestlöhne sowie Regelungen aus dem Bereich Erholungsurlaub, Urlaubsentgelt 219 und zusätzliches Urlaubsgeld können gemäß § 11 AEntG in der Pflegebranche durch Rechtsverordnung des Bundesarbeitsministeriums festgelegt werden. Wie auch bei § 3a AÜG (Mindestlohn in der Zeitarbeit, vgl. Rz. 222 ff.) handelt es sich nicht um eine Tarifnormerstreckung. Die Rechtsverordnung mit Mindestarbeitsbedingungen basiert nicht auf einem TV, sondern auf einem Vorschlag einer Kommission zur Erarbeitung von Arbeitsbedingungen (vgl. § 12 AEntG). Nach § 13 AEntG steht eine solche Rechtsverordnung den erstreckten TVen nach den §§ 3 ff. AEntG gleich. Bei den durch Rechtsverordnung nach § 11 AEntG festgelegten Arbeitsbedingungen 220 handelt es sich um Rechtsvorschriften i.S.v. § 2 Nr. 1 bzw. 2 AEntG, die mithin auch auf Arbeitsverhältnisse mit ausländischem Vertragsstatut anwendbar sind. Als solche sind sie auch mit Art. 3 Abs. 1 der Entsenderichtlinie vereinbar4. Die Entsendericht1 2 3 4
BVerfG v. 18.7.2000 – 1 BvR 948/00, NZA 2000, 948 (949). Henssler, RdA 2015, 43 (54). Vgl. nur Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, 6. Aufl. 2012, S. 210 ff. Sittard, NZA 2009, 346 (349).
Sittard
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Mit der Tarifnormerstreckung vergleichbare Regelungsinstrumente
Rz. 220 Teil 7
dass klar erkennbar sein muss, „welche Arten von Tarifverträgen mit welchen Inhalten, welchen Regelungsgegenständen und welchem regelungsunterworfenen Personenkreis durch Rechtsverordnung auf Außenseiter erstreckt werden können“1. Ob diese Anforderungen bei der Neufassung des Gesetzes immer noch gewahrt sind, ist zumindest problematisch2. Die Einbeziehung des Tarifausschusses durch § 7a Abs. 4 AEntG kann dies jedenfalls nicht ausgleichen.
D. Mit der Tarifnormerstreckung vergleichbare Regelungsinstrumente I. Mindestlohn in der Pflegebranche 1. Anwendungsbereich und Zweck der Regelung Die §§ 10 bis 13 AEntG enthalten Sonderregelungen für die Festlegung von Mindest- 217 arbeitsbedingungen in der Pflegebranche. Die Branche (ambulante, teilstationäre oder stationäre Pflegeleistungen sowie ambulante Krankenpflegeleistungen) wird in § 10 AEntG umschrieben. Eine wichtige Negativabgrenzung findet sich in § 10 Satz 4 AEntG, wonach u.a. Krankenhäuser nicht zur Pflegebranche gehören. Die Sonderregelung geht auf die Besonderheiten der Pflegebranche zurück, in der die 218 beiden großen christlichen Kirchen eine zentrale Rolle spielen. Da diese (in der Regel) keine TVe abschließen3, wurde das Instrument der Tarifnormerstreckung für diese Branche als untauglich erachtet. Durch die Beratungen der Kommission, in der jeweils die kirchliche und nicht-kirchliche Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite gleichberechtigt vertreten sind, sollen Tarifverhandlungen „simuliert“ werden, wobei hinsichtlich der Richtigkeitsgewähr nicht davon auszugehen ist, dass diese ebenso weitgehend ist wie die von echten TVen. 2. Mindestarbeitsbedingungen durch Rechtsverordnung Mindestlöhne sowie Regelungen aus dem Bereich Erholungsurlaub, Urlaubsentgelt 219 und zusätzliches Urlaubsgeld können gemäß § 11 AEntG in der Pflegebranche durch Rechtsverordnung des Bundesarbeitsministeriums festgelegt werden. Wie auch bei § 3a AÜG (Mindestlohn in der Zeitarbeit, vgl. Rz. 222 ff.) handelt es sich nicht um eine Tarifnormerstreckung. Die Rechtsverordnung mit Mindestarbeitsbedingungen basiert nicht auf einem TV, sondern auf einem Vorschlag einer Kommission zur Erarbeitung von Arbeitsbedingungen (vgl. § 12 AEntG). Nach § 13 AEntG steht eine solche Rechtsverordnung den erstreckten TVen nach den §§ 3 ff. AEntG gleich. Bei den durch Rechtsverordnung nach § 11 AEntG festgelegten Arbeitsbedingungen 220 handelt es sich um Rechtsvorschriften i.S.v. § 2 Nr. 1 bzw. 2 AEntG, die mithin auch auf Arbeitsverhältnisse mit ausländischem Vertragsstatut anwendbar sind. Als solche sind sie auch mit Art. 3 Abs. 1 der Entsenderichtlinie vereinbar4. Die Entsendericht1 2 3 4
BVerfG v. 18.7.2000 – 1 BvR 948/00, NZA 2000, 948 (949). Henssler, RdA 2015, 43 (54). Vgl. nur Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, 6. Aufl. 2012, S. 210 ff. Sittard, NZA 2009, 346 (349).
Sittard
673
Teil 7 Rz. 221
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
linie enthält keine Regelungen, die dem speziellen Verfahren der §§ 10 ff. AEntG entgegenstehen.
II. Grenzüberschreitender Bargeldtransport 221 Beim grenzüberschreitenden Transport von Bargeld innerhalb der EU wird durch § 13a AEntG eine EU-Verordnung mit einer Verordnung nach § 7 AEntG gleichgestellt. Damit erhalten die zur Überwachung zuständigen Behörden eine Grundlage um Ansprüche durchzusetzen, die sich unmittelbar aus der EU-Verordnung ergeben. Bei dem besagten Transport wird es sich regelmäßig um eine Sicherheitsdienstleistung handeln, die ohnehin bereits unter § 4 Abs. 1 Nr. 4 AEntG zu fassen ist. Abweichend vom AEntG sieht Art. 24 der VO (EU) 1214/2011 aber eine Sonderregelung für die Mindestlohn- und Überstundensätze vor. Hat das Transportpersonal an einem Arbeitstag zumindest zeitweise in einem Mitgliedstaat gearbeitet, dessen Mindestlohnsätze höher liegen als die im Herkunftsmitgliedstaat, so sind diese höheren Mindestlohnsätze auf den gesamten Arbeitstag anzuwenden.
III. Mindestlohn in der Zeitarbeitsbranche 222 Neben der AVE von TVen, dem AEntG sowie dem MiLoG besteht seit dem 30.4.2011 durch § 3a AÜG eine weitere Möglichkeit, Mindestlöhne in einem staatlich geregelten Verfahren festzulegen. § 3a AÜG schafft die Möglichkeit eines Mindestlohns für die Zeitarbeitsbranche und greift dafür – wie § 7 AEntG – auf das Mittel einer Rechtsverordnung zurück. Am 21.3.2014 ist die zweite Verordnung zu einer Lohnuntergrenze in der Leiharbeit1 in Kraft getreten. Diese sieht seit dem 1.4.2015 einen Mindestlohn von 8,80 Euro in den westdeutschen Bundesländern und von 8,20 Euro in den ostdeutschen Ländern (einschließlich Berlin) vor. Zum 1.6.2016 steigt er auf 9,00 Euro bzw. 8,50 Euro in den ostdeutschen Ländern (einschließlich Berlin). 1. Zweck der Regelung 223 Die Regelung in § 3a AÜG muss einerseits vor dem Hintergrund der vollumfänglichen Arbeitnehmerfreizügigkeit u.a. für Arbeitnehmer aus Polen, Tschechien und Ungarn seit dem 1.5.2011 sowie andererseits als Folge der in der Vergangenheit in der Zeitarbeitsbranche vereinbarten – vom Entgeltniveau sehr niedrigen – TVen gesehen werden2. Insbesondere die Gewerkschaften fürchteten einen erheblichen Anstieg von Leiharbeitnehmern aus den osteuropäischen Beitrittsstaaten und setzten sich massiv für einen Mindestlohn in der Zeitarbeit ein. § 3a AÜG verfolgt somit auch den Zweck, ins Inland entsandten ausländischen Arbeitnehmern einen Mindestlohn zu garantieren und damit zu verhindern, dass das Lohnniveau auf dem deutschen Arbeitsmarkt durch ausländische Konkurrenz gesenkt wird3. Zudem soll die Lohnuntergrenze auch 1 Abrufbar unter: http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Gesetze/zweite-volohnuntergrenze-arbeitnehmerueberlassung.pdf?__blob=publicationFile (zuletzt abgerufen am: 1.2.2016). 2 In diese Richtung auch Ulber, § 3a AÜG Rz. 1. 3 Ulber, § 3a AÜG Rz. 5.
674 Sittard
Mit der Tarifnormerstreckung vergleichbare Regelungsinstrumente
Rz. 227 Teil 7
den Entwicklungen extrem niedriger tariflicher Löhne in der Zeitarbeit1, die über §§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 9 Nr. 2 AÜG zur Unterschreitung des Equal-Pay-Gebots auch arbeitsvertraglich in Bezug genommen werden dürfen, entgegen wirken. 2. Lohnuntergrenze durch Rechtsverordnung a) Voraussetzungen des Rechtsverordnungserlasses Nach § 3a Abs. 1 AÜG, der sich jedenfalls auf den ersten Blick an § 7 AEntG orien- 224 tiert, kann das Bundesministerium für Arbeit und Soziales durch Rechtsverordnung verbindlich eine Lohnuntergrenze im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung festsetzen. Der Festsetzung vorangehen muss allerdings ein gemeinsamer Vorschlag von Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern, die zumindest auch für ihre jeweiligen in der Arbeitnehmerüberlassung tätigen Arbeitnehmer tarifzuständig sind und gemeinsam bundesweit tarifliche Mindeststundenentgelte im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung vereinbart haben (§ 3a Abs. 1 AÜG). Voraussetzung ist damit letztlich ein bundesweiter TV der vorschlagenden Koalitionen für die Leiharbeitsbranche. Materielle Voraussetzung ist gemäß § 3a Abs. 2 Satz 1 AÜG insbesondere das Vorliegen eines öffentlichen Interesses. Insoweit kann auf die Ausführungen zum allgemeinen öffentlichen Interesse in § 5 TVG sowie § 7 AEntG Bezug genommen werden (vgl. Rz. 48 ff. sowie Rz. 169 f.).
225
Durch die Formulierung „kann“ in § 3a Abs. 2 Satz 1 AÜG wird deutlich, dass dem 226 Bundesministerium für Arbeit und Soziales – wie auch bei § 5 TVG und dem AEntG – ein normatives Ermessen dahingehend zusteht, ob es dem Vorschlag der Tarifparteien folgt und eine entsprechende Rechtsverordnung erlässt. Dem Ministerium ist dabei allerdings nach § 3a Abs. 2 Satz 2 AÜG lediglich eine unveränderte Übernahme des Vorschlags der Tarifparteien erlaubt, d.h. das Ministerium kann dem Vorschlag nicht teilweise entsprechen oder bspw. ein niedrigeres oder höheres Mindestentgelt per Rechtsverordnung durchsetzen. Bei der Ausübung des Ermessens hat sich das Ministerium für Arbeit und Soziales an den gesetzgeberischen Zielen zu orientieren. Nach § 3a Abs. 3 AÜG hat es im Rahmen einer vorzunehmenden Gesamtabwägung zu prüfen, ob die Rechtsverordnung geeignet ist, die finanzielle Stabilität der sozialen Sicherungssysteme zu gewährleisten. Zudem ordnet § 3a Abs. 3 Satz 2 AÜG an, dass der Verordnungsgeber bestehende bundesweite TVe in der Leiharbeitsbranche sowie die Repräsentativität der vorschlagenden Tarifparteien berücksichtigen soll. Insoweit hat das Ministerium auch zu prüfen, ob der Erlass der Rechtsverordnung (und damit die Verdrängung anderer TVe) tatsächlich erforderlich ist oder ob auch andere bestehende TVe in der Branche ein hinnehmbares Entgeltniveau sichern. b) Wirkung der Rechtsverordnung Anders als §§ 7, 7a AEntG (und erst recht als § 5 TVG) enthält § 3a AÜG keine Form 227 der Tarifnormerstreckung2. Vielmehr wird eine einzelne tarifliche Arbeitsbedingung (das Entgelt) als Muster genommen, um durch Rechtsverordnung staatliche Gel1 Vgl. dazu nur Ulber, § 3a AÜG Rz. 1; Schüren, RdA 2011, 368 (368). 2 Ebenso auch ErfK/Wank, § 3a AÜG Rz. 9.
Sittard
675
Teil 7 Rz. 228
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
tungskraft zu erhalten. Dies zeigt sich eindeutig am unterschiedlichen Wortlaut von § 3a AÜG zu § 5 Abs. 4 TVG und § 7 Abs. 1 bzw. § 7a Abs. 1 AEntG. Die letztgenannten Normen ordnen die Geltung der Rechtsnormen des TVs an, wohingegen § 3a Abs. 2 AÜG vorsieht, dass die „vorgeschlagenen tariflichen Mindeststundenentgelte als verbindliche […] Lohnuntergrenze […] Anwendung“ finden sollen. 228 Die staatliche Lohnuntergrenze gilt für alle in der Bundesrepublik beschäftigten Leiharbeitnehmer einschließlich solcher mit ausländischem Vertragsstatut (vgl. § 2 Nr. 1 bzw. 4 AEntG). 229 Durch den Verweis in § 9 Nr. 2 AÜG auf § 3a Abs. 2 AÜG steht eine für verbindlich festgesetzte Rechtsverordnung abweichenden TVen entgegen, soweit diese ein geringeres Mindeststundenentgelt vorsehen. Die Rechtsverordnung entfaltet damit Verdrängungswirkung gegenüber aus Arbeitnehmersicht ungünstigeren TVen. 230 Im Falle einer solchen Abweichung sieht sich der Verleiher gemäß § 10 Abs. 4 AÜG Arbeitsentgeltansprüchen des Leiharbeitnehmers ausgesetzt. Aufgrund des einschränkenden Wortlautes („Mindeststundenentgelt“) des § 3a AÜG sperren die auf ihm beruhenden Rechtsverordnungen jedoch keine sonstigen schlechteren Arbeitsbedingungen, die i.S.d. § 9 Nr. 2 AÜG abweichend durch die TV-Parteien in TVen vereinbart wurden1. 231 Ungeklärt ist bislang das Verhältnis der Lohnuntergrenze nach § 3a AÜG zur Verpflichtung nach § 8 Abs. 3 AEntG, wonach Leiharbeitnehmer, die vom Entleiher mit Tätigkeiten im Anwendungsbereich des AEntG beschäftigt werden, Anspruch auf die Gewährung der tariflichen Mindestarbeitsbedingungen haben. Regelmäßig dürfte hier das Entgeltniveau des AEntG-TVs höher als die Lohnuntergrenze nach § 3a AÜG sein. Bei reiner Gesetzesanwendung gelangt man bei der Kollision zweier Mindestlöhne wohl zur Geltung des höheren Mindestlohns, da die Geltung der AÜG-Lohnuntergrenze nach dem Normtext den Anspruch des Leiharbeitnehmers auf den tariflichen Lohn nach § 8 Abs. 3 AEntG nicht suspendiert. Aus europarechtlicher Sicht ist dies jedoch zweifelhaft (vgl. schon Rz. 199). 232 Im Verhältnis zum gesetzlichen Mindestlohn gilt die Übergangsregelung des § 24 Abs. 1 MiLoG, weswegen bis Ende 2017 die Rechtsverordnungen gem. § 3a AÜG einen Lohn auch unterhalb des gesetzlich vorgesehen Mindestlohnes festlegen kann (vgl. Rz. 153). Danach gilt der Mindestlohn des MiLoG als absolute Lohnuntergrenze (§ 1 Abs. 3 MiLoG). c) Verfassungsrechtliche Zweifel 233 § 3a AÜG wird überwiegend als verfassungsgemäß angesehen2. Eine Lohnuntergrenze durch Rechtsverordnung stellt zwar einen Eingriff in die kollektive Koalitionsfreiheit der konkurrierenden Koalitionen nach Art. 9 Abs. 3 GG sowie in die Berufsfreiheit insbesondere der betroffenen Arbeitgeber nach Art. 12 Abs. 1 GG dar, sei jedoch durch legitime Zwecke gerechtfertigt. Gerade vor dem Hintergrund der in der Vergangenheit teils sehr niedrigen Löhne in der Zeitarbeitsbranche kann ein Bedarf an zu1 Ulber, § 3a AÜG Rz. 7. 2 ErfK/Wank, § 3a AÜG Rz. 11; Ulber, § 3a AÜG Rz. 6.
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Mit der Tarifnormerstreckung vergleichbare Regelungsinstrumente
Rz. 236 Teil 7
sätzlichem Arbeitnehmerschutz nicht völlig in Abrede gestellt werden. Im Schrifttum wird allerdings teilweise die Entscheidung, die Lohnuntergrenze durch Rechtsverordnung zu bestimmen und insoweit der Entscheidung der TV-Parteien zu entziehen, kritisiert1. Aufgrund der geringen Repräsentativität der Gewerkschaften in der Zeitarbeit erscheint es jedoch vertretbar, nicht den gesamten TV im Wege einer Tarifnormerstreckung für die gesamte Branche verbindlich zu machen, sondern über eine Rechtsverordnung nur eine einzelne Arbeitsbedingung (das Entgelt) verbindlich auszugestalten. Aus dogmatischer Sicht ist allerdings zu beklagen, dass der Gesetzgeber neben einem einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn, je nach Branche im Detail unterschiedliche Mindestlohnvarianten vorsieht, die zwar vom Ergebnis her (Rechtsverordnungen) ähnlich sind, sich aber dogmatisch völlig unterscheiden.
IV. Staatlicher Mindestlohn durch das MiLoG Bis zum 11.8.2014 gab es für Branchen, in denen die an TVe gebundenen Arbeitgeber 234 bundesweit weniger als 50 % der unter den Geltungsbereich dieser TVe fallenden Arbeitnehmer beschäftigen, die (theoretische) Möglichkeit, Mindestarbeitsentgelte nach dem MiArbG zu erlassen. Das MiArbG ist allerdings durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz aufgehoben worden. Stattdessen gilt nun ein bundesweiter gesetzlicher Mindestlohn nach dem MiLoG. Anders als die Tarifnormerstreckung und die damit vergleichbaren Regelungsinstrumente ergibt sich der Mindestlohnanspruch unmittelbar aus dem Gesetz.
V. Tariftreueerklärungen 1. Anwendungsbereich und Zweck der Regelungen Sog. Tariftreuegesetze, die es in der Bundesrepublik bislang nur auf Länderebene gibt, 235 sollen Arbeitgeber unabhängig von eigener Tarifgebundenheit bei der Vergabe öffentlicher Aufträge verpflichten, ihren Mitarbeitern den für die jeweilige Branche maßgeblichen Tariflohn zu zahlen. Abgesichert wird diese Beschränkung dadurch, dass Unternehmer bei der Vergabe öffentlicher Aufträge entsprechende Tariftreueerklärungen abgeben müssen. Solche Tariftreueerklärungen stellen neben den dargestellten Instrumenten (§ 5 TVG, AEntG, MiLoG, § 3a AÜG) ein weiteres Instrument dar, durch das ein gewisses Lohnniveau gesichert werden soll2. Ihre Grundlage sollen solche Tariftreuegesetze in § 97 Abs. 4, 5 GWB, wonach öffentliche Aufträge an fachkundige, zuverlässige und leistungsfähige Unternehmen vergeben werden, finden. Die Tariftreuegesetze der Länder sollen diese Vorgaben konkretisieren. Praktische Relevanz haben derartige Regelungen insbesondere bei der Vergabe öffentlicher Bauaufträge sowie im Rahmen von Verkehrsleistungen im öffentlichen Personennahverkehr. Kritisch zu sehen ist, dass gerade in diesen beiden Bereichen öffentliche Aufträge dominieren und somit ein faktischer Zwang aller Unternehmer
1 Vgl. u.a. Böhm, NZA 2010, 1218 über die damals noch in Diskussion stehende Einführung des § 3a AÜG. 2 ErfK/Schlachter, § 21 AEntG Rz. 2.
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677
236
Teil 7 Rz. 237
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
zur Einhaltung der Tariftreuegesetze existiert, obwohl eine besondere Prüfung der TVe – wie nach § 5 TVG oder § 7 AEntG – nicht vorgenommen wurde1. 237 Beispielsweise heißt es in § 10 Abs. 1 des Bremischen Tariftreue- und Vergabegesetzes, dass „öffentliche Aufträge für Dienstleistungen im Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs auf Straße und Schiene nur an Unternehmen vergeben werden, die sich bei der Angebotsabgabe schriftlich verpflichten, ihren Beschäftigten bei der Ausführung der Leistungen mindestens das am Ort der Ausführung tarifvertraglich vorgesehene Entgelt, einschließlich der Überstundenzuschläge, zum tarifvertraglich vorgesehenen Zeitpunkt zu bezahlen.“ In ihrer ersten Fassung regelten die Tariftreuegesetze, dass die Vergabe von öffentlichen Aufträgen nur an die Unternehmer möglich sein sollte, die sich verpflichten, ihren Arbeitnehmern Tariflohn zu zahlen. Als Rechtsfolge für einen Verstoß gegen diese Regelungen sehen die Landesgesetze Vertragsstrafen, außerordentliche Kündigungen sowie teilweise Sperren von der Vergabe öffentlicher Aufträge für eine bestimmte Dauer vor. 2. Tariftreueerklärungen im Lichte der Rechtsprechung des BVerfG und EuGH 238 Während der Bundesgerichtshof Tariftreueerklärungen bereits im Jahre 2000 für verfassungswidrig hielt und die Frage dem BVerfG vorlegte2, erklärte dieses mit Beschluss vom 11.7.2006 die Tariftreueregelung des § 1 Abs. 1 Satz 2 des Berliner Vergabegesetzes (BerlVgG) für verfassungsmäßig. Insbesondere sah es in derartigen Regelungen keinen Verstoß gegen das Grundrecht der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG sowie das Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 GG3. Weder die negative Koalitionsfreiheit, wonach jeder Einzelne das Recht habe, einer Koalition fernzubleiben, noch die aus Art. 9 Abs. 3 GG abgeleitete Bestandsgarantie bestehender Koalitionen werde durch Tariftreuegesetze berührt4. Zwar liege ein Eingriff in die Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG vor, der jedoch gerechtfertigt sei. Die Ziele dieser Regelungen, nämlich die Verhinderung eines Verdrängungswettbewerbes über die Lohnkosten sowie die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, würden Eingriffe in die Berufsfreiheit rechtfertigen5. 239 Dagegen sieht der EuGH seit Rüffert6 in Tariftreueregelungen grundsätzlich einen Verstoß gegen europäisches Recht. Zum einen stünden Tariftreuegesetze in Widerspruch zur Entsenderichtlinie 96/71/EG, da diese enumerativ festlege, mit welchen Mitteln international-zwingende Mindestlöhne festgelegt werden dürften7. Tariftreuegesetze enthielten aber weder einen gesetzlichen Mindestlohn noch seien die in Bezug genommenen TVe (zwingend) allgemeinverbindlich. Dies verlange die Richtlinie aber für international-zwingende Arbeitsbedingungen. Daher seien die Regelun1 Vgl. auch ErfK/Franzen, § 5 TVG Rz. 30; HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 41; Thüsing/Braun/Thüsing, 1. Kap. Rz. 84. 2 BGH v. 18.1.2000 – KVR 23/98, NJW 2000, 327. 3 BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, NJW 2007, 51; vgl. ausführlich Höfling/Rixen, RdA 2007, 360 ff. m.w.N. 4 BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, NJW 2007, 51 (53). 5 BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, NJW 2007, 51 (54 f.). 6 EuGH v. 3.4.2008 – Rs. C-346/06, NZA 2008, 537 – Rüffert; ErfK/Schlachter, § 21 AEntG Rz. 2. 7 Vgl. auch Frenz, NZS 2011, 321 (323).
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Mit der Tarifnormerstreckung vergleichbare Regelungsinstrumente
Rz. 241 Teil 7
gen nicht von der Richtlinie legitimiert. Zum anderen verstieße die Tariftreueregelung gegen die Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 AEUV. In dieser seien ausländische Unternehmer unzulässig beschränkt, wenn sie verpflichtet werden, denjenigen Arbeitnehmern ortsübliche Entgelte zu zahlen, die zur Durchführung eines öffentlichen Bauauftrages nach Deutschland entsandt werden. Insbesondere aus Arbeitnehmerschutzgesichtspunkten lasse sich keine Rechtfertigung der beschränkenden Wirkung der gesetzlichen Regelungen erkennen, da nicht ersichtlich sei, warum Arbeitnehmer im öffentlichen Bereich (für den die Vergabegesetz wegen der Bindung an Aufträge öffentlicher Stellen nur gelten) schutzwürdiger seien als im privaten Bereich, für den die Tariftreuegesetze gerade nicht gelten1. Diese Aussage wird indes durch die aktuelle RegioPost-Entscheidung des EuGH vom 17.11.20152 relativiert. Erstmals ging es in dieser Entscheidung um die Frage, ob vergaberechtliche Mindestlöhne (vgl. Rz. 240 f.) auch eine Bedingung für die Auftragsausführung i.S.d. Art. 26 der Richtlinie 2004/18/EG darstellen können. Der EuGH hat dies bejaht und dabei auch Bezug auf die Dienstleistungsfreiheit des Art. 56 AEUV genommen. Im Einklang mit seiner bisherigen Rechtsprechung sieht der EuGH die Verpflichtung zur Zahlung eines zusätzlichen Mindestentgeltes als eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit an. Allerdings sei der Rüffert-Entscheidung nicht zu entnehmen, dass eine Rechtfertigung alleine deshalb ausscheidet, weil das Mindestentgelt nur für öffentliche und nicht für private Aufträge gelte. Die Beschränkung der Vorschrift auf öffentliche Aufträge sei lediglich eine Folge des Umstandes, dass es für diesen Bereich durch die Richtlinie 2004/18/EG spezielle Regeln des Unionsrechts gebe3. In der Bundesdruckerei-Entscheidung4 aus dem Jahr 2014 hat der EuGH die Rüffert- 240 Rechtsprechung bestätigt und Stellung zur Wirksamkeit von Vergabe-Mindestlöhnen bezogen (vgl. Rz. 240 f.). Zudem hat der EuGH entschieden, dass jedenfalls dann, wenn ein Bieter beabsichtigt, einen öffentlichen Auftrag ausschließlich durch Inanspruchnahme von Arbeitnehmern auszuführen, die bei einem Nachunternehmer mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dem der öffentliche Auftraggeber angehört, beschäftigt sind, Art. 56 AEUV der Anwendung von Tariftreuevorschriften entgegensteht, die diesen Nachunternehmer verpflichten, den Arbeitnehmern ein festgelegtes Mindestentgelt zu zahlen. An diesem Grundsatz dürfte sich auch nach der RegioPost-Entscheidung nichts ändern (vgl. Rz. 243 f.). 3. Tariftreuegesetze der einzelnen Bundesländer Nach wie vor existieren in vielen Bundesländern Regelungen zu Tariftreueerklärun- 241 gen5. Entsprechende Regelungen gelten mit Ausnahme von Bayern und Sachsen mittlerweile in allen Bundesländern6. Trotz der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns bleiben die entsprechenden Vorgaben relevant. Zum einen haben manche 1 2 3 4 5
Thüsing/Granetzny, NZA 2009, 183. EuGH v. 17.11.2015 – C-115/14, EuZW 2016, 104. EuGH v. 17.11.2015 – C-115/14, EuZW 2016, 104. EuGH v. 18.9.2014 – C-549/13, NZBau 2014, 647 (649). Csaki/Freundt, KommJur 2012, 246; Hofmann, RdA 2010, 351 (352); Thüsing/Granetzny, NZA 2009, 183 (186). Ausführlich hierzu außerdem Greiner, ZIP 2011, 2129. 6 Stand: März 2015, einen aktuellen Überblick über die jeweiligen Regelungen findet sich u.a. auf dem Internetauftritt der Hans-Böckler-Stiftung unter http://www.boeckler.de/index_tariftreue. htm#cont_37405 (zuletzt aufgerufen: 1.2.2016).
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679
Teil 7 Rz. 242
Tarifgebundenheit kraft staatlicher Anordnung
Bundesländer einen Vergabe-Mindestlohn vorsehen, der über dem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn liegt1, zum anderen betrifft der Vergabe-Mindestlohn der Bundesländer lediglich das Rechtsverhältnis zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer2. 242 Vor dem Hintergrund der Rüffert-Rechtsprechung versuchten die Bundesländer jedoch, ihre Tariftreuegesetze an die EuGH-Vorgaben anzupassen. Ein Ansatz zur Anpassung der Tariftreuegesetze an die EuGH-Rechtsprechung liegt in der Verpflichtung zur Einhaltung der Kernarbeitszeiten der ILO3. Ein weiterer Weg besteht in der Verpflichtung zur Einhaltung allgemeinverbindlicher und vom AEntG erfasster TVe, was – jedenfalls für AEntG-TVe – mit der Entsenderichtlinie vereinbar sein dürfte4, soweit der TV auch im Bereich des jeweiligen öffentlichen Auftrags normativ anwendbar ist. Weiterhin finden sich teilweise gesetzlich normierte Vergabe-Mindestlöhne von beispielsweise 8,50 Euro in Berlin5 und 8,85 Euro in Nordrhein-Westfalen6. Die Idee besteht hier darin, kraft Gesetz Mindestlöhne festzulegen, um damit die Voraussetzungen der Entsenderichtlinie zu erfüllen. Ob diese Praxis den vom EuGH aufgestellten Anforderungen standhält wurde vielfach bezweifelt7, liegt aber wohl in einer Linie mit der aktuellen RegioPost-Entscheidung des EuGH8. Allerdings stellt die Auferlegung derartiger Vergabe-Mindestlöhne eine zusätzliche wirtschaftliche Belastung für Unternehmen aus anderen Mitgliedsstaaten dar. Darin ist eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit des Art. 56 AEUV zu sehen9. Die Verhinderung von „Sozialdumping“ und der Schutz konkurrierender Unternehmen könne zwar eine Rechtfertigung darstellen. Die Vorgabe eines festen Mindestentgeltes ist aber auf Grundlage der Bundesdruckerei-Entscheidung und trotz der RegioPost-Entscheidung jedenfalls dann unverhältnismäßig, wenn kein Bezug zu den konkreten Lebenshaltungskosten besteht, denen die eingesetzten Arbeitnehmer ausgesetzt sind. Die Besonderheit in der Bundesdruckerei-Entscheidung lag allerdings darin, dass die Leistungen ausschließlich im Ausland erbracht werden sollten und deshalb keinerlei Bezug zu deutschen Lebenshaltungskosten bestand10. 243 In der Bundesdruckerei-Entscheidung des EuGH vom September 2014 nahm das Gericht ausdrücklich zu einem landesgesetzlichen Mindestlohn Stellung. Unmittelbar ging es hier um die Leistungserbringung durch einen Nachunternehmer im Ausland. Die vom Gericht aufgeführten Argumente lassen sich aber auf den selber im Ausland ansässigen Auftragnehmer ohne weiteres übertragen. Aus der Entscheidung folgt, dass bereits bestehende Verträge, die unionsrechtswidrige Verpflichtung zur Zahlung eines Vergabe-Mindestlohns vorsehen, nicht durchgesetzt werden können und auch
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Vgl. http://www.boeckler.de/index_tariftreue.htm#cont_37405 (zuletzt aufgerufen: 24.8.2015). Vgl. ausführlich Tugendreich, NZBau 2015, 395, 396. Vgl. ausführlich Greiner, ZIP 2011, 2129. Vgl. bspw. § 1 Abs. 2 des Berliner Ausschreibungs- und Vergabegesetzes. Vgl. § 1 Abs. 4 des Berliner Ausschreibungs- und Vergabegesetzes (Stand: Februar 2016). Vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1 TVgG – NRW und § 1 Vergabe-Mindestentgelt-Verordnung NRW (Stand: Februar 2016). Simon, RdA 2014, 165 (166 ff.); Csaki/Freundt, KommJur 2012, 246 (250). EuGH v. 17.11.2015 – C-115/14, EuZW 2016, 104 (106). EuGH v. 18.9.2014 – C-549/13, NZBau 2014, 647 (649); nochmals bestätigt durch EuGH v. 17.11.2015 – C-115/14, EuZW 2016, 104 (106). EuGH v. 18.9.2014 – C-549/13, NZBau 2014, 647 (649).
680 Sittard
Mit der Tarifnormerstreckung vergleichbare Regelungsinstrumente
Rz. 244 Teil 7
die in TVgG NRW vorgesehenen Sanktionen (Vertragsstrafe, außerordentliche Kündigung) nicht umzusetzen sind1. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Leistungen im Ausland erbracht werden. Die Clearingstelle Mittelstand des Landes NRW hat in einer Stellungnahme vom 29. Mai 2015 angeregt, den Nachweis der Zahlung des vergabespezifischen Mindestlohnes nicht zu fordern, wenn die Dienstleistung ganz oder teilweise im Ausland erbracht wird2. Diese Praxis könnte indes zu einer Inländerdiskriminierung führen, da Inländer vergabespezifische Mindestlöhne einzuhalten haben3. Allerdings rechtfertigt auch die RegioPost-Entscheidung selbst bei einer reinen Leis- 244 tungserbringung im Inland nicht sämtliche Vergabe-Mindestlöhne. So hat der EuGH betont, dass es in dem entscheidungserheblichen Zeitraum keine andere nationale Regelung gab, die ein Mindestmaß an sozialem Schutz geboten hätte4. Durch das zwischenzeitlich in Kraft getretene MiLoG könnte es an einem nachvollziehbaren Bedarf für zusätzliche Mindestlohnanforderungen öffentlicher Auftraggeber fehlen5. Zudem sind seit der Einführung des MiLoG auch Zweifel an höheren landesgesetzlichen Mindestlohn geäußert worden. So hat das VG Düsseldorf das Tariftreue und Vergabegesetz NRW dem Verfassungsgerichtshof des Landes zur Prüfung vorgelegt, da der Eingriff in die Koalitionsfreiheit spätestens mit Inkrafttreten des MiLoG nicht mehr gerechtfertigt werden könne6. Die öffentlichen Auftraggeber sollten daher ihrer Auftraggeberverantwortlichkeit nach § 13 MiLoG sowie § 14 AEntG nachkommen und keine zusätzlichen (europarechtswidrigen) Anforderungen aufstellen. Die weitere Entwicklung ist daher aufmerksam zu verfolgen.
1 Vgl. ausführlich Tugendreich, NZBau 2015, 395 (399 f.). 2 http://clearingstelle-mittelstand.de/wp-content/uploads/2014/04/Stellungnahme-Tariftreueund-Vergabegesetz-NRW.pdf (zuletzt abgerufen: 1.2.1016). 3 Dazu ausführlich Schnieders, NVwZ 2016, 212 (217). 4 EuGH v. 17.11.2015 – C-115/14, EuZW 2016, 104 (107). 5 Zust. Byok/Conrads, RiW 2016, 146 (148); Winzer, FD-ArbR 2016, 376052. 6 VG Düsseldorf v. 27.8.2015 – 6 K 2793/13, NZBau 2015, 649.
Sittard
681
Teil 8 Geltungsbereich Rz.
Rz. A. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
3. Gemeinschaftsunternehmen, Gemeinschaftsbetrieb . . . . . . . . . . . . .
55
I. Begriffe und Abgrenzung 1. Geltungsbereich des Tarifvertrages. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Tarifgebundenheit . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Tarifzuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . .
III. Ausscheiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
2 4 6
IV. Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
II. Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . . . . .
7
I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Abgrenzung zum persönlichen Geltungsbereich. . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abgrenzung zum sektoralen Geltungsbereich. . . . . . . . . . . . . . . . . .
64
II. Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . . . . .
66
III. Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
IV. Vergütungsgruppen 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zuordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
70 72
III. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeinverbindlicherklärung . . . . Tarifkollision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tarifvorrang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tarifvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tariföffnungsklauseln. . . . . . . . . . . . . Friedenspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterstützungsstreik . . . . . . . . . . . . . Aussperrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11 12 13 14 15 16 17 18 19
IV. Tarifautonome Bestimmung des Geltungsbereichs 1. Pflicht zur Festlegung des Geltungsbereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Auslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
20 22 24
V. Gerichtliche Überprüfung . . . . . . . . .
28
D. Fachlicher Geltungsbereich 62
65
E. Persönlicher Geltungsbereich
B. Räumlicher Geltungsbereich I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
II. Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . . . . .
33
III. Tarifverträge mit Auslandsberührung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38
IV. Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40
V. Normen über gemeinsame Einrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
VI. Ausscheiden aus dem räumlichen Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Abgrenzung zum fachlichen Geltungsbereich. . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abgrenzung zur Tarifgebundenheit . . II. Anknüpfungspunkte 1. Arbeitnehmerbezogene Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Arbeitgeberbezogene Anknüpfungspunkte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
74 75 76
77 79
III. Grenzen 1. Diskriminierungsverbote . . . . . . . . . . 2. Gleichheitssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . .
82 86
IV. Veränderung persönlicher Merkmale. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
88
F. Zeitlicher Geltungsbereich
C. Sektoraler Geltungsbereich (Branche)
I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89
II. Inkrafttreten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
90
III. Ende. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Abgrenzung zum fachlichen Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abgrenzung zum persönlichen Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
G. Geltungsbereichsklausel . . . . . . . . . . 95a
46
H. Normen über gemeinsame Einrichtungen
II. Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . . . . . 1. Betrieb. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48 50 54
47
I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96
II. Organisation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Organisatorische Selbständigkeit . . .
98 99
Stamer
683
Teil 8 Rz. 1
Geltungsbereich Rz.
Rz.
2. Gemeinsamkeitspostulat . . . . . . . . . . 100
IV. Allgemeinverbindlicherklärung. . . . . 106
III. Normative Wirkung . . . . . . . . . . . . . . 101
V. Ausscheiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
Literatur: Assenmacher, Funktionen und Befugnisse der gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, 2003; Bayreuther, Die Novellen des Arbeitnehmerentsende- und des Mindestarbeitsbedingungsgesetzes, DB 2009, 678; Bayreuther/Deinert, Der Einbezug arbeitnehmerloser Betriebe in gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, RdA 2015, 129; Bepler, Tarifverträge im Betriebsübergang, RdA 2009, 65; Bepler, Die Rechtsprechung des BAG zur Tarifeinheit und Gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, NZA-Beilage 2/2011, 73; Boemke, Bindung der Tarifvertragsparteien an die Grundrechte, in: Oetker/Preis/Rieble (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, 2004, S. 613; Braner, Die Geltung von Tarifverträgen im gemeinsamen Betrieb, NZA 2007, 596; Buchner, Der Geltungsbereich des Tarifvertrages, ArbeitsrechtsBlattei, Systematische Darstellung 1550.4; Daeschler, Die sozialpolitische Bedeutung der gemeinsamen Einrichtungen im Baugewerbe, NZA-Beilage 1/2010, 6; Däubler/Heuschmid, Tarifverträge nur für Gewerkschaftsmitglieder? RdA 2013, 1; Dunker, Unternehmensbezogene Tarifverträge, 2007; Frölich, Eintritt und Beendigung der Nachwirkung von Tarifnormen, NZA 1992, 1105; Greiner, Das Tarifeinheitsgesetz – Dogmatik und Praxis der gesetzlichen Tarifeinheit, NZA 2015, 769; Greiner, „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf …“ – die Entscheidung des BAG vom 15.4.2015 zu tarifvertraglichen Stichtagsklauseln, NZA 2016, 10; Hanau, Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität bei gemeinsamen Einrichtungen, NZA-Beilage 1/2010, 1; Hergenröder, Europäisches und Internationales Tarifvertragsrecht, AR-Blattei, Systematische Darstellung 1550.15; Hohenstatt/ Schramm, Tarifliche Mindestlöhne: Ihre Wirkungsweise und ihre Vermeidung am Beispiel des Tarifvertrags zum Post-Mindestlohn, NZA 2008, 433; Hohenstatt/Schuster, Auswirkungen des Tarifeinheitsgesetzes auf Umstrukturierungen, ZIP 2016, 5; v. Hoyningen-Huene, Die Anwendung des branchenfremden Tarifvertrages, NZA 1996, 617; Klebeck, Organisatorischer Geltungsbereich, SAE 2007, 271; Kleinebrink, Häufig übersehen: Die tarifliche Schlichtungsstelle – Bedeutung und Reichweite anhand des Beispiels des EMTV Metall NRW, ArbRB 2015, 112; Kretz, Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 Absatz 4 TVG als „gesetzliche Gleichstellungsregelung“?, RdA 2011, 294; Lehmann, Tarifeinheitsgesetz – Die neue Unordnung in der gewillkürten Ordnung, (Teil 1) BB 2015, 2229, (Teil 2) BB 2015, 2293; Mayer, Zur Öffnung des persönlichen Geltungsbereichs von Tarifverträgen für Heimarbeiter und Handelsvertreter, BB 1993, 1513; Müller, Differenzierungen im personellen Anwendungsbereich des § 30 TvÖD/TV-L/TV-H, öAT 2011, 51; Oetker, Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität bei Tarifverträgen über Gemeinsame Einrichtungen, NZA-Beilage 1/2010, 13; Oetker, Die Binnenorganisation Gemeinsamer Einrichtungen der Tarifvertragsparteien zwischen Paritätsgebot und Unternehmensmitbestimmung, in: Söllner/Gitter/ Waltermann/Giesen/Ricken (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Meinhard Heinze, 2005, S. 597; Richardi, Systemwidrigkeit des Tarifeinheitsgesetzes als Quelle der Rechtsunsicherheit, NZA 2015, 915; Rolfs, Konzepte zur Erhöhung des Verbreitungsgrades der betrieblichen Altersversorgung, NZA-Beilage 2/2015, 67; Sahl, Leistung und Verfahren der gemeinsamen Einrichtungen ULAK und ZVK, NZA-Beilage 1/2010, 8; Scholz/Lingemann/Ruttloff, Tarifeinheit und Verfassung, NZA-Beilage 3/2015, 3; Tiedemann, Die verfahrensrechtlichen Regelungen im sog. Tarifeinheitsgesetz, ArbRB 2015, 124; Thüsing/v. Hoff, Leistungsbeziehungen und Differenzierungen nach der Gewerkschaftszugehörigkeit bei Gemeinsamen Einrichtungen, ZfA 2008, 77; Waas, Probleme der Tarifgebundenheit bei Normen über Gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, RdA 2000, 81; Wendeling-Schröder, Zuordnungstarifverträge und Gewerkschaftspluralität, NZA 2015, 525; Zachert, Firmentarifvertrag als Alternative?, NZA-Beilage 1/2000, 17.
A. Allgemeines 1 Der Geltungsbereich eines TVs hat entscheidende Bedeutung für die Wirkungsentfaltung tariflicher Bestimmungen. Die in § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG angeordnete unmittelbare und zwingende Wirkung der Rechtsnormen eines TVs ist auf seinen Geltungs684 Stamer
Allgemeines
Rz. 4 Teil 8
bereich begrenzt. Für die Anwendbarkeit von Inhaltsnormen auf ein Arbeitsverhältnis muss grds. beiderseitige Tarifgebundenheit hinzukommen. Auch Betriebsnormen und betriebsverfassungsrechtliche Normen können ihre normative Wirkung nach § 4 Abs. 1 Satz 2 TVG nur im Geltungsbereich des TVs entfalten. Insoweit genügt aber die Tarifbindung des Arbeitgebers1. Weiter zeitigen Regelungen über gemeinsame Einrichtungen nach § 4 Abs. 2 TVG nur im Geltungsbereich des TVs ihre unmittelbare und zwingende Wirkung. Erhebliche Bedeutung kommt dem Geltungsbereich eines TVs schließlich im Rahmen des mit dem TEG neu eingeführten § 4a TVG zu (zum TEG vgl. Teil 9)2.
I. Begriffe und Abgrenzung 1. Geltungsbereich des Tarifvertrages Der Geltungsbereich eines TVs bestimmt den Kreis derjenigen, die seinen Regelungen 2 überhaupt unterworfen sein können. Dabei ist zu differenzieren zwischen dem schuldrechtlichen Teil eines TVs auf der einen Seite, der lediglich die tarifschließenden Parteien bindet und dessen Bestimmung in der Regel wenig Probleme bereitet3, und dem normativen Teil auf der anderen Seite. Der Geltungsbereich nach § 4 TVG betrifft den normativen Teil. Er ist ein dem TV immanenter Bestandteil. Dies gilt selbst dann, wenn der Geltungsbereich im TV nicht festgeschrieben ist. Der Kreis der Normunterworfenen ist in keinem Fall unbeschränkt. Ist der Geltungsbereich im TV nicht ausdrücklich normiert, ist er durch Auslegung zu ermitteln (vgl. ausführlich Rz. 22). Anhand des Geltungsbereichs des TVs bestimmt sich, ob dessen Rechtsnormen, vor- 3 behaltlich einer notwendigen Tarifbindung, auf ein Arbeitsverhältnis grds. Anwendung finden kann oder nicht. Den Geltungsbereich legen die tarifschließenden Parteien fest. Diese bestimmen, wo, für wen und in welchem zeitlichen Rahmen der TV gelten soll. Arbeitsverhältnisse außerhalb des Geltungsbereichs eines TVs werden von dessen normativer Wirkung nicht erfasst. 2. Tarifgebundenheit Vom Geltungsbereich strikt zu trennen ist das Kriterium der Tarifgebundenheit nach 4 § 3 TVG (näher dazu Teil 6). Bereits aus dem Wortlaut der Bestimmungen in § 3 Abs. 2 und § 4 Abs. 1 TVG folgt, dass Geltungsbereich eines TVs auf der einen und Tarifgebundenheit auf der anderen Seite jeweils Voraussetzung für die normative Wirkung der Rechtsnormen eines TVs sind. Unterfällt ein Arbeitsverhältnis dem Geltungsbereich eines TVs, bedeutet dies nicht in jedem Fall, dass der TV für das Arbeitsverhältnis zur Anwendung gelangt. Umgekehrt folgt aus einer beiderseitigen Tarifgebundenheit nicht ohne weiteres, dass das Arbeitsverhältnis zwangsläufig einem bestimmten TV unterworfen ist. Für die unmittelbare und zwingende Wirkung eines TVs müssen beide Voraussetzungen vielmehr grds. kumulativ erfüllt sein (zur Allgemeinverbindlichkeit vgl. Rz. 12).
1 ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 22. 2 BT-Drucks. 18/4062, 8 ff. 3 Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 183.
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Teil 8 Rz. 5
Geltungsbereich
5 § 3 TVG legt zwingend die Reichweite der Tarifgebundenheit fest und ist Spiegelbild der negativen Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG. Abweichungen von § 3 TVG sind weder durch TV noch durch Satzungen der tarifschließenden Parteien möglich1. Nur für die nach § 3 Abs. 1 TVG Tarifgebundenen können Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände überhaupt Regelungen vereinbaren, die normativ gelten. Eine Erstreckung der normativen Wirkung auf sog. Außenseiter oder andersorganisierte Arbeitnehmer und Arbeitgeber ist dagegen nicht möglich. Diese ist vielmehr einer Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG vorbehalten. Im Übrigen können die TV-Parteien grds. autonom entscheiden, für welche ihrer Mitglieder sie Regelungen treffen wollen. Dies erfolgt durch die Festlegung des Geltungsbereichs des TVs. 3. Tarifzuständigkeit 6 Auch die Tarifzuständigkeit ist vom Geltungsbereich eines TVs abzugrenzen. Ihre Tarifzuständigkeit legen die Koalitionen als Kernelement der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG grds. eigenverantwortlich und autonom in ihren Satzungen fest (zur Tarifzuständigkeit im Einzelnen vgl. Teil 2 Rz. 204 ff.). Die Tarifzuständigkeit betrifft dabei nicht die Frage, für welche Arbeitsverhältnisse die Rechtsnormen eines TVs normative Wirkung zeitigen. Sie ist vielmehr Wirksamkeitsvoraussetzung des TVs. Nur in den Grenzen ihres Zuständigkeitsbereichs kann eine Koalition überhaupt wirksame TVe schließen2. TVe außerhalb der Zuständigkeit einer oder gar beider TV-Parteien sind unwirksam. Aus der Tarifzuständigkeit folgen damit zugleich Schranken für die Festlegung des Geltungsbereichs. Nur innerhalb ihrer festgelegten Tarifzuständigkeit können die Koalitionen den Geltungsbereich eines TVs autonom festsetzen3.
II. Anknüpfungspunkte 7 Für die Festlegung des Geltungsbereichs eines TVs durch die TV-Parteien bestehen unterschiedliche Anknüpfungspunkte, wobei zunächst die Terminologie zu klären ist. In TVen selbst wird begrifflich meist nach räumlichem, fachlichem, persönlichem und zeitlichem Geltungsbereich unterschieden. Dabei bestimmt der räumliche Geltungsbereich die geographischen Grenzen eines TVs. Beginn und Ende eines TVs folgen dem zeitlichen Geltungsbereich. Unklar ist dagegen, was unter dem „fachlichen“ sowie dem „persönlichen“ Geltungsbereich zu verstehen ist. Die insoweit in Wissenschaft und Rechtsprechung verwendete Terminologie ist uneinheitlich. Da Gewerkschaften weiterhin überwiegend nach dem Industrieverbandsprinzip organisiert sind, ist ein Anknüpfungspunkt für den Geltungsbereich die Branche, also der Wirtschaftssektor, dem ein Betrieb oder Unternehmen zugehörig ist. Folglich wird vielfach vom „branchenmäßigen“ bzw. „betrieblich-branchenmäßigen“4 Geltungsbereich gesprochen, 1 Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 2; Jacobs/Krause/Oetker, § 6 Rz. 9; Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 8; vgl. zur damit verbundenen Problematik einer OT-Mitgliedschaft Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 107 m.w.N. 2 Zur Überschreitung der Tarifzuständigkeit durch die CGZP siehe BAG v. 25.5.2012 – 1 ABN 27/12; BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289. 3 Vgl. HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 15 m.w.N.; Staudinger/Richardi/Fischinger, Vorbem. zu §§ 611 ff. BGB Rz 681 f., 696. 4 Dütz/Thüsing, Arbeitsrecht, Rz. 592 f.; MünchArbR/Hamacher, § 68 Rz. 145; v. HoyningenHuene, NZA 1996, 617; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 100.
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Allgemeines
Rz. 10 Teil 8
aber auch die Begriffe des „fachlichen“1 oder „betrieblich-fachlichen“2 Geltungsbereichs sind üblich. Teilweise werden die Begriffe synonym verwendet3. In seinem Urteil vom 21. März 19734 hatte das BAG ausgeführt, dass derjenige Teil im TV, der die der Geltung unterworfenen Betriebe festlegt, entgegen der dortigen Ansicht der TV-Parteien nicht als fachlicher, sondern vielmehr als betrieblicher Geltungsbereich zu bezeichnen sei. Allerdings verwendete das BAG in der Folge die Terminologie selbst zuweilen uneinheitlich, indem es einmal vom fachlichen, einmal vom betrieblichen Geltungsbereich sprach5. Aus den unterschiedlichen Bezeichnungen folgen keine relevanten Auswirkungen. 8 Ihr Hintergrund ist vielmehr dogmatischer Natur. Knüpft der Geltungsbereich eines TVs nämlich nicht an einen Betrieb, sondern an das Unternehmen an, ist die Verwendung des Begriffs „betrieblich“ jedenfalls ungenau. Der „fachliche“ Geltungsbereich betrifft wiederum nicht ausschließlich den Arbeitgeber. Vielmehr werden hier häufig auch Tätigkeitsmerkmale von Arbeitnehmern genannt. Die Anknüpfungspunkte eines festgelegten Geltungsbereichs an Betriebe oder Unternehmen innerhalb eines bestimmten Wirtschaftssektors werden daher nachfolgend unter dem Begriff des sektoralen Geltungsbereichs zusammengefasst. Auch soweit ein TV unterschiedliche Regelungen für bestimmte Beschäftigtengrup- 9 pen enthält oder sein Geltungsbereich von vornherein auf bestimmte Beschäftigtengruppen festgelegt ist, ist die Terminologie nicht einheitlich. So wird die Anknüpfung an fachliche und tätigkeitsbeschreibende Merkmale der Beschäftigten teilweise unter dem fachlichen Geltungsbereich6, teilweise unter dem persönlichen Geltungsbereich zusammengefasst7. Sinnvoll ist es, insoweit vom fachlichen Geltungsbereich als dem persönlichen Geltungsbereich im weiteren Sinne sowie dem persönlichen Geltungsbereich im engeren Sinne zu sprechen8. Anknüpfungen an fachliche und tätigkeitsbeschreibende Merkmale der Beschäftigten werden daher nachfolgend unter dem fachlichen Geltungsbereich zusammengefasst. Unter dem persönlichen Geltungsbereich im engeren Sinne werden demgegenüber Anknüpfungen an individuelle Merkmale der Beschäftigten wie Alter, Betriebszugehörigkeit und Geschlecht dargestellt9. Festzuhalten bleibt noch, dass die genannten Anknüpfungen im Geltungsbereich 10 nicht stets kumulativ erfolgen. Regelmäßig sind vielmehr lediglich einzelne Kriterien, wie z.B. die geographische Lage und die Branche maßgeblich. Welche Anknüpfungen erfolgen, bestimmt sich häufig bereits nach der Art des TVs.
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So im „Streikparagraph“, vgl. § 160 SGB III. Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 185. Vgl. z.B. ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 12; KassHdb/Dörner, 8.1 Rz. 142. BAG v. 21.3.1973 – 4 AZR 225/72, DB 1973, 1506. Vgl. BAG v. 29.5.1991 – 4 AZR 524/90, AP Nr. 142 zu § 1 TVG Tarifverträge; BAG v. 11.9.1991 – 4 AZR 40/91, NZA 1992, 422. Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 305; Jacobs/Krause/Oetker, § 5 Rz. 66. ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 16; Hromadka/Maschmann, § 13 Rz. 234; Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 151. So auch HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 20; vgl. dazu auch Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 203 Rz. 21 f. So auch HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 21.
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Teil 8 Rz. 11
Geltungsbereich
III. Relevanz 11
Der Geltungsbereich eines TVs ist nicht nur relevant für die Beantwortung der Frage, ob die Rechtsnormen des TVs auf ein Arbeitsverhältnis Anwendung finden oder nicht. Auch für weitere Fragen des kollektiven Arbeitsrechts kommt dem Geltungsbereich eines TVs entscheidende Bedeutung zu. 1. Allgemeinverbindlicherklärung
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Grds. entfalten TVe normative Wirkung nur für tarifgebundene Arbeitnehmer und Arbeitgeber nach § 3 Abs. 1 TVG, wobei u.U. einseitige Tarifgebundenheit des Arbeitgebers genügt, vgl. § 3 Abs. 2 TVG. Eine Erstreckung auf anders- und nichtorganisierte Arbeitnehmer kann allerdings im Wege der Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG erfolgen. Voraussetzung ist nach dem durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz geänderten § 5 TVG, dass der TV in seinem Geltungsbereich für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen überwiegende Bedeutung erlangt hat oder die Absicherung der Wirksamkeit der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklung eine Allgemeinverbindlicherklärung verlangt, vgl. § 5 Abs. 1 TVG (dazu näher Teil 6). Erleichterte Voraussetzungen einer Allgemeinverbindlicherklärung bestehen nach dem neu eingeführten § 5 Abs. 1a TVG im Falle gemeinsamer Einrichtungen (vgl. Rz. 106). § 5 TVG ersetzt dann lediglich die Tarifgebundenheit auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite. Die Erstreckung auf nicht tarifgebundene Arbeitsvertragsparteien erfolgt nur, wenn diese wiederum dem Geltungsbereich des TVs unterfallen. Eine Besonderheit ergibt sich aus dem Arbeitnehmerentsendegesetz. Demnach finden die Rechtsnormen eines TVs im Falle der Allgemeinverbindlicherklärung unter bestimmten weiteren Voraussetzungen selbst auf Arbeitsverhältnisse zwischen einem Arbeitgeber mit Sitz im Ausland, also außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs, und seinen im räumlichen Geltungsbereich des TVs beschäftigten Arbeitnehmern zwingend Anwendung (vgl. näher Rz. 40). 2. Tarifkollision
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Der Geltungsbereich gewährleistet nicht in jedem Fall, dass auf ein Arbeitsverhältnis jeweils nur ein bestimmter TV überhaupt Anwendung finden kann. Vielmehr kommt für ein Arbeitsverhältnis häufig die Anwendung unterschiedlicher TVe in Betracht (vgl. eingehend Teil 9 Rz. 79 ff.). Wenn eine oder beide Arbeitsvertragsparteien an mehrere TVe gebunden sind und deren Geltungsbereiche sich überschneiden, droht Tarifkollision. Zu unterscheiden ist zwischen Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität. Wenn verschiedene TVe mit sich überschneidenden Regelungsbereichen für ein und dasselbe Arbeitsverhältnis normativ gelten, spricht man von Tarifkonkurrenz1, wobei anerkannt ist, dass keine Tarifkonkurrenz vorliegt, wenn bereits die Auslegung ergibt, dass nur einer von mehreren TVen gelten soll2. Tarifpluralität liegt vor, wenn der Betrieb des Arbeitgebers unter den Geltungsbereich mehrerer TVe fällt, an die der Arbeitgeber gebunden ist, während für den einzelnen Arbeitnehmer nur einer der TVe Anwendung findet3 (näher zur Tarifkollision vgl. Teil 9 Rz. 101 ff.). Das im Zu1 ErfK/Franzen § 4 TVG Rz. 65. 2 ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 66; BAG v. 24.3.2010 – 4 AZR 713/08, ZTR 2010, 462. 3 MünchArbR/Hamacher, § 68 Rz. 181.
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Allgemeines
Rz. 14 Teil 8
sammenhang mit Tarifkonkurrenzen entwickelte Spezialitätsprinzip hat das BAG wegen des seinerzeit geltenden Grundsatzes der Tarifeinheit in der Folge auch für Tarifpluralitäten angewendet1. Anwendung fand demnach der speziellere TV. Welcher TV wiederum als der speziellere anzusehen war, ergab sich aus einem Vergleich der TVe anhand ihrer Geltungsbereiche2. Nach Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit durch das BAG3 ist der Gesetzgeber tätig geworden und hat zum 10.7.2015 das TEG verabschiedet. Tarifkollisionen sollen nach § 4a Abs. 2 TVG nun ggf. auf Grundlage eines gesetzlich normierten subsidiären Grundsatzes der Tarifeinheit anhand eines betriebsbezogenen Mehrheitsprinzips aufgelöst werden4. § 4a Abs. 2 Satz 1 TVG stellt zunächst klar, dass ein Arbeitgeber nach § 3 TVG an mehrere TVe gebunden sein kann5. § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG schreibt fest, dass „soweit sich die Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher TVe verschiedener Gewerkschaften überschneiden (Tarifkollision), im Betrieb nur die Rechtsnormen des TVs derjenigen Gewerkschaft anwendbar (sind), die zum Zeitpunkt des Abschlusses des zuletzt abgeschlossenen TVs im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat“ (vgl. näher Teil 9 Rz. 115). Voraussetzung der Anwendbarkeit der gesetzlichen Kollisionsregelung ist eine Überschneidung der tariflichen Geltungsbereiche in zeitlicher, räumlicher, sektoraler, fachlicher und persönlicher Hinsicht6. Dabei beschränkt sich § 4a Abs. 2 TVG nicht lediglich auf den Fall von Tarifkonkurrenzen. Die Kollisionsregelung gilt vielmehr grds. pauschal ohne Rücksicht auf eine inhaltliche Überschneidung der TVe7. Dies folgt wiederum aus einem Umkehrschluss aus § 4a Abs. 3 TVG, wonach für Tarifnormen nach § 3 Abs. 1 Nr. 1–3 BetrVG, die die betriebsverfassungsrechtliche Struktur als solche regeln, die Kollisionsregel nur gilt, wenn diese Frage gerade Gegenstand kollidierender TVe ist8. 3. Tarifvorrang Auch im Betriebsverfassungsrecht ist der Geltungsbereich eines TVs bedeutsam. Mit- 14 bestimmungsrechte des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 BetrVG bestehen nach § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG nur, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht. Der gesetzlich festgeschriebene Tarifvorrang dient dem Schutz der Tarifautonomie. Die Sperrwirkung im Falle tariflicher Regelungen tritt ein, soweit der TV die an sich mitbestimmungspflichtige Angelegenheit regelt. Dies setzt wiederum voraus, dass die fragliche Regelung im Betrieb überhaupt gilt. Eine bloße Tarifüblichkeit genügt nicht. Wenn und soweit ein TV indessen die mitbestimmungspflichtige Angelegenheit regelt und jedenfalls der Arbeitgeber tarifgebunden ist9, greift der Ta1 Vgl. dazu Scholz/Lingemann/Ruttloff, NZA-Beilage 3/2015, 7. 2 St. Rspr. des BAG seit BAG v. 29.3.1957 – 1 AZR 208/55, AP Nr. 4 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; vgl. BAG v. 23.3.2005 – 4 AZR 203/04, NZA 2005, 1003; BAG v. 9.12.2009 – 4 AZR 190/08, NZA 2010, 712; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068. 3 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068. 4 Vgl. dazu auch BT-Drucks. 18/4062, 10; Scholz/Lingemann/Ruttloff, NZA-Beilage 3/2015, 8. 5 Zur Frage der Anwendung der Vorschrift, wenn die Tarifgeltung auf einer Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG oder einer Rechtsverordnung nach §§ 7, 7a AEntG beruht, vgl. Richardi, NZA 2015, 915. 6 Scholz/Lingemann/Ruttloff, NZA-Beilage 3/2015, 15. 7 Greiner, NZA 2015, 769 (770). 8 Greiner, NZA 2015, 769 (770); näher dazu auch Lehmann, BB 2015, 2229 und 2293. 9 Vgl. zu den dazu vertretenen Auffassung Richardi/Richardi, § 87 BetrVG Rz. 153 ff. m.w.N.
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Teil 8 Rz. 15
Geltungsbereich
rifvorrang. Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates nach § 87 Abs. 1 BetrVG ist in diesem Fall, je nach Inhalt der tariflichen Regelung, beschränkt oder gar ausgeschlossen1. 4. Tarifvorbehalt 15
Eine Begrenzung der betrieblichen Mitbestimmung ergibt sich überdies aus dem Tarifvorbehalt nach § 77 Abs. 3 BetrVG. Jene Vorschrift beschränkt zur Gewährleistung der Funktionstüchtigkeit der Tarifautonomie den möglichen Gegenstand von Betriebsvereinbarungen. Die Betriebsparteien sollen weder abweichende noch ergänzende Betriebsvereinbarungen, die in Konkurrenz zu Regelungen der TV-Parteien treten könnten, abschließen dürfen. Anders als im Falle der Sperrwirkung nach § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG ist eine Tarifgebundenheit des Arbeitgebers dabei nicht erforderlich2. Notwendig ist allerdings, dass der Betrieb unter den räumlichen und sektoralen Geltungsbereich des TVs, der Sperrwirkung entfalten soll, fällt3. 5. Tariföffnungsklauseln
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Eine weitere Regelung des Verhältnisses tariflicher zu anderen, abweichenden Vorschriften ist in § 4 Abs. 3 TVG festgeschrieben. Jene Bestimmung schafft die gesetzliche Grundlage für ungünstige Abweichungen von tarifvertraglichen Regelungen und verleiht auf diese Weise der Tarifautonomie Ausdruck. Daneben besteht eine ganze Reihe gesetzlicher Tariföffnungsklauseln, die eine Abweichung vom Gesetzesrecht aufgrund eines TVs gestatten. Beispielhaft genannt seien §§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 9 Nr. 2 Halbs. 3 AÜG, § 622 Abs. 4 BGB, §§ 13 Abs. 1 Satz 1, 21 BUrlG oder §§ 7, 12 ArbZG. Die TV-Parteien können solche abweichende Regelungen im TV unmittelbar festlegen. Soweit die Arbeitsvertragsparteien nicht tarifgebunden sind, können sie „im Geltungsbereich“ eines TVs die Anwendung der tariflichen Regelung individualvertraglich durch Bezugnahmeklauseln vereinbaren. Voraussetzung ist also wiederum, dass der TV überhaupt Geltung beanspruchen könnte, wären die Arbeitsvertragsparteien tarifgebunden. Grund hierfür ist, dass dem TV nur innerhalb seines Geltungsbereichs die Vermutung einer sachgerechten und gleichgewichtigen Regelung zukommt. Bei gesetzlichen Tariföffnungsklauseln ist damit auch bei nicht tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien der Geltungsbereich eines TVs maßgeblich. Dabei sind die tarifschließenden Parteien hinsichtlich der Festlegung des Geltungsbereichs für aufgrund von Tariföffnungsklauseln vereinbarte TVe grds. frei. Allerdings dürfen die TV-Parteien dabei nicht den gesetzgeberischen Intentionen zuwider handeln. Folglich wäre es unzulässig, den Geltungsbereich eines TVs im Rahmen der Öffnungsklauseln des § 9 Nr. 2 AÜG auf die „tarifgebundenen Mitglieder“ des tarifschließenden Arbeitgeberverbands zu beschränken4.
1 BAG v. 22.1.1980 – 1 ABR 48/77, NJW 1981, 75; ErfK/Kania, § 87 BetrVG Rz. 15; Werner in Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, § 87 BetrVG Rz. 22 ff. 2 BAG v. 20.11.2001 – 1 AZR 12/01, NZA 2002, 872; BAG v. 24.1.1996 – 1 AZR 597/95, NZA 1996, 948. 3 BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 268/09, NZA 2012, 231; BAG v. 22.3.2005 – 1 ABR 64/03, AP Nr. 26 zu § 4 TVG Geltungsbereich; Richardi/Richardi, § 77 BetrVG Rz. 264 m.w.N. 4 Schüren, § 9 AÜG Rz. 152; nach Wiedemann, Einl. Rz. 392 widerspräche eine solche Regelung bereits dem Institut des tarifdispositiven Gesetzesrechts.
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Allgemeines
Rz. 18 Teil 8
6. Friedenspflicht Auch Arbeitskampfmaßnahmen sind aus dem Blickwinkel des Geltungsbereichs eines 17 TVs zu betrachten. Auf Grundlage der sog. relativen Friedenspflicht ist nämlich nur die kampfweise Durchsetzung solcher Tarifforderungen zulässig, die nicht bereits Gegenstand einer wirksamen Tarifvereinbarung sind. Die Reichweite der relativen Friedenspflicht bestimmt sich notwendigerweise auch nach dem Geltungsbereich eines TVs. Allein der Umstand, dass eine Tarifforderung Gegenstand einer bestehenden Tarifvereinbarung ist, führt nicht ohne weiteres zur Unzulässigkeit hierauf gerichteter Arbeitskampfmaßnahmen. Hinzukommen muss, dass die geforderte tarifliche Neuregelung jedenfalls teilweise im Geltungsbereich eines bestehenden TVs liegt1. Erstreckt sich der TV nach seinem Geltungsbereich also beispielsweise nicht auf sämtliche in einem Betrieb beschäftigten Arbeitnehmergruppen, besteht für die vom Geltungsbereich nicht erfassten Arbeitnehmer keine vorrangige Regelung der Arbeitsbeziehungen, die eine befriedende Wirkung entfalten könnte. Jene nicht erfassten Arbeitnehmergruppen wären mithin nicht gehindert, eigene tarifliche Forderungen zu formulieren und diese mit Hilfe von Arbeitskämpfen durchzusetzen2. Entsprechendes gilt hinsichtlich des zeitlichen Geltungsbereichs. Nach Beendigung eines TVs endet die Friedenspflicht3. Zu den Auswirkungen des Tarifeinheitsgesetzes auf Arbeitskampfmaßnahmen vgl. Teil 9 Rz. 159 f. 7. Unterstützungsstreik Der Geltungsbereich eines TVs war in der Vergangenheit überdies ausschlaggebend, 18 soweit es um Arbeitskampfmaßnahmen zur Unterstützung eines in einem anderen Bereich geführten „Hauptarbeitskampfs“ ging, sog. Unterstützungsstreiks, auch als „Solidaritätsstreiks“ oder „Sympathiestreiks“ bezeichnet. Solche unterstützenden Streikmaßnahmen finden außerhalb des möglichen Geltungsbereichs der kampfweise durchzusetzenden tariflichen Regelung statt. Ursprünglich hatte das BAG unterstützende Arbeitskampfmaßnahmen in der Regel für unzulässig erachtet4. Mit Urteil vom 19. Juni 2007 hat das BAG das Regel-Ausnahmeverhältnis indessen umgekehrt und festgestellt, dass sich auch die Zulässigkeit eines Unterstützungsstreiks nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit richte. Rechtswidrig sei ein Unterstützungsstreik, wenn er zur Unterstützung des Hauptarbeitskampfs offensichtlich ungeeignet, offensichtlich nicht erforderlich oder unangemessen ist5. Die Unzulässigkeit von Unterstützungsstreiks ergibt sich mithin nicht mehr bereits und generell aus der Überschreitung der für den Hauptarbeitskampf maßgeblichen Grenzen des Tarifgebiets. Der Geltungsbereich eines TVs ist damit zwar weiterhin für die begriffliche Unterscheidung zwischen Haupt- und Unterstützungsarbeitskampf relevant. Für die Bewertung der Zulässigkeit unterstützender Streikmaßnahmen ist er indessen nicht mehr ausschlaggebend. 1 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1046. 2 Vgl. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 21 III 7 b (S. 1046); siehe dazu auch BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734. 3 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 22 II 4 b (S. 1082); Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, § 4 TVG Rz. 10. 4 BAG v. 5.3.1985 – 1 AZR 468/83, NZA 1985, 504; BAG v. 12.1.1988 – 1 AZR 219/86, NZA 1988, 474. 5 BAG v. 19.6.2007 – 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055.
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Teil 8 Rz. 19
Geltungsbereich
8. Aussperrung 19
Für die Bewertung von Arbeitskampfmaßnahmen des Arbeitgebers ist der Geltungsbereich des TVs dagegen weiterhin maßgeblich. Nach der geltenden – und zum Teil heftig kritisierten1 – Rechtsprechung des BAG wird die Zulässigkeit von Abwehraussperrungen durch das Tarifgebiet bestimmt. Zur Verhinderung einer Eskalation des Arbeitskampfs sowie zur Gewährleistung der Kampfparität sei eine solche Begrenzung des Kampfgebiets geboten2. Eine „über den räumlichen und betrieblich-fachlichen Geltungsbereich“ des angestrebten TVs hinausgehende Abwehraussperrung des Arbeitgebers sei unzulässig3. Ob diese Rechtssätze nach dem Paradigmenwechsel des BAG bei der Bewertung der Zulässigkeit von Unterstützungsstreiks ohne weiteres fortgelten, ist fraglich. Gleichwohl hat das BAG in seinem Urteil zur Zulässigkeit solcher Sympathiestreiks4 diese Grundsätze wiederholt und betont, dass eine Beschränkung der Abwehraussperrung auf das Tarifgebiet notwendig sei, um eine gleichgewichtige Verhandlungsposition für die Arbeitnehmer herzustellen und zu wahren.
IV. Tarifautonome Bestimmung des Geltungsbereichs 1. Pflicht zur Festlegung des Geltungsbereichs 20
Durch den Tarifabschluss werden die tarifschließenden Parteien normsetzend tätig. Wie jeder Normsetzungsgeber dürfen sie dabei den Geltungsbereich im Rahmen ihrer Zuständigkeit und innerhalb der Grenzen höherrangigen Rechts eigenmächtig festlegen. Die Bestimmung des Geltungsbereichs erfolgt tarifautonom. Hierin besteht der wesentliche Unterschied zur Tarifgebundenheit. Jene steht nach Maßgabe der negativen Koalitionsfreiheit nicht zur Disposition der TV-Parteien.
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Aufgrund des rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebots für Rechtsnormen muss der Kreis der Normunterworfenen ermittelbar sein. Regelmäßig erfolgt die Festlegung des Geltungsbereichs in den Eingangsnormen des TVs5. Der Geltungsbereich kann sich indessen auch aus den materiell-rechtlichen tariflichen Regelungen ergeben. Zur ausdrücklichen Regelung des Geltungsbereichs sind die TV-Parteien gleichwohl nicht verpflichtet6. Möglich ist daher, dass ein TV keine ausdrückliche Regelung zum Geltungsbereich enthält. In diesem Fall sind die Normunterworfenen durch Auslegung zu ermitteln. Lässt sich allerdings auch mit Hilfe von Auslegung kein eindeutiger Geltungsbereich bestimmen, ist der TV wegen Verstoßes gegen das Bestimmtheitsgebot unwirksam7. Durch entsprechende explizite Festlegungen einander nicht über1 Vgl. etwa Hanau, AfP 1980, 126; Konzen/Scholz, DB 1980, 1593; Seiter, RdA 1981, 65; Otto, RdA 1981, 285. 2 BAG v. 10.6.1980 – 1 AZR 168/79, NJW 1980, 1653; vgl. auch BAG v. 7.6.1988 – 1 AZR 597/86, NZA 1988, 890. 3 Vgl. Kissel, § 55 Rz. 3. 4 BAG v. 19.6.2007 – 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055. 5 Vgl. z.B. § 1 TVöD-AT; § 1 MTV Metall- und Elektroindustrie Südbaden v. 14.6.2005; RahmenTV Gebäudereinigerhandwerk Bundesrepublik i.d.F. v. 3.8.2006; § 1 Bundesrahmen-TV Baugewerbe Bundesrepublik i.d.F. v. 20.8.2007. 6 Jacobs/Krause/Oetker, § 5 Rz. 17; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 122; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 106. 7 Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 137; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 106.
692 Stamer
Allgemeines
Rz. 23 Teil 8
schneidender Geltungsbereiche können zudem nach § 4a Abs. 2 Satz TVG ggf. aufzulösende Tarifkollisionen vermieden werden. 2. Auslegung Fehlt es an einer expliziten Regelung des Geltungsbereichs, ist dieser im Wege der 22 Auslegung zu ermitteln. Zur Auslegung von TVen werden unterschiedliche Theorien vertreten (vgl. dazu im Einzelnen Teil 3)1. Jedenfalls ist auch bei der Auslegung des Geltungsbereichs eines TVs über den reinen Tarifwortlaut hinaus der wirkliche Wille der TV-Parteien zu berücksichtigen, wie dieser in den tariflichen Normen Niederschlag gefunden hat2. Erste Anhaltspunkte für die Auslegung ergeben sich aus der Tarifzuständigkeit. Die Be- 23 fugnis zur autonomen Festlegung des Geltungsbereichs besteht wie dargelegt nur in den Grenzen der Tarifzuständigkeit (vgl. Rz. 6). Enthält ein TV also keine Bestimmungen zum Geltungsbereich, ist im Zweifel davon ausgehen, dass die tarifschließenden Parteien diesen nicht einschränken wollten und der Geltungsbereich mithin ihrer Tarifzuständigkeit entspricht3. Auch aus der Natur des TVs kann auf seinen Geltungsbereich geschlossen werden. Wurde ein FirmenTV geschlossen, sind diesem qua seiner Natur allenfalls sämtliche Betriebe des tarifschließenden Arbeitgebers, nicht aber der entsprechenden Branche unterworfen. Weitere mögliche Auslegungskriterien sind die Tarif- und Entstehungsgeschichte des TVs sowie die praktische Tarifausübung4. Überdies kann der Zusammenhang, in dem ein TV steht, bei der Auslegung helfen. Konkretisiert der fragliche TV beispielsweise einen MantelTV, kann für die Auslegung des Geltungsbereichs auf die Festlegung im MantelTV zurückgegriffen werden5. Nicht möglich ist ein solcher Rückgriff allerdings, wenn der TV gerade die Anwendbarkeit des TVs voraussetzt, dessen Geltungsbereich auszulegen ist6. Weiter kann sich der Geltungsbereich aus einem durch den späteren TV abgelösten TV ergeben7. Ob auch nach Einführung von § 4a TVG im Falle einer drohenden Tarifkollision ergänzend der Spezialitätsgrundsatz herangezogen werden kann8 mit der Folge, dass nach entsprechender Auslegung des Geltungsbereichs erst gar keine Tarifpluralität oder -konkurrenz entsteht9, ist jedenfalls dann fraglich, wenn damit das Mehrheitsprinzip in § 4a Abs. 2 TVG durchbrochen würde10. Bei selber Normurheberschaft auf Gewerkschaftsseite kann hingegen eine Subsidiarität der Kollisionsregel angenommen werden (vgl. näher Teil 9 Rz. 82 ff.). Bei Fehlen zeitlicher Bestimmungen tritt der TV im Zweifel mit seinem Abschluss in Kraft. Gesetzliche Bestimmungen über die Dauer der Tarif1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Vgl. hierzu nur ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 92 ff. m.w.N. BAG v. 18.11.2010 – 6 AZR 454/09, öAT 2011, 64. BAG v. 13.6.1957 – 2 AZR 402/54, AP Nr. 6 zu § 4 TVG Geltungsbereich. Vgl. zur Auslegung BAG v. 12.9.1984 – 4 AZR 336/82, NZA 1985, 160. BAG v. 13.6.1957 – 2 AZR 402/54, AP Nr. 6 zu § 4 TVG Geltungsbereich; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 15. BAG v. 10.6.2009 – 4 AZR 77/08, NZA 2010, 248 zur Auslegung des TVöD unter Rückgriff auf den TVÜ-VKA. So im Ergebnis auch Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 189; zur Auslegung eines ablösenden TVs vgl. auch BAG v. 14.7.2015 – 3 AZR 903/13. Vgl. dazu Jacobs/Krause/Oetker, § 5 Rz. 18; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 203 Rz. 16. Vgl. dazu BAG v. 24.3.2010 – 4 AZR 713/08, ZTR 2010, 462. Zur Regelung des Grundsatzes der Tarifeinheit nach dem Spezialitätsprinzip vgl. auch BTDrucks. 18/4062, 10.
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693
Teil 8 Rz. 24
Geltungsbereich
bindung sowie die Fortgeltung der Rechtsnormen nach Ablauf eines TVs enthalten § 3 Abs. 3 TVG bzw. § 4 Abs. 5 TVG. Mit ihrer Hilfe lässt sich der gesamte zeitliche Geltungsbereich ebenfalls durch Auslegung ermitteln. 3. Grenzen 24
Nach Art. 9 Abs. 3 GG erfolgt die Regelung zur Wahrung und Förderung der Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen vorrangig durch die Koalitionen. Der Abschluss von TVen ist wesentlicher Bestandteil der koalitionsspezifischen Betätigung. Beim Abschluss eines TVs üben die TV-Parteien ihre verfassungsrechtlich geschützte Tarifautonomie aus. Dies schließt die Befugnis zur Festlegung der Reichweite der tariflichen Geltung ein. Gleichwohl bedeutet dies nicht, dass die TV-Parteien bei der Bestimmung des Geltungsbereichs keinen Beschränkungen unterliegen. Zunächst folgt eine Beschränkung wie dargelegt aus der Tarifzuständigkeit (vgl. Rz. 6). Überdies sind die TV-Parteien an zwingendes, höherrangiges Recht gebunden. Dies umfasst nicht nur die Bindung an europäisches Primärrecht, insbesondere an Art. 157 AEUV (vgl. Rz. 85), sowie an deutsches zwingendes Arbeitnehmerschutzrecht, sondern gerade auch die Bindung an die Grundrechte. Dabei besteht die Bindung unabhängig davon, ob die TV-Parteien materielle Arbeitsbedingungen in einem TV regeln oder bestimmte Arbeitnehmergruppen nicht in den Geltungsbereich des TVs einbeziehen.
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Fraglich ist, ob die TV-Parteien in gleicher Weise wie der Gesetzgeber – also unmittelbar – an die Grundrechte gebunden sind. In Literatur und Rechtsprechung wird dies unterschiedlich bewertet (vgl. ausführlich Teil 1 Rz. 45 ff.)1. So hat der 3. Senat des BAG mehrfach entschieden, dass die TV-Parteien bei ihrer Rechtsetzung an die „zentrale Gerechtigkeitsnorm des Art. 3 Abs. 1 GG“ gebunden seien. Infolgedessen misst der 3. Senat Tarifregelungen unmittelbar an Art. 3 Abs. 1 GG und stellt darauf ab, ob die TV-Parteien im Wesentlichen gleich liegende Sachverhalte ohne sachlichen Grund unterschiedlich behandeln2. Dieser Rechtsansicht ist der 4. Senat des BAG wiederholt entgegengetreten3. Demnach sind die TV-Parteien „bis zur Grenze der Willkür“ berechtigt, in eigener Selbstbestimmung den Geltungsbereich ihrer Tarifregelungen festzulegen. Diese Grenze sei erst überschritten, wenn die Differenzierung auch im persönlichen Geltungsbereich unter keinem Gesichtspunkt, auch koalitionspolitischer Art, plausibel erklärbar sei. Auch nach Ansicht des 6. Senats sind die TV-Parteien bei der tariflichen Normsetzung nicht unmittelbar grundrechtsgebunden4. Allerdings verpflichte die Schutzpflichtfunktion der Grundrechte die Arbeitsgerichte dazu, solchen Tarifregelungen die Durchsetzung zu verweigern, die zu gleichheits- und sachwidrigen Differenzierungen führen und deshalb Art. 3 GG verletzen. Dabei soll den TV-Parteien als selbständigen Grundrechtsträgern indessen aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zukommen. Im Ergebnis kamen die Senate auch bei hilfsweiser Zugrundelegung der jeweils anderen Auffassung 1 Vgl. dazu Boemke, FS 50 Jahre BAG, 613. 2 BAG v. 7.3.1995 – 3 AZR 282/94, NZA 1996, 48; BAG v. 4.4.2000 – 3 AZR 729/98, NZA 2002, 917; BAG v. 19.3.2002 – 3 AZR 121/01, AP Nr. 53 zu § 1 BetrAVG Gleichbehandlung. 3 Bereits BAG v. 24.4.1985 – 4 AZR 457/83, NZA 1985, 602; BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 563/99, NZA 2001, 613; BAG v. 4.4.2001 – 4 AZR 232/00, NZA-RR 2002, 331; offen gelassen in BAG v. 25.6.2003 – 4 AZR 405/02, NZA 2004, 215. 4 BAG v. 18.3.2010 – 6 AZR 156/09, NZA 2010, 824; BAG v. 22.4.2010 – 6 AZR 966/08, NZA 2010, 947.
694 Stamer
Allgemeines
Rz. 28 Teil 8
zu entsprechenden Ergebnissen, weshalb eine Anrufung des Großen Senats bislang nicht erfolgt ist. Auch das BVerfG konnte die Frage nach der Reichweite der Bindung der TV-Parteien an den Gleichheitssatz bislang offenlassen1. In der Sache ist dem 6. Senat beizupflichten. Zwar gewährleistet Art. 3 Abs. 1 GG die Rechtssetzungs- und Rechtsanwendungsgleichheit2. Insofern ist zu berücksichtigen, dass die TV-Parteien normsetzend tätig werden. Andererseits sind die TV-Parteien aber selbst Grundrechtsträger und üben bei der Normsetzung ihre verfassungsrechtlich geschützte Tarifautonomie aus. Gleich welcher Auffassung man folgen mag, bleibt jedenfalls festzuhalten, dass die TV-Parteien bei der Festlegung des Geltungsbereichs u.a. den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz zu beachten haben, und zwar unabhängig davon, wie diese Verpflichtung begründet wird3. Unklar ist, ob Regelungen unterschiedlicher TVe, deren Geltungsbereichen jeweils 26 nur eine bestimmte Arbeitnehmergruppe unterliegen, nach Maßgabe des Gleichheitssatzes zu prüfen sind. Abzulehnen ist dies jedenfalls, wenn es sich um Tarifwerke unterschiedlicher TV-Parteien handelt4. Aus dem Gleichheitssatz lässt sich ein Gebot, ähnliche Sachverhalte in verschiedenen Ordnungs- und Regelungsbereichen unterschiedlicher TV-Parteien gleich zu regeln, nicht ableiten. Vielmehr setzt ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz gerade eine Differenzierung voraus, die ein- und dieselbe TV-Partei zu verantworten hat. Nur diese wäre überhaupt in der Lage, eine Gleichbehandlung verschiedener Gruppen innerhalb eines TVs herzustellen. Handelt es sich indessen um dieselben TV-Parteien, ist eine Überprüfung der Gesamtheit der tariflichen Regelung nicht schon deshalb abzulehnen, weil die entsprechenden tariflichen Vorschriften Gegenstand unabhängig geführter Tarifverhandlungen waren5. Neben dem allgemeinen Gleichheitssatz setzen weitere spezialgesetzliche Diskrimi- 27 nierungsverbote der Tarifautonomie Grenzen. So bindet § 18 Abs. 1 AGG ausdrücklich auch die TV-Parteien. Entsprechendes gilt für das Benachteiligungsverbot nach § 4 TzBfG6, das ebenfalls nicht zur Disposition der TV-Parteien steht7. Solche gesetzlichen Beschränkungen der Tarifautonomie sind auch für die Festlegung des Geltungsbereichs maßgeblich. Relevant werden diese Vorschriften insbesondere bei der Festlegung des persönlichen Geltungsbereichs (vgl. Rz. 82 ff.).
V. Gerichtliche Überprüfung Der Geltungsbereich eines TVs kann Gegenstand einer gerichtlichen Überprüfung sein. Unzulässig wäre allerdings eine Feststellungsklage einer Gewerkschaft nach
1 BVerfG v. 9.8.2000 – 1 BvR 514/00, NZA 2000, 1113. 2 Grundlegend BVerfG v. 23.10.1951 – 2 BvG 1/51, BVerfGE 1, 14; vgl. Wiedemann, Anm. zu BAG v. 17.11.1998 – 1 AZR 147/98, RdA 2000, 94 (97). 3 Thüsing/Braun/Thüsing, 1. Kap. Rz. 35 ff. 4 BAG v. 18.9.2002 – 2 AZR 537/02, ZTR 2004, 535; BAG v. 16.12.2003 – 3 AZR 668/02, NZARR 2004, 595. 5 EuGH v. 27.10.1993 – Rs. C-127/92, NZA 1994, 797; BAG v. 17.10.1995 – 3 AZR 882/94, NZA 1996, 656; BAG v. 4.4.2000 – 3 AZR 729/98, NZA 2002, 917. 6 Vgl. zur Unvereinbarkeit von § 1 Abs. 2 lit. i) TV-L Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 154. 7 Bei AltersteilzeitTVen ist eine Herausnahme geringfügig Beschäftigter möglich, vgl. BAG v. 22.2.2000 – 3 AZR 845/98, NZA 2000, 659.
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Teil 8 Rz. 29
Geltungsbereich
§ 256 ZPO über den Geltungsbereich eines TVs gegenüber einem einzelnen Arbeitgeber. Insoweit fehlt es an einem feststellungsfähigen Rechtsverhältnis1. Die Anwendbarkeit eines TVs im Arbeitsverhältnis kann hingegen Gegenstand einer Feststellungsklage sein, wenn zwischen den Arbeitsvertragsparteien Streit über den Geltungsbereich des TVs besteht2. Gegenstand eines Beschlussverfahrens nach § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG i.V.m. § 97 ArbGG ist die Feststellung der Tariffähigkeit sowie der Tarifzuständigkeit, nicht hingegen die des davon zu unterscheidenden Geltungsbereichs. Allerdings zeitigt die Entscheidung des Gerichts über die Tarifzuständigkeit ggf. nach § 9 TVG Bindungswirkung u.a. für gerichtliche Auseinandersetzungen zwischen tarifgebundenen Parteien. Die Feststellung, dass ein bestimmter Arbeitgeber dem Geltungsbereich eines TVs unterworfen ist, ist daher letztlich durch das Beschlussverfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG i.V.m. § 97 ArbGG mit der erweiterten Rechtskrafterstreckung nach § 9 TVG zu erreichen3. Inzident wird der Geltungsbereich u.a. im Falle von Leistungsklagen4 sowie bei Einwirkungsklagen gegen einen Arbeitgeberverband, gerichtet auf die Einwirkung auf einen Arbeitgeber zur Durchführung eines VerbandsTVs, geprüft. Durch das TEG wurde der Zuständigkeitenkatalog der Arbeitsgerichte für Angelegenheiten, die im Beschlussverfahren verhandelt werden, in § 2a Abs. 1 ArbGG um eine Ziff. 6 erweitert5. Demnach sind die Arbeitsgerichte nunmehr auch zuständig für die Entscheidung über den nach § 4a Abs. 2 TVG im Betrieb anwendbaren TV. Im Rahmen der Frage überschneidender Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher TVe verschiedener Gewerkschaften erfolgt ebenfalls eine Prüfung der Geltungsbereiche. Der rechtskräftige Beschluss über den nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG im Betrieb anwendbaren TV wirkt dabei nicht nur inter partes, sondern erga omnes, vgl. § 99 Abs. 3 ArbGG6.
B. Räumlicher Geltungsbereich I. Begriff 29
Der räumliche Geltungsbereich bestimmt die geographischen Grenzen, innerhalb derer der TV überhaupt nur gelten soll. Die Festlegung des räumlichen Geltungsbereichs kann das Bundesgebiet, ein Bundesland oder eine bestimmte Region, wie Bezirke, Kreise oder Orte, umfassen. Notwendig ist stets die Bestimmbarkeit des festgelegten Tarifgebiets.
30
Die räumlichen Grenzen des Geltungsbereichs können die tarifschließenden Parteien im Rahmen ihrer Tarifzuständigkeit autonom festlegen. Insbesondere können sie einzelne Orte oder Gebiete durch Nichtaufnahme in ein Orts- bzw. Gebietsverzeichnis aus dem Geltungsbereich herausnehmen. Aus dem Wirksamkeitspostulat der Tarif1 BAG v. 10.5.1989 – 4 AZR 80/89, NZA 1989, 687; zur Zulässigkeit eines Feststellungsantrags, dass ein bestimmter TV auf die bei einem bestimmten Arbeitgeber bestehenden Arbeitsverhältnisse keine Wirkung entfaltet, vgl. BAG v. 4.7.2007 – 4 AZR 491/06, NZA 2008, 307. 2 BAG v. 26.7.2001 – 8 AZR 759/00, BB 2002, 49; BAG v. 28.5.1997 – 4 AZR 663/95, NZA 1997, 1066. 3 BAG v. 10.5.1989 – 4 AZR 80/89, NZA 1989, 687. 4 Vgl. dazu BAG v. 9.4.2014 – 10 AZR 1085/12, AP Nr. 15 zu § 1 TVG Tarifverträge: Maler. 5 Vgl. dazu Tiedemann, ArbRB 2015, 124 (125). 6 Vgl. dazu Greiner, NZA 2015, 769.
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Teil 8 Rz. 29
Geltungsbereich
§ 256 ZPO über den Geltungsbereich eines TVs gegenüber einem einzelnen Arbeitgeber. Insoweit fehlt es an einem feststellungsfähigen Rechtsverhältnis1. Die Anwendbarkeit eines TVs im Arbeitsverhältnis kann hingegen Gegenstand einer Feststellungsklage sein, wenn zwischen den Arbeitsvertragsparteien Streit über den Geltungsbereich des TVs besteht2. Gegenstand eines Beschlussverfahrens nach § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG i.V.m. § 97 ArbGG ist die Feststellung der Tariffähigkeit sowie der Tarifzuständigkeit, nicht hingegen die des davon zu unterscheidenden Geltungsbereichs. Allerdings zeitigt die Entscheidung des Gerichts über die Tarifzuständigkeit ggf. nach § 9 TVG Bindungswirkung u.a. für gerichtliche Auseinandersetzungen zwischen tarifgebundenen Parteien. Die Feststellung, dass ein bestimmter Arbeitgeber dem Geltungsbereich eines TVs unterworfen ist, ist daher letztlich durch das Beschlussverfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG i.V.m. § 97 ArbGG mit der erweiterten Rechtskrafterstreckung nach § 9 TVG zu erreichen3. Inzident wird der Geltungsbereich u.a. im Falle von Leistungsklagen4 sowie bei Einwirkungsklagen gegen einen Arbeitgeberverband, gerichtet auf die Einwirkung auf einen Arbeitgeber zur Durchführung eines VerbandsTVs, geprüft. Durch das TEG wurde der Zuständigkeitenkatalog der Arbeitsgerichte für Angelegenheiten, die im Beschlussverfahren verhandelt werden, in § 2a Abs. 1 ArbGG um eine Ziff. 6 erweitert5. Demnach sind die Arbeitsgerichte nunmehr auch zuständig für die Entscheidung über den nach § 4a Abs. 2 TVG im Betrieb anwendbaren TV. Im Rahmen der Frage überschneidender Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher TVe verschiedener Gewerkschaften erfolgt ebenfalls eine Prüfung der Geltungsbereiche. Der rechtskräftige Beschluss über den nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG im Betrieb anwendbaren TV wirkt dabei nicht nur inter partes, sondern erga omnes, vgl. § 99 Abs. 3 ArbGG6.
B. Räumlicher Geltungsbereich I. Begriff 29
Der räumliche Geltungsbereich bestimmt die geographischen Grenzen, innerhalb derer der TV überhaupt nur gelten soll. Die Festlegung des räumlichen Geltungsbereichs kann das Bundesgebiet, ein Bundesland oder eine bestimmte Region, wie Bezirke, Kreise oder Orte, umfassen. Notwendig ist stets die Bestimmbarkeit des festgelegten Tarifgebiets.
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Die räumlichen Grenzen des Geltungsbereichs können die tarifschließenden Parteien im Rahmen ihrer Tarifzuständigkeit autonom festlegen. Insbesondere können sie einzelne Orte oder Gebiete durch Nichtaufnahme in ein Orts- bzw. Gebietsverzeichnis aus dem Geltungsbereich herausnehmen. Aus dem Wirksamkeitspostulat der Tarif1 BAG v. 10.5.1989 – 4 AZR 80/89, NZA 1989, 687; zur Zulässigkeit eines Feststellungsantrags, dass ein bestimmter TV auf die bei einem bestimmten Arbeitgeber bestehenden Arbeitsverhältnisse keine Wirkung entfaltet, vgl. BAG v. 4.7.2007 – 4 AZR 491/06, NZA 2008, 307. 2 BAG v. 26.7.2001 – 8 AZR 759/00, BB 2002, 49; BAG v. 28.5.1997 – 4 AZR 663/95, NZA 1997, 1066. 3 BAG v. 10.5.1989 – 4 AZR 80/89, NZA 1989, 687. 4 Vgl. dazu BAG v. 9.4.2014 – 10 AZR 1085/12, AP Nr. 15 zu § 1 TVG Tarifverträge: Maler. 5 Vgl. dazu Tiedemann, ArbRB 2015, 124 (125). 6 Vgl. dazu Greiner, NZA 2015, 769.
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Rumlicher Geltungsbereich
Rz. 34 Teil 8
zuständigkeit folgt wiederum, dass ein sich auf das gesamte Bundesgebiet erstreckender TV nur zwischen bundesweit organisierten Verbänden oder Spitzenverbänden oder als mehrgliedriger TV mit einzelnen Verbänden geschlossen werden kann, die zuständigkeitshalber das gesamte Bundesgebiet erfassen1. Die Tarifgebiete variieren von TV zu TV. TVe des öffentlichen Dienstes für Angestell- 31 te des Bundes (TVöD) gelten bundesweit, während TVe für die Angestellten der Länder (TV-L) und Kommunen naturgemäß jedenfalls auf Länderebene begrenzt sind. In der Privatwirtschaft sind die Usancen in den jeweiligen Branchen unterschiedlich. So sind regionale Grenzen in der Metall- und Elektroindustrie üblich2, während die TVe im Baugewerbe generell auf Bundesebene abgeschlossen werden3. In anderen Branchen werden wiederum je nach Art des TVs unterschiedliche Grenzen festgelegt. So werden in der chemischen Industrie MantelTVe auf Bundesebene geschlossen, während die EntgeltTVe räumlich auf Länderebene begrenzt werden. Weiterhin finden sich auch Unterscheidungen hinsichtlich „Ost“ („neue“ Bundesländer) und „West“ („alte“ Bundesländer)4. Dem räumlichen Geltungsbereich kommt nicht stets eigenständige Bedeutung zu. 32 Insbesondere im Falle eines FirmenTVs entspricht der räumliche Geltungsbereich in aller Regel dem sektoralen Geltungsbereich. Firmenbezogene VerbandsTVe können wiederum nur solche Unternehmen oder Betriebe erfassen, die überhaupt in der räumlichen Tarifzuständigkeit des Verbandes liegen.
II. Anknüpfungspunkte Die TV-Parteien können tarifautonom unterschiedliche Anknüpfungspunkte für die 33 Bestimmung des Objekts im räumlichen Geltungsbereich wählen. In Betracht kommen Unternehmenssitz, Ort des Betriebs oder Arbeitsort5. Dabei erschwert eine Anknüpfung an den Unternehmenssitz unternehmerische Gestaltungen zur Verlegung bestimmter Einheiten aus dem räumlichen Geltungsbereich eines TVs (vgl. nachfolgend Rz. 42 ff.). Grds. erfolgt die Anknüpfung für Inhalts-, Abschluss- und Beendigungsnormen eines 34 TVs sowie seine betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Normen einheitlich. Ist z.B. als Anknüpfungspunkt der Sitz des Unternehmens gewählt, gilt dies regelmäßig auch für die betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Normen. Führt die einheitliche Anknüpfung indessen zu keiner sinnvollen Anwendung des TVs, ist ergänzend der Sitz des Betriebs heranzuziehen6.
1 Vgl. hierzu BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289. 2 So z.B. der MTV zum ERA-TV für Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie in Nordwürttemberg/Nordbaden, der räumlich „für die Regierungsbezirke Nordwürttemberg/Nordbaden des Landes Baden-Württemberg, nach dem Stand vom 31. Dezember 1969“ gilt. 3 So z.B. der Bundesrahmen-TV für das Baugewerbe. 4 Zur Zulässigkeit der Differenzierung vgl. BVerfG v. 9.8.2000 – 1 BvR 514/00, NZA 2000, 1113; zu Unterscheidungen im TVöD vgl. Müller, öAT 2011, 51. 5 Zur Einordnung der Tätigkeit eines Geld- und Werttransporteurs vgl. BAG v. 26.9.2012 – 4 AZR 782/10, AP § 1 TVG Tarifverträge: Bewachungsgewerbe Nr. 25. 6 Vgl. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 134.
Stamer
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Teil 8 Rz. 35
Geltungsbereich
35
Für die Zuordnung eines Arbeitsverhältnisses zum räumlichen Geltungsbereich eines TVs ist überdies nach allgemeinen Grundsätzen der Schwerpunkt des Arbeitsverhältnisses maßgeblich. Dieser befindet sich am Erfüllungsort, d.h. an dem Ort, an dem die Leistung zu erbringen ist (vgl. § 269 BGB). Allerdings erbringen nicht sämtliche Arbeitnehmer ihre Arbeitsleistung stets an ein- und demselben Ort. Vielmehr wechseln die jeweiligen Arbeitsorte beispielsweise im Montagebereich oder bei Handlungsreisenden regelmäßig1. Denkbar ist weiter, dass ein Arbeitnehmer vorübergehend oder dauerhaft an einen anderen Arbeitsort entsendet wird. In all diesen Fällen ist der Schwerpunkt eines Arbeitsverhältnisses im Einzelfall zu prüfen. Bei dauerhafter Entsendung verlagert sich der Schwerpunkt des Arbeitsverhältnisses in aller Regel. Im Falle vorübergehender Ortsveränderungen, wie im Falle von Außenarbeiten, verbleibt der Schwerpunkt des Arbeitsverhältnisses dagegen am Sitz des Betriebes, vom dem aus der Arbeitnehmer eingesetzt wird2. Der Betrieb, von dem aus der Einsatz eines Arbeitnehmers erfolgt, ist wiederum der Betrieb oder Betriebsteil, dem der Arbeitnehmer arbeitsorganisatorisch zugeordnet ist, in dem seine Arbeitseinsätze geplant und koordiniert werden, von dem aus er tätig wird und von dem er Weisungen für seine tägliche Arbeit erhält3. Diese Koordination kann aus dem Hauptbetrieb oder aber aus einer Zweigorganisation, beispielsweise einem Nebenbetrieb, heraus erfolgen. Welche Anforderungen eine solche Zweigorganisation erfüllen muss, um Anknüpfungspunkt für die Bestimmung des räumlichen Geltungsbereichs zu sein, wird unterschiedlich beurteilt4. Das BAG stellt insoweit auf die „organisatorische Steuerung“ des Arbeitseinsatzes ab. Hierfür bedarf es eines Mindestmaßes an organisatorischer Selbständigkeit der Zweigstelle, wobei die Zweigstelle das Direktionsrecht des Arbeitgebers ausüben muss. Stellt die Zweigstelle dagegen lediglich eine untergeordnete, unselbständige Arbeitsstätte dar und erhält der Arbeitnehmer Weisungen weiterhin vom „Hauptbetrieb“, liegt der Schwerpunkt des Arbeitsverhältnisses an der Hauptbetriebsstätte, mit der Folge, dass das Arbeitsverhältnis dem räumlichen Geltungsbereich des dort geltenden TVs unterfällt5. Diese Grundsätze gelten dabei allgemein. Soweit es sich also bei Zweigorganisationen oder Betriebsstätten um selbständige organisatorische Einheiten handelt, die Arbeitgeberfunktionen ausüben, sind solche Zweigniederlassungen und Betriebsstätten nicht vom räumlichen Geltungsbereich des Stammbetriebs erfasst6 (vgl. auch Rz. 51 ff.).
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Fraglich ist die räumliche Geltung im Falle von Veränderungen des Arbeitsorts bei „Ost-“ und „West-TVen“. Nach § 38 Abs. 1 Buchst. a TVöD gelten die Regelungen für das Tarifgebiet Ost für die Beschäftigten, deren Arbeitsverhältnis im Beitrittsgebiet „begründet worden ist und bei denen der Bezug des Arbeitsverhältnisses zu diesem Gebiet fortbesteht“7. Wird ein Arbeitnehmer, der grds. in den „neuen“ Bun-
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Zu den Besonderheiten im AEntG vgl. Rz. 40. Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 163; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 117. BAG v. 25.6.1998 – 6 AZR 475/96, NZA 1999, 274. Vgl. LAG Düsseldorf v. 23.8.1956 – 3 Sa 275/56, n.v.; LAG Niedersachsen v. 3.4.1981 – 9 Sa 134/80, n.v. 5 BAG v. 25.6.1998 – 6 AZR 475/96, NZA 1999, 274; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 17 III 3 a (S. 744); Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 140. 6 Vgl. Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 163; Thüsing/Braun/Wißmann, 4. Kap. Rz. 177; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 129. 7 Vgl. dazu auch die frühere Regelung in § 1 Abs. 1 BAT-O.
698 Stamer
Rumlicher Geltungsbereich
Rz. 38 Teil 8
desländern unter dem Geltungsbereich eines Ost-TVs beschäftigt ist, vorübergehend in eine Betriebsstätte im Tarifgebiet West entsendet, wird unterschiedlich beurteilt, welchem räumlichen Geltungsbereich das Arbeitsverhältnis zuzuordnen ist. Nach soweit ersichtlich überwiegender Auffassung ist auch dies eine Frage interlokalen Tarifrechts, mit der Folge, dass der Schwerpunkt des Arbeitsverhältnisses ebenfalls ausschlaggebend ist1. Zur Weitergeltung der Vorgängerregelung des TVöD war nach Ansicht des BAG bei einer vorübergehenden Entsendung eines Angestellten, dessen Arbeitsverhältnis im Beitrittsgebiet (BAT-O) begründet war, in das Tarifgebiet West (BAT) auf den Zweck der Tätigkeit im Geltungsbereich des BAT abzustellen2. Diese Grundsätze sind auf einen Wechsel vom Tarifgebiet Ost zum Tarifgebiet West im TVöD bzw. TV-L entsprechend anwendbar3. Entsendet ein Bauunternehmen einen Bauarbeiter vorübergehend zum Arbeitseinsatz 37 ins Ausland und treffen die Parteien für diesen Einsatz keine Vergütungsregelung, beurteilt sich nach Ansicht des BAG die Frage, ob als übliche Vergütung nach § 612 BGB der Mindestlohn Ost oder der Mindestlohn West zu zahlen ist, nach dem Einstellungsort4.
III. Tarifverträge mit Auslandsberührung Für arbeitsvertragliche Sachverhalte außerhalb der Bundesrepublik Deutschland stellt 38 sich regelmäßig die Frage nach der Geltung inländischer TVe im Ausland und nach der Zulässigkeit der Erstreckung des Geltungsbereichs auf Sachverhalte mit Auslandsbezug. Einige Gewerkschaften haben auf den Trend zur Internationalisierung von Arbeitsverhältnissen reagiert und ihre satzungsgemäße Tarifzuständigkeit ausdrücklich auf Arbeitsverhältnisse mit Auslandsbezug erweitert5. Im Zweifel ist durch Auslegung zu ermitteln, ob die tariflichen Regelungen auch für im Ausland tätige Arbeitnehmer gelten. Die Anwendung inländischer TVe ist jedenfalls dann möglich, wenn ein inländischer Arbeitnehmer nur vorübergehend ins Ausland entsandt wurde6. Fraglich ist dagegen, ob eine Erstreckung über die Bundesgrenzen hinaus auch dann möglich ist, wenn auf das Arbeitsverhältnis deutsches Recht keine Anwendung findet. Dies ist abzulehnen7, vielmehr hat zwingendes ausländisches Recht Vorrang vor inländischen tariflichen Regelungen (zu den Besonderheiten im Anwendungsbereich des AEntG vgl. Rz. 40)8.
1 2 3 4 5 6
Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 127. BAG v. 20.3.1997 – 6 AZR 10/96, NZA 1998, 108. Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 226. BAG v. 20.4.2011 – 5 AZR 171/10, NZA 2011, 1173. Vgl. beispielweise § 3 Nr. 2 ver.di-Satzung i.d.F. v. 14.3.2012. BAG v. 20.4.2011 – 5 AZR 171/10, NZA 2011, 1173; BAG v. 20.6.2007 – 10 AZR 302/06, NZARR 2008, 24. 7 BAG v. 20.8.2003 – 5 AZR 362/02, NZA 2004, 1295; BAG v. 9.7.2003 – 10 AZR 593/02, NZA 2003, 1424; a.A. Däubler/Deinert, Einl. Rz. 621 ff.; Hergenröder, AR-Blattei SD. 1550.5 Rz. 111 m.w.N. 8 Vgl. BAG v. 11.9.1991 – 4 AZR 71/91, NZA 1992, 321; ErfK/Schlachter, Art. 9 Rom-I-VO Rz. 34; Hergenröder, AR-Blattei SD. 1550.15 Rz. 115; Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, VO (EG) 593/2008, Art. 8 Rz. 49.
Stamer
699
Teil 8 Rz. 39 39
Geltungsbereich
Eine Besonderheit besteht im Seearbeitsrecht. Fährt ein Schiff unter Bundesflagge, folgt hieraus nicht zwingend die Anwendbarkeit deutschen Rechts und insbesondere inländischer TVe für sämtliche Heuerverhältnisse. Nach § 21 Abs. 4 Satz 1 FlRG unterliegen vielmehr Heuerverhältnisse von Besatzungsmitgliedern eines im Internationalen Seeschifffahrtsregister eingetragenen Kauffahrteischiffes, die im Inland keinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt haben, bei der Anwendung von Art. 8 Rom-IVO1 vorbehaltlich anderer Rechtsvorschriften der Europäischen Union nicht schon aufgrund der Tatsache, dass das Schiff unter Bundesflagge fährt, dem deutschen Recht. Infolgedessen finden auch geltende inländische TVe auf diese Heuerverhältnisse nicht ohne weiteres Anwendung. Werden für solche Heuerverhältnisse von ausländischen Gewerkschaften TVe abgeschlossen, haben diese nach § 21 Abs. 4 Satz 2 FlRG nur dann die im TVG genannten Wirkungen, wenn für sie die Anwendung des im Geltungsbereich des Grundgesetzes geltenden Tarifrechts sowie die Zuständigkeit der deutschen Gerichte vereinbart worden ist.
IV. Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG) 40
Die Wirkung von Rechtsnormen eines TVs ist nicht notwendig auf Arbeitsverhältnisse mit inländischen Arbeitgebern beschränkt. Ihre Geltung kann vielmehr unter bestimmten Voraussetzungen auf Arbeitsverhältnisse mit Arbeitgebern, die ihren Sitz im Ausland haben, erstreckt werden. Eine solche Erstreckung erfolgt unter den Voraussetzungen des AEntG zur „Schaffung und Durchsetzung angemessener Mindestarbeitsbedingungen“ (§ 1 AEntG). Voraussetzung für die Anwendbarkeit inländischer TVe auf Arbeitsverhältnisse mit Arbeitgebern mit Sitz im Ausland ist zunächst, dass der räumliche Geltungsbereich des fraglichen TVs das gesamte Bundesgebiet umfasst, § 3 Satz 1 Halbs. 1 AEntG. Der räumliche Geltungsbereich darf also nicht auf einzelne Regionen, Bezirke o.Ä. beschränkt sein. Eine Abweichung hiervon schreibt § 3 Satz 2 AEntG für bestimmte tarifvertragliche Regelungen fest, wenn insgesamt das Bundesgebiet abgedeckt wird. Schließlich muss der TV nach § 5 TVG für allgemeinverbindlich erklärt worden sein oder eine Rechtsverordnung nach § 7 oder § 7a AEntG vorliegen2, § 3 Satz 1 Halbs. 2 AEntG. Da § 3 AEntG eine Erweiterung zu § 5 TVG darstellt, gelten hinsichtlich der Erstreckung auf Arbeitsverhältnisse mit Arbeitgebern mit Sitz im Ausland die Grundsätze zu § 5 TVG3. Mithin muss über den Wortlaut des § 3 AEntG hinaus auch der Geltungsbereich des allgemeinverbindlichen TVs eröffnet sein. Der im Inland beschäftigte Arbeitnehmer muss insbesondere dem persönlichen und sektoralen Geltungsbereich unterfallen. Nur wenn der Arbeitnehmer in einer der in § 4 AEntG genannten Branchen tätig ist, kommt eine Erstreckung der tariflichen Arbeitsbedingungen nach dem AEntG in Betracht4.
1 Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.6.2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht. 2 Vgl. dazu BT-Drucks. 18/1558, 20. 3 Zur Besonderheit der fehlenden Nachwirkung BAG v. 20.4.2011 – 4 AZR 467/09, NZA 2011, 1105. 4 Bayreuther, DB 2009, 678; Oetker, NZA-Beilage 1/2010, 13.
700 Stamer
Rumlicher Geltungsbereich
Rz. 43 Teil 8
V. Normen über gemeinsame Einrichtungen Keine unmittelbare Bedeutung hat der räumliche Geltungsbereich eines TVs für ge- 41 meinsame Einrichtungen. Auf ihren Sitz kommt es folglich nicht an. Für die Wirkung eines TVs ist vielmehr ausreichend, wenn durch ihn eine gemeinsame Einrichtung geschaffen wird oder aber die Rechtsbeziehungen einer gemeinsamen Einrichtung geregelt werden. Der räumliche Geltungsbereich eines TVs ist bei gemeinsamen Einrichtungen allerdings indirekt relevant, weil normunterworfen nur diejenigen sein können, die unter den räumlichen Geltungsbereich des entsprechenden TVs fallen1.
VI. Ausscheiden aus dem räumlichen Geltungsbereich Verändern sich nach einer Anknüpfung des räumlichen Geltungsbereichs an Regio- 42 nen oder Bezirke die Grenzen des Tarifgebiets, hat dies auf den räumlichen Geltungsbereich während der Laufzeit des TVs grds. keine Auswirkung. Maßgeblich sind vielmehr die Grenzen zum Zeitpunkt des Abschlusses des TVs. Die Anknüpfung an eine bestimmte Region oder dergleichen stellt damit eine statische Verweisung im TV dar2. Anderes gilt nur, wenn die TV-Parteien eine anderweitige ausdrückliche Regelung vereinbart haben. Von den Änderungen der für den räumlichen Geltungsbereich maßgeblichen Gebiets- 43 grenzen ist die Fallkonstellation des „Herauswachsens“ eines Unternehmens oder einzelner Betriebsstätten aus dem räumlichen Geltungsbereich eines TVs infolge von Sitzverlegung und Standortschließung zu unterscheiden. Die Folgen solcher Vorgänge sind umstritten. Teilweise wird eine Analogie zur zeitlichen Geltung der Tarifgebundenheit nach § 3 Abs. 3 TVG befürwortet, mithin, dass der TV bis zu seiner Beendigung weiterhin normative Anwendung findet3. Nach zutreffender Ansicht kommt lediglich Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG in Betracht (vgl. zur Nachwirkung im Einzelnen Teil 9 Rz. 21 ff.; zu den Besonderheiten bei arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln vgl. Teil 10)4. § 3 Abs. 3 TVG vermag lediglich für einen bestimmten Zeitraum über eine fehlende Verbandsmitgliedschaft des Arbeitgebers hinwegzuhelfen. Für den Fall des Ausscheidens eines Unternehmens oder Betriebs aus dem räumlichen Geltungsbereich ist § 3 Abs. 3 TVG indessen mangels Regelungslücke nicht anwendbar5. Infolgedessen müssen nach Ausscheiden eines Unternehmens oder Betriebs aus dem räumlichen Geltungsbereich u.U. auch die Mehrheitsverhältnisse nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG neu bewertet werden oder aber eine so aufzulösende frü-
1 Vgl. Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 216; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 134. 2 Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 160; Kittner/Zwanziger/Deinert, § 8 Rz. 326. Vgl. auch den MTV zum ERA-TV für Beschäftigte der Metall- und Elektroindustrie in Nordwürttemberg/ Nordbaden, der räumlich für die Regierungsbezirke Nordwürttemberg/Nordbaden des Landes Baden-Württemberg „nach dem Stand vom 31. Dezember 1969“ gilt. 3 Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 219. 4 ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 60; Frölich, NZA 1992, 1105 (1108); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 17 III 2 (S. 745); Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 203 Rz. 10; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 133; vgl. dazu auch BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225. 5 So ausdrücklich BAG v. 13.7.1994 – 4 AZR 555/93, NZA 1995, 479; BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 193/97, NZA 1998, 488.
Stamer
701
Teil 8 Rz. 44
Geltungsbereich
here Tarifkollision entfällt durch das Ausscheiden aus dem räumlichen Geltungsbereich (vgl. auch Rz. 57 ff.). 44
Ist mit einer Standortverlagerung zugleich ein Überwechseln in den räumlichen Geltungsbereich eines anderen TVs verbunden, müssen für die Anwendung dieses neuen TVs neben der Eröffnung seines räumlichen Geltungsbereichs die weiteren Voraussetzungen, insbesondere beiderseitige Tarifgebundenheit oder Allgemeinverbindlicherklärung, erfüllt sein (zu den Besonderheiten bei arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln vgl. Teil 10). Zudem sind die Auswirkungen im Rahmen von § 4a TVG zu prüfen (vgl. Rz. 43 und 57 ff.).
C. Sektoraler Geltungsbereich (Branche) I. Begriff 45
Die Anknüpfung an die Branche für den sektoralen Geltungsbereich hat ihren Grund in der bislang vorherrschenden Organisation von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden nach Wirtschaftszweigen und Branchen (Industrieverbandsprinzip), also nicht nach Berufsfeldern (Berufsverbandsprinzip). In den vergangenen Jahren haben indessen Anzahl und Bedeutung von Gewerkschaften, deren Mitglieder einer bestimmten Berufsgruppe angehören, zugenommen1. 1. Abgrenzung zum fachlichen Geltungsbereich
46
In Abgrenzung zum fachlichen Geltungsbereich legt der sektorale Geltungsbereich die Branche bzw. den Wirtschaftssektor fest, dessen Betriebe oder Unternehmen dem Geltungsbereich des TVs unterworfen sein sollen. Die Anknüpfung betrifft also – untechnisch formuliert – den Arbeitgeber. Auf die Art der von den einzelnen Arbeitnehmern konkret verrichteten Arbeiten kommt es dagegen an dieser Stelle nicht an. Erst im Rahmen der Beurteilung des fachlichen Geltungsbereichs sind Merkmale relevant, die an die Tätigkeit der Arbeitnehmer anknüpfen und innerhalb eines Betriebes zu Differenzierungen zwischen einzelnen Beschäftigtengruppen führen können. 2. Abgrenzung zum persönlichen Geltungsbereich
47
Häufig knüpft der Geltungsbereich eines TVs an die Mitgliedschaft in einem bestimmten Arbeitgeberverband an (vgl. nachfolgend Rz. 79)2. Diese Beschränkung betrifft indessen eher den persönlichen als den sektoralen Geltungsbereich. Entsprechendes gilt für die explizite Herausnahme einzelner Betriebe oder Unternehmen eines verbandsangehörigen Arbeitgebers aus dem Geltungsbereich eines TVs oder einzelner tariflicher Regelungen, beispielsweise durch „Kleinbetriebs- oder Mittelstands-
1 Z.B. Unabhängige Flugbegleiter Organisation e.V. (UFO), Vereinigung Cockpit e.V., Gewerkschaft der Lokführer (GdL), Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF). 2 So z.B. der MTV zum ERA-TV für Beschäftigte in der Metall- und Elektroindustrie in Nordwürttemberg/Nordbaden, der „fachlich und sachlich“ „für alle Betriebe gilt, die selbst oder deren Inhaber Mitglied des Verbands der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg e.V., Stuttgart, sind (und den ERA-TV eingeführt haben)“.
702 Stamer
Teil 8 Rz. 44
Geltungsbereich
here Tarifkollision entfällt durch das Ausscheiden aus dem räumlichen Geltungsbereich (vgl. auch Rz. 57 ff.). 44
Ist mit einer Standortverlagerung zugleich ein Überwechseln in den räumlichen Geltungsbereich eines anderen TVs verbunden, müssen für die Anwendung dieses neuen TVs neben der Eröffnung seines räumlichen Geltungsbereichs die weiteren Voraussetzungen, insbesondere beiderseitige Tarifgebundenheit oder Allgemeinverbindlicherklärung, erfüllt sein (zu den Besonderheiten bei arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln vgl. Teil 10). Zudem sind die Auswirkungen im Rahmen von § 4a TVG zu prüfen (vgl. Rz. 43 und 57 ff.).
C. Sektoraler Geltungsbereich (Branche) I. Begriff 45
Die Anknüpfung an die Branche für den sektoralen Geltungsbereich hat ihren Grund in der bislang vorherrschenden Organisation von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden nach Wirtschaftszweigen und Branchen (Industrieverbandsprinzip), also nicht nach Berufsfeldern (Berufsverbandsprinzip). In den vergangenen Jahren haben indessen Anzahl und Bedeutung von Gewerkschaften, deren Mitglieder einer bestimmten Berufsgruppe angehören, zugenommen1. 1. Abgrenzung zum fachlichen Geltungsbereich
46
In Abgrenzung zum fachlichen Geltungsbereich legt der sektorale Geltungsbereich die Branche bzw. den Wirtschaftssektor fest, dessen Betriebe oder Unternehmen dem Geltungsbereich des TVs unterworfen sein sollen. Die Anknüpfung betrifft also – untechnisch formuliert – den Arbeitgeber. Auf die Art der von den einzelnen Arbeitnehmern konkret verrichteten Arbeiten kommt es dagegen an dieser Stelle nicht an. Erst im Rahmen der Beurteilung des fachlichen Geltungsbereichs sind Merkmale relevant, die an die Tätigkeit der Arbeitnehmer anknüpfen und innerhalb eines Betriebes zu Differenzierungen zwischen einzelnen Beschäftigtengruppen führen können. 2. Abgrenzung zum persönlichen Geltungsbereich
47
Häufig knüpft der Geltungsbereich eines TVs an die Mitgliedschaft in einem bestimmten Arbeitgeberverband an (vgl. nachfolgend Rz. 79)2. Diese Beschränkung betrifft indessen eher den persönlichen als den sektoralen Geltungsbereich. Entsprechendes gilt für die explizite Herausnahme einzelner Betriebe oder Unternehmen eines verbandsangehörigen Arbeitgebers aus dem Geltungsbereich eines TVs oder einzelner tariflicher Regelungen, beispielsweise durch „Kleinbetriebs- oder Mittelstands-
1 Z.B. Unabhängige Flugbegleiter Organisation e.V. (UFO), Vereinigung Cockpit e.V., Gewerkschaft der Lokführer (GdL), Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF). 2 So z.B. der MTV zum ERA-TV für Beschäftigte in der Metall- und Elektroindustrie in Nordwürttemberg/Nordbaden, der „fachlich und sachlich“ „für alle Betriebe gilt, die selbst oder deren Inhaber Mitglied des Verbands der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg e.V., Stuttgart, sind (und den ERA-TV eingeführt haben)“.
702 Stamer
Sektoraler Geltungsbereich (Branche)
Rz. 50 Teil 8
klauseln“ oder ErgänzungsTVe1. Auf diese Weise können ggf. auch nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG aufzulösende Tarifkollisionen vermieden werden2.
II. Anknüpfungspunkte Der sektorale Geltungsbereich kann an verschiedene Zuordnungsobjekte anknüpfen. 48 Typischerweise erfolgt eine Anknüpfung an eine Einheit, und zwar in aller Regel den Betrieb. Gleichwohl können die TV-Parteien im Rahmen ihrer Tarifautonomie auch das Unternehmen oder gar einen Konzern als maßgeblichen Bezugspunkt wählen. Nach Auffassung des BAG ist selbst die Erstreckung des sektoralen Geltungsbereichs auf branchenfremde Betriebe zulässig3. Die TV-Parteien können auf eine sektorale Beschränkung der Tarifgeltung auch ganz verzichten, indem sie etwa auf sämtliche Mitgliedsunternehmen des tarifschließenden Arbeitgeberverbands abstellen4. Haben die TV-Parteien keinen Anknüpfungspunkt ausdrücklich gewählt, ist im Zweifel der Betrieb das maßgebliche Zuordnungsobjekt. Eine Betriebsbezogenheit schreibt auch § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG hinsichtlich des dort festgelegten Mehrheitsprinzips als Kollisionsregel fest5. Den tarifschließenden Parteien ist es unbenommen, einen von den Begrifflichkeiten 49 des KSchG sowie des BetrVG abweichenden Betriebsbegriff zu wählen und beispielsweise Betriebsabteilungen als selbständige Betriebe im Sinne des TVs anzusehen. Gleichermaßen können die TV-Parteien einzelne Tätigkeitsfelder von Einheiten explizit aus dem Geltungsbereich herausnehmen oder an diese anknüpfen6. 1. Betrieb Knüpft der Geltungsbereich an den Betriebsbegriff an, ohne diesen eigenständig zu de- 50 finieren, ist auf den arbeitsrechtlichen Betriebsbegriff zurückzugreifen. Danach ist ein Betrieb eine organisatorische Einheit, innerhalb derer ein Unternehmer allein oder mit seinen Beschäftigten mit Hilfe technischer und immaterieller Mittel bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt7. Für die Beurteilung des sektoralen Geltungsbereichs ist der arbeitstechnische Zweck des Betriebs maßgeblich8. Ob eigens geschaffene betriebsverfassungsrechtliche Organisationseinheiten, die nach § 3 Abs. 5 BetrVG als Betriebe im Sinne des BetrVG gelten, auch bei der Beurteilung des sektoralen Geltungsbereichs eines TVs als Betrieb anzusehen sind, ist ggf. durch Auslegung zu ermitteln. Im Falle der Tarifkollision gilt nach § 4a Abs. 2 Satz 3 1 Zur Zulässigkeit vgl. BAG v. 14.3.2001 – 4 AZR 161/00, BB 2001, 2654; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 199; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 17 III 3 a (S. 745); Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 828 f. 2 Vgl. dazu Greiner, NZA 2015, 769 (771). 3 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 193/97, NZA 1998, 488; allerdings ist auch insoweit die Tarifzuständigkeit zu beachten; dazu auch BAG v. 15.11.2006 – 10 AZR 665/05, NZA 2007, 448. 4 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 193/97, NZA 1998, 488. 5 Vgl. dazu Greiner, NZA 2015, 769. 6 Z.B. Tarifbereiche des Glas- und Gebäudereinigungshandwerks; vgl. dazu näher Wiedemann/ Wank, § 4 TVG Rz. 140. 7 Richardi/Richardi, § 1 BetrVG Rz. 16 ff. 8 Vgl. dazu BAG v. 9.4.2014 – 10 AZR 1085/12, AP Nr. 15 zu § 1 TVG Tarifverträge: Maler.
Stamer
703
Teil 8 Rz. 51
Geltungsbereich
TVG als Betrieb auch ein durch TV nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BetrVG errichteter Betrieb, soweit dies nicht den Zielen des § 4a Abs. 1 TVG offensichtlich entgegensteht. Dies soll wiederum nach § 4a Abs. 2 Satz 5 TVG insbesondere dann der Fall sein, wenn die zusammengefassten Betriebe von den TV-Parteien unterschiedlichen Wirtschaftszweigen oder deren Wertschöpfungsketten zugeordnet worden sind (vgl. auch Teil 9 Rz. 117 ff.). In jedem Fall ist die Frage der Geltung von TVen bei der Schaffung solcher Organisationseinheiten stets sorgfältig zu berücksichtigen1. 51
Knüpft der Geltungsbereich des TVs an den Betrieb an, waren damit bislang grds. auch unselbständige Betriebsabteilungen und Hilfsbetriebe dem tarifvertraglichen Geltungsbereich unterworfen. Mangels ausdrücklicher anderweitiger Regelung im TV ergab sich dies aus einer Auslegung regelmäßig selbst für branchenfremde selbständige Betriebsabteilungen, Hilfs- oder Nebenbetriebe, wobei die satzungsmäßige Tarifzuständigkeit zu berücksichtigen war2. Infolgedessen waren dem Geltungsbereich des für den Hauptbetrieb maßgeblichen TVs häufig auch die berufsfremden Arbeitnehmer unterworfen, die in einem Hilfs- oder Nebenbetrieb beschäftigt sind3.
52
Probleme bereitet die Bestimmung des sektoralen Geltungsbereichs u.U. auch im Falle von Betrieben, in denen unterschiedliche Arbeiten ausgeführt werden. Werden in solchen Betrieben voneinander abweichende arbeitstechnische Zwecke verfolgt, die unterschiedlichen Branchen zuzuordnen sind, handelt es sich um sog. Mischbetriebe. Dabei ist ohne Belang, ob diese verschiedenen Zwecke durch ein- und dieselbe oder durch voneinander getrennte Tätigkeiten verfolgt werden. Für die Beurteilung des sektoralen Geltungsbereichs solcher Mischbetriebe war bislang der Zweck, der dem Betrieb überwiegend das Gepräge gibt, ausschlaggebend4. Überschneidet sich der Geltungsbereich mehrerer TVe, war in Mischbetrieben, in denen Tätigkeiten verschiedener Fachrichtung verrichtet werden, bisher derjenige TV maßgebend, der der überwiegenden Arbeitszeit der Arbeitnehmer entsprach. Wirtschaftliche Kriterien wie Umsatz oder Gewinn waren bei der Bestimmung des überwiegenden Betriebszwecks dagegen irrelevant5. Wiederum war unter Berücksichtigung der Auffassung der TV-Parteien auch maßgebend, von welcher Branche bzw. von welchem Gewerbe die in Frage stehenden Tätigkeiten üblicherweise, d.h. nach dem allgemeinen Sprachgebrauch und der allgemeinen Verkehrsauffassung, verrichtet werden6.
53
Fraglich ist, ob die dargestellten Grundsätze hinsichtlich Neben- und Hilfsbetrieben sowie Mischbetrieben auch nach Inkrafttreten des TEG aufrechterhalten werden können. Anhaltspunkte hierfür gibt die Regelung in § 4a Abs. 2 Satz 4 TVG, wonach im Falle einer Tarifkollision als Betrieb selbst ein Betrieb nach § 1 Abs. 1 Satz 2 BetrVG und ein durch TV nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BetrVG errichteter Betrieb gilt, es sei 1 Zur Tarifkonkurrenzauflösung bei Zuordnungstarifverträgen vgl. Wendeling-Schröder, NZA 2015, 525. 2 BAG v. 15.11.2006 – 10 AZR 665/05, NZA 2007, 448; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 17; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 187. 3 So bereits BAG v. 31.3.1955 – 2 AZR 84/53, AP Nr. 1 zu § 4 TVG Geltungsbereich. 4 Vgl. grundlegend BAG v. 5.9.1990 – 4 AZR 59/90, NZA 1991, 202. 5 St. Rspr., vgl. nur BAG v. 14.12.2011 – 10 AZR 570/10, NJOZ 2012, 775; BAG v. 1.9.2009 – 10 AZR 593/08, AP Nr. 310 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG v. 15.11.2006 – 10 AZR 637/05, NZA-RR 2007, 280. 6 Vgl. etwa die in Anlage 1 Punkt 2 der Satzung des DGB, Stand Mai 2014, niedergelegten Kriterien zur Organisationsabgrenzung.
704 Stamer
Sektoraler Geltungsbereich (Branche)
Rz. 55 Teil 8
denn, dies steht den Zielen des § 4a Abs. 1 TVG offensichtlich entgegen. Dies soll wiederum nach § 4a Abs. 2 Satz 5 TVG insbesondere dann der Fall sein, wenn die zusammengefassten Betriebe von den TV-Parteien unterschiedlichen Wirtschaftszweigen oder deren Wertschöpfungsketten zugeordnet worden sind. Damit soll der in § 4a Abs. 2 TVG zugrunde gelegte Betriebsbegriff nach dem Willen des Gesetzgebers also grds. deckungsgleich mit dem Betriebsbegriff des BetrVG sein1. Dies spricht dafür, bei der Beurteilung der Frage sich überschneidender Geltungsbereiche unselbständige wie selbständige Hilfs- und Nebenbetriebe weiterhin als zum Hauptbetrieb zugehörig zu behandeln mit der Folge, dass für die Beurteilung ausschließlich der Zweck des Hauptbetriebs entscheidend ist, Hilfs- und Nebenbetriebe insoweit also außer Betracht zu bleiben haben. Wenn nämlich der Gesetzgeber selbst für Betriebe nach § 1 Abs. 1 Satz 2 BetrVG (vgl. Rz. 55 ff.), die überdies von unterschiedlichen Rechtsträgern gehalten werden, den Grundsatz der einheitlichen Betrachtung festschreibt, muss dies erst Recht für Hilfs- und Nebenbetriebe des Hauptbetriebs ein und desselben Rechtsträgers gelten, zumal das Abstellen auf den betrieblichen Hauptzweck stets Ausdruck des Selbstverständnisses der Koalitionen in Deutschland war. So ist das Prinzip „Ein Betrieb, eine Gewerkschaft“ beispielsweise in der Satzung des DGB verankert2. Auf dieser Grundlage können die Tarifpartner im Rahmen von § 4a Abs. 2 Satz 4 und 5 TVG unterdessen weiterhin tarifautonom festlegen, ob Arbeitsstätten, die einen anderen als den Zweck des Hauptbetriebs verfolgen, unter den sektoralen Geltungsbereich eines TVs fallen oder nicht3. Auf Grundlage der dargestellten Erwägungen wären auch für die Beurteilung der Frage, welchem TV ein Mischbetrieb unterfällt, die hergebrachten Grundsätze weiterhin maßgeblich (vgl. auch Teil 9 Rz. 89). 2. Unternehmen Der sektorale Geltungsbereich kann nicht nur an den Betrieb anknüpfen, sondern auch das Unternehmen als Ganzes als Zuordnungsobjekt wählen. Wie bei der Anknüpfung an den Betrieb ist auch insoweit der hauptsächliche Zweck maßgeblich für die Beurteilung des Geltungsbereichs. Begrifflich kommt es hierbei auf den durch das Unternehmen verfolgten wirtschaftlichen Zweck an, der arbeitstechnische Zweck wird in den Betrieben verfolgt. Insoweit kann auf die vorstehenden Ausführungen verwiesen werden (vgl. Rz. 52 und 53).
54
3. Gemeinschaftsunternehmen, Gemeinschaftsbetrieb Besonderheiten können bei der Beurteilung des sektoralen Geltungsbereichs im Falle 55 von Gemeinschaftsunternehmen und Gemeinschaftsbetrieben bestehen. Ein Gemeinschaftsunternehmen wird von mehreren Rechtsträgern gehalten4. Für die Beurteilung des Geltungsbereichs eines TVs im Gemeinschaftsunternehmen gelten die dargestellten Grundsätze, wonach auf den Hauptzweck des Betriebs bzw. Unternehmens abzustellen ist. Dabei erfolgt eine von den Unternehmenszwecken der Rechtsträger unabhängige Beurteilung. 1 Scholz/Lingemann/Ruttloff, NZA-Beilage 3/2015, 8; hiervon geht der Gesetzgeber ohne nähere Begründung aus, vgl. BR-Drucks. 635/14, 11 und BT-Drucks. 18/4062, 13. 2 Satzung des DGB, Stand Mai 2014. 3 Siehe dazu Greiner, NZA 2015, 769 (771). 4 Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 270; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 158.
Stamer
705
Teil 8 Rz. 56 56
Geltungsbereich
Ein Gemeinschaftsbetrieb wird von mehreren Rechtsträgern geführt. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG liegt ein solcher gemeinsamer Betrieb mehrerer Unternehmen vor, wenn die in einer Betriebsstätte vorhandenen materiellen und immateriellen Betriebsmittel für den oder die verfolgten arbeitstechnischen Zwecke zusammengefasst geordnet und gezielt eingesetzt werden und der Einsatz der menschlichen Arbeitskraft von einem einheitlichen Leitungsapparat gesteuert wird1. Eine Vermutungsregelung enthält § 1 Abs. 2 BetrVG, wobei das Vorliegen der genannten Voraussetzungen für den Bereich des BetrVG zur gesetzlichen Fiktion eines Gemeinschaftsbetriebs führt, der den Nachweis der Führungsvereinbarung entbehrlich macht2. Beim Gemeinschaftsbetrieb sind die für Mischbetriebe dargestellten Grundsätze nicht ohne weiteres übertragbar. Dies folgt bereits daraus, dass in einem Gemeinschaftsbetrieb nicht notwendigerweise unterschiedliche arbeitstechnische Zwecke verfolgt werden. Zudem sind an dem Gemeinschaftsbetrieb unterschiedliche Rechtsträger beteiligt, die unter Umständen an unterschiedliche TVe tarifgebunden nach § 3 TVG sind. Auch dies entspricht nicht der Situation bei Mischbetrieben eines Arbeitgebers3. Wenn aber im Falle unterschiedlicher Tarifbindung im Gemeinschaftsbetrieb zweier Arbeitgeber nur derjenige TV zur Anwendung käme, dessen sektoraler Geltungsbereich dem Gepräge des Betriebes entspricht, führte dies dazu, dass dem Geltungsbereich nach nur ein TV verbleibt, an den indessen nicht beide Arbeitgeber tarifgebunden wären. Mangels Tarifbindung des Arbeitgebers könnte dieser „speziellere“ TV für die Arbeitnehmer des anderen Arbeitgebers grds. keine normative Wirkung entfalten. Infolgedessen müssen im Gemeinschaftsbetrieb ggf. unterschiedliche TVe gelten, wobei sich in der Folge die Frage stellt, wie dabei mit betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Normen zu verfahren ist. Dies ist umstritten. Teilweise wird ein Fall der Tarifkonkurrenz angenommen4, teilweise ein Fall der „alternativen Normenhäufung“, mit der Folge, dass jeder der am Gemeinschaftsbetrieb beteiligten Arbeitgeber die Betriebsnormen des TVs einzuhalten hat, dessen Geltungsbereich er unterworfen und an den er tarifgebunden ist5. Für den Fall der Tarifkollision gilt nach § 4a Abs. 2 Satz 4 TVG als Betrieb nunmehr auch ein Betrieb nach § 1 Abs. 1 Satz 2 BetrVG, soweit dies nicht den Zielen des § 4a Abs. 1 TVG offensichtlich entgegensteht6. Nach § 4a Abs. 2 Satz 5 TVG ist dies wiederum insbesondere dann der Fall, wenn die Betriebe von TV-Parteien unterschiedlichen Wirtschaftszweigen oder deren Wertschöpfungsketten zugeordnet worden sind. Sind die beteiligten Arbeitgeber an unterschiedliche TVe gebunden, stellt sich aus den dargestellten Erwägungen ggfls. die Frage einer teleologischen Reduktion7. Erfolgt nämlich eine Betrachtung des Geltungsbereichs gemeinschaftsbetriebsweit und gibt letztlich auf Grundlage der hergebrachten Grundsätze der Zweck des Betriebs eines der beteiligten Rechtsträger dem Gemeinschaftsbetrieb das Gepräge, käme es ggfls. mangels überschneidender Geltungsbereiche gar nicht erst zu einer Tarifkollision mit der Folge, dass ein bestimmtes Tarifwerk schon mangels Ein1 BAG v. 11.2.2004 – 7 ABR 27/03, NZA 2004, 618. 2 BAG v. 4.7.2007 – 4 AZR 491/06, NZA 2008, 307, wonach eine Übertragung der unter Anwendung der beweiserleichternden Funktion für den Bereich des BetrVG gewonnenen Ergebnisse auf den tarifrechtlichen Bereich nicht möglich sei. 3 Braner, NZA 2007, 596; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 263; a.A. Thüsing/Braun/Wißmann, 4. Kap. Rz. 194. 4 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 273b. 5 So auch Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 263. 6 Vgl. dazu auch BT-Drucks. 18/4062, 13. 7 Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 203 Rz. 56.
706 Stamer
Sektoraler Geltungsbereich (Branche)
Rz. 58 Teil 8
schlägigkeit des Geltungsbereichs nicht mehr zur Anwendung gelangen könnte (vgl. auch Rz. 53). Wenn auf Seiten der beteiligten Rechtsträger unterschiedliche Tarifbindung besteht, führte die Fiktion des § 4a Abs. 2 Satz 4 TVG aber selbst im Falle der Tarifkollision dazu, dass der jeweilige TV mangels Tarifbindung des Arbeitgebers für einen der beteiligten Rechtsträger keine normative Wirkung entfalten kann1 (vgl. näher Teil 9 Rz. 114). Wenn FirmenTVe mit jeweils unternehmensweitem Geltungsbereich abgeschlossen werden und insbesondere keine kollidierenden BranchenTVe gelten, entsteht auf dieser Grundlage bereits keine nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG aufzulösende Tarifkollision2.
III. Ausscheiden Der Umstand, dass ein Betrieb oder Unternehmen zu einem bestimmten Zeitpunkt 57 dem sektoralen Geltungsbereich eines bestimmten TVs unterworfen ist, bedeutet nicht, dass dies notwendig bis zum zeitlichen Ablauf des TVs der Fall bleiben muss. Vielmehr beeinflussen Änderungen innerhalb des Betriebes oder des Unternehmens die Beurteilung der Unterwerfung unter den sektoralen Geltungsbereichs eines bestimmten TVs3. So können Umstrukturierungen und Betriebsveräußerungen dazu führen, dass Betriebe oder ganze Unternehmen aus dem Geltungsbereich eines TVs ausscheiden (vgl. dazu im Einzelnen Teil 15). U.U. müssen in der Folge die Mehrheitsverhältnisse nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG neu bestimmt werden4. Denkbar ist auch ein Wegfall einer früheren Tarifkollision. Die diesbezüglichen Gestaltungsmöglichkeiten von Arbeitgebern haben im Übrigen durch die geänderte Rechtsprechung zu arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln auf TVe5 erhebliche Einschränkungen erfahren. Ändert sich der Zweck, den die Anknüpfungseinheit, in der Regel also der Betrieb, 58 verfolgt, in einer Weise, dass der Betrieb nunmehr einer anderen Branche zuzuordnen ist, liegt ein Fall des Branchenwechsels vor. Nach Ansicht des BAG verbleibt ein Betrieb, dessen Zweck sich ändert, nur dann im sektoralen Geltungsbereich des TVs, wenn dieser auch für an sich branchenfremde Betriebe gelten soll. Fehlt es an einer entsprechenden Anknüpfung, führt eine Änderung des Betriebszwecks dazu, dass der Betrieb dem sektoralen Geltungsbereich des TVs nicht länger unterworfen ist6. Ist der Betrieb aber aus dem Geltungsbereich eines TVs „herausgewachsen“, wirkt der TV nicht nach § 3 Abs. 3 TVG fort. § 3 Abs. 3 TVG hilft lediglich über fehlende Tarifbindung hinweg, setzt aber gerade voraus, dass der Betrieb dem Geltungsbereich des 1 Vgl. dazu auch Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 397 ff., wonach es bei betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Normen um „die Tarifmacht gegenüber dem betriebsverfassungsrechtlichen Arbeitgeber, also der durch die Führungsvereinbarung zu einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts verbundenen Vertragsarbeitgeber“, geht. 2 Scholz/Lingemann/Ruttloff NZA-Beilage 3/2015, 17. 3 Vgl. hierzu Hohenstatt/Schramm, NZA 2008, 433. 4 Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 203 Rz. 56. 5 BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965; vgl. dazu aber auch EuGH v. 18.7.2013 – RS. C-426/11, NZA 2013/835 und das Vorabentscheidungsersuchen des BAG v. 17.6.2015 – 4 AZR 61/14; vgl. hierzu im Zusammenhang mit dem TEG Greiner, NZA 2015, 769 (775). 6 Zu den Besonderheiten in der Insolvenz vgl. BAG v. 28.1.1987 – 4 AZR 150/86, NZA 1987, 455.
Stamer
707
Teil 8 Rz. 59
Geltungsbereich
TVs unterworfen ist. Allerdings wirken die fraglichen TVe analog § 4 Abs. 5 TVG nach1. Mithin hat ein Branchenwechsel das Ende der normativen Wirkung zur Folge. Die nachwirkenden TV-Normen können jederzeit durch andere Abmachungen ersetzt werden (zu den Besonderheiten bei arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln vgl. Teil 10)2. U.U. müssen auch in einem solchen Fall die Mehrheitsverhältnisse nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG neu bestimmt werden3 oder eine frühere Tarifkollision entfällt schlichtweg. 59
Werden einzelne Betriebsteile verselbständigt oder vormals selbständige Betriebe einem Betrieb angegliedert, können neue Einheiten entstehen, für die der sektorale Geltungsbereich nach Maßgabe der hergebrachten Grundsätze und infolgedessen auch die Regelungen in § 4a Abs. 2 TVG – neu – zu beurteilen sind. Entscheidend für die weitere Geltung eines bestimmten TVs ist also, ob die neuen Einheiten weiterhin denselben arbeitstechnischen – bzw. bei Anknüpfung an das Unternehmen denselben wirtschaftlichen – Zweck verfolgen oder aber ob die Umstrukturierung mit einem Branchenwechsel für die neuen Einheiten verbunden war. Ist Zuordnungsobjekt des TVs der einzelne Betrieb, scheidet die neue Einheit bei einem Branchenwechsel aus dem Geltungsbereich aus. Entsteht infolge Umstrukturierung ein Mischbetrieb, kommen die diesbezüglichen Grundsätze zum Tragen (vgl. Rz. 52 ff.). Ist das Unternehmen Anknüpfungspunkt für den Geltungsbereich, ist für eine Zuordnung der überwiegende Unternehmenszweck maßgeblich.
60
Spezielle gesetzliche Regelungen für die Weitergeltung von tariflichen Regelungen bestehen nach § 613a BGB (hierzu ausführlich Teil 15), der nach § 324 UmwG bei Umwandlungen nach dem Umwandlungsgesetz ebenfalls zum Tragen kommt4. Allerdings ist auch insoweit die geänderte Rechtsprechung des BAG zu arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln auf TVe maßgeblich5, wobei die konstitutive Wirkung einer arbeitsvertraglichen Bezugnahme selbst dann bestehen bleibt, wenn ein TV für das Arbeitsverhältnis normative Geltung erlangt6.
IV. Rechtsprechung 61
Mit der Frage, ob ein bestimmter Betrieb oder ein bestimmtes Unternehmen dem sektoralen Geltungsbereich eines TVs unterworfen ist oder nicht, haben sich die Gerichte immer wieder zu befassen (vgl. dazu sowie insbesondere zu der mit Inkrafttreten 1 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 193/97, NZA 1998, 488. 2 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 15; HWK/ Henssler, § 4 TVG Rz. 19; Jacobs/Krause/Oetker, § 5 Rz. 59; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 259; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 143; a.A.: Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 252, 288 ff. Anders für gemeinsame Einrichtungen BAG v. 5.10.1993 – 3 AZR 586/92, NZA 1994, 848. 3 Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 203 Rz. 56. 4 Vgl. zur kollektivrechtlichen Fortgeltung eines FirmenTVs bei Umwandlung durch Ausgliederung BAG v. 21.12.2012 – 4 AZR 85/11). 5 BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965; siehe aber EuGH v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11, NZA 2013, 835 und BAG v. 17.6.2015 – 4 AZR 61/14; vgl. dazu auch Bepler, RdA 2009, 65. 6 Eine so entstehende „Konkurrenz eines Arbeitsvertrags mit einem TV“ ist nach Ansicht des BAG nach Maßgabe des Günstigkeitsprinzips gemäß § 4 Abs. 3 TVG zu lösen (BAG v. 22.2.2012 – 4 AZR 24/10; BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364).
708 Stamer
Rz. 64 Teil 8
Fachlicher Geltungsbereich
des TVG in § 2a Abs. 1 ArbGG neu eingeführten Ziff. 6 auch Rz. 28). Die Rechtsprechung betrifft dabei sowohl Fragen, ob ein Unternehmen oder Betrieb einer bestimmten Branche angehört1. Eine Vielzahl von Entscheidungen besteht zum sektoralen Geltungsbereich der TVe im Baugewerbe2. Weiter haben sich die Gerichte mit der Frage zu beschäftigen, ob eine Einheit als Betrieb oder Nebenbetrieb im Sinne einer tariflichen Regelung zum sektoralen Geltungsbereich qualifiziert. Insoweit kann auf die einschlägige Kommentierung verwiesen werden.
D. Fachlicher Geltungsbereich I. Begriff Soweit ein TV unterschiedliche Regelungen für bestimmte Beschäftigtengruppen ent- 62 hält oder sein Geltungsbereich von vornherein auf bestimmte Beschäftigtengruppen festlegt ist, ist die Terminologie uneinheitlich (vgl. Rz. 7). Unter dem fachlichen Geltungsbereich werden im Folgenden Anknüpfungen an fachliche und tätigkeitsbeschreibende Merkmale der Beschäftigten zusammengefasst. Für die Anknüpfung ist zwischen allgemeinen fachlichen Merkmalen, wie dem Beruf der Beschäftigten, und speziellen, tätigkeitsabhängigen Kriterien zu unterscheiden3. Der fachliche Geltungsbereich ergänzt den sektoralen Geltungsbereich um die Grup- 63 pen von Arbeitnehmern, für die der TV in der jeweils in Bezug genommenen Einheit gelten soll. Notwendig ist eine solche Einschränkung gleichwohl nicht. Ist die tarifschließende Gewerkschaft nach dem Industrieverbandsprinzip organisiert und enthält der TV weder ausdrücklich noch im Wege der Auslegung ermittelbare Beschränkungen auf Arbeitnehmergruppen, gilt der TV für sämtliche Arbeitnehmer der in Bezug genommenen Einheit. Ist die tarifschließende Gewerkschaft als Fachverband organisiert, findet der TV von vornherein nur für die von ihr vertretene Arbeitnehmergruppe Anwendung4. 1. Abgrenzung zum persönlichen Geltungsbereich Nach der hier verwendeten Terminologie ist der fachliche Geltungsbereich als der 64 persönliche Geltungsbereich im weiteren Sinne zu begreifen und folglich vom nachfolgend noch zu erörternden persönlichen Geltungsbereich im engeren Sinne zu unterscheiden. Anknüpfungspunkte des fachlichen Geltungsbereichs sind fachliche und 1 Vgl. dazu BAG v. 9.4.2014 – 10 AZR 1085/12, AP Nr. 15 zu § 1 TVG Tarifverträge: Maler; BAG v. 9.4.2008 – 4 AZR 164/07, ZTR 2009, 95; zum Rückgriff auf die Klassifikation der Wirtschaftszweige des statistischen Bundesamtes vgl. LAG Baden-Württemberg v. 23.1.2013 – 4 Sa 58/12. 2 Vgl. nur zum VTV-Bau BAG v. 18.5.2011 – 10 AZR 190/10, AP Nr. 332 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG v. 8.12.2010 – 10 AZR 710/09, NJOZ 2011, 694; BAG v. 17.11.2010 – 10 AZR 215/10, NJOZ 2011, 665; BAG v. 27.10.2010 – 10 AZR 362/09, NJOZ 2011, 699; BAG v. 29.9.2010 – 10 AZR 523/09, NZA-RR 2011, 89; BAG v. 16.6.2010 – 4 AZR 934/08, NJOZ 2011, 167. 3 Vgl. dazu LAG Mecklenburg-Vorpommern vom 11.6.2013 – 5 Sa 264/12. 4 Z.B. Piloten, Ärzte, Lokomotivführer; in solchen Fällen kommt dem neu eingeführten § 4a Abs. 2 TVG ggf. ganz erhebliche Bedeutung zu, vgl. Greiner, NZA 2015, 769 (770).
Stamer
709
Rz. 64 Teil 8
Fachlicher Geltungsbereich
des TVG in § 2a Abs. 1 ArbGG neu eingeführten Ziff. 6 auch Rz. 28). Die Rechtsprechung betrifft dabei sowohl Fragen, ob ein Unternehmen oder Betrieb einer bestimmten Branche angehört1. Eine Vielzahl von Entscheidungen besteht zum sektoralen Geltungsbereich der TVe im Baugewerbe2. Weiter haben sich die Gerichte mit der Frage zu beschäftigen, ob eine Einheit als Betrieb oder Nebenbetrieb im Sinne einer tariflichen Regelung zum sektoralen Geltungsbereich qualifiziert. Insoweit kann auf die einschlägige Kommentierung verwiesen werden.
D. Fachlicher Geltungsbereich I. Begriff Soweit ein TV unterschiedliche Regelungen für bestimmte Beschäftigtengruppen ent- 62 hält oder sein Geltungsbereich von vornherein auf bestimmte Beschäftigtengruppen festlegt ist, ist die Terminologie uneinheitlich (vgl. Rz. 7). Unter dem fachlichen Geltungsbereich werden im Folgenden Anknüpfungen an fachliche und tätigkeitsbeschreibende Merkmale der Beschäftigten zusammengefasst. Für die Anknüpfung ist zwischen allgemeinen fachlichen Merkmalen, wie dem Beruf der Beschäftigten, und speziellen, tätigkeitsabhängigen Kriterien zu unterscheiden3. Der fachliche Geltungsbereich ergänzt den sektoralen Geltungsbereich um die Grup- 63 pen von Arbeitnehmern, für die der TV in der jeweils in Bezug genommenen Einheit gelten soll. Notwendig ist eine solche Einschränkung gleichwohl nicht. Ist die tarifschließende Gewerkschaft nach dem Industrieverbandsprinzip organisiert und enthält der TV weder ausdrücklich noch im Wege der Auslegung ermittelbare Beschränkungen auf Arbeitnehmergruppen, gilt der TV für sämtliche Arbeitnehmer der in Bezug genommenen Einheit. Ist die tarifschließende Gewerkschaft als Fachverband organisiert, findet der TV von vornherein nur für die von ihr vertretene Arbeitnehmergruppe Anwendung4. 1. Abgrenzung zum persönlichen Geltungsbereich Nach der hier verwendeten Terminologie ist der fachliche Geltungsbereich als der 64 persönliche Geltungsbereich im weiteren Sinne zu begreifen und folglich vom nachfolgend noch zu erörternden persönlichen Geltungsbereich im engeren Sinne zu unterscheiden. Anknüpfungspunkte des fachlichen Geltungsbereichs sind fachliche und 1 Vgl. dazu BAG v. 9.4.2014 – 10 AZR 1085/12, AP Nr. 15 zu § 1 TVG Tarifverträge: Maler; BAG v. 9.4.2008 – 4 AZR 164/07, ZTR 2009, 95; zum Rückgriff auf die Klassifikation der Wirtschaftszweige des statistischen Bundesamtes vgl. LAG Baden-Württemberg v. 23.1.2013 – 4 Sa 58/12. 2 Vgl. nur zum VTV-Bau BAG v. 18.5.2011 – 10 AZR 190/10, AP Nr. 332 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG v. 8.12.2010 – 10 AZR 710/09, NJOZ 2011, 694; BAG v. 17.11.2010 – 10 AZR 215/10, NJOZ 2011, 665; BAG v. 27.10.2010 – 10 AZR 362/09, NJOZ 2011, 699; BAG v. 29.9.2010 – 10 AZR 523/09, NZA-RR 2011, 89; BAG v. 16.6.2010 – 4 AZR 934/08, NJOZ 2011, 167. 3 Vgl. dazu LAG Mecklenburg-Vorpommern vom 11.6.2013 – 5 Sa 264/12. 4 Z.B. Piloten, Ärzte, Lokomotivführer; in solchen Fällen kommt dem neu eingeführten § 4a Abs. 2 TVG ggf. ganz erhebliche Bedeutung zu, vgl. Greiner, NZA 2015, 769 (770).
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Teil 8 Rz. 65
Geltungsbereich
tätigkeitsbeschreibende Merkmale der Beschäftigten. Für den persönlichen Geltungsbereich im engeren Sinne sind dagegen persönliche Eigenschaften wie Alter, Geschlecht, Arbeitszeit oder Mitgliedschaft in einer Organisation relevant. 2. Abgrenzung zum sektoralen Geltungsbereich 65
Der sektorale Geltungsbereich legt die Branche bzw. den Wirtschaftssektor fest, dessen Einheiten dem Geltungsbereich des TVs unterworfen sein sollen. Dies betrifft untechnisch formuliert den Arbeitgeber. Der fachliche Geltungsbereich konkretisiert dagegen den sektoralen Geltungsbereich durch eine weitere Einschränkung des Geltungsbereichs nach Berufsgruppen und Art der verrichteten Tätigkeiten der Arbeitnehmer.
II. Anknüpfungspunkte 66
Für den Geltungsbereich können die TV-Parteien im Rahmen ihrer Tarifautonomie zwischen verschiedenen Beschäftigtengruppen und verschiedenen Tätigkeiten differenzieren. Denkbar ist eine Anknüpfung an die Art der geleisteten Tätigkeit oder an die Art der Ausbildung und Qualifikation. Die früher gängige Differenzierung zwischen Arbeitern und Angestellten1 verliert infolge der Rechtsprechung des BVerfG zur Gleichbehandlung von Arbeitnehmern und Angestellten2 zunehmend an Bedeutung. An den Status der Beschäftigten wird gleichwohl auch weiterhin angeknüpft. So gibt es unterschiedliche tarifliche Regelungen für Arbeitnehmer, Auszubildende, arbeitnehmerähnliche Personen und Heimarbeiter3. Auch Werkstudenten können aus dem Geltungsbereich herausgenommen werden4.
67
Sind dem Geltungsbereich eines TVs „Arbeitnehmer“ unterworfen, kommt eine Anwendung für Organe von Gesellschaften nicht in Betracht. Organe sind grds. keine Arbeitnehmer5. Gleichwohl sind Organe in den tariflichen Festlegungen des Geltungsbereichs häufig explizit aus dem Geltungsbereich herausgenommen. Leitende Angestellte nach § 5 Abs. 3 BetrVG sind meist ebenfalls aus dem Geltungsbereich eines TVs herausgenommen6. Solche Festlegungen sind konstitutiv, da auch leitende Angestellte Arbeitnehmer sind.
68
Sieht der fachliche Geltungsbereich vor, dass der TV für alle Arbeitnehmer gilt, sind hiervon grds. auch Arbeitnehmer, die sich in der Freistellungsphase der Altersteilzeit
1 Vgl. Bundesrahmen-TV für das Baugewerbe; Rahmen-TV für die Hafenarbeiter der deutschen Seehafenbetriebe; Mindestlohn-TV Dachdeckerhandwerk i.d.F. v. 28.9.2009. 2 Vgl. bereits BVerfG v. 30.5.1990 – 1 BvL 2/83, NZA 1990, 721; BVerfG v. 1.9.1997 – 1 BvR 1929/95, NZA 1997, 1339. 3 Dazu Mayer, BB 1993, 1513. 4 BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 563/99, NZA 2001, 613; zur Unzulässigkeit der Herausnahme von Studierenden aus dem Geltungsbereich eines TVs, die nebenberuflich dieselben Tätigkeiten verrichten wie andere Teilzeitkräfte vgl. BAG v. 28.3.1996 – 6 AZR 501/95, NZA 1996, 1280. 5 BAG v. 20.8.2003 – 5 AZB 79/02, NZA 2003, 1108; abweichend für den europäischen Arbeitnehmerbegriff EuGH v. 11.11.2010 – Rs. C-232/09, NZA 2011, 143. 6 So z.B. der MTV zum ERA-TV für Beschäftigte in der Metall- und Elektroindustrie in Nordwürttemberg/Nordbaden.
710 Stamer
Fachlicher Geltungsbereich
Rz. 71 Teil 8
befinden, erfasst. Die Regelungsmacht der TV-Parteien erfasst darüber hinaus grds. auch Betriebsrentner1.
III. Grenzen Bei der Regelung des fachlichen Geltungsbereichs üben die TV-Parteien ihre Tarif- 69 autonomie aus, die unterdessen nicht grenzenlos gilt. Vielmehr haben die TV-Parteien höherrangiges Recht, insbesondere Art. 3 GG sowie spezielle Diskriminierungsverbote, zu beachten (vgl. im Einzelnen Rz. 82 ff.).
IV. Vergütungsgruppen 1. Allgemeines Ist ein Arbeitnehmer dem fachlichen Geltungsbereich eines TVs insgesamt grds. un- 70 terworfen, weil der TV insoweit keine Beschränkung festschreibt, sind die einzelnen tariflichen Regelungen gesondert auf ihre Anwendbarkeit für das Arbeitsverhältnis zu überprüfen. Im engeren Sinne betrifft dies insbesondere Vergütungs- oder Entgeltgruppen. Mittels der Abgrenzung einzelner Berufsgruppen und der innerhalb einer Berufsgruppe erfolgenden Unterscheidung nach objektiven, meist tätigkeitsbeschreibenden Merkmalen statuieren die TV-Parteien Lohnsystem und Lohngefüge. Erstrecken sich die Vergütungsgruppen nicht auf sämtliche Arbeitnehmergruppen, ist 71 die tarifliche Regelung regelmäßig dahingehend auszulegen, dass das Vergütungsgruppensystem abschließend sämtliche erfassten Arbeitsverhältnisse aufzählt. Ein solcher Ausschluss bestimmter Arbeitnehmergruppen vom Vergütungssystem führt unterdessen in aller Regel nicht zu einer Beschränkung des fachlichen Geltungsbereichs des TVs. Übt ein Arbeitnehmer im Geltungsbereich eines TVs, der eine Vergütungsordnung enthält, eine Tätigkeit aus, die nicht von den in dieser Vergütungsordnung enthaltenen Tätigkeitsmerkmalen erfasst wird, handelt es sich vielmehr um eine Tariflücke. Handelt es sich dabei um eine bewusste Regelungslücke, kommt eine Ausfüllung der Lücke durch die Arbeitsgerichte nicht in Betracht2. Anderes kann im Falle einer unbewussten Regelungslücke gelten, also beispielsweise im Falle neu entwickelter Berufsbilder, die den TV-Parteien zum Zeitpunkt des Abschlusses des TVs noch nicht bekannt waren. In einem solchen Fall können die Arbeitsgerichte die Lücke schließen, wenn sich aus dem TV selbst hinreichende Anhaltspunkte ergeben, dass die TV-Parteien eine vollständige Regelung für alle im Geltungsbereich des TVs ausgeübten Tätigkeiten beabsichtigten und der TV selbst eindeutige Hinweise enthält, wie die TV-Parteien die nicht berücksichtigte Tätigkeit bewertet hätten. Kommen dagegen mehrere Lösungsmöglichkeiten in Betracht, muss die Wahl den TV-Parteien überlassen bleiben3.
1 BAG v. 27.2.2007 – 3 AZR 734/05, NZA 2007, 1371; siehe auch § 17 Abs. 3 BetrAVG, der eine Abweichung durch TV vorsieht. 2 BAG v. 25.2.2009 – 4 AZR 964/07, NZA 2010, 471; BAG v. 24.9.2008 – 4 AZR 642/07, AP Nr. 57 zu § 1 TVG. 3 BAG v. 25.8.2010 – 4 ABR 104/08, DB 2011, 660.
Stamer
711
Teil 8 Rz. 72
Geltungsbereich
2. Zuordnung 72
Die Frage, ob ein Arbeitsverhältnis von einer bestimmten Vergütungsgruppe erfasst ist, ist anhand der Merkmale der Vergütungsgruppen zu prüfen1. Die entsprechende Zuordnung durch den Arbeitgeber erfolgt durch Eingruppierung2. Dabei ist die Eingruppierung nur in wenigen Ausnahmefällen konstitutive Voraussetzung für den Vergütungsanspruch des Arbeitnehmers3. Die Zuordnung kann durch Beispielsfall- und Tätigkeitsbeschreibungen, konkrete Berufszeichnungen sowie aufgrund weiterer Kriterien wie Berufserfahrung, Alter, Qualifikation, Ausbildung und dgl. erfolgen. Erfolgt eine Anknüpfung an die ausgeübte Tätigkeit, ist im Zweifel auf den Schwerpunkt der Tätigkeit, d.h. auf diejenige Tätigkeit, die überwiegend ausgeübt wird, abzustellen4.
73
Enthalten tarifliche Vergütungsgruppen neben allgemein gefassten Tätigkeitsmerkmalen bestimmte Beispielstätigkeiten, sind nach der ständigen Rechtsprechung des BAG die Voraussetzungen für die Eingruppierung in die Vergütungsgruppe grds. gegeben, wenn der Arbeitnehmer eine den Beispielen entsprechende Tätigkeit ausübt5. Verrichtet der Arbeitnehmer keine der Beispielstätigkeiten, ist die Zuordnung anhand der allgemein gefassten Tätigkeitsmerkmale durchzuführen.
E. Persönlicher Geltungsbereich I. Begriff 74
Ein TV gilt grds. für alle Arbeitgeber und deren Beschäftigte, die dem räumlichen, sektoralen und fachlichen Geltungsbereich unterworfen sind. Den TV-Parteien ist es im Rahmen ihrer Tarifautonomie freilich unbenommen, den Geltungsbereich weiter einzuschränken. Sie können bei der Festlegung des persönlichen Geltungsbereichs eine Differenzierung auf Ebene der Beschäftigten nach persönlichen Eigenschaften wie Alter und Geschlecht vornehmen. Dies kann durch explizite Herausnahme solcher Beschäftigten aus dem Geltungsbereich oder durch explizite Beschränkung des Geltungsbereichs auf Beschäftigte mit entsprechenden persönlichen Merkmalen erfolgen. Dabei erlangen die Benachteiligungsverbote besondere Bedeutung. Gleichermaßen können im persönlichen Geltungsbereich Einschränkungen auf Unternehmensbzw. Betriebsseite erfolgen. 1. Abgrenzung zum fachlichen Geltungsbereich
75
Nach der hier verwendeten Terminologie ist der fachliche Geltungsbereich als persönlicher Geltungsbereich im weiteren Sinne zu begreifen und vom hier erörterten 1 Vgl. dazu BAG v. 24.3.2010 – 4 AZR 727/08, NZA-RR 2010, 527. 2 Zur Eingruppierung bei Tarifpluralität vor Inkrafttreten des TEG vgl. BAG v. 14.4.2015 – 1 ABR 66/13. 3 Dazu sowie zum Grundsatz der Tarifautomatik Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 186. 4 BAG v. 7.11.1990 – 4 AZR 67/90, NZA 1991, 394; BAG v. 29.7.1992 – 4 AZR 502/91, NZA 1993, 181; BAG v. 4.8.1993 – 4 AZR 511/92, DB 1994, 2654; BAG v. 23.4.1997 – 10 AZR 903/95, n.v. 5 Vgl. nur BAG v. 19.5.2010 – 4 AZR 903/08, AP Nr. 46 zu § 1 TVG Tarifverträge: Lufthansa; BAG v. 23.9.2009 – 4 AZR 333/08, AP Nr. 95 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel.
712 Stamer
Teil 8 Rz. 72
Geltungsbereich
2. Zuordnung 72
Die Frage, ob ein Arbeitsverhältnis von einer bestimmten Vergütungsgruppe erfasst ist, ist anhand der Merkmale der Vergütungsgruppen zu prüfen1. Die entsprechende Zuordnung durch den Arbeitgeber erfolgt durch Eingruppierung2. Dabei ist die Eingruppierung nur in wenigen Ausnahmefällen konstitutive Voraussetzung für den Vergütungsanspruch des Arbeitnehmers3. Die Zuordnung kann durch Beispielsfall- und Tätigkeitsbeschreibungen, konkrete Berufszeichnungen sowie aufgrund weiterer Kriterien wie Berufserfahrung, Alter, Qualifikation, Ausbildung und dgl. erfolgen. Erfolgt eine Anknüpfung an die ausgeübte Tätigkeit, ist im Zweifel auf den Schwerpunkt der Tätigkeit, d.h. auf diejenige Tätigkeit, die überwiegend ausgeübt wird, abzustellen4.
73
Enthalten tarifliche Vergütungsgruppen neben allgemein gefassten Tätigkeitsmerkmalen bestimmte Beispielstätigkeiten, sind nach der ständigen Rechtsprechung des BAG die Voraussetzungen für die Eingruppierung in die Vergütungsgruppe grds. gegeben, wenn der Arbeitnehmer eine den Beispielen entsprechende Tätigkeit ausübt5. Verrichtet der Arbeitnehmer keine der Beispielstätigkeiten, ist die Zuordnung anhand der allgemein gefassten Tätigkeitsmerkmale durchzuführen.
E. Persönlicher Geltungsbereich I. Begriff 74
Ein TV gilt grds. für alle Arbeitgeber und deren Beschäftigte, die dem räumlichen, sektoralen und fachlichen Geltungsbereich unterworfen sind. Den TV-Parteien ist es im Rahmen ihrer Tarifautonomie freilich unbenommen, den Geltungsbereich weiter einzuschränken. Sie können bei der Festlegung des persönlichen Geltungsbereichs eine Differenzierung auf Ebene der Beschäftigten nach persönlichen Eigenschaften wie Alter und Geschlecht vornehmen. Dies kann durch explizite Herausnahme solcher Beschäftigten aus dem Geltungsbereich oder durch explizite Beschränkung des Geltungsbereichs auf Beschäftigte mit entsprechenden persönlichen Merkmalen erfolgen. Dabei erlangen die Benachteiligungsverbote besondere Bedeutung. Gleichermaßen können im persönlichen Geltungsbereich Einschränkungen auf Unternehmensbzw. Betriebsseite erfolgen. 1. Abgrenzung zum fachlichen Geltungsbereich
75
Nach der hier verwendeten Terminologie ist der fachliche Geltungsbereich als persönlicher Geltungsbereich im weiteren Sinne zu begreifen und vom hier erörterten 1 Vgl. dazu BAG v. 24.3.2010 – 4 AZR 727/08, NZA-RR 2010, 527. 2 Zur Eingruppierung bei Tarifpluralität vor Inkrafttreten des TEG vgl. BAG v. 14.4.2015 – 1 ABR 66/13. 3 Dazu sowie zum Grundsatz der Tarifautomatik Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 186. 4 BAG v. 7.11.1990 – 4 AZR 67/90, NZA 1991, 394; BAG v. 29.7.1992 – 4 AZR 502/91, NZA 1993, 181; BAG v. 4.8.1993 – 4 AZR 511/92, DB 1994, 2654; BAG v. 23.4.1997 – 10 AZR 903/95, n.v. 5 Vgl. nur BAG v. 19.5.2010 – 4 AZR 903/08, AP Nr. 46 zu § 1 TVG Tarifverträge: Lufthansa; BAG v. 23.9.2009 – 4 AZR 333/08, AP Nr. 95 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel.
712 Stamer
Persçnlicher Geltungsbereich
Rz. 78 Teil 8
persönlichen Geltungsbereich im engeren Sinne zu unterscheiden. Anknüpfungspunkte des fachlichen Geltungsbereichs sind fachliche und tätigkeitsbeschreibende Merkmale der Beschäftigten, für den persönlichen Geltungsbereich sind persönliche Eigenschaften der Arbeitnehmer wie beispielsweise Alter, Geschlecht oder Arbeitszeit relevant. Enthält ein TV keine Beschränkung auf persönliche Merkmale der Beschäftigten, entsprechen persönlicher und fachlicher Geltungsbereich einander. 2. Abgrenzung zur Tarifgebundenheit Auch der persönliche Geltungsbereich ist von der Tarifgebundenheit nach § 3 TVG 76 abzugrenzen. Während die Tarifgebundenheit die Regelungsmacht der TV-Parteien beschränkt, bezeichnet der persönliche Geltungsbereich innerhalb der so gezogenen Grenzen die konkreten Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse, die dem Geltungsbereich des TVs unterworfen sein können.
II. Anknüpfungspunkte 1. Arbeitnehmerbezogene Anknüpfungspunkte Prinzipiell können die TV-Parteien in der Festlegung des Geltungsbereichs eine Diffe- 77 renzierung hinsichtlich aller persönlichen Merkmale der Beschäftigten vornehmen. In Betracht kommt eine Anknüpfung an Alter, Geschlecht, Arbeitszeit, Dauer der Betriebszugehörigkeit, Grad der Behinderung, Familienstand, Abstammung, Staatsangehörigkeit oder Zugehörigkeit zu einer Vereinigung oder Gewerkschaft. Allerdings sind die TV-Parteien bei der Ausübung ihrer Tarifautonomie an höherrangiges Recht gebunden (vgl. Rz. 24 ff.). Die denkbaren Anknüpfungen unterliegen folglich einer strengen Überprüfung hinsichtlich der Vereinbarkeit mit besonderen Benachteiligungsverboten sowie dem allgemeinen Gleichheitssatz. Im Geltungsbereich einiger TVe finden sich Anknüpfungen an die Mitgliedschaft des 78 Beschäftigten in einer Gewerkschaft1. Auch eine Differenzierung hinsichtlich des Mitgliederstatus ist grds. möglich2. Insoweit wird häufig vom „organisatorischen Geltungsbereich“ gesprochen3, der allerdings ebenfalls an persönliche Merkmale der Beschäftigten anknüpft. Beinhaltet ein TV eine entsprechende Beschränkung, ist zunächst durch Auslegung zu ermitteln, ob der Geltungsbereich des TVs nicht nur aktuelle, sondern auch potentielle Mitglieder erfassen soll4. Ferner ist stets zu prüfen, ob die Regelung überhaupt konstitutive oder aber lediglich klarstellende Bedeutung
1 Zur Zulässigkeit tariflicher Differenzierungsklauseln, wonach die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft zum Tatbestandsmerkmal eines Anspruchs gemacht wird, vgl. BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028; zur Unzulässigkeit sog. qualifizierter tariflicher Differenzierungsklauseln vgl. BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920; vgl. dazu auch Däubler/ Heuschmid, RdA 2013, 1; zur Zulässigkeit einer Stichtagsklausel hinsichtlich der Mitgliedschaft in der tarifschließenden Gewerkschaft vgl. BAG v. 15.4.2015 – 4 AZR 796/13; vgl. dazu auch Greiner, NZA 2016, 10 (11). 2 BAG v. 24.2.1999 – 4 AZR 62/98, NZA 1999, 995. 3 So z.B. HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 22; dazu ausführlich Klebeck, SAE 2007, 271. 4 Vgl. BAG v. 22.3.2005 – 1 ABR 64/03, NZA 2006, 383; vgl. dazu auch BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 268/09, NZA 2012, 231; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 235 ff.
Stamer
713
Teil 8 Rz. 79
Geltungsbereich
im Hinblick auf die Tarifgebundenheit haben soll1. Ist von einer konstitutiven Wirkung auszugehen, schließt sich die Frage an, ob dies Auswirkungen auf die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG hat und damit die Erstreckung eines TVs auf nicht-organisierte Arbeitnehmer erschwert. Wie dargestellt kann eine Allgemeinverbindlicherklärung nur in den Grenzen des Geltungsbereichs erfolgen (vgl. Rz. 12)2. Entsprechende Fragen stellen sich für die Entfaltung der Sperrwirkung nach § 77 Abs. 3 BetrVG3. 2. Arbeitgeberbezogene Anknüpfungspunkte 79
Die TV-Parteien können auf die Festlegung eines sektoralen Geltungsbereichs verzichten und für den Geltungsbereich ausschließlich auf sämtliche Mitgliedsunternehmen des tarifschließenden Arbeitgeberverbands abstellen4. Auf diese Weise kann das gezielte Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eines TVs durch Änderung des Betriebszwecks erschwert werden. Stets zu prüfen ist in solchen Fällen, ob es sich um eine konstitutive Festlegung mit der Folge handelt, dass nur Mitglieder des Arbeitgeberverbands dem Geltungsbereich unterworfen sind oder ob gemäß der Tarifzuständigkeit des tarifschließenden Arbeitgeberverbands sämtliche Betriebe bzw. Unternehmen, die potentiell Mitglieder des betreffenden Arbeitgeberverbands werden können, dem Geltungsbereich des TVs unterfallen sollen5. Letztere Frage ist wiederum insbesondere im Falle einer Allgemeinverbindlicherklärung sowie der Frage einer Sperrwirkung nach § 77 Abs. 3 BetrVG relevant (vgl. die vorherige Rz. 78). Gleichermaßen ist die Erstreckung solcher TVe auf Arbeitnehmer eines ausländischen Arbeitgebers nach § 3 AEntG dann nicht ohne weiteres möglich. Weiter kann eine solche Festlegung des Geltungsbereichs Auswirkung auf die Anwendbarkeit von § 3 Abs. 3 TVG im Falle des Verbandsaustritts haben. Im Falle einer konstitutiven Regelung ist nämlich mit dem Verbandsaustritt zugleich ein Ausscheiden aus dem Geltungsbereich verbunden, wobei nach überwiegender Ansicht nicht § 3 Abs. 3 TVG, sondern § 4 Abs. 5 TVG Anwendung findet (vgl. Rz. 43 und 57 ff.).
80
Andererseits ist ein Arbeitgeberverband auch nicht am Abschluss von TVen gehindert, deren persönlicher Geltungsbereich auf eines oder wenige seiner Mitgliedsunternehmen beschränkt ist, sog. firmenbezogener VerbandsTV. Dem stehen nach Auffassung des BAG weder Art. 3 Abs. 1 GG noch der vereinsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz entgegen. Andernfalls würden vereinsrechtliche Binnenschranken der Koalitionsbetätigung eines Arbeitgeberverbands in das Außenverhältnis zum Tarifpartner übertragen. Für eine solche Außenwirkung gibt es indessen keine tragfähige Begründung.
1 BAG v. 22.3.2005 – 1 ABR 64/03, NZA 2006, 383. 2 Nach Ansicht des 4. Senats des BAG (v. 23.3.2005 – 4 AZR 203/04, NZA 2005, 1003) ist nicht davon auszugehen, dass die TV-Parteien die Erstreckung des TVs auf Außenseiter kraft Allgemeinverbindlicherklärung verhindern wollten. Hierzu seien sie auch rechtlich nicht in der Lage, § 5 TVG sei ggü. dem TV höherrangiges Recht; so auch HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 22. 3 Offengelassen von BAG v. 22.3.2005 – 1 ABR 63/03, NZA 2006, 383; vgl. dazu auch BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 268/09, NZA 2012, 231; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 243, 254 m.w.N. 4 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 193/97, NZA 1998, 488. 5 BAG v. 22.3.2005 – 1 ABR 64/03, NZA 2006, 383.
714 Stamer
Persçnlicher Geltungsbereich
Rz. 85 Teil 8
Weder die Tariffähigkeit noch die Tarifzuständigkeit des Arbeitgeberverbands werden durch eine vereinsinterne Ungleichbehandlung beeinträchtigt1. Gleichermaßen können einzelne Betriebe oder Unternehmen eines verbandsangehö- 81 rigen Arbeitgebers aus dem persönlichen Geltungsbereich eines TVs oder einzelner tariflicher Regelungen herausgenommen werden, beispielsweise durch „Kleinbetriebs- oder Mittelstandsklauseln“ oder ErgänzungsTVe2. Auf diese Weise können ggf. auch nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG aufzulösende Tarifkollisionen von vornherein vermieden werden3.
III. Grenzen 1. Diskriminierungsverbote Die Tarifautonomie wird bei der Festlegung des Geltungsbereichs durch spezielle Dis- 82 kriminierungsverbote begrenzt. So verbietet § 4 TzBfG jede sachgrundlose Schlechterstellung von Teilzeitbeschäftigten. Das Benachteiligungsverbot steht nach § 22 TzBfG auch nicht zur Disposition der TV-Parteien. Dies betrifft unterdessen nicht lediglich individuelle Tarifregelungen. Vielmehr greift das Benachteiligungsverbot auch, wenn tarifliche Bestimmungen zum persönlichen Geltungsbereich eines TVs zwischen Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten differenzieren und eine Gruppe vom Geltungsbereich eines TVs ausgenommen wird4. Bei einer Differenzierung nach dem Umfang der Beschäftigung kann überdies zugleich eine mittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts vorliegen5. Nach § 81 Abs. 2 SGB IX dürfen Arbeitgeber schwerbehinderte Beschäftigte nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligen. Über den Wortlaut der Bestimmung hinaus sind auch die Tarifparteien bei Abschluss eines TVs an § 81 SGB IX gebunden6.
83
Eine weitere Beschränkung erfährt die tarifautonome Festlegung des persönlichen 84 Geltungsbereichs nach Maßgabe der Bestimmungen des AGG. Nach § 7 Abs. 1 AGG sind Benachteiligungen von Beschäftigten wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes verboten. Dem Benachteiligungsverbot sind nach § 18 AGG auch die TV-Parteien unterworfen. Eine unterschiedliche Behandlung kann allerdings nach Maßgabe der §§ 8 ff. AGG zulässig sein7. Diskriminierungsverbote enthält auch das europäische Primärrecht. So gewährleistet Art. 157 AUEV die Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich der Ver1 BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, NZA 2007, 987 für Tarifsozialpläne; vgl. dazu auch Dunker, 352 ff. 2 BAG v. 14.3.2001 – 4 AZR 161/00, BB 2001, 2654; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 199; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 17 III 3 a (S. 745); Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 828. 3 Vgl. dazu Greiner, NZA 2015, 769 (771). 4 BAG v. 5.8.2009 – 10 AZR 634/08, NZA-RR 2010, 336; vgl. auch BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 563/99, NZA 2001, 613; BAG v. 15.10.2003 – 4 AZR 606/02, NZA 2004, 551. 5 EuGH v. 27.6.1990 – Rs. C-33/89, NZA 1990, 771; EuGH v. 9.9.1999 – Rs. C-281/97, NZA 1999, 1151. 6 BAG v. 18.11.2003 – 9 AZR 122/03, NZA 2004, 545. 7 Vgl. z.B. zur Zulässigkeit tariflicher Altersgrenzen für Piloten EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09, IBRRS 2013, 4647.
Stamer
715
85
Teil 8 Rz. 86
Geltungsbereich
gütung. Die Grundfreiheiten in Art. 45 und Art. 56 AEUV verbieten eine diskriminierende Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit von Beschäftigten1. Diesen Diskriminierungsverboten sind auch die Tarifparteien unterworfen2. Entsprechendes soll nach Ansicht des EuGH für Diskriminierungsverbote gelten, die sich aus der Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/78/EG ergeben. Die Richtlinienvorgaben haben die TV-Parteien zu berücksichtigen, wenngleich ihnen ein weiter Entscheidungsraum offensteht3. Inwiefern darüber hinaus eine allgemeine unmittelbare Bindung von TV-Parteien an Richtlinien besteht, ist indessen unklar4. Unmittelbare Adressaten von Richtlinien sind die Mitgliedstaaten, Verpflichtungen einzelner werden durch Richtlinien nicht begründet5. Entsprechendes muss für TV-Parteien gelten6. Ausnahmen gelten im Bereich des öffentlichen Dienstes7. 2. Gleichheitssatz 86
Neben diesen speziellen Diskriminierungsverboten ist auch für den persönlichen Geltungsbereich der allgemeine Gleichheitssatz zu beachten. Dabei bestehen unterschiedliche Auffassungen der Senate des BAG über den Maßstab für eine Überprüfung tariflicher Bestimmungen anhand des Geltungsbereichs, die sich im Ergebnis indessen nicht grundlegend auswirken (vgl. Rz. 25). Wenngleich sich der 6. Senat des BAG insoweit an den Rechtssätzen des BVerfG zu personenbezogenen Ungleichbehandlungen orientiert, räumt er den TV-Parteien gleichwohl im Hinblick auf Art. 9 Abs. 3 GG eine weite Einschätzungsprärogative ein8. Der 4. Senat des BAG vertrat hingegen jedenfalls in früherer Rechtsprechung die Ansicht, die TV-Parteien könnten bis zur Grenze der Willkür autonom den persönlichen Geltungsbereich eines TVs festlegen9.
87
Besondere Bedeutung kommt dem Gleichheitssatz im Falle der Herausnahme bestimmter Beschäftigtengruppen aus dem Geltungsbereich eines TVs zu. Dies kann sowohl explizit erfolgen wie auch durch schlichte „Nichtregelung“. Die Herausnahme einzelner Beschäftigtengruppen aus dem Geltungsbereich eines TVs wird grds. für zulässig erachtet. So hat das BAG eine Bereichsausnahme für Lektoren aus dem Geltungsbereich des BAT unter Verweis auf Art. 5 Abs. 3 GG für zulässig befunden10. Nach 1 Vgl. dazu BAG v. 23.6.2010 – 7 AZR 1021/08, NZA 2010, 1248; BAG v. 18.1.2010 – 7 AZR 112/08, NZA 2012, 575; LAG Rheinland-Pfalz v. 12.8.2010 – 2 Sa 149/10. 2 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05, NZA 2008, 124; BAG v. 10.11.2011 – 6 AZR 481/09, NZA 2012, 100. 3 EuGH v. 8.9.2011 – Rs. C-297/10, NZA 2011, 1100. 4 Die EuGH-Entscheidung bezog sich auf die Gleichbehandlungsrichtlinie 200/78/EG und den dortigen Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung (EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04, NZA 2005, 1345). 5 EuGH v. 12.5.1987 – Rs. C-372/85. 6 Calliess/Ruffert, Art. 249 AEUV Rz. 83 ff. 7 Grundlegend EuGH v. 26.2.1986 – Rs. C-152/84; MünchKomm/Thüsing, Einl. zum AGG, Rz. 27 ff. 8 BAG v. 27.5.2004 – 6 AZR 129/03, NZA 2004, 1399; BAG v. 25.10.2007 – 6 AZR 95/07, NZARR 2008, 386; BAG v. 18.12.2008 – 6 AZR 287/07, NZA 2009, 391; BAG v. 22.4.2010 – 6 AZR 966/08, NZA 2010, 947. 9 BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 352/00, NZA 2002, 863; BAG v. 4.4.2001 – 4 AZR 232/00, NZA-RR 2002, 331; BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 563/99, NZA 2001, 613. 10 BAG v. 27.5.2004 – 6 AZR 129/03, NZA 2004, 1399; vgl. dazu auch LAG Rheinland-Pfalz v. 12.8.2010 – 2 Sa 149/10.
716 Stamer
Rz. 90 Teil 8
Zeitlicher Geltungsbereich
Ansicht des LAG München ist die Herausnahme von Altersteilzeitarbeitnehmern aus dem persönlichen Geltungsbereich eines SanierungsTVs nicht zu beanstanden1. Erfolgt eine explizite Herausnahme bestimmter Beschäftigtengruppen, entsteht mangels einander überschneidender Geltungsbereiche keine ggf. nach § 4a Abs. 2 TVG aufzulösende Tarifkollision. Schließt also beispielsweise die im Betrieb mehrheitlich vertretene Gewerkschaft einen TV, der nicht alle Arbeitnehmer erfasst, wird der TV der im Betrieb ggf. weniger vertretenen Gewerkschaft auch nur insoweit verdrängt. Der TV der „Minderheitsgewerkschaft“, ist dann nach den allgemeinen Grundsätzen zur Anwendung zu bringen2.
IV. Veränderung persönlicher Merkmale Der persönliche Geltungsbereich des TVs ist nicht mehr eröffnet, wenn die Anknüp- 88 fungspunkte infolge einer Änderung persönlicher Merkmale für den Arbeitnehmer nicht mehr gegeben sind. Soweit der Arbeitnehmer nicht ohnehin in den persönlichen Geltungsbereich eines anderen TVs „überwechselt“, beispielsweise nach Abschluss der Berufsausbildung und Übernahme in ein reguläres Arbeitsverhältnis, soll § 4 Abs. 5 TVG analog gelten3.
F. Zeitlicher Geltungsbereich I. Begriff Der zeitliche Geltungsbereich legt den zeitlichen Rahmen fest, innerhalb dessen die 89 tariflichen Bestimmungen normative Wirkung erzeugen (zu Beginn und Beendigung des TVs vgl. näher Teil 3). Endet die normative Wirkung, wirkt der TV gemäß § 4 Abs. 5 TVG nach (vgl. Teil 9 Rz. 21 ff.). Angesiedelt sind Regelungen zum zeitlichen Geltungsbereich meist am Ende des TVs, wobei für den schuldrechtlichen Teil eine abweichende zeitliche Geltung festgelegt werden kann. Die Laufzeiten von TVen sind je nach Art des TVs unterschiedlich. MantelTVe haben regelmäßig längerer Laufzeiten. Ihrem Regelungsinhalt nach sind sie Veränderungen, insbesondere wirtschaftlicher Rahmenbedingungen, nicht im gleichen Maße unterworfen wie EntgeltTVe, die kurze Laufzeiten haben4.
II. Inkrafttreten Die TV-Parteien können grds. autonom den zeitlichen Geltungsbereich des TVs fest- 90 legen. Ihnen steht es insbesondere frei, den Zeitpunkt des Inkrafttretens eines TVs zu bestimmen. Haben die TV-Parteien keine Bestimmung zum Inkrafttreten des TVs ge-
1 LAG München v. 14.7.2010 – 10 Sa 1143/09; in diese Richtung gehend auch BAG v. 18.1.2012 – 6 AZR 496/10. 2 BT-Drucks. 18/4062, 13; vgl. dazu auch Greiner, NZA 2015, 769 (771). 3 Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 445 m.w.N. 4 Üblicherweise 12 bis 13 Monate.
Stamer
717
Rz. 90 Teil 8
Zeitlicher Geltungsbereich
Ansicht des LAG München ist die Herausnahme von Altersteilzeitarbeitnehmern aus dem persönlichen Geltungsbereich eines SanierungsTVs nicht zu beanstanden1. Erfolgt eine explizite Herausnahme bestimmter Beschäftigtengruppen, entsteht mangels einander überschneidender Geltungsbereiche keine ggf. nach § 4a Abs. 2 TVG aufzulösende Tarifkollision. Schließt also beispielsweise die im Betrieb mehrheitlich vertretene Gewerkschaft einen TV, der nicht alle Arbeitnehmer erfasst, wird der TV der im Betrieb ggf. weniger vertretenen Gewerkschaft auch nur insoweit verdrängt. Der TV der „Minderheitsgewerkschaft“, ist dann nach den allgemeinen Grundsätzen zur Anwendung zu bringen2.
IV. Veränderung persönlicher Merkmale Der persönliche Geltungsbereich des TVs ist nicht mehr eröffnet, wenn die Anknüp- 88 fungspunkte infolge einer Änderung persönlicher Merkmale für den Arbeitnehmer nicht mehr gegeben sind. Soweit der Arbeitnehmer nicht ohnehin in den persönlichen Geltungsbereich eines anderen TVs „überwechselt“, beispielsweise nach Abschluss der Berufsausbildung und Übernahme in ein reguläres Arbeitsverhältnis, soll § 4 Abs. 5 TVG analog gelten3.
F. Zeitlicher Geltungsbereich I. Begriff Der zeitliche Geltungsbereich legt den zeitlichen Rahmen fest, innerhalb dessen die 89 tariflichen Bestimmungen normative Wirkung erzeugen (zu Beginn und Beendigung des TVs vgl. näher Teil 3). Endet die normative Wirkung, wirkt der TV gemäß § 4 Abs. 5 TVG nach (vgl. Teil 9 Rz. 21 ff.). Angesiedelt sind Regelungen zum zeitlichen Geltungsbereich meist am Ende des TVs, wobei für den schuldrechtlichen Teil eine abweichende zeitliche Geltung festgelegt werden kann. Die Laufzeiten von TVen sind je nach Art des TVs unterschiedlich. MantelTVe haben regelmäßig längerer Laufzeiten. Ihrem Regelungsinhalt nach sind sie Veränderungen, insbesondere wirtschaftlicher Rahmenbedingungen, nicht im gleichen Maße unterworfen wie EntgeltTVe, die kurze Laufzeiten haben4.
II. Inkrafttreten Die TV-Parteien können grds. autonom den zeitlichen Geltungsbereich des TVs fest- 90 legen. Ihnen steht es insbesondere frei, den Zeitpunkt des Inkrafttretens eines TVs zu bestimmen. Haben die TV-Parteien keine Bestimmung zum Inkrafttreten des TVs ge-
1 LAG München v. 14.7.2010 – 10 Sa 1143/09; in diese Richtung gehend auch BAG v. 18.1.2012 – 6 AZR 496/10. 2 BT-Drucks. 18/4062, 13; vgl. dazu auch Greiner, NZA 2015, 769 (771). 3 Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 445 m.w.N. 4 Üblicherweise 12 bis 13 Monate.
Stamer
717
Teil 8 Rz. 91
Geltungsbereich
troffen, tritt der TV mit seinem Abschluss in Kraft1. Die schuldrechtlichen Wirkungen entfalten sich stets bereits mit dem Zeitpunkt des Abschlusses des TVs, auch wenn der Zeitpunkt des Inkrafttretens erst in der Zukunft liegt. 91
Vom Zeitpunkt des Inkrafttretens zu unterscheiden ist der Zeitpunkt des Eintritts der Rechtsfolgen. Sieht ein TV etwa gestaffelte Entgelterhöhungen vor, bewirken diese Regelungen nicht auch ein gestaffeltes Inkrafttreten des TVs. Vielmehr tritt der TV zu dem im TV benannten Zeitpunkt vollständig in Kraft. Lediglich seine Rechtsfolgen kommen zu unterschiedlichen Zeitpunkten zum Tragen2. Der Zeitpunkt der Wirkung der Rechtsfolgen ist im Falle eines Verbandsaustritts u.U. für die Tarifbindung des Arbeitgebers nach § 3 Abs. 3 TVG sowie die Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG maßgeblich3.
92
Unter Umständen kann die Festlegung des Inkrafttretens zu einer zeitlichen Rückwirkung des TVs führen. Dabei ist im Einzelfall stets zu ermitteln, ob die TV-Parteien eine Rückwirkung beabsichtigt haben oder nicht. Insbesondere betrifft dies Abschlussnormen für Arbeitsverträge und die Frage einer Pflicht des Arbeitgebers zur Anpassung bereits abgeschlossener Arbeitsverträge4. Weiter ist für die Beurteilung zwischen echter und unechter Rückwirkung zu differenzieren. Eine echte Rückwirkung liegt im Falle einer Rückbewirkung von Rechtsfolgen vor, wenn also die Rechtsfolgen für einen bereits abgeschlossenen Sachverhalt geändert werden. Unechte Rückwirkung liegt dagegen vor, wenn der Sachverhalt, für den die Rechtsfolgen geändert werden, noch nicht abgeschlossen ist, sog. tatbestandliche Rückanknüpfung. Das BAG legt für die Bewertung der Wirksamkeit einer Rückwirkung einen großzügigen Maßstab an. Demnach tragen tarifvertragliche Regelungen auch während der Laufzeit des TVs den immanenten Vorbehalt ihrer rückwirkenden Abänderbarkeit durch TV in sich. Dies gilt auch für bereits entstandene und fällig gewordene, noch nicht abgewickelte Ansprüche, die aus einer Tarifnorm folgen, sog. wohlerworbene Rechte. Der Vertrauensschutz in den Fortbestand einer tariflichen Regelung entfällt demnach, wenn und sobald der Normunterworfene mit einer Änderung zu rechnen hatte, wobei positive Kenntnis des Einzelnen nicht notwendig ist (näher zur Rückwirkung Teil 3)5.
III. Ende 93
TVe haben häufig eine Mindestlaufzeit, nach deren Ablauf sie bis zum Eintritt eines Beendigungstatbestands unbefristet weitergelten. Denkbar sind unterdessen auch Befristungen, denen zufolge der TV nach ihrem Ablauf automatisch außer Kraft tritt. Die Laufzeit eines TVs steht dabei grds. zur Disposition der TV-Parteien. Zur Ge1 ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 18; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 5; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 17 IV 1 (S. 759); HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 24; zur Frage späterer Kollisionen nach § 4a Abs. 2 Satz 3 TVG vgl. Greiner, NZA 2015, 769; Hohenstatt/Schuster, ZIP 2016, 5. 2 ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 18; Hromadka/Maschmann, § 13 Rz. 236; Jacobs/Krause/Oetker, § 4 Rz. 82; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 226; a.A.: Buchner, AR-Blattei SD. 1550.4 Rz. 148. 3 BAG v. 17.5.2000 – 4 AZR 363/99, NZA 2001, 453 für Stufenangleichungen der Lohnhöhe OstWest. 4 Dazu eingehend Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 232 ff. 5 BAG v. 24.10.2007 – 10 AZR 878/06, NZA 2008, 131.
718 Stamer
Rz. 95a Teil 8
Geltungsbereichsklausel
währleistung der Funktionstüchtigkeit der Tarifautonomie nach Art. 9 Abs. 3 GG ist allerdings eine unverhältnismäßig lange Bindung der TV-Parteien an einen TV unzulässig1. Neben der Beendigung des TVs infolge Zeitablaufs kann auch der Eintritt einer auf- 94 lösenden Bedingung das für die Beendigung der normativen tariflichen Wirkung maßgebende Ereignis sein. So ist die Geltung von SanierungsTVen häufig auflösend durch den Eintritt bestimmter Parameter der wirtschaftlichen Lage eines Unternehmens bedingt. Fehlen ausdrückliche Regelungen zum Zeitablauf oder zum Eintritt einer auflösenden Bedingung, kann der TV durch (ordentliche oder außerordentliche) Kündigung oder durch Aufhebungsvertrag beendet werden. Schließlich besteht die Möglichkeit der Ablösung eines TVs durch einen neuen TV. Nach der Zeitkollisionsregel werden die älteren tariflichen Regelungen durch die des neu abgeschlossenen TVs abgelöst (vgl. Teil 9 Rz. 80). Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass die aufeinanderfolgenden Tarifvereinbarungen von denselben TV-Parteien geschlossen wurden. Ein VerbandsTV wird mithin nicht von einem HausTV abgelöst, vielmehr tritt Tarifkonkurrenz ein2, weshalb ggf. § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG zum Tragen kommt. Endet ein TV müssen u.U. in der Folge die Mehrheitsverhältnisse nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG neu bestimmt werden3. Denkbar ist allerdings auch ein Wegfall einer früheren Tarifkollision (vgl. auch Rz. 43 und Rz. 57 ff.).
95
G. Geltungsbereichsklausel „§ 1 Geltungsbereich
95a
1. Vorbehaltlich nachfolgender Bestimmungen gilt dieser TV a) sektoral: Fr die be- und verarbeitenden Betriebe der (Bezeichnung-)Industrie, insbesondere einschließlich der (beispielhafte Aufzhlung von Betriebszwecken). b) rumlich: Fr die Bundeslnder (Bundeslnder ergnzen). c) persçnlich: Fr die in diesen Betrieben beschftigten Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen4, einschließlich derjenigen Arbeitnehmer, die gemß § 8 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch eine geringfgige Beschftigung ausben. (Ggfls. Regelungen fr weitere Beschftigte wie Auszubildende, in Heimarbeit Ttige und dergl. ergnzen.)
1 Vgl. Jacobs/Krause/Oetker, § 5 Rz. 83. 2 BAG v. 19.11.2014 – 4 AZR 761/12, NZA 2015, 950; zur Ablösung von TVen vgl. auch LAG Hessen v. 10.9.2012 – 17 Sa 57/12. 3 Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 203 Rz. 56. 4 In einer Fußnote wäre folgender Hinweis empfehlenswert: Nachfolgend wird aus Gründen der Lesbarkeit auf eine geschlechtsspezifische Unterscheidung verzichtet und jeweils ausschließlich die männliche Form verwendet. Eine unterschiedliche Behandlung männlicher und weiblicher Beschäftigter ist damit nicht verbunden.
Stamer
719
Rz. 95a Teil 8
Geltungsbereichsklausel
währleistung der Funktionstüchtigkeit der Tarifautonomie nach Art. 9 Abs. 3 GG ist allerdings eine unverhältnismäßig lange Bindung der TV-Parteien an einen TV unzulässig1. Neben der Beendigung des TVs infolge Zeitablaufs kann auch der Eintritt einer auf- 94 lösenden Bedingung das für die Beendigung der normativen tariflichen Wirkung maßgebende Ereignis sein. So ist die Geltung von SanierungsTVen häufig auflösend durch den Eintritt bestimmter Parameter der wirtschaftlichen Lage eines Unternehmens bedingt. Fehlen ausdrückliche Regelungen zum Zeitablauf oder zum Eintritt einer auflösenden Bedingung, kann der TV durch (ordentliche oder außerordentliche) Kündigung oder durch Aufhebungsvertrag beendet werden. Schließlich besteht die Möglichkeit der Ablösung eines TVs durch einen neuen TV. Nach der Zeitkollisionsregel werden die älteren tariflichen Regelungen durch die des neu abgeschlossenen TVs abgelöst (vgl. Teil 9 Rz. 80). Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass die aufeinanderfolgenden Tarifvereinbarungen von denselben TV-Parteien geschlossen wurden. Ein VerbandsTV wird mithin nicht von einem HausTV abgelöst, vielmehr tritt Tarifkonkurrenz ein2, weshalb ggf. § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG zum Tragen kommt. Endet ein TV müssen u.U. in der Folge die Mehrheitsverhältnisse nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG neu bestimmt werden3. Denkbar ist allerdings auch ein Wegfall einer früheren Tarifkollision (vgl. auch Rz. 43 und Rz. 57 ff.).
95
G. Geltungsbereichsklausel „§ 1 Geltungsbereich
95a
1. Vorbehaltlich nachfolgender Bestimmungen gilt dieser TV a) sektoral: Fr die be- und verarbeitenden Betriebe der (Bezeichnung-)Industrie, insbesondere einschließlich der (beispielhafte Aufzhlung von Betriebszwecken). b) rumlich: Fr die Bundeslnder (Bundeslnder ergnzen). c) persçnlich: Fr die in diesen Betrieben beschftigten Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen4, einschließlich derjenigen Arbeitnehmer, die gemß § 8 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch eine geringfgige Beschftigung ausben. (Ggfls. Regelungen fr weitere Beschftigte wie Auszubildende, in Heimarbeit Ttige und dergl. ergnzen.)
1 Vgl. Jacobs/Krause/Oetker, § 5 Rz. 83. 2 BAG v. 19.11.2014 – 4 AZR 761/12, NZA 2015, 950; zur Ablösung von TVen vgl. auch LAG Hessen v. 10.9.2012 – 17 Sa 57/12. 3 Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 203 Rz. 56. 4 In einer Fußnote wäre folgender Hinweis empfehlenswert: Nachfolgend wird aus Gründen der Lesbarkeit auf eine geschlechtsspezifische Unterscheidung verzichtet und jeweils ausschließlich die männliche Form verwendet. Eine unterschiedliche Behandlung männlicher und weiblicher Beschäftigter ist damit nicht verbunden.
Stamer
719
Teil 8 Rz. 96
Geltungsbereich
2. Dieser TV gilt nicht fr: a) leitende Angestellte im Sinne von § 5 Abs. 3 BetrVG, sowie unabhngig von einem solchen Status fr Arbeitnehmer, denen Prokura nach § 49 HGB bertragen ist. b) Arbeitnehmer, die ohne Zulagen ein ber das Tarifentgelt der Entgeltgruppe (Bezeichnung) hinausgehendes regelmßiges Entgelt erhalten. c) Arbeitnehmer, die berwiegend Ttigkeiten im Sinne der TVe der (Bezeichnung Industrie) ausben. d) (Ggf. Regelungen fr weitere Beschftigte wie Auszubildende, in Heimarbeit Ttige und dergl. ergnzen.)“
H. Normen über gemeinsame Einrichtungen I. Begriff 96
§ 4 Abs. 2 TVG regelt für gemeinsame Einrichtungen der TV-Parteien die normative Wirkung tariflicher Regelungen im Hinblick auf deren Satzung sowie das Verhältnis der Einrichtung zu den tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Gemeinsame Einrichtungen sind von den TV-Parteien geschaffene und von ihnen abhängige Organisationen, deren Zweck und Organisationsstruktur durch TV festgelegt wird1. Sie verschaffen Arbeitnehmern Ansprüche, beispielsweise im Zusammenhang mit Saison-Kurzarbeitergeld, Urlaub, Berufsausbildung und Qualifizierung, Vermögensbildung, Arbeitsgestaltung, Beschäftigungssicherung und betrieblicher Altersversorgung2. Anerkanntermaßen kann eine gemeinsame Einrichtung dabei als Träger zur Erfüllung bestimmter Arbeitgeberpflichten an die Stelle der einzelnen Arbeitgeber treten3.
97
Meist werden gemeinsame Einrichtungen zur Erbringung von Sozialleistungen während der Dauer eines Arbeitsverhältnisses erbracht. Gleichwohl können gemeinsame Einrichtungen auch den nachvertraglichen Zeitraum umfassen, beispielsweise im Falle von Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften bei betriebsbedingten Kündigungen.
II. Organisation 98
Für das Vorliegen einer gemeinsamen Einrichtung im Sinne des § 4 Abs. 2 TVG müssen bestimmte Mindestanforderungen erfüllt sein. 1 BAG v. 25.1.1989 – 5 AZR 43/88, AP Nr. 5 zu § 1 GesamthafenbetriebsG; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 25. 2 Vgl. dazu den Vorschlag des BMAS v. 23.1.2015 hinsichtlich eines neueinzuführenden § 17b BetrAVG, der für TVe die Möglichkeit einer reinen Beitragszusage des Arbeitgebers vorsehen soll, die über eine gemeinsame Einrichtung der TV-Parteien durchgeführt werden; dazu Rolfs, NZA-Beilage 1/2015, 67. 3 BAG v. 25.1.1989 – 5 AZR 43/88, AP Nr. 5 zu § 1 GesamthafenbetriebsG für den GHB Lübeck.
720 Stamer
Teil 8 Rz. 96
Geltungsbereich
2. Dieser TV gilt nicht fr: a) leitende Angestellte im Sinne von § 5 Abs. 3 BetrVG, sowie unabhngig von einem solchen Status fr Arbeitnehmer, denen Prokura nach § 49 HGB bertragen ist. b) Arbeitnehmer, die ohne Zulagen ein ber das Tarifentgelt der Entgeltgruppe (Bezeichnung) hinausgehendes regelmßiges Entgelt erhalten. c) Arbeitnehmer, die berwiegend Ttigkeiten im Sinne der TVe der (Bezeichnung Industrie) ausben. d) (Ggf. Regelungen fr weitere Beschftigte wie Auszubildende, in Heimarbeit Ttige und dergl. ergnzen.)“
H. Normen über gemeinsame Einrichtungen I. Begriff 96
§ 4 Abs. 2 TVG regelt für gemeinsame Einrichtungen der TV-Parteien die normative Wirkung tariflicher Regelungen im Hinblick auf deren Satzung sowie das Verhältnis der Einrichtung zu den tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Gemeinsame Einrichtungen sind von den TV-Parteien geschaffene und von ihnen abhängige Organisationen, deren Zweck und Organisationsstruktur durch TV festgelegt wird1. Sie verschaffen Arbeitnehmern Ansprüche, beispielsweise im Zusammenhang mit Saison-Kurzarbeitergeld, Urlaub, Berufsausbildung und Qualifizierung, Vermögensbildung, Arbeitsgestaltung, Beschäftigungssicherung und betrieblicher Altersversorgung2. Anerkanntermaßen kann eine gemeinsame Einrichtung dabei als Träger zur Erfüllung bestimmter Arbeitgeberpflichten an die Stelle der einzelnen Arbeitgeber treten3.
97
Meist werden gemeinsame Einrichtungen zur Erbringung von Sozialleistungen während der Dauer eines Arbeitsverhältnisses erbracht. Gleichwohl können gemeinsame Einrichtungen auch den nachvertraglichen Zeitraum umfassen, beispielsweise im Falle von Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften bei betriebsbedingten Kündigungen.
II. Organisation 98
Für das Vorliegen einer gemeinsamen Einrichtung im Sinne des § 4 Abs. 2 TVG müssen bestimmte Mindestanforderungen erfüllt sein. 1 BAG v. 25.1.1989 – 5 AZR 43/88, AP Nr. 5 zu § 1 GesamthafenbetriebsG; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 25. 2 Vgl. dazu den Vorschlag des BMAS v. 23.1.2015 hinsichtlich eines neueinzuführenden § 17b BetrAVG, der für TVe die Möglichkeit einer reinen Beitragszusage des Arbeitgebers vorsehen soll, die über eine gemeinsame Einrichtung der TV-Parteien durchgeführt werden; dazu Rolfs, NZA-Beilage 1/2015, 67. 3 BAG v. 25.1.1989 – 5 AZR 43/88, AP Nr. 5 zu § 1 GesamthafenbetriebsG für den GHB Lübeck.
720 Stamer
Normen ber gemeinsame Einrichtungen
Rz. 100 Teil 8
1. Organisatorische Selbständigkeit Das Tatbestandsmerkmal der Einrichtung setzt ein Mindestmaß an organisatorischer 99 Selbständigkeit voraus. Die Gründung der gemeinsamen Einrichtung als juristische Person ist indessen nicht zwingend1. Die organisatorische Selbständigkeit erfordert eine institutionelle Basis und mithin eine eigene Verwaltung. Gleichwohl ist nicht notwendig, dass der gemeinsamen Einrichtung eigene immaterielle und materielle Mittel zur Verfügung stehen2. Vielmehr können auch treuhänderische Einzelpersonen3, ein Schiedsgericht nach § 101 Abs. 2 ArbGG4 oder eine Schlichtungsstelle nach § 76 Abs. 8 BetrVG5 eine gemeinsame Einrichtung im Sinne des Gesetzes bilden. Meist sind gemeinsame Einrichtungen aber in Form eines wirtschaftlichen Vereins (§ 22 BGB), einer GmbH oder einer AG organisiert. Auch können die TV-Parteien sich einer bestehenden juristischen Person des öffentlichen Rechts als ihrer gemeinsamen Einrichtung bedienen6. 2. Gemeinsamkeitspostulat Wenngleich der Begriff der gemeinsamen Einrichtung anderes nahelegt, ist eine Über- 100 betrieblichkeit der Einrichtung nicht erforderlich7. Gemeinsame Einrichtungen können folglich auch durch FirmenTVe errichtet werden8, wobei dies freilich der mit gemeinsamen Einrichtungen angestrebten Lasten- und Risikoverteilung jedenfalls nicht stets gerecht würde. Allerdings muss die geschaffene Einrichtung eine gemeinsame Angelegenheit der TV-Parteien sein. Die gemeinsame Einrichtung muss folglich durch TV oder aufgrund eines TVs eingerichtet worden sein und von den TV-Parteien gemeinsam getragen werden. Weiter ist erforderlich, dass die von den TV-Parteien geschaffene Einrichtung von diesen beeinflusst wird, wobei unterschiedliche Auffassungen über den Grad des Einflusses bestehen. Jedenfalls muss eine paritätische Aufsicht und Kontrolle der beteiligten TV-Parteien bestehen, wobei auch „unparteiische“ Dritte berufen werden können9. Nicht zulässig ist die Beteiligung eines Dritten an der gemeinsamen Einrichtung. Keine gemeinsame Einrichtung ist die Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder. Die Leistungsansprüche der Arbeitnehmer sind nicht tariflich begründet, sondern schuldrechtlich kraft Vertrages zugunsten Dritter10.
1 2 3 4 5 6 7 8 9
10
HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 29; vgl. dazu auch Jacobs/Krause/Oetker, § 4 Rz. 81. ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 24; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 328. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 15 IX 3 (S. 621). BAG v. 3.9.1986 – 5 AZR 319/85, NZA 1987, 178; BAG v. 10.4.1996 – 10 AZR 722/95, NZA 1996, 942. Buchner, AR-Blattei SD 1550.5 Rz. 288; Kleinebrink, ArbRB 2015, 112; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 786. BAG v. 28.4.1981 – 3 AZR 255/80, AP Nr. 3 zu § 4 TVG Gemeinsame Einrichtungen. Vgl. Däubler/Hensche/Heuschmid, § 1 TVG Rz. 1051; Jacobs/Krause/Oetker, § 4 Rz. 82; Löwisch/Rieble, § 4 Rz. 399. Kempen/Zachert/Seifert, § 4 TVG Rz. 289. BAG v. 25.1.1989 – 5 AZR 43/88, AP Nr. 5 zu § 1 GesamthafenbetriebsG; zum Streitstand hinsichtlich der Parität ausführlich Assenmacher, Funktionen und Befugnisse der Gemeinsamen Einrichtungen der TV-Parteien, 2003, 48 ff. BGH v. 20.7.2011 – IV ZR 76/09, NVwZ-RR 2011, 997; auch Pensionskassen sind keine gemeinsamen Einrichtungen, vgl. LAG Hessen v. 15.2.2008 – 8 Ta 259/07.
Stamer
721
Teil 8 Rz. 101
Geltungsbereich
III. Normative Wirkung 101 Erfüllt eine Einrichtung die Voraussetzungen einer gemeinsamen Einrichtung, bestimmt sich die normative Wirkung der diesbezüglichen Tarifregelungen nach § 4 Abs. 2 TVG. Die normative Wirkung betrifft nach dem Gesetzeswortlaut die Satzung der Einrichtung sowie das Verhältnis der Einrichtung zu den tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. 102 Für die Satzung der Einrichtung gilt, dass diese den tariflichen Bestimmungen genügen muss. Ist dies nicht der Fall oder enthält die Satzung Lücken, wird die Satzung nicht durch den TV „verdrängt“. Vielmehr gelten insoweit die für die gewählte Einrichtungsform maßgeblichen Statusvorschriften. Allerdings sind die TV-Parteien in solch einem Falle verpflichtet, die Satzung entsprechend anzupassen1. 103 Hinsichtlich der Erstreckung der normativen Wirkung nach § 4 Abs. 2 TVG auf das Verhältnis zu Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist zwischen der sog. Beitragsbeziehung zwischen verpflichtetem Arbeitgeber und Einrichtung einerseits und der Leistungsbeziehung zwischen Einrichtung und berechtigten Arbeitnehmern andererseits zu unterscheiden2. Dabei ordnet § 4 Abs. 2 TVG die „Geltung“ tariflicher Regelungen über gemeinsame Einrichtungen für das Verhältnis der Einrichtung „zu den tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern“ an. Streitig ist, ob für die normative Wirkung beiderseitige Tarifgebundenheit erforderlich ist oder die zwingende Wirkung bereits dann eintritt, wenn nur eine der Arbeitsvertragsparteien tarifgebunden ist3. Aufgrund der systematischen Einordnung in § 4 sowie der Regelung nach § 4 Abs. 1 Satz 2 TVG bedarf es in jedem Fall einer Tarifgebundenheit des Arbeitgebers4. Da entsprechende TVe meist für allgemeinverbindlich erklärt werden (vgl. Rz. 12 und Rz. 106), ist die Streitfrage ohnehin zu vernachlässigen. 104 Die normative Wirkung tariflicher Regelungen über gemeinsame Einrichtungen ist auf den Geltungsbereich des TVs begrenzt. So kann für einen Arbeitgeber eine Beitragspflicht zu einer Zusatzversorgungskasse nur entstehen, wenn er dem Geltungsbereich des TVs über die gemeinsame Einrichtung überhaupt unterworfen ist5. Insofern kann auf die Ausführungen zum Geltungsbereich eines TVs verwiesen werden (vgl. insbesondere Rz. 50 ff.)6. 105 Ist der Arbeitgeber tarifgebunden oder der TV für allgemeinverbindlich erklärt, kann die gemeinsame Einrichtung Beiträge des Arbeitgebers beanspruchen. Hinsichtlich 1 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 318. 2 Offen gelassen von BAG v. 9.12.2009 – 4 AZR 190/08, NZA 2010, 712; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 25; vgl. dazu auch Thüsing/v. Hoff, ZfA 2008, 77. 3 HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 27; vgl. dazu auch Kempen/Zachert/Seifert, § 4 TVG Rz. 316. 4 BAG v. 5.10.1993 – 3 AZR 586/92, NZA 1994, 848; dazu auch Waas, RdA 2000, 81; zu Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität bei gemeinsamen Einrichtungen vgl. Bepler, NZA-Beilage 2/2011, 73; Zachert, NZA-Beilage Nr. 1/2010, 17. 5 Vgl. dazu BAG v. 9.4.2014 – 10 AZR 1085/12, AP Nr. 15 zu § 1 TVG Tarifverträge: Maler. 6 Zu einzelnen Beispielsfällen, auch zu Fällen eines Mischbetriebs, vgl. BAG v. 14.11.2001 – 10 AZR 76/01, NZA 2002, 1049; BAG v. 24.9.2003 – 10 AZR 14/03, NJOZ 2005, 349; BAG v. 14.7.2010 – 10 AZR 164/09, AP Nr. 322 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG v. 17.11.2010 – 10 AZR 845/09, AP Nr. 326 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG v. 8.12.2010 – 10 AZR 710/09, AP Nr. 329 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau.
722 Stamer
Normen ber gemeinsame Einrichtungen
Rz. 106 Teil 8
des Verhältnisses der gemeinsamen Einrichtung zum Arbeitnehmer ist hingegen zu beachten, dass dieser nicht zwingend „spiegelbildlich“ die gemeinsame Einrichtung in Anspruch nehmen kann. Vielmehr kann die gemeinsame Einrichtung auch einen Fonds aus den Arbeitgeberbeiträgen bilden und aus diesem im Leistungsfall des Arbeitgebers Erstattungen an den Arbeitgeber vornehmen. Beispielsweise betrifft dies die Urlaubskassen im Baugewerbe. Deren Zweck besteht darin, die Lasten der Freizeitgewährung und Bezahlung gleichmäßig auf alle Arbeitgeber der Branche zu verteilen, zumal der Bauarbeiter wegen des branchenüblichen häufigen Arbeitsplatzwechsels oft nur durch eine tarifliche Sonderregelung einen zusammenhängenden Jahresurlaub erlangen kann1. Für diesen Zweck sammelt die Kasse die von den Arbeitgebern zu zahlenden Beträge an und verwaltet diese treuhänderisch. Der Arbeitgeber kann dann im Wege des Erstattungsverfahrens die an die Arbeitnehmer ausgezahlten Beträge abrufen. Eine Insolvenzsicherung bildet die Kasse damit nicht2.
IV. Allgemeinverbindlicherklärung Auch Tarifnormen über gemeinsame Einrichtungen können im Wege der Allgemein- 106 verbindlicherklärung in ihrem Geltungsbereich nach § 5 TVG auf alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer einer Branche erstreckt werden. Der durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz neu eingeführte § 5 Abs. 1a TVG weicht vom hergebrachten Verfahren nach – dem durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz ebenfalls neu gefassten – § 5 Abs. 1 TVG insoweit ab, als es keiner gesonderten Prüfung bedarf, ob die Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse geboten erscheint. In der Begründung zum Regierungsentwurf des Tarifautonomiestärkungsgesetzes ist hierzu aufgeführt, dass ein öffentliches Interesse nach Satz 1 grds. bereits dann gegeben sei, wenn durch die Allgemeinverbindlicherklärung die Funktionsfähigkeit der gemeinsamen Einrichtung der TV-Parteien gesichert werden soll. Dies sei auch bislang in der Rechtsprechung anerkannt gewesen3. Ziel der Regelung war demnach, es den TVParteien zu ermöglichen, ihre Normsetzungsbefugnis auch in Bezug auf die Regelung gemeinsamer Einrichtungen wirksam wahrnehmen zu können. Nach dem Regierungsentwurf sollten die erleichterten Voraussetzungen des § 5 Abs. 1a nur für TVe gelten, die die Einziehung von Beiträgen und die Gewährung von Leistungen durch eine gemeinsame Einrichtung mit bestimmten, abschließend aufgeführten Gegenständen regeln4. Zu beachten ist, dass nach § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG ein nach § 5 Abs. 1a TVG für allgemeinverbindlich erklärter TV vom Arbeitgeber auch dann einzuhalten ist, wenn er nach § 3 TVG an einen anderen TV gebunden ist (näher zur Allgemeinverbindlicherklärung Teil 7)5. Insoweit gilt also die Kollisionsregel nach § 4a Abs. 2 TVG nicht6. Die Allgemeinverbindlicherklärung erfolgte bereits bislang in aller Regel, und zwar aufgrund der sozialpolitischen Aufgaben der gemeinsamen Einrichtungen, die regelmäßig flächen- und branchenübergreifend bzw. verbandsunab1 Vgl. dazu Daeschler, NZA-Beilage 1/2010, 6; Sahl, NZA-Beilage 1/2010, 8. 2 Vgl. BAG v. 25.10.1985 – 6 AZR 35/82, NZA 1985, 365 zur damaligen Konkursordnung. 3 BT-Drucks. 18/1558, 49 unter Hinweis auf BAG v. 24.1.1979 – 4 AZR 377/77 und BAG v. 28.3.1990 – 4 AZR 536/89. 4 Vgl. dazu BT-Drucks. 18/1558, 19. 5 Vgl. hierzu auch Bayreuther/Deinert, RdA 2015, 129. 6 Vgl. dazu auch Richardi, NZA 2015, 915.
Stamer
723
Teil 8 Rz. 107
Geltungsbereich
hängig anfallen1. Sie hat zur Folge, dass auch nicht tarifgebundene Arbeitgeber2 Beiträge zur gemeinsamen Einrichtung entrichten müssen. Eine Zwangsmitgliedschaft wird hingegen nicht begründet3. Kollisionen mit anderen TVen können ggf. durch sog. Einschränkungsklauseln vermindert werden4. 107 Die Erstreckung allgemeinverbindlicher TVe über gemeinsame Einrichtungen auf ausländische Arbeitsverhältnisse nach dem Arbeitnehmerentsendegesetz hat nach § 8 Abs. 1 Satz 1 AEntG zur Folge, dass ein ausländischer Arbeitgeber im gleichen Maße wie ein inländischer Arbeitgeber zur Beitragsleistung verpflichtet ist5.
V. Ausscheiden 108 Im Falle des Herauswachsens des Arbeitgebers aus dem Geltungsbereich tritt nach Auffassung des BAG entgegen den allgemeinen Grundsätzen zum Geltungsbereich (vgl. Rz. 58) keine Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG ein6. Vielmehr endet bei einem Ausscheiden aus dem Geltungsbereich, beispielweise infolge eines Branchenwechsels, die Wirksamkeit des TVs. Dies hat wiederum zur Folge, dass auch die Rechtsbeziehungen der gemeinsamen Einrichtung zu den Arbeitgebern und Arbeitnehmern enden. Die Beitragspflichten des Arbeitgebers sowie die entsprechenden Leistungsansprüche der Arbeitnehmer aufgrund des Versicherungsverhältnisses erlöschen. Unter Umständen ist der Arbeitgeber aber verpflichtet, dem Arbeitnehmer eine gleichwertige Leistung zu verschaffen7. Wird eine gemeinsame Einrichtung durch TV aufgelöst, scheidet nach ihrer Liquidation eine Nachwirkung ebenfalls aus8.
1 Dazu Hanau, NZA-Beilage 1/2010, 1. 2 Zur Einbeziehung von Unternehmen, die keine Arbeitnehmer beschäftigen, in eine gemeinsame Einrichtung vgl. Bayreuther/Deinert, RdA 2015, 129. 3 Wiedemann/Oetker, § 1 TVG Rz. 850. 4 Vgl. BAG v. 13.4.2011 – 10 AZR 838/09, NZA 2011, 999; BAG v. 16.6.2010 – 4 AZR 934/08, NZA 2011, 656; Kretz, RdA 2011, 294; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 205 Rz. 94. 5 BAG v. 15.2.2012 – 10 AZR 711/10, NZA 2012, 76; vgl. zu der sich daraus ergebenden Problematik der Tarifkonkurrenz bei Gemeinsamen Einrichtungen ausführlich Oetker, NZA-Beilage 1/2010, 13; Däubler/Hensche/Heuschmid, § 1 TVG Rz. 1060; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 69. 6 BAG v. 5.10.1993 – 3 AZR 586/92, NZA 1994, 848; vgl. dazu auch Kempen/Zachert/Seifert, § 4 TVG Rz. 309; a.A.: Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 260, wonach § 4 Abs. 5 TVG auf gemeinsame Einrichtungen analog anwendbar ist; ebenso MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 170 Rz. 33. 7 Für den Fall der Verschmelzung BAG v. 5.10.1993 – 3 AZR 586/92, NZA 1994, 848; für den Fall der Betriebsveräußerung BAG v. 18.9.2001 – 3 AZR 689/00, NZA 2002, 1391; BAG v. 13.11.2007 – 3 AZR 191/06, NZA 2008, 600, wobei der TV nicht nur kraft beiderseitiger Tarifbindung beim Veräußerer galt, sondern zusätzlich eine arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel vereinbart worden war. 8 Däubler/Hensche/Heuschmid, § 4 TVG Rz. 878.
724 Stamer
Teil 9 Wirkung der Tarifnormen Rz.
Rz. A. Normwirkung (§ 4 Abs. 1 TVG). . . . . I. Unmittelbare Wirkung 1. Grundprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Normative Weitergeltung nach Betriebsübergang? . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Quasi-normative Wirkung von Bezugnahmeklauseln? . . . . . . . . . . . . II. 1. 2. 3. 4. 5.
Zwingende Wirkung Grundprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verdrängende Wirkung . . . . . . . . . . . . Wiederaufleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ende der zwingenden Wirkung . . . . . Rechtsfolgen bei tarifwidriger Direktionsrechtsausübung . . . . . . . . .
1 2 6 8 10 14 17 19 20
B. Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG I. Zweck, Legitimation und Verfassungsmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
II. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
III. Rechtsfolge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
IV. Ablösung nachwirkender Tarifverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ablösung durch Tarifvertrag . . . . . . . 2. Ablösung durch Betriebsvereinbarung 3. Ablösung durch Individualvertrag . . . 4. Zeitpunkt der Ablösung . . . . . . . . . . . 5. Höchstdauer der Nachwirkung . . . . .
45 46 50 51 54 57
C. Rechtsverlust und Tarifvertragsrecht I. Verzichtsverbot, § 4 Abs. 4 TVG 1. Regelungszweck, Rechtsfolgen und Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . 3. Ausnahmen a) Gebilligter Vergleich . . . . . . . . . . . b) Nicht gebilligter Prozessvergleich über Tatsachenfragen . . . . .
70
II. Verwirkung, § 4 Abs. 4 Satz 2 TVG. .
72
III. Verjährung tarifvertraglicher Rechte, Ausschluss-/Verfallfristen . .
76
59 61 67
D. Verhältnis zu anderen Regelungen I. Mehrheit von Tarifverträgen 1. Mehrheit von Tarifverträgen derselben Tarifvertragsparteien a) Tarifwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Ablösungsprinzip, Zeitkollisionsregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Spezialitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . 2. Mehrheit von Tarifverträgen mit partiell gleicher Normurheberschaft. 3. Mehrheit von Tarifverträgen konkurrierender Tarifvertragsparteien . . a) Tarifkonkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . b) Divergenz von normativer Wirkung und arbeitsvertraglicher Bezugnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Tarifpluralität, „Tarifkollision“, Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Tatbestand der Tarifpluralität . bb) Historische Entwicklung bis zum Inkrafttreten des Tarifeinheitsgesetzes 2015 . . . . . . . cc) Tarifeinheitsgesetz 2015: Gesetzliche Wiederherstellung der Tarifeinheit im Betrieb . . . dd) Regelungsziele des Tarifeinheitsgesetzes; zwingende Rechtsnatur. . . . . . . . . . . . . . . . ee) Voraussetzung: Tarifkollision . ff) Bezugspunkt: Betrieb . . . . . . . . (1) Beeinflussung der Tarifwirkungen durch Betriebszuschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Beeinflussung der Tarifwirkungen durch tarifliche Festlegung der Betriebsratsstruktur (§ 3 BetrVG). . . . . . . . . . . . . gg) Mehrheitsprinzip; Verfahren der Mehrheitsfeststellung . . . . (1) Verfahrensrechtlicher Standort der Mehrheitsfeststellung . (2) Vereinbarkeit mit dem BDSG und höherrangigem Recht . . . . (3) Notarielles Verfahren. . . . . . . . (4) „Mitglied“ i.S.d. § 4 Abs. 2 Satz 2 TVG . . . . . . . . . . . . . . . . hh) Rechte und verbleibende Handlungsmöglichkeiten von Minderheitsgewerkschaften im Betrieb (1) Übergangsregelung, § 13 Abs. 3 TVG . . . . . . . . . . . . . . . .
80 81 86 91 92
98
101 102
103
109
110 113 117
118
120 127 129 132 134 139
141
79
Greiner
725
Teil 9
Wirkung der Tarifnormen Rz.
Rz. (2) Nachzeichnungs- und Anhörungsrecht, § 4a Abs. 4, 5 TVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Kooperative Tarifmodelle . . . . (4) Bilaterale Gestaltung der Arbeitsbedingungen ohne normative Wirkung . . . . . . . . . (5) Streikrecht der Minderheitsgewerkschaft. . . . . . . . . . . . . . . ii) Wirkungen und verfassungsrechtliche Bewertung. . . . . . . . (1) Strukturelle Benachteiligung der Berufs- und Spartengewerkschaften . . . . . . . . . . . . . . (2) Institutionelle Gewährleistung der Tarifautonomie als Selbstbestimmungsordnung . . (3) Schutz der Vertragsfreiheit im Konzertationsstadium . . . . (4) Schwächung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie . (5) Demokratieprinzip. . . . . . . . . . (6) Prognose einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung . . jj) Alternativkonzepte . . . . . . . . . II. Verhältnis des Tarifvertrags zu rangniederen Regelungen 1. Günstigkeitsprinzip a) Modifikation des Grundprinzips Normenhierarchie . . . . . . . . . . . . . b) Anwendungsbereich aa) TV im Verhältnis zum Arbeitsvertrag. . . . . . . . . . . . . . bb) TV und Betriebsvereinbarung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Einzubeziehende Tarifnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Einbeziehung schuldrechtlicher Koalitionsvereinbarungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Entsprechende Anwendung . . c) Regelungszweck, Auslegungsgrundsätze aa) Mindestarbeitsbedingungen, Entfaltung der individuellen Privatautonomie. . . . . . . . . . . . bb) Grundproblem: individuelle Privatautonomie im Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Durchführung des Günstigkeitsvergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Individueller Günstigkeitsvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . .
726 Greiner
142 151
154 159 161
162
168 171 172 174 176 178
181
184 187 190
193 196
198
201 206 207
bb) Vergleich von konkreten Rechtspositionen . . . . . . . . . . . cc) Sachgruppenvergleich . . . . . . . dd) Wirkungen des Sachgruppenvergleichs . . . . . . . . . . . . . . ee) Zweifelsregelung . . . . . . . . . . . ff) Maßgeblicher Zeitpunkt der Günstigkeitsbetrachtung . e) Grenzfragen des Günstigkeitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Beschäftigungspolitisches Mandat der TV-Parteien . . . . . bb) Betriebliche Bündnisse für Arbeit (1) Grundkonstellation und rechtliche Bewertung. . . . . . . . (2) Sanierungstarifvertrag, dreiseitige Standortvereinbarung . (3) Arbeitszeitverlängerung im Sanierungstarifvertrag . . . . 2. Öffnungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Anrechnungs-/Aufsaugungsprinzip a) Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anrechnungsvorbehalt. . . . . . . . . . c) Anrechnung ohne Vorbehalt aa) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Mitbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . III. Verhältnis des Tarifvertrags zu betrieblichen Regelungen (Tarifvorrang, Tarifvorbehalt) . . . . . . . . . . . 1. Tarifvorbehalt (§ 77 Abs. 3 BetrVG) a) Schutzzweck und Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Relativierung durch Erga-omnesWirkung tariflicher Entgeltstrukturnormen über § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG . . . . . . . . . . . . . . . . . c) „Durch Tarifvertrag geregelt“ . . . . d) Tarifüblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . e) Beendigung der Sperrwirkung . . . . f) Prozessuale Geltendmachung . . . . g) Öffnungsklauseln (§ 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG) . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Sonderregelung: § 3 BetrVG . . . . . . i) Rechtsfolge: Verdrängung der Betriebsvereinbarung . . . . . . . . . . . j) Umdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Tarifvorrang gemäß § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG a) Schutzzweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . c) Anwendungsvoraussetzungen. . . .
211 212 216 219 220 221 222
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aa) Beidseitige Tarifgebundenheit oder einseitige Tarifbindung des Arbeitgebers?. . . . 297 bb) Vermittelnder Ansatz des BAG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
cc) Abschließende tarifvertragliche Regelung . . . . . . . . . . . . . 306 dd) Überlappung der Geltungszeiträume . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
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Normwirkung (§ 4 Abs. 1 TVG)
Rz. 1 Teil 9
Bindung der Rechtsprechung, NZA 2003, 122; Schliemann, Tarifkollision – Ansätze zur Vermeidung und Auflösung, NZA-Beil. 2000, 24; Schlüter, Wer Sozialpläne verzögert, wird bestraft! – „punitive damages“ im Betriebsverfassungsrecht?, in: Festschrift für Walter Stree und Johannes Wessels, 1993, S. 1061; Schmidt, Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes und die Sozialgerichtsbarkeit, RdA 1952, 301; Schmitt-Rolfes, Das Tarifeinheitsgesetz – ein Kompromiss, AuA 2015, 391; Schmitt-Rolfes, Schuss nach hinten?, AuA 2010, 503; Scholz, Bahnstreik und Verfassung, in: Festschrift für Herbert Buchner, 2009, S. 827; Scholz, Vergabe öffentlicher Aufträge nur bei Tarifvertragstreue?, RdA 2001, 193; Seiter, Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen beim Betriebsinhaberwechsel, DB 1980, 877; Sutschet, Bezugnahmeklausel kraft betrieblicher Übung, NZA 2008, 679; Sutschet, Firmenstreik und Abwehrmaßnahmen, ZfA 2005, 581; Thüsing, Dreigliedrige Standortvereinbarungen, NZA 2008, 201; Thüsing, Vom verfassungsrechtlichen Schutz des Günstigkeitsprinzips – Eine Skizze zu neueren Thesen im Lichte der Rechtsprechung des BVerfG, in: Gedächtnisschrift für Meinhard Heinze, 2005, S. 901; Thüsing, Vereinbarte Betriebsratsstrukturen, ZIP 2003, 693; Thüsing/Lambrich, Arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Tarifnormen, RdA 2002, 193; Thüsing/v. Medem, Tarifeinheit und Koalitionspluralismus: Zur Zulässigkeit konkurrierender Tarifverträge im Betrieb, ZIP 2007, 510; D. Ulber/Strauß, Differenzierungsklauseln im Licht der neuen Rechtsprechung zur Koalitionsfreiheit, DB 2008, 1970; Waas, Die Tariflandschaft im Umbruch – eine Betrachtung aus der Perspektive des Arbeitsrechts, Sozialer Fortschritt 2008, 137; Waas, Der Regelungsentwurf von DGB und BDA zur Tarifeinheit, ArbuR 2011, 93; Waltermann, Entwicklungslinien der Tarifautonomie, RdA 2014, 86; Wank, Die Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems, in: Soziale Sicherheit durch Sozialpartnerschaft, Festschrift zum 50jährigen Bestehen der Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes, 2007, S. 141; Wank, Aktuelle Probleme des Arbeitskampfrechts, RdA 2009, 1; Wank, Der kollektive Tatbestand als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des § 87 Abs. 1 BetrVG, in: Festschrift für Günther Wiese, 1998, S. 617; Wank, Tarifautonomie oder betriebliche Mitbestimmung?, RdA 1991, 129; Wank, Anm. EzA § 4 TVG Tarifkonkurrenz Nr. 9; Wiedemann, Tarifautonomie heute, BB 2013, 1397; Wank, Empfiehlt es sich, die Regelungsbefugnisse der Tarifparteien im Verhältnis zu den Betriebsparteien neu zu ordnen?, NJW 1996, 2273; Wiedemann, Individueller und kollektiver Günstigkeitsvergleich, in: Festschrift für Hellmut Wißmann, 2005, S. 185; Wiedemann/Arnold, Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, ZTR 1994, 399; Wiese, Zum Gesetzes- und Tarifvorbehalt nach § 87 Abs. 1 BetrVG, in: Festschrift 25 Jahre Bundesarbeitsgericht, 1979, S. 661; Willemsen/Mehrens, Das Ende der Tarifeinheit – Folgen und Lösungsansätze, NZA 2010, 1313; Willemsen/Sagan, Mindestlohn und Grundgesetz, NZA 2008, 1216; Witting, Die Tarifkonkurrenz, BArBl 1957, 544; Zachert, Rechtsfragen zu den aktuellen Tarifverträgen über Arbeitszeitverkürzung und Beschäftigungssicherung, AuR 1995, 1; Zeuner, Günstigkeitsprinzip und Verbandsbeschluß zur Verhinderung übertariflicher Arbeitsbedingungen, DB 1965, 630; Zöllner, Die Zulässigkeit neuer Arbeitskampfformen, in: Festschrift für Eduard Bötticher, 1969, S. 427; Zöllner, Tarifmacht und Außenseiter, RdA 1962, 453 (456 ff.); Zöllner, Das Wesen der Tarifnormen, RdA 1964, 443; Zöllner, Die Zulässigkeit einzelvertraglicher Verlängerung der tariflichen Wochenarbeitszeit, DB 1989, 2121; Zöllner, Veränderung und Angleichung tarifvertraglich geregelter Arbeitsbedingungen nach Betriebsübergang, DB 1995, 1401. Siehe auch die Nachweise vor Rz. 21.
A. Normwirkung (§ 4 Abs. 1 TVG) Gemäß § 4 Abs. 1 TVG wirken die Normen eines TVs unmittelbar und zwingend auf 1 die beiderseits tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse ein. Diese Wirkung zeichnet den normativen Teil des TVs aus und hebt ihn von anderen privatrechtlichen Vereinbarungen ab. Bei der Normsetzung durch TV-Parteien handelt es sich nach der Rechtsprechung des BVerfG „um Gesetzgebung im materiellen Sinne, die Normen im rechtstechnischen Sinne erzeugt“1.
1 BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, DB 1977, 1510.
Greiner
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Teil 9 Rz. 2
Wirkung der Tarifnormen
I. Unmittelbare Wirkung 1. Grundprinzip 2 Die „unmittelbare“ Normwirkung besagt, dass die Geltung der Tarifnormen weder von einer einzelvertraglichen Vereinbarung noch von der Kenntnis der Arbeitsvertragsparteien abhängt1. Eines individualvertraglichen Anwendungsbefehls bedarf es zur Tarifgeltung nicht2. Bezugnahmeklauseln im Arbeitsvertrag kommt bei zugleich bestehender normativer Bindung an den in Bezug genommenen TV nur eine deklaratorische Wirkung zu. 3 Konsequenz der in § 4 Abs. 1 TVG angeordneten unmittelbaren Wirkung ist, dass Tarifnormen eigenständige Anspruchsgrundlagen darstellen. Insofern wird gerade durch die unmittelbare Wirkung der Tarifnormen eine Gleichstellung mit dem staatlich gesetzten Recht auf dem Gebiet der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen erzielt3. Mit der unmittelbaren Wirkung ist zugleich geklärt, dass TV-Normen nicht Bestandteil des Arbeitsverhältnisses werden, sondern wie ein staatliches Gesetz von außen auf dieses einwirken4. Diese – in früherer Zeit dogmatisch umstrittene5 – quasi-gesetzliche Einwirkung auf das Arbeitsverhältnis ist heute einhellig anerkannt. 4 Gleichfalls eine Folge der unmittelbaren Geltung der Tarifnormen ist, dass ein Irrtum der Arbeitsvertragsparteien in dem Sinne, dass sie von der Nichtgeltung von Tarifnormen ausgehen oder irrtümlich einen nicht anwendbaren TV für anwendbar halten, an der Geltung des anwendbaren TV nichts ändert. 5 Die unmittelbare Geltung führt zur sog. „Tarifautomatik“. Die Rechtsfolgen einer Tarifnorm treten ipso iure ein, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen der Tarifnorm erfüllt sind. Infolgedessen hat etwa die Eingruppierung eines Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber lediglich eine klarstellende, deklaratorische Wirkung. Im Falle einer irrtümlichen Eingruppierung hat der Arbeitnehmer – in den Grenzen der Ausschlussfristen, der Verjährung oder Verwirkung (s. Rz. 72 ff.) – auch rückwirkend Anspruch auf die Gewährung der Arbeitsbedingungen nach der zutreffenden Vergütungsgruppe. 2. Normative Weitergeltung nach Betriebsübergang? 6 Nach wie vor nicht abschließend geklärt ist die Wirkung der Tarifnormen in Grenzfällen. Exemplarisch gilt dies für die Weitergeltung von Tarifnormen nach einem Betriebsübergang bei Wegfall der kongruenten Tarifbindung (§ 613a Abs. 1 Satz 2 BGB; ausf. Teil 15 Rz. 41 ff.): Insofern statuiert das Gesetz, dass die bis dahin unmittelbar normativ einwirkenden tarifvertraglichen Regelungen „Inhalt des Arbeitsverhältnis1 BAG v. 21.9.1989 – 1 AZR 454/88, NZA 1990, 351; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 300; Bayreuther, Tarifautonomie, S. 208 ff. 2 Anders z.B. in England, wo TVen lediglich die Wirkung eines „gentleman’s agreement“ zukommt, dessen verbindliche Wirkung im Arbeitsvertrag vereinbart werden muss; vgl. Hyman, The Historical Evolution of British Industrial Relations, 2003, S. 37 (39). 3 Vgl. dazu Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 300; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 29; Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 12; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 180. 4 BAG v. 15.1.1987 – 6 AZR 589/84, BB 1987, 2092; BAG v. 1.12.1992 – 1 AZR 234/92, NZA 1993, 613; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 304. 5 Vgl. Herschel, ZfA 1976, 89 (92 ff.).
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Normwirkung (§ 4 Abs. 1 TVG)
Rz. 7 Teil 9
ses zwischen dem neuen Inhaber und dem Arbeitnehmer“ werden; dies wurde bislang gemeinhin dahingehend interpretiert, dass die Tarifnormen ihre normative Wirkung verlieren und auf die Rechtsnatur arbeitsvertraglicher Vereinbarungen herabgestuft werden1. In jüngerer Zeit nimmt das BAG eine Mischform zwischen normativer und arbeitsvertraglicher Wirkung sui generis an2: Der kollektivrechtliche Charakter bleibe beim Betriebsübernehmer erhalten. Er sei an die – gleichwohl „transformierten“ – Regelungen „in einer Weise gebunden, die der Nachbindung des aus einem tarifschließenden Arbeitgeberverband ausgetretenen Arbeitgebers gemäß § 3 Abs. 3 TVG weitgehend entspricht, allerdings zeitlich begrenzt auf eine Dauer von einem Jahr“; spätere Änderungen der Tarifnormen während dieser Jahresfrist finden im Arbeitsverhältnis aber keine Anwendung3. Diese normative Bindung ohne jegliche mitgliedschaftliche Legitimation ist mit einer rein kollektiv-privatautonomen Herleitung der Tarifmacht nicht vereinbar und mit dem Wortlaut des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB auf den ersten Blick nur schwer in Einklang zu bringen4. Dem ersten Argument lässt sich entgegenhalten, dass ohnehin nur eine auch delega- 7 torische Herleitung der Tarifmacht den Realitäten des Tarifrechts gerecht wird5. Für die Position des BAG spricht außerdem, dass eine strenge Auslegung von Art. 3 Abs. 3 RL 2001/23/EG die normative Fortgeltung erforderlich machen könnte; demnach erhält der Erwerber die in einem Kollektivvertrag vereinbarten Arbeitsbedingungen bis zur Kündigung oder zum Ablauf des Kollektivvertrags bzw. bis zum Inkrafttreten oder bis zur Anwendung eines anderen Kollektivvertrags in dem gleichen Maße aufrecht, wie sie in dem Kollektivvertrag für den Veräußerer vorgesehen waren6. Dies könnte gegen die Richtlinienkonformität einer vollen Transformation sprechen. Dennoch wäre eine richtlinienkonforme Auslegung contra legem nicht möglich7. Der eindeutig für eine Transformation sprechende Befund der Gesetzesmaterialien8 ist dabei nur ein Gesichtspunkt, keine unumstößliche Auslegungsleitlinie9. Das Gesetz enthält auf den zweiten Blick durchaus Anhaltspunkte für das heute vom BAG präferierte Modell einer „Mischform“, insbesondere stützt die in § 613a Abs. 1 Satz 4 Halbs. 1 BGB vorgesehene Relevanz normativer Änderungen für die „transformierten“ Tarifnormen die Annahme einer kollektivrechtlichen Fortgeltung, während Halbs. 2 eher für einen individualrechtlichen Charakter spricht. Für die Position des BAG sprechen auch die bei vollständiger Transformation eintretenden Wertungswidersprüche, z.B. bei mehrfachem Betriebsübergang10. Die verbleibende zwingende Wirkung wird jedoch durch die in § 613a Abs. 1 Satz 2, 4 BGB vorgesehenen individualvertraglichen Änderungsmöglichkeiten (nach Satz 4 durch Bezugnahme 1 Etwa BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 332/00, NZA 2002, 513; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 229 m.w.N. 2 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 unter Aufgabe der früheren Rspr.; BAG v. 26.8.2009 – 5 AZR 969/08, NZA 2010, 173; so bereits früher grundlegend Zöllner, DB 1995, 1401 (1402 f.); zust. HWK/Willemsen, § 613a BGB Rz. 250 m.w.N.; Sagan, RdA 2011, 163. 3 BAG v. 3.7.2013 – 4 AZR 961/11, NZA-RR 2014, 80, Rz. 16 m.w.N. 4 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 229 m.w.N. 5 Vgl. ErfK/Franzen, 16. Aufl. 2016, § 1 TVG Rz. 6; Greiner, Rechtsfragen, S. 99 ff. m.w.N.; Wiedemann, BB 2013, 1397, 1400 f.; Waltermann, RdA 2014, 86; Waas, ArbuR 2011, 93 (96). 6 Bereits Seiter, DB 1980, 877 (881) zu RL 77/187/EWG. 7 Vgl. nur EuGH v. 4.7.2006 – Adeneler u.a. – C-212/04, NJW 2006, 2465. 8 BT-Drucks. 8/3317, S. 11 („individualrechtliche Verpflichtung“). 9 Deutlich – in anderem Kontext – MünchKommStGB/Schmitz, § 1 Rz. 73. 10 Moll, RdA 1996, 275 (279).
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Teil 9 Rz. 8
Wirkung der Tarifnormen
auch schon innerhalb des Jahreszeitraums) gegenüber der zwingenden Wirkung der Tarifnormen nach § 4 Abs. 1 TVG deutlich aufgeweicht. 3. Quasi-normative Wirkung von Bezugnahmeklauseln? 8 Gleichfalls nicht im Letzten geklärt sind die Wirkungen einer arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel auf einen TV. Nachdem das BAG in der Vergangenheit auch bei Fehlen einer normativen Tarifbindung (s. Teil 6, 7) zunächst in Einzelfragen eine quasi-normative Wirkung des arbeitsvertraglich in Bezug genommenen TVs befürwortete, was z.B. dazu führte, dass die Kollisionsprinzipien für TVe auch auf diesen Fall Anwendung fanden1 und etwa die Geltung allgemeiner Auslegungsgrundsätze sowie des AGB-Rechts stark eingeschränkt war2, hat sich in letzter Zeit überwiegend eine rein individualvertragliche Deutung der Bezugnahmeklausel durchgesetzt3. 9 Dieser Tendenz ist zuzustimmen: Die Bezugnahmeklausel führt nicht dazu, dass ein (zusätzlicher) Geltungsgrund für die Einwirkung der Tarifnormen auf das Arbeitsverhältnis „von außen“ geschaffen wird, sondern vielmehr zur arbeitsvertraglichen Inkorporierung des TVs (s. Teil 10 Rz. 7)4. Die Tarifnormen wirken infolge einer Bezugnahmeklausel wie schlichte arbeitsvertragliche Regelungen. Sie unterliegen damit nicht den Besonderheiten der normativen Wirkung von TV-Normen. Insbesondere finden die Kollisionsregeln für Tarifkollisionen (s. Rz. 79 ff.) auf diesen Fall keine Anwendung; es gilt das Günstigkeitsprinzip (§ 4 Abs. 3 TVG; s. Rz. 98 f.)5. Das BAG führt diese zutreffende individualvertragliche Deutung der Bezugnahmeklausel jedoch bislang nicht konsequent durch. Erneut ergebnisorientiert lässt es die individualvertragliche Deutung etwa bei der Inbezugnahme von einfachen Differenzierungsklauseln in TVen6 oder der Inbezugnahme von belastenden Tarifnormen7 schnell an Grenzen stoßen. Damit korreliert, dass offenbar auch der EuGH dazu neigt, entsprechend dem früheren dogmatischen Ansatz des BAG die Bezugnahmeklausel rein funktional als alternativen Weg zur Herbeiführung einer Tarifgeltung zu betrachten; er stellt die Bezugnahmeklausel der normativen Tarifgeltung funktional gleich8. Die Rechtsprechungspraxis sollte dies überdenken und künftig die dogmatisch einzig begründbare individualvertragliche Deutung der Bezugnahmeklausel konsequent praktizieren (s. noch Rz. 100).
1 BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736: Die einzelarbeitsvertragliche Inbezugnahme eines Tarifvertrages sei nur „eine von mehreren Arten, die Bindung an einen Tarifvertrag zu bewirken“; dagegen überzeugend HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 27; Jacobs, Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität, S. 181 ff. 2 Krit. z.B. Preis, FS 50 Jahre BAG, S. 123 (128 ff.); Hanau, NZA 2005, 489; Thüsing/Lambrich, RdA 2002, 193 (198 f.). 3 Ausf. Greiner, Rechtsfragen, S. 503 ff. m.w.N. 4 Z.B. BAG v. 22.9.1993 – 10 AZR 207/92, NZA 1994, 667. 5 BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364; ebenso BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 784/07, NZA 2009, 151. 6 Vgl. BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028; BAG v. 22.9.2010 – 4 AZR 117/09; dazu krit. Greiner/Suhre, NJW 2010, 131 (132 f. m.w.N.). 7 BAG v. 23.7.2014 – 7 AZR 771/12, NZA 2014, 1341. 8 Zuletzt EuGH v. 11.9.2014 – Österreichischer Gewerkschaftsbund – C-328/13 – NZA 2014, 1092, Rz. 24 f.; näher dazu Preis/Greiner, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 109.
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Normwirkung (§ 4 Abs. 1 TVG)
Rz. 14 Teil 9
II. Zwingende Wirkung 1. Grundprinzip Die zwingende Wirkung der Tarifnormen beinhaltet, dass Tarifnormen im Grundsatz 10 dieselbe Wirkung zukommt wie einseitig zwingenden staatlichen Gesetzen. Die durch Tarifnormen gewährleisteten Arbeitsbedingungen sind somit arbeitsvertraglich (oder durch Betriebsvereinbarung) nicht abdingbar. Erst die zwingende Tarifwirkung stellt die Geltung des TVs auch angesichts des im Arbeitsverhältnis häufig bestehenden Machtungleichgewichts zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer wirksam sicher. Da bei einem Verzicht auf eine zwingende Tarifnormwirkung vielfach die Abbedingung des einschlägigen TVs durch (standardisierte) Arbeitsvertragsklauseln drohen würde, stellt die zwingende Wirkung eine Funktionsvoraussetzung des TV-Systems dar; sie ist vom institutionellen Schutzgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG umfasst1. In den Worten des BAG2 besagt die zwingende Wirkung eines TVs, „dass die Parteien 11 des Arbeitsvertrages nichts vereinbaren können, was gegen den Tarifvertrag (…) verstößt. Inhaltsnormen (…) eines Tarifvertrags müssen sich gegenüber allen vertraglichen Abreden durchsetzen (…)“. Durch die zwingende Wirkung des TVs wird die dem TV innewohnende Schutzfunktion realisiert. Sämtliche ungünstigere Arbeitsbedingungen, die in einer rangniederen Abrede vereinbart werden, bleiben infolge der einseitig zwingenden Wirkung der TV-Normen wirkungslos. Auf die Rechtsnatur der rangniederen Regelung kommt es dabei nicht an. Erfasst wer- 12 den gleichermaßen arbeitsvertragliche Regelungen und Regelungen durch Betriebsvereinbarung. Ebenso wenig entscheidend ist die Art des auf arbeitsvertraglicher Ebene gewählten Gestaltungsinstruments. Erfasst werden also Abweichungen durch echte individualvertragliche Vereinbarung ebenso wie durch AGB, Gesamtzusage oder betriebliche Übung3. Der grundsätzlich nur einseitig zwingende Charakter der Tarifnormen zeigt sich an 13 gesetzlich normierten Ausnahmen (s. Rz. 181 ff., Rz. 238 ff.). Nach § 4 Abs. 3 TVG sind abweichende Abmachungen zulässig, soweit sie durch den TV gestattet sind oder eine Änderung der Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers enthalten. Angesprochen sind damit zum einen tarifvertragliche Öffnungsklauseln, zum anderen das Günstigkeitsprinzip. 2. Verdrängende Wirkung Die zwingende Wirkung des TVs führt dazu, dass ungünstigere rangniedere Regelun- 14 gen ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des TVs verdrängt werden4. Sie werden jedoch nicht nichtig5. Von der verdrängenden Wirkung sind nach zutreffender Sichtwei1 Vgl. auch Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 532 m.w.N.; Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 14. 2 BAG v. 21.9.1989 – 1 AZR 454/88, NZA 1990, 351. 3 Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 369; Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 14; Däubler/ Deinert, § 4 TVG Rz. 533. 4 BAG v. 21.9.1989 – 1 AZR 454/88, NZA 1990, 351; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 460, 484. 5 Dafür aber Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 792. Vermittelnd – für eine einzelfallbezogene Auslegung der konfligierenden Regelungen: Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 370 ff.; unentschieden jetzt Löwisch/Rieble, § 4 Rz. 35 ff.
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Teil 9 Rz. 15
Wirkung der Tarifnormen
se ungünstigere Vereinbarungen unabhängig davon erfasst, zu welchem Zeitpunkt sie getroffen wurden. Ebenso wie bereits vor Abschluss des TV oder vor Eintritt seiner Geltungsvoraussetzungen getroffene Abreden werden auch Abreden erfasst, die erst während der Laufzeit des TVs getroffen werden. Insofern zu differenzieren und in letzterem Fall eine vernichtende Wirkung der Tarifnorm anzunehmen, scheint dogmatisch nicht begründbar. 15
Nicht betroffen von der Verdrängungswirkung sind gleich günstige, also den TV lediglich wiederholende, rangniedere Vereinbarungen. Insofern entsteht kein lösungsbedürftiger Konflikt, der den in der verdrängenden Wirkung liegenden Eingriff rechtfertigen könnte1.
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Kommt es infolge der verdrängenden Wirkung der Tarifnormen zu Regelungslücken im Arbeitsvertrag – was angesichts der nur punktuellen Verdrängungswirkung einer inhaltlich gleichgerichteten TV-Norm schwer vorstellbar ist – finden allgemeine Grundsätze der ergänzenden Vertragsauslegung Anwendung2. 3. Wiederaufleben
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Ein Wiederaufleben der verdrängten Regelung ist nach zutreffender Ansicht möglich, wenn der TV ohne Nachwirkung endet3. Diese Annahme hat jedoch dadurch entscheidend an Relevanz verloren, dass nach jüngerer Rechtsprechung des BAG das Wiederaufleben zwischenzeitlich verdrängter ungünstigerer Vereinbarungen von niederem Rang nicht als „andere Abmachung“ i.S.v. § 4 Abs. 5 TVG interpretiert werden kann, so dass dem Wiederaufleben keine die Nachwirkung (s. Rz. 21 ff.) beendende Wirkung zukommt4. Vielmehr kann eine „andere Abmachung“ nur im Nachwirkungszeitraum oder kurz davor mit Blick auf den eintretenden Nachwirkungszeitraum geschlossen werden5. Die gegenteilige Auffassung würde dazu führen, dass eine ungünstigere arbeitsvertragliche Vereinbarung die Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG gewissermaßen vorab abbedingen würde. Dies ist rechtlich nicht möglich, da § 4 Abs. 5 TVG zwingendes Recht darstellt (a.A. Höpfner, unten Rz. 56)6.
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Zum Wiederaufleben einer verdrängten rangniederen Vereinbarung kommt es somit regelmäßig erst mit Ende der Nachwirkung (s. Rz. 45 ff.)7. Darüber hinaus behält der Umstand, dass die zwingende Wirkung des TVs nur verdrängende, nicht vernichtende Wirkung hat, besondere Relevanz in Fällen, in denen die TV-Parteien die Nachwirkung ausgeschlossen haben. Dann bestimmt sich nach Ablauf des TVs die Rechtslage nach der zwischenzeitlich verdrängten Vereinbarung. Dem Wiederaufleben der verdrängten arbeitsvertraglichen Abrede kommt auch dann praktische Bedeutung zu, wenn die tarifliche Regelung sich verschlechtert und es zu einem Wiederaufleben der
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A.A. Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 15. BAG v. 28.2.1990 – 7 AZR 143/89, NZA 1990, 746. Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 15. Vgl. BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 230/08, NZA-RR 2010, 591; BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53; BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 250/08, NZA-RR 2010, 30. 5 BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 230/08, NZA-RR 2010, 591. 6 Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 16; vgl. weiterhin Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 488. 7 Zutr. BAG v. 14.2.1991 – 8 AZR 166/90, NZA 1991, 779.
736 Greiner
Rz. 20 Teil 9
Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG
bislang verdrängten Vereinbarung somit deswegen kommt, weil sie nunmehr günstiger als die weiterhin geltende tarifvertragliche Regelung ist. 4. Ende der zwingenden Wirkung Die zwingende Wirkung endet mit Ablauf des TVs (s. Teil 8 Rz. 93 ff.), während die 19 unmittelbare Wirkung auch während des Nachwirkungsstadiums (§ 4 Abs. 5 TVG) fortbesteht (s. Rz. 39). Während des Nachbindungszeitraums (§ 3 Abs. 3 TVG, s. Teil 6 Rz. 61 ff.) besteht die zwingende Wirkung der Tarifnorm dagegen unproblematisch fort. Die Nachbindung ist nur eine andere Form der Tarifbindung. Daher entfalten die Tarifnormen zwingende Wirkung selbst dann, wenn die erstmalige beiderseitige Tarifbindung durch Gewerkschaftsbeitritt des Arbeitnehmers erst im Nachbindungszeitraum hergestellt wird1. 5. Rechtsfolgen bei tarifwidriger Direktionsrechtsausübung Eine tarifwidrige Direktionsrechtsausübung des Arbeitgebers entspricht nicht billi- 20 gem Ermessen i.S.d. § 106 Satz 1 GewO und ist daher für den Arbeitnehmer unverbindlich. Widersetzt sich der Arbeitnehmer einer Direktionsrechtsausübung durch den Arbeitgeber, weil diese im Widerspruch zu tarifvertraglichen Regelungen steht, liegt infolge der unmittelbaren und zwingenden Wirkung der Tarifnormen in dieser Widersetzung keine Verletzung der arbeitsvertraglichen Hauptpflicht (Arbeitsverweigerung). Arbeitsrechtliche Sanktionen (Abmahnung, Kündigung), die an dieses Verhalten anknüpfen, sind mangels Pflichtverletzung unwirksam. Hingegen ergibt sich keine Nichtigkeit aus § 134 BGB; der TV ist nicht Verbotsgesetz2. Gleichfalls scheint ein Rückgriff auf § 612a BGB nur in Ausnahmefällen einer auch subjektiv gegebenen Evidenz und daraus folgenden Sittenwidrigkeit angebracht, da § 612a BGB ein spezialgesetzlich geregelter Fall der Sittenwidrigkeit ist3.
B. Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG Literatur: Badura, Die Tarifautonomie im Spannungsfeld von Gemeinwohlerfordernissen und kollektiver Interessenwahrnehmung, AöR 104 (1979), 246; Bauer, Flucht aus Tarifverträgen: Königs- oder Irrweg?, in: Festschrift Schaub, 1998, S. 19; Bauer/Günther, Änderung der betrieblichen Lohnstruktur – rechtliche und personalpolitische Probleme, DB 2009, 620; Bayreuther, Die Rolle des Tarifvertrags bei der AGB-Kontrolle von Arbeitsverträgen, RdA 2002, 81; Behrendt/Gaumann/Liebermann, Zulässigkeit arbeitsvertraglicher Verweisungen auf das Beamtenrecht, ZTR 2007, 522; Belling/Hartmann, Die Unzumutbarkeit als Begrenzung der Bindung an den Tarifvertrag, ZfA 1997, 87; Bepler, Stärkung der Tarifautonomie – Welche Änderungen des Tarifvertragsrechts empfehlen sich?, in: Verhandlungen des 70. DJT Hannover, Band I, 2014; Bepler, Tarifvertragliche Vergütungssysteme als Grundsätze der betrieblichen Lohngestaltung – Ansprüche ohne Anspruchsgrundlage? –, in: Festschrift Bauer, 2010, S. 161; Boecken, Unternehmensumwandlungen und Arbeitsrecht, 1996; Buchner, Kündigung der Tarifregelungen über die Entgeltanpassung in der Metallindustrie der östlichen Bundesländer, NZA 1993, 289; Caspers, Teilnachwirkung des 1 BAG v. 4.8.1993 – 4 AZR 499/92, NZA 1994, 34; Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 14; Bauer/Diller, DB 1993, 1085. 2 Vgl. BAG v. 12.12.2007 – 4 AZR 998/06, NZA 2008, 649, Rn. 43 m.w.N.; a.A. Kempen/Zachert/ Stein, § 4 TVG Rz. 14; zutr. aber Rz. 15. 3 MünchKomm/Müller-Glöge, § 612a BGB Rz. 2.
Greiner/Hçpfner
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Rz. 20 Teil 9
Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG
bislang verdrängten Vereinbarung somit deswegen kommt, weil sie nunmehr günstiger als die weiterhin geltende tarifvertragliche Regelung ist. 4. Ende der zwingenden Wirkung Die zwingende Wirkung endet mit Ablauf des TVs (s. Teil 8 Rz. 93 ff.), während die 19 unmittelbare Wirkung auch während des Nachwirkungsstadiums (§ 4 Abs. 5 TVG) fortbesteht (s. Rz. 39). Während des Nachbindungszeitraums (§ 3 Abs. 3 TVG, s. Teil 6 Rz. 61 ff.) besteht die zwingende Wirkung der Tarifnorm dagegen unproblematisch fort. Die Nachbindung ist nur eine andere Form der Tarifbindung. Daher entfalten die Tarifnormen zwingende Wirkung selbst dann, wenn die erstmalige beiderseitige Tarifbindung durch Gewerkschaftsbeitritt des Arbeitnehmers erst im Nachbindungszeitraum hergestellt wird1. 5. Rechtsfolgen bei tarifwidriger Direktionsrechtsausübung Eine tarifwidrige Direktionsrechtsausübung des Arbeitgebers entspricht nicht billi- 20 gem Ermessen i.S.d. § 106 Satz 1 GewO und ist daher für den Arbeitnehmer unverbindlich. Widersetzt sich der Arbeitnehmer einer Direktionsrechtsausübung durch den Arbeitgeber, weil diese im Widerspruch zu tarifvertraglichen Regelungen steht, liegt infolge der unmittelbaren und zwingenden Wirkung der Tarifnormen in dieser Widersetzung keine Verletzung der arbeitsvertraglichen Hauptpflicht (Arbeitsverweigerung). Arbeitsrechtliche Sanktionen (Abmahnung, Kündigung), die an dieses Verhalten anknüpfen, sind mangels Pflichtverletzung unwirksam. Hingegen ergibt sich keine Nichtigkeit aus § 134 BGB; der TV ist nicht Verbotsgesetz2. Gleichfalls scheint ein Rückgriff auf § 612a BGB nur in Ausnahmefällen einer auch subjektiv gegebenen Evidenz und daraus folgenden Sittenwidrigkeit angebracht, da § 612a BGB ein spezialgesetzlich geregelter Fall der Sittenwidrigkeit ist3.
B. Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG Literatur: Badura, Die Tarifautonomie im Spannungsfeld von Gemeinwohlerfordernissen und kollektiver Interessenwahrnehmung, AöR 104 (1979), 246; Bauer, Flucht aus Tarifverträgen: Königs- oder Irrweg?, in: Festschrift Schaub, 1998, S. 19; Bauer/Günther, Änderung der betrieblichen Lohnstruktur – rechtliche und personalpolitische Probleme, DB 2009, 620; Bayreuther, Die Rolle des Tarifvertrags bei der AGB-Kontrolle von Arbeitsverträgen, RdA 2002, 81; Behrendt/Gaumann/Liebermann, Zulässigkeit arbeitsvertraglicher Verweisungen auf das Beamtenrecht, ZTR 2007, 522; Belling/Hartmann, Die Unzumutbarkeit als Begrenzung der Bindung an den Tarifvertrag, ZfA 1997, 87; Bepler, Stärkung der Tarifautonomie – Welche Änderungen des Tarifvertragsrechts empfehlen sich?, in: Verhandlungen des 70. DJT Hannover, Band I, 2014; Bepler, Tarifvertragliche Vergütungssysteme als Grundsätze der betrieblichen Lohngestaltung – Ansprüche ohne Anspruchsgrundlage? –, in: Festschrift Bauer, 2010, S. 161; Boecken, Unternehmensumwandlungen und Arbeitsrecht, 1996; Buchner, Kündigung der Tarifregelungen über die Entgeltanpassung in der Metallindustrie der östlichen Bundesländer, NZA 1993, 289; Caspers, Teilnachwirkung des 1 BAG v. 4.8.1993 – 4 AZR 499/92, NZA 1994, 34; Kempen/Zachert/Stein, § 4 TVG Rz. 14; Bauer/Diller, DB 1993, 1085. 2 Vgl. BAG v. 12.12.2007 – 4 AZR 998/06, NZA 2008, 649, Rn. 43 m.w.N.; a.A. Kempen/Zachert/ Stein, § 4 TVG Rz. 14; zutr. aber Rz. 15. 3 MünchKomm/Müller-Glöge, § 612a BGB Rz. 2.
Greiner/Hçpfner
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Teil 9
Wirkung der Tarifnormen
Tarifvertrags durch § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG – zur Ablösung tariflicher Vergütungssysteme, in: Festschrift Löwisch, 2007, S. 45; Däubler, Die Auswirkungen der Schuldrechtsmodernisierung auf das Arbeitsrecht, NZA 2001, 1329; Deinert, Abweichung vom Tarifvertrag durch verdrängte Vertragsabrede oder Vorratsvereinbarung, in: GS Zachert, 2010, S. 521; Deinert/Walser, Zur Förderung der Mitgliedschaft von Arbeitgebern in Verbänden, AuR 2015, 386; Ehmann/Lambrich, Vorrang der Betriebs- vor der Tarifautonomie kraft des Subsidiaritätsprinzips? Betriebsvereinbarungen als „andere Abmachungen“, NZA 1996, 346; Fischer, Nachwirkung von Tarifnormen (§ 4 Abs. 5 TVG), 2009; Franzen, Anm. AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 36; Frölich, Eintritt und Beendigung der Nachwirkung von Tarifnormen, NZA 1992, 1105; Gamillscheg, Die Grundrechte im Arbeitsrecht, 1989; Gaul, Das Arbeitsrecht der Betriebs- und Unternehmensspaltung, 2002; Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung für den Betrieb, 2002; P. Hanau, Der Kampf um die Verknüpfung von Tarifgeltung und Verbandsmitgliedschaft, NZA 2012, 825; Heinze, Ausgewählte Rechtsfragen zu § 613a BGB, in: Festschrift Schaub, 1998, S. 275; Heinze/Ricken, Verbandsaustritt und Verbandsauflösung im Spannungsfeld von Tarifeinheit und Tarifpluralität, ZfA 2001, 159; Henssler, Aktuelle Rechtsprobleme des Betriebsübergangs, NZA 1994, 913; Henssler, Arbeitsrecht und Schuldrechtsreform, RdA 2002, 129; Henssler, Nachbindung und Nachwirkung, in: Festschrift Picker, 2010, S. 987; Henssler, Unternehmensumstrukturierung und Tarifrecht, in: Festschrift Schaub, 1998, S. 311; Herschel, Der nachwirkende Tarifvertrag, insbesondere seine Änderung, ZfA 1976, 89; Herschel, Zur Entstehung des Tarifvertragsgesetzes, ZfA 1973, 183; Jacobs, Anm. AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 34; Jacobs, Entgeltmitbestimmung beim nicht (mehr) tarifgebundenen Arbeitgeber, in: Festschrift Säcker, 2011, S. 201; Kocher, Nachwirkung im Bereich tarifdispositiven Rechts am Beispiel von Tarifverträgen zu § 9 Nr. 2 AÜG, DB 2010, 900; Kreft, Tarifliche Vergütungsordnung und betriebliche Entlohnungsgrundsätze, in: Festschrift Kreutz, 2010, S. 263; Lehmann, Richterrecht: Zermentierung [sic!] gekündigter tariflicher bzw. betrieblicher Vergütungsordnungen, ZTR 2011, 523; Leitmeier, Funktionen und Unterschiede der Nachwirkung von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen, 2010; Lieb, Mehr Flexibilität im Tarifvertragsrecht? „Moderne“ Tendenzen auf dem Prüfstand, NZA 1994, 337; Lobinger, Systemdenken im Betriebsverfassungsrecht, RdA 2011, 76; Löwisch, Tariföffnung bei Unternehmens- und Arbeitsplatzgefährdung, NZA 1997, 905; Löwisch/Rieble, Anm. AP TVG § 3 Nr. 13; Löwisch/Rieble, Tarifvertragliche und arbeitskampfrechtliche Folgen des Übergangs vom Haustarif zum Verbandstarif, in: Festschrift Schaub, 1998, S. 457; Oetker, Die Kündigung von Tarifverträgen, RdA 1995, 82; Oetker, EzA § 4 TVG Nachwirkung Nr. 14 und 15; Oetker, Nachwirkende Tarifnormen und Betriebsverfassung, in: Festschrift Schaub, 1998, S. 535; Ramm, Die Parteien des Tarifvertrages, 1961; Reichold, Anm. AP TVG § 3 Nr. 31; Reichold, Entgeltmitbestimmung und „betriebliche Vergütungsordnung“, in: Festschrift Picker, 2010, S. 1079; Reichold, Notwendige Mitbestimmung als neue „Anspruchsgrundlage“?, in: Festschrift Konzen, 2006, S. 763; Roßmann, Grenzen der Nachwirkung betriebsverfassungsrechtlicher Normen, NZA 1999, 1252; Rotter, Nachwirkung der Normen eines Tarifvertrags, 1992; Rüthers, Nachwirkungsprobleme bei Firmentarifen desselben Arbeitgebers mit verschiedenen Gewerkschaften, in: Festschrift Gerhard Müller, 1981, S. 445; Sittard, Keine Nachwirkung von Mindestlohntarifverträgen, NZA 2012, 299; Stoffels/Bieder, AGB-rechtliche Probleme der arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf mehrgliedrige Zeitarbeitstarifverträge, RdA 2012, 27; Thüsing, Equal pay bei Leiharbeit, DB 2003, 446; Ulber, Zur Nachwirkung von Tarifverträgen für die Leiharbeit, ZTR 2010, 287; Waltermann, Zu den Grundlagen der Tarifautonomie, ZfA 2000, 53; Wank, Empfiehlt es sich, die Regelungsbefugnisse der Tarifparteien im Verhältnis zu den Betriebsparteien neu zu ordnen?, NJW 1996, 2273; Wank, Kündigung und Wegfall der Geschäftsgrundlage bei Tarifverträgen, in: Festschrift Schaub, 1998, S. 761; Weber/Gräf, Nachwirkung betriebsverfassungsrechtlicher Tarifnormen nach § 117 Abs. 2 Satz 1 BetrVG, RdA 2012, 95; Wiedemann, Anm. AP MTV Ang-DFVLR § 2 Nr. 1; Wiedemann, Anm. AP TVG § 3 Nr. 2; Wiedemann, Anm. AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 6; Wiedemann, Anm. AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 8; Willemsen/Mehrens, Ablösung tariflicher Bestimmungen nach einem Verbandsaustritt – Kein Ende in Sicht!, NZA 2010, 307; Zöllner, Das Wesen der Tarifnormen, RdA 1964, 443.
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Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG
Rz. 23 Teil 9
I. Zweck, Legitimation und Verfassungsmäßigkeit Tarifnormen gelten gemäß § 4 Abs. 1 TVG unmittelbar und zwingend zwischen den 21 beiderseits Tarifgebundenen. Das Gesetz knüpft die Tarifgeltung an die Tarifgebundenheit und damit an die Mitgliedschaft im Verband, die gemäß § 3 Abs. 3 TVG bis zum Ende des TVs verlängert wird. Spätestens zu diesem Zeitpunkt verlieren die Tarifnormen nach der Grundregel des § 4 Abs. 1 TVG ihre Wirkung für das dem TV unterliegende Arbeitsverhältnis1. Ohne die Vorschrift des § 4 Abs. 5 TVG richteten sich die rechtlichen Grundlagen für das Arbeitsverhältnis ab diesem Zeitpunkt nach den gesetzlichen und arbeitsvertraglichen Vorgaben. Das ist aus mehreren Gründen misslich. Zum einen sind die gesetzlichen Vorgaben im Arbeitsrecht oft nur sehr unbestimmt oder gar unvollständig und darüber hinaus nicht auf die individuellen Bedürfnisse der jeweiligen Branche abgestimmt. Zum anderen besteht von Seiten der tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien regelmäßig kein Anlass, die ohnehin unmittelbar und zwingend geltenden tariflichen Regelungen im Arbeitsvertrag zu wiederholen2. Schließlich ist umstritten, ob arbeitsvertragliche Regelungen, die dem geltenden TV widersprechen, nach dessen Beendigung wiederaufleben (vgl. auch Rz. 56)3. Vor diesem Hintergrund soll die sog. „Nachwirkung“ der Tarifnormen verhindern, 22 dass die Arbeitsverhältnisse nach Beendigung des TVs durch unpassendes dispositives Gesetzesrecht ergänzt werden müssen oder dass die rechtliche Grundlage in Einzelfragen mangels gesetzlicher Regelung gänzlich wegfällt4. Der von § 4 Abs. 5 TVG bezweckte „Inhaltsschutz“5, präziser: der Schutz des Inhalts des Arbeitsverhältnisses in seiner rechtlichen Ausgestaltung durch die normativen geltenden TV, geht von der Prämisse aus, dass die TV-Parteien die Arbeitsbedingungen in ihrem Zuständigkeitsbereich sachkundig und sachnäher als der Gesetzgeber regeln können und dass also dem TV – auch im Nachwirkungszeitraum – eine höhere Richtigkeitsgewähr zukommt als dem dispositiven Gesetzesrecht6. Zugleich hat die Nachwirkung eine Überbrückungsfunktion:7 Sie soll den Arbeitsoder TV-Parteien die Möglichkeit geben, ein neues Regelungsmodell zu entwickeln, 1 Vgl. ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 50. 2 Höpfner, Tarifgeltung, S. 408. 3 Vgl. BAG v. 12.12.2007 – 4 AZR 998/06, NZA 2008, 649 (652); BAG v. 23.2.2005 – 4 AZR 186/04, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 42; BAG v. 21.9.1989 – 4 AZR 454/88, NZA 1990, 351 (354 f.); Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 35 ff.; Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 16. 4 Insoweit kann man auch von einem „inhaltsleeren“ Arbeitsverhältnis sprechen; vgl. aber zur Kritik an diesem Begriff Jacobs/Krois, ZTR 2011, 643 (645 f.); Leitmeier, Nachwirkung, S. 62 f. 5 Vgl. BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, AP GG Art. 9 Nr. 57; BAG v. 18.3.1992 – 4 AZR 339/91, NZA 1992, 700 (701); ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 50; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 659 f.; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 327; Leitmeier, Nachwirkung, S. 37, 109; Oetker, EzA § 4 TVG Nachwirkung Nr. 14 und 15; Oetker, in: Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 8 Rz. 28; a.A. Heinze/Ricken, ZfA 2001, 159 (165 f.), die nur eine Überbrückungsfunktion des § 4 Abs. 5 TVG anerkennen. 6 Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 846; Höpfner, Tarifgeltung, S. 409; Weber/Gräf, RdA 2012, 95 (97); insoweit auch Kocher, DB 2010, 900 (902); a.A. Ulber, ZTR 2010, 287 (289). 7 Vgl. BAG v. 25.10.2000 – 4 AZR 212/00, NZA 2001, 1146 (1147); HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 5; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 50; Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 719; Oetker, in: Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 8 Rz. 28; Höpfner, Tarifgeltung, S. 409 f.; Leitmeier, Nachwirkung, S. 36 f.; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1224; Herschel, ZfA 1976, 89 (95);
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Teil 9 Rz. 24
Wirkung der Tarifnormen
ohne dass aufgrund unpassender gesetzlicher Vorgaben ein besonderer Zeitdruck dafür besteht. Die Nachwirkung will keine dauerhaft verbindliche Arbeitsordnung schaffen, sondern lediglich den zeitlichen Druck reduzieren, dem die Verbände infolge eines sonst eintretenden tariflosen Zustands in den Arbeitsverhältnissen ihrer Mitglieder bei TV-Verhandlungen ausgesetzt wären. Die Ablösbarkeit nachwirkender TVe durch Individualvereinbarungen und ggf. BV steht der Überbrückungsfunktion nicht entgegen, da diese denselben Überbrückungszweck verfolgen1. 24
Durch die Inhaltsschutz- und Überbrückungsfunktion unterscheidet sich die Nachwirkung ganz erheblich von der Fortwirkung gemäß § 3 Abs. 3 TVG. Während jene eine „Flucht aus dem TV“ verhindern und somit die Tariftreue erhalten und stärken will (vgl. Teil 6 Rz. 62), liegen die Funktionen der Nachwirkung im Interesse aller Parteien2. Den TV-Parteien wird der Zeitdruck für TV-Verhandlungen genommen. Für den Arbeitnehmer bleibt das bisherige Schutzniveau erhalten, ohne dass der Arbeitgeber einseitig davon abweichen kann. Aus Sicht des Arbeitgebers schließlich kann die Nachwirkung jedenfalls hinsichtlich der Vergütung vorteilhafter sein als der Rückgriff auf das dispositive Gesetzesrecht3, der gemäß § 612 Abs. 2 BGB zur üblichen und damit regelmäßig zur jeweils aktuellen tariflichen Vergütung führt4. Darüber hinaus ermöglicht sie ein einheitliches System der Arbeitsbedingungen im Betrieb oder Unternehmen des Arbeitgebers über die Beendigung des TVs hinaus.
25
Eine darüber hinausgehende Ordnungsfunktion des § 4 Abs. 5 TVG, nach der die Weitergeltung der Tarifnormen im öffentlichen Interesse geboten sein soll, ist abzulehnen5. Richtigerweise kann eine Ordnungsaufgabe des TVs generell nicht anerkannt werden6. Es ist zwar unbestritten, dass TV eine Ordnungs- und Verteilungswirkung in tarifgebundenen und – über Bezugnahmeklauseln – auch in nicht tarifgebundenen Arbeitsverhältnissen entfalten7. Daraus lässt sich jedoch keine Erweiterung der tariflichen Normsetzungsbefugnis der Koalitionen über den Kreis ihrer Mitglieder hinaus herleiten8. Wenn der TV aber bereits während seiner Laufzeit keine Ordnungsaufgabe erfüllt, wäre es widersprüchlich, dass er ausgerechnet nach seiner Beendigung und dem Verlust der zwingenden Wirkung eine öffentliche Aufgabe wahrnehmen soll.
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Rüthers, FS Müller, S. 445 (450); a.A. Fischer, Nachwirkung, S. 109 ff.; zurückhaltend auch Weber/Gräf, RdA 2012, 95 (97). Höpfner, Tarifgeltung, S. 409 f.; a.A. Jacobs/Krois, ZTR 2011, 643 (646). Vgl. dazu Henssler, FS Picker, S. 987 (995); Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 329; Kittner/Zwanziger/Deinert/Deinert, § 8 Rz. 242; das praktische Bedürfnis nach einer Nachwirkung wurde schon im sog. „Lemgoer Entwurf“ anerkannt, vgl. ZfA 1973, 129 (134); dazu Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 805 f. Vgl. Lieb, NZA 1994, 337 (338); Henssler, FS Picker, S. 987 (996); Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 719. Vgl. ErfK/Preis, § 612 BGB Rz. 38 m.w.N. Zutreffend BAG v. 29.1.1975 – 4 AZR 218/74, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 8; Henssler, FS Picker, S. 987 (1002); Jacobs/Krois, ZTR 2011, 641 (646); Löwisch/Rieble, TVG, § 4 Rz. 663; im Ergebnis auch BAG v. 29.1.1975 – 4 AZR 218/74, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 8; a.A. Däubler/Bepler, TVG, § 4 Rz. 817; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 879; Oetker, in: Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 8 Rz. 27; BKS/Schumann, § 4 TVG Rz. 316; Weber/Gräf, RdA 2012, 95 (97); Wiedemann, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 8. Ausführlich Höpfner, Tarifgeltung, S. 233 ff. Vgl. nur Gamillscheg, Grundrechte, S. 100. BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322 (347 f.); BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068 Rz. 66.
740 Hçpfner
Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG
Rz. 26 Teil 9
Nicht zuletzt aus diesem Grunde ist die faktische Erweiterung der Nachwirkung des abgelaufenen TVs über das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats gem. § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG durch die Rechtsprechung des 1. Senats des BAG1 abzulehnen2. Doch auch wenn man mit der noch immer überwiegenden Auffassung3 im Grundsatz 26 weiter an der Ordnungsaufgabe des TVs festhalten wollte, sprechen gewichtige Argumente gegen eine Aufrechterhaltung der Tarifwirkung im öffentlichen Interesse4: Erstens werden im Nachwirkungszeitraum begründete Arbeitsverhältnisse sowie Arbeitsverhältnisse, bei denen die beiderseitige Tarifgebundenheit erst im Nachwirkungszeitraum erreicht wird, nach der ganz überwiegenden Auffassung in Rechtsprechung und Literatur von der Regelung des § 4 Abs. 5 TVG nicht erfasst5. Zweitens ist eine Ablösung des nachwirkenden TVs durch einen anderen TV nur möglich, wenn dieser „neue“ TV im betroffenen Arbeitsverhältnis kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Arbeitsvertragsparteien oder durch Allgemeinverbindlicherklärung bzw. Tarifnormerstreckung nach §§ 3, 7 AEntG gilt6. Insoweit folgt § 4 Abs. 5 TVG dem Prinzip der Einzelablösung7. Hielte man die Ordnungsfunktion der Nachwirkung im öffentlichen Interesse konsequent durch, so wäre für eine derartige Einschränkung kein Raum. Vielmehr müsste dann dem „neuen“ TV, dem aufgrund seiner Aktualität eine höhere Richtigkeitsgewähr als dem lediglich nachwirkenden TV zukommt, jedenfalls im Fall des Verbandsaustritts ohne einen damit verbundenen Branchenwechsel ablösende Wirkung zugesprochen werden. Schließlich widerspricht die vom Gesetzgeber ausdrücklich beabsichtigte8 Ablösbarkeit nachwirkender TVe durch jede, auch außertarifliche Art von Vereinbarung einer Ordnungsfunktion der Nachwirkung im öffentlichen Interesse9. 1 BAG v. 18.10.2011 – 1 ABR 25/10, NZA 2012, 392 Rz. 16 ff.; BAG v. 14.4.2010 – 7 ABR 91/08, NZA-RR 2011, 83 Rz. 14; BAG v. 8.12.2009 – 1 ABR 66/08, NZA 2010, 404 Rz. 21; BAG v. 15.4.2008 – 1 AZR 65/07, NZA 2008, 888 Rz. 20 ff.; BAG v. 2.3.2004 – 1 AZR 271/03, AP TVG § 3 Nr. 31; BAG v. 11.6.2002 – 1 AZR 390/01, AP BetrVG § 87 Lohngestaltung Nr. 113. 2 Vgl. Reichold, AP TVG § 3 Nr. 31; Reichold, FS Picker, S. 1079; Reichold, FS Konzen, S. 763; Bauer/Günther, DB 2009, 620; Caspers, FS Löwisch, S. 45; Henssler, FS Picker, S. 987 (998 f.); Höpfner, Tarifgeltung, S. 249 ff.; Jacobs, FS Säcker, S. 201 (203 ff.); Lehmann, ZTR 2011, 523 (530 ff.); Lobinger, RdA 2011, 76 (87 f.); Richardi/Richardi, § 87 BetrVG Rz. 767; a.A. Kreft, FS Kreutz, S. 263; differenzierend Bepler, FS Bauer, S. 161 (175 ff.). 3 Vgl. BVerfG v. 1.12.2010 – 1 BvR 2593/09, NZA 2011, 60 Rz. 23; BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, E 116, 202 (224); BAG v. 15.8.2012 – 7 AZR 184/11, NZA 2013, 45 Rz. 27; BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300 Rz. 35; Badura, AöR 104 (1979), 246 (248, 254); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 291 ff.; Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 106; Waltermann, ZfA 2000, 53 (77 f.); Wiedemann/Wiedemann, TVG, Einleitung Rz. 13 ff. 4 Vgl. bereits Höpfner, Tarifgeltung, S. 411 f. 5 Vgl. dazu Rz. 42. 6 BAG v. 20.4.2005 – 4 AZR 288/04, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 43; v. 28.5.1997 – 4 AZR 545/95, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 27; v. 18.3.1992 – 4 AZR 339/91, AP TVG § 3 Nr. 13; v. 27.11.1991 – 4 AZR 211/91, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 22; Däubler/Bepler, TVG, § 4 Rz. 898; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 61; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 12; Kempen/Zachert/ Kempen, TVG, § 4 Rz. 753; Oetker, in: Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 8 Rz. 53. 7 Löwisch/Rieble, TVG, § 4 Rz. 731. 8 Vgl. ZfA 1973, 129 (159, 165, 170); zur Zulässigkeit individualvertraglicher „anderer Abmachungen“ bereits RAG v. 27.9.1930 – RAG 162/30, ARS 10, 218 (221 f.). 9 Insoweit übereinstimmend Jacobs/Krois, ZTR 2011, 641 (646), die jedoch nicht zwischen der Überbrückungsfunktion im Interesse der Verbände und der Ordnungsfunktion im öffentlichen Interesse differenzieren.
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Teil 9 Rz. 27
Wirkung der Tarifnormen
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Rechtsdogmatisch handelt es sich bei der Nachwirkung, anders als noch unter Geltung der TVVO1, um eine Einwirkung der Tarifnormen von außen auf den Inhalt der vom nachwirkenden TV erfassten Arbeitsverhältnisse. Zwar wollte der Gesetzgeber des TVG in den Theorienstreit zwischen der Einwirkungslehre und dem Transformationsmodell nicht eingreifen. Jedoch geht die heute ganz herrschende Auffassung davon aus, dass Tarifnormen nicht zum Inhalt des Arbeitsvertrags transformiert werden, sondern das Arbeitsverhältnis gesetzesgleich von außen regeln2. Es wäre inkonsequent, wollte man eine Transformation der Tarifnormen in den Arbeitsvertrag allein im Fall der Nachwirkung annehmen, zugleich aber während der Laufzeit des TVs von einer das Arbeitsverhältnis von außen gestaltenden Normwirkung ausgehen3. Dies würde zu einer intensiveren Rechtswirkung des TVs nach seiner Beendigung führen, als sie noch während der Laufzeit des TVs der Fall war. Auch eine Übertragung des in § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB zum Ausdruck kommenden Transformationsmodells4 auf die Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG wird fast ausnahmslos abgelehnt5, da dieses seinerseits einen Fremdkörper in der modernen Tarifrechtsdogmatik darstellt.
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Umstritten ist der legitimatorische Geltungsgrund der Nachwirkung. Das BAG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die Nachwirkung allein auf der gesetzlichen Anordnung in § 4 Abs. 5 TVG beruht6. Es handelt sich danach um eine ausschließlich durch staatlichen Hoheitsakt legitimierte Tarifgeltung. Nach der überwiegenden Auffassung im Schrifttum soll dagegen auch im Nachwirkungszeitraum der TV selbst Grundlage der Tarifgeltung sein, die lediglich einen anderen, nämlich dispositiven Charakter erhalte7. Der TV ändert danach „nicht seine Gültigkeit, sondern lediglich die Qualität seiner Rechtsgeltung.“8 Beide Auffassungen gehen inso-
1 Dazu Herschel, ZfA 1976, 89 (92 ff.) und ausführlich Höpfner, Tarifgeltung, S. 210 ff., 406 ff. 2 Vgl. nur BAG v. 14.2.1973 – 4 AZR 176/72, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 6; v. 29.1.1975 – 4 AZR 218/74, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 8; v. 3.4.2007 – 9 AZR 867/06, NZA 2007, 1045 Rz. 24; v. 12.12.2007 – 4 AZR 998/06, NZA 2008, 649 Rz. 42; BVerwG v. 6.6.1958 – VII CB 187.57, E 7, 82 (85); Bayreuther, Tarifautonomie, S. 218; Däubler/Deinert, TVG, § 4 Rz. 471 f.; Deinert, in: GS Zachert, S. 521 (524); Fischer, Nachwirkung, S. 78 ff.; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 52; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 3; JKOS/Jacobs, Tarifvertragsrecht, § 7 Rz. 2; Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II/1, S. 535 ff., 539; Rotter, Nachwirkung, S. 46 ff.; Kempen/Zachert/Stein, TVG, § 4 Rz. 12 f.; Wiedemann/Wank, TVG, § 4 Rz. 304; a.A. Leitmeier, Nachwirkung, S. 91 ff., 137 ff.; Ramm, Die Parteien des Tarifvertrages, S. 86 f., 94 f.; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1225 f. 3 So aber widersprüchlich Löwisch/Rieble, § 4 Rz. 666 einerseits (zur Nachwirkung) und Rz. 36 ff. andererseits (zur allgemeinen Tarifwirkung); anders noch Löwisch/Rieble, 2. Aufl., § 4 Rz. 22: stets Transformation. 4 Vgl. dazu nur BAG v. 18.11.2003 – 1 AZR 604/02, AP BetrVG 1972 § 77 Nachwirkung Nr. 15; v. 13.3.2012 – 1 AZR 659/10, NZA 2012, 990 Rz. 17; v. 3.7.2013 – 4 AZR 961/11, NZA-RR 2014, 80 Rz. 16; Boecken, Unternehmensumwandlungen, Rz. 188, 167; Gaul, Betriebs- und Unternehmensspaltung, § 24 Rz. 19 f.; Henssler, FS Schaub, S. 311 (317 f.); Henssler, NZA 1994, 913 (918 ff.). 5 Vgl. aber die Gegenauffassung von Leitmeier, Nachwirkung, S. 53 ff., 237 f. 6 BAG v. 14.2.1973 – 4 AZR 176/72, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 6; BAG v. 29.1.1975 – 4 AZR 218/74, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 8; zustimmend Jacobs, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 34; offen gelassen von BAG v. 19.4.2012 – 6 AZR 622/10, NZA-RR 2012, 642 Rz. 27. 7 Vgl. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 18 VII 1b; Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 819; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 325; Wiedemann, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 8; ausf. Rotter, S. 46 ff. 8 Wiedemann, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 6.
742 Hçpfner
Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG
Rz. 30 Teil 9
weit übereinstimmend von der zutreffenden Vorstellung aus, dass die Nachwirkung zumindest auch1 auf einem staatlichen Akt beruht und nicht vollständig privatautonom zu erklären ist. Ohne die gesetzliche Anordnung in § 4 Abs. 5 TVG würden die Tarifnormen mit Ende des TVs nicht – auch nicht als Inhalt des Arbeitsvertrags – nachwirken2. Mithilfe des Modells mitgliedschaftlicher Legitimation der Tarifnormsetzung und 29 -normgeltung lässt sich die Nachwirkung nicht privatautonom erklären3: Zwar ermächtigt das Mitglied durch seinen Beitritt den Verband zum Abschluss von TVen mit unmittelbarer und zwingender Wirkung. Allerdings macht der Verband von dieser Ermächtigung Gebrauch, indem er TVe mit bestimmter Laufzeit abschließt oder TVe mit unbestimmter Laufzeit kündigt. Nicht nur der Inhalt, sondern auch die Laufzeit des TVs beruht also auf einem Willensakt der Verbände, der legitimatorisch durch den Beitrittsakt der Mitglieder rekonstruiert werden kann. § 4 Abs. 5 TVG ordnet eine Weitergeltung der Tarifnormen über den Zeitpunkt des vereinbarten Ablaufs des TVs hinaus an. Die Nachwirkung betrifft also eine Rechtswirkung des TVs nach Beendigung des vertraglich begründeten Schuldverhältnisses4. Sie steht damit außerhalb der Regelungskompetenz der Vertragsparteien. Das Gesetz erhält die Normwirkung des TVs aufrecht, obwohl sie nach dem auf eine begrenzte Geltungsdauer des TVs gerichteten Willen der Parteien beendet sein müsste5. Damit unterscheidet die Nachwirkung sich grundlegend von der Nachbindung an TVe gem. § 3 Abs. 3 TVG. Während letztere im Grundsatz durch den Beitrittsakt des Mitglieds legitimiert ist6, kann die Nachwirkung nicht auf einer mitgliedschaftlichen Legitimation aufbauen. Ihre Rechtfertigung ist schlicht darin zu sehen, dass der Gesetzgeber im Interesse aller Parteien, d.h. sowohl der beteiligten Verbände wie beider Arbeitsvertragsparteien, einen Rückfall auf regelmäßig unpassendes dispositives Gesetzesrecht vermeiden wollte. Weil die TV-Parteien in Ausübung ihrer Privatautonomie nicht die Möglichkeit ha- 30 ben, eine Weitergeltung der Tarifnormen nach Beendigung des TVs anzuordnen7, kommt § 4 Abs. 5 TVG konstitutive Bedeutung zu. Erst diese Vorschrift begründet die Möglichkeit einer Weitergeltung der Tarifnormen nach Ablauf des TVs. Damit ist jedoch noch nicht entschieden, ob die gesetzliche Anordnung in § 4 Abs. 5 TVG der alleinige Geltungsgrund nachwirkender TVe ist, wie es das BAG in ständiger Rechtsprechung vertritt8. Richtigerweise ist wie folgt zu differenzieren9:
1 Vgl. nur Wiedemann, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 8. 2 Herschel, ZfA 1976, 89 (94 ff.); Herschel, ZfA 1973, 183 (193); Jacobs/Krois, ZTR 2011, 643 (647); a.A. Leitmeier, Nachwirkung, S. 110 ff., 137 ff.; Fischer, Nachwirkung, S. 106 f.; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 666. 3 Ausführlich Höpfner, Tarifgeltung, S. 414 ff.; a.A. Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit, S. 153 f. 4 A.A. Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit, S. 154; dagegen Höpfner, Tarifgeltung, S. 415. 5 Zutreffend Heinze, in: FS Schaub, S. 275 (279); vgl. bereits Nikisch, Arbeitsrecht II, S. 390; insoweit übereinstimmend Leitmeier, Nachwirkung, S. 135. 6 Vgl. dazu Teil 6 Rz. 64 f. 7 Vgl. Höpfner, Tarifgeltung, S. 416. 8 Vgl. Rz. 28. 9 So bereits Höpfner, Tarifgeltung, S. 417 f.
Hçpfner 743
Teil 9 Rz. 31
Wirkung der Tarifnormen
31
Ohne die Regelung des § 4 Abs. 5 TVG kann eine Nachwirkung von Tarifnormen nicht begründet werden1. Insoweit ist das Gesetz alleiniger Geltungsgrund für die Möglichkeit der Nachwirkung als solche. Darüber hinaus können die TV-Parteien frei darüber entscheiden, ob die von ihnen abgeschlossenen TVe nachwirken oder nicht. Treffen sie keine Vereinbarung, bleibt es bei der gesetzlichen Anordnung der Nachwirkung. Die Nachwirkung der Tarifnormen ist somit nicht notwendig auf eine übereinstimmende Willensentscheidung der TV-Parteien zurückzuführen2. Auch insoweit stellt das Gesetz die Grundlage der Nachwirkung dar. Der nachwirkende TV ändert also nicht nur seine Qualität, sondern auch seine Geltung. Die TV-Parteien verlieren mit Beendigung des TVs die Normherrschaft. Die Änderung eines nachwirkenden TVs ist unzulässig, da diese auch diejenigen Arbeitsverhältnisse betreffen würde, die von einem ablösenden neuen TV derselben TV-Parteien mangels beiderseitiger Tarifgebundenheit nicht erfasst würden. Hierfür fehlt den TV-Parteien die mitgliedschaftliche Legitimation3. Etwas anderes gilt jedoch für den Inhalt des TVs. § 4 Abs. 5 TVG ordnet lediglich eine statische Weitergeltung der Tarifnormen mit dem Regelungsgehalt an, den sie im Zeitpunkt der Beendigung des TVs aufweisen. Insoweit lässt sich in Abwandlung von Wiedemanns Ausspruch4 festhalten: Der nachwirkende TV ändert nicht seinen Inhalt, sondern lediglich seine Geltung und seine Qualität. Weil § 4 Abs. 5 TVG ohne einen von den Verbänden in Ausübung ihrer kollektiven Privatautonomie zustande gekommenen TV leerläuft5, beruht die Nachwirkung eines konkreten TVs auf einer Kombination von privatem und hoheitlichem Rechtsetzungsakt: Die privaten Verbände sind für den Inhalt des TVs verantwortlich, und zwar so lange, bis dieser beendet wird und in die Nachwirkungsphase übergeht. Der Gesetzgeber sorgt für die Weitergeltung der Tarifnormen nach Beendigung des TVs.
32
Das BVerfG hat Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit des § 4 Abs. 5 TVG zu Recht zurückgewiesen6. Einen unzulässigen Zwang oder Druck im Hinblick auf ein Unterlassen des Verbandsaustritts bzw. des Wiedereintritts in den Verband hat es mit dem Hinweis auf den bloß dispositiven Charakter der Nachwirkung verneint. Der Arbeitgeber könne seine Vorstellungen vom richtigen Inhalt der Arbeitsverhältnisse durch einzelvertragliche Vereinbarungen mit den bei ihm beschäftigten Arbeitnehmern durchsetzen und damit die Nachwirkung selbst, d.h. ohne Mitwirkung des Verbandes und ohne Abschluss eines FirmenTVs mit einer Gewerkschaft, beseitigen. Denkt man diese zutreffende Argumentation konsequent zu Ende, so drängen sich Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der zwingenden Nachbindung gemäß § 3 Abs. 3 TVG geradezu auf (dazu Teil 6 Rz. 66).
II. Voraussetzungen 33
Als Voraussetzung der Nachwirkung nennt § 4 Abs. 5 TVG den „Ablauf des TVs“. Darunter fällt jede Beendigung des TVs durch Kündigung, Aufhebung, Befristung 1 2 3 4 5 6
Zutreffend Zöllner, RdA 1964, 443 (445). Aus diesem Grunde wenig überzeugend Leitmeier, Nachwirkung, S. 116. Vgl. Rz. 49. Wiedemann, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 6. Zutreffend Jacobs/Krois, ZTR 2011, 641 (647). BVerfG v. 3.7.2000 – 1 BvR 945/00, NZA 2000, 947 (948); vgl. auch Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 881; Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 721; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 671.
744 Hçpfner
Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG
Rz. 35 Teil 9
oder Wegfall einer TV-Partei. Nach ganz überwiegender Auffassung gilt die Norm darüber hinaus analog für alle sonstigen Fälle, in denen der TV seine Wirkung für ein konkretes Arbeitsverhältnis verliert1. Dazu zählt insb. das Herauswachsen des Arbeitgebers aus dem Geltungsbereich des TVs oder der Tarifzuständigkeit des Verbandes2. Auch wenn außerhalb der Tarifzuständigkeit der TV-Parteien die Richtigkeitsgewähr des TVs entfällt, spricht doch jedenfalls die Überbrückungsfunktion der Nachwirkung für eine entsprechende Anwendung des § 4 Abs. 5 TVG. Vor seinem „Ablauf“ muss der TV unmittelbar und zwingend gegolten haben. Dabei 34 ist es unerheblich, worauf die Normwirkung beruht. § 4 Abs. 5 TVG erfasst sowohl VerbandsTVe auf Grundlage beiderseitiger mitgliedschaftlicher Legitimation als auch FirmenTVe und TVe, die aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklärung gemäß § 5 Abs. 4 TVG (vgl. näher Teil 7 Rz. 108 ff.) auf ein Arbeitsverhältnis anzuwenden sind3. Demgegenüber hat der 4. Senat entschieden, dass § 4 Abs. 5 TVG auf Tarifnormen, die durch Rechtsverordnung im Wege des § 1 Abs. 3a Satz 1 AEntG a.F. (= §§ 3, 7 AEntG n.F.) auf nicht tarifgebundene Arbeitsverhältnisse erstreckt wurden, keine Anwendung findet (vgl. näher Teil 7 Rz. 203 ff.)4. Im Hinblick auf die Überbrückungsfunktion der Nachwirkung, die auch nach Beendigung der Tarifnormerstreckung einschlägig ist, ist das Ergebnis zweifelhaft5. Für den Betriebsübergang schließen die spezielleren Regelungen des § 613a Abs. 1 35 Sätze 2–4 BGB einen Rückgriff auf § 4 Abs. 5 TVG aus. Entsprechendes gilt, sofern sich an die Beendigung der Verbandsmitgliedschaft eine Fortwirkung der Tarifnormen anschließt (dazu Teil 6 Rz. 61 ff.). In diesem Fall verdrängt § 3 Abs. 3 TVG die Nachwirkung bis zur Beendigung des TVs. Nach herrschender Meinung tritt jedoch die Nachwirkung im Anschluss an die Nachbindung ein6. Die Entstehungsschichte des TVG steht dieser Kombination von Nachbindung und Nachwirkung nicht entgegen, im Gegenteil: Bei § 4 Abs. 5 TVG handelt es sich um den Kompromiss einer „Umwandlung der zwingenden Tarifvertragsnormen bei Beendigung des Tarifvertrages in
1 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 193/97, NZA 1998, 488 (490 f.); BAG v. 18.3.1992 – 4 AZR 339/91, NZA 1992, 700 (701); BAG v. 2.12.1992 – 4 AZR 277/92, NZA 1993, 655 (658); ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 60; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 6; Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 732; Kittner/Zwanziger/Deinert/Deinert, § 8 Rz. 243; einschränkend Fischer, Nachwirkung, S. 146 ff. 2 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 193/97, NZA 1998, 488 (490 f.). 3 BAG v. 19.1.1962 – 1 AZR 147/61, AP TVG § 5 Nr. 11; BAG v. 18.6.1980 – 4 AZR 463/78, AP TVG § 4 Ausschlussfristen Nr. 68; BAG v. 25.10.2000 – 4 AZR 212/00, NZA 2001, 1146 (1146 f.); ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 54; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 5; a.A. Creutzfeld, FS Bepler, S. 45 (51); Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 289 ff.; Sittard, NZA 2012, 299 (302 f.). 4 BAG v. 20.4.2011 – 4 AZR 467/09, NZA 2011, 1105 (1107); i.E. ebenso Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 399 f.; Sittard, NZA 2012, 299 (300 ff.). 5 Ebenso Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 685. 6 Vgl. nur BAG v. 14.2.1991 – 8 AZR 166/90, NZA 1991, 779; BAG v. 13.12.1995 – 4 AZR 1062/94, NZA 1996, 769 (771); BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (59); BAG v. 22.2.2012 – 4 AZR 8/10, ZTR 2012, 436 (437); ebenso Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 880; ErfK/ Franzen, § 4 TVG Rz. 60; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 691; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 339; Wank, NJW 1996, 2273 (2278 f.); a.A. Heinze/Ricken, ZfA 2001, 159 (162 ff.); Ehmann/ Lambrich, NZA 1996, 346 (356); Oetker, EzA § 4 TVG Nachwirkung Nr. 14 und 15; Loritz, in: Zöllner/Loritz/Hergenröder, § 40 Rz. 15; tendenziell krit. auch Lieb, NZA 1994, 337 (338 f.).
Hçpfner 745
Teil 9 Rz. 36
Wirkung der Tarifnormen
eine besondere Art dispositiven Rechts“1, mit dem der Gesetzgeber die Weitergeltung der Tarifnormen im Ergebnis sicherstellen wollte, ohne in den Theorienstreit um die Tarifwirkung einzugreifen. Da sich die Problematik des Wegfalls von Tarifnormen aber in den praktisch allermeisten Fällen erst nach Beendigung des Fortwirkungszeitraums stellt und sich in den Gesetzesmaterialien keine Einschränkung des § 4 Abs. 5 TVG auf die seltenen Fälle findet, in denen der TV ohne Nachbindung „abläuft“, wird man davon ausgehen müssen, dass die Kombination von Nachbindung und Nachwirkung den Regelungsabsichten der Normsetzer entspricht. 36
Umstritten ist die Anwendbarkeit des § 4 Abs. 5 TVG im Fall der außerordentlichen Kündigung des TVs2. Das BAG hat dazu bisher nicht Stellung nehmen müssen, scheint aber dazu zu tendieren, dass die Nachwirkung bei Beendigung des TVs durch außerordentliche Kündigung entfallen kann3. Geht man davon aus, dass eine Kündigung des TVs oder der Verbandsmitgliedschaft nur in außergewöhnlichen Ausnahmefällen bei existenzbedrohender wirtschaftlicher Lage des Arbeitgebers zulässig ist4, sprechen die besseren Gründe für den Eintritt der Nachwirkung, da hinsichtlich der Vergütung die nur statische Fortwirkung gegenüber der dynamischen tarifüblichen Vergütung des § 612 Abs. 2 BGB den „kostengünstigeren“ Weg darstellt5.
37
§ 4 Abs. 5 TVG stellt nach ganz herrschender Meinung eine tarifdispositive Regelung dar6. Eine Nachwirkung kommt nicht in Betracht, wenn die TV-Parteien sie bereits bei Abschluss des Vertrags im TV selbst ausdrücklich oder konkludent ausschließen, befristen oder auf Teile des TVs beschränken7. Bei SanierungsTVen ist nach zutreffender Auffassung des BAG aufgrund der zeitlich befristeten Vereinbarungen zur Lohnsenkung bzw. Arbeitszeiterhöhung im Regelfall von einem stillschweigenden Ausschluss der Nachwirkung auszugehen8. Die Aufhebungsbefugnis der TV-Parteien ergibt sich als actus contrarius zu ihrer Rechtsetzungskompetenz9. Umgekehrt kön1 Herschel, ZfA 1973, 183 (193), Hervorhebung hinzugefügt; vgl. auch Herschel, ZfA 1976, 89 (95). 2 Dazu ausf. Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 854 ff.; vgl. ferner Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 54; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 6; Oetker, in: Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 8 Rz. 33; Oetker, RdA 1995, 82 (95); Buchner, NZA 1993, 289 (299); Löwisch, NZA 1997, 905 (908). 3 BAG v. 18.6.1997 – 4 AZR 710/95, NZA 1997, 1234 (1237); recht ergebnisoffen auch Däubler/ Bepler, § 4 TVG Rz. 854 einerseits, Rz. 855 andererseits. 4 Vgl. ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 10; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 141. 5 Ebenso Löwisch, NZA 1997, 905 (908); Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 688 f.; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 56; Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 855; Kittner/Zwanziger/Deinert/Deinert, § 8 Rz. 250; Wank, FS Schaub, S. 761 (776 f.); i.E. auch Buchner, NZA 1993, 289 (299); Fischer, Nachwirkung, S. 174 ff.; dahin tendierend auch HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 6; a.A. Oetker, RdA 1995, 82 (95); Belling/Hartmann, ZfA 1997, 87 (130). 6 Vgl. Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 828 ff.; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 58; Kempen/Zachert/ Kempen, § 4 TVG Rz. 736; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 362; a.A. Herschel, ZfA 1976, 89 (97); differenzierend Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 747 ff.: kein Ausschlussrecht für die essentialia negotii des Arbeitsvertrags. 7 BAG v. 3.9.1986 – 5 AZR 319/85, NZA 1987, 178 (179); BAG v. 16.8.1990 – 8 AZR 439/89, NZA 1991, 353; BAG v. 8.10.1997 – 4 AZR 87/96, NZA 1998, 492 (493); BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 789/07, NZA 2009, 265 (266); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 18 VII 3; a.A. Herschel, ZfA 1976, 89 (97). 8 BAG v. 16.5.2012 – 4 AZR 366/10, NZA 2013, 220 Rz. 32 ff. 9 BAG v. 8.10.1997 – 4 AZR 87/96, NZA 1998, 492 (493); Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 362; vgl. auch Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 829.
746 Hçpfner
Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG
Rz. 39 Teil 9
nen die TV-Parteien jedoch der nach § 4 Abs. 5 TVG dispositiv ausgestalteten Nachwirkung keine zwingende Geltung verschaffen, da dies mit dem Überbrückungszweck des § 4 Abs. 5 TVG nicht vereinbar ist1. Insoweit ist die Tarifnormwirkung in § 4 Abs. 5 TVG abschließend geregelt und die Rechtsetzungskompetenz der Verbände auf den Zeitraum bis zum Ende des TVs beschränkt. Umstritten ist, ob die TV-Parteien einen von vornherein lediglich nachwirkenden TV 38 abschließen dürfen. Das BAG lehnt dies mit der Begründung ab, es könne keine TVe ohne Friedenspflicht geben2. Der TV müsse daher zumindest kurzzeitig gemäß § 4 Abs. 1 TVG unmittelbar und zwingend gelten, bevor er seine zwingende Wirkung verlieren könne. Zulässig sei es aber, einen TV mit möglichst kurzer Laufzeit oder mit sofortiger Kündigungsmöglichkeit zu vereinbaren, nach dessen Ende sich dann die Nachwirkung anschließe3. In der Praxis erweist sich die Fragestellung als Scheinproblem, da die TV-Parteien ohne weiteres abweichend von § 4 Abs. 3 TVG einen TV mit von vornherein lediglich dispositiver Wirkung abschließen können4, der im Ergebnis einem bloß nachwirkenden TV entspricht5.
III. Rechtsfolge § 4 Abs. 5 TVG sieht eine „Weitergeltung“ der Tarifnormen nach Ablauf des TVs vor. 39 Im Gegensatz zu § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB werden die Tarifnormen nicht zum „Inhalt des Arbeitsverhältnisses“. Vielmehr erhält das Gesetz die unmittelbare Wirkung der Tarifnormen nach dessen Beendigung in den von ihm zu diesem Zeitpunkt erfassten Arbeitsverhältnissen aufrecht, während die zwingende Wirkung entfällt6. Demzufolge beschränkt sich die Nachwirkung auf den normativen Teil des TVs. Schuldrechtliche Abreden zwischen den TV-Parteien sind von § 4 Abs. 5 TVG nicht erfasst7. Insb. entfällt mit dem Ende des TVs die Friedenspflicht8. Das entspricht dem
1 Im Ergebnis ebenso Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 751; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 339; Wiedemann, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 8; a.A. Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 727; AnwK-ArbR/Besgen, § 4 TVG Rz. 42; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1468. 2 BAG v. 14.2.1973 – 4 AZR 176/72, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 6; BAG v. 29.1.1975 – 4 AZR 218/74, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 8; zustimmend Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 752; a.A. Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 895; Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 737; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 365 ff. 3 BAG v. 14.2.1973 – 4 AZR 176/72, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 6; Frölich, NZA 1992, 1105 (1109); ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 59; Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 737. 4 Herschel, ZfA 1976, 89 (102); Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 752; Wiedemann, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 6. 5 A.A. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 368. 6 Vgl. Höpfner, Tarifgeltung, S. 407, 411; Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 812; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 7; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 717; unzutreffend Hanau, NZA 2012, 825 (828): Verlust auch der unmittelbaren Wirkung. 7 Vgl. Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 863; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 55; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 7; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 702. 8 BAG v. 14.2.1973 – 4 AZR 176/72, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 6; Herschel, ZfA 1976, 89 (104); Oetker, in: Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 8 Rz. 40; Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 842; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 351; Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 749; das verkennt die Kritik von Leitmeier, Nachwirkung, S. 130.
Hçpfner 747
Teil 9 Rz. 40
Wirkung der Tarifnormen
Überbrückungszweck der Nachwirkung während des Zeitraums der Tarifverhandlungen und der Funktion des Arbeitskampfs als Hilfsmittel für die Tarifautonomie. 40
Nach der Rechtsprechung des BAG gilt § 4 Abs. 5 TVG nicht nur für Inhaltsnormen, sondern für alle Rechtsnormen des TVs i.S.d. § 1 Abs. 1 TVG einschließlich der betrieblichen Normen1. Letztere können wegen der notwendig einheitlichen Regelung nicht durch einzelvertragliche Abrede, sondern nur durch einen TV oder eine Betriebsvereinbarung abgelöst werden2. Entsprechendes gilt nach h.M. für betriebsverfassungsrechtliche Normen3. Für Abschlussnormen hat die Nachwirkung praktisch keine Bedeutung, weil ein tarifwidriger Vertragsschluss eine die Nachwirkung beendende „andere Abmachung“ darstellt4. Lediglich für tarifliche Regelungen über gemeinsame Einrichtungen gemäß § 4 Abs. 2 TVG lehnt das BAG eine Nachwirkung ab, wenn der Arbeitgeber durch Änderung des Betriebszwecks aus dem betrieblichen Geltungsbereich des TVs hinauswächst und keine Beiträge an die gemeinsame Einrichtung mehr zu erbringen hat5.
41
§ 4 Abs. 5 TVG sieht – entsprechend dem Überbrückungszweck der Norm – eine lediglich statische Nachwirkung der Tarifnormen vor. Die normative Weitergeltung betrifft die Tarifnormen in dem Zustand, wie sie sich im Zeitpunkt des Ablaufs des TVs darstellen6. Spätere Änderungen des TVs bleiben unberücksichtigt. Enthält ein TV eine dynamische Verweisung auf eine fremde Regelung, so bleiben Änderungen der Bezugsnorm im Nachwirkungszeitraum grundsätzlich außer Betracht7. Sofern jedoch ein StufenTV selbst sämtliche Stufen abschließend regelt, bleibt die TV-immanente Aufstiegsdynamik im Nachwirkungszeitraum erhalten8.
1 BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, NZA 1990, 850 (853); HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 10; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 344; Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 873 ff.; Oetker, FS Schaub, S. 535 (537 ff.); Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1453 f.; Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, S. 521 ff. 2 BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, NZA 1990, 850 (854); Rüthers, FS Müller, S. 445 (456); Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 344. 3 LAG Baden-Württemberg v. 13.8.2014 – 4 Sa 12/14, n.v. (Rev. zurückgewiesen durch BAG v. 20.1.2016 – 6 AZR 601/14, noch n.v.); ArbG Hamburg v. 8.3.2013 – 27 BV 25/12, LAGE § 4 TVG Nachwirkung Nr. 17; Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 874a; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 10; Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 743; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 698; Wiedemann/ Wank, § 4 TVG Rz. 344; Fischer, Nachwirkung, S. 201 ff.; Weber/Gräf, RdA 2012, 95 (96 ff.); a.A. ErfK/Koch, § 3 BetrVG Rz. 2, 11; Richardi/Richardi, § 3 BetrVG Rz. 65; Jacobs/Krois, ZTR 2011, 643 (648 f.). 4 BAG v. 18.5.1977 – 4 AZR 47/76, AP BAT § 4 Nr. 4; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 55; HWK/ Henssler, § 4 TVG Rz. 10; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 345. 5 BAG v. 5.10.1993 – 3 AZR 586/92, NZA 1994, 848 (850); a.A. Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 260, 699; Thüsing/Braun/Wißmann, 4. Kap. Rz. 140. 6 BAG v. 4.4.2001 – 4 AZR 215/00, NZA 2002, 104 (106); ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 51; Däubler/ Bepler, § 4 TVG Rz. 821; Oetker, in: Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 8 Rz. 48. 7 BAG v. 29.1.2008 – 3 AZR 426/06, NZA 2008, 541 (542); BAG v. 17.5.2000 – 4 AZR 363/99, NZA 2001, 453 (456 f.); BAG v. 24.11.1999 – 4 AZR 666/98, NZA 2000, 435 (436 f.); BAG v. 10.11.1982 – 4 AZR 1203/79, AP TVG § 1 Form Nr. 8; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 340; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 704; Oetker, in: Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 8 Rz. 49; Jacobs, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 34; a.A. Wiedemann, AP MTV Ang-DFVLR § 2 Nr. 1; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 18 VII 1 a. 8 BAG v. 17.5.2000 – 4 AZR 363/99, NZA 2001, 453 (457); BAG v. 16.8.1990 – 8 AZR 439/89, NZA 1991, 353 (354); Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 706.
748 Hçpfner
Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG
Rz. 43 Teil 9
Nach ständiger Rechtsprechung des BAG werden im Nachwirkungszeitraum begrün- 42 dete Arbeitsverhältnisse von § 4 Abs. 5 TVG nicht erfasst1. Entsprechendes gilt für den Fall, dass die Voraussetzungen der beiderseitigen Tarifgebundenheit erst im Nachwirkungszeitraum begründet werden2. Die Gegenauffassung plädiert unter Hinweis auf die Ordnungsfunktion des TVs für eine Erstreckung des § 4 Abs. 5 TVG auf Neuverträge3. Für die Ansicht des BAG spricht, dass der von der Nachwirkung bezweckte „Inhaltsschutz“ nur bei bestehenden tarifgebundenen Arbeitsverhältnissen eingreift und die Überbrückungsfunktion durch eine Ausklammerung von Neuverträgen nicht grundlegend in Frage gestellt wird4. Die praktische Relevanz des Meinungsstreits ist gering, da das BAG arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln auf die geltenden TVe im Zweifel dahingehend auslegt, dass sie auch nachwirkende TVe erfassen5. Nachwirkende Tarifnormen gehen dem tarifdispositiven Gesetzesrecht vor6. Das 43 folgt aus der grundsätzlich auch im Nachwirkungszeitraum fortbestehenden Richtigkeitsgewähr des TVs und aus der Inhaltsschutzfunktion der Nachwirkung, welcher die im Vergleich zum dispositiven Gesetzesrecht höhere Sachnähe des TVs zugrunde liegt7. Sofern das tarifdispositive Gesetz eine Abweichung durch einzelvertragliche Bezugnahme erlaubt, was regelmäßig der Fall ist, geht aus diesem Grunde auch eine individualvertragliche Verweisung auf einen nachwirkenden TV dem Gesetz vor, sofern der gesamte TV unverändert nachwirkt8. In der Praxis ist dies vor allem für die Frage bedeutsam, ob im Rahmen des § 9 Nr. 2 AÜG vom „Equal Pay/Treatment“Prinzip durch einen nachwirkenden TV oder durch arbeitsvertragliche Verweisung auf einen solchen abgewichen werden kann. Nach der hier vertretenen Auffassung sind beide Fragen zu bejahen9.
1 Vgl. nur BAG v. 6.6.1958 – 1 AZR 515/57, NJW 1958, 1843 (1844); BAG v. 2.3.2004 – 1 AZR 271/03, NZA 2004, 852 (854); BAG v. 15.11.2006 – 10 AZR 665/05, NZA 2007, 448 (452); BAG v. 7.5.2008 – 4 AZR 288/07, NZA 2008, 886 (887); BAG v. 5.8.2009 – 10 AZR 1006/08, AP TVG § 4 Nr. 32. 2 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 (487); ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 53; Oetker, in: Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 8 Rz. 30; a.A. Kittner/Zwanziger/Deinert/Deinert, § 8 Rz. 251 mit unzutreffendem Hinweis auf BAG v. 4.8.1993 – 4 AZR 499/92, AP TVG § 3 Nr. 15. 3 Wiedemann, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 6; Wiedemann, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 8; Herschel, ZfA 1976, 89 (98 f.); Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 330 ff.; Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 814 ff.; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1464. 4 Vgl. Rüthers, FS Müller, S. 445 (450); ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 53; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 708 f.; Höpfner, Tarifgeltung, S. 411; wenig überzeugend die Kritik von Leitmeier, Nachwirkung, S. 118 ff. 5 BAG v. 20.9.2006 – 10 AZR 33/06, NZA 2007, 164 (165 f.); BAG v. 29.1.1975 – 4 AZR 218/74, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 8; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 8; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 333; Oetker, in: Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 8 Rz. 31; Roßmann, NZA 1999, 1252. 6 BAG v. 27.6.1978 – 6 AZR 59/77, AP BUrlG § 13 Nr. 12; Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 845; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 51; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 9; Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 738; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 334; Wiedemann, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 6; a.A. Herschel, ZfA 1976, 89 (99 f.); Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1461. 7 Zutr. Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 846. 8 Vgl. BAG v. 27.6.1978 – 6 AZR 59/77, AP BUrlG § 13 Nr. 12; Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 851; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 335. 9 Ebenso Thüsing, DB 2003, 446 (449); Stoffels/Bieder, RdA 2012, 27 (35 f.); Kempen/Zachert/ Kempen, § 4 TVG Rz. 739; a.A. Ulber, ZTR 2010, 287; Kocher, DB 2010, 900; differenzierend Bayreuther, BB 2010, 309.
Hçpfner 749
Teil 9 Rz. 44 44
Wirkung der Tarifnormen
Auch im Nachwirkungszeitraum kann es zu Tarifkonkurrenzen kommen1. Das gilt vor allem für den Fall, dass der von einem verbandsangehörigen Arbeitgeber abgeschlossene FirmenTV endet. Eine Ablösung des nachwirkenden FirmenTVs durch den VerbandsTV kommt hier nicht in Betracht, da letzterer mangels Ablösungswillens der TV-Parteien keine „andere Abmachung“ i.S.d. § 4 Abs. 5 TVG darstellt2. Umstritten ist, ob der FirmenTV den VerbandsTV auch im Nachwirkungszeitraum verdrängt. Die (noch) h.M. lehnt dies ab. Bei der Kollision eines nach § 4 Abs. 1 TVG unmittelbar und zwingend geltenden und eines lediglich nachwirkenden TVs soll stets der kraft aktueller Verbandsmitgliedschaft legitimierte TV Vorrang haben3. Die Gegenauffassung wendet demgegenüber das Spezialitätsprinzip auch im Nachwirkungszeitraum an, so dass grundsätzlich der FirmenTV vorrangig ist. Davon sei lediglich für den Fall eine Ausnahme zu machen, dass eine Nachfolgeregelung für den FirmenTV, etwa wegen Verschmelzung des Arbeitgebers, nicht in Betracht kommt4. Der 4. Senat des BAG hat zuletzt wiederholt ausdrücklich offen gelassen, welcher Ansicht er künftig folgen wird5.
IV. Ablösung nachwirkender Tarifverträge 45
Gemäß § 4 Abs. 5 TVG endet die Nachwirkung, wenn die Tarifnormen durch eine andere Abmachung ersetzt werden. Im Gegensatz zur Fortwirkung gemäß § 3 Abs. 3 TVG entfällt im Nachwirkungszeitraum die zwingende Wirkung der Tarifnormen6. Eine Ablösung der Tarifnormen ist daher nicht nur durch TV, sondern auch durch Betriebsvereinbarung oder individualvertragliche Vereinbarung möglich7. Bei § 4 Abs. 5 TVG handelt es sich um eine Spezialvorschrift, die einen Rückgriff auf das allgemeine Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG ausschließt8. Das hat zur Folge, dass nachwirkende TVe auch durch für den Arbeitnehmer nachteilige Abmachungen ersetzt werden können.
1 Vgl. Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 860; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 50; Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 301. 2 Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 302. 3 Vgl. BAG v. 19.1.1962 – 1 AZR 147/61, AP TVG § 5 Nr. 11; BAG v. 4.12.1974 – 5 AZR 75/74, AP TVG § 3 Nr. 2; LAG Schleswig-Holstein v. 6.2.2007 – 5 Sa 328/06, NZA-RR 2007, 482 (483); Wiedemann, AP TVG § 3 Nr. 2; Löwisch/Rieble, FS Schaub, S. 457 (462 f.); Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1496; Bayreuther, Tarifautonomie, S. 367 f. 4 HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 50; Jacobs, in: Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 7 Rz. 225 f.; Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 304 f.; Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 861; Franzen, AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 36. 5 BAG v. 4.7.2007 – 4 AZR 491/06, NZA 2008, 307 (314); BAG v. 20.4.2005 – 4 AZR 288/04, NZA 2005, 1360 (1361). 6 BAG v. 29.1.1975 – 4 AZR 218/74, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 8; Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 897; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 50; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 5; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 717; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 323; zweifelnd nur Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 718. 7 BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 477/08, NZA-RR 2010, 477; BAG v. 18.5.2011 – 10 AZR 206/10, NZA 2011, 1289 (1290). Ein auf TVe beschränkter Änderungsantrag der KPD-Fraktion wurde im Gesetzgebungsverfahren nicht aufgegriffen, vgl. ZfA 1973, 129 (159, 165). 8 Vgl. BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923 (925); Bauer, FS Schaub, S. 19 (25); AnwK-ArbR/Besgen, § 4 TVG Rz. 41.
750 Hçpfner
Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG
Rz. 48 Teil 9
1. Ablösung durch Tarifvertrag Nachwirkende Tarifnormen können zunächst durch einen Verbands- oder FirmenTV 46 abgelöst werden. Ablösende Wirkung hat ein TV jedoch nur für die Arbeitsverhältnisse, auf die er kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Arbeitsvertragsparteien oder durch Allgemeinverbindlicherklärung oder Tarifnormerstreckung nach §§ 3, 7 AEntG anwendbar ist1. Insoweit folgt § 4 Abs. 5 TVG dem Prinzip der Einzelablösung2. Liegen die Voraussetzung der Tarifgeltung nicht vor, etwa infolge eines Verbandsaustritts oder Herauswachsens aus dem Geltungsbereich, so ist auf das Arbeitsverhältnis weiterhin der nachwirkende TV anzuwenden. Für allgemeinverbindlich erklärte TVe können im Nachwirkungszeitraum nach herrschender Meinung nur durch einen ebenfalls allgemeinverbindlichen TV abgelöst werden3. Haben die TV-Parteien mehrere TVe abgeschlossen, so sind die Nachwirkung und die 47 Ablösung des TVs für jeden einzelnen TV gesondert festzustellen. So steht etwa der Ablösung eines nachwirkenden EntgeltTVs nicht entgegen, dass der (ungekündigte) MantelTV des gleichen Tarifwerks weiterhin fortbesteht4. Etwas anderes gilt nur, wenn die TVe nach dem erkennbaren Willen der TV-Parteien eine einheitliche Regelung darstellen. Davon ist jedenfalls nicht auszugehen, wenn die TVe selbständig abgeschlossen, getrennt ausformuliert und mit unterschiedlichen Laufzeiten und Kündigungsmöglichkeiten versehen sind5. Inwieweit ein neuer TV nachwirkende Tarifnormen ersetzt, ist durch Auslegung des 48 TVs zu ermitteln. Eine Ablösung findet unproblematisch statt, wenn der TV die ursprüngliche Regelung aufgreift und bestätigt, abändert oder ausdrücklich für beendet erklärt6. Möglich ist aber auch, dass die „andere Abmachung“ i.S.d. § 4 Abs. 5 TVG stillschweigend erfolgt, z.B. wenn eine bestimmte bisher gewährte Leistung künftig entfallen soll7 oder wenn ein TV einen bestimmten Komplex von Arbeitsbedingungen insgesamt neu regelt, der bislang Gegenstand des abzulösenden TVs war8. In diesem Fall ergeben sich in der Praxis häufig Abgrenzungsprobleme zur nur teilweisen Ablösung des TVs, bei der die Nachwirkung der unveränderten Tarifnormen unberührt bleibt9. Entsprechende Hinweise der TV-Parteien in Protokollnotizen sind bei der Auslegung zu berücksichtigen10. 1 BAG v. 20.4.2005 – 4 AZR 288/04, NZA 2005, 1360 (1361); BAG v. 28.5.1997 – 4 AZR 545/95, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 27; BAG v. 18.3.1992 – 4 AZR 339/91, NZA 1992, 700 (701); BAG v. 27.11.1991 – 4 AZR 211/91, NZA 1992, 800 (802); Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 898; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 61; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 12; Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 753. 2 Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 725, 731; Leitmeier, Nachwirkung, S. 185 f. 3 BAG v. 27.11.1991 – 4 AZR 211/91, NZA 1992, 800 (802); Wiedemann/Wank, § 5 TVG Rz. 126; HWK/Henssler, § 5 TVG Rz. 33; Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 898; Kittner/Zwanziger/Deinert/Deinert, § 8 Rz. 254; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 205 Rz. 36; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1456; a.A. mit beachtlichen Gründen Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 289 ff. 4 BAG v. 20.4.2005 – 4 AZR 288/04, NZA 2005, 1360 (1362); Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 355. 5 BAG v. 20.4.2005 – 4 AZR 288/04, NZA 2005, 1360 (1361). 6 Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 900. 7 Vgl. Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 754. 8 BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 477/08, NZA-RR 2010, 477 (479). 9 Vgl. dazu BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 477/08, NZA-RR 2010, 477 (479 ff.); Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 900; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 355; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 61. 10 Vgl. Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 754.
Hçpfner 751
Teil 9 Rz. 49 49
Wirkung der Tarifnormen
Von der Ablösung eines nachwirkenden TVs durch einen neuen TV zu unterscheiden ist die Frage, ob die TV-Parteien einen nachwirkenden TV ändern oder ergänzen dürfen. Das BAG verneint dies mit der Begründung, die Nachwirkung beruhe allein auf der gesetzlichen Anordnung des § 4 Abs. 5 TVG und sei daher der Regelungsbefugnis der TV-Parteien entzogen1. Dem ist im Ergebnis zuzustimmen. Eine Änderung nachwirkender TVe würde auch diejenigen Arbeitsverhältnisse betreffen, die von einem ablösenden neuen TV mangels beiderseitiger Tarifgebundenheit nicht erfasst würden. Hierfür fehlt den TV-Parteien aber die mitgliedschaftliche Legitimation. 2. Ablösung durch Betriebsvereinbarung
50
Grundsätzlich ist auch eine Ablösung durch Betriebsvereinbarung möglich. Dabei sind jedoch die Grenzen der betrieblichen Regelungskompetenz zu beachten. Die weitreichende Sperrwirkung des TVs gemäß § 77 Abs. 3 BetrVG hinsichtlich des Arbeitsentgeltes und sonstiger Arbeitsbedingungen gilt auch im Nachwirkungszeitraum und schließt damit – vorbehaltlich genereller2 oder auf den Nachwirkungszeitraum begrenzter3 tariflicher Öffnungsklauseln – entsprechende ablösende Betriebsvereinbarungen aus4. Demgegenüber endet der Tarifvorrang im Rahmen der Mitbestimmung in sozialen Fragen gemäß § 87 Abs. 1 BetrVG mit dem Wegfall der zwingenden Tarifwirkung, so dass eine ablösende Betriebsvereinbarung insoweit zulässig ist5. Eine bloße Regelungsabrede i.S.d. § 77 Abs. 1 BetrVG kann dagegen den nachwirkenden TV nicht beenden, da sie lediglich schuldrechtliche Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat begründet und nicht unmittelbar die Arbeitsverhältnisse im Betrieb gestaltet6. 3. Ablösung durch Individualvertrag
51
Schließlich lässt § 4 Abs. 5 TVG eine Ablösung nachwirkender TVe durch Individualvereinbarung zu. Darunter fällt zunächst der einvernehmliche Abschluss eines Änderungsvertrags durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Eine Ablösung findet aber auch statt, wenn der Arbeitnehmer das mit einer Änderungskündigung des Arbeitgebers verbundene Änderungsangebot vorbehaltlos annimmt oder wenn sich das Änderungsangebot im Fall einer Vorbehaltsannahme vor Gericht im Kündigungsschutzprozess 1 BAG v. 29.1.1975 – 4 AZR 218/74, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 8; a.A. Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 895; Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 757; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 365; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1466; Loritz, in: Zöllner/Loritz/Hergenröder, § 40 Rz. 42. 2 Vgl. BAG v. 25.8.1983 – 6 ABR 40/82, AP BetrVG 1972 § 77 Nr. 7; ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 59. 3 Vgl. Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 758. 4 Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 902; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 61; ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 40; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 736; Oetker, FS Schaub, S. 535 (551); einschränkend Ehmann/Lambrich, NZA 1996, 346 (356); a.A. Leitmeier, Nachwirkung, S. 187 ff.: lediglich bei „Tarifüblichkeit“. 5 BAG GS v. 3.12.1991 – GS 2/90, NZA 1992, 749 (754); BAG v. 15.12.1961 – 1 AZR 207/59, AP BGB § 615 Kurzarbeit Nr. 1; Höpfner, Tarifgeltung, S. 424 f.; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 61; ErfK/Kania, § 87 BetrVG Rz. 15; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 737; einschränkend Oetker, FS Schaub, S. 535 (545 ff.). 6 LAG Schleswig-Holstein v. 12.5.2005 – 3 Sa 105/05, NZA-RR 2005, 426 (427 f.); HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 11.
752 Hçpfner
Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG
Rz. 53 Teil 9
als sozial gerechtfertigt erweist1. Schließlich kann auch eine arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel eine „andere Abmachung“ i.S.d. § 4 Abs. 5 TVG darstellen2. Eine Ablösung durch Individualvereinbarung ist jedoch unzulässig, soweit es sich um betriebliche oder betriebsverfassungsrechtliche Normen handelt3. In diesem Fall kann eine Ablösung nur durch TV, durch Betriebsvereinbarung oder durch arbeitsvertragliche Einheitsregelung4 erfolgen. Obwohl mit dem Ende des TVs die zwingende Wirkung der Tarifnormen entfällt, 52 schränkt das BAG die Ablösung nachwirkender tariflicher Vergütungsordnungen im Ergebnis stark ein. Nach ständiger Rechtsprechung des 1. Senats und des 7. Senats sollen tarifliche Vergütungsordnungen während der Dauer der Tarifbindung des Arbeitgebers die im Betrieb geltenden Entlohnungsgrundsätze i.S.d. § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG darstellen. Nach Wegfall der Tarifbindung soll entgegen § 4 Abs. 5 TVG eine Änderung nur mit Zustimmung des Betriebsrats möglich sein5. Nach der sog. „Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung“ soll der Arbeitnehmer bei einer unter Verstoß gegen § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG vorgenommenen, durch Änderungsvertrag oder Neueinstellung begründeten individualvertraglichen Änderung der Entlohnungsgrundsätze eine Vergütung auf der Grundlage der bisher geltenden Grundsätze fordern können6. Im Schrifttum ist diese Rechtsprechung zu Recht kritisiert worden. Sie schafft einen Vergütungsanspruch ohne Anspruchsgrundlage, widerspricht der Überbrückungsfunktion des § 4 Abs. 5 TVG und verstößt gegen die Privatautonomie der Arbeitsvertragsparteien7. Darüber hinaus begründet sie einen untragbaren Wertungswiderspruch, indem sie die während der Laufzeit des TVs unbegrenzte Vertragsfreiheit des nicht tarifgebundenen Arbeitnehmers nach Beendigung des TVs einschränkt8. Nach Auffassung des BAG unterliegt eine andere Abmachung in Form Allgemeiner Geschäftsbedingungen keiner Inhaltskontrolle gemäß § 307 Abs. 1 und 2 BGB, da ei1 BAG v. 27.9.2001 – 2 AZR 236/00, NZA 2002, 750 (753); BAG v. 28.1.1987 – 5 AZR 323/86, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 16; Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 910; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 63; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 719; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 11; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 356; a.A. Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 762. 2 Vgl. BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923 (924 f.); BAG v. 23.2.2005 – 4 AZR 186/04, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 42; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 63; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 11. 3 Rüthers, FS Müller, S. 445 (456); ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 63; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 738; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 358. 4 Vgl. dazu Rüthers, FS Müller, S. 445 (456); Henssler, FS Picker, S. 987 (999); Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 907. 5 Vgl. zuletzt BAG v. 15.4.2008 – 1 AZR 65/07, NZA 2008, 888 (890 f.); BAG v. 14.4.2010 – 7 ABR 91/08, NZA-RR 2011, 83 (84 f.); ebenso für beendete Betriebsvereinbarung (trotz fehlender Nachwirkung gemäß § 77 Abs. 6 BetrVG!) BAG v. 22.6.2010 – 1 AZR 853/08, NZA 2010, 1243 (1245). 6 Vgl. BAG v. 22.6.2010 – 1 AZR 853/08, NZA 2010, 1243 (1247); BAG v. 8.12.2009 – 1 ABR 66/08, NZA 2010, 404 (406); BAG v. 15.4.2008 – 1 AZR 65/07, NZA 2008, 888 (892). 7 Reichold, AP TVG § 3 Nr. 31; Reichold, FS Picker, S. 1079; Reichold, FS Konzen, S. 763; Bauer/ Günther, DB 2009, 620; Caspers, FS Löwisch, S. 45; Henssler, FS Picker, S. 987 (998 f.); Höpfner, Tarifgeltung, S. 249 ff.; Jacobs, FS Säcker, S. 201 (203 ff.); Lehmann, ZTR 2011, 523 (530 ff.); Lobinger, RdA 2011, 76 (87 f.); Richardi/Richardi, § 3 BetrVG Rz. 65; Deinert/Walser, AuR 2015, 386 (391); a.A. Kreft, FS Kreutz, S. 263; differenzierend Bepler, FS Bauer, S. 161 (175 ff.). 8 Vgl. Lehmann, ZTR 2011, 523 (525, 533).
Hçpfner 753
53
Teil 9 Rz. 54
Wirkung der Tarifnormen
nem nachwirkenden TV nicht mehr die gesetzliche Leitfunktion i.S.d. § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB zukommt1. Richtigerweise wird man differenzieren müssen2: Zwar hatte der Gesetzgeber der Schuldrechtsreform bei der Bereichsausnahme für TVe in § 310 Abs. 4 Satz 3 BGB in erster Linie unmittelbar und zwingend geltende TVe im Blick3. Gleichwohl nehmen auch nachwirkende TVe Vorrang gegenüber dispositivem Gesetzesrecht ein (vgl. Rz. 43) und üben insoweit eine „normersetzende“ Wirkung aus, mit der der Gesetzgeber die Privilegierung von TVen bei der AGB-Kontrolle maßgeblich begründet hatte4. Daher sind auch nachwirkende TVe als „Rechtsvorschriften“ i.S.d. § 310 Abs. 3 Satz 1 BGB anzusehen5. Davon zu unterscheiden ist die Inhaltskontrolle der arbeitsvertraglichen Klauseln, die als andere Abmachung nachwirkende Tarifnormen verdrängen. Dem BAG ist insoweit zuzustimmen, als eine Inhaltskontrolle gemäß § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB wegen Abweichens vom TV ausscheidet, da die Vorschrift nur die Abweichung von einer „gesetzlichen Regelung“ betrifft. Stattdessen findet, wie bei jedem Änderungsvertrag, eine Inhaltskontrolle statt, deren Bezugspunkt nicht der nachwirkende TV, sondern das Gesetz ist6. Davon ausgenommen ist nach den allgemeinen Grundsätzen des AGB-Rechts lediglich die Änderung der arbeitsvertraglichen Hauptleistungspflichten7. 4. Zeitpunkt der Ablösung 54
Gemäß § 4 Abs. 5 TVG gelten die Tarifnormen weiter, „bis“ sie durch eine andere Abmachung „ersetzt“ werden. Der Gesetzeswortlaut legt ein Verständnis nahe, wonach eine Ablösung nur durch eine nach Ablauf des TVs vereinbarte „andere Abmachung“ möglich ist8. Gleichwohl hatte das BAG arbeitsvertragliche Vereinbarungen, die vor dem Beginn der Nachwirkung abgeschlossen wurden, als andere Abmachung akzeptiert, wenn diese „zumindest auch“ darauf gerichtet sind, den Nachwirkungszeitraum abweichend zu regeln9. Es sei kein rechtlich tragfähiger Grund dafür erkennbar, dass eine die Nachwirkung beendende arbeitsvertragliche Vereinbarung erst nach Eintritt der Nachwirkung getroffen werden könne.
1 BAG v. 3.4.2007 – 9 AZR 867/06, NZA 2007, 1045 (1047); vgl. auch BAG v. 18.5.2011 – 10 AZR 206/10, NZA 2011, 1289 (1291): „Es spricht vieles dafür, dass die vereinbarte auflösende Bedingung keiner Inhaltskontrolle unterliegt, da es am Abweichen von einer gesetzlichen Regelung i.S.d. § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB fehlt“; a.A. Kittner/Zwanziger/Deinert/Deinert, § 8 Rz. 256. 2 Ähnlich Behrendt/Gaumann/Liebermann, ZTR 2007, 522 (526 f.). 3 BT-Drucks. 14/6857, S. 54. 4 BT-Drucks. 14/6857, S. 54. 5 Kittner/Zwanziger/Deinert/Deinert, § 8 Rz. 256. 6 Vgl. Bayreuther, RdA 2002, 81 (81 f.); Henssler, RdA 2002, 129 (136); a.A. Däubler, NZA 2001, 1329 (1334 f.). 7 Vgl. nur BAG v. 8.5.2008 – 6 AZR 517/07, NJW 2008, 3372 (3373) zum Aufhebungsvertrag. 8 Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 908; Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 755; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 18 VII 4 b; vgl. auch ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 64. 9 BAG v. 23.2.2005 – 4 AZR 186/04, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 42; BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923 (925); ebenso HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 11; Henssler, FS Picker, S. 987 (997); Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 359; Lieb, NZA 1994, 337 (341); vgl. auch ErfK/ Franzen, § 4 TVG Rz. 64 sowie Franzen, AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 36 (für den Fall eines „funktionalen Zusammenhangs“).
754 Hçpfner
Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG
Rz. 57 Teil 9
In seiner jüngeren Rechtsprechung hat der 4. Senat des BAG diese Anforderungen 55 deutlich verschärft. War es zuvor für eine ablösende Wirkung ausreichend, dass die Vereinbarung dahingehend ausgelegt werden kann, dass sie zumindest auch die Nachwirkung beseitigen soll1, wird nun zusätzlich ein zeitlicher Zusammenhang zwischen der bevorstehenden Nachwirkung und der Vereinbarung verlangt. Voraussetzung für eine „andere Abmachung“ i.S.d. § 4 Abs. 5 TVG ist nach Ansicht des BAG, dass der Regelungswille der Arbeitsvertragsparteien erkennbar darauf gerichtet ist, eine bestimmte Tarifregelung in Anbetracht ihrer absehbar bevorstehenden Beendigung und des darauf folgenden Eintritts der Nachwirkung abzuändern2. Dem BAG ist im Ausgangspunkt zuzustimmen. Arbeitsvertragliche Vereinbarungen 56 leben nach dem Ende des TVs nicht ohne weiteres automatisch wieder auf. Das entspricht dem von § 4 Abs. 5 TVG bezweckten Inhaltsschutz. Zugleich ist jedoch zu beachten, dass die Nachwirkung von vornherein auf die Überbrückung eines zeitlich begrenzten, an sich regelungslosen Zustandes gerichtet ist und wegen ihres dispositiven Charakters die Regelungskompetenz der Arbeitsvertragsparteien nicht einschränkt. Aus diesem Grunde überzeugt es, dass die Arbeitsvertragsparteien bereits vor Eintritt der Nachwirkung eine ablösende Vereinbarung treffen können. Voraussetzung hierfür ist ein entsprechender Regelungswille der Parteien, der einen „funktionalen Zusammenhang“ zwischen der Abmachung und der Nachwirkung begründet3. Im Gegensatz zur Rechtsprechung des BAG ist darüber hinaus jedoch kein unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang zwischen der Abmachung und der bevorstehenden Nachwirkung zu verlangen4. Weder die Überbrückungs- noch die Inhaltsschutzfunktion der Nachwirkung verlangen einen derartigen Eingriff in die Vertragsfreiheit. Es ist kein sachlicher Grund ersichtlich, weshalb die Arbeitsvertragsparteien nicht bereits bei Abschluss des Arbeitsvertrags oder zu einem beliebigen späteren Zeitpunkt für den Fall der Beendigung der (ggf. über § 3 Abs. 3 TVG verlängerten) Tarifgebundenheit ein vom TV abweichendes Regelungsmodell der Arbeitsbedingungen vereinbaren dürfen, sofern sie die Anforderungen des AGB-rechtlichen Transparenzgebotes5 beachten6. 5. Höchstdauer der Nachwirkung Sofern keine andere Abmachung getroffen wird, gelten nachwirkende Tarifnormen 57 für eine unbegrenzte Zeit weiter. § 4 Abs. 5 TVG kennt keine zeitliche Höchstgrenze der Nachwirkung. Mit den Zielsetzungen der Gesetzesverfasser ist eine derartige „Endlosbindung“ nicht ohne weiteres zu vereinbaren. Die Nachwirkung soll der 1 BAG v. 23.2.2005 – 4 AZR 186/04, AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 42; BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923 (925); vgl. auch Willemsen/Mehrens, NZA 2010, 307 (310). 2 BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 250/08, NZA-RR 2010, 30 (32); BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (60); zuvor bereits ähnlich BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 789/07, NZA 2009, 265 (267); zustimmend Franzen, AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 36; Hanau, NZA 2012, 825 (828); Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 208 Rz. 21; a.A. Henssler, FS Picker, S. 987 (997); Höpfner, Tarifgeltung, S. 421 ff. 3 Vgl. Franzen, AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 36. 4 Henssler, FS Picker, S. 987 (997); Höpfner, Tarifgeltung, S. 421 ff.; insoweit a.A. Franzen, AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 36. 5 Vgl. dazu BAG v. 3.4.2007 – 9 AZR 867/06, NZA 2007, 1045 (1047 f.). 6 Henssler, FS Picker, S. 987 (997).
Hçpfner 755
Teil 9 Rz. 58
Wirkung der Tarifnormen
Überbrückung eines vorübergehend nicht oder nur unbefriedigend geregelten Zustands dienen, aber nicht zu einer dauerhaften Gestaltung der dem TV unterworfenen Arbeitsverhältnisse führen. Der erstrebte Inhaltsschutz kann nur insoweit verwirklicht werden, als dem nachwirkenden TV eine Richtigkeitsgewähr zukommt. Aufgrund der Statik der Nachwirkung kann davon aber vor allem bei EntgeltTVen nach einem Zeitraum von mehreren Jahren nicht ohne weiteres ausgegangen werden.1 58
Gleichwohl ist für eine zeitliche Begrenzung der Nachwirkung de lege lata kein Raum. Aus der Entstehungsgeschichte des TVG ergeben sich keine tragfähigen Anhaltspunkte für eine teleologische Reduktion des Gesetzes, die sowohl dem Wortlaut des § 4 Abs. 5 TVG als auch dem systematischen Vergleich zu § 613a Abs. 1 Sätze 2 und 4 BGB widerspricht2. Darüber hinaus ist jedenfalls eine starre Höchstgrenze ein zweischneidiges Schwert: Nimmt man die Inhaltsschutzfunktion ernst, so müsste auf der einen Seite der Zeitraum der Nachwirkung von Inhaltsnormen recht knapp bemessen sein. Das wiederum kann jedoch auf der anderen Seite zu Konflikten mit der Überbrückungsfunktion führen3. Die Lösung ist daher eher darin zu suchen, die übertriebenen Anforderungen, die das BAG an die Zulässigkeit einer betriebsbedingten Änderungskündigung stellt, auf ein vernünftiges Maß zurückzufahren4. Nur für betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Normen, deren Änderung individualvertraglich nicht möglich ist, empfiehlt sich de lege ferenda eine zeitliche Höchstgrenze der Nachwirkung5.
C. Rechtsverlust und Tarifvertragsrecht I. Verzichtsverbot, § 4 Abs. 4 TVG 1. Regelungszweck, Rechtsfolgen und Grundlagen 59
Ebenfalls der Absicherung der zwingenden Wirkung nach § 4 Abs. 1 TVG dient das Verzichtsverbot des § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG, das in dieser strikten Form erst seit Inkrafttreten des TVG bekannt ist; unter Geltung der TVVO wurde ein Verzicht im nachvertraglichen Stadium weitgehend zugelassen6. Die zwingende Wirkung des TVs 1 Vgl. Höpfner, Tarifgeltung, S. 419 f. 2 BAG v. 15.10.2003 – 4 AZR 573/02, NZA 2004, 387 (389); LAG Baden-Württemberg v. 13.8.2014 – 4 Sa 12/14, n.v. (Rev. zurückgewiesen durch BAG v. 20.1.2016 – 6 AZR 601/14, noch n.v.); Höpfner, Tarifgeltung, S. 425; Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 767; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1559; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 208 Rz. 17; a.A. ArbG Hamburg v. 8.3.2013 – 27 BV 25/12, LAGE § 4 TVG Nachwirkung Nr. 17; Oetker, FS Schaub, S. 535 (554); Oetker, EzA § 4 TVG Nachwirkung Nr. 14 und 15; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 50. 3 Vgl. Oetker, FS Schaub, S. 535 (552); Henssler, FS Picker, S. 987 (1010); Weber/Gräf, RdA 2012, 95 (99). 4 So auch Henssler, FS Picker, S. 987 (1010). 5 Vgl. die Regelungsvorschläge von Henssler, FS Picker, S. 987 (1011) und Bepler, in: Verhandlungen des 70. DJT, Band I, B58 f., B119; ferner Höpfner, Tarifgeltung, S. 423 ff.; ebenso – aber wohl schon de lege lata – Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 674; a.A. noch Löwisch/Rieble, AP TVG § 3 Nr. 13; für eine Begrenzung der Nachwirkung betriebsverfassungsrechtlicher Normen auf die Amtsperiode des Betriebsrats de lege lata ArbG Hamburg v. 8.3.2013 – 27 BV 25/12, LAGE § 4 TVG Nachwirkung Nr. 17. 6 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 652 f.
756 Hçpfner/Greiner
Teil 9 Rz. 58
Wirkung der Tarifnormen
Überbrückung eines vorübergehend nicht oder nur unbefriedigend geregelten Zustands dienen, aber nicht zu einer dauerhaften Gestaltung der dem TV unterworfenen Arbeitsverhältnisse führen. Der erstrebte Inhaltsschutz kann nur insoweit verwirklicht werden, als dem nachwirkenden TV eine Richtigkeitsgewähr zukommt. Aufgrund der Statik der Nachwirkung kann davon aber vor allem bei EntgeltTVen nach einem Zeitraum von mehreren Jahren nicht ohne weiteres ausgegangen werden.1 58
Gleichwohl ist für eine zeitliche Begrenzung der Nachwirkung de lege lata kein Raum. Aus der Entstehungsgeschichte des TVG ergeben sich keine tragfähigen Anhaltspunkte für eine teleologische Reduktion des Gesetzes, die sowohl dem Wortlaut des § 4 Abs. 5 TVG als auch dem systematischen Vergleich zu § 613a Abs. 1 Sätze 2 und 4 BGB widerspricht2. Darüber hinaus ist jedenfalls eine starre Höchstgrenze ein zweischneidiges Schwert: Nimmt man die Inhaltsschutzfunktion ernst, so müsste auf der einen Seite der Zeitraum der Nachwirkung von Inhaltsnormen recht knapp bemessen sein. Das wiederum kann jedoch auf der anderen Seite zu Konflikten mit der Überbrückungsfunktion führen3. Die Lösung ist daher eher darin zu suchen, die übertriebenen Anforderungen, die das BAG an die Zulässigkeit einer betriebsbedingten Änderungskündigung stellt, auf ein vernünftiges Maß zurückzufahren4. Nur für betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Normen, deren Änderung individualvertraglich nicht möglich ist, empfiehlt sich de lege ferenda eine zeitliche Höchstgrenze der Nachwirkung5.
C. Rechtsverlust und Tarifvertragsrecht I. Verzichtsverbot, § 4 Abs. 4 TVG 1. Regelungszweck, Rechtsfolgen und Grundlagen 59
Ebenfalls der Absicherung der zwingenden Wirkung nach § 4 Abs. 1 TVG dient das Verzichtsverbot des § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG, das in dieser strikten Form erst seit Inkrafttreten des TVG bekannt ist; unter Geltung der TVVO wurde ein Verzicht im nachvertraglichen Stadium weitgehend zugelassen6. Die zwingende Wirkung des TVs 1 Vgl. Höpfner, Tarifgeltung, S. 419 f. 2 BAG v. 15.10.2003 – 4 AZR 573/02, NZA 2004, 387 (389); LAG Baden-Württemberg v. 13.8.2014 – 4 Sa 12/14, n.v. (Rev. zurückgewiesen durch BAG v. 20.1.2016 – 6 AZR 601/14, noch n.v.); Höpfner, Tarifgeltung, S. 425; Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 767; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1559; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 208 Rz. 17; a.A. ArbG Hamburg v. 8.3.2013 – 27 BV 25/12, LAGE § 4 TVG Nachwirkung Nr. 17; Oetker, FS Schaub, S. 535 (554); Oetker, EzA § 4 TVG Nachwirkung Nr. 14 und 15; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 50. 3 Vgl. Oetker, FS Schaub, S. 535 (552); Henssler, FS Picker, S. 987 (1010); Weber/Gräf, RdA 2012, 95 (99). 4 So auch Henssler, FS Picker, S. 987 (1010). 5 Vgl. die Regelungsvorschläge von Henssler, FS Picker, S. 987 (1011) und Bepler, in: Verhandlungen des 70. DJT, Band I, B58 f., B119; ferner Höpfner, Tarifgeltung, S. 423 ff.; ebenso – aber wohl schon de lege lata – Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 674; a.A. noch Löwisch/Rieble, AP TVG § 3 Nr. 13; für eine Begrenzung der Nachwirkung betriebsverfassungsrechtlicher Normen auf die Amtsperiode des Betriebsrats de lege lata ArbG Hamburg v. 8.3.2013 – 27 BV 25/12, LAGE § 4 TVG Nachwirkung Nr. 17. 6 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 652 f.
756 Hçpfner/Greiner
Rechtsverlust und Tarifvertragsrecht
Rz. 61 Teil 9
könnte angesichts des im Arbeitsverhältnis häufig bestehenden Machtungleichgewichts (vgl. Rz. 201 ff.) leicht umgangen werden, wenn ein einzelvertraglicher Verzicht des Arbeitnehmers auf bereits entstandene tariflich geregelte Ansprüche möglich wäre. Zu diesem Zweck schränkt § 4 Abs. 4 TVG die Individualvertragsfreiheit ein; dem ähnelt § 77 Abs. 4 Satz 2 BetrVG für Betriebsvereinbarungen. Es handelt sich um eine zweifellos vertretbare Ausgestaltung des Tarifrechts durch den Gesetzgeber1. Die Einschränkung der Privatautonomie ist durch das Anliegen gerechtfertigt, die Funktionsfähigkeit des TV-Systems zu fördern2. Ein gegen § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG verstoßender Verzicht auf entstandene tarifliche An- 60 sprüche ist nichtig (§ 134 BGB i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG)3. Der Arbeitnehmer kann mithin seine tariflichen Ansprüche trotz Verzichts uneingeschränkt geltend machen. Auch die prozessualen Wirkungen eines demnach nichtigen Vergleichs treten nicht ein. Entsprechend dem Regelungszweck ist dagegen ein Verzicht des Arbeitgebers auf eigene tarifliche Rechte wirksam, da es sich um eine arbeitnehmergünstige Regelung (§ 4 Abs. 3 TVG, Rz. 181 ff.) handelt, die (einseitig) zwingende Wirkung also durch den Verzicht nicht betroffen wird4. Ein Vorab-Verzicht hinsichtlich künftig entstehender Ansprüche fällt nicht unter § 4 Abs. 4 TVG, ist aber bereits an der zwingenden Wirkung nach § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG zu messen und kann das Entstehen der tariflichen Ansprüche somit nicht verhindern. 2. Anwendungsbereich Die Funktion des Verzichtsverbots spiegelt sich in seinem Anwendungsbereich wi- 61 der: Es bezieht sich ausschließlich auf solche tariflichen Regelungen, von denen eine zwingende, normative Wirkung ausgeht, namentlich Inhalts-, Abschluss- und Beendigungsnormen sowie Betriebsnormen, aus denen individuelle Ansprüche resultieren. Erfasst werden gleichermaßen auch Tarifnormen, die infolge Allgemeinverbindlicherklärung normativ gelten5. Möglich bleibt dagegen der Verzicht auf Rechte aus lediglich nachwirkenden TVen, da es ihnen an zwingender Wirkung mangelt (vgl. Rz. 45)6. Ebenso ist ein Verzicht auf tarifvertragliche Ansprüche möglich, wenn diese nicht auf einer kongruenten Tarifbindung, sondern ausschließlich auf einer arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel beruhen7. Dementsprechend kann der Arbeitnehmer als begünstigter Dritter auch auf Ansprüche verzichten, die sich aus einem nur schuldrechtlich wirkenden Koalitionsvertrag ergeben, auch wenn es sich um einen echten
1 Ausf. zur Verfassungskonformität Thomas, Der Verzicht auf tarifliche Ansprüche, 1961, passim. 2 Sogar für grundrechtlichen Rang des Verzichtsverbots Kempen/Zachert/Brecht-Heitzmann, § 4 TVG Rz. 581. 3 Kempen/Zachert/Brecht-Heitzmann, § 4 TVG Rz. 588. 4 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 668. 5 Exemplarisch BAG v. 18.11.1999 – 2 AZR 147/99, NZA 2000, 605. 6 Zutr. Thomas, Der Verzicht auf tarifliche Ansprüche, 1961, S. 72; Kempen/Zachert/BrechtHeitzmann, § 4 TVG Rz. 586. 7 Dies hängt von der dogmatischen Einordnung der Bezugnahmeklausel ab, vgl. Rz. 8 f.; wie hier LAG Schleswig-Holstein v. 26.2.1981 – 3 Sa 438/80, DB 1981, 900; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 595; Kempen/Zachert/Brecht-Heitzmann, § 4 TVG Rz. 587; a.A. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 802; v. Hoyningen-Huene, RdA 1974, 138 (150) m.w.N.
Greiner
757
Teil 9 Rz. 62
Wirkung der Tarifnormen
Vertrag zu Gunsten Dritter (§ 328 BGB) handelt1. In beiden Fällen handelt es sich nicht um „tarifliche Rechte“ i.S.v. § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG. 62
Das Verzichtsverbot erfasst über den ausdrücklich – untechnisch – genannten Fall des Verzichts auch Erlassverträge, negative Schuldanerkenntnisse (§ 397 BGB) und Ausgleichsquittungen2. Erfasst werden auch Vereinbarungen, die nur die Durchsetzbarkeit der Forderung ausschließen wie Klageverzichtsvereinbarungen (pacta de non petendo), Klagerücknahmevereinbarungen3 und Vergleiche, durch welche die Geltendmachung tariflicher Rechte ausgeschlossen wird. Auch die Stundung tariflicher Ansprüche unterfällt § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG, da sie insofern zu einem Rechtsverlust des Arbeitnehmers führt, als er zum tarifvertraglich vorgesehenen Zeitpunkt seinen Leistungsanspruch nicht geltend machen kann4. Für Prozessvergleiche ist angesichts ihrer durch die Mitwirkung des Richters erhöhten inhaltlichen Richtigkeitschance und Besonderheiten der Prozesssituation eine differenzierte Betrachtungsweise angebracht (vgl. Rz. 70 f.). Die Tatsache, dass ein Erlassvertrag anlässlich eines Betriebsübergangs mit dem Betriebsveräußerer oder -erwerber abgeschlossen wurde, steht der Wirkung des § 4 Abs. 4 TVG nicht entgegen5.
63
Umstritten ist, ob aus der Teilnichtigkeit einer tarifliche Rechte nicht ausklammernden generelleren Disposition des Arbeitnehmers – etwa in einer Ausgleichsquittung – gemäß § 139 BGB die Gesamtnichtigkeit der Vereinbarung folgt6. Gesamtnichtigkeit ist angesichts ihrer gesetzlich in den geschlossenen Vertrag intensiv eingreifenden Wirkung nur ausnahmsweise anzunehmen, wenn dies dem (beiderseitigen) hypothetisch-typisierbaren Parteiwillen entspricht7. Der durch den jeweiligen Anspruchsausschluss begünstigten Vertragspartei wird jedoch stets daran gelegen sein, den Restbestand des Vertrages aufrechtzuerhalten; der anderen Vertragspartei geschieht dadurch kein Unrecht, da sie insofern – außerhalb § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG – in zulässiger Weise von ihrer Privatautonomie Gebrauch gemacht hat.
64
Aus § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG ergibt sich kein Gebot an den Arbeitnehmer, seine tariflichen Ansprüche geltend zu machen. Unberührt vom Verbot des § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG bleiben mithin die schlichte Nichterhebung einer Leistungsklage, Klagerücknahme oder Unterlassung der Zwangsvollstreckung8. Der vertragliche Klageverzicht unterfällt dagegen § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG (vgl. Rz. 62)9. Während die Klagerücknahme (§ 271 ZPO) nur prozessuale Wirkungen hat und damit ebenso wie die bloße Nichterhebung der Klage § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG nicht unterfällt, schlägt der Anspruchsver-
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Zutr. BAG v. 14.4.2004 – 4 AZR 232/03, NZA 2005, 178. Zum Begriff BAG v. 28.7.2004 – 10 AZR 661/03, NZA 2004, 1097. BAG v. 19.11.1996 – 3 AZR 461/95, NZA 1997, 1117. Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 615; Kempen/Zachert/Brecht-Heitzmann, § 4 TVG Rz. 583; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 655. BAG v. 12.2.2014 – 4 AZR 317/12, NZA 2014, 613. Dafür Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1064; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1305; mit Recht verneinend: Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 660; Kempen/Zachert/Brecht-Heitzmann, § 4 TVG Rz. 590; Etzel, NZA-Beil. 1/1987, 25. Vgl. MünchKomm/Busche, § 139 BGB Rz. 2, 29 ff. Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 656; Kempen/Zachert/Brecht-Heitzmann, § 4 TVG Rz. 588. Vgl. BAG v. 19.11.1996 – 3 AZR 461/95, NZA 1997, 1117.
758 Greiner
Rechtsverlust und Tarifvertragsrecht
Rz. 68 Teil 9
zicht gemäß § 306 ZPO auf die materiellrechtliche Situation durch; ein Verzichtsurteil bezüglich tariflicher Rechte ist damit nach § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG unzulässig1. Vertragsstrafenabreden und wirkungsgleiche Klauseln, die für den Fall des Vertragsbruchs des Arbeitnehmers getroffen werden, sind auch bei Auswirkungen auf die tariflichen Rechte nicht an § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG zu messen2, sondern – bei einseitiger Vorformulierung – an §§ 305 ff. BGB3. Nicht einzubeziehen sind Rechtsgeschäfte zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber 65 außerhalb des Arbeitsverhältnisses, z.B. eine Schuldübernahme (§§ 414 f. BGB) durch den Arbeitnehmer zugunsten des Arbeitgebers oder die Gewährung eines Darlehens an den Arbeitgeber. Bei einem solchen eigenständigen Rechtsgeschäft lässt sich mit der Absicherung der zwingenden Tarifwirkung nicht argumentieren. Es ist nicht begründbar, jegliches Rechtsgeschäft mit dem Arbeitgeber, das potentiell zu einer wirtschaftlichen Belastung des Arbeitnehmers führt, an § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG zu messen4. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Arbeitnehmer beim Abschluss eines solchen Geschäfts eigenverantwortlich von seiner Vertragsfreiheit Gebrauch machen kann und muss. Inadäquaten Drucksituationen wird dabei z.B. durch die Möglichkeit einer Anfechtung gemäß § 123 BGB Rechnung getragen. Das Verzichtsverbot soll auch dann nicht greifen, wenn sich der Verzicht i.S.v. § 4 66 Abs. 4 Satz 1 TVG (vgl. Rz. 62) wirtschaftlich zu Gunsten des Arbeitnehmers auswirkt, etwa im Fall einer Entgeltreduktion zur Herbeiführung einer geringfügigen Beschäftigung nach § 8 SGB IV, die sich in einem höheren Nettoentgelt des Arbeitnehmers niederschlägt5. 3. Ausnahmen a) Gebilligter Vergleich Zulässig ist gemäß § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG ein Verzicht auf tarifvertragliche Rechte le- 67 diglich in einem von den TV-Parteien gebilligten Vergleich. Vergleich ist gemäß § 779 BGB ein Vertrag, durch den der Streit oder die – subjektive – Ungewissheit der Parteien über ein Rechtsverhältnis im Wege gegenseitigen Nachgebens beseitigt wird. Dieser kann vor Gericht (Prozessvergleich) oder außergerichtlich geschlossen werden. Sofern mit dem „gegenseitigen Nachgeben“ in tarifliche Ansprüche des Arbeitnehmers eingeschnitten wird oder deren Durchsetzbarkeit erschwert wird, unterfallen Vergleiche grundsätzlich § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG. Ausnahme ist die Billigung des Vergleichs durch die Tarifparteien. Diese kommt – 68 trotz des dann öffentlich-rechtlichen Geltungsgrundes des TVs (Teil 7 Rz. 20) – auch 1 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 658; a.A. Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 620. 2 BAG v. 18.11.1960 – 1 AZR 238/59, NJW 1961, 698. 3 Zur AGB-rechtlichen Behandlung vgl. BAG v. 4.3.2004 – 8 AZR 196/03, NZA 2004, 727; Thüsing, in Graf v. Westphalen, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, 30. Erg.-Lfg. 2012, Arbeitsverträge Rz. 427 ff. 4 Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 655; a.A. Kempen/Zachert/Brecht-Heitzmann, § 4 TVG Rz. 583. 5 So BSG v. 28.2.1990 – 10 RKg 15/89, NZA 1990, 995; BSG v. 27.4.1988 – 5 AZR 358/87, NZA 1988, 655; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 803; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 664; nicht unbedenklich.
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Teil 9 Rz. 69
Wirkung der Tarifnormen
dann in Betracht, wenn es sich um Ansprüche aus einem allgemeinverbindlichen TV handelt. § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG schließt diesen Fall nicht aus, auch ist Wirkung der Allgemeinverbindlicherklärung lediglich die Ausweitung der Tarifgeltung, während die TV-Parteien die inhaltliche Tarifhoheit behalten, deren Schutz § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG absichert. In Betracht kommt die Billigung sowohl bei einem sog. Tatsachenvergleich, mit dem Unsicherheiten über tatsächliche Anspruchsvoraussetzungen ausgeräumt werden, als auch bei einem Rechtsvergleich, der Unsicherheiten in der rechtlichen Behandlung – insbesondere die Auslegung von Tarifnormen – behebt1. 69
Mit dem untechnischen Begriff der „Billigung“ sind beide Formen der bürgerlichrechtlichen Zustimmung – Einwilligung und Genehmigung (§§ 182 ff. BGB) – gemeint2. Es handelt sich um eine Willenserklärung der TV-Parteien, auf welche die §§ 116 ff. BGB Anwendung finden. Die Zustimmungserklärung muss aus Gründen der Rechtssicherheit ausdrücklich erklärt werden3 und zu ihrer Wirksamkeit beiden Parteien des Vergleichs zugehen (§ 130 Abs. 1 Satz 1 BGB); ein Formerfordernis besteht nicht. Bei FirmenTVen liegt die Billigung bereits in der den Vergleich herbeiführenden Willenserklärung des Arbeitgebers4. Handeln als Prozessvertreter auf beiden Seiten Verbandsvertreter (vgl. § 11 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 ArbGG), können diese bei entsprechender Bevollmächtigung durch den Verband selbst einen Vergleich billigen. Die umfassende Bevollmächtigung verbandsexterner Prozessvertreter zur Billigung jeglichen Vergleichs ist dagegen unwirksam, da vor der Billigung der Vergleich einer inhaltlichen Prüfung durch die tarifschließende Koalition unterzogen werden soll; eine Vollmacht zur Billigung kann dann nur in Anbetracht eines konkreten, inhaltlich ausverhandelten Vergleichs wirksam erteilt werden5. Hiervon zu trennen ist eine Öffnungsklausel im TV, durch welche bereits die zwingende Wirkung entfällt6. b) Nicht gebilligter Prozessvergleich über Tatsachenfragen
70
In teleologischer Reduktion7 des Gesetzeswortlauts soll ein prozessualer Tatsachenvergleich auch ohne Billigung der TV-Parteien zulässig sein8. Dabei handelt es sich um einen Vergleich, der lediglich eine bestehende Unsicherheit hinsichtlich streitiger Tatsachenfragen ausräumt und den Verlust eines andernfalls ggf. bestehenden (aber infolge unsicherer Tatsachenlage in seiner Realisierbarkeit zweifelhaften) tariflichen Anspruch zur Folge hat9. Davon abzugrenzen ist der Rechtsvergleich, der bei insoweit
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Zur Problematik des Rechtsvergleichs Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 679 m.w.N. BAG v. 25.7.1962 – 4 AZR 535/61, AP Nr. 114 zu § 1 TVG Auslegung. BAG v. 25.7.1962 – 4 AZR 535/61, AP Nr. 114 zu § 1 TVG Auslegung. Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 625 ff. Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 685; Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1069. Unzulässige Vermischung beider Fragen bei Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 631. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 683. So BAG v. 5.11.1997 – 4 AZR 682/95, NZA 1998, 434; BAG v. 30.11.1994 – 5 AZR 702/93, NZA 1995, 695; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 680; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 803; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 623; kritisch Kempen/Zachert/Brecht-Heitzmann, § 4 TVG Rz. 592; Zachert, Anm. AP Nr. 17 zu § 4 TVG. 9 BAG v. 12.2.2014 – 4 AZR 317/12, NZA 2014, 613, Rz. 19; BAG v. 9.12.2009 – 10 AZR 850/08, AP TVG § 1 Tarifverträge: Bau Nr. 318.
760 Greiner
Rechtsverlust und Tarifvertragsrecht
Rz. 74 Teil 9
unstreitiger Tatsachengrundlage eine Unsicherheit in der rechtlichen Wertung ausräumt; dieser unterfällt in jedem Fall § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG. Für die Zulassung des Tatsachenvergleichs ohne Billigung spricht neben prozessöko- 71 nomischen Erwägungen – eine Erledigung von Verfahren durch Vergleich wäre andernfalls deutlich erschwert, streitige Tatsachenfragen lassen sich häufig nur sehr aufwändig oder gar nicht klären1 – durchgreifend der Umstand, dass es infolge des zivilprozessualen Beibringungsgrundsatzes (vgl. §§ 128, 284 ZPO) dem Arbeitnehmer ohnehin freisteht, welche Tatsachen er vorträgt. Unterfällt der Nichtvortrag einer Tatsache nicht § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG, kann auch eine vergleichsweise Einigung über Tatsachen nicht erfasst sein. Ferner kann auf die infolge Mitwirkung des Gerichts erhöhte Richtigkeitsgewähr des Prozessvergleichs verwiesen werden.
II. Verwirkung, § 4 Abs. 4 Satz 2 TVG § 4 Abs. 4 Satz 2 TVG schließt die Verwirkung von tariflichen Rechten gemäß § 242 72 BGB aus. „Verwirkung“ meint Fälle der treuwidrigen, für den Vertragspartner unzumutbaren Rechtsausübung nach Zeitablauf (Zeitmoment) und Eintritt besonderer, ein schutzwürdiges Vertrauen des Vertragspartners in die Nichtausübung begründender Umstände (Umstandsmoment)2. Der Vertragspartner muss berechtigt davon ausgehen können, dass der Anspruch nicht mehr geltend gemacht wird. Der Ausschluss der Verwirkung in § 4 Abs. 4 Satz 2 TVG soll die zwingende Wirkung 73 der Tarifnormen absichern. Dies verdeutlicht, dass Raum für die Anwendung von § 4 Abs. 4 Satz 2 TVG nur ist, sofern tariflichen Rechten zwingende Wirkung zukommt. Wie bei § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG (vgl. Rz. 61) werden Rechte aus nachwirkendem TV (§ 4 Abs. 5 TVG)3 deshalb ebenso wenig erfasst wie tarifliche Ansprüche des Arbeitgebers4, denen es wegen § 4 Abs. 3 TVG an zwingender Wirkung fehlt. Nicht erfasst werden tarifliche Regelungen, die lediglich infolge arbeitsvertraglicher Bezugnahme gelten (vgl. Rz. 61). Im Übrigen ist der Geltungsgrund der zwingenden Wirkung jedoch unerheblich, so dass auch Tarifnormen erfasst werden, die erst infolge Allgemeinverbindlicherklärung oder sonstiger staatlicher Geltungserstreckung (etwa § 8 AEntG) zwingend im Arbeitsverhältnis gelten. Keine Aussage beinhaltet die Vorschrift hinsichtlich arbeitsvertraglicher Rechte ohne 74 tarifvertragliche Grundlage. So sind außer- und übertarifliche Vergütungsbestandteile von § 4 Abs. 4 Satz 2 TVG nicht erfasst. Da die Vorschrift eine – eng zu fassende – Ausnahme vom allgemeinen Rechtsinstitut der Verwirkung beinhaltet, ist auch eine Differenzierung zwischen tariflichen und diese – bei gleichen Tatbestandsvoraussetzungen – lediglich quantitativ aufstockenden übertariflichen Vergütungsbestandteilen geboten; Letztere können nach allgemeinen Grundsätzen verwirkt werden5.
1 Darauf hinweisend Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1311. 2 Allg. Staudinger/Looschelders/Olzen, Neubearb. 2009, § 242 BGB Rz. 302 ff. 3 Zutr. Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1073, 1061; a.A. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 700; Kempen/Zachert/Brecht-Heitzmann, § 4 TVG Rz. 598. 4 Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 701; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 639. 5 Vgl. Etzel, NZA Beil. 1987, S. 25.
Greiner
761
Teil 9 Rz. 75 75
Wirkung der Tarifnormen
Nach überwiegender und zutreffender Auffassung1 soll bei § 4 Abs. 4 Satz 2 TVG der Verwirkungsbegriff allerdings eng zu fassen sein. Liegt dem Umstandsmoment (vgl. Rz. 72) ein aktives Verhalten des Arbeitnehmers zugrunde, so dass es sich um eine Verwirkung wegen (aktiven) widersprüchlichen Verhaltens (venire contra factum proprium) handelt, soll sich der Arbeitgeber trotz § 4 Abs. 4 Satz 2 TVG auf den Verwirkungseinwand berufen können. Erfasst werden davon jedenfalls Fälle, in denen der Arbeitnehmer arglistig dem Arbeitgeber vorspiegelt, den Anspruch nicht geltend zu machen, um diesem die Verteidigung gegen den Anspruch gezielt zu erschweren oder ihn von möglichen Dispositionen abzuhalten. Hier dominiert das Umstandsmoment deutlich gegenüber dem bloßen Zeitablauf. Diese qualifizierte Verwirkungskonstellation wahrt ein rechtsethisches Minimum2 – das „betrügerische“ Taktieren soll auch durch § 4 Abs. 4 Satz 2 TVG nicht honoriert werden.
III. Verjährung tarifvertraglicher Rechte, Ausschluss-/Verfallfristen 76
Rechte aus TVen verjähren grundsätzlich gemäß §§ 195, 199 BGB innerhalb von drei Jahren, gerechnet vom Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger von den anspruchsbegründenden Umständen sowie der Person des Schuldners Kenntnis erlangt hat oder ohne Fahrlässigkeit erlangen musste (Regelverjährung). Ohne dass es auf das subjektive Element (Kenntnis, Kennenmüssen) ankäme, greift eine Verjährungshöchstfrist von zehn Jahren, gerechnet vom Entstehungszeitpunkt, § 199 Abs. 4 BGB. Die Rechtsfolge der Verjährung besteht nach § 214 BGB darin, dass der Schuldner berechtigt ist, die Leistung zu verweigern. Es handelt sich damit um eine rechtshemmende Einwendung (Einrede), die der Durchsetzbarkeit der Forderung entgegensteht. Gehemmt wird der Lauf der Verjährung u.a. durch Klageerhebung (§ 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB); dies gilt jedoch nur für die Erhebung der Leistungs-/ Zahlungsklage aus dem jeweiligen Anspruch; die bloße Erhebung einer Kündigungsschutzklage hemmt dagegen nicht die Verjährung von Arbeitnehmeransprüchen aus dem gekündigten Arbeitsverhältnis3.
77
Während Verjährungsfristen grundsätzlich vertragsdispositiv sind (§ 202 BGB), wird aus dem Verzichtsverbot des § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG abgeleitet, dass eine arbeitsvertragliche Verkürzung der Verjährungsfristen für tarifvertraglich begründete Ansprüche unwirksam ist4. Auch dies dient der Absicherung der zwingenden Wirkung (vgl. Rz. 59). Teilweise wird dies ganz allgemein auf (auch über/außertarifliche) Ansprüche aus einem tarifgebundenen Arbeitsvertrag erweitert5; diese Weiterung ist jedoch vom Schutzzweck des § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG nicht gedeckt (vgl. Rz. 61). Möglich bleibt 1 BAG v. 22.6.1956 – 1 AZR 296/54, AP Nr. 9 zu § 611 BGB Urlaubsrecht; BAG v. 16.4.1958 – 4 AZR 288/56, AP Nr. 35 zu § 3 TOA; BAG v. 11.12.1957 – 4 AZR 407/55, AP Nr. 7 zu § 9 TVG; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 696 f., 703 ff.; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 637; a.A. Kempen/ Zachert/Brecht-Heitzmann, § 4 TVG Rz. 597 (argumentum a maiore ad minus aus § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG bei Ausklammerung von Ansprüchen aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB, § 826 BGB); Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1187 f., 1193. 2 Ähnlich Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 703 („Innenschranken jeder Rechtsausübung“). 3 Str., zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 689 m.w.N. 4 Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 643; Kempen/Zachert/Brecht-Heitzmann, § 4 TVG Rz. 604; a.A. Koberski/Clasen/Menzel, § 4 TVG Rz. 133 (Umkehrschluss aus § 77 Abs. 4 BetrVG). 5 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 688.
762 Greiner
Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 79 Teil 9
aber eine tarifvertragliche Verkürzung der Verjährung1, da dann die TV-Parteien selbst die Durchsetzung der von ihnen vereinbarten Ansprüche begrenzen. Auch im Arbeitsvertrag möglich ist hingegen eine Verlängerung der Verjährungsfrist bis maximal 30 Jahre2. Die Relevanz der Verjährung wird dadurch praktisch relativiert, dass TVe in aller Regel 78 kürzere Ausschluss-/Verfallfristen – in der Regel von wenigen Monaten – vorsehen, innerhalb derer Ansprüche geltend gemacht werden müssen. Derartige Regelungen haben in der TV-Gestaltung eine hohe Bedeutung und Verbreitung3. Gemäß § 4 Abs. 4 Satz 3 TVG können Ausschlussfristen im Hinblick auf tarifliche Rechte nur in einem TV selbst vereinbart werden. Wie § 4 Abs. 4 Satz 1, 2 TVG dient auch dies der Absicherung der zwingenden Wirkung. Rechtsfolge des Ablaufs einer Ausschlussfrist ist, dass der Anspruch nicht lediglich – wie infolge Verjährung – in seiner Durchsetzbarkeit gehemmt wird, sondern dass er erlischt. Letztlich bewirkt die Vereinbarung einer Ausschlussfrist die Zeitbefristung der tarifvertraglichen Ansprüche4. Eine praktische Konsequenz dieser gegenüber der Verjährung abweichenden Konstruktion liegt darin, dass eine Erfüllungshandlung nach Ablauf der Abschlussfrist rechtsgrundlos erfolgt und die beim Gläubiger eingetretene Vermögensmehrung daher kondizierbar ist (§ 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB)5, während der dem Grunde nach fortbestehende Anspruch im Falle einer Leistung trotz Verjährung einen Behaltensgrund darstellt (§ 214 Abs. 2 Satz 1 BGB), so dass der leistende Schuldner dann nicht kondizieren kann. Auch kommt – anders als mit einer verjährten Forderung (vgl. § 215 BGB) – nach Ablauf der Ausschlussfrist eine Aufrechnung mit der Forderung nicht in Betracht6. Vgl. im Einzelnen zu Ausschluss-/Verfallfristen Teil 5 (22).
D. Verhältnis zu anderen Regelungen I. Mehrheit von Tarifverträgen 1. Mehrheit von Tarifverträgen derselben Tarifvertragsparteien a) Tarifwerke Schließen identische TV-Parteien mehrere TVe nebeneinander, die – zumindest teil- 79 weise – auf denselben Geltungsbereich bezogen sind, werden die einzelnen TVe vielfach aufeinander bezogen und inhaltlich widerspruchsfrei sein. Nach dem einheitlichen Gestaltungswillen ergänzen sie einander. In diesem Fall finden die Tarifnormen der einzelnen TVe unproblematisch nebeneinander Anwendung. Sie stellen ein aufeinander abgestimmtes tarifvertragliches Regelungssystem, ein „Tarifwerk“ dar7. Derartiges gilt regelmäßig etwa für das Verhältnis von MantelTV, EntgeltrahmenTV und EntgeltTV. 1 2 3 4 5 6
Vgl. Wiedemann/Wank § 4 TVG Rz. 688 m.w.N. Vgl. Kempen/Zachert/Brecht-Heitzmann, § 4 TVG Rz. 604. Kempen/Zachert/Brecht-Heitzmann, § 4 TVG Rz. 607. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 719. A.A. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 833: § 214 Abs. 2 BGB analog anwendbar. BAG v. 30.3.1973 – 4 AZR 259/72, DB 1974, 585; BGH v. 7.11.1973 – VIII ZR 228/72, NJW 1974, 602. 7 Dazu exemplarisch BAG v. 24.3.2010 – 4 AZR 713/08, ZTR 2010, 462.
Greiner
763
Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 79 Teil 9
aber eine tarifvertragliche Verkürzung der Verjährung1, da dann die TV-Parteien selbst die Durchsetzung der von ihnen vereinbarten Ansprüche begrenzen. Auch im Arbeitsvertrag möglich ist hingegen eine Verlängerung der Verjährungsfrist bis maximal 30 Jahre2. Die Relevanz der Verjährung wird dadurch praktisch relativiert, dass TVe in aller Regel 78 kürzere Ausschluss-/Verfallfristen – in der Regel von wenigen Monaten – vorsehen, innerhalb derer Ansprüche geltend gemacht werden müssen. Derartige Regelungen haben in der TV-Gestaltung eine hohe Bedeutung und Verbreitung3. Gemäß § 4 Abs. 4 Satz 3 TVG können Ausschlussfristen im Hinblick auf tarifliche Rechte nur in einem TV selbst vereinbart werden. Wie § 4 Abs. 4 Satz 1, 2 TVG dient auch dies der Absicherung der zwingenden Wirkung. Rechtsfolge des Ablaufs einer Ausschlussfrist ist, dass der Anspruch nicht lediglich – wie infolge Verjährung – in seiner Durchsetzbarkeit gehemmt wird, sondern dass er erlischt. Letztlich bewirkt die Vereinbarung einer Ausschlussfrist die Zeitbefristung der tarifvertraglichen Ansprüche4. Eine praktische Konsequenz dieser gegenüber der Verjährung abweichenden Konstruktion liegt darin, dass eine Erfüllungshandlung nach Ablauf der Abschlussfrist rechtsgrundlos erfolgt und die beim Gläubiger eingetretene Vermögensmehrung daher kondizierbar ist (§ 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB)5, während der dem Grunde nach fortbestehende Anspruch im Falle einer Leistung trotz Verjährung einen Behaltensgrund darstellt (§ 214 Abs. 2 Satz 1 BGB), so dass der leistende Schuldner dann nicht kondizieren kann. Auch kommt – anders als mit einer verjährten Forderung (vgl. § 215 BGB) – nach Ablauf der Ausschlussfrist eine Aufrechnung mit der Forderung nicht in Betracht6. Vgl. im Einzelnen zu Ausschluss-/Verfallfristen Teil 5 (22).
D. Verhältnis zu anderen Regelungen I. Mehrheit von Tarifverträgen 1. Mehrheit von Tarifverträgen derselben Tarifvertragsparteien a) Tarifwerke Schließen identische TV-Parteien mehrere TVe nebeneinander, die – zumindest teil- 79 weise – auf denselben Geltungsbereich bezogen sind, werden die einzelnen TVe vielfach aufeinander bezogen und inhaltlich widerspruchsfrei sein. Nach dem einheitlichen Gestaltungswillen ergänzen sie einander. In diesem Fall finden die Tarifnormen der einzelnen TVe unproblematisch nebeneinander Anwendung. Sie stellen ein aufeinander abgestimmtes tarifvertragliches Regelungssystem, ein „Tarifwerk“ dar7. Derartiges gilt regelmäßig etwa für das Verhältnis von MantelTV, EntgeltrahmenTV und EntgeltTV. 1 2 3 4 5 6
Vgl. Wiedemann/Wank § 4 TVG Rz. 688 m.w.N. Vgl. Kempen/Zachert/Brecht-Heitzmann, § 4 TVG Rz. 604. Kempen/Zachert/Brecht-Heitzmann, § 4 TVG Rz. 607. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 719. A.A. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 833: § 214 Abs. 2 BGB analog anwendbar. BAG v. 30.3.1973 – 4 AZR 259/72, DB 1974, 585; BGH v. 7.11.1973 – VIII ZR 228/72, NJW 1974, 602. 7 Dazu exemplarisch BAG v. 24.3.2010 – 4 AZR 713/08, ZTR 2010, 462.
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Teil 9 Rz. 80
Wirkung der Tarifnormen
b) Ablösungsprinzip, Zeitkollisionsregel 80
Treffen hingegen identische TV-Parteien eine Neuregelung zu Regelungsgegenständen, die bisher schon eine tarifvertragliche Regelung erfahren hatten, liegt in den neu abgeschlossenen TV-Normen eine implizite Aufhebung der früheren Normen, sofern die Tarifparteien den bislang bestehenden TV nicht ohnehin ausdrücklich aufheben. Es greift das Ablösungsprinzip (Zeitkollisionsregel): Der jüngere TV verdrängt den älteren1. Es ist Bestandteil der Tarifautonomie, dass die TV-Parteien es in der Hand haben, ihren Normsetzungswillen neu zu betätigen. Dem erneut betätigten Normsetzungswillen ist durch das Ablösungsprinzip Rechnung getragen. Insofern ergibt sich kein Unterschied zum staatlichen Recht. Auch hier kann der Gesetzgeber mit Wirkung für die Zukunft eine Neuregelung schaffen. Grenzen bestehen lediglich insofern, als eine rückwirkende Neuregelung bereits geregelter Fragen oder auch eine rückwirkende Regelung bislang ungeregelter Fragen getroffen wird. In diesem Fall gelten die allgemeinen Grenzen des Rückwirkungsverbots. c) Spezialitätsprinzip
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Auch ein anderer Fall ist vorstellbar: Insbesondere bei einer nur teilweisen Überschneidung der Geltungsbereiche der von identischen TV-Parteien abgeschlossenen TVe (z.B. BranchenTV und unternehmensbezogener VerbandsTV) ergibt die Auslegung des Normsetzungswillens, dass jedenfalls ein umfassend regelnder älterer TV regelmäßig nicht vollständig abgelöst werden soll. Angesichts des engeren Regelungsbereichs ist der Wille der Vertragsparteien vielmehr ersichtlich auf ein Fortbestehen der älteren Tarifregelung neben der neuen gerichtet, da der neue TV keine umfassend auf denselben Geltungsbereich bezogene Neuregelung enthält.
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In derartigen Fällen greift bei identischen TV-Parteien das Spezialitätsprinzip: Der speziellere TV setzt sich gegenüber dem allgemeineren durch2. Dies entspricht der zum staatlichen Recht entwickelten Auslegungsregel „lex specialis derogat legi generali“. TV-Parteien schaffen eine gegenüber der fortbestehenden allgemeineren Regelung speziellere Regelung gerade mit dem Ziel, diese in ihrem speziellen Geltungsbereich zur vorrangigen Anwendung zu bringen, z.B. weil die Regelungsbedürfnisse im davon erfassten Unternehmen andere sind als in den anderen Unternehmen der Branche. Außerhalb des Überschneidungsbereichs beider TV-Normen findet die generellere Norm dann weiterhin Anwendung.
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Spezieller in diesem Sinne ist nach ständiger Rechtsprechung des BAG der TV, der dem Betrieb inhaltlich am nächsten steht, der den Regelungsbedürfnissen im Betrieb also am besten gerecht wird3. Diese Definition trägt der dargestellten Intention des Spezialitätsprinzips im Ausgangspunkt zutreffend Rechnung. Problematisch scheint allein der starr an den Betrieb anknüpfende Definitionsansatz. Richtigerweise sollte 1 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 261 ff. m.w.N.; Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 922; Koberski/Clasen/Menzel, § 1 TVG Rz. 177. 2 BAG v. 23.3.2005 – 4 AZR 203/04, NZA 2005, 1003. 3 Vgl. BAG v. 24.9.1975 – 4 AZR 471/74, AP Nr. 11 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 29.11.1978 – 4 AZR 304/77, AP Nr. 12 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 14.6.1989 – 4 AZR 200/89, DB 1990, 129; BAG v. 5.9.1990 – 4 AZR 59/90, NZA 1991, 202; BAG v. 24.1.1990 – 4 AZR 561/89, AP Nr. 126 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG v. 15.11.2006 – 10 AZR 665/05, NZA 2007, 448; LAG Sachsen v. 2.11.2007 – 7 SaGa 19/07, NZA 2008, 59.
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Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 88 Teil 9
man auch hier (vgl. noch Rz. 178) dynamisch auf die überschneidenden Geltungsbereiche abstellen1: Dem Willen der TV-Parteien entspricht es stets, den TV mit engerem Geltungsbereich in seinem Geltungsbereich Wirkung entfalten zu lassen. So müsste sich auch ein nur in einem Betriebsteil oder nur für eine im Betrieb vertretene Berufsgruppe geltender TV nach dem einheitlichen Tarifnormsetzungswillen gegenüber dem generelleren TV durchsetzen. Konsequenz des Spezialitätsprinzips ist etwa, dass ein firmenbezogener VerbandsTV, 84 der ausschließlich für die Betriebe eines Unternehmens Geltung beansprucht, in diesem Geltungsbereich einen BranchenTV, den dieselbe Gewerkschaft und derselbe Arbeitgeberverband geschlossen haben, im Wege der Spezialität verdrängt. Außerhalb dieses Unternehmens findet der VerbandsTV weiterhin Anwendung. Dieses Ergebnis ist angemessen, da der firmenbezogene VerbandsTV ja mit Blick auf besondere Regelungsbedürfnisse in dem betroffenen Unternehmen abgeschlossen wurde und somit eine verdrängende Wirkung dem Normsetzungswillen der TV-Parteien und den Bedürfnissen der Praxis entspricht. Unangemessen wäre demgegenüber eine früher diskutierte2 Anwendung des Günstig- 85 keitsprinzips, da der tarifgebundene Arbeitnehmer auf diese Weise in den Genuss eines nur die günstigsten Regelungen beider TVe enthaltenden „Idealtarifvertrags“ gelänge (sog. „Rosinentheorie“). Dies entspricht nicht dem Normsetzungswillen der TV-Parteien, der stets auf die Geltung des abgeschlossenen TVs als Ganzes gerichtet ist und eine Aufbrechung des gefundenen Regelungskompromisses durch Anwendung von Regelungen aus anderen TVen prinzipiell vermeiden will3. 2. Mehrheit von Tarifverträgen mit partiell gleicher Normurheberschaft Der Anwendungsbereich der bisher beleuchteten Kollisionsprinzipien (Ablösungs- 86 und Spezialitätsprinzip) wird von Fällen der identischen Normurheberschaft auf Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite in zweierlei Hinsicht auf andere Konstellationen ausgedehnt. Erstens ist allgemein anerkannt, dass auch der von einem verbandsangehörigen Arbeit- 87 geber eigenständig als TV-Partei (vgl. § 2 Abs. 1 TVG; s. Teil 2 Rz. 96 ff.) abgeschlossene FirmenTV einen mit derselben Gewerkschaft abgeschlossenen VerbandsTV im Wege der Spezialität verdrängt4. Auf Arbeitgeberseite wird also auf das Erfordernis der identischen Normurheberschaft bei Anwendung des Spezialitätsprinzips verzichtet: Der allgemeinere TV wurde ja nicht von dem Arbeitgeber selbst, sondern von dem Arbeitgeberverband abgeschlossen. Diese Ausnahme von dem dargestellten Grundsatz, dass eine Verdrängungswirkung grundsätzlich einen einheitlichen Regelungswillen und damit die identische Norm1 Vgl. Greiner, Rechtsfragen, S. 348 f. 2 Dafür noch Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1493 f.; ähnlich auch Konzen, ZfA 1975, 401 (429); vgl. ferner Witting, BArBl 1957, 544 (545). 3 Zutr. BAG v. 5.9.1990 – 4 AZR 59/90, NZA 1991, 202; ebenso Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 275 ff. m.w.N.; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 291; Kraft, RdA 1992, 161 (165); Säcker/ Oetker, ZfA 1993, 1 (4 f.); Merten, BB 1993, 572 (573). 4 Etwa BAG v. 24.1.2001 – 4 AZR 655/99, NZA 2001, 788; BAG v. 4.4.2001 – 4 AZR 237/00, NZA 2001, 1085.
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Teil 9 Rz. 89
Wirkung der Tarifnormen
urheberschaft auf beiden Seiten voraussetzt, erklärt sich daraus, dass die Normsetzungslegitimation des Arbeitgeberverbands1 durch das Mitgliedsunternehmen regelmäßig unter dem stillschweigenden Vorbehalt erteilt wird, dass sich das Mitgliedsunternehmen den Rückweg zu einer eigenständigen Tarifpolitik durch Abschluss von FirmenTVen offen hält. Grund für diese Annahme ist, dass es aus Sicht sowohl des Arbeitgeberverbands als auch seiner Mitgliedsunternehmen interessengerecht scheint, sich – etwa mit Blick auf wirtschaftliche Krisenzeiten – den Weg zu einer sach- und unternehmensnahen Tarifpolitik durch Abschluss von FirmenTVen nicht zu verschließen. Ein Ausschluss sich gegenüber dem VerbandsTV durchsetzender FirmenTVe wäre auch mit § 2 Abs. 1 TVG nicht zu vereinbaren, der explizit auch dem einzelnen Arbeitgeber die Tariffähigkeit zuspricht, ohne dass es auf seine „Tarifwilligkeit“ ankommt (vgl. Teil 2 Rz. 109). Dementsprechend beinhaltet der Normsetzungswille eines Arbeitgeberverbands beim Abschluss eines VerbandsTVs regelmäßig den Vorbehalt, dass der Verbands- hinter einen von einem verbandsangehörigen Unternehmen abgeschlossenen FirmenTV im Wege der Spezialität zurückweichen soll. Diese Interessenlage ist aus Sicht des Vertragspartners, der Gewerkschaft, auch erkennbar und wird von dieser als gleichfalls interessengerecht gebilligt: Schließlich ist die Möglichkeit einer unternehmensnahen Tarifpolitik auch im Gewerkschaftsinteresse, und dieses Interesse aktualisiert sich, wenn die Gewerkschaft einen FirmenTV abschließt. 89
Zweitens wird erwogen, vom Identitätserfordernis bei Anwendung des Spezialitätsprinzips abzusehen, wenn mehrere DGB-Gewerkschaften TVe mit einem sich überschneidenden Geltungsbereich abgeschlossen haben2. Auch in diesem Fall soll der im dargestellten Sinne speziellere TV im Überlappungsbereich eine verdrängende Wirkung entfalten. Auf das Erfordernis der Parteiidentität wird erneut – und zwar diesmal auf Gewerkschaftsseite – verzichtet. Derartige Konstellationen ergeben sich vor allem in sog. Mischbetrieben, die nicht eindeutig einer Branche zugeordnet werden können. Als Grund lässt sich insofern § 16 DGB-Satzung anführen, wonach die DGBGewerkschaften sich mit ihrem Beitritt zur Spitzenorganisation ein wechselseitiges Konkurrenzverbot auferlegen. Der Ansatz, die Anwendung des Spezialitätsprinzips trotz fehlender Parteiidentität auf Gewerkschaftsseite zu begründen, liegt erneut in der Auslegung des Normsetzungswillens beim Abschluss des TVs: Dieser soll den unausgesprochenen Vorbehalt enthalten, sich in Konformität zur DGB-Satzung verhalten zu wollen und den abgeschlossenen TV zurücktreten zu lassen, wenn in einem Betrieb ein anderer, speziellerer TV einer anderen DGB-Gewerkschaft gilt.
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Andererseits zeigen die beteiligten DGB-Gewerkschaften in derartigen Konstellationen durch den Abschluss konkurrierender TVe aber geradezu, dass sie von der Wirkung ihres TVs auch im Verhältnis zu konkurrierenden DGBTVen überzeugt sind. Die dargestellte Auffassung scheint mithin im Kontrast zum tatsächlichen Willen der Gewerkschaft beim Abschluss ihres TVs zu stehen. Die Möglichkeit eines derartigen, im Verhältnis zum DGB möglicherweise satzungswidrigen Verhaltens wird durch die Mitgliedschaft im DGB nicht ausgeschlossen. Vielmehr kann der DGB selbst durch geeignete verbandsinterne Maßnahmen und Sanktionen die Einhaltung seiner Satzung durchsetzen. Die im Fall einer durch staatliches Recht erzwungenen 1 Diese liegt in der Beitrittserklärung; zur sog. Legitimationstheorie; vgl. HWK/Henssler, Einl. TVG Rz. 15 f.; Rieble, ZfA 2000, 5; Dieterich, RdA 2002, 1; jeweils m.w.N. 2 So Hanau/Kania, FS Schaub, S. 239 (252); Kania, Anm. AP Nr. 26 zu § 4 TVG Nachwirkung; Kania, DB 1996, 1921 (1923).
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Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 93 Teil 9
Tarifverdrängung zweifellos zu konstatierende Beeinträchtigung der Gewerkschaft, die den „unterlegenen“ TV abgeschlossen hat, lässt sich somit in weitaus systemkonformerer Weise vermeiden, indem man auf die autonome Regulierung derartiger Konflikte durch das DGB-Schiedsgerichtsverfahren (§ 16 DGB-Satzung) vertraut, diesem Verfahren Außenwirkung beimisst und somit bereits durch Auslegung der Tarifzuständigkeiten zur Beilegung des Konflikts gelangt (vgl. näher Teil 2 Rz. 247 ff.)1. Die in jeder Tarifverdrängung liegende Beeinträchtigung der Koalitionsbetätigung wird auf diese Weise entbehrlich und durch einen autonomen Selbstverwaltungsmechanismus ersetzt. 3. Mehrheit von Tarifverträgen konkurrierender Tarifvertragsparteien A priori ungeeignet ist das Spezialitätsprinzip, wenn TVe aufeinander treffen, die 91 nicht von identischen TV-Parteien auf beiden Seiten abgeschlossen sind und bei denen auch nicht die beiden genannten Ausnahmen vom Postulat der Parteiidentität gegeben sind. Dies betrifft insbesondere den Fall, dass zwei miteinander konkurrierende Gewerkschaften TVe mit demselben Arbeitgeberverband oder Arbeitgeber abgeschlossen haben. Kommt es insofern zu Geltungsbereichsüberschneidungen innerhalb einzelner Betriebe, ist die Rechtslage nach wie vor nicht abschließend geklärt. Hier, beim Phänomen der sog. Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität, haben in jüngster Zeit die wohl umwälzendsten Entwicklungen im TV-Recht stattgefunden. Die rechtspolitischen Diskussionen um Tarifeinheit und Tarifpluralität sind mit Inkrafttreten des sog. Tarifeinheitsgesetzes2 zum 10.7.2015 – vorläufig – zum Abschluss gekommen. Die verfassungsrechtliche Diskussion (vgl. ausf. Rz. 161 ff.) und die vielfältigen Praxisfragen (vgl. ausf. Rz. 113 ff.) erlangen dadurch aber noch stärkere Bedeutung. a) Tarifkonkurrenz Um eine echte Normenkollision handelt es sich im Fall der Tarifkonkurrenz. Diese 92 ist dadurch gekennzeichnet, dass mindestens zwei TVe konkurrierender Normurheberschaft, deren Kollision somit nicht schon nach den oben (vgl. Rz. 79 ff.) dargestellten Prinzipien der Zeitkollision und Spezialität aufzulösen ist, in gleicher Weise innerhalb eines Arbeitsverhältnisses normative Wirkung gemäß § 4 Abs. 1 TVG beanspruchen. Diese Situation ist lösungsbedürftig, da der Inhalt des Arbeitsverhältnisses sich nicht gleichzeitig nach zwei – ggf. einander widersprechenden – Normen richten kann. Eine gesetzliche Ausgestaltung hat die Tarifkonkurrenz bis heute nicht erfahren; allerdings hat die Verankerung des mehrheitsbezogenen Prinzips der Tarifeinheit im Betrieb durch das Tarifeinheitsgesetz 2015 zwangsläufig Rückwirkungen auf die Behandlung von Tarifkonkurrenzen (vgl. näher Rz. 97). Voraussetzung der Tarifkonkurrenz ist, dass sowohl der Arbeitgeber als auch der Ar- 93 beitnehmer an beide TVe gleichermaßen gebunden sind (§§ 3, 5 TVG, vgl. Teil 6, 7) und somit die Voraussetzungen der Normwirkung im Arbeitsverhältnis (§ 4 Abs. 1 TVG, vgl. Rz. 1 ff.) hinsichtlich beider TVe bejaht werden können.
1 Vgl. BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613. 2 BGBl I 2015, 1130.
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Teil 9 Rz. 94
Wirkung der Tarifnormen
Anwendungsfälle sind z.B.: – Doppelmitgliedschaften des Arbeitnehmers in beiden tarifschließenden Gewerkschaften, – Situationen des Verbandswechsels auf Arbeitgeber- oder Arbeitnehmerseite, durch den die mitgliedschaftliche Bindung (§ 3 Abs. 1 TVG) an den „neuen“ TV neben die Nachbindung (§ 3 Abs. 3 TVG) an den „alten“ TV tritt, – das Aufeinandertreffen eines allgemeinverbindlichen TVs (§ 5 TVG, vgl. Teil 7) und eines abweichenden TVs, an den Arbeitgeber und Arbeitnehmer mitgliedschaftlich gebunden (§ 3 Abs. 1, 3 TVG) sind, – das Aufeinandertreffen mehrerer allgemeinverbindlicher TVe, – das Aufeinandertreffen mehrerer TVe, die betriebliche oder betriebsverfassungsrechtliche Regelungen i.S.v. § 3 Abs. 2 TVG enthalten, an die der Arbeitgeber jeweils gebunden ist. 94
Nahezu einhelliger Auffassung entspricht, dass die Konfliktlösung nicht nach dem Günstigkeitsprinzip (§ 4 Abs. 3 TVG) erfolgen kann (vgl. Rz. 85)1. Eine derartige Lösung widerspräche dem Normsetzungswillen der Parteien beider TVe, da der Normsetzungswille auf die einheitliche Geltung des gefundenen Regelungskompromisses abzielt und eine Durchbrechung durch die Anwendung der Normen anderer, konkurrierender TVe dem Normsetzungswillen entgegenläuft. Die sich bei Anwendung des Günstigkeitsprinzips ergebende Meistbegünstigung des Arbeitnehmers würde zur gezielten Herbeiführung von Tarifkonkurrenzen durch Doppelmitgliedschaften geradezu einladen und die Funktionsfähigkeit des Tarifsystems gefährden. Gleichfalls scheidet eine Anwendung des Ablösungsprinzips (Zeitkollisionsregel) aus, nach dem sich der jüngere TV durchsetzen würde: Ein Normsetzungswille, den eigenen TV durch die von einer konkurrierenden Organisation ausgehandelten Tarifnormen verdrängen zu lassen, ist beim Abschluss des älteren TVs nicht ersichtlich2.
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Weit überwiegend wurden bislang die Fälle der Tarifkonkurrenz nach dem Prinzip der Tarifeinheit im Arbeitsverhältnis und dem Spezialitätsprinzip gelöst. Nach dem erstgenannten Grundsatz soll stets nur ein TV im Arbeitsverhältnis normativ gelten3. Dabei sollte der sachnähere TV Anwendung finden, also derjenige, welcher den Regelungsfragen am ehesten gerecht wird und somit „spezieller“ ist. Das Kernproblem ist dabei die Ermittlung des sachnäheren TVs. Anknüpfend an das historische Vorbild des § 2 Abs. 2 TVVO, einer Kollisionsregel für allgemeinverbindliche TVe, wurde die Sachnähe der beiden TVe betriebsbezogen ermittelt: Bezugspunkt der Entscheidung, welcher TV sich bei Auflösung der Tarifkonkurrenz durchsetzt, soll demnach nicht die Sachnähe im Hinblick auf das konkret betroffene Arbeitsverhältnis sein, sondern vielmehr die Sachnähe bezogen auf den Betrieb als Ganzen. Maßgeblich ist damit
1 A.A. insbes. Däubler/Hege, Tarifvertragsrecht, Rz. 1493 f. 2 Gleichwohl läge darin – wie das französische Tarifrecht zeigt (dazu Greiner, Rechtsfragen, S. 322 ff.) – ein vorstellbares Lösungsmodell, freilich wohl nur in Verbindung mit einer Ergaomnes-Wirkung der Tarifnormen. 3 Schliemann, NZA-Beil. 2000, 24 (29).
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Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 97 Teil 9
auch bei der Auflösung der Tarifkonkurrenz derjenige TV, der am besten zum Betrieb „passt“, der den Regelungsbedürfnissen im Betrieb also am ehesten gerecht wird1. Vorrangig sollte – ebenso wie in den schon dargestellten Fällen der legitimen Anwen- 96 dung des Spezialitätsprinzips (vgl. Rz. 81 ff.) – der TV mit dem engsten räumlichen Geltungsbereich spezieller sein. Der FirmenTV setzte sich somit gegenüber dem BranchenTV2, der nur für ein Bundesland geltende BranchenTV gegenüber dem bundesweit geltenden BranchenTV durch. Lagen mehrere TVe mit gleichem räumlichem Geltungsbereich vor, sollte auch hier maßgeblich sein, in den Geltungsbereich welchen TVs das größte Arbeitszeitvolumen im Betrieb fällt. Letztlich spiegelt diese Ausprägung des Spezialitätsprinzips wider, welche Gewerkschaft für die Tarifnormsetzung in dem jeweiligen Betrieb „kompetenter“ ist, also mit den Regelungsfragen des Betriebs eher vertraut ist3. Wurden in einem Betrieb also etwa zu 40 % Dienstleistungen erbracht, für die ein von der Gewerkschaft ver.di abgeschlossener TV Anwendung beanspruchte, und wurden daneben zu 60 % Arbeiten erbracht, die dem Metall- und Elektrohandwerk zuzuordnen sind, sollte sich der insofern einschlägige TV der IG Metall durchsetzen4. Die Feststellung, welche Arbeit in welcher Weise einzuordnen ist, bedarf dabei vielfach einer Einzelfallbetrachtung und unterliegt Wertungsspielräumen. Auch die Gewichtung der einzelnen Spezialitätskriterien untereinander ist nicht eindeutig und beließ dem erkennenden Richter einen problematischen Wertungsspielraum. Unter anderem aus diesen Gründen ist der Gesetzgeber des Tarifeinheitsgesetzes 2015 vom Spezialitätsprinzip abgerückt und hat in § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG ein Mehrheitsprinzip verankert (vgl. näher Rz. 127 ff.). Mit der Anwendung eines betriebsbezogenen Spezialitätsprinzips als Rechtsfolge der 97 Tarifkonkurrenz wurde der Grundsatz der Tarifeinheit im Arbeitsverhältnis unversehens zum Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb: Denn wenn sämtliche (potentiellen) Tarifkonkurrenzen im Betrieb einheitlich dahingehend aufgelöst werden, dass der bezogen auf den Betrieb „speziellste“, den Regelungsbedürfnissen des Betriebs am ehesten gerecht werdende TV Anwendung findet, ergibt sich eine starke Tendenz zur betriebsbezogenen Vereinheitlichung. Wendet man die dargestellten Lösungsmuster zudem nicht nur auf akute, sondern bereits auf „potentielle“ Tarifkonkurrenzen an (vgl. Rz. 103), ergibt sich aus der betriebsbezogenen Auflösung der Tarifkonkurrenzen die betriebseinheitliche Geltung nur eines TVs. Insofern bedingen sich die Rechtsfolgen von Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität wechselseitig5. Werden die Rechtsfolgen der Tarifpluralität verändert, kann das für die Rechtsfolgen der Tarifkonkurrenz nicht 1 Vgl. BAG v. 24.9.1975 – 4 AZR 471/74, AP Nr. 11 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 29.11.1978 – 4 AZR 304/77, AP Nr. 12 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 14.6.1989 – 4 AZR 200/89, DB 1990, 129; BAG v. 5.9.1990 – 4 AZR 59/90, NZA 1991, 202; BAG v. 24.1.1990 – 4 AZR 561/89, AP Nr. 126 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG v. 15.11.2006 – 10 AZR 665/05, NZA 2007, 448; LAG Sachsen v. 2.11.2007 – 7 SaGa 19/07, NZA 2008, 59. 2 BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736; bestätigt durch BAG v. 24.1.2001 – 4 AZR 655/99, NZA 2001, 788; ähnlich BAG v. 20.4.1999 – 1 AZR 631/98, NZA 1999, 1059; zustimmend Säcker/Oetker, ZfA 1993, 1 (19); vgl. auch (kritisch) Däubler/Hege, Tarifvertragsrecht, Rz. 620. 3 Vgl. Dieterich, Die betrieblichen Normen, S. 104; Kempen, NZA 2003, 415 (416) („verbandliches Subsidiaritätsprinzip“). 4 Vgl. BAG v. 22.3.1994 – 1 ABR 47/93, EzA § 4 TVG Tarifkonkurrenz Nr. 10; BAG v. 19.2.2003 – 4 AZR 118/02, NZA 2003, 1295. 5 Näher Greiner, Rechtsfragen, S. 361 f.
Greiner
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Teil 9 Rz. 98
Wirkung der Tarifnormen
folgenlos bleiben. Unter der Geltung des durch das Tarifeinheitsgesetz 2015 geschaffenen betriebsbezogenen Mehrheitsprinzips, § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG, spricht daher alles dafür, auch die Tarifkonkurrenz so aufzulösen, dass der MehrheitsTV im Betrieb jeden konkurrierenden MinderheitsTV verdrängt. Nur so lässt sich der gesetzgeberisch gewünschte Vereinheitlichungseffekt erzielen. Der Normenkonflikt soll auf diese Weise „demokratisch“ gelöst werden (vgl. aber näher Rz. 174 f.), indem auf die mehrheitliche Legitimation des jeweiligen TVs abgestellt wird. Maßgeblich sind dann die Mitgliederzahlen der konkurrierenden Gewerkschaften (vgl. weiterhin Rz. 127 ff.). Diese innerbetriebliche Demokratie passt zu kollektiven Regelungsgegenständen und wurde daher schon nach früherer Rechtslage bei der Kollision von Tarifnormen zu betrieblichen oder betriebsverfassungsrechtlichen Fragen i.S.v. § 3 Abs. 2 TVG verbreitet präferiert1; bei Inhaltsnormen ohne Kollektivbezug ist dies – vor allem angesichts der Gesetz gewordenen Ausgestaltung des Mehrheitsprinzips – weit problematischer (vgl. näher Rz. 127 ff., 174 f.). b) Divergenz von normativer Wirkung und arbeitsvertraglicher Bezugnahme 98
Kein Fall der Tarifkonkurrenz ist das Aufeinandertreffen einer normativen Tarifbindung (§ 4 Abs. 1, 5 TVG) mit einer arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf einen anderen, konkurrierenden TV. Nachdem das BAG in der Vergangenheit diesen Fall ebenfalls nach den Grundsätzen der Tarifkonkurrenz behandelte2, hat es diese Rechtsprechung mittlerweile explizit aufgegeben3.
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Dem liegt das dogmatische Grundverständnis zugrunde, die Bezugnahmeklausel nicht mehr als alternativen Weg zur Herstellung einer De-facto-Tarifbindung zu interpretieren, sondern ihr – zutreffend – eine rein arbeitsvertragliche Bedeutung beizumessen (vgl. Rz. 9)4. Durch die Bezugnahmeklausel werden die Regelungen des in Bezug genommenen TVs dem Arbeitsvertrag inkorporiert. Sie werden Inhalt des Arbeitsvertrags. Somit finden auf das Verhältnis von in Bezug genommenem und normativ bindendem TV die Kollisionsregeln Anwendung, die im Verhältnis von arbeitsvertraglicher Vereinbarung und tarifvertraglicher Regelung gelten: Es konkurriert ein Arbeitsvertrag mit einem TV. Dieses Verhältnis ist nach Maßgabe von § 4 Abs. 1, 3 TVG zu lösen5: Soweit die in Bezug genommenen Tarifinhalte für den Arbeitnehmer nicht günstiger sind als die normativ geltenden und der normativ geltende TV diesbezüglich keine Öffnungsklausel i.S.v. § 4 Abs. 3 Alt. 1 TVG enthält, gilt gemäß § 4 Abs. 1 TVG die zwingende tarifvertragliche Regelung. Der in Bezug genommene TV kann sich als Arbeitsvertragsinhalt nur dann durchsetzen, soweit er günstiger ist als der normativ geltende Tarifvertragsinhalt (§ 4 Abs. 3 Alt. 2 TVG) oder der normativ geltende TV eine Öffnungsklausel für ungünstigere arbeitsvertragliche Regelungen enthält, § 4 Abs. 3 Alt. 1 TVG. 1 Dafür u.a. Bayreuther, Tarifautonomie, S. 396 f.; Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 309; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 295; Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 935; Witzig, Tarifeinheit, S. 107; Hanau, RdA 2008, 98 (102); Franzen, RdA 2008, 193 (199). 2 So noch BAG v. 23.3.2005 – 4 AZR 203/04, NZA 2005, 1003. 3 BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364; zuletzt BAG v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, NZA-RR 2010, 530. 4 Preis/Greiner, NZA 2007, 1073 ff. 5 Zutr. BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364; zuletzt BAG v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, NZA-RR 2010, 530.
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Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 101 Teil 9
Diese harmonisierende Wirkung des Günstigkeitsprinzips versagt aber bei Tarifklau- 100 seln, die den Arbeitnehmer belasten, z.B. bei einer Altersgrenze. Im Nebeneinander von normativer Geltung und arbeitsvertraglicher Bezugnahme erweist sich die Divergenz der Kontrollmaßstäbe generell als ein Kernproblem des rein arbeitsvertraglichen Verständnisses der Bezugnahmeklausel: Nur auf die nicht-normative Tarifgeltung per Bezugnahmeklausel fänden bei konsequent individualvertraglicher Interpretation z.B. die Transparenz- und Angemessenheitsmaßstäbe der §§ 305 ff. BGB Anwendung, nicht hingegen auf die normative Tarifgeltung1. Daher könnte gerade bei besonders belastenden Tarifnormen der Außenseiter-Arbeitnehmer besser stehen als das Gewerkschaftsmitglied: Er erntet per Bezugnahmeklausel nur die guten Früchte, das Gewerkschaftsmitglied muss auch die schlechten nehmen. Diese Schieflage veranlasst den 7. BAG-Senat in einer neuen Entscheidung, jedenfalls bei einer belastenden Tarifnorm (in casu: Altersgrenze) das Rad in Richtung einer quasi-normativen Interpretation der Bezugnahmeklausel zurückzudrehen2, die den nicht organisierten Arbeitnehmer lediglich dem organisierten gleichstellt, eine Besserstellung aber vermeidet und zugleich verhindert, dass belastenden Tarifnormen ihre Wirkung durch universelle Anwendung des Günstigkeitsprinzips genommen wird. Insofern dürfte die Rechtsprechung auch künftig ergebnisorientiert zwischen dem tarifrechtlichen und dem arbeitsvertragsrechtlichen Verständnis der Bezugnahmeklausel lavieren, was die Entscheidungsprognose unsicher und einzelfallabhängig macht. Dies gilt umso mehr, als der EuGH heute dazu neigt, entsprechend dem früheren dogmatischen Ansatz des BAG die Bezugnahmeklausel rein funktional als alternativen Weg zur Herbeiführung einer Tarifgeltung zu betrachten; er stellt die Bezugnahmeklausel der normativen Tarifgeltung funktional gleich (vgl. Rz. 8 f.)3. c) Tarifpluralität, „Tarifkollision“, Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb Von der betriebseinheitlichen Auflösung der Tarifkonkurrenzen war es nur ein klei- 101 ner Schritt zum Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb. Nach diesem Grundsatz soll in einem Betrieb – unabhängig vom Vorliegen einer Tarifkonkurrenz im Arbeitsverhältnis – generell nur ein TV gelten können. Der hoch umstrittene Rechtsgrundsatz blickt auf eine wechselvolle Entwicklung zurück4: Zunächst wurde er seit 1989 ohne gesetzliche Grundlage in der Rechtsprechung des BAG entwickelt5, ab 1993 mehr und mehr relativiert6 und 2010 schließlich ausdrücklich aufgegeben7. Seit 2015 statuiert die Kollisionsregel des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG ausdrücklich einen gesetzlichen Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb, der anders als nach früherer Rechtslage nicht 1 Vgl. § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB; zum Verbot der Tarifzensur ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 130 m.w.N. 2 BAG v. 23.7.2014 – 7 AZR 771/12, NZA 2014, 1341, insbes. Rz. 45. 3 Zuletzt EuGH v. 11.9.2014 – Österreichischer Gewerkschaftsbund – C-328/13, NZA 2014, 1092, Rz. 24 f.; näher dazu Preis/Greiner, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 109. 4 Ausf. dazu Konzen/Schliemann, RdA 2015, 1 (3 f.). 5 Vgl. BAG v. 14.6.1989 – 4 AZR 200/89, AP Nr. 16 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 24.1.1990 – 4 AZR 561/89, AP Nr. 126 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG v. 5.9.1990 – 4 AZR 59/90, AP Nr. 19 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, AP Nr. 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz. 6 Z.B. BAG v. 22.9.1993 – 10 AZR 207/92, NZA 1994, 667; BAG v. 26.1.1994 – 10 AZR 611/92, NZA 1994, 1038. 7 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068.
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Teil 9 Rz. 102
Wirkung der Tarifnormen
an die inhaltliche Spezialität des TVs, sondern an die mehrheitliche Legitimation im Betrieb anknüpft. Dies wirft vielfältige neue Anwendungsfragen auf (vgl. ausf. Rz. 113 ff.); die verfassungsrechtliche Tragfähigkeit der Neuregelung ist umstritten (vgl. ausf. Rz. 161 ff.). aa) Tatbestand der Tarifpluralität 102 Die Tarifpluralität ist dadurch gekennzeichnet, dass innerhalb der einzelnen Arbeitsverhältnisse im Betrieb zwar jeweils nur ein TV Anwendung findet, in verschiedenen Arbeitsverhältnissen innerhalb eines Betriebs aber unterschiedliche TVe gelten1. Das BAG vertritt in ständiger Rechtsprechung eine komplexere, aber nahezu inhaltsgleiche Definition: Tarifpluralität liege vor, „wenn der Betrieb des Arbeitgebers vom Geltungsbereich zweier von verschiedenen Gewerkschaften geschlossenen Tarifverträge für Arbeitsverhältnisse derselben Art erfasst wird, an die der Arbeitgeber gebunden ist, während für den jeweiligen Arbeitnehmer je nach Tarifgebundenheit nur einer der beiden Tarifverträge Anwendung findet“2. Wird beispielsweise ein Krankenhaus sowohl von dem BranchenTV TVöD erfasst, der Regelungen für alle Berufsgruppen im Krankenhaus enthält, als auch von einem TV des Marburger Bundes, der Regelungen ausschließlich für Krankenhausärzte enthält, liegt ein Fall der Tarifpluralität bereits dann vor, wenn der Arbeitgeber an beide TVe gebunden ist, einzelne Arbeitnehmer aufgrund Mitgliedschaft im Marburger Bund an den von diesem abgeschlossenen TV und andere Arbeitnehmer kraft Mitgliedschaft bei ver.di an den TVöD gebunden sind. Anders als bei der Tarifkonkurrenz handelt es sich um keine echte Normenkollision, da in jedem Arbeitsverhältnis jeweils nur ein TV normativ Geltung beansprucht. bb) Historische Entwicklung bis zum Inkrafttreten des Tarifeinheitsgesetzes 2015 103 Dennoch sollte nach früherer Rechtsprechung des BAG3 auch hier ausschließlich der betriebsbezogen speziellere TV Anwendung finden. Dies sollte derjenige TV sein, der – bezogen auf den Betrieb als Ganzen – die sachnächsten Regelungen enthielt und damit den Regelungsbedürfnissen des Betriebs und der in ihm Beschäftigten am besten gerecht wurde (vgl. Rz. 95). Der damit anerkannte Grundsatz „ein Betrieb – ein TV“ verallgemeinerte das dargestellte Organisationsprinzip der DGB-Gewerkschaften (vgl. Rz. 89 f.) zum allgemeingültigen Rechtsprinzip4. Die Grundsätze zur Auflösung von Tarifkonkurrenzen fanden somit Anwendung, ohne dass eine erwiesene Tarifkonkurrenz vorliegen musste; ausreichend war das Vorliegen „potentieller Tarifkonkurrenzen“5, die allein infolge der Existenz konkurrierender einschlägiger TVe nicht ausgeschlossen werden konnten: Der Arbeitgeber hat typischerweise keine Kenntnis darüber, ob bei einem einzelnen Arbeitnehmer z.B. ein Fall der Doppelmitgliedschaft 1 ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 70. 2 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068, Rz. 14; so bereits BAG v. 24.1.1990 – 4 AZR 561/89, AP Nr. 126 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; BAG v. 5.9.1990 – 4 AZR 59/90, NZA 1991, 202; BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736. 3 BAG v. 14.6.1989 – 4 AZR 200/89, DB 1990, 129; BAG v. 24.1.1990 – 4 AZR 561/89, AP Nr. 126 zu § 1 Tarifverträge: Bau; s. auch BAG v. 24.9.1975 – 4 AZR 471/74, AP Nr. 11 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 29.11.1978 – 4 AZR 304/77, AP Nr. 12 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz. 4 Vgl. zu diesem Zusammenhang Konzen/Schliemann, RdA 2015, 1 (2). 5 Ausdrücklich noch BAG v. 24.1.1990 – 4 AZR 561/89, AP Nr. 126 zu § 1 Tarifverträge: Bau; vgl. auch Kraft, RdA 1992, 161 (162).
772 Greiner
Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 105 Teil 9
in beiden konkurrierenden Gewerkschaften – im genannten Beispiel ver.di und Marburger Bund – gegeben ist1. Den Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb wandte das BAG überwiegend auf Kollisionslagen zwischen einem mitgliedschaftlich legitimierten und einem allgemeinverbindlichen TV an2. Die uneingeschränkte Formulierung dieses Rechtsgrundsatzes legte jedoch den Schluss nahe, dass das BAG die Tarifverdrängung auch bei gleichermaßen mitgliedschaftlich legitimierten TVen konkurrierender Gewerkschaften bejaht hätte3. Rechtsfolge des Grundsatzes der Tarifeinheit im Betrieb war zunächst die Verdrängung 104 des weniger speziellen TVs4. In obigem Beispiel (vgl. Rz. 102) wäre mithin der ÄrzteTV des Marburger Bundes verdrängt worden, da ein BerufsgruppenTV den Regelungsbedürfnissen des ganzen Betriebs niemals so gut gerecht werden kann wie ein TV, der Regelungen für alle im Betrieb tätigen Berufsgruppen enthält5. Die zur Tarifkonkurrenz dargestellten Grundsätze zur Ermittlung der „Spezialität“ (vgl. Rz. 94 ff.) sollten auch dabei Anwendung finden, so dass v.a. der räumlich engere sowie derjenige TV, welcher für das größere Arbeitszeitvolumen im Betrieb Regelungen enthielt6, als „spezieller“ anzusehen war (näher Voraufl. Rz. 104). Eine normative Erstreckung7 des „speziellsten“ TVs auf nicht und anders organisierte Arbeitnehmer erfolgte – außer im Fall der AVE (§ 5 TVG; dazu Teil 7 Rz. 3 ff.) – nicht. Die Mitglieder der Gewerkschaft, deren TV verdrängt wurde, wurden somit auf den Status nicht organisierter Arbeitnehmer zurückgeworfen8. Eine faktische Gleichstellung mit den Arbeitnehmern, deren TV sich durchgesetzt hatte, wurde erst über arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln erreicht9, die zu diesem Zweck lange Zeit großzügig als „Gleichstellungsabreden“ ausgelegt wurden10. Das BAG begründete diesen richterrechtlich entwickelten Grundsatz v.a. mit Erwägungen der praktischen Einfachheit und Administrationseffizienz11. Die Durchführung der Arbeitsverhältnisse, z.B. die Entgeltabrechnung, wird zweifellos erleichtert, wenn der Arbeitgeber betriebseinheitlich nur einen TV anwenden muss. Vermieden wird v.a. ein Nebeneinander unterschiedlicher Arbeitszeitsysteme. Der Arbeitgeber muss die Gewerkschaftszugehörigkeit seiner Arbeitnehmer nicht in Erfahrung bringen, sondern kann bei Verwendung von arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln 1 BAG v. 14.6.1989 – 4 AZR 200/89, DB 1990, 129; BAG v. 5.9.1990 – 4 AZR 59/90, NZA 1991, 202. 2 Vgl. Bayreuther, NZA 2007, 187. 3 Näher Greiner, Rechtsfragen, S. 281. 4 Vgl. nur BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736. 5 Vgl. insbes. BAG v. 5.9.1990 – 4 AZR 59/09, NZA 1991, 202; Buchner, BB 2003, 2121 (2124 f.); Buchner, BB 2007, 2520 (2521): Die ausgleichende Wirkung des Industrietarifs werde „honoriert“; kritisch Thüsing/v. Medem, ZIP 2007, 510 (512). 6 BAG v. 22.3.1994 – 1 ABR 47/93, EzA § 4 TVG Tarifkonkurrenz Nr. 10. 7 BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736. 8 Kritisch u.a. Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 305 ff.; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1796; Franzen, RdA 2001, 1 (7). 9 Eine Pflicht zur einzelvertraglichen Gleichstellung leitet daraus Buchner, BB 2003, 2121 (2125); Buchner, FS 50 Jahre BAG, S. 631 (635) ab; zustimmend Bayreuther, NZA 2007, 187 (189); kritisch Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1798. 10 Vgl. nur BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, NZA 2002, 634; dazu Gaul, ZfA 2003, 75 (92); vgl. ferner die Rechtsprechungsänderung durch BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NZA 2006, 607; BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965. 11 Insbes. BAG v. 14.6.1989 – 4 AZR 200/89, NZA 1990, 325.
Greiner
773
105
Teil 9 Rz. 106
Wirkung der Tarifnormen
(Gleichstellungsabreden) den einzigen verbleibenden TV einheitlich auf alle Arbeitsverhältnisse im Betrieb anwenden. Die Tarifanwendung wird von einem etwaigen Gewerkschaftswechsel der Arbeitnehmer unabhängig. Die Abgrenzung von tarifvertraglichen Individual- und Kollektivnormen wird entbehrlich (vgl. Teil 4 Rz. 86). 106 Zu Recht mehrte sich jedoch die Kritik. Der Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb als verbindliches Rechtsprinzip wurde als verfassungswidrig und unvereinbar mit Art. 9 Abs. 3 GG bewertet1. Vor allem waren massive Auswirkungen auf den Gewerkschaftswettbewerb unverkennbar: Der Grundsatz der Tarifeinheit führte zu einer deutlichen Diskriminierung von Berufs- und Spartengewerkschaften: Berufs- und SpartenTVe wurden nach dem Spezialitätsprinzip stets von TVen mit Regelungen für alle Berufsgruppen verdrängt, da sie angesichts ihres strukturell „unterbetrieblichen“ Geltungsbereichs die Regelungsbedürfnisse des Betriebs in seiner Gesamtheit nie vergleichbar gut erfüllen können. Gewährleistet Art. 9 Abs. 3 GG die Koalitionsfreiheit und damit insbesondere auch die Satzungsautonomie vorbehaltlos (vgl. Teil 2 Rz. 12)2, so ist es mit dieser Grundentscheidung der Verfassung unvereinbar, wenn nach dem Berufsverbandsprinzip organisierte Koalitionen generell schlechter gestellt werden als nach dem Industrieverbandsprinzip organisierte. Methodologisch handelte es sich um richterliche Rechtsfortbildung contra legem in offenbarem Widerspruch zu §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG, die die Koalitionsmitgliedschaft zum Fundament und zur legitimatorischen Quelle der Tarifnormgeltung machen. Die Grenzen der richterlichen Kompetenz zur Rechtsfortbildung war klar überschritten3. Neben diese verfassungsrechtlichen Erwägungen traten zahlreiche einfachrechtliche Monita, v.a. problematische Anreizwirkungen4 und zunehmende Wertungswidersprüche5 (näher Voraufl. Rz. 113–114). 107 Schließlich erwies sich spätestens seit dem Jahr 2000 das Prinzip der Tarifeinheit im Betrieb als von der Tarifwirklichkeit überholt6. Insbesondere in Reaktion auf den Zusammenschluss verschiedener Gewerkschaften zur Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di etablierten sich zunehmend Berufs- und Spartengewerkschaften. Bereits bestehende, nach dem Berufsverbandsprinzip organisierte Koalitionen – z.B. der Marburger Bund – lösten sich aus Tarifgemeinschaften mit DGB-Gewerkschaften und betrieben fortan eine eigenständige Tarifpolitik. Insofern geriet das richterrechtlich entwickelte Postulat der Tarifeinheit in ein zunehmendes Spannungsverhältnis zu den tarifpolitischen Realitäten.
1 Etwa Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 448 ff.; Konzen, RdA 1978, 146 (149, 153 f.); ausführlicher Kraft, RdA 1992, 161 (166); Wiedemann/Arnold, ZTR 1994, 399 (443); Hanau/ Kania, Anm. AP Nr. 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; Wank, Anm. EzA § 4 TVG Tarifkonkurrenz Nr. 9, S. 17; Rieble, BB 2003, 1227 („Skandal“); Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1796; Rieble, Anm. EzA § 4 TVG Geltungsbereich Nr. 10, S. 14. 2 Zutr. BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289 Rz. 90 („Autonomie bei der Festlegung von verbandsinternen Organisationsstrukturen“); ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 40. 3 Hanau/Kania, Anm. AP Nr. 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; ebenso Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 351 ff.; Wank, Anm. EzA § 4 TVG Tarifkonkurrenz Nr. 9, S. 17; Franzen, RdA 2008, 193 (194); a.A. Säcker/Oetker, ZfA 1993, 1 (8 f.); Hromadka, NZA 2008, 377 (385 f.) („sekundäre Gesetzeslücke“). 4 Vgl. Greiner, Rechtsfragen, S. 300 ff. 5 Bauer/Meinel, NZA 2000, 181 (183); Thüsing/v. Medem, ZIP 2007, 510; Bayreuther, BB 2005, 2633 (2639) („Erosion“). 6 Vgl. Greiner, NZA 2007, 1023.
774 Greiner
Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 108 Teil 9
Unter dem Eindruck der rechtswissenschaftlichen Kritik sowie der „normativen 108 Kraft des Faktischen“, insbesondere aber mit Blick auf die Aufgabe der Kernbereichstheorie seitens des BVerfG (vgl. Teil 1 Rz. 6)1, setzte sich das BAG zunehmend distanziert mit dem Prinzip der Tarifeinheit im Betrieb auseinander2 und gab es mit Urteil vom 7.7.2010 explizit auf3. Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit, Art. 9 Abs. 3 GG4 sowie das auf mitgliedschaftliche Tarifbindung gestützte Legitimationsmodell der §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG5 ließen keinen Spielraum für eine andere Lösung; eine Tarifverdrängung lasse sich durch praktische Schwierigkeiten der Tarifpluralität6 und Maximen der Normklarheit7 nicht legitimieren. Damit war die gelebte Tarifpluralität ein rechtlich akzeptierter Zustand. Insbesondere die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) befürchtete erhebliche Folgeprobleme bis hin zu einer Funktionsgefährdung des Tarifvertragssystems (vgl. ausf. Voraufl. Rz. 119–136): Mehrere tarifliche Arbeitszeit- und Entgeltsysteme innerhalb eines Betriebs seien praktisch allenfalls mit großen Einbußen an Effizienz und Betriebsfrieden durchführbar. Verbreitet für problematisch wurde auch die – in einem tarifpluralen System zur Tarifdurchführung unausweichliche – Einführung von Erkenntnisquellen des Arbeitgebers hinsichtlich der Gewerkschaftszugehörigkeit seiner Arbeitnehmer gehalten8. Gravierende Konsequenzen hatte die Anerkennung der Tarifpluralität schließlich für die Praxis des Arbeitskampfs9. Gegenüber dem Arbeitskampfsystem in einem „monistischen“ Tarifvertragsrecht ergaben sich mehrere Änderungen: Der Arbeitgeber sah sich nicht mehr nur einer Gewerkschaft, sondern mehreren Gewerkschaften gegenüber. Die Friedensfunktion des abgeschlossenen TVs wurde graduell noch stärker relativiert, denn der Arbeitgeber musste nun während der Laufzeit des TVs mit Arbeitskämpfen konkurrierender Gewerkschaften rechnen. Befürchtet wurde ein Zu1 BVerfG v. 14.11.1995 – 1 BvR 601/92, NZA 1996, 381. 2 BAG v. 14.12.2004 – 1 ABR 51/03, NZA 2005, 697; BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112. 3 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068. 4 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068 (Rz. 52 ff.). 5 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068 (Rz. 21 f.). 6 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068 (Rz. 28 ff.). 7 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068 (Rz. 26). 8 Dazu Greiner, Rechtsfragen, S. 481 ff.: Arbeitnehmerschutz durch Schärfung des Maßregelungsverbots, § 612a BGB und Beweiserleichterungen analog § 22 AGG; Verweis auf § 612a BGB bereits bei Hanau/Kania, Anm. AP Nr. 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; weiterhin Thüsing/v. Medem, ZIP 2007, 510 (512); Rieble, GS Heinze, S. 687 (693); Hanau, RdA 2008, 98 (103); Jacobs, NZA 2008, 325 (328). Für eine bloße Offenbarungsobliegenheit des Arbeitnehmers, wenn dieser Rechte aus dem TV geltend macht, dagegen BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068 (Rz. 46); Rieble, GS Heinze, S. 687 (694); in diese Richtung auch Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 277; Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 4 TVG Rz. 162; Franzen, RdA 2008, 193 (195 f.); Bayreuther, BB 2005, 2633 (2640); Danne, SAE 1998, 111 (115); Nebeling/Gründel, NZA 2009, 1003 (1004). Zuletzt skeptisch und eingrenzend zum Fragerecht während laufender Tarifverhandlungen BAG v. 18.11.2014 – 1 AZR 257/13, NZA 2015, 306. 9 Insbes. Hromadka, NZA 2008, 377 (387) („ständige kaum sinnvoll handhabbare Tarifauseinandersetzungen und ständige Streiks mit verheerenden Auswirkungen“); Hromadka, GS Heinze, S. 383 (388); ähnlich Meyer, DB 2006, 1271 (1272 f.); Meyer, NZA 2006, 1387 (1390); Otto, FS Konzen, S. 663 ff.; Giesen, NZA 2009, 11 (15 f.); dazu weiterhin Deinert, RdA 2011, 12; Willemsen/Mehrens, NZA 2010, 1313; Greiner, NJW 2010, 2977; Brugger/v. Steinau-Steinrück, NZABeil. 2010, 127; treffende Darstellung der tatsächlichen Hintergründe jüngst bei Rüthers, ZRP 2015, 2. Das BAG (Urt. v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068, Rz. 48 ff.) sieht das Problem ebenfalls, mahnt aber zu Recht eine arbeitskampfrechtliche, keine tarifrechtliche Lösung an.
Greiner
775
Teil 9 Rz. 109
Wirkung der Tarifnormen
stand des „Dauerarbeitskampfs“1. Besonders in den Fokus rückten dabei die angriffsstarken Berufsgewerkschaften an Schlüsselstellen der Daseinsvorsorge, denen eine „gruppenegoistische“ Tarifpolitik2 vorgehalten wird. cc) Tarifeinheitsgesetz 2015: Gesetzliche Wiederherstellung der Tarifeinheit im Betrieb 109 Infolge einer gemeinsamen Initiative von BDA und DGB3 wurde bereits kurz nach der Rechtsprechungsänderung vom 7.7.2010 über die Möglichkeit einer Wiederbelebung der Tarifeinheit im Betrieb diskutiert4 – diesmal nicht auf richterrechtlicher Grundlage, sondern auf Basis eines Parlamentsgesetzes und somit unter Vermeidung der aufgezeigten Kompetenzprobleme (Rz. 106). BDA und DGB schlugen bereits 2010 in einer gemeinsamen Initiative vor, dass die mehrheitliche Tariflegitimation im Betrieb über die exklusive Anwendung eines TVs entscheiden soll. Trotz breiter Ablehnung des Entwurfs in der Fachöffentlichkeit5 und zunehmender Distanzierungen insbesondere derjenigen Unternehmen und DGB-Gewerkschaften, die in der Praxis am stärksten mit Problemen der Gewerkschaftskonkurrenz konfrontiert sind (v.a. ver.di), hat der Gesetzgeber die Kernpunkte des – mehrfach überarbeiteten – Verbändeentwurfs zur Grundlage des Tarifeinheitsgesetzes6 gemacht, das mit Wirkung zum 10.7.2015 in Kraft getreten ist und die Tarifeinheit im Betrieb wiederherstellen soll. dd) Regelungsziele des Tarifeinheitsgesetzes; zwingende Rechtsnatur 110 § 4a Abs. 1 TVG benennt als Regelungsziele der Kollisionsregel die „Sicherung der Schutzfunktion, Verteilungsfunktion, Befriedungsfunktion sowie Ordnungsfunktion von Rechtsnormen des Tarifvertrags“7. Im Ansatz sicher begrüßenswert8 ist das Anlie1 Vgl. Hromadka, GS Heinze, S. 383 (388). Die tatsächliche Entwicklung war weit weniger dramatisch als vielfach prognostiziert, s. Konzen/Schliemann, RdA 2015, 1 (4 f.). 2 Etwa Bayreuther, NZA 2008, 12 (15); Bayreuther, BB 2005, 2633 (2640 f.). 3 Der offiziell nicht veröffentlichte DGB/BDA-Entwurf wird u.a. in dem – lesenswerten – Gutachten von Däubler, Die gemeinsame Initiative von DGB und BDA zur Schaffung einer neuen Form von „Tarifeinheit“, S. 53 wiedergegeben (abrufbar unter http://www.nachdenkseiten.de/ upload/pdf/110319_gutachten_tarifeinheit.pdf; zuletzt abgerufen am 29.9.2015); vgl. auch das Gemeinsame Eckpunktepapier von BDA und DGB v. 4.6.2010, abgedruckt in RdA 2010, 315. 4 Dazu im Überblick Hanau, DB 2010, 2107. 5 Exemplarisch Henssler, RdA 2011, 65; Bepler, NZA-Beil. 2011, Nr. 2, 73; Dieterich, ArbuR 2011, 46; Lehmann, BB 2010, 2237; Greiner, NZA 2010, 743; Löwisch, RdA 2010, 263; Rieble, Verfassungsfragen der Tarifeinheit (ZAAR Schriftenreihe Band 21), 2010; Rieble, DB 2010 Beilage zu Heft 44, 77; Konzen, JZ 2010, 1036; Bayreuther, DB 2010, 2223; positiv dagegen die Bewertung bei Giesen, ZfA 2011, 1; Papier, DB 2010 Beil. zu Heft 44, 75; Kempen, ArbuR 2011, 51; Schmitt-Rolfes, AuA 2010, 503; Waas, ArbuR 2011, 93. Überzeugend der pragmatische Vorschlag von Hanau, DB 2010, 2107, es einstweilen bei der Tarifpluralität zu belassen, den Entwurf aber als „Drohmittel“ in der gesetzgeberischen Schublade zu halten. 6 BGBl I 2015, 1130. 7 Defizite hinsichtlich Regelungsanlass und -ziel moniert mit Recht Schliemann, NZA 2014, 1250 f.; Defizite hinsichtlich der Umsetzung der vom Gesetzgeber verfolgten Ziele und seiner tatsächlichen Entscheidungsgrundlage Konzen/Schliemann, RdA 2015, 1 (1 f., 6); zur verfassungsrechtlichen Bedeutung von letzterem vgl. BVerfG v. 5.5.2009 – 1 BvR 1155/03 u.a., BVerfGE 125, 175 (226). 8 Vgl. auch HWK/Henssler, Einl. TVG Rz. 10 („Befriedung des Arbeitslebens“).
776 Greiner
Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 112 Teil 9
gen, die vielfach erodierte1 Befriedungswirkung des TVs zu sichern. Inwieweit dem TV eine „Ordnungsfunktion“ – auch jenseits der inhaltlichen Gestaltung der Arbeitsverhältnisse der jeweiligen Gewerkschaftsmitglieder – zukommt, ist hoch umstritten2; implizit bejaht das Gesetz ohne nähere Erläuterung diese Streitfrage, denn bei einer auf das einzelne Arbeitsverhältnis des Gewerkschaftsmitglieds begrenzten Ordnungsfunktion entstünde durch die Tarifpluralität kein regelungsbedürftiges Problem. Der „Verteilungsfunktion“ der Tarifautonomie3 widmet sich die amtliche Begründung 111 ausführlicher: Diese werde durch konkurrierende, einander überschneidende Tarifverträge beeinträchtigt4. Etwas verklausuliert wird damit vor allem der an Berufs- und Spartengewerkschaften gerichtete Vorwurf gruppenegoistischen Verhaltens angesprochen5: Ihre TVe bildeten nicht den Wert verschiedener Arbeitsleistungen innerhalb einer „betrieblichen Gemeinschaft“ ab, sondern seien Ausdruck der jeweiligen Schlüsselposition6 und einer damit verbundenen besonderen Arbeitskampffähigkeit. Innerbetriebliche Verteilungskämpfe gefährdeten den Betriebsfrieden und führten zu Verhandlungsergebnissen, die weder als verteilungs- noch als leistungsgerecht empfunden würden7. Die gerechte Güterverteilung ist eine klassische, letztlich (rechts)philosophische Streitfrage. Dass das TEG diese in ihren Grundstrukturen gesetzgeberisch regeln möchte, scheint fast vermessen. Im Kern entscheidet sich das TEG gegen eine marktförmige Güterverteilung und für ein Mischmodell zwischen staatlicher – planwirtschaftlicher – Steuerung und exklusiver Delegation von Steuerungsverantwortung an die jeweilige Mehrheitsgewerkschaft (zur verfassungsrechtlichen Bewertung vgl. Rz. 161 ff.)8. Erst die – in der letzten Phase des Gesetzgebungsverfahrens in § 4a Abs. 1 TVG aufgenommene – Ausrichtung auf die genannten überindividuellen Regelungsziele macht die Anwendung der Kollisionsregel auch bei einer vom Arbeitgeber freiwillig, ohne Arbeitskampfdruck akzeptierten Geltungsbereichsüberschneidung erklärbar, da bei alleinigem Bezug zu individuellen Rechtsgütern und Interessen des Arbeitgebers ein Schutzzweck für die Anwendung der Kollisionsregel des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG nicht erkennbar wäre9. Die in § 4a Abs. 1 TVG genannten Regelungsziele nehmen Gemeinwohlaspekte in 112 den Blick und weisen die Kollisionsregel als eine Norm des zwingenden Gesetzes-
1 Vgl. etwa die zu weiche Rechtsprechung etwa zum arbeitskampfrechtlichen Ultima-ratio-Prinzip seit BAG v. 21.6.1988 – 1 AZR 651/86, AP Nr. 108 zu Art. 9 GG Arbeitskampf und die Entwertung der Friedenspflicht durch Überbetonung ihrer Relativität, BAG v. 19.6.2007 – 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055; BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, NZA 2007, 987. 2 S. nur BeckOKArbR/Waas, (35. Ed.), § 1 TVG Rz. 14 m.w.N.; prinzipiell kritisch Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 663 f.; das BAG begrenzt die Bedeutung der Ordnungsfunktion heute streng auf das Rechtsverhältnis der tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien, vgl. zuletzt BAG v. 15.4.2015 – 4 AZR 796/13, juris Rz. 52. 3 Dazu Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 12 II 7 a, S. 496; Wiedemann/Wiedemann, TVG, Einl. Rz. 7 ff.; BeckOKArbR/Waas, (35. Ed.), § 1 TVG Rz. 15. 4 BT-Drucks. 18/4062, S. 8. 5 Vgl. bereits Bayreuther, NZA 2008, 12 (15); Bayreuther, BB 2005, 2633 (2640 f.); Bepler, NZABeil. 2010, 99 (100). 6 BT-Drucks. 18/4062, S. 8. 7 BT-Drucks. 18/4062, S. 8. 8 Krit. dazu auch Konzen/Schliemann, RdA 2015, 1 (6). 9 So auch Stellungnahme Deutscher Anwaltverein, S. 4, abrufbar unter http://anwaltverein.de/ de/newsroom/sn-60-14 (zuletzt abgerufen am 2.9.2015).
Greiner
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Teil 9 Rz. 112a
Wirkung der Tarifnormen
rechts aus. Die tarifliche Regelungsmacht wird durch sie generell begrenzt: Ihr Zweck besteht nunmehr ausschließlich darin, die Güterverteilung innerhalb eines Betriebs entsprechend einem staatlich festgelegten Leitbild von Verteilungsgerechtigkeit zu steuern. Der Gesetzgeber votiert damit deutlich gegen die rein kollektiv-privatautonome Interpretation der Tarifautonomie1. Realisiert die Kollisionsregel in einem von Delegation staatlicher Regelungsmacht geprägten Umfeld somit übergreifende Gemeinwohlanliegen, kann sie von den dadurch gebundenen Tarifakteuren nicht wirksam abbedungen werden, selbst wenn alle konkurrierenden Gewerkschaften und die Arbeitgeberseite sich auf ihre Nichtanwendung einigen2. Allerdings dürfte auch hier die Praxis andere Wege finden: Wird bereits eine Geltungsbereichsüberschneidung vermieden (vgl. Rz. 116), liegt darin keine unzulässige rechtliche Abbedingung der Kollisionsregel, sondern eine tatsächliche Vermeidung ihrer Tatbestandsvoraussetzungen. Solange im Übrigen ein Konsens aller involvierten Tarifakteure besteht, die Kollisionsregel nicht zur Anwendung zu bringen, ist nicht ersichtlich, welche Instanz ihre Anwendung erzwingen könnte. Wie auch sonst im Tarifrecht gilt eine starke „normative Kraft des Faktischen“: Wo kein Kläger, da kein Richter. Daher haben es die Tarifparteien faktisch in der Hand, auch künftig die freie gewillkürte Tarifpluralität zu praktizieren. Erst im Konfliktfall greift die – dann zwingende – gesetzliche Kollisionsregel. Dieses Zusammenspiel von konsensualer Dispositivität und rechtlich zwingender Wirkung macht die Tarifsituation im Einzelfall schwer kalkulierbar und volatil. 112a In dieselbe Richtung weist das BVerfG in seiner Eilentscheidung über das Tarifeinheitsgesetz3. Löwisch4 hat treffend herausgearbeitet, dass dem BVerfG offenbar eine Interpretation vorschwebt, nach der die tarifverdrängende Wirkung des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG nicht ipso iure eintritt, sondern nur dann, wenn eine antragsberechtigte Partei ein Verfahren nach in §§ 2a Abs. 1 Nr. 6, 99 ArbGG (s.u. Rz. 129 ff.) zur Mehrheitsfeststellung durchgeführt hat (sog. „Tarifeinheit auf Antrag“)5. Dafür spricht die Formulierung des BVerfG: „Unterbleibt ein Antrag an die Arbeitsgerichte, ist der Arbeitgeber nach § 4a Abs. 2 Satz 1 TVG weiter an unterschiedliche Tarifverträge gebunden, denn die Neuregelung soll ‚subsidiär‘ gelten“6. Geht man diesen Weg, wird die Tarifeinheit im Betrieb umfassend parteidispositiv, denn die antragsberechtigten Tarifvertragsparteien haben es jeweils in der Hand, ein Verfahren einzuleiten oder nicht. Der Antrag nach §§ 2a Abs. 1 Nr. 6, 99 ArbGG wäre nicht mehr Feststellungs-, sondern Gestaltungsantrag7. Jedenfalls im Ergebnis deckt sich diese Lesart mit dem soeben (Rz. 112) skizzierten rechtstatsächlichen Befund. Ob das BVerfG ihn verrechtlichen will, indem 1 Vgl. BAG v. 25.2.1998 – 7 AZR 641/96, NZA 1998, 715; BAG v. 27.5.2004 – 6 AZR 129/03, NZA 2004, 1399; BAG v. 4.4.2000 – 3 AZR 729/98, NZA 2002, 917; BAG v. 31.7.2002 – 7 AZR 140/01, NZA 2002, 1155; BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920 (Rz. 40); BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068 (Rz. 22); Zöllner, RdA 1961, 453 (456 ff.); Zöllner, RdA 1964, 443; Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, 1964, S. 47 ff., 292 ff.; Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, 2005, S. 91 ff.; Dieterich, FS Schaub, 1998, S. 117 (121); Picker, ZfA 1998, 573 (675 ff.); Scholz, RdA 2001, 193 (195); Richardi, ZfA 2003, 655 f.; Richardi, FS Konzen, 2006, S. 791 f. 2 Ebenso Konzen/Schliemann, RdA 2015, 1 (9); umfassend und abwägend zum Problem Bepler, RdA 2015, 194. 3 BVerfG v. 6.10.2015 – 1 BvR 1571/15 u.a., NZA 2015, 1271; näher dazu Rz. 161. 4 Löwisch, NZA 2015, 1369. 5 Löwisch, NZA 2015, 1369. 6 BVerfG v. 6.10.2015 – 1 BvR 1571/15 u.a., NZA 2015, 1271. 7 Treffend Löwisch, NZA 2015, 1369.
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Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 115 Teil 9
es von der faktischen Problematik auf eine echte Begrenzung der materiell-rechtlichen Wirkungen des § 4a Abs. 2 TVG schließt, ist noch nicht abschließend zu beantworten. Hier dürfte das Hauptsacheverfahren Klärung bringen. In dieser materiell-rechtlichen Begrenzung contra legem eine verfassungskonforme Auslegung zu sehen1, scheint zweifelhaft, da immer noch jede antragsberechtigte Partei es in der Hand hätte, die tarifverdrängende Wirkung herbeiführen könnte, indem sie das gerichtliche Verfahren initiiert. Die Verfassungsbedenken gegen § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG würden damit allenfalls gemildert, nicht aber beseitigt. ee) Voraussetzung: Tarifkollision § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG enthält zunächst die Legaldefinition, dass eine sog. „Tarifkol- 113 lision“ dann gegeben ist, wenn sich die Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften innerhalb eines Betriebs in zeitlicher, räumlicher, sektoraler, fachlicher und persönlicher Hinsicht überschneiden2. Vermieden wird der durchaus positiv konnotierte Begriff der „Tarifpluralität“, möglicherweise, um die Regelungsbedürftigkeit bereits begrifflich zu verdeutlichen und die Bezüge zur gesellschaftspolitischen Pluralismusdebatte3 nicht zu deutlich werden zu lassen. Eine Tarifkollision setzt ferner – wie sich bereits aus § 4a Abs. 2 Satz 1 TVG ergibt – 114 voraus, dass der Arbeitgeber an die im Betrieb kollidierenden TVe gebunden i.S.d. § 3 TVG ist. Daran fehlt es, wenn einer der TVe nur kraft AVE (§ 5 TVG) oder einer anderen Form staatlichen Geltungserstreckung anwendbar ist (s. Teil 7). Für das Aufeinandertreffen von mitgliedschaftlich legitimiertem und staatlich erstrecktem TV trifft § 4a TVG keine Regelung4. Es bleibt dann bei den jeweils geltenden Vorrangregeln, z.B. § 5 Abs. 4 TVG (s. Teil 7 Rz. 91 ff., 193 ff.). An der erforderlichen Bindung an mehrere TVe fehlt es ferner im Gemeinschaftsbetrieb mehrerer Unternehmen, wenn die beteiligten Arbeitgeber unterschiedlich tarifgebunden sind (vgl. zu dieser Konstellation bereits Teil 8 Rz. 56). § 4a TVG findet dann hinsichtlich der Individualnormen der TVe keine Anwendung, sondern die unterschiedlichen TVe gelten innerhalb des Betriebes nebeneinander für die jeweiligen Vertragsarbeitnehmer. Anderes gilt hinsichtlich der Tarifnormen zu betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Fragen i.S.d. § 3 Abs. 2 TVG (sog. Kollektivnormen), da im Gemeinschaftsbetrieb betriebsverfassungsrechtlich nur ein einheitlicher „Arbeitgeber“ in Gestalt der durch die Führungsvereinbarung gesellschaftsrechtlich verbundenen Vertragsarbeitgeber existiert5; dieser dürfte an die Kollektivnormen sämtlicher TVe gebunden sein, in deren Geltungsbereich der Gemeinschaftsbetrieb fällt und an den einer der Rechtsträger des Gemeinschaftsbetriebs seinerseits gebunden ist. Raum für eine Tarifkollision besteht dann nur hinsichtlich der Kollektivnormen. Rechtsfolge der Kollisionsregel des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG ist, dass innerhalb des Be- 115 triebs, in welchem die Tarifkollision auftritt, nur die Rechtsnormen des Tarifvertrags derjenigen Gewerkschaft gelten, die den höchsten Mitgliederbestand im Betrieb auf1 So Löwisch, NZA 2015, 1369, 1370. 2 Scholz/Lingemann/Ruttloff, NZA-Beilage 3/2015, 15; s.o. Teil 8 Rz. 13. 3 Dazu Greiner, Rechtsfragen, S. 19 ff.; anschaulich auch Rüthers, ZRP 2015, 2 (4) („gesetzlich verordnete uniforme Zwangsorganisation“). 4 Näher Däubler/Bepler/Däubler, Das neue Tarifeinheitsrecht, 2016, Rz. 73 ff. 5 Vgl. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 397 ff.
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Teil 9 Rz. 116
Wirkung der Tarifnormen
weist. Dies gilt im Grundsatz unabhängig von den geregelten Inhalten, also unabhängig vom Vorliegen einer inhaltlichen Kollision (Umkehrschluss aus § 4a Abs. 3 TVG). Somit würde z.B. ein Tarifvertrag der Minderheitsgewerkschaft, der für deren Mitglieder Fragen der betrieblichen Altersversorgung regelt, auch dann verdrängt, wenn der MehrheitsTV kein System der betrieblichen Altersversorgung begründet. Die Kollisionslage besteht auch dann fort, wenn sich der verdrängende MehrheitsTVs im Stadium der Nachwirkung (§ 4 Abs. 5 TVG, vgl. Rz. 21 ff.) befindet: Für die Tarifkollision kommt es allein auf die unmittelbare Wirkung der TVe an, die im Nachwirkungsstadium – anders als die zwingende Wirkung – weiterhin zu konstatieren ist. 116 § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG macht die Geltungsbereichsüberlappung zur Voraussetzung für das Eingreifen der gesetzlichen Kollisionsregel. Dies löst einerseits zwar das Problem des ursprünglichen DGB/BDA-Entwurfs von 2010 (vgl. Rz. 109), dass, wenn ausnahmsweise in einem Betrieb eine Berufsgewerkschaft die Mehrheit repräsentiert, der Branchentarifvertrag verdrängt worden und ein nicht abwendbarer tarifloser Zustand für viele Belegschaftsangehörige eingetreten wäre1. Andererseits aber ergibt sich nach der heutigen Fassung des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG als zusätzliche Gestaltungsmöglichkeit die Kollisionsvermeidung2: Die nach dem Industrieverbandsprinzip organisierte Branchengewerkschaft kann den Geltungsbereich ihres TVs so ausgestalten, dass eine ihr nachteilige Überschneidung nicht eintritt, indem z.B. eine Berufsgruppe, die weit überwiegend in einer konkurrierenden Gewerkschaft organisiert ist, aus dem Geltungsbereich ausgeschlossen wird (vgl. Teil 8 Rz. 87). Selbst der persönliche Geltungsbereich eines Flächentarifvertrags könnte differenzierend eine bestimmte Berufsgruppe in all jenen Betrieben von der Geltung des Flächentarifvertrags ausschließen, in welchen ein für diese einschlägiger, konkurrierender Berufstarifvertrag der MehrheitsTV ist3. Durch diese abstrakt-generelle Nachrangklausel könnte die Tarifkollision und damit das zulasten der Branchengewerkschaft wirkende Eingreifen von § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG vermieden werden. Berufsgewerkschaften verfügen angesichts ihres beschränkten Wirkungskreises über keine vergleichbare Gestaltungsmöglichkeit. ff) Bezugspunkt: Betrieb 117 Gegenständlicher Bezugspunkt und Rahmen der Mehrheitsermittlung nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG ist der Betrieb. Dies ist nach der klassischen Definition Erwin Jacobis4 die organisatorische Einheit, innerhalb derer der Arbeitgeber mithilfe sächlicher und immaterieller Mittel sowie der Belegschaft bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt. Begriffliches Kernelement ist nach heute allgemeiner Ansicht die einheitliche Organisation und Steuerung des Einsatzes von Personal und Betriebsmitteln, die sich insbesondere in einer einheitlichen Personalleitungsstruktur manifestiert5. Den Betriebszuschnitt zu gestalten, liegt in der Hand des Unterneh-
1 2 3 4 5
Dazu Greiner, NZA 2010, 743 (744). Ebenso Konzen/Schliemann, RdA 2015, 1 (9). Greiner, RdA 2015, 36 (37) mit Beispiel. Jacobi, in: FS Ehrenberg, 1926, S. 1 ff. Näher Preis, RdA 2000, 257 ff. (Arbeitnehmernähe und Entscheidungsnähe als prägende Elemente in betriebsverfassungsrechtlicher Hinsicht); weiterhin Konzen/Schliemann, RdA 2015, 1 (11); Konzen, AuR 1985, 341 (348 f.).
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Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 120 Teil 9
mens, das autonom über die Personalleitungsstruktur entscheidet (zu Einzelfragen des Betriebsbegriffs vgl. bereits ausf. Teil 8 Rz. 53 ff.). (1) Beeinflussung der Tarifwirkungen durch Betriebszuschnitt § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG führt dazu, dass die grundsätzlich freie unternehmerische Ent- 118 scheidung über die Betriebsstruktur erhebliche tarifpolitische Folgen entfaltet1: Mittelbar kann das Unternehmen durch die Ausgestaltung der Betriebsstruktur Einfluss auf die Tarifgeltung nehmen, indem etwa die Betriebe so festgelegt werden, dass eine dem Unternehmensinteresse besonders zugeneigte Gewerkschaft (polemisch mitunter als „Hausgewerkschaft“ bezeichnet) Mehrheitsgewerkschaft in zentralen Schlüsselbetrieben wird2. Diese Beeinflussung der Tarifgeltung durch unternehmerische Organisationsmaßnahmen ist allerdings nichts gänzlich Neues: Schon in der Vergangenheit konnte insbes. durch Outsourcing die Branchenzugehörigkeit und folglich – in den Grenzen von § 613a Abs. 1 Satz 2, 3 BGB – mittelbar die Tarifgeltung beeinflusst werden (vgl. ausf. Teil 15 Rz. 17 ff.). Auch dies wird tarifrechtlich als Durchbrechung der zwingenden Normwirkung nach § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG bewertet3, ist allerdings beim (echten) Outsourcing dadurch legitimiert, dass die Beeinflussung der Tarifgeltung Konsequenz einer ihrerseits grundrechtlich fundierten Berufswahlentscheidung (Art. 12 Abs. 1 GG) auf Unternehmerseite ist. An diesem grundrechtlichen Legitimationsfundament fehlt es bei der bloßen Änderung der Personalführungsstruktur. Die durch den Betriebsbezug des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG bewirkte Schwächung der zwingenden Tarifnormwirkung (vgl. Rz. 10 ff.) ist daher insbes. dann bedenklich, wenn man als Grundlage der zwingenden Wirkung Art. 9 Abs. 3 GG betrachtet (vgl. Rz. 10) und ihr damit verfassungsrechtlichen Rang beimisst. Praktisch dürfte die Gefahr der Tarifmanipulation durch Betriebszuschnitt insofern zu 119 relativieren sein, als nur in seltenen Fällen tarifpolitische Überlegungen so große Bedeutung erlangen werden, dass ansonsten als zweckmäßig wahrgenommene Betriebsstrukturen geändert werden, um durch Anwendung des betriebsbezogenen Mehrheitsprinzips tarifrechtlich gewünschte Resultate herbeizuführen. Regelmäßig werden tarifrechtliche bzw. tarifpolitische Wirkungen auch künftig nur einer unter vielen Gesichtspunkten bei der Ausgestaltung der Betriebsstruktur sein, und zwar ein eher nebensächlicher4. (2) Beeinflussung der Tarifwirkungen durch tarifliche Festlegung der Betriebsratsstruktur (§ 3 BetrVG) Eine Beeinflussung der Tarifnormwirkungen ohne Änderung der Personalführungs- 120 struktur und mithin ohne die vorbeschriebenen Nachteile ist auf anderem Wege möglich: Nach § 4a Abs. 2 Satz 4 TVG gilt ein erweiterter Betriebsbegriff: Betriebe im ta1 So bereits Rieble, Anm. EzA § 4 TVG Geltungsbereich Nr. 10, S. 18 („unerträgliche Konsequenz“); in jüngerer Zeit Bayreuther, NZA 2013, 1395 (1397); Däubler, Gutachten zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Tarifeinheitsgesetz, S. 6 f., abrufbar unter http://dokumente. linksfraktion.net/download/20150109-gutachten-tarifeinheit.pdf (zuletzt abgerufen am 8.10.2015); Preis, FA 2014, 354; Schliemann, NZA 2014, 1250 (1252). 2 Ähnlich Preis, FA 2014, 354. 3 Vgl. nur Bepler, RdA 2009, 65 (69 f.) m.w.N. 4 Vgl. bereits Greiner, NZA 2015, 769 (772).
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Teil 9 Rz. 121
Wirkung der Tarifnormen
rifrechtlichen Sinne sind auch Betriebe nach § 1 Abs. 1 Satz 2 BetrVG (Gemeinschaftsbetriebe mehrerer Unternehmen) und – vor allem relevant – Betriebe, die durch Tarifvertrag nach § 3 Abs. 1 Nr. 1–3 BetrVG errichtet werden. Unternehmen und (Mehrheits-)Gewerkschaft können folglich den allgemeinen Betriebsbegriff als halbwegs objektiven Rahmen der Mehrheitsbetrachtung abbedingen und durch einen subjektiv-tarifautonom definierten Bezugspunkt ersetzen. Dazu muss die Personalführungs- oder Betriebsmittelstruktur keine Änderung erfahren. Vielmehr muss allein die Betriebsratsstruktur gem. § 3 Abs. 1 Nr. 1–3 BetrVG abweichend von den betriebsverfassungsrechtlichen Grundsätzen festgelegt werden. Hierdurch könnte z.B. erreicht werden, dass das gesamte Unternehmen (unternehmenseinheitlicher Betriebsrat, § 3 Abs. 1 Nr. 1a BetrVG), oder eine Unternehmenssparte (Spartenbetriebsräte, § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG) als „Betrieb“ i.S.d. § 4a Abs. 2 Satz 2, 4 TVG zu betrachten ist1. 121 Die Auffangregelung des § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG ermöglicht – positiv – eine modifizierte Betriebsratsstruktur bereits, „soweit dies insbesondere aufgrund der Betriebs-, Unternehmens- oder Konzernorganisation oder aufgrund anderer Formen der Zusammenarbeit von Unternehmen einer wirksamen und zweckmäßigen Interessenvertretung der Arbeitnehmer dient“2. Andererseits ist eine – negative – inhaltliche Grenze für die tarifrechtlichen Wirkungen nach § 4a Abs. 2 Satz 4 TVG erst dann erreicht, wenn die Vereinbarung den Zielen des § 4a Abs. 1 TVG (vgl. Rz. 110 ff.) „offensichtlich entgegensteht“, § 4a Abs. 2 Satz 4 letzter Halbs. TVG. Letzteres ist eine dehnbare Formulierung, die den Arbeitsgerichten eine gewisse Tarifinhaltskontrolle ermöglicht, aber nur Evidenzfälle missbräuchlicher Gestaltungen ausschließt. Als missbräuchlich wird dabei nicht etwa eine Mehrheitsmanipulation zulasten von Minderheiten erfasst, sondern allein eine Unvereinbarkeit mit den Gesetzeszielen des Tarifeinheitsgesetzes. Die Regelung bewirkt damit einseitigen Schutz, der sich v.a. gegen tarifliche Gestaltungen zugunsten von Berufs- und Spartengewerkschaften richten dürfte, denn vor allem diese laufen Gefahr, tarifpolitisch mit den in § 4a Abs. 1 TVG normierten Gesetzeszielen in Konflikt zu geraten. 122 Der von der Unternehmensseite zu zahlende Preis in Gestalt drohender Reibungsverluste und Implementierungsprobleme ist deutlich geringer als bei dem unter Rz. 118 f. beschriebenen Vorgehen: Mit der Mehrheitsgewerkschaft muss lediglich eine Einigung über einen modifizierten Zuschnitt der Betriebsratsstrukturen erzielt werden. Häufig wird eine Einigung schon dann im beidseitigen Interesse liegen, wenn hierdurch Minderheitsgewerkschaften Betätigungsmöglichkeiten genommen werden. Infolge dieser typischen „kollusiven“ Interessenlage dürfte der in §§ 4a Abs. 2 Satz 4 TVG, 3 Abs. 1 Nr. 1–3 BetrVG vorgezeichnete Weg zur Beeinflussung der Tarifnormgeltung in der Praxis Bedeutung erlangen. Die Initiative zu einer Regelung nach § 3 Abs. 1 Nr. 1–3 BetrVG kann auch von einer Gewerkschaft ausgehen, die hierüber sogar einen Arbeitskampf führen kann3. Ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Tarif1 Zu Gestaltungsmöglichkeiten und Grenzen etwa Richardi, FS Wiedemann, S. 493; Thüsing, ZIP 2003, 693; Annuß, NZA 2002, 290; Hohenstatt/Dzida, DB 2001, 2498; Giesen, BB 2002, 1480. 2 Zutreffende eingrenzende Interpretationsansätze, die durch die tarifrechtliche Rechtsfolge weiter an Bedeutung gewinnen, bei Richardi/Richardi, BetrVG, § 3 BetrVG Rz. 37 ff. m.w.N. 3 BAG v. 29.7.2009 – 7 ABR 27/08, NZA 2009, 1424; a.A. Reichold, NZA 2001, 857 (859); Thüsing, ZIP 2003, 693 (697, 701 [bzgl. § 3 Abs. 1 Nr. 2 und 3 BetrVG]).
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Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 124 Teil 9
vertrags nach § 3 Abs. 1 Nr. 1–3 BetrVG stellt dann der tarifautonom definierte „Betrieb“ den Rahmen der Mehrheitsbetrachtung nach § 4a Abs. 2 Satz 2, 4 TVG dar. Theoretisch kann auch (ausschließlich) eine Minderheitsgewerkschaft eine Regelung 123 i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1–3 BetrVG durchsetzen, um dadurch in einem Teilbereich des Unternehmens – etwa einer tarifautonom definierten betriebsübergreifenden Sparte – Mehrheitsgewerkschaft zu werden. § 4a Abs. 3 TVG stellt ausdrücklich klar, dass ein solcher TV nicht pauschal durch einen konkurrierenden MehrheitsTV verdrängt wird, sondern nur dann, wenn der MehrheitsTV seinerseits auch die Frage der Betriebsratsstruktur inhaltlich regelt. Nun spricht viel dafür, dass jeder MehrheitsTV, der keine Modifikation nach § 3 Abs. 1 Nr. 1–3 BetrVG normiert, so auszulegen ist, dass er stillschweigend die gesetzliche Betriebsratsstruktur (§§ 1, 4 BetrVG) zugrunde legt. Auch diese stillschweigende deklaratorische Regelung dürfte bereits ausreichen, um eine Tarifkollision gerade zur Frage der Betriebs(rats)struktur entstehen zu lassen – mit den sogleich unter Rz. 124 f. zu erörternden Konsequenzen. Im Übrigen wird die Mehrheitsgewerkschaft i.d.R. schnell nachziehen1 und ihrerseits eine Regelung zur Betriebs(rats)struktur verlangen, wenn eine Minderheitsgewerkschaft eine für sie günstige Regelung nach § 3 Abs. 1 Nr. 1–3 BetrVG durchgesetzt hat. Die in § 4a Abs. 3 TVG vermeintlich angelegte Gestaltungsmöglichkeit einer Minderheitsgewerkschaft dürfte daher praktisch kaum Bedeutung erlangen. Schwierige Probleme ergeben sich, wenn in einem Unternehmen mehrere konkurrie- 124 rende Tarifverträge nach § 3 Abs. 1 Nr. 1–3 BetrVG die Betriebsratsstruktur und folglich mittelbar den erweiterten tarifrechtlichen Betriebsbegriff abweichend festlegen. Gibt dann einer der kollidierenden TVe i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1–3 BetrVG den Rahmen für die Mehrheitsermittlung nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG vor oder bleibt es beim allgemeinen Betriebsbegriff? Folgt man dem erstgenannten Ansatz, könnte allenfalls die im MehrheitsTV festgelegte Betriebs(rats)struktur den Rahmen für die Mehrheitsermittlung vorgeben. Dann droht jedoch eine petitio principii: Ein TV gäbe als MehrheitsTV normativ die Spielregeln zur Mehrheitsermittlung vor, obwohl er durch deren Anwendung überhaupt erst zum MehrheitsTV innerhalb des in ihm normierten Bezugsrahmens würde. Richtigerweise muss es für die Mehrheitsermittlung in diesem Kollisionsfall daher bei der gesetzlichen Grundregel des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG bleiben und die Mehrheitsbetrachtung am Rahmen des allgemeinen Betriebsbegriffs orientiert werden2. § 4a Abs. 3 TVG klammert somit lediglich den (theoretischen) Fall von der Anwendung des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG aus, dass nur der MinderheitsTV die Betriebs(rats)struktur regelt, der MehrheitsTV zu dieser Frage aber keine – ggf. durch Auslegung zu ermittelnde (vgl. Rz. 123) – Regelung enthält.
1 Diese Möglichkeit negieren Konzen/Schliemann, RdA 2015, 1 (8). 2 Für die Kollision von Betriebsverfassungsnormen nach § 3 Abs. 1 BetrVG schon früher ganz h.M., vgl. nur Jacobs/Krause/Oetker/Jacobs, Tarifvertragsrecht, § 7 Rz. 221; Witzig, Der Grundsatz der Tarifeinheit und die Lösung von Tarifkonkurrenzen, S. 107; Reichold, RdA 2007, 321 (327); Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, S. 308 ff.; Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, S. 396 f.; Bayreuther, NZA 2007, 187 (189); Däubler/ Zwanziger, Tarifvertragsgesetz, § 4 Rz. 935, jeweils m.w.N.; a.A. Waas, Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität, S. 132 f.; auf das Erfordernis einer modifizierten Betrachtung bei betriebsverfassungsrechtlichen Organisationsnormen, die die Grundlage einer Arbeitnehmervertretung bilden (insbes. § 3 BetrVG) weist Franzen, RdA 2008, 193 (199) hin; dazu auch Plander, FS ARGE Arbeitsrecht im DAV, S. 969.
Greiner
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Teil 9 Rz. 125
Wirkung der Tarifnormen
125 Bleibt es somit für die Mehrheitsermittlung beim allgemeinen Betriebsbegriff als dem gesetzlichen Bezugspunkt des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG, ergeben sich bei der Kollision konkurrierender TVe mit Regelungen nach § 3 Abs. 1 Nr. 1–3 BetrVG missliche und unpraktische Konsequenzen: Die modifizierte Betriebsratsstruktur hängt wiederum betriebsbezogen von den jeweiligen Mehrheitsverhältnissen ab: Sind im TV der Gewerkschaft A Spartenbetriebsräte, im TV der Gewerkschaft B hingegen Regionalbetriebsräte1 vereinbart, wären für die Betriebe, in denen Gewerkschaft A Mehrheitsgewerkschaft ist, Spartenbetriebsräte zu bilden, während für die Betriebe, in denen Gewerkschaft B Mehrheitsgewerkschaft ist, Regionalbetriebsräte gebildet werden müssten. Bei wechselnden Mehrheitsverhältnissen ist eine dysfunktionale, schwankende Betriebsverfassungsstruktur die Konsequenz2. Sachgerecht wäre nur eine betriebsübergreifende Mehrheitsbetrachtung im sachlichen Überschneidungsbereich der kollidierenden Tarifnormen; für diese fehlt aber eine gesetzliche Grundlage3. 126 Die zentrale Frage, wie man den Zeitpunkt der Mehrheitsermittlung mit den Amtsperioden der Betriebsräte harmonisiert4, lässt der Gesetzgeber ungelöst. Sachgerecht wäre es, die Mehrheitsfeststellung immer nur zum Stichtag einer bevorstehenden Betriebsratswahl vorzunehmen. Eine Veränderung der mehrheitlichen mitgliedschaftlichen Legitimation würde dann erst zum Beginn der nächsten Amtsperiode der Betriebsräte Wirkung entfalten. In jedem Fall muss die Funktionserhaltung der betriebsverfassungsrechtlichen Repräsentationsstrukturen Leitlinie der Gesetzesanwendung sein5; die eigentlich gebotene detaillierte Ausgestaltung hat der Gesetzgeber bedauerlicherweise unterlassen. gg) Mehrheitsprinzip; Verfahren der Mehrheitsfeststellung 127 Neben den Betriebsbezug tritt als weiteres Gestaltungselement das Mehrheitsprinzip: Die Gewerkschaft, die im Betrieb relativ die meisten Mitglieder hat, kann als einzige Tarifverträge abschließen, denen Normwirkung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG zukommt. Das Tarifvertragssystem entfernt sich damit vom Modell einer mitgliedschaftsbezogenen Selbstbestimmungsordnung, in der jede frei gegründete Gewerkschaft Tarifnormen für ihre Mitglieder schaffen konnte, und nähert sich dem Modell der staatlichen oder betriebsverfassungsrechtlichen Rechtsetzung, bei welcher das Mehrheitsprinzip traditionell das demokratische Entscheidungsmodell ist. Naheliegend ist dann die verfassungsrechtliche Fragestellung, ob das in § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG verankerte Mehrheitsprinzip den Erfordernissen gerecht wird, die das BVerfG aus dem grundgesetzlichen Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) für demokratische Wahlen und Abstimmungen als Vorbedingung demokratisch legitimierter Rechtsnormsetzung ableitet (vgl. Rz. 175)6.
1 S. Richardi/Richardi, BetrVG, § 3 Rz. 20; weiterhin BT-Drucks. 14/5741, S. 34. 2 Näher Greiner, NZA 2015, 769 (772), dort auch ein Lösungsansatz. 3 Der Gesetzgeber spricht sich sogar dezidiert gegen das auch insofern vorzugswürdige Alternativmodell einer Tarifeinheit im Überschneidungsbereich aus, vgl. BT-Drucks. 18/4062, S. 10. 4 Näher Voraufl. Rz. 127; generell zur Problematik BAG v. 29.7.2009 – 7 ABR 27/08, NZA 2009, 1424. 5 Weitergehend Konzen/Schliemann, RdA 2015, 1 (8), die hier ein die Mehrheitsregel verdrängendes Prioritätsprinzip anwenden wollen. 6 Ausf. Greiner, RdA 2015, 36 (38).
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Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 130 Teil 9
Um einen problematischen Sonderfall handelt es sich, wenn mehrere Minderheits- 128 gewerkschaften zusammengenommen mehr Mitglieder im Betrieb aufweisen als die (relative) „Mehrheitsgewerkschaft“. Da § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG die relative Mehrheit einer Gewerkschaft genügen lässt, verbliebe es selbst dann bei der alleinigen Tarifierungsmacht der relativen Mehrheitsgewerkschaft, wenn sich die Minderheitsgewerkschaften zu einer Tarifgemeinschaft (vgl. Teil 2 Rz. 178 ff.) zusammenschlössen1. Um dem Postulat demokratischer Tariflegitimation und damit Folgerungen aus Art. 20 Abs. 1 GG gerecht zu werden, müsste in dieser Konstellation der Begriff der „Gewerkschaft“ i.S.d. § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG verfassungskonform so ausgelegt werden, dass auch eine Tarifgemeinschaft von Minderheitsgewerkschaften Mehrheits-„Gewerkschaft“ i.S.d. § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG sein kann. (1) Verfahrensrechtlicher Standort der Mehrheitsfeststellung Auf die Tarifgeltung nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG und damit die Mehrheitsverhältnis- 129 se im Betrieb kann es in zahlreichen Verfahrenskonstellationen ankommen, etwa wenn ein Arbeitnehmer tarifliche Ansprüche im Urteilsverfahren geltend macht oder im einstweiligen Rechtsschutz um die Rechtmäßigkeit eines Arbeitskampfes. Die Frage kann auch isoliert geklärt werden und die Mehrheit einer Gewerkschaft im Betrieb somit Verfahrensgegenstand eines speziellen, durch das TEG geschaffenen und in §§ 2a Abs. 1 Nr. 6, 99 ArbGG geregelten Beschlussverfahrens sein. Die Verknüpfung dieses speziellen Beschlussverfahrens zu den anderen Verfahrens- 130 konstellationen wird dadurch erreicht, dass der Beschluss im Verfahren nach §§ 2a Abs. 1 Nr. 6, 99 ArbGG erga omnes und nicht nur inter partes wirkt (§ 99 Abs. 3 ArbGG). Ihm kommt somit eine abstrakt-generelle Wirkung zu. Auch der Arbeitnehmer, der tarifliche Ansprüche im Individualprozess gegen seinen Arbeitgeber geltend macht, könnte sich somit auf den rechtskräftigen Beschluss nach §§ 2a Abs. 1 Nr. 6, 99 ArbGG stützen. Um dies praktisch zu ermöglichen, sieht der novellierte § 8 TVG vor, dass der die Mehrheit feststellende Beschluss nach § 8 TVG bekanntzumachen ist. Wird das Beschlussverfahren nach §§ 2a Abs. 1 Nr. 6, 99 ArbGG durchgeführt, ergibt sich damit eine umfassende Klärung der Mehrheitsverhältnisse und der normativen Tarifgeltung für den Betrieb. Für das Verfahren gelten gemäß § 99 Abs. 2 ArbGG die in §§ 80–82 Abs. 1 Satz 1, 83–84, 87–96a ArbGG geregelten Verfahrensgrundsätze des Beschlussverfahrens. Antragsberechtigt im Verfahren sind die Parteien der kollidierenden TVe, § 99 Abs. 1 ArbGG. Diese haben es damit in der Hand, eine Klärung herbeizuführen. Entscheiden sie sich dagegen, das Verfahren nach §§ 2a Abs. 1 Nr. 6, 99 ArbGG einzuleiten, bleibt die Frage der Tarifnormgeltung ungeklärt. Diese Wirkung könnte dazu veranlassen, dem Beschluss nicht nur feststellende, sondern gestaltende Wirkung beizumessen2, so dass erst der rechtskräftige Beschluss materiellrechtlich die Tarifverdrängung nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG eintreten lässt (näher Rz. 112a). Um vor allem im Individualprozess, mit dem ein Arbeitnehmer tarifliche Ansprüche geltend macht, kein verfassungswidriges Rechtsschutzdefizit eintreten zu lassen, bietet sich eine analoge Anwendung von § 97 Abs. 5 ArbGG an, so dass das erkennende Gericht des Individualrechtsstreits das Verfahren bis zur Erledigung eines 1 Vgl. schon Bayreuther, NZA 2013, 1395 (1397). 2 Dafür Löwisch, NZA 2015, 1369 unter Berufung auf BVerfG v. 6.10.2015 – 1 BvR 1571/15 u.a., NZA 2015, 1271; näher dazu Rz. 112a.
Greiner
785
Teil 9 Rz. 131
Wirkung der Tarifnormen
einzuleitenden Beschlussverfahrens nach §§ 2a Abs. 1 Nr. 6, 99 ArbGG auszusetzen hat1. Analog § 97 Abs. 5 Satz 2 ArbGG wären dann auch die Parteien des Individualrechtsstreits – Arbeitnehmer und Arbeitgeber – im Hinblick auf das Beschlussverfahren antragsberechtigt2. Nur auf diese Weise lässt sich die zur Mehrheitsfeststellung notwendige Verfahrensbeteiligung aller Gewerkschaften (vgl. § 83 ArbGG) erreichen, die am Ausgangsverfahren ja nicht beteiligt sind. Theoretisch könnte dieser Weg auch im einstweiligen Verfügungsverfahren (§§ 62 Abs. 2 ArbGG, 935 ff. ZPO), mit dem das Unternehmen den Arbeitskampf einer Minderheitsgewerkschaft untersagen lassen will (zu dieser Möglichkeit vgl. Rz. 159 f.), beschritten werden; die Inzidentfeststellung im Beschlussverfahren dürfte aber mit der Eilbedürftigkeit der Entscheidung in dieser Konstellation kaum vereinbar sein. So bleibt jedenfalls in dieser Verfahrenskonstellation ein problematisches Rechtsschutzdefizit3. 131 In allen genannten Verfahrenskonstellationen stellt sich die Frage nach der Beweisbarkeit des jeweiligen Mitgliederstands der konkurrierenden Gewerkschaften im Betrieb. Hierzu stehen alle Beweismittel zur Verfügung, die in der jeweiligen Verfahrensart in Betracht kommen (vgl. §§ 58 ArbGG für das Urteilsverfahren, §§ 83 Abs. 2 ArbGG für das Beschlussverfahren, § 294 Abs. 1 ZPO für den einstweiligen Rechtsschutz). Dazu gehört auch die Beweisführung durch Vorlage öffentlicher Urkunden (Urkundenbeweis durch notarielle Erklärung, § 415 ZPO). Der Gesetzgeber hält dieses ohnehin gegebene Beweismittel für so wichtig, dass er – deklaratorisch – in § 58 Abs. 3 ArbGG die mittelbare Beweisführung durch notarielle Urkunde über den Mitgliederstand einer Gewerkschaft ausdrücklich hervorhebt. Die Gesetzesbegründung verdeutlicht zusätzlich, dass diese Möglichkeit nicht auf das Beschlussverfahren nach §§ 2a Abs. 1 Nr. 6, 99 ArbGG beschränkt ist4, sondern in jeder prozessualen Anwendungskonstellation von § 4a Abs. 2 TVG in Betracht kommt. (2) Vereinbarkeit mit dem BDSG und höherrangigem Recht 132 Das notarielle Verfahren ist nach hier vertretener, wenn auch umstrittener Auffassung datenschutzrechtlich zulässig und verletzt individuelle Grundrechte der Gewerkschaftsmitglieder (v.a. das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG) nicht5: Die Datenübermittlung dürfte nach § 28 Abs. 1 Nr. 2 BDSG zur Wahrung berechtigter Interessen der verantwortlichen Stelle, d.h. der jeweiligen Gewerkschaft, zugelassen sein. Beim notariellen Geheimverfahren besteht wegen der Verschwiegenheitspflicht des Notars auch kein Überwiegen schutzwürdiger Interessen der Betroffenen. Dagegen könnte der unmittelbare Beweis vor Gericht mit Blick auf das individuelle Geheimhaltungsinteresse der Gewerkschaftsmitglieder unzulässig sein, vor allem da mit dem notariellen Verfahren ein deutlich milderes Mittel zur Verfügung steht. Das notarielle Verfahren beinhaltet keine Grundrechts1 A.A. Löwisch, NZA 2015, 1369, 1370, der gerade aus dem Fehlen einer Aussetzungspflicht ableitet, dass zunächst die kollidierenden TVe nebeneinander gelten, solange kein rechtskräftiger Beschluss im – allein durch die TV-Parteien zu initiierenden – Verfahren nach §§ 2a Abs. 1 Nr. 6, 99 ArbGG ergangen ist. 2 Ausf. Greiner, NZA 2015, 769 (774); zur Problematik auch schon Konzen/Schliemann, RdA 2015, 1 (9). 3 Ausf. Greiner, NZA 2015, 769 (774). 4 BT-Drucks. 18/4062, S. 16. 5 Vgl. dazu Bayreuther, NZA 2013, 1395 (1396); einschränkend Hofer, ZTR 2015, 185 (188).
786 Greiner
Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 133 Teil 9
verletzung des betroffenen Unternehmens; insbes. ist es mit seinem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG), auf effektiven Rechtsschutz und faires Verfahren vereinbar1. Begründungsbedürftig ist die Anwendbarkeit des § 28 Abs. 1 Nr. 2 BDSG. Auf den ers- 133 ten Blick spricht viel dafür, den spezialgesetzlichen § 28 Abs. 9 BDSG für einschlägig zu halten, der als lex specialis die Anwendbarkeit des allgemeinen § 28 Abs. 1 Nr. 2 BDSG sperren könnte. Die Sonderregelung knüpft an den ideellen, nicht-erwerbswirtschaftlichen Zweck der erfassten Organisationen an. Explizit genannt werden u.a. gewerkschaftliche Zwecke. § 28 Abs. 9 BDSG ermöglicht dann auch die Erhebung und Nutzung besonderer personenbezogener Daten i.S.d. § 3 Abs. 9 BDSG, u.a. zur Gewerkschaftszugehörigkeit, unterwirft die Übermittlung dieser Daten an Personen oder Stellen außerhalb der Organisation aber durch Verweis auf § 4a Abs. 3 BDSG einer spezifischen Restriktion: Sie ist nur mit einzelfallbezogener, spezifischer Einwilligung der Betroffenen zulässig2. Diese strengeren Voraussetzungen beruhen teleologisch zum einen auf der besonderen Sensibilität der besonderen personenbezogenen Daten3, zum anderen auf dem idR. strukturell fehlenden Bedürfnis rein ideell tätiger Organisationen, ihre Mitgliederdaten in Außenrechtsbeziehungen zu nutzen. Beide Schutzzwecke scheinen im Kontext des § 4a TVG aber nicht einschlägig. Zum einen weist die tarifliche Regelungstätigkeit der Koalitionen starke Bezüge zum erwerbswirtschaftlichen Bereich auf; sie ist final auf diesen hin orientiert und entfaltet ihre Wirksamkeit erst im Erwerbsleben. Die Tätigkeit der Gewerkschaften bei der Tarifnormsetzung ist strukturell auf Außenwirkung im erwerbswirtschaftlichen Bereich angelegt, und zwar unter öffentlicher Mitwirkung ihrer Mitglieder, z.B. im Arbeitskampf. Die Bedeutung des gewerkschaftlichen Mitgliederbestands geht damit – anders als bei Parteien oder Religionsgemeinschaften – über die reine Innenrechtsbeziehung der Gewerkschaft zu ihrem Mitglied weit hinaus. Sie ist auf die Begründung normativer Außenwirkungen geradezu angelegt. Im gegebenen Regelungskontext steht die Frage der Gewerkschaftszugehörigkeit einem allgemeinen personenbezogenen Datum viel näher als die anderen „besonderen personenbezogenen Daten“ i.S.d. § 3 Abs. 9 BDSG („Angaben über die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder philosophische Überzeugungen, Gesundheit oder Sexualleben), die allenfalls für die Innenrechtsbeziehungen der Organisation bedeutsam und überwiegend sogar dem innersten Schutzkreis des Persönlichkeitsrechts zuzuordnen sind. Wertend ist daher die schlichte Information, dass eine Person Mitglied der Gewerkschaft ist, im vorliegenden Regelungskontext eher als allgemeines denn als „besonderes“ personenbezogenes Datum einzuordnen. Die dargelegte Zielrichtung auf den Bereich der Erwerbstätigkeit sowie die Tatsache, dass das auf Geheimhaltung angelegte notarielle Verfahren der Schutzintention des § 28 Abs. 9 BDSG hinreichend Rechnung trägt, sprechen teleologisch dafür, den allgemeinen Erlaubnistatbestand des § 28 Abs. 1 Nr. 2 BDSG für anwendbar zu halten, mögen Wortlaut und Systematik auch für die spezialgesetzliche Anwendbarkeit des § 28 Abs. 9 BDSG sprechen. Hinzu kommt, dass die Einschlägigkeit des § 28 Abs. 9 BDSG das vom Gesetzgeber 1 BVerfG v. 21.3.1994 – 1 BvR 1485/93, NZA 1994, 891 betreffend den Nachweis des Vertretenseins im Betrieb durch notarielle Urkunde. 2 So auch das Ergebnis bei Hofer, ZTR 2015, 185 (188). Allerdings könnte bei diesem Ansatz auch § 28 Abs. 6 Nr. 3 BDSG einschlägig sein und die Datenübermittlung an den Notar ohne Einwilligung erlauben. 3 Vgl. Gola/Schomerus/Gola/Klug/Körffer, BDSG, 12. Aufl. 2015, § 28 Rz. 75.
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787
Teil 9 Rz. 134
Wirkung der Tarifnormen
des TEG ausdrücklich befürwortete notarielle Verfahren wesentlich erschweren oder sogar unmöglich machen würde1. (3) Notarielles Verfahren 134 An einer näheren gesetzlichen Ausgestaltung des somit künftig sicherlich sehr praxisrelevanten notariellen Verfahrens fehlt es; dieses findet nur in § 58 Abs. 3 ArbGG und in der Gesetzesbegründung Erwähnung. Verfahrensgrundsätze werden angesichts des bedauerlichen Schweigens des Gesetzgebers Praxis und Wissenschaft entwickeln müssen. Nur grobe Anhaltspunkte lassen sich der Rechtsprechung zum notariellen Verfahren bei der Feststellung des Vertretenseins einer Gewerkschaft im Betrieb entnehmen2: Die Problemlage ist bei § 4a Abs. 2 TVG viel diffiziler, da es nicht um die einfach zu treffende Feststellung geht, dass ein Gewerkschaftsmitglied im Betrieb arbeitet, sondern um die eine zahlreiche Personen betreffende Tatsachenfeststellung, bei der – gerade im Fall knapper Mehrheitsverhältnisse – Ungenauigkeiten zu einer fehlerhaften Tarifnormanwendung führen können. Problematisch ist daher insbesondere, welche Anforderungen hinsichtlich der notariellen Überzeugungsbildung zu stellen sind. 135 Dies richtet sich zum einen nach dem Zweck der notariellen Urkunde: Mit ihr soll der Mitgliederbestand im Betrieb ohne weitere Darlegungen bewiesen werden können; sie vermag den unmittelbaren Zeugen- oder Augenscheinsbeweis vor Gericht zu ersetzen3. Die notarielle öffentliche Urkunde i.S.d. §§ 415, 418 ZPO begründet vollen Beweis der darin durch den Notar bezeugten, „amtlich von ihm wahrgenommene Tatsachen“ (§ 20 Abs. 1 Satz 2 a.E. BNotO), sog. „Wahrnehmungszeugnis“4. Gegenstand der Beurkundung können folglich nur eigene Wahrnehmungen des Notars sein; nur für diese gilt die Beweisvermutung der §§ 415, 418 ZPO5. Voraussetzung der Beurkundung ist mithin, dass der Notar objektiv aussagekräftige, ihn überzeugende6 Belege wahrgenommen hat, aus denen sich ergibt, dass eine Person zum Stichtag der Mehrheitsfeststellung „Mitglied“ i.S.d. § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG und Arbeitnehmer des Betriebs ist. 136 Entscheidende Bedeutung erlangen dabei zwei markante Besonderheiten gegenüber gerichtlichen Verfahren: Zum einen handelt es sich – anders als bei einem Gerichtsprozess – um kein kontradiktorisches, sondern um ein „einseitiges“ Verfahren. Da einziger Beteiligter im Vorfeld der Erstellung der notariellen Urkunde die um Beurkundung ersuchende Gewerkschaft ist, dürfte eine im kontradiktorischen Verfahren häufig sehr sachgerechte gestufte Darlegungslast hier nicht in Betracht kommen: Der Weg, dass z.B. der Richtigkeit vorgelegter Mitgliederlisten nur nachzugehen wäre,
1 Zu den Verfahrenserfordernissen bei Zugrundelegung von § 28 Abs. 9 BDSG s. Hofer, ZTR 2015, 185 (188 f.). 2 Dazu BAG v. 25.3.1992 – 7 ABR 65/90, NZA 1993, 134; skeptisch zu einer Übertragung auch Hofer, ZTR 2015, 185 (190) („zwei völlig unterschiedliche Sachverhalte“). 3 Vgl. BT-Drucks. 18/4062, S. 16. 4 Schippel/Bracker/Reithmann, BNotO, § 20 Rz. 13. 5 Schippel/Bracker/Reithmann, BNotO, § 20 Rz. 14. 6 Der Grad an Überzeugungsbildung dürfte dem gerichtlichen entsprechen, vgl. dazu BGH v. 11.12.2012 – VI ZR 314/10, NJW 2013, 790 (Rz. 17); BGH v. 28.3.1989 – VI ZR 232/88, NJW 1989, 3161; Kopp/Schmidt, JR 2015, 51 (52); BeckOK-ZPO/Bacher, § 286 ZPO Rz. 2; MünchKommZPO/Prütting, § 286 ZPO Rz. 32 ff.
788 Greiner
Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 139 Teil 9
wenn begründete Zweifel geäußert würden, ist verstellt, da ein prozessualer Gegenpart, der Zweifel äußern könnte, im notariellen Verfahren fehlt. Dies erhöht die Anforderungen an die primär zu leistenden Darlegungen. Zum anderen ist zu beachten, dass anders als vor Gericht die uneidliche Falschaussage vor dem Notar nicht strafbar ist1, so dass hinsichtlich der Tauglichkeit des Zeugenbeweises als alleinigem Beweismittel gegenüber dem Notar Zweifel geboten sind. Im Übrigen wäre das persönliche Erscheinen jedes einzelnen Gewerkschaftsmitglieds und die Abgabe einer Erklärung über die gegenwärtig bestehende Mitgliedschaft (und ihre Dauer, vgl. Rz. 139) i.d.R. nicht besonders praktikabel. Denkbar ist die Vorlage von Augenscheinsobjekten, z.B. die Darlegung der Mitglied- 137 schaft durch Vorlage der Beitrittserklärung und von Kontoauszügen, durch die für den Beitragszeitraum, in den der für die Mehrheitsermittlung maßgebliche Stichtag fällt, der Eingang von Mitgliedsbeiträgen dokumentiert ist. Dies sollte dann genügen, wenn die Austrittsfristen in der Gewerkschaftssatzung so bemessen sind, dass eine zwischen letztem Beitragseingang und Stichtag wirksam gewordene Austrittserklärung nicht in Betracht kommt2. Ein Strukturproblem des notariellen Verfahrens dürfte sein, dass der Notar die Betriebs- 138 zugehörigkeit der Gewerkschaftsmitglieder i.S.d. § 4a Abs. 2 TVG prüfen muss (zum Betriebsbegriff vgl. Rz. 117 ff.).3 Dies muss Gegenstand des notariellen Verfahrens sein, um die Betriebszugehörigkeit einzelner Personen nicht im öffentlichen Gerichtsverfahren erörtern zu müssen; andernfalls entfiele der Vorteil des notariellen Verfahrens, die Vertraulichkeit. Allerdings dürfte dies Darlegungen des Arbeitgebers zur Personalführungs- und Betriebsmittelstruktur voraussetzen. Hierzu ist er nicht verpflichtet, da er nicht verfahrensbeteiligt ist. Auch hier besteht Manipulationsgefahr: Das Unternehmen kann ihm genehmen „Hausgewerkschaften“ die zur Beurkundung erforderlichen Informationen liefern, missliebigen Gewerkschaften die Mitwirkung am Beurkundungsverfahren jedoch verweigern. Die Lösung muss im gerichtlichen Ausgangsverfahren gesucht werden, indem das Gericht dem dort verfahrensbeteiligten Unternehmen auferlegt, im Rahmen einer Verpflichtung zur konstruktiven Mitwirkung an dem Prozess4 auch konstruktiv an dem notariellen Verfahren mitzuwirken. (4) „Mitglied“ i.S.d. § 4 Abs. 2 Satz 2 TVG Unabhängig von dem gewählten Weg – Mehrheitsfeststellung unmittelbar vor Gericht oder mittelbar durch den Notar – stellt sich in materiell-rechtlicher Hinsicht die Frage nach dem einzubeziehenden Personenkreis: Aus § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG ergibt sich 1 Strafbarkeit einer uneidlichen Falschaussage nach § 153 StGB ist nur anzunehmen, soweit der Notar nach § 22 BNotO ausnahmsweise für die Entgegennahme einer beeideten Aussage zuständig ist; vgl. Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Vormbaum, StGB, § 153 Rz. 49; MünchKommStGB/Müller, § 153 Rz. 64. 2 So bereits Greiner, NZA 2015, 769 (774). Im Ergebnis ähnlich Hofer, ZTR 2015, 185 (189 ff.), der gleichfalls für eine Einzelüberprüfung der jeweiligen Mitgliedschaften plädiert. 3 Vgl. auch U. Fischer, NZA 2015, 662 (663) mit zutr. Hinweis darauf, dass das Gericht im Einzelfall den Beweiswert der öffentlichen Urkunde durch Bewertung der vom Notar bei der Mehrheitsfeststellung angewandten Sorgfalt würdigen muss. 4 Ggf. kann der – bislang v.a. auf die Rechtzeitigkeit des Vorbringens bezogene – Topos der Prozessförderungspflicht (dazu etwa MünchKommZPO/Prütting, § 282 ZPO Rz. 4 ff.) nutzbar gemacht werden.
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Teil 9 Rz. 140
Wirkung der Tarifnormen
eindeutig nur, dass die Gewerkschaftsmitglieder unter den Arbeitnehmern des jeweiligen Betriebs anzurechnen sind. Weitere Anforderungen jenseits der schlichten Mitgliedschaft fehlen. Zieht man vergleichend die höchstrichterliche Rechtsprechung zur OT-Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden heran, liegt es nahe, auch hier den dort entwickelten Grundsatz der Einheit von innerverbandlicher demokratischer Legitimationsmacht und normativer Betroffenheit zur Anwendung zu bringen1, so dass nur die in ihren Arbeitsbedingungen normativ betroffenen Vollmitglieder anzurechnen wären, nicht aber außertarifliche Angestellte, Gast- oder Scheinmitglieder („Karteileichen“, Kurzzeitmitglieder). Gerade der letztgenannte Aspekt ist wichtig, um missbräuchliche Strategien, z.B. beitragsfreie Kurzzeitmitgliedschaften zum Zählstichtag, zu unterbinden. 140 De lege lata fehlt es bedauerlicherweise an weitergehenden Instrumenten zur Sanktionierung einer Manipulation der Mehrheitsverhältnisse, etwa durch Zahlung von Handgeldern für den kurzzeitigen Gewerkschaftsbeitritt zum „Zählstichtag“. Auch die Unternehmen haben es v.a. bei einem „Kopf-an-Kopf-Rennen“ zweier Gewerkschaften in der Hand, die Attraktivität der Gewerkschaften im Ringen um Mitglieder durch einseitige Zugeständnisse zu manipulieren. Das Tarifrecht ist für die Annäherung an ein mehrheitsgestütztes, demokratisches Verfahren – anders als die Betriebsverfassung (vgl. § 119 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG) – leider bislang nicht gewappnet; darin liegt ein Versäumnis des Gesetzgebers. Umso wichtiger ist es, dass die Gerichte derartigen Gefahren durch eine sachgerechte enge Auslegung des Begriffs des „Mitglieds“ Rechnung tragen. hh) Rechte und verbleibende Handlungsmöglichkeiten von Minderheitsgewerkschaften im Betrieb (1) Übergangsregelung, § 13 Abs. 3 TVG 141 Für eine Übergangszeit nach Inkrafttreten des TEG genießen MinderheitsTVe Bestandsschutz, der zugleich die Bildung neuer Kooperationsstrukturen ermöglichen soll2: Gem. § 13 Abs. 3 TVG ist die Kollisionsregel des § 4a TVG nicht auf TVe anzuwenden, die am 10.7.2015, also am Tag nach der Verkündung des Tarifeinheitsgesetzes, bereits galten. Die Wirkung der Übergangsregelung endet mit Ablauf oder Kündigung des TV, wobei auch ein davon begünstigter MinderheitsTV der Nachwirkung gem. § 4 Abs. 5 TVG fähig sein dürfte; dort fehlt es an einer diese ausschließenden Regelung. Die Aussage in der amtlichen Begründung3, nicht erfasst von § 13 Abs. 3 TVG seien TVe, die sich in der Nachwirkung befänden, dürfte sich lediglich auf solche TVe beziehen, die am maßgeblichen Stichtag (10.7.2015) bereits im Stadium der Nachwirkung waren, weil von ihnen keine in ihrem Bestand zu schützende, voll normative Wirkung mehr ausging. Bedenkt man, dass nach allgemeinen Grundsätzen eine „andere Abmachung“ i.S.d. § 4 Abs. 5 TVG das Arbeitsverhältnis inhalt-
1 Vgl. BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 421/07, NZA 2008, 1366 („Gleichlauf von Verantwortlichkeit und Betroffenheit hinsichtlich tarifpolitischer Entscheidungen“); best. durch BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 179/08, NZA 2010, 102 (103); näher zu dieser Übertragung Greiner, NZA 2015, 769 (773). 2 So BT-Drucks. 18/4062, S. 15. 3 BT-Drucks. 18/4062, S. 15.
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Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 144 Teil 9
lich gestalten muss1, eine (eigenständige, vgl. Rz. 151 ff.) normative Gestaltung durch einen neuen TV bei Mitgliedern von Minderheitsgewerkschaften durch § 4a Abs. 2 TVG aber künftig ausgeschlossen ist, droht eine „ewige Nachwirkung“ des bestandsgeschützten MinderheitsTVs. Eine ablösende Vereinbarung lässt sich wohl nur arbeitsvertraglich oder durch Abschluss eines NachzeichnungsTVs seitens der Minderheitsgewerkschaft (sogleich Rz. 142 ff.; 154 ff.) erreichen. Dies erhöht u.U. den Druck auf die Minderheitsgewerkschaft, den MehrheitsTV nachzuzeichnen, da ansonsten zahlreiche ihrer Mitglieder in die Mehrheitsgewerkschaft übertreten würden, um an den Verbesserungen des normativ wirkenden MehrheitsTVs zu partizipieren. (2) Nachzeichnungs- und Anhörungsrecht, § 4a Abs. 4, 5 TVG § 4a Abs. 4 TVG gesteht der Minderheitsgewerkschaft, deren TV durch Eingreifen der 142 Kollisionsregel normativ verdrängt wird, ein sog. Nachzeichnungsrecht zu. Voraussetzung ist, dass sie zunächst einen normativ geltenden TV mit der Arbeitgeberseite vereinbart hat, dieser aber im jeweiligen Betrieb nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG verdrängt wird. Die davon betroffene Gewerkschaft hat dann einen Anspruch gegen den Tarifpartner des MehrheitsTVs auf Arbeitgeberseite, gerichtet auf den Abschluss eines inhaltsgleich den MehrheitsTV nachbildenden AnschlussTVs. Dadurch erlangen die Regelungen des MehrheitsTVs für die Mitglieder der Minderheitsgewerkschaft normative Geltung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG. Außerhalb der Betriebe, in denen es wegen Anwendung der Kollisionsregel zu seiner 143 Verdrängung gekommen ist, behält der eigenständige TV der Gewerkschaft auch dann seine normative Wirkung, wenn sie für die von der Tarifverdrängung betroffenen Betriebe von ihrem Nachzeichnungsrecht Gebrauch gemacht hat. Der Geltungsbereich des NachzeichnungsTVs folgt dabei aus § 4a Abs. 4 Satz 2 TVG, er orientiert sich demnach an dem Bereich, in dem „sich die Geltungsbereiche und Rechtsnormen der TVe überschneiden“. Der Geltungsbereich des NachzeichnungsTVs umfasst damit zunächst auch Betriebe im Überschneidungsbereich, in denen die um Nachzeichnung ersuchende Gewerkschaft Mehrheitsgewerkschaft ist. Einen Nachteil erleidet sie dadurch nicht, da dort der originäre TV der um Nachzeichnung ersuchenden Gewerkschaft weiterhin normativ gilt. Die dort zwischen originärem TV und NachzeichnungsTV eintretende Tarifkonkurrenz (zum Begriff Rz. 92) wird durch § 4a Abs. 4 Satz 3 TVG ausdrücklich zugunsten des originären TVs gelöst, indem statuiert wird, dass die Rechtsnormen des NachzeichnungsTVs nur normative Geltung erlangen, „soweit“ die Verdrängungswirkung nach § 4a Abs. 2 TVG zulasten der originären TVe der nachzeichnenden Gewerkschaft wirkt. § 4a Abs. 4 TVG begründet somit für den Arbeitgeber einen Kontrahierungszwang 144 mit gesetzlich vorgegebenem Inhalt. Über die Geltendmachung dieses Anspruchs kann die Minderheitsgewerkschaft frei disponieren. Häufig werden strategische und koalitionspolitische Erwägungen dagegen sprechen: Die Nutzung des Nachzeichnungsrechts führt dazu, dass die Minderheitsgewerkschaft nur noch als Anhängsel der Mehrheitsgewerkschaft wahrgenommen wird; das mindert die Attraktivität und Bindungskraft der Gewerkschaft gegenüber ihren Mitgliedern ebenso wie die Motiva-
1 BAG v. 4.7.2007 – 4 AZR 439/06, ZTR 2008, 278 (Rz. 21).
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Teil 9 Rz. 145
Wirkung der Tarifnormen
tion der Mitglieder, sich in künftigen Arbeitskämpfen für die Forderungen der Gewerkschaft einzusetzen1. 145 Eher theoretisch ist daher der bei Schaffung des § 4a Abs. 4 TVG erhoffte Vorteil: Vermeiden soll das Nachzeichnungsrecht den früher – hinsichtlich der richterrechtlichen Tarifeinheit – vielfach beklagten Eintritt eines „tariflosen“ Zustands bei den Mitgliedern der benachteiligten Gewerkschaft2. Sie fallen künftig nicht mehr zwangsläufig auf den Status eines nicht organisierten Außenseiters zurück, sondern können an den normativen Regelungen des MehrheitsTVs partizipieren – dies allerdings für den hohen Preis, dass die Minderheitsgewerkschaft ihre tarifpolitische Eigenständigkeit deutlich sichtbar aufgibt und – v.a. in der Situation, dass sie ja zuvor einen eigenen TV durchgesetzt und ggf. sogar durch Streik erkämpft hat – dann doch noch kleinlaut um Nachzeichnung ersucht. Der Eindruck einer gesetzgeberisch gewollten Demütigung der aufsässigen Minderheitsgewerkschaft drängt sich auf3. 146 Nach § 4a Abs. 5 Satz 1 TVG sind Arbeitgeberverbände und einzelne Arbeitgeber zudem verpflichtet, die Aufnahme von Tarifverhandlungen mit einer Gewerkschaft „rechtzeitig und in geeigneter Weise bekanntzugeben“. Dies gilt auch dann, wenn kein neuer TV abgeschlossen, sondern ein bestehender TV lediglich geändert werden soll4. 147 Nach der Gesetzesbegründung rechtzeitig ist eine Bekanntgabe, wenn sie unverzüglich nach Aufnahme der Tarifverhandlungen und „möglichst vor Abschluss des TVs“ erfolgt5. Diese Formulierung scheint bedenklich weich. Eine in weit vorgerücktem Stadium der Tarifverhandlungen erfolgende Anhörung kann nicht mehr wirkungsvoll zur Meinungsbildung der verhandelnden Tarifparteien beitragen, erst recht nicht eine Anhörung nach Schaffung vollendeter Tatsachen. Eine solche wäre bloße Fassade. Richtigerweise sollten die Grundsätze für die „rechtzeitige“ Unterrichtung und Anhörung des Betriebsrats übertragen werden6, d.h. die Aufnahme der Tarifverhandlungen muss absehbar bevorstehen oder gerade begonnen haben. „In geeigneter Weise“ erfolgt die Unterrichtung nach der Gesetzesbegründung, wenn sie mündlich, elektronisch oder schriftlich vollzogen wird. Im Sonderfall eines angestrebten FirmenTVs soll auch ein Aushang in den betroffenen Betriebsstätten genügen7. Es besteht also eine umfassende Formenvielfalt. 148 Die Bekanntgabe dient insbesondere der Information konkurrierender Gewerkschaften, die dadurch erst in die Lage versetzt werden, von ihrem Anhörungsrecht nach § 4a Abs. 5 Satz 2 TVG Gebrauch zu machen. Nach dieser Vorschrift ist „eine andere Gewerkschaft, zu deren satzungsgemäßen Aufgaben der Abschluss eines TVs nach 1 Näher Greiner, NZA 2015, 769 (770). 2 Vgl. schon Hanau/Kania, Anm. AP Nr. 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; Wiedemann/Arnold, ZTR 1994, 443 (446); Franzen, RdA 2001, 1 (7). 3 Vgl. Preis, FA 2014, 354. 4 BT-Drucks. 18/4062, S. 15. 5 BT-Drucks. 18/4062, S. 15. 6 Nach std. Rspr. muss dies erfolgen, bevor das Unternehmen den von ihm verfolgten Plan umzusetzen beginnt; vgl. BAG v. 14.9.1976 – 1 AZR 784/75, AP Nr. 2 zu § 113 BetrVG 1972; BAG v. 30.5.2006 – 1 AZR 25/05, NZA 2006, 1122; Richardi/Annuß, BetrVG, § 111 Rz. 144 ff. m.w.N. 7 BT-Drucks. 18/4062, S. 15.
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Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 149 Teil 9
Satz 1 gehört, (…) berechtigt, dem Arbeitgeber oder der Vereinigung von Arbeitgebern ihre Vorstellungen und Forderungen mündlich vorzutragen.“ Voraussetzung des Anhörungsrechts ist demnach, dass der TV, über den Verhandlungen laufen, in die Tarifzuständigkeit der zu unterrichtenden Gewerkschaft fällt. Sie muss aber nicht zwangsläufig bereits in den Betrieben, die im betrieblichen Geltungsbereich des angestrebten TVs liegen, durch eigene Mitglieder vertreten sein. Dem Wortlaut nach nicht erfasst scheint der Fall, dass nur ein Teil des TVs in die Tarifzuständigkeit der anzuhörenden Gewerkschaft fällt, denn dann gehört „der Abschluss eines TVs nach Satz 1“ gerade nicht vollumfänglich zu den „satzungsgemäßen Aufgaben“ der anzuhörenden Gewerkschaft. Bei dieser Lesart müsste zwar die Branchengewerkschaft bei der Aufnahme von Tarifverhandlungen mit einer Berufsgewerkschaft angehört werden, nicht aber umgekehrt die Berufsgewerkschaft, wenn ein BranchenTV angestrebt wird. Allerdings spricht viel dafür, § 4a Abs. 5 Satz 2 TVG verfassungskonform teleologisch so auszulegen, jeder Gewerkschaft, deren eigene Regelungsinteressen durch den angestrebten TV berührt werden, das Anhörungsrecht zuzubilligen. Ansonsten würde die generell bestehende Ungleichbehandlung von Berufs- und Branchengewerkschaften (vgl. Rz. 162 ff.) sogar bei den Minderheitenrechten fortgesetzt. Das hier vertretene Verständnis ist auch dasjenige der amtlichen Gesetzesbegründung, die klarstellt, dass es genügt, wenn die anzuhörende Gewerkschaft „zumindest teilweise tarifzuständig“ ist1. Inhalt des Anhörungsrechts ist der Vortrag von Vorstellungen und Forderungen. Ein Recht auf Erörterung oder Verhandlung geht damit nicht einher; die Unternehmens- oder Arbeitgeberverbandsvertreter müssen den Vortrag der anzuhörenden Gewerkschaft lediglich passiv zur Kenntnis nehmen. Erst recht ist eine irgendwie geartete Bindung der Arbeitgeberseite damit nicht verbunden. Sie bleibt in der Führung der laufenden Tarifverhandlungen frei. Die Gelegenheit zur Stellungnahme in Schrift-, Text- oder elektronischer Form bei Versagung einer mündlichen Anhörung erfüllt den Anspruch aus § 4a Abs. 5 Satz 2 TVG nicht2. Wird das Unterrichtungs- und Anhörungsrecht verletzt, folgt daraus weder die Nich- 149 tigkeit des TVs noch die Unanwendbarkeit der Kollisionsregel des § 4 Abs. 2 Satz 2 TVG3; die Einhaltung der Minderheitenrechte ist nicht Wirksamkeitsvoraussetzung. Die Tatsache, dass § 4a Abs. 5 Satz 1 TVG einen echten Anspruch der zu unterrichtenden und anzuhörenden Gewerkschaft, die ihn notfalls einklagen kann4, ist ein schwacher Trost: Denn nach gerichtlicher Durchsetzung der Ansprüche werden die Tarifverhandlungen häufig bereits abgeschlossen sein. Einstweiliger Rechtsschutz gegen den Abschluss des TVs durch Unterlassungsverfügung kommt nicht in Betracht, denn es ist nicht ersichtlich, worauf sich materiell-rechtlich ein Unterlassungsanspruch der konkurrierenden Gewerkschaft stützen könnte. Einstweiliger Rechtsschutz durch Leistungsverfügung dürfte i.d.R. eine problematische Vorwegnahme der Hauptsache5 mit sich bringen und angesichts der schwachen Rechtsstellung der anzuhörenden Gewerkschaft am Fehlen eines hinreichend gewichtigen Verfügungsgrundes scheitern. 1 2 3 4 5
BT-Drucks. 18/4062, S. 15. Vgl. BT-Drucks. 18/4062, S. 15. BT-Drucks. 18/4062, S. 15. BT-Drucks. 18/4062, S. 15. Dazu exemplarisch OLG Hamburg v. 14.6.2006 – 5 U 21/06, GRUR-RR 2007, 29; Baumbach/ Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, Grundz. § 916 Rz. 5; MünchKommZPO/Drescher, vor § 916 Rz. 7; allerdings ist deren Verbot nicht grenzenlos, sondern bei einem überwiegenden Interesse an der Eilentscheidung zu durchbrechen.
Greiner
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Teil 9 Rz. 150
Wirkung der Tarifnormen
150 Der Transparenz soll schließlich die Neufassung von § 8 TVG dienen, wonach der Arbeitgeber verpflichtet ist, nicht nur die im Betrieb anwendbaren TVe, sondern auch das Ergebnis eines Beschlussverfahrens gem. §§ 2a Abs. 1 Nr. 6, 99 ArbGG und damit die Mehrheitsverhältnisse im Interesse der Tarifpublizität bekanntzumachen. Die Betriebsbelegschaft muss in die Lage versetzt werden, „ohne besondere Mühe“ Kenntnis von den anwendbaren TVen und den Beschlüssen i.S.d. § 99 ArbGG zu erlangen, z.B. durch Auslage im Betrieb oder durch elektronische Veröffentlichung im betrieblichen Intranet1. Die Vorschrift soll § 63 ArbGG im Wege der Spezialität verdrängen2, sodass eine Übermittlung des Beschlusses an das Bundes- oder Landesarbeitsministerium entbehrlich sein soll. (3) Kooperative Tarifmodelle 151 Primäres Ziel des Gesetzgebers ist es, mit dem TEG die konkurrierenden Gewerkschaften zu Kooperation und Konzertation anzuhalten. Sie haben es in der Hand, das Eingreifen der zwingenden gesetzlichen Kollisionsregel schon durch Vermeidung einer Geltungsbereichsüberschneidung der TVe abzuwenden. Die normative Wirkung überschneidungsfreier TVe für verschiedene Arbeitnehmergruppen innerhalb einer Betriebsbelegschaft bleibt somit möglich, sog. „gewillkürte Tarifpluralität“3. Als lobenswertes Ziel des Gesetzes wird somit deklariert, die Gewerkschaften zu einer klaren, einvernehmlichen Zuständigkeitsabgrenzung zu veranlassen. Die amtliche Begründung nennt eine ganze Reihe denkbarer Kooperationsformen: – Bildung einer Tarifgemeinschaft, die über die Tarifforderungen der beteiligten Gewerkschaften einheitlich mit der Arbeitgeberseite verhandelt, – Abschluss inhaltsgleicher TVe, – Abschluss von AnschlussTVen, – Etablierung und Nutzung verbandsinterner Konfliktlösungsverfahren (z.B. DGBSchiedsgericht)4, – Zulassung von Ergänzungen des MehrheitsTVs durch andere Gewerkschaften mittels Öffnungsklauseln5. 152 Modelle einvernehmlicher Kooperation oder Konzertation zwischen bislang konkurrierenden Gewerkschaften sind begrüßenswert und entsprechen in besonderer Weise dem Leitbild der in Art. 9 Abs. 3 GG postulierten „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“. Ob das TEG hierzu tatsächlich geeignete Anreize setzt, scheint jedoch höchst zweifelhaft: Einvernehmliche Lösungen setzen voraus, dass die Beteiligten diese annähernd paritätisch und gleichberechtigt miteinander aushandeln. Dieses Paritätspostulat hat einen verfassungsrechtlichen Hintergrund (vgl. Rz. 171). Der Einigungsprozess, den das TEG anstoßen möchte, verteilt die Verhandlungsstärke jedoch sehr ungleich: Jedenfalls bezogen auf den einzelnen Betrieb profitiert die Mehrheitsgewerkschaft sogar vom Scheitern der Verhandlungen, da 1 2 3 4 5
BT-Drucks. 18/4062, S. 15. BT-Drucks. 18/4062, S. 15. BT-Drucks. 18/4062, S. 9; kritisch Bayreuther, NZA 2007, 187 (188 ff.). Kritisch U. Fischer, NZA 2015, 662 (663 f.); Konzen/Schliemann, RdA 2015, 1 (2). BT-Drucks. 18/4062, S. 9.
794 Greiner
Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 155 Teil 9
dann die sie begünstigende Mehrheitsregel des § 4a Abs. 2 TVG zum Tragen kommt. Die Minderheitsgewerkschaft wird dagegen zu erheblichen Zugeständnissen bereit sein, denn von einer Einigung über die Zuständigkeitsabgrenzung oder Kooperation hängt ab, inwieweit sie überhaupt noch zur normativen Gestaltung im Betrieb fähig ist. Der Einigungsprozess kann zudem durch Dritte, insbesondere von Unternehmensseite, destruktiv und missbräuchlich beeinflusst werden1. Die Mehrheitsgewerkschaft hat es in der Hand, der Minderheitsgewerkschaft einen Spielraum zu belassen oder durch Ausweitung des eigenen Tarifierungsbereichs diesen Spielraum zu beseitigen. Die Minderheitsgewerkschaft hängt vom Wohlwollen der Mehrheitsgewerkschaft ab; letztere wird zum „Schiedsrichter im eigenen Spiel“2. Allerdings könnten wirksame Einigungsanreize davon ausgehen, dass das Verfahren 153 der Mehrheitsfeststellung bei Eingreifen der Kollisionsregel unsicher und aufwändig ist – ganz besonders bei überlappenden FlächenTVen, deren Kollision im Extremfall ein Verfahren nach §§ 2a Abs. 1 Nr. 6, 99 ArbGG (vgl. Rz. 129 ff.) für jeden Betrieb in Deutschland erforderlich machen würde. Die Grundidee des FlächenTVs würde torpediert. Zudem muss die Mehrheitsgewerkschaft in einem Betrieb meist damit rechnen, dass sie in einem anderen Betrieb in der Minderheit ist. Scheuen alle Beteiligten wegen dieser Unwägbarkeiten das Eingreifen der gesetzlichen Kollisionsregel, entsteht möglicherweise – dann doch – ein hinreichender Einigungsdruck3. Ob diese positiven Anreizwirkungen schlechter Gesetzgebung stark genug sind, um segensreiche Wirkungen zu entfalten, wird die Tarifpraxis der nächsten Jahre zeigen. (4) Bilaterale Gestaltung der Arbeitsbedingungen ohne normative Wirkung § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG schließt bei Geltungsbereichsüberschneidung innerhalb eines 154 Betriebs lediglich die normative Wirkung der TVe von Minderheitsgewerkschaften aus. Andere Formen der Tarifgeltung bleiben jedoch möglich, insbes. die Durchsetzung eines TVs, der zwar normativ verdrängt wird, aber nicht-normative Geltung durch arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln (vgl. Teil 10 Rz. 1 ff.) oder betriebliche Übung erlangt. Trotz Kollisionslösung nach § 4a Abs. 2 TVG bleibt der MinderheitsTV taugliches Bezugnahmeziel. Eine gestaltende Wirkung des MinderheitsTVs trotz normativer Verdrängung nach § 4a 155 Abs. 2 TVG ergibt sich zum einen, wenn in den Arbeitsverträgen eine uneingeschränkte dynamische Bezugnahmeklausel vorhanden ist, die als Bezugnahme auf den MinderheitsTV auszulegen ist. Im Falle eines verdrängten Berufs- bzw. SpartenTVs dürfte dies bei den der jeweiligen Berufsgruppe oder Sparte angehörenden Arbeitnehmern insbes. dann der Fall sein, wenn uneingeschränkt auf den „einschlägigen TV“ oder die „einschlägigen TVe“ verwiesen wird. Zumindest bei den Mitgliedern der Minderheitsgewerkschaft dürfte in dieser Konstellation deren normativ verdrängter Berufs- oder SpartenTV als „einschlägigster“ TV das Verweisungsziel sein. Normative Wirkung setzt die so formulierte Bezugnahmeklausel nicht voraus4. Erlangt daneben ein anderer 1 Näher mit einem Beispiel Greiner, RdA 2015, 36 (37). 2 So Greiner, NZA 2010, 743. 3 Vgl. zu „penalty default rules“ Ayres/Gertner, Yale Law Journal 99 (1989), 87, (91); Ayres/Talley, Yale Law Journal 104 (1995), 1027; im deutschen Schrifttum z.B. Möslein, Dispositives Vertragsrecht, 2011, S. 41 f., 119 m.w.N. 4 A.A. wohl U. Fischer, NZA 2015, 662 (665); wie hier Konzen/Schliemann, RdA 2015, 1 (8).
Greiner
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Teil 9 Rz. 156
Wirkung der Tarifnormen
TV normative Wirkung im Arbeitsverhältnis, z.B. der durch die Minderheitsgewerkschaft „nachgezeichnete“ (§ 4a Abs. 4 TVG) MehrheitsTV (vgl. Rz. 142), gilt im Verhältnis von arbeitsvertraglicher Bezugnahme und normativer Tarifgeltung das Günstigkeitsprinzip (§ 4 Abs. 3 TVG, vgl. Rz. 181 ff.)1. 156 Um diese aus Unternehmensperspektive i.d.R. höchst unerwünschte Konsequenz zu vermeiden, muss bereits bei der Formulierung der Bezugnahmeklausel beachtet werden, dass entweder die normative Wirkung des Bezugnahmeziels in die Klausel aufgenommen wird oder ein Gleichlauf mit der Mehrheitsregel des § 4a Abs. 2 TVG hergestellt wird. Dies wird durch den Verweis auf die „normativ im Betrieb gem. §§ 4, 4a TVG geltenden“ oder die „im Betrieb repräsentativsten“2 TVe erreicht. Eine so eindeutige Bezugnahmeklausel auf den MehrheitsTV dürfte aber nur selten vorhanden sein. Einen Grenzfall stellt der Verweis auf die „im Betrieb geltenden“ oder „im Betrieb anwendbaren“ TVe dar. Hier ist einzelfallbezogen nach dem objektivierten Empfängerhorizont und ggf. unter Anwendung der Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB3 auszulegen4. 157 Ist keine nach den dargestellten Maßstäben hinreichende Bezugnahmeklausel auf den verdrängten MinderheitsTV vorhanden, könnte die Gewerkschaft versuchen, die Einführung einer solchen in den Arbeitsverträgen ihrer Mitglieder durchzusetzen oder jedenfalls eine Zusage des Arbeitgebers zu erreichen, den verdrängten MinderheitsTV im Wege einer konkludenten Gesamtzusage bzw. betrieblichen Übung auf die Mitglieder der Minderheitsgewerkschaft anzuwenden. Die Tatsache, dass das BAG hinsichtlich einer auf die Tarifanwendung gerichtete betriebliche Übung mitunter zurückhaltend judiziert5, steht dem nicht entgegen: Zu Recht verneint wird damit lediglich die zukunftsbezogene dynamische Bindungswirkung der auf Tarifanwendung gerichteten betrieblichen Übung; sie hat im Zweifel nur eine statische Wirkung6. Ohne weiteres vorstellbar bleibt aber, dass der Arbeitgeber konkludent seinen Arbeitnehmern – oder einer Teilgruppe, z.B. den Mitgliedern der Minderheitsgewerkschaft – die Anwendung des MinderheitsTVs offeriert und sie dieses Angebot konkludent annehmen. Diese arbeitsvertraglich fundierte Anwendung des MinderheitsTVs lässt sich als Tarifanwendung im Wege der betrieblichen Übung bezeichnen und entspricht der Wirkung einer ausdrücklichen arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel auf den MinderheitsTV. Lediglich an der ansonsten bei der betrieblichen Übung eintretenden Bindungswirkung fehlt es regelmäßig, so dass keine Verpflichtung des Arbeitgebers besteht, auch künftig jeden Tarifabschluss der Minderheitsgewerkschaft nicht-normativ zur Anwendung zu bringen.
1 Zuletzt zur Problematik etwa Melms/Kentner, NZA 2014, 127; Nebeling/Arntzen, NZA 2011, 1215; aus grundrechtsdogmatischer Perspektive instruktiv Höfling/Burkiczak, NJW 2005, 469. 2 Vgl. Preis/Greiner, NZA 2007, 1073 (1076 f.). 3 Daran zu Recht anknüpfend noch BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NZA 2006, 607 (609 f. Rz. 18, 21); später einschränkend etwa BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 653/05, DB 2007, 2598 (Rz. 41). 4 Vgl. BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965 (967 Rz. 29 ff.). 5 Zuletzt etwa BAG v. 21.8.2013 – 5 AZR 581/11, NZA 2014, 271 (Rz. 52); vgl. zu Rechtsfragen der Bezugnahmeklausel kraft betrieblicher Übung ausf. Sutschet, NZA 2008, 679. 6 BAG v. 14.1.2009 – 5 AZR 175/08, EzA § 4 TVG Metallindustrie Nr. 134.
796 Greiner
Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 159 Teil 9
Eine auf diese arbeitsvertragliche Tarifdurchführung abzielende Verpflichtung des 158 Unternehmens gegenüber der Minderheitsgewerkschaft bedarf einer ausdrücklichen Vereinbarung, da die stets dem schuldrechtlichen Teil immanente Durchführungspflicht1 nur die normative Durchführung im Rahmen des geltenden Tarifrechts, d.h. unter Beachtung der Kollisionsregel des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG, beinhaltet. Arbeitgeber und Minderheitsgewerkschaft können aber kraft allgemeiner Vertragsfreiheit eine darüber hinausgehende Implementierungs- und Durchführungspflicht vereinbaren. Eine solche schuldrechtliche Durchführungsvereinbarung ist keine unwirksame Abbedingung oder Umgehung der zwingenden (Rz. 112) Kollisionsregel des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG, da sie keine normative, sondern lediglich eine schuldrechtliche Wirkung herbeiführt2. Genau aus diesem Grund kommt eine solche Abrede nur beim Firmen-, nicht hingegen beim VerbandsTV, in Betracht: Es fehlt an der bei Letzterem erforderlichen normativen Wirkung gegenüber dem einzelnen Mitgliedsunternehmen, das die Vereinbarung auf arbeitsvertraglicher Ebene umsetzen muss, damit sie Wirkungen entfaltet. Folgt man im Übrigen der zutreffenden, wenn auch umstrittenen3 Auffassung, dass nur normativ regelbare Ziele erstreikbar sind4, so ist die rein schuldrechtlich verpflichtende Implementierungs- und Durchführungsabrede kein rechtmäßiges Arbeitskampfziel, kann jedoch in der Tarifverhandlungspraxis als „inoffizielles“ Regelungsziel die Tarifverhandlungen und auch einen um normativ regelbare Tarifinhalte geführten Arbeitskampf der Minderheitsgewerkschaft flankieren5. (5) Streikrecht der Minderheitsgewerkschaft Undeutlich sind die Auswirkungen des § 4a Abs. 2 TVG auf das Arbeitskampfrecht: 159 In der öffentlichen Diskussion wird die Kollisionsregel vielfach als Eingriff in das Streikrecht der Minderheitsgewerkschaften kritisiert. Dieser Aspekt steht auch im Zentrum der anhängigen Verfassungsbeschwerden6. In diese Richtung deutet auch die amtliche Begründung des TEG: Demnach soll die Verhältnismäßigkeit von Arbeitskämpfen, mit denen ein kollidierender TV erwirkt werden soll, „im Sinne des Prinzips der Tarifeinheit“ beurteilt werden7. Die Arbeitsgerichte8 könnten dann aus § 4a Abs. 2 TVG ableiten, dass ein Arbeitskampf der Minderheitsgewerkschaft unver-
1 Vgl. nur ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 86 ff.; Löwisch/Rieble, § 1 Rz. 1085 ff.; jeweils m.w.N. 2 Greiner, NZA 2015, 769 (776). 3 Für eine Erkämpfbarkeit auch schuldrechtlich regelbarer Materien etwa Schaub/Treber, Arbeitsrechts-Handbuch, § 193 Rz. 5 m.w.N. 4 Zuletzt etwa bestätigt durch BAG v. 20.11.2012 – 1 AZR 611/11, NZA 2013, 448 (462 Rz. 111 m.w.N.). 5 Näher Greiner, NZA 2015, 769 (776), dort auch ausf. zur Bewertung dieser Verlagerung zur nicht-normativen Tarifgeltung. 6 Aktenzeichen des BVerfG: 1 BvR 1803/15, 1 BvR 1707/15, 1 BvR 1582/15, 1 BvR 1588/15, 1 BvR 1571/15. 7 BT-Drucks. 18/4082, S. 12; zum methodologischen Stellenwert von Aussagen in der Gesetzesbegründung, die keinen Niederschlag im Gesetzeswortlaut gefunden haben, vgl. Konzen/ Schliemann, RdA 2015, 1 (11 f.); Baldus/Theisen/Vogel/Baldus, „Gesetzgeber“ und Rechtsanwendung, S. 11, 19. 8 Mit Recht kritisch zu dieser Verlagerung der Gestaltungsverantwortung Schliemann, NZA 2014, 1250 (1252); Preis, FA 2014, 354; U. Fischer, NZA 2015, 662; Gaul, ArbRB 2015, 15; Schmitt-Rolfes, AuA 2015, 391.
Greiner
797
Teil 9 Rz. 160
Wirkung der Tarifnormen
hältnismäßig und unzulässig ist1, da der angestrebte TV keine normative Geltung erlangt. Der in Rechtsgüter des Kampfgegners und Dritter eingreifende Arbeitskampf diente dann nicht der Durchsetzung eines tariflich regelbaren Ziels, sondern wäre bloßer Selbstzweck2. 160 Mehr spricht jedoch für die gegenteilige Sichtweise3: Auch ein Arbeitskampf der Minderheitsgewerkschaft um einen TV, der später mutmaßlich nach § 4a Abs. 2 TVG keine normative Anwendung finden wird, kann rechtmäßig sein. Er ist keineswegs Selbstzweck. Vielmehr hebt § 4a Abs. 2 Satz 1 TVG ausdrücklich hervor, dass der Arbeitgeber an mehrere TVe unterschiedlicher Gewerkschaften gebunden sein kann. § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG normiert, dass Zeitpunkt der Mehrheitsermittlung der Abschluss des zuletzt zustande gekommenen kollidierenden TVs ist. Somit findet die Kollisionsregel erst dann überhaupt Anwendung, wenn mehrere kollidierende TVe mit Geltungsbereichsüberschneidungen im Betrieb abgeschlossen wurden. Jede Gewerkschaft kann somit zunächst – auch durch Arbeitskampf – einen Tarifabschluss durchsetzen. In dieser Phase kann sie versuchen, durch überzeugendes Auftreten in der Konfliktsituation doch noch die Mehrheitsposition in Betrieben zu erlangen, in denen sie bislang in der Minderheit ist. Die Mehrheitsverhältnisse vor Streikbeginn haben daher keine hinreichende Aussagekraft für den viel späteren Zeitpunkt, auf den § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG abstellt. Hinzu kommt, dass selbst im Fall der Verdrängung eines TVs nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG dieser keineswegs folgenlos bleibt: Das Nachzeichnungsrecht gem. § 4a Abs. 4 TVG entsteht als gesetzliche Rechtsfolge erst, wenn kollidierende, überlappende TVe durchgesetzt wurden und der MinderheitsTV nach der gesetzlichen Kollisionsregel verdrängt wurde. Zöge die Rechtsprechung aus § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG den Schluss, dass bereits der Arbeitskampf einer Minderheitsgewerkschaft wegen der anschließenden Verdrängung ihres TVs unzulässig ist, würde das Nachzeichnungsrecht ausgehöhlt4. Denkbar ist auch die nicht-normative Geltung des erkämpften TVs im Wege arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln oder betrieblicher Übung (vgl. Rz. 154 ff.), so dass ihm trotz normativer Nichtgeltung eine Regelungswirkung zukommt. 1 Dieser Konnex wurde zuvor explizit offen gelassen in BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068 (Rz. 50); freilich ausschließlich unter Auswertung der ablehnenden Literatur. Dafür (bei Geltung des früheren Spezialitätsprinzips) LAG Rheinland-Pfalz v. 22.6.2004 – 11 Sa 2096/03, AP Nr. 169 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; Otto, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, § 8 Rz. 8 m. Fn. 25; Bürger, S. 196 ff.; Harwart, S. 270 f.; Buchner, BB 2003, 2121 (2125 f.); Buchner, Anm. AP Nr. 1 zu § 2 TVG Tariffähigkeit, Bl. 12 f.; Rolfs/Clemens, NZA 2004, 410 (414); Sutschet, ZfA 2005, 581 (598); Kamanabrou, ZfA 2008, 241 (253 ff.); Kerwer, EuZA 2008, 335 (338); Giesen, NZA 2009, 11 (12); plastisch Bayreuther, ZfA 2009, 747 (755) (der Streik sei keine „akademische Trockenübung“); tendenziell auch schon Bayreuther, NZA 2008, 12; Waas, Sozialer Fortschritt 2008, 137 (143); a.A. LAG Hessen v. 22.7.2004 – 9 SaGa 593/04, NZA-RR 2005, 262; LAG Rheinland-Pfalz v. 14.6.2007 – 11 Sa 208/07, DB 2007, 2432; HWK/C.W. Hergenröder, Art. 9 GG Rz. 283; Jacobs/Krause/Oetker/Schubert/Jacobs, § 7 Rz. 242; Däubler, Anm. AP Nr. 168, 169 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; Reichold, RdA 2007, 321 (327); Boemke, ZfA 2009, 131 (141 f.); Wank, RdA 2009, 1 (11); Deinert, NZA 2009, 1176 (1180 f., 1182); Franzen, ZfA 2009, 297 (311 m.w.N.); Jacobs, NZA 2008, 325 (329). 2 BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86 u.a., NZA 1995, 754; BAG v. 20.11.2012 – 1 AZR 611/11, NZA 2013, 448 (462 Rz. 111 m.w.N.); BAG v. 14.12.1999 – 1 ABR 27/98, NZA 2000, 783; Fischinger/Monsch, NJW 2015, 2209 (2210 m.w.N.). 3 So auch Löwisch, DB 2015, 1102; Fischinger/Monsch, NJW 2015, 2209 (2212). 4 Zur Problematik auch Stellungnahme Deutscher Anwaltverein, S. 5 f., abrufbar unter anwaltverein.de/de/newsroom/sn-60-14 (zuletzt abgerufen am 2.9.2015).
798 Greiner
Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 163 Teil 9
ii) Wirkungen und verfassungsrechtliche Bewertung Nach hier vertretener Auffassung, die im Ergebnis von einer großen Mehrheit im ar- 161 beitsrechtlichen Schrifttum geteilt wird1, ist das TEG in mehrfacher Hinsicht mit Vorgaben des Grundgesetzes2 nicht vereinbar. Das BVerfG hat zwar mit Beschluss vom 6.10.20153 Anträge auf einstweilige Anordnung (§ 32 BVerfGG) gegen den Vollzug des Gesetzes als unbegründet abgelehnt, dies aber allein mit dem Fehlen gravierender, irreversibler oder schwer revidierbarer Nachteile durch den Gesetzesvollzug bis zu einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren begründet. Eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren hat das Gericht bis Ende 2016 in Aussicht gestellt und deren Ergebnis ausdrücklich als „offen“ bezeichnet. (1) Strukturelle Benachteiligung der Berufs- und Spartengewerkschaften Bereits in seiner früheren richterrechtlichen Ausprägung (vgl. Rz. 103) führte der 162 Grundsatz der Tarifeinheit dazu, dass Berufs- und SpartenTVe über viele Jahrzehnte hinweg kaum abgeschlossen wurden. Berufs- und Spartengewerkschaften bildeten sich nicht, betätigten sich ausschließlich in Tarifgemeinschaften oder stimmten ihre Tarifpolitik mit den Branchengewerkschaften ab. Insofern schützte der Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb das Industrieverbandsprinzip (vgl. Teil 2 Rz. 221 ff.) vor einer „Aushöhlung“ durch den Abschluss von Berufs- und SpartenTVen4. Vielfach sicherte er auf diese Weise im Zusammenspiel mit einer restriktiven Judikatur zur Tariffähigkeit (vgl. Teil 2 Rz. 60) ein Vertretungsmonopol der nach dem Industrieverbandsprinzip organisierten DGB-Gewerkschaften5. Diese Wirkung droht durch das TEG in anderer Form erneut6: Berufs- und Spartenge- 163 werkschaften haben aufgrund ihres Organisationsprinzips eine strukturell geringere Chance als Branchengewerkschaften, im willkürlich gewählten Referenzrahmen des „Betriebs“ die Mehrheit zu organisieren. Zudem lässt die Tatbestandsvoraussetzung der Tarifüberschneidung der Branchengewerkschaft Gestaltungsmöglichkeiten: Sie kann die Überschneidung der Geltungsbereiche und damit das Eingreifen der Kollisionsregel in Betrieben, in denen sie nicht die Mehrheit stellt, durch verständige Ausgestaltung des TVs abwenden (vgl. Rz. 116). Geht sie diesen Weg, wirkt die Kollisionsregel im Wesentlichen nur noch zulasten der Berufs- und Spartengewerkschaften, die diese Möglichkeit angesichts ihres engeren Wirkungskreises nicht haben. 1 Exemplarisch Konzen/Schliemann, RdA 2015, 1, 6 (12 f.); Schliemann, NZA 2014, 1250 (1251 f.); Richardi, NZA 2014, 1233 (1235 f.); Preis, FA 2014, 354; Rüthers, ZRP 2015, 2 (4 f.); U. Fischer, NZA 2015, 662; Melot de Beauregard, DB 2015, 1527. 2 Problematisch ist überdies die Vereinbarkeit mit Art. 11 EMRK und den ILO-Übereinkommen Nr. 87 und 98, die zwar insbes. hinsichtlich der tarifrechtlichen Fragen große Gestaltungsspielräume für die Vertragsstaaten belassen; auch insofern werfen jedoch die starken Reflexwirkungen auf Gründungs-, Bestands- und Arbeitskampffreiheit massive Bedenken auf; vgl. dazu Schlachter, ArbuR 2015, 217. 3 BVerfG v. 6.10.2015 – 1 BvR 1571/15 u.a., NZA 2015, 1271. 4 Konzen, RdA 1978, 146 (154) („mittelbarer Zwang“ zum Industrieverbandsprinzip). 5 Vgl. insbes. Salje, SAE 1993, 79 (81 m.w.N.); auch Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1797. 6 Diese „eindeutige und klare“ Zielrichtung sieht auch U. Fischer, NZA 2015, 662; eine Diskrepanz zwischen dieser gesetzgeberischen Zielrichtung und den Auswirkungen auf MinderheitsBranchengewerkschaften rügen Konzen/Schliemann, RdA 2015, 1 (6 ff.).
Greiner
799
Teil 9 Rz. 164
Wirkung der Tarifnormen
164 Berücksichtigt man, dass Art. 9 Abs. 3 GG ein Grundrecht ist, das zur Selbstorganisation anhalten soll und daher vorbehaltlos die freie Gruppenbildung, die freie Gründung von Koalitionen und die freie Binnenorganisation gewährleistet, so kann diese staatliche Einflussnahme auf die Koalitionsbildung nicht verfassungskonform sein1. Eine strukturelle Schlechterstellung bestimmter Arten von Koalitionen, weil diese eine missliebige, mit den in § 4a Abs. 1 TVG formulierten Gerechtigkeits- und Ordnungsvorstellungen der Politik nicht kompatible Tarifpolitik praktizieren, griffe in den skizzierten subjektiv-rechtlichen Wesensgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG ein. Reflexhaft beeinträchtigt wären die Gründungs- und Bestandsfreiheit, da eine in ihren normativen Handlungsmöglichkeiten stark limitierte Gewerkschaft in der existenznotwendigen Frage der Mitgliedergewinnung und -bindung erhebliche Wettbewerbsnachteile hinnehmen muss. 165 Faktisch beeinträchtigt ist auch das – rechtlich nicht angetastete (vgl. Rz. 159 f.) – Streikrecht der jeweiligen Minderheitsgewerkschaft, da es schwer fällt, Mitglieder zum Streik zu motivieren, wenn als Ergebnis des Arbeitskampfs nicht ein normativ wirkender TV, sondern nur vage eine Gestaltung der Arbeitsbedingungen auf anderem Wege (vgl. Rz. 154 ff.) in Aussicht gestellt werden kann. Dazu trägt auch die Unsicherheit hinsichtlich der Rechtmäßigkeit eines Arbeitskampfs der Minderheitsgewerkschaft bei (vgl. Rz. 159 f.). Rechtfertigen lässt sich das auch nicht mit der zweifellos zu konstatierenden Eingriffswirkung des Streikrechts2, die ggf. Restriktionen des Streikrechts legitimieren könnte, nicht aber den Totalentzug normativer Regelungsmöglichkeiten. 166 Nicht zu verkennen ist, dass Grundrechte besondere Bedeutung insofern erlangen, als sie Autonomieräume auch für unbequeme Minderheiten freihalten3 und ein Abweichen vom gesellschaftlichen „Mainstream“ ermöglichen. Bei Art. 9 Abs. 3 GG die Grundrechtausübung unter den Vorbehalt der Mehrheitsmeinung im willkürlich gewählten Betrachtungsrahmen des Betriebs zu stellen, ist damit nicht vereinbar. 167 In all diesen Wirkungen liegt zugleich ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 Satz 1 GG, da die durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete Binnenorganisationsautonomie eine gesetzliche Privilegierung von Branchen- gegenüber Berufsgewerkschaften ausschließt. Das unterschiedliche Organisationsstatut und die damit verbundene bessere Realisierung von „Verteiligungsgerechtigkeit“ (vgl. Rz. 111) scheiden als Differenzierungskriterium und Legitimationsgrund für eine Ungleichbehandlung aus. (2) Institutionelle Gewährleistung der Tarifautonomie als Selbstbestimmungsordnung 168 Das zentrale institutionelle Anliegen der grundgesetzlich gewährleisteten Tarifautonomie liegt darin, einen staatsfernen Freiraum zugunsten der Arbeitgeber- und Ar1 A.A. jüngst Gamillscheg, ArbuR 2015, 223, der diese Steuerungswirkung als mit der Regelungsintention von Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar beschreibt. 2 Vgl. Staudinger/Richardi, BGB, 14. Aufl. 2005, Vorbem. §§ 611 ff. Rz. 919; Fischinger, RdA 2007, 99 (100) jeweils m.w.N. 3 S. zu diesem zu wenig beachteten Aspekt der Grundrechtsdogmatik instruktiv Kutscha, JuS 1998, 673; exemplarisch in der verfassungsgerichtlichen Judikatur BVerfG v. 17.12.1975 – 1 BvR 63/68, NJW 1976, 947 (948).
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Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 170 Teil 9
beitnehmerkoalitionen zu schaffen, in dem Selbstorganisation und Selbstregulierung möglich sind1. Im inneren Kernbereich der Vertretungsstrukturen und der Entgeltfindung soll staatliche Einflussnahme unterbleiben. Durchaus vergleichbar ist dies mit dem gleichfalls grundgesetzlich gewährleisteten Autonomieraum der kommunalen Selbstverwaltungsträger oder der Religionsgemeinschaften. Das TEG zielt bereits in seinen in § 4a Abs. 1 TVG offen ausgewiesenen Regelungszie- 169 len auf Fragestellungen, die nach dem grundgesetzlichen Leitbild der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) dem innersten Zentrum dieses Autonomieraums angehören: Die Frage der Entgeltgerechtigkeit soll auch in ihren Strukturen nicht planwirtschaftlich durch staatliche Vorgaben geregelt werden, sondern in einem marktförmigen Verfahren der frei konstituierten Tarifakteure. Eine gesetzlich zugewiesene, betriebseinheitliche Umverteilungs-, Solidaritätssicherungs- und Ordnungsfunktion passt dazu nicht2. Die beabsichtigte umfassende Einwirkung auf Strukturfragen der Entgeltverteilung zeigt, dass das vorliegende Gesetz deutlich gravierender die Tarifautonomie tangiert als etwa ein gesetzlicher Mindestlohn3, der eine unterste Grenze zieht, darüber hinaus jedoch auf die Kompetenz der selbstbestimmt agierenden Marktteilnehmer vertraut. Zu dem grundgesetzlich gewollten Autonomieraum gehört insbes. auch das Prinzip 170 der freien sozialen Gruppenbildung, die das BVerfG mit Recht als konstitutiv für die demokratische, rechtsstaatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland beschreibt4. Tarifautonomie ist denknotwendig eine Selbstbestimmungsordnung5. Von einem tarif-„autonomen“ Regelungsprozess kann nur die Rede sein, wenn die regelungsbetroffenen Arbeitsvertragsparteien selbst die Struktur der tarifschließenden Normsetzer beeinflussen können. Freie soziale Gruppenbildung ist somit eine Grundvoraussetzung von Tarifautonomie. Staatliche Stellen dürfen weder die so erzeugten Ergebnisse inhaltlich bewerten6 noch die Tarifakteure jenseits einer funktionsnotwendigen Rahmensetzung7 klassifizieren. Die durch § 4a Abs. 2 TVG eintretende Majoritätsentscheidung über die normative Tarifgeltung im Betrieb führt dazu, dass kleine Interessengruppen innerhalb der Belegschaft keine Möglichkeit haben, die Tarifnormsetzung wirksam in ihrem gruppenspezifischen Sinne zu beeinflussen. So können sie auch einer strukturellen Benachteiligung durch die Mehrheitsgewerkschaft kaum entgehen. Möglicherweise erlangt sogar eine gezielte Schlechterstellung einzelner Berufsgruppen im MehrheitsTV für diese Geltung über Bezugnahmeklauseln. Der bisherige Ausweg, eine Berufsgewerkschaft mit der eigenständigen Vertretung der Minderheitsinteressen zu betrauen, wird verschlossen. Da das Tarifrecht ins-
1 Vgl. BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322; BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, NJW 2007, 51 (53); ähnlich wie hier Rüthers, ZRP 2015, 2 (4). 2 In diesem Sinne Thüsing/v. Medem, ZIP 2007, 510 (515): Umverteilung innerhalb der Arbeitnehmerschaft sei nicht Zweck des Tarifsystems. 3 Zur Konfliktlage zusammenfassend Willemsen/Sagan, NZA 2008, 1216. 4 BVerfG v. 24.2.1999 – 1 BvR 123/93, NJW 1999, 2657 (2658); vgl. auch BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, NJW 1979, 593. 5 Vgl. MünchArbR/Richardi, § 1 Rz. 19; vertiefend Picker, NZA 2002, 761. 6 Zutr. Löwisch/Rieble, TVG, Grundl. Rz. 194. Genau dies macht das Tarifeinheitsgesetz implizit, wenn es MinderheitsTVen die strukturelle Eignung zur Realisierung der in § 4a Abs. 1 TVG genannten Regelungsziele abspricht. 7 Etwa zur Tariffähigkeit; vgl. dazu BVerfG v. 20.10.1981 – 1 BvR 404/78, NJW 1982, 815 f.
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Teil 9 Rz. 171
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gesamt auf den Gedanken der Selbstbestimmungsordnung gegründet ist, fehlt es an Schutzmechanismen gegen diese Fremdbestimmung, v.a. weil eine Tarifinhaltskontrolle ausscheidet (vgl. § 310 Abs. 4 Satz 1, 3 BGB). Dieser kontrollfreie Autonomieraum ist nur dann erträglich, wenn die Selbstorganisationskräfte ungehindert funktionieren: Für benachteiligte Minderheiten muss, gewissermaßen als Ventil, die gleichberechtigte gruppenspezifische Koalitionsbildung zur Verfügung stehen. Beseitigt man diese Möglichkeit, müsste aus Gründen des Minderheitenschutzes korrespondierend die gerichtliche Tarifinhaltskontrolle aufgewertet werden. Grundlage könnte dabei insbes. eine (mittelbare) Drittwirkung von Art. 3 Abs. 1 GG sein1. Allerdings würde dadurch die inhaltliche Seite der Tarifautonomie entscheidend geschwächt (vgl. Rz. 172 f.). (3) Schutz der Vertragsfreiheit im Konzertationsstadium 171 Besondere Bedeutung hat in der Rechtsprechung des BVerfG die staatliche Schutzpflicht zugunsten der Vertragsfreiheit (Art. 2 Abs. 1, 12 Abs. 1 GG) strukturell unterlegener Vertragsparteien erlangt2. Erst recht lässt sich daraus ableiten, dass der Gesetzgeber keine Verhandlungssituation schaffen darf, die durch mangelnde Parität und Fremdbestimmung gekennzeichnet ist3. Genau dies ist das Kernproblem der Kooperationsverhandlungen, welche der Gesetzgeber durch die Drohung mit der gesetzlichen Kollisionsregel anstoßen möchte: Die Verhandlungschancen sind höchst ungleich verteilt (vgl. Rz. 152)4. Diese gesetzlich geschaffene Verhandlungssituation missachtet den vertragstheoretischen Grundsatz der Parität und wird damit der Schutzpflichtendoktrin des BVerfG5 als Bestandteil des verfassungsrechtlichen Schutzes der Vertragsfreiheit nicht gerecht. (4) Schwächung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie 172 Anliegen des Gesetzgebers ist die Stärkung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie. Mögen die tatsächlichen Wirkungen des TEG auch schwer zu prognostizieren sein, ist dennoch zu konstatieren, dass eine Verfehlung dieses Kernanliegens in mehrfacher Hinsicht droht6: Zum einen ist der von einem Mehrheitsprinzip ausgehende Anreiz erkennbar, die Mehrheitsposition im Betrieb zu erlangen. Dies könnte hinsichtlich der gesetzgeberischen Intention, die Befriedungswirkung der TVe zu stärken, kontrapro-
1 Zur bereits nach bisherigem Recht anerkannten Bindung an den Gleichheitssatz Teil 1 Rz. 45 ff. sowie Teil 8 Rz. 86 f. zum persönlichen Geltungsbereich; weiterhin zuletzt BAG v. 15.4.2015 – 4 AZR 796/13, juris Rz. 29 ff. 2 Grundlegend BVerfG v. 19.10.1993 – 1 BvR 567/89 u.a., BVerfGE 89, 214 (229 ff.); weiterhin BVerfG v. 5.8.1994 – 1 BvR 1402/89, NJW 1994, 2749 f.; BVerfG v. 2.5.1996 – 1 BvR 696/96, NJW 1996, 2021; BVerfG v. 7.2.1990 – 1 BvR 26/84, BVerfGE 81, 242 (255); BVerfG v. 28.1.1992 – 1 BvR 1025/82 u.a. BVerfGE 85, 191 (213); BVerfG v. 27.1.1998 – 1 BvL 15/87, BVerfGE 97, 169 (176 ff.); BVerfG v. 15.7.1998 – 1 BvR 1554/89 u.a., BVerfGE 98, 365 (395 ff.). 3 Exemplarisch dazu Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, S. 40 f.; Maunz/ Dürig/Di Fabio, GG, Art. 2 Rz. 107 f.; Höfling, Vertragsfreiheit, 1991, S. 52 ff. 4 Anders als Papier/Krönke, ZfA 2011, 807 (866) meinen, wird ein „tarifpolitischer Koordinierungsdruck auf die Tarifparteien“ höchst einseitig, nämlich vor allem zulasten der Minderheitsgewerkschaften ausgeübt. 5 BVerfG v. 19.10.1993 – 1 BvR 567/89, 1 BvR 1044/89, BVerfGE 89, 214 (229 ff.). 6 Ähnlich die Bewertung bei Preis, FA 2014, 354.
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Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 173 Teil 9
duktiv wirken1. Die erbitterten Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gewerkschaften um die jeweiligen Zuständigkeitsbereiche im Vorfeld der Verabschiedung des TEG2 können in Teilen als „vorlaufende“ Konsequenzen dieser gesetzlichen Kollisionsregel gedeutet werden. Die Frage „Mehrheitsgewerkschaft oder Minderheitsgewerkschaft im Betrieb“ wird zu einer Existenzfrage für die Gewerkschaften, da ihre Attraktivität und Bindungskraft gegenüber den Mitgliedern von ihren normativen Handlungsmöglichkeiten abhängt (Rz. 144, 164). Die Möglichkeit einer nicht-normativen Tarifgeltung durch arbeitsvertragliche Wirkmechanismen (Rz. 154 ff.) mildert diese problematische Anreizwirkung nur graduell. Eine weitere Schwächung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie könnte durch die Möglichkeit der Minderheitsgewerkschaften eintreten, verstärkt Wege zu einer nicht-normativen Tarifgeltung durch arbeitsvertragliche Instrumente (Rz. 154 ff.) zu suchen. Hierdurch könnten alle Praxisprobleme des bei Kollisionen zwischen arbeitsvertraglicher und tarifvertraglicher Ebene einschlägigen Günstigkeitsprinzips (Rz. 181 ff.) an Bedeutung gewinnen. Das notarielle Verfahren der Mehrheitsfeststellung (Rz. 134 ff.) ist teilweise kaum praktikabel und manipulationsanfällig. Schließlich könnte eine verstärkte Inhaltskontrolle von TVen erforderlich werden. 173 § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG ersetzt gruppenautonome Selbstorganisation und Selbstbestimmung partiell durch Fremdbestimmung (vgl. Rz. 170). In Frage gestellt ist damit die Richtigkeitsgewähr oder Angemessenheitsvermutung3 des TVs. Kann die Minderheit der – ggf. mittelbar über arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln auch für sie Wirkung erlangenden – Fremdbestimmung nicht mehr im Wege der Selbstorganisation und der Normsetzung durch eine eigenständige Gruppenorganisation entgehen, steigt das Bedürfnis für eine gerichtliche Kontrolle der Tarifinhalte. Andernfalls bestünde die Gefahr einer Tarifpolitik zulasten der Minderheit. Das den Koalitionen durch Anerkennung der Tarifautonomie entgegengebrachte Vertrauen ist tragfähig, wenn diese Tarifnormen (ausschließlich) für ihre Mitglieder schaffen, denen gegenüber sie zur Rechenschaft verpflichtet sind. Mittelbar Betroffene müssen die Chance haben, durch eigenständige kollektive Organisation ihre Arbeitsbedingungen gleichwertig – d.h. mit normativer Wirkung – anders zu regeln. Entfällt diese Grundlage, bedarf es einer erweiterten Angemessenheitskontrolle der arbeitsvertraglichen Globalverweisungen auf TVe zum Schutz von Minderheitenbelangen. Unangemessen wäre dann die globale Inbezugnahme des MehrheitsTVs, soweit dieser punktuell verschlechternde, überraschende Veränderungen zulasten einzelner Berufsgruppen statuiert4. Mittelbar sind dann die Tarifinhalte selbst Gegenstand der gerichtlichen Kontrolle; die Angemessenheitsvermutung zugunsten des TVs ist geschwächt. Unmittelbar zum Gegenstand einer Angemessenheitskontrolle wird der TV zwar nicht im Rahmen der §§ 307 ff. BGB, da § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB dies ausschließt; in Betracht kommt aber eine Angemessenheitskontrolle über die zivilrecht-
1 Vgl. auch Preis, FA 2014, 354. 2 Vgl. z.B. zur beabsichtigten Gründung einer „Industriegewerkschaft Luftfahrt“ http://www.zeit. de/news/2014-11/04/gewerkschaften-flugbegleiter-wollen-neue-gewerkschaft-fuerluftverkehr04131213 (zuletzt abgerufen am 2.9.2015). 3 Zum Topos ausf. Krämer, Die Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags, insbes. – zur dogmatischen Herleitung – S. 74 ff. m.w.N. 4 Mit dieser Tendenz bereits Preis/Preis, Der Arbeitsvertrag, 4. Aufl. 2009, II V 40 Rz. 74 ff. m.w.N.
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Teil 9 Rz. 174
Wirkung der Tarifnormen
lichen Generalklauseln (§§ 138, 242 BGB)1. Auch die (mittelbare) Grundrechtsbindung der Tarifparteien2 dürfte dementsprechend künftig deutlich stärker zu gewichten sein. Eine stärkere inhaltliche Bindung der Tarifparteien an eine übergreifende Vorstellung des Gesetzgebers von Gerechtigkeit und Ordnung wird auch in den Gesetzeszielen des TEG, § 4a Abs. 1 TVG, erkennbar. Problematisch scheint dann insbes. die großzügige Rechtsprechung zu einfachen Differenzierungsklauseln3: Wenn die Mehrheitsgewerkschaft umfassend für die Verteilungsgerechtigkeit im Betrieb zuständig ist, fällt die Begründung dafür, dass sie Differenzierungen bei den Arbeitsbedingungen als gruppenegoistisches Mittel zur Mitgliederwerbung einsetzen darf4, noch schwerer als zuvor. (5) Demokratieprinzip 174 Die Gesetzesmaterialien weisen als Legitimationsfundament des betriebsbezogenen Mehrheitsprinzips das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) aus5. Damit erfolgt eine Abkehr von der vorherrschenden Interpretation der Tarifnormsetzung als kollektiv ausgeübter Privatautonomie6 und eine Annäherung an die Entscheidungsmuster im Bereich der staatlichen Gesetzgebung und der Betriebsverfassung. Tarifnormsetzung ist dann primär materielle Gesetzgebung7, die weniger auf mitgliedschaftlicher Legitimation als auf staatlicher Delegation von Rechtssetzungsmacht basiert. 175 In der Konsequenz muss sie sich an den Vorgaben des grundgesetzlichen Demokratieprinzips messen lassen. Nach § 4a Abs. 2 TVG weist die relative Mehrheitsposition im Betrieb der Mehrheitsgewerkschaft das alleinige Recht zu normativer Gestaltung der Arbeitsbedingungen zu. Dabei bleibt es selbst dann, wenn konkurrierende, für sich genommen jeweils mitgliederschwächere Gewerkschaften in der Summe einen deutlich höheren Organisationsgrad aufweisen als die relative Mehrheitsgewerkschaft. Dem können sie allenfalls durch den Zusammenschluss zu einer Tarifgemeinschaft entgehen (Rz. 128), dies aber auch nur bei verfassungskonformer Auslegung des Begriffs der „Gewerkschaft“ i.S.d. § 4 Abs. 2 Satz 2 TVG. Nach der Judikatur des BVerfG, insbes. zur 5 %-Hürde8, gelten hohe Verhältnismäßigkeitsanforderungen,
1 S. nur Löwisch/Rieble, § 1 Rz. 518 ff. 2 Vgl. ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 77 ff. 3 Grundlegend BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028; zuletzt – sehr weitgehend – BAG v. 15.4.2015 – 4 AZR 796/13 – juris (Differenzierungsklausel mit Stichtagsregelung). 4 Dafür Ulber/Strauß, DB 2008, 1970 (1971); zust. Kocher, NZA 2009, 119; vgl. weiterhin Hanau, FS Hromadka, 2008, S. 128 f. 5 So der ursprüngliche Referentenentwurf des BMAS v. 28.10.2014 (abrufbar unter http://www. portal-sozialpolitik.de/recht/gesetzgebung/gesetzgebung-18-wahlperiode/tarifeinheit, zuletzt abgerufen am 29.9.2015), S. 7; im späteren Regierungsentwurf (BT-Drucks. 18/4062) findet sich dieser Begründungsansatz nicht mehr. 6 Dafür u.a. Zöllner, RdA 1962, 453 (456 ff.); Zöllner, RdA 1964, 443 ff.; Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, 1964, S. 47 ff., 292 ff.; Bayreuther, Tarifautonomie als kollektiv ausgeübte Privatautonomie, 2005, S. 91 ff.; Dieterich, FS Schaub, 1998, S. 117 (121); Picker, ZfA 1998, 573 (675 ff.); Scholz, RdA 2001, 193 (195); Richardi, ZfA 2003, 655 f.; Richardi, FS Konzen, 2006, S. 791 f. 7 Vgl. – jeweils abwägend – Waltermann, RdA 2014, 86 (87 f.); Wiedemann, BB 2013, 1397 (1400 ff.); Greiner, FS v. Hoyningen-Huene, 2014, S. 104 ff. 8 Vgl. BVerfG v. 9.11.2011 – 2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10, BVerfGE 129, 300 (343).
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Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 177 Teil 9
wenn bei parlamentarischen Wahlen Stimmen ohne Ergebnisrelevanz bleiben. Gemessen daran wird die exklusive Zuweisung der Normsetzungsmacht an die relative Mehrheitsgewerkschaft im willkürlich gewählten Bezugsrahmen des Betriebs den grundgesetzlichen Vorgaben des Demokratieprinzips1 nicht gerecht2. (6) Prognose einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung Trotz dieser gewichtigen verfassungsrechtlichen Bedenken fällt eine Prognose, wie 176 das BVerfG sich zu den gegenwärtig erhobenen Verfassungsbeschwerden mehrerer Gewerkschaften3 verhalten wird, nicht leicht. Mag der materielle Verfassungsverstoß auch fast evident sein, sind die verfahrensrechtlichen Hürden hoch: Die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde setzt eine unmittelbare, gegenwärtige Betroffenheit des Beschwerdeführers in eigenen Rechten von Verfassungsrang voraus4. Hoch gewichtet wird – gerade in der jüngsten Spruchpraxis des BVerfG – der Aspekt der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, d.h. der Vorrang fachgerichtlichen Rechtsschutzes5 einschließlich des Gebots einer verfassungskonformen Auslegung durch die Fachgerichte6. Es wäre daher nicht überraschend, wenn das BVerfG eine inhaltliche Auseinandersetzung meiden und auf diese formalen Hürden verweisen würde. Andere Wege, das TEG der verfassungsgerichtlichen Kontrolle zuzuführen, ohne dass 177 die genannten spezifischen Hürden der Zulässigkeitsprüfung bei Verfassungsbeschwerden zu überwinden wären, sind gegenwärtig nicht ersichtlich: Das objektive Verfahren der abstrakten Normenkontrolle steht faktisch angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Bundestag nicht zur Verfügung. Dass eine Landesregierung eine Normenkontrolle initiieren könnte (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 76 Abs. 1 BVerfGG), scheint nicht realistisch, da die das TEG tragenden Regierungsparteien auf Bundesebene an sämtlichen Koalitionsregierungen in den Bundesländern beteiligt sind. Es bleibt der Weg der konkreten Normenkontrolle durch die Fachgerichte, die aber nur zu einer begrenzten verfassungsgerichtlichen Klärung der jeweils im Ausgangsverfahren entscheidungserheblichen Frage führen kann7.
1 Vgl. die Leitentscheidungen BVerfG v. 6.10.1970 – 2 BvR 225/70, BVerfGE 29, 154 (165); BVerfG v. 21.5.1952 – 2 BvH 2/52, BVerfGE 1, 299 (315); BVerfG v. 23.10.1952 – 1 BvB 1/51, BVerfGE 2, 1 (12 f.); BVerfG v. 17.8.1956 – 1 BvB 2/51, BVerfGE 5, 85 (140, 197 ff.); BVerfG v. 2.3.1977 – 2 BvE 1/76, BVerfGE 44, 125 (141 f.); BVerfG v. 11.11.1986 – 1 BvR 713/83, 1 BvR 921/84 u.a., BVerGE 73, 206 (251); BVerfG v. 8.12.2004 – 2 BvE 3/02, BVerfGE 112, 118 (140); weiterhin auch Maunz/Dürig/Grzeszick, GG, Art. 20 Rz. 43 m.w.N. 2 Näher mit weiteren Schlussfolgerungen Greiner, RdA 2015, 36 (38 f.); in der Betriebsverfassung ist das Demokratieprinzip hingegen realisiert, da dort die Zusammensetzung des Betriebsrats und damit des an der Normsetzung mitwirkenden Organs grds. nach dem Verfahren der Verhältniswahl ermittelt wird, vgl. § 14 BetrVG i.V.m. § 15 WO. 3 Aktenzeichen des BVerfG: 1 BvR 1803/15, 1 BvR 1707/15, 1 BvR 1582/15, 1 BvR 1588/15, 1 BvR 1571/15. 4 Vgl. nur Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG (46. Lfg. 4/2015), § 90 Rz. 125 ff. m.w.N. 5 Zur sog. „Mietpreisbremse“ BVerfG v. 24.6.2015 – 1 BvR 1360/15, ZMR 2015, 655. 6 Dazu bereits BVerfG v. 16.1.1980 – 1 BvR 127/78, 1 BvR 679/78, NJW 1980, 1565; vgl. auch BVerfG v. 10.6.1964 – 1 BvR 37/63, BVerfGE 18, 85 (92); BVerfG v. 29.11.1967 – 1 BvL 16/63, BVerfGE 22, 373. 7 S. nur Maunz/Dürig/Dederer, GG (74. Lfg. 5/2015), Art. 100 Rz. 25.
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Teil 9 Rz. 178
Wirkung der Tarifnormen
jj) Alternativkonzepte 178 Die verfassungsrechtlichen Bedenken werden dadurch erhärtet, dass in der wissenschaftlichen Diskussion verschiedene Alternativmodelle vorgestellt wurden, welche in ihren grundrechtlichen Wirkungen deutlich milder sind und die mit dem TEG verfolgten legitimen Ziele – Befriedung der Arbeitsbeziehungen, Schaffung von Kooperationsanreizen1 – in Teilen sogar besser realisieren. Dies gilt besonders für die sog. repräsentativitätsgestützte Tarifeinheit im Überschneidungsbereich2. Fände demnach nur im Überschneidungsbereich der Geltungsbereiche konkurrierender TVe eine mehrheitsbezogene Kollisionsregel Anwendung, behielte jede Gewerkschaft ihren legitimen Wirkungsbereich. Es entstünden sinnvolle Anreize, das tarifpolitische Wirken auf die Bereiche – insbes. die Berufsgruppen – zu konzentrieren, in denen eine Gewerkschaft sicher Mehrheitsgewerkschaft ist. Die mitgliedschaftliche Legitimation des TVs würde gestärkt. Ähnliche praktische und dogmatische Probleme wie das TEG wirft dieses Regelungskonzept im Hinblick auf die Mehrheitsfeststellung auf (s. Rz. 127 ff.); diese wären jedoch durch eine gesetzgeberische Ausgestaltung des notariellen Verfahrens lösbar. Der Einwand, das dargestellte Alternativmodell potenziere die Probleme der Tarifpluralität, indem es zu einer immer stärkeren Segmentierung anreize3, überzeugt nicht, da es keine Impulse zur Bildung immer stärker spezialisierter Gewerkschaften setzt, sondern lediglich zu einer positiv zu bewertenden Konzentration des tariflichen Wirkens auf die jeweiligen Mitgliederschwerpunkte veranlasst4. 179 Bei Festhalten am Ziel einer Tarifeinheit im Betrieb/Unternehmen läge ein milderes Mittel in einer Tarifeinheit mit starken Minderheitenrechten, sog. „Tarifeinheit mit Vetorecht“5: Die relative Mehrheitsgewerkschaft im Betrieb (oder Unternehmen) hätte zwar beim Abschluss von Firmentarifverträgen oder firmenbezogenen Verbandstarifverträgen das alleinige Verhandlungsmandat; da es sich ebenfalls um ein mehrheitsgestütztes Regelungsmodell handelt, wären auch hier die erörterten Probleme der Mehrheitsfeststellung gesetzgeberisch zu lösen (vgl. Rz. 127 ff.). Der von der Mehrheitsgewerkschaft ausgehandelte Tarifvertrag könnte aber erst in Kraft treten, wenn alle in seinem Geltungsbereich vertretenen Gewerkschaften – sofern sie eine niedrig anzusetzende Relevanzschwelle überschreiten – ihn durch Urabstimmung innerhalb einer gesetzlich statuierten Frist gebilligt hätten. Praktisch liefe dies darauf hinaus, dass die Gewerkschaften sich bereits im Vorfeld der eigentlichen Tarifverhandlungen auf eine einheitliche, für alle Gruppen akzeptable Tarifforderung verständigen würden. Jede Gewerkschaft behielte substantielle Mitwirkungsmöglichkeiten,
1 BT-Drucks. 18/4062, S. 8 f. 2 Konzeptionell dafür Greiner, Rechtsfragen, S. 348 ff.; nachfolgend der „Professorenentwurf“: Bayreuther/Franzen/Greiner/Krause/Oetker/Preis/Rehhahn/Thüsing/Waltermann, Tarifpluralität als Aufgabe des Gesetzgebers, S. 44 (54 ff.); dieser Ansatz wurde vom Gesetzgeber allerdings ausdrücklich verworfen, s. BT-Drucks. 18/4062, S. 10. 3 BT-Drucks. 18/4062, S. 10; vgl. auch Dieterich, AuR 2011, 46 (47). 4 Näher Greiner, RdA 2015, 36 (42). 5 Zur Idee einer „Tarifeinheit mit Vetorecht“ ausführlicher Greiner, Süddeutsche Zeitung v. 29.9.2014, S. 18; Greiner, Verhandlungen des 70. Deutschen Juristentags 2014 (im Erscheinen); dort auch jeweils zum naheliegenden Einwand, dass Vetorechte zu unverträglichen Blockadesituationen führen. Andere Lösungsansätze müssten infolge einer anderen Anreizstruktur ggf. für den Sonderfall eines Sanierungstarifvertrags gefunden werden.
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Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 181 Teil 9
ohne dass die Zielsetzung einer Tarifeinheit im Betrieb (oder Unternehmen) aufgegeben würde. Das Problem der Tarifpluralität würde dort gelöst, wo es entstanden ist: im Gewerkschaftslager. Erhalten blieben allerdings faire Einwirkungsmöglichkeiten aller beteiligten Gewerkschaften; die erheblichen Missbrauchs- und Manipulationsgefahren, die mit dem TEG verbunden sind, würden vermieden. Schließlich wurde vorgeschlagen, die Tarifpluralität unangetastet zu lassen und gezielt 180 ihre Folgeprobleme im Arbeitskampfrecht zu lösen. Diese Überlegungen wirken ebenfalls erheblich milder, sofern sie das Streikrecht jeder Gewerkschaft im Kern bestehen lassen und es lediglich ausgleichenden Verfahrensregeln unterwerfen. Dies betrifft insbes. die sog. Daseinsvorsorge, also volkswirtschaftlich essentielle Bereiche wie Verkehrsinfrastruktur, Energieversorgung, Gesundheitssystem, Bildungswesen etc.1. Die in diesen Bereichen besonders deutlich feststellbare Eingriffswirkung des Streiks in Rechte und Interessen Dritter legitimiert spezifische Beschränkungen. In diesem Sinne könnten eine Abklingphase zwischen erklärtem Scheitern der Tarifverhandlungen und Streikbeginn, spezifische Verhandlungs- und Schlichtungsobliegenheiten oder sogar die gesetzliche Weiterentwicklung der Tarifverhandlungsmethode hin zu einem konsensualen Verhandlungsmodell2 ohne Arbeitsniederlegung und Aussperrung gesetzlich verankert werden. Dass – so die amtliche Begründung des TEG – der Bereich der Daseinsvorsorge nicht trennscharf abgrenzbar ist3, ist kein überzeugendes Gegenargument, denn der Gesetzgeber hat die Abgrenzungskompetenz4. Allerdings stünde die Einführung zusätzlicher Rechtmäßigkeitsanforderungen im Arbeitskampfrecht in deutlichem Kontrast zu der – verfassungsgerichtlich gebilligten5 – Deregulierungstendenz der arbeitskampfrechtlichen Rechtsprechung: Diese gibt der Arbeitskampffreiheit immer weiteren Raum und reduziert sukzessive die richterrechtliche Kontrollintensität6. Auch müssten die Vorgaben des höherrangigen Rechts, insbes. der EMRK und ESC, Beachtung finden.
II. Verhältnis des Tarifvertrags zu rangniederen Regelungen 1. Günstigkeitsprinzip a) Modifikation des Grundprinzips Normenhierarchie Bereits aus der zwingenden Wirkung der Tarifnormen (§ 4 Abs. 1 TVG, vgl. Rz. 10 ff.) 181 folgt, dass Normen eines TVs rangniederen Regelungen im Grundsatz vorgehen. Insofern kommt eine Abbedingung des Tarifinhalts durch Arbeitsvertrag oder Betriebsver-
1 Ausf. Franzen/Thüsing/Waldhoff, Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge, passim; in diese Richtung auch u.a. Franzen, RdA 2008, 193 (194); Kamanabrou, ZfA 2008, 241 (270 ff.); Bayreuther, NZA 2008, 12 (16 f.); Schliemann, FS Hromadka, S. 378; Schliemann, NZA 2014, 1250 (1251); Konzen/Schliemann, RdA 2015, 1 (14 ff.); Greiner, NJW 2010, 2977; monographisch insbes. Rudkowski, Der Streik in der Daseinsvorsorge, 2010. 2 Dazu Greiner, DÖV 2013, 623 (insbes. 629 f. m.w.N.). 3 BT-Drucks. 18/4062, S. 10; vgl. dazu auch Rüthers, ZRP 2015, 2 f. 4 Mit ähnlicher Tendenz Konzen/Schliemann, RdA 2015, 1 (15). 5 Vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 26.3.2014 – 1 BvR 3185/09, NZA 2014, 493 (zu Flashmob-Aktionen als Arbeitskampfmittel). 6 Beispiele: BAG v. 19.6.2007 – 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055; BAG v. 22.9.2009 – 1 AZR 972/08, NJW 2010, 631; näher zu Konsequenzen und Folgerungen Voraufl. Rz. 135 f.
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Teil 9 Rz. 182
Wirkung der Tarifnormen
einbarung nicht in Betracht. Andererseits soll der TV aber lediglich Mindestarbeitsbedingungen, nicht hingegen Höchstarbeitsbedingungen begründen. Daher regelt § 4 Abs. 3 TVG, dass Abweichungen vom TV insoweit zulässig sind, als sie für den Arbeitnehmer eine günstigere Regelung enthalten als tarifvertraglich vorgesehen. § 4 Abs. 3 TVG präzisiert das in § 4 Abs. 1 TVG geregelte Prinzip der zwingenden Tarifwirkung dahingehend, dass dem TV lediglich eine einseitig zwingende Wirkung zukommt, die Abweichungen zu Gunsten des Arbeitnehmers zulässt. 182 Erst infolge des Günstigkeitsprinzips werden übertarifliche Leistungen in Arbeitsverträgen tarifgebundener Arbeitnehmer ermöglicht1. Faktisch dient das Günstigkeitsprinzip auch dazu, vor einer innerverbandlichen Bevormundung zu schützen, indem individuell besonders marktstarke Arbeitnehmer trotz der zwingenden Wirkung der Tarifnormen ihre Individualfreiheit auch über die Begünstigung in einem TV hinaus entfalten können2. 183 Die ungünstigere Regelung wird infolge des Günstigkeitsvergleichs verdrängt. Sie bleibt gleichwohl als wirksame Regelung bestehen und ist z.B. Teil des bei einem Betriebsübergang mit übergehenden Regelungsbestands3. b) Anwendungsbereich aa) TV im Verhältnis zum Arbeitsvertrag 184 § 4 Abs. 3 TVG ist ausschließlich anwendbar im Verhältnis von TV-Normen zu rangniederen Regelungen, während im Hinblick auf ranggleiche Regelungen (konfligierende TVe) die bereits dargestellten Kollisionsprinzipien (Zeitkollisionsregel, Spezialitätsprinzip, Mehrheitsprinzip, vgl. Rz. 79 ff.) Anwendung finden. Somit findet § 4 Abs. 3 TVG auf sämtliche Vereinbarungen arbeitsvertraglicher Ebene Anwendung4. Die Geltung des Günstigkeitsprinzips im Verhältnis von TV und Arbeitsvertrag setzt grundsätzlich ein bestehendes Arbeitsverhältnis voraus5. Entgegen einer früher vertretenen Auffassung ist heute anerkannt, dass das Günstigkeitsprinzip auf arbeitsvertragliche Vereinbarungen unabhängig davon Anwendung findet, ob sie vor oder nach Abschluss des TVs getroffen wurden6. 185 Regelungen auf arbeitsvertraglicher Ebene und somit gleichfalls einem Günstigkeitsvergleich zugänglich, sind auch vertragliche Einheitsregelungen bzw. allgemeine Arbeitsbedingungen7. Unterfälle sind die vom Arbeitgeber ausformulierten und einsei-
1 Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 325. 2 Vgl. Picker, GS Knobbe-Keuk, S. 879 ff.; Picker, Tarifautonomie, S. 39 ff.; zust. Löwisch/Rieble, Grundlagen Rz. 40, § 4 Rz. 255; a.A. Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 336. 3 So BAG v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, NZA-RR 2010, 530 (Rz. 44). 4 Vgl. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 381 ff.; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 474; Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 355. 5 Zu Erweiterungen bei Abschlussgeboten und -verboten vgl. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 405. 6 Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 421; Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 375 f.; vgl. auch Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 837; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 266; a.A. Schmidt, RdA 1952, 301 (305). 7 BAG v. 16.9.1986 – GS 1/82, NZA 1987, 168; BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887.
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Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 186 Teil 9
tig gestellten Vertragsbedingungen1 sowie Ansprüche aus betrieblicher Übung2. Im Gegensatz dazu unterwerfen ältere Entscheidungen des BAG und Teile der Literatur3 die angesprochenen quasi-kollektiven Abreden auf arbeitsvertraglicher Ebene Sonderregeln: Regelungen in allgemeinen Arbeitsbedingungen und Einheitsregelungen sollen demnach als weitere Formen einer „kollektiven Ordnung“ zu Ungunsten des Arbeitnehmers abgelöst werden können, wenn später ein TV die Sachmaterien in ungünstigerer Weise regelt. Derartige Erwägungen, die letztlich auf das Ordnungsprinzip zurückzuführen sind4, 186 verkennen die dogmatische Grundlage der genannten Rechtsinstitute. Diesen liegt ein – mitunter konkludenter – Vertragsschluss auf individualvertraglicher Ebene zu Grunde5. Der individualvertragliche Charakter wird zu Recht immer stärker betont6. Bereits deshalb findet das lediglich auf ranggleiche Regelungen anwendbare Ablösungs- bzw. Zeitkollisionsprinzip hier keine Anwendung. Es handelt sich um Kollisionen von TV und Einzelarbeitsvertrag, für die § 4 Abs. 3 TVG das Günstigkeitsprinzip vorsieht. Das BAG hat daher zu Recht bereits 1986 die Anwendung des Ordnungsprinzips auf das Verhältnis zwischen vertraglicher Einheitsregelung und Betriebsvereinbarung verneint7. Eine Ablösung derartiger arbeitsvertraglicher Vereinbarungen durch (ungünstigere) TV-Normen ist mithin konsequenterweise abzulehnen8. Die Gegenauffassung verwischt in unzulässiger Weise die Grenzen zwischen Individualarbeitsvertrag und kollektiven Regelungsinstrumenten. Hat der Arbeitgeber zunächst die arbeitsvertragsrechtlichen Gestaltungsformen gewählt und deren Vorteile genutzt, muss er sich schon nach dem Grundsatz der Vertragstreue (pacta sunt servanda) daran auch festhalten lassen, wenn hierdurch sein wirtschaftlicher Spielraum für spätere Kollektivvereinbarungen geschmälert wird. Er ist also auf die individualvertraglichen Mittel des Änderungsvertrags bzw. der Änderungskündigung zu verweisen, wenn er von einer arbeitsvertraglichen Zusage mit Blick auf eine kollektive Neuverteilung des zugesagten Finanzvolumens Abstand nehmen will9. Gleichfalls wegen Überschreitung der Tarifmacht abzulehnen ist eine Erschwerung übertariflicher Abreden durch ein ausschließlich auf diese bezogenes tarifvertragliches Formgebot10.
1 Vgl. BAG v. 11.10.1967 – 4 AZR 451/66, DB 1968, 133. 2 BAG v. 10.12.1965 – 4 AZR 411/64, BB 1966, 450. 3 Insbes. BAG v. 4.2.1960 – 5 AZR 72/58, AP Nr. 7 zu § 4 TVG Günstigkeitsprinzip; Säcker, Gruppenautonomie, S. 294, 308 ff.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 861 f. 4 Grundlegend Nipperdey, FS Lehmann, S. 257; Siebert, FS Nipperdey, S. 199; vgl. weiterhin Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts Bd. 2/1, S. 593; mit Recht kritisch Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 628 ff.; Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 378 f. 5 So z.B. für die betriebliche Übung BAG v. 29.9.2004 – 5 AZR 528/03, NZA-RR 2005, 501 m.w.N.; zum Meinungsstand MünchArbR/Richardi, § 8 Rz. 5 ff. 6 Vgl. Preis/Genenger, JbArbR 47 (2010), 93 m.w.N. 7 BAG v. 16.9.1986 – GS 1/82, NZA 1987, 168; zustimmend etwa Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 627 ff.; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 490. 8 Zutr. Staudinger/Richardi, BGB, 14. Aufl. 2005, Vorbem. §§ 611 BGB ff. Rz. 711; Wiedemann/ Wank, § 4 TVG Rz. 630; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 489; Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 1051; a.A. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 861 f. 9 Zutr. Kritik an der Rspr. bei Hromadka, NZA-Beil. 1987, 2; zustimmend jedoch u.a. Richardi, NZA 1987, 185; Däubler, AuR 1987, 349; für Begrenzung der Rechtsprechungsgrundsätze auf den Bereich der betrieblichen Altersversorgung Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 383 ff. 10 Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 425; a.A. Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 625.
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Teil 9 Rz. 187
Wirkung der Tarifnormen
bb) TV und Betriebsvereinbarung? 187 Einer Günstigkeitsbetrachtung nach § 4 Abs. 3 TVG grundsätzlich zugänglich sind auch Betriebsvereinbarungen, denn auch dabei handelt es sich um im Verhältnis zum TV rangniedere Abreden. Der sich aus § 4 Abs. 3 TVG ergebende Vorrang einer günstigeren Regelung in einer Betriebsvereinbarung wird jedoch praktisch dadurch marginalisiert, dass auch eine arbeitnehmergünstige Betriebsvereinbarung nach den Kollisionsprinzipien der §§ 77 Abs. 3, 87 Abs. 1 Einls. BetrVG (vgl. ausf. Rz. 259 ff.) hinter eine tarifvertragliche Regelung mit gleichem Regelungsgegenstand zurücktritt. Aus diesen speziellen, § 4 Abs. 3 TVG verdrängenden1 Normen, namentlich aus § 77 Abs. 3 BetrVG, ergibt sich, dass der Gesetzgeber den TV in besonderer Weise institutionell schützen und absichern möchte. Insbesondere soll verhindert werden, dass die Regelungsautorität der TV-Parteien durch (arbeitnehmergünstigere) betriebsverfassungsrechtliche Regelungen untergraben wird. Verhindert werden soll, dass die Betriebsräte gewissermaßen in Konkurrenz zu den TV-Parteien tätig werden und sich als die „besseren“ Normgeber gerieren (vgl. ausf. Rz. 260, Rz. 262 ff., Rz. 289 ff.). Diese bereits durch institutionelle Gewährleistungsgehalte des Art. 9 Abs. 3 GG2 nahe gelegte Schutzintention ist aber nur im Verhältnis von TV und Betriebsvereinbarung sinnvoll und trägt keine prinzipiell enge Auslegung des Günstigkeitsprinzips im Verhältnis zu arbeitsvertraglichen Abreden3. 188 Teile der Literatur fordern im Interesse einer betriebsnäheren Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen eine Aufwertung des Günstigkeitsprinzips. Derartige Bestrebungen wurden in der jüngeren Vergangenheit unter dem Stichwort „betriebliche Bündnisse für Arbeit“ diskutiert (vgl. ausf. Rz. 230 ff.; Teil 13). 189 Voraussetzung für eine Günstigkeitsbetrachtung im Verhältnis von TV und Betriebsvereinbarung ist folglich, dass der Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG durch eine darauf bezogene Öffnungsklausel (vgl. Rz. 284) beseitigt wird. Zur Günstigkeitsbetrachtung kommt es freilich auch in diesem Fall nur, wenn der TV eine Öffnung zu Gunsten der betriebsverfassungsrechtlichen Regelungsebene ausschließlich für den Fall einer günstigeren Regelung durch Betriebsvereinbarung vorsieht. Durch die Ausgestaltung der verwendeten Öffnungsklauseln haben es die Tarifparteien somit gewissermaßen in der Hand, den Anwendungsbereich des Günstigkeitsvergleichs zu steuern4 und der betrieblichen Regelung mehr oder weniger Raum zu gewähren. cc) Einzubeziehende Tarifnormen 190 Das Günstigkeitsprinzip erstreckt sich insbesondere auf (positive und auch negative5) Inhaltsnormen eines TVs (zur Definition und Abgrenzung vgl. Teil 4 Rz. 11 ff.)6. Vor1 Zum Meinungsstand Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 556 ff. m.w.N. 2 Vgl. BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, NJW 1979, 593; vgl. dazu Dreier/Bauer, Grundgesetz, Art. 9 GG Rz. 101 f.; Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 60; Schmidt-Bleibtreu/Kannengießer, Art. 9 GG Rz. 27. 3 Mit dieser Tendenz aber z.B. BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887; BAG v. 28.6.2001 – 6 AZR 114/00, NZA 2002, 331; BAG v. 7.11.2002 – 2 AZR 742/00, NZA 2003, 1139. 4 Vgl. Bieback, ZfA 1979, 453 (477). 5 Ausf. Joost, ZfA 1984, 173 (189 f.). 6 MünchArbR/Matthes, § 238 Rz. 76; Linnenkohl/Rauschenberg/Reh, BB 1990, 628 (630).
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Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 192 Teil 9
sicht ist geboten bei der Anwendung auf Abschlussverbote. Diesen wird eine zweiseitig zwingende Wirkung beigemessen; daraus wird abgeleitet, dass eine Anwendung des Günstigkeitsprinzips nicht in Betracht kommt1. Ist etwa die Schichtarbeit tarifvertraglich ausgeschlossen, kommt die individualvertragliche Vereinbarung einer Pflicht zur Schicht- oder Akkordarbeit nach h.M. nicht in Betracht, selbst wenn diese mit arbeitnehmergünstigen Zuschlägen honoriert wird2. Freilich erlangt die Tarifnorm infolge ihrer zweiseitig zwingenden Wirkung dann eine den tarifgebundenen Arbeitnehmer gewissermaßen paternalistisch bevormundende Wirkung. Man kann daher erwägen, das Günstigkeitsprinzip auch in diesem Fall jedenfalls dann anzuwenden, wenn der Arbeitnehmer infolge einer für ihn evident günstigen Arbeitsmarktsituation von echter individueller Privatautonomie Gebrauch machen konnte (vgl. allgemein Rz. 201 ff.). Anwendbar ist das Günstigkeitsprinzip hingegen auf Abschlussgebote3 – in dem Sinne, dass etwa eine quantitative Vorgabe für die in ein Altersteilzeitprogramm einzubeziehenden Arbeitnehmer überschritten wird – und Beendigungsnormen4, sodass z.B. eine einzelvertragliche Verlängerung von Kündigungsfristen Wirkung entfaltet. Schon mangels einer feststellbaren Günstigkeit scheidet eine Anwendung hingegen 191 bei Kollektivnormen i.S.v. § 3 Abs. 2 TVG, also betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Normen, aus. Die von Betriebsnormen erfassten Regelungsfragen sind allerdings häufig einer einzelvertraglichen Regelung nicht zugänglich; das BAG bejaht das Vorliegen einer Betriebsnorm, wenn eine individualvertragliche Regelung wegen „evident sachlogischer Unzweckmäßigkeit“ ausscheidet5. Schon deswegen bedarf es hier in vielen Fällen keiner speziellen Einschränkung des Günstigkeitsprinzips. Mangels einer arbeitsvertraglichen Regelbarkeit ist der Anwendungsbereich des § 4 Abs. 3 TVG nicht eröffnet. Gleiches gilt für betriebsverfassungsrechtliche Struktur- und Organisationsfragen. Soweit die Möglichkeit einer Betriebsnorm auch für arbeitsvertraglich regelbare Materien zu bejahen ist, z.B. bei der Frage eines Zuschusses zum Kantinenessen, ist dagegen auch das Günstigkeitsprinzip anwendbar6. Dient eine arbeitsvertragliche Regelung dazu, den Arbeitnehmer individuell betriebsverfassungsrechtlich besser zu stellen, indem etwa eine personelle Einzelmaßnahme (z.B. Kündigung, Abmahnung) konstitutiv von der Zustimmung des Betriebsrats abhängig gemacht wird, spricht viel dafür, dass auch insofern das Günstigkeitsprinzip Anwendung findet7. Bei Normen über gemeinsame Einrichtungen (§ 4 Abs. 2 TVG) gilt: Ein Sachgruppenvergleich (vgl. Rz. 212 ff.) anderer, individuell begünstigender Regelungskomplexe mit Regelungen über gemeinsame Einrichtungen scheidet mangels echten Sachzusammenhangs aus, da der Sinn und Zweck einer gemeinsamen Einrichtung gerade im überindividuellen Lasten- und Risikoausgleich liegt. Eine individuelle Begünstigung 1 Krauss, Günstigkeitsprinzip, S. 74 f.; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 190. 2 So Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 409, 412; Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 346; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 602; Stein, Tarifvertragsrecht, Rz. 594. 3 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 190 ff.; Tech, Günstigkeitsprinzip, S. 75 ff. 4 ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 33. Zur Anwendung auf eine tarifvertragliche Altersgrenze BAG v. 7.11.1989 – GS 3/85, NZA 1990, 816. 5 BAG v. 26.4.1990 – 1 ABR 84/87, NZA 1990, 850. 6 Differenzierend auch Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 509; Löwisch, BB 1991, 59 (61); tendenziell gegen Anwendung des Günstigkeitsprinzips Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 415. 7 Offen gelassen in BAG v. 18.12.1997 – 2 AZR 709/96, NZA 1998, 304.
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Teil 9 Rz. 193
Wirkung der Tarifnormen
im Arbeitsvertrag, auch zu einer verwandten Materie, tritt daher neben die tarifvertraglichen Regelungen zu einer gemeinsamen Einrichtung, vermag die Beitragspflicht jedoch nicht zu verdrängen1. dd) Einbeziehung schuldrechtlicher Koalitionsvereinbarungen? 193 Gegenstand einer Kontroverse in der Literatur war die Frage, inwieweit schuldrechtliche Koalitionsvereinbarungen Gegenstand einer Günstigkeitsbetrachtung sein können2. Insofern vermag schon die Fragestellung dogmatisch nicht zu überzeugen. Sie verkennt den Zusammenhang zwischen Normwirkung und Günstigkeitsprinzip. Eine schuldrechtliche Koalitionsvereinbarung wirkt allein im Verhältnis der TV-Parteien zueinander und entfaltet keine normative Wirkung i.S.v. § 4 Abs. 1 TVG. Das einzelne Arbeitsverhältnis bleibt somit von einer schuldrechtlichen Koalitionsvereinbarung zunächst unberührt. Erst wenn eine Arbeitsvertragspartei infolge der schuldrechtlichen Koalitionsvereinbarung eine bestimmte Arbeitsvertragsgestaltung wählt, kommt es zu einer inhaltlichen Einwirkung auf das Arbeitsverhältnis. Mangels normativer Wirkung derartiger Abreden ist mithin der Anwendungsbereich des § 4 Abs. 3 TVG als Präzisierung von § 4 Abs. 1 TVG (vgl. Rz. 13) nicht eröffnet. 194 Eine andere Frage ist, ob sich die TV-Partei, insbesondere der einzelne Arbeitgeber als Partei eines FirmenTVs, wirksam schuldrechtlich dahingehend verpflichten kann, die Arbeitsverträge „nicht zu günstig“ auszugestalten. Diese Frage bezieht sich unter anderem auf sog. Differenzierungsklauseln (vgl. Teil 5 (8) Rz. 8). Insofern ist festzuhalten, dass es zwar keine Regelung des zwingenden Gesetzesrechts gibt, die es einer Vertragspartei verbietet, sich vertraglich zu verpflichten, von der eigenen Vertragsfreiheit im Verhältnis zu einem Dritten nur in bestimmter Weise Gebrauch zu machen3. Bejaht man aber mit der neueren Rechtsprechung die Zulässigkeit und Wirksamkeit von einfachen Differenzierungsklauseln4, ist für eine Anwendung des Günstigkeitsprinzips auf schuldrechtliche Koalitionsabreden denknotwendig kein Raum. Freilich ist diese Rechtsprechung äußerst zweifelhaft5. Die Zweifel beruhen allerdings nicht auf der hier dargelegten dogmatischen Grundfrage, sondern vielmehr auf der quasi-normativen Wirkung, die das BAG auch der schuldrechtlichen Differenzierungsklausel zugesteht, indem diese die Rechtslage im Arbeitsverhältnis des Außenseiter-Arbeitnehmers zu seinen Ungunsten verändern soll, etwa durch Ausschaltung der Unklarheitenregel (§ 305c Abs. 2 BGB)6 sowie des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes. Dies gilt erst recht, wenn einem Außenseiter-Arbeitnehmer jede Möglichkeit der Einwirkung auf seine Arbeitsbedingungen – und sei es 1 Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 417; Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 359; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 605; Stein, Tarifvertragsrecht, Rz. 598; a.A. Löwisch/ Rieble, § 4 TVG Rz. 283 ff. 2 Vgl. dazu etwa Biedenkopf, S. 75; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 396 ff. versus Richardi, Kollektivgewalt, S. 373 ff.; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 551 f. 3 Vgl. D. Ulber/Strauß, DB 2008, 1970 (1973). 4 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028; BAG v. 22.9.2010 – 4 AZR 117/09, AP Nr. 144 zu Art. 9 GG; dagegen die Wirksamkeit von qualifizierten Differenzierungsklauseln zu Recht ablehnend BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920. 5 Vgl. zum Meinungsstand Hartmann/Lobinger, NZA 2010, 421; Richardi, NZA 2010, 417; Bauer/Arnold, NZA 2005, 1209; Greiner/Suhre, NJW 2010, 131. 6 Greiner/Suhre, NJW 2010, 131 (133).
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Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 197 Teil 9
durch einen Gewerkschaftsbeitritt – genommen wird, indem eine Differenzierungsklausel mit einer Stichtagsklausel kombiniert wird1. Die schuldrechtliche Koalitionsvereinbarung ist keineswegs so zu deuten, dass damit 195 das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG selbst eingeschränkt würde2, was wegen seiner Einordnung als zwingender gesetzlicher Regelung unwirksam wäre. Vielmehr bleibt trotz einer derartigen schuldrechtlichen Vereinbarung das Günstigkeitsprinzip uneingeschränkt im Verhältnis der Tarifnormen zu rangniederen Abreden anwendbar. Die schuldrechtliche Regelung zielt nur auf die Verhinderung bestimmter individualvertraglicher Vereinbarungen ab, nimmt diesen aber nicht die Wirksamkeit. Ebenso wie durch eine schuldrechtliche Koalitionsvereinbarung kann die Vereinbarung günstigerer Bedingungen im Arbeitsvertrag faktisch auch durch einen einseitigen Beschluss des Arbeitgeberverbands verhindert werden, mit dem dieser seine Mitglieder vereinsrechtlich verpflichtet, nur eine bestimmte Arbeitsvertragsgestaltung zu wählen, etwa die tarifvertraglichen Arbeitsbedingungen als Höchstbedingungen anzuwenden (sog. Höchstnormbeschluss)3. Zwischen beiden Konstellationen bestehen keine rechtlich greifbaren Unterschiede, so dass Differenzierungen nicht geboten scheinen4. ee) Entsprechende Anwendung Besondere Bedeutung erlangt § 4 Abs. 3 TVG dadurch, dass die Rechtsprechung den 196 hier geregelten Rechtsgedanken, nach dem die ranghöhere Regelung nur Mindestarbeitsbedingungen garantieren soll und eine arbeitnehmergünstigere Abweichung grundsätzlich zulässig ist, verallgemeinert und etwa auf das Verhältnis von Betriebsvereinbarung und Arbeitsvertrag erstreckt5. Insofern lässt sich § 4 Abs. 3 TVG als exemplarische Regelung eines umfassenderen Kollisionsprinzips deuten, nach dem ranghöhere Regelungen auf dem Gebiet des Arbeitsrechts regelmäßig nur einseitig zwingendes Recht darstellen sollen6. In einem Spannungsverhältnis dazu steht es, wenn nach einer verbreiteten Ansicht in der Literatur der Anwendungsbereich des § 4 Abs. 3 TVG per se auf das Verhältnis von TV und Arbeitsvertrag verengt wird7. Richtig scheint, § 4 Abs. 3 TVG einen auch seinem Wortlaut entsprechenden umfassenden Anwendungsbereich zu geben. Der prinzipielle Vorrang tarifvertraglicher Normen vor Betriebsvereinbarungen ergibt sich 1 Auch diese besonders scharfe Form der Differenzierungsklausel billigend aber BAG v. 15.4.2015 – 4 AZR 796/13, NZA 2015, 1388; dazu ausf. Greiner, NZA 2016, 10. 2 So Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 361 ff. 3 Näher Jacobs/Krause/Oetker/Schubert/Jacobs, § 7 Rz. 28; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 845; ablehnend insbes. Belling, Das Günstigkeitsprinzip im Arbeitsrecht, 1984, S. 102. 4 Dafür aber Richardi, Kollektivgewalt, S. 373; ebenfalls differenzierend – aber genau umgekehrt – Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 364. 5 Vgl. BAG v. 16.9.1986 – GS 1/82, NZA 1987, 168; BAG v. 7.11.1989 – GS 3/85, NZA 1990, 816; Richardi, § 77 BetrVG Rz. 141 ff.; Staudinger/Richardi, Vorbem. §§ 611 ff. BGB Rz. 1131 m.w.N. 6 Vgl. grundlegend BAG v. 16.9.1986 – GS 1/82, NZA 1987, 168. 7 So etwa Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 609, 613; Fitting, § 77 BetrVG Rz. 86 m.w.N.; a.A. Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 480 ff. m.w.N.; im älteren Schrifttum etwa Dietz, RdA 1949, 160 (162, 164 f.).
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Teil 9 Rz. 198
Wirkung der Tarifnormen
dann erst aus §§ 77 Abs. 3, 87 Abs. 1 Einls. BetrVG, die demnach eine speziellere und mithin vorrangige Sonderregelung zu § 4 Abs. 3 TVG treffen (vgl. Rz. 263)1. c) Regelungszweck, Auslegungsgrundsätze aa) Mindestarbeitsbedingungen, Entfaltung der individuellen Privatautonomie 198 Grundlage des Günstigkeitsprinzips ist die Erwägung, der individuellen Privatautonomie im Arbeitsverhältnis Raum zu geben, sofern ein ihrer Entfaltung entgegenstehendes Schutzbedürfnis des Arbeitnehmers nicht ersichtlich ist. Würde der TV Höchstarbeitsbedingungen setzen, läge darin eine nicht begründbare Bevormundung der Arbeitsvertragsparteien. Einem legitimen Schutzbedürfnis wird nur Rechnung getragen, wenn ausschließlich Mindestbedingungen definiert sind2. 199 In diesem Spannungsverhältnis von individueller und kollektivierter Privatautonomie kommt dem Günstigkeitsprinzip die Aufgabe eines verfassungsrechtlich gebotenen3 Ausgleichs zu. Die Details der Ausgestaltung, also z.B. die Frage, wie das Verhältnis des TVs zum Einzelarbeitsvertrag oder zu anderen rangniederen Regelungsinstrumenten ausgestattet wird, sind freilich einfachrechtlich gestaltbar. Eine Gewährleistung etwa des Sachgruppenvergleichs in seiner aktuell praktizierten Form durch Art. 9 Abs. 3 GG ist nicht ersichtlich4. Ein vollständiger Verzicht auf das Günstigkeitsprinzip wäre dagegen ein evident unverhältnismäßiger Eingriff des Gesetzgebers in die Privatautonomie (Art. 12 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG), indem die Selbstbestimmung der Arbeitsvertragsparteien auch dort ausgeschlossen würde, wo kein legitimes Ziel ersichtlich ist5. Das Bestehen einer Tarifbindung stellt mit anderen Worten keinerlei Grund dar, dem Arbeitgeber die Gewährung besserer Bedingungen und spiegelbildlich dem Arbeitnehmer die Durchsetzung besserer individueller Marktchancen zu verwehren. 200 Angesichts der dogmatischen Verwurzelung im Schutz der Privatautonomie ist der Rückgriff auf dogmatisch unabgesicherte Begründungsansätze wie eine Begrenzung der Kartellwirkung6 oder ein „Leistungsprinzip“7, wonach § 4 Abs. 3 TVG die Möglichkeit zusätzlicher Inzentivierungen im Arbeitsverhältnis eröffnen soll, nicht erforderlich. Ebenso wie das Günstigkeitsprinzip faktisch die Kartellwirkung des TVs begrenzt, stärkt es faktisch auch die Möglichkeit, individuelle Leistungsanreize zur 1 Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 418 ff.; Bayreuther, Tarifautonomie, S. 631 ff. 2 Zutr. Jacobs/Krause/Oetker/Schubert/Jacobs, § 7 Rz. 16. 3 Zutr. BAG v. 15.12.1960 – 5 AZR 374/58, BB 1961, 251; BAG v. 15.12.1960 – 5 AZR 417/58, AP Nr. 3 zu § 4 TVG Angleichungsrecht; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 393 ff.; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 475; Belling, Günstigkeitsprinzip, S. 64 f.; a.A. BVerwG v. 13.3.1964 – VII C 87.60, NJW 1964, 1537; Koberski/Clasen/Menzel, § 4 TVG Rz. 107a; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 343 f., 844; Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 370; Däubler/ Deinert, § 4 TVG Rz. 585; Zeuner, DB 1965, 630 (632); Nikisch, DB 1963, 1254 (1255). 4 Zutr. BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 393; Jacobs/Krause/Oetker/Schubert/Jacobs, § 7 Rz. 17; Thüsing, GS Heinze, S. 901 (908 ff.). 5 Vgl. Dieterich/Hanau/Henssler u.a., RdA 2004, 65 (69); Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 393 ff.; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 478; Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 338, 351; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 586. 6 Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 479; dagegen Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 337. 7 So noch Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts Bd. 2/1, S. 572; Nikisch, Arbeitsrecht Bd. 2, S. 421.
814 Greiner
Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 202 Teil 9
Honorierung besonderer Leistungen zu regeln. Darin liegt sicherlich ein Regelungsmotiv des Gesetzgebers, jedoch keine dogmatische Grundlage für § 4 Abs. 3 TVG, aus der sich rechtliche Argumente gewinnen ließen1. bb) Grundproblem: individuelle Privatautonomie im Arbeitsverhältnis Die Tatsache, dass das Anliegen des Günstigkeitsprinzips demnach die Realisierung 201 der individuellen Privatautonomie im Arbeitsverhältnis ist, schlägt eine Brücke zu der dogmatischen Grundfrage, inwieweit die individuelle Privatautonomie im Arbeitsverhältnis überhaupt verwirklicht oder eher Fiktion ist: Geht man davon aus, dass „echte“ Privatautonomie auch im individuellen Rechtsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer praktiziert werden kann, spricht dies a priori für eine weite Auslegung des Günstigkeitsprinzips zu Gunsten der einzelvertraglichen Regelung, verneint man diese These, spricht dies für eine enge Auslegung des Günstigkeitsprinzips mit einem starken Akzent auf der Effektuierung der Tarifwirkungen auch im Verhältnis zum Einzelarbeitsvertrag. Diese grundlegende Systemfrage des Arbeitsrechts ist nach wie vor stark umstritten2. 202 Zutreffender überwiegender Ansicht entspricht, dass die individuelle Privatautonomie im Arbeitsverhältnis regelmäßig nur unvollkommen realisiert ist3. Diese Position einer strukturellen Ungleichheit im Arbeitsverhältnis hat auch Anerkennung durch das BVerfG gefunden: Ein Schutz durch die Privatautonomie alleine sei nur dann in hinreichender Weise verwirklicht, wenn freie Selbstbestimmung der Vertragsparteien ersichtlich sei. Ein näherungsweises Verhandlungsgleichgewicht zwischen den Vertragsparteien sei Funktionsvoraussetzung für eine autonom funktionierende Privatautonomie im Sinne eines „freien Spiels der Kräfte“. Außerhalb paritätischer Verhandlungsverhältnisse müsse regulierend durch das staatliche Recht eingegriffen werden. Ausdrücklich weist das BVerfG darauf hin, dass beim Abschluss eines Arbeitsvertrags regelmäßig von einem kompensationsbedürftigen Machtungleichgewicht auszugehen sei4. Insofern bezieht die durch den TV bewirkte Eingriffswirkung in Rechte des Arbeitgebers ihre Legitimation gerade daraus, dass die Kollektivierung der Arbeitnehmerinteressen auf eine Kompensation der strukturellen Ungleichgewichte im Einzelarbeitsverhältnis abzielt5, die insbes. in der einseitigen Vertragsgestaltungsmacht des Arbeitgebers und in seinem Direktionsrecht Ausdruck finden.
1 Zutr. Jacobs/Krause/Oetker/Schubert/Jacobs, § 7 Rz. 18 (bloßer „Rechtsreflex“). 2 Für eine stärkere Betonung der Individualfreiheit insbes. Picker, Tarifautonomie, S. 39 ff.; Picker, ZfA 1998, 573 (673 ff.). 3 Vgl. zum Arbeitsvertragsrecht die grundlegende empirische Untersuchung bei Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung, S. 51 ff.; weiterhin Reinecke, NZA-Beil. 2000, 23 (25 ff.); Gamillscheg, RdA 2005, 79 (81). 4 BVerfG v. 28.1.1992 – 1 BvR 1025/82, 1 BvL 16/83, 1 BvL 10/91, NZA 1992, 270. 5 Vgl. BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, NZA 1991, 809; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 3 ff. m. zahlr. Nachw.; Bepler, FS ARGE Arbeitsrecht im DAV, S. 791 (807 f.); Picker, GS Knobbe-Keuk, S. 879 (883 f., 949); sehr plastisch auch Löwisch, ZfA 1970, 295 (308): Nur die Zusammenfassung der einzelnen Arbeitnehmer in einer Koalition mache aus der „Scheinfreiheit des Arbeitsvertrages die Tarifvertragsfreiheit, in der das Gegengewichtsprinzip wirken kann“; ähnlich Bayreuther, Tarifautonomie, S. 55 ff., 157 (Schutzgut der Koalitionsfreiheit sei – allein – die Privatautonomie der Koalierten; sie diene dem Ausgleich des „Funktionsdefizits des Arbeitsvertrages“); Rieble, ZfA 2000, 5 (17) m.w.N.
Greiner
815
Teil 9 Rz. 203
Wirkung der Tarifnormen
203 Freilich ist darauf hinzuweisen, dass das Ausmaß des Machtungleichgewichts im Arbeitsverhältnis entscheidend von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen abhängt: Bei einem Unterangebot an Arbeitskräften – das insbesondere mit Blick auf die demographische Entwicklung zunehmend erkennbar wird – scheint die These von der strukturellen Unterlegenheit des Arbeitnehmers fraglich zu werden. Insofern könnte sich das Machtungleichgewicht künftig lediglich im Direktionsrecht des Arbeitgebers oder der einseitigen Vorformulierung von Vertragsbedingungen niederschlagen; dieser verbleibenden Disparität wird aber durch die Kontrollmechanismen der §§ 106 Satz 1 GewO, 305 ff. BGB zielgenau und angemessen Rechnung getragen1. Außerhalb dieser Materien könnten nachhaltig geänderte wirtschaftliche und demographische Rahmenbedingungen es notwendig machen, das Verhältnis von Arbeits- und Tarifvertrag, von Individual- und Kollektivautonomie, neu auszutarieren2. Allerdings wird wohl niemals die Situation eintreten, dass in sämtlichen Branchen und Berufen Arbeitskräftemangel herrscht, so dass vieles dafür spricht, die Gewichtung von Kollektiv- und Individualautonomie einzelfallbezogen unter Berücksichtigung der arbeitsmarktpolitischen Rahmenbedingungen des konkreten Arbeitsverhältnisses zu justieren. 204 Bei zutreffender Interpretation des TVs besteht kein grundlegender Konflikt zwischen Einzelarbeitsvertrag und TV. Der TV ist das Mittel, die Privatautonomie des einzelnen Arbeitnehmers, sofern diese im Verhältnis zum Arbeitgeber nur unvollkommen ausgeprägt ist, durch Kollektivierung zu echter Entfaltung zu bringen. Bei dieser Sichtweise3 ergeben sich freilich auch Grenzen der tarifvertraglichen Regelungsmacht: So scheint eine den Arbeitnehmer in der Entfaltung seiner individuellen Privatautonomie gezielt hindernde Differenzierungsklausel dieser Wirkungsintention des TVs genau entgegengesetzt4. Das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG ergibt sich insofern bereits aus der Rechtsnatur des TVs, denn dieser dient der Entfaltung individueller Privatautonomie durch Kollektivierung, nicht dagegen ihrer Hinderung. 205 Freilich geht dieser Wirkungszusammenhang zwischen Individualvertrag und TV nicht so weit, dass man daraus auf eine Gleichrangigkeit beider Gestaltungsinstrumente schließen könnte5. Sofern ein Überangebot an Arbeitskräften zu konstatieren ist, schafft die Kollektivierung der Verhandlungsmacht nach wie vor erst die Voraussetzungen dafür, dass im übertariflichen Bereich echte Individualabreden getroffen werden können. Um dies sicherzustellen, ist die einseitig zwingende Wirkung des TVs (§ 4 Abs. 1 TVG) auch weiterhin unerlässlich. Ein bei derartigen Arbeitsmarktsituationen bestehendes individuelles Verhandlungsungleichgewicht muss effektiv ausgeglichen werden. Das Zusammenspiel von § 4 Abs. 1 und 3 TVG stellt sich damit als eine insgesamt verhältnismäßige Ausgestaltung des TV-Rechts dar, mit der der Gesetzgeber das Verhältnis von individueller und kollektivierter Privatautonomie in ein angemessenes, zweckgerechtes Verhältnis gesetzt hat und zugleich hinreichende Flexibilität be-
1 Vgl. etwa BAG v. 7.6.2006 – 4 AZR 316/05, NZA 2007, 343. 2 Grundlegend zu diesem Spannungsverhältnis bereits Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille bei der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses, 1967. 3 Wie hier etwa ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 62; Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 340; a.A. insbes. Belling, Günstigkeitsprinzip, S. 60 ff. 4 Näher Greiner, Rechtsfragen, S. 374. 5 In diese Richtung aber Rieble, ZfA 2004, 1 (40 f.).
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Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 207 Teil 9
lässt, unterschiedlichen und sich wandelnden Rahmenbedingungen durch „dynamische“ Interpretation des Günstigkeitsprinzips angemessen Rechnung zu tragen. d) Durchführung des Günstigkeitsvergleichs Ein praktisches Kernproblem des Günstigkeitsprinzips ist die beim Günstigkeitsver- 206 gleich anzuwendende Perspektive. Die Ermittlung, ob eine arbeitsvertragliche oder eine tarifvertragliche Regelung günstiger ist, kann im Einzelfall erhebliche Schwierigkeiten aufwerfen. In mehrfacher Hinsicht ergeben sich hier methodische Fragen: Welche Regelungen sind in einen Vergleich einzubeziehen? Auf wessen Perspektive ist abzustellen – auf die individuelle Sichtweise des betroffenen Arbeitnehmers, eine objektive Sichtweise oder eine kollektive Sichtweise der Gesamtbelegschaft? Und welche Interessen sind schließlich in die Günstigkeitsbetrachtung einzubeziehen – nur die unmittelbar in den vertraglichen Regelungen erfassten Arbeitsbedingungen oder auch das ganz elementare Interesse des Arbeitnehmers, nicht arbeitslos zu werden? aa) Individueller Günstigkeitsvergleich Anknüpfend an den überwiegenden Meinungsstand in der Weimarer Republik ent- 207 spricht es nach wie vor allgemeiner Ansicht, dass – bei Individualnormen (vgl. Teil 4 Rz. 9, 11 ff.) – eine individuelle, nicht hingegen eine kollektive Günstigkeitsbetrachtung anzustellen ist1: Eine günstige Individualposition kann nicht mit Blick auf eine kollektive Besserstellung der Belegschaft entzogen werden2. Es kommt somit stets darauf an, welche Regelung im konkret betroffenen Arbeitsverhältnis günstigere Wirkungen zeitigt. Dabei ist jedoch nicht etwa auf die subjektive Perspektive, den subjektiven Willen, des betroffenen Arbeitnehmers3 abzustellen, sondern die objektive Sichtweise eines vernünftig abwägenden Arbeitnehmers zu Grunde zu legen4. Die subjektive Sichtweise des Arbeitnehmers dürfte allenfalls als Indiz zu berücksichtigen sein5. Maßgeblich ist, welche Regelung ein vernünftig abwägender „Normal-Arbeitnehmer“ für günstiger erachten würde. In die objektive Betrachtung einzubeziehen sind die jeweilige Situation, in der die Günstigkeitsbetrachtung stattfindet, sowie die besonderen Verhältnisse der Branche und des Betriebs6. Entgegen einer von Teilen der Literatur vertretenen Auffassung7 ist der Wille der TV-Parteien in den
1 Unstreitig, vgl. nur Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 446; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 523 m.w.N.; Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 340; Belling, Günstigkeitsprinzip, S. 174 f.; Schmidt, Günstigkeitsprinzip, S. 116. 2 Zutr. Wiedemann, FS Wißmann, S. 185 (196 f.). 3 Dafür aber etwa Adomeit, NJW 1984, 26 (27); Gitter, FS Wlotzke, S. 297 (300 ff.); Krauss, Günstigkeitsprinzip, S. 110 ff.; Picker, Tarifautonomie, S. 61 ff.; Heinze, NZA 1991, 329 (332 ff.). 4 So etwa Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 553; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 686 ff.; Belling, Günstigkeitsprinzip, S. 175; Joost, ZfA 1984, 173 (178); Bengelsdorf, ZfA 1990, 563 (595); Tech, Günstigkeitsprinzip, S. 124 ff. 5 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 451 (wichtiges Indiz); Koberski/Clasen/Menzel, § 4 TVG Rz. 112e; Belling, Günstigkeitsprinzip, S. 176. 6 Vgl. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 451; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 553 f.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 855 ff.; Wlotzke, Günstigkeitsprinzip, S. 78 f.; Belling, Günstigkeitsprinzip, S. 175. 7 Käppler, NZA 1991, 745 (752 f.); zust. Stein, Tarifvertragsrecht, Rz. 603; Kempen/Zachert/ Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 405 ff.; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 673 f.
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Teil 9 Rz. 208
Wirkung der Tarifnormen
Günstigkeitsvergleich nicht einzubeziehen, da auch er auf eine Subjektivierung des Günstigkeitsprinzips hinausliefe. 208 Soweit abweichend in Betracht gezogen wird, dass ein Wahlrecht des Arbeitnehmers stets die günstigste aller Regelungen sei1, verkennt dies die Manipulationsanfälligkeit eines derartigen Wahlrechts und die häufig gegebenen Funktionsdefizite des Arbeitsvertrags, die durch die zwingende Wirkung des TVs gerade kompensiert werden sollen2. Auch steht die Position in deutlichem Kontrast zu § 4 Abs. 4 TVG3. Allenfalls kann ein Wahlrecht den Ausschlag geben, wenn andernfalls ein günstigkeitsneutrales Ergebnis zu konstatieren wäre, etwa im Fall einer Arbeitszeitverlängerung bei proportional erhöhtem Entgelt4. 209 Abgesehen von diesem Sonderfall wird durch jede Subjektivierung das Günstigkeitsprinzip letztlich entwertet: Die Günstigkeitsbetrachtung kann nur objektiv durch den erkennenden Richter geschehen. Andernfalls würde sie in die eine oder in die andere Richtung dispositiv. Da ihr gerade ein Konflikt zwischen der individualvertraglichen Ebene und dem TV zugrunde liegt, kann die Entscheidungskompetenz weder den TVnoch den Arbeitsvertragsparteien anvertraut werden. Eine Bestimmung der Günstigkeit durch die TV-Parteien würde regelmäßig darauf hinauslaufen, dass diese ihre Regelung als günstiger bewerten, um ihr zur sachlich für richtig erachteten Durchsetzung zu verhelfen; die zwingende Wirkung würde erheblich verstärkt. Folgt man der Gegenauffassung, wird die zwingende Wirkung hingegen massiv abgeschwächt, indem der TV auf breiter Front für arbeitsvertragliche Abweichungen geöffnet wird. Ein Wahlrecht oder die Zugrundelegung des subjektiven Willens der betroffenen Arbeitnehmer (vgl. Rz. 207 f.) verkennt, dass die Ausübung eines Wahlrechts oder der subjektive Wille des Arbeitnehmers vielfach Beeinflussungen ausgesetzt ist. Gerade infolge des häufig bestehenden Machtungleichgewichts im Arbeitsverhältnis (vgl. aber Rz. 201 ff.) wäre die Abbedingung des TVs vielfach eine bloße Formalie. In der gelebten Wirklichkeit träte Fremdbestimmung an die Stelle der vermeintlichen Selbstbestimmung. Ein Wahlrecht des Arbeitnehmers hinsichtlich der Günstigkeit lässt sich auch aus der Entscheidung des Großen Senats zum Verhältnis tarifvertraglicher Altersgrenzen zu Befristungsabreden5 nicht ableiten6. 210 Hält man – entgegen hier vertretener Auffassung (vgl. Rz. 191) – eine Günstigkeitsbetrachtung auch bei nicht individuell begünstigenden Kollektivnormen (Betriebsund Betriebsverfassungsnormen i.S.d. § 3 Abs. 2 TVG) für vorstellbar, muss abweichend auf das kollektive Interesse der Belegschaft bzw. der von einer Betriebsnorm
1 Dafür insbes. Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 565 ff.; Löwisch, BB 1991, 59 (62 f.); Hromadka, DB 1992, 1042 (1043); zu Recht dagegen Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 466; Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 398; Bengelsdorf, ZfA 1990, 563 (599 f.). 2 Vgl. auch Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 710 ff.; Buschmann, NZA 1990, 387 (388); Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 221. 3 Stein, Tarifvertragsrecht, Rz. 603. 4 Jacobs/Krause/Oetker/Schubert/Jacobs, § 7 Rz. 42 m.w.N. 5 BAG v. 7.11.1989 – GS 3/85, NZA 1990, 816. 6 Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 492; Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 398 ff., 417; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 18 V 4c; a.A. Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 565 ff.
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Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 212 Teil 9
betroffenen Teile der Belegschaft1 abgestellt werden. Insofern erfolgt eine partielle Kollektivierung des Günstigkeitsvergleichs2. bb) Vergleich von konkreten Rechtspositionen Hinsichtlich der einzubeziehenden Interessen entspricht es herrschender Meinung, 211 dass es immer nur um einen Vergleich von konkreten vertraglich geregelten Rechtspositionen, nicht hingegen von individuellen Lebensumständen geht. Das nicht vertraglich geregelte Interesse des Arbeitnehmers, seinen Arbeitsplatz auch künftig zu behalten, kann somit nicht Gegenstand der Günstigkeitsbetrachtung werden3, wohl aber das Bestandsschutzinteresse, sofern es vertraglichen Niederschlag in einer Bestandsschutzregelung erfahren hat. Letztlich muss umfassend geprüft werden, ob die arbeitsvertragliche Regelung im Ergebnis für den Arbeitnehmer eindeutig günstiger ist als die tarifvertragliche. Bei Entgeltregelungen sollte dabei nicht punktuell die Höhe des ausgezahlten Entgelts betrachtet werden, sondern vielmehr Raum für eine verständige wirtschaftliche Gesamtwürdigung sein. Führt somit eine arbeitsvertragliche Entgeltumwandlungsvereinbarung zwar – verglichen mit dem Tarifniveau – zu einer Senkung des monatlichen Zahlbetrags, im Ergebnis aber unter Berücksichtigung steuer- und sozialversicherungsrechtlicher Effekte zu einer erheblichen wirtschaftlichen Besserstellung des Arbeitnehmers, sollte sie als günstigere Regelung betrachtet werden4. cc) Sachgruppenvergleich Hinsichtlich der Frage, welche tariflichen Regelungen konkret zu vergleichen sind, 212 hat sich als vorherrschende Meinung herausgebildet, dass ein Sachgruppenvergleich anzustellen ist5, nicht hingegen ein Einzelvergleich einzelner vertraglicher Regelungen oder ein Gesamtvergleich6 des gesamten Vertragswerks: Methodisch ist zunächst zu ermitteln, welche vertraglichen Regelungen in einem Sachzusammenhang stehen. 1 Zum Meinungsstreit, ob es auch Betriebsnormen für Teile der Belegschaft geben kann, vgl. Hanau, RdA 2008, 98 (102); Bürger, S. 40 ff., 75 f.; Greiner, Rechtsfragen, S. 393. 2 Vgl. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 447; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 670. 3 BAG v. 7.11.1989 – GS 3/85, NZA 1990, 816; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 837 ff.; a.A. etwa Niebler/Schmiedl, BB 2001, 1631. 4 Ausf. dazu Moll, RdA 2016, Heft 2; a.A. – gegen Berücksichtigung steuer- und sozialversicherungsrechtlicher Effekte: Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 138; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 647. 5 Vgl. BAG v. 8.10.1958 – 4 AZR 34/55, AP Nr. 1 zu Art. 7 Urlaubsgesetz Bayern; BAG v. 23.5.1984 – 4 AZR 129/82, NZA 1984, 255; BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 470 ff.; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 532; Kempen/Zachert/ Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 408 ff.; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 36; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 852 ff. 6 Vgl. BAG v. 8.10.1958 – 4 AZR 34/55, AP Nr. 1 zu Art. 7 Urlaubsgesetz Bayern; BAG v. 23.5.1984 – 4 AZR 129/82, NZA 1984, 255; BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 467 ff.; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 531; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 852 ff.; Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 409; ErfK/ Franzen, § 4 TVG Rz. 36. Für einen Gesamtvergleich sprechen sich – mitunter im Interesse einer Ermöglichung betrieblicher Bündnisse für Arbeit – etwa aus: Krauss, Günstigkeitsprinzip, S. 85; Kort, ZfA 2000, 329 (364); vgl. weiterhin Schliemann, NZA 2003, 122 (124); auch – für eine Sonderkonstellation (Aufeinandertreffen von mitgliedschaftlicher Tarifbindung und divergentem Bezugnahmeziel) – Franzen, RdA 2008, 193 (197); ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 37; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 291; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 487.
Greiner
819
Teil 9 Rz. 213
Wirkung der Tarifnormen
Diese bilden dann eine Sachgruppe. Entsprechende Sachgruppen in den zu vergleichenden Vertragswerken sind einander gegenüberzustellen. Welche Regelungen eine Sachgruppe bilden, stellt in der Praxis die wohl schwierigste Frage des Günstigkeitsvergleichs dar. Beispiel aus der jüngeren Rechtsprechung: Sind für die Erbringung der Arbeitsleistung zu bestimmten Zeiten sowohl nach den arbeitsvertraglichen als auch nach tarifvertraglichen Bestimmungen Zuschläge in einem bestimmten Prozentsatz des jeweiligen Stundenlohns zu zahlen, kann ein sog. Günstigkeitsvergleich nach § 4 Abs. 3 TVG nicht lediglich zwischen den unterschiedlichen Zuschlagssätzen erfolgen. In den Vergleich einzubeziehen sind auch die den jeweiligen Zuschlagssätzen nach dem Arbeitsvertrag und dem Tarifvertrag zugeordneten Stundenlöhne1. 213 Zwischen den beiden denkbaren Extrempositionen eines Einzel- oder Gesamtvergleichs wird damit ein sinnvoller Mittelweg gewählt. Sachgruppenbildung und Bewertung der Günstigkeit eröffnen freilich erhebliche Wertungsspielräume für die Rechtsprechung. Gegen die damit entstehende Kontrollkompetenz der Gerichte hinsichtlich des Günstigkeitsmaßstabs sprechen sich deutlich Schubert/Zachert aus2. Eine andere Entscheidungsinstanz als der objektiv urteilende, neutrale Richter lässt sich jedoch im Konflikt zwischen TV und Individualvertrag nicht finden. Insbesondere die Tarif- oder Arbeitsvertragsparteien selbst können – als notwendig parteiische Akteure – den Konflikt zwischen Individual- und Kollektivautonomie sicherlich nicht besser lösen (vgl. auch Rz. 209). 214 Der Rückgriff auf einen Sachgruppenvergleich ist trotz seiner Unschärfe die vorzugswürdige Lösung: Der Einzelvergleich3 würde dazu führen, dass eine punktuelle Betrachtung Platz griffe, so dass der Arbeitnehmer etwa in den Genuss einer im TV vorgesehenen kürzeren Arbeitszeit käme, jedoch Anspruch auf eine höhere Vergütung nach dem Einzelarbeitsvertrag hätte, die nach dem Arbeitsvertragsinhalt gerade eine höhere Arbeitszeit honorieren soll. Es ergäbe sich ein ironisierend so genanntes „Rosinenprinzip“4: Der Arbeitnehmer würde sich gewissermaßen die günstigsten Regelungen aus beiden Vertragswerken „als Rosinen herauspicken“. Gegen einen Einzelvergleich spricht damit entscheidend der Parteiwille: Weder die Arbeitsvertragsparteien noch die TV-Parteien wollen eine derartige Idealregelung zu Gunsten des Arbeitnehmers5. 215 Ein Gesamtvergleich6 scheidet demgegenüber bereits deshalb aus, weil er praktisch angesichts der Regelungsfülle der zu vergleichenden Regelungswerke nicht durch1 BAG v. 17.4.2013 – 4 AZR 592/11, AP Nr. 35 zu § 4 TVG. 2 Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 399. 3 Dafür Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 663; Linnenkohl/Rauschenberg/Reh, BB 1990, 628 (629). 4 S. nur ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 36; Jacobs/Krause/Oetker/Schubert/Jacobs, § 7 Rz. 36. 5 Gegen den Einzelvergleich Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 470; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 853; Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 409. 6 Dafür Krauss, Günstigkeitsprinzip, S. 85; Kort, ZfA 2000, 364; Mäckler, FS Arbeitsgerichtsbarkeit Rheinland-Pfalz, 2000, S. 381 (389 ff.); vgl. weiterhin Schliemann, NZA 2003, 124; auch – für eine Sonderkonstellation (Aufeinandertreffen von mitgliedschaftlicher Tarifbindung und divergentem Bezugnahmeziel) – Franzen, RdA 2008, 193 (197); ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 37; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 291; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 487.
820 Greiner
Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 217 Teil 9
führbar ist1. Die zu vergleichenden Vertragswerke enthalten regelmäßig höchst vielgestaltige Regelungen, so dass ein Gesamtvergleich, welcher TV in seiner Gesamtheit günstiger ist, schlechthin nicht möglich ist. Auch würde ein Gesamtvergleich dem Parteiwillen zuwiderlaufen2. dd) Wirkungen des Sachgruppenvergleichs Wird zwischen zwei Regelungsfragen das Bestehen eines hinreichenden Regelungs- 216 zusammenhangs verneint, so dass diese keine einheitliche Sachgruppe bilden, sind beide Regelungsfragen getrennt voneinander zu beurteilen. Es setzt sich jeweils die günstigere Regelung durch. Je restriktiver bei der Anerkennung von einheitlichen Sachgruppen verfahren wird, desto stärker ergibt sich eine Tendenz zum Einzelvergleich, durch die zugleich die zwingende Normwirkung (§ 4 Abs. 1 TVG) stärker abgesichert wird. Je großzügiger ein Sachgruppenzusammenhang bejaht wird, desto größer ist die Gefährdung für die zwingende Wirkung des TVs, da der TV dann umfassender zur Disposition gestellt wird. In Anbetracht dessen ist bei der Bejahung des Sachzusammenhangs mit Blick auf das 217 Regel-Ausnahme-Verhältnis von zwingender Wirkung und Günstigkeitsbetrachtung Zurückhaltung geboten3. Maßgeblich muss sein, ob die jeweiligen Regelungen nach dem Parteiwillen voneinander abhängen, miteinander stehen oder fallen sollen4. Dieser Regelungszusammenhang muss sich unmissverständlich und eindeutig aus dem Vertrag ergeben, damit ein Sachgruppenzusammenhang bejaht werden kann. Jedenfalls ein Sachzusammenhang ist ersichtlich zwischen dem vereinbarten Arbeitszeitvolumen und dem vereinbarten Arbeitsentgelt. Dies betrifft die synallagmatische Kernfrage des Arbeitsverhältnisses, das „do ut des“5. Wenn im Übrigen die Dauer des Urlaubs, die Länge der Wartezeit für den Urlaubsanspruch und die Höhe des Urlaubsgelds als einheitliche Sachgruppe benannt werden6, ist dies nicht zweifelsfrei7. Zutreffend ist, dass die Vereinbarung einer Befristung des Arbeitsverhältnisses auf einen Zeitpunkt nach Bestehen einer tarifvertraglichen Altersgrenze oder der vollständig entfristete Abschluss eines Arbeitsverhältnisses sich im Vergleich zu der tariflichen Altersgrenze als günstiger erweist und damit gem. § 4 Abs. 3 TVG Geltung erlangt8. Konsequent müsste man vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung freilich auch ein beschäftigungspolitisches Mandat der Tarifvertragsparteien ablehnen (vgl. Rz. 222 ff.), da auch die Vereinbarung einer tarifvertraglichen Altersgrenze zweifellos von beschäftigungs- und
1 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 470 m.w.N. 2 Vgl. etwa Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 470; Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 409 m.w.N. 3 Etwa Jacobs/Krause/Oetker/Schubert/Jacobs, § 7 Rz. 39; Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 411 ff. 4 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 471 ff.; Robert, NZA 2004, 633 (635); Schliemann, NZA 2003, 122 (126). 5 Für weitergehende Nutzbarmachung des Synallagmas in der Günstigkeitsbetrachtung Schliemann, NZA 2003, 122; dagegen Deinert, AuR 2003, 173. 6 So Wlotzke, Günstigkeitsprinzip, S. 85 f. 7 Zutr. Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 412. 8 BAG v. 7.11.1989 – GS 3/85, NZA 1990, 816; Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 433.
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Teil 9 Rz. 218
Wirkung der Tarifnormen
arbeitsmarktpolitischen Erwägungen getragen ist1 und mit der Statuierung wöchentlicher Höchstarbeitszeiten somit durchaus vergleichbar scheint. 218 Hinsichtlich der Anerkennung eines Sachzusammenhangs ist ein objektiver Maßstab anzulegen; ein Wille der TV-Parteien zu einer einheitlichen Regelung kann allenfalls ein Auslegungskriterium sein2. Ebenso wenig aussagekräftig ist die Bewertung der Parteien des Arbeitsvertrags3. ee) Zweifelsregelung 219 Angesichts der bestehenden Anwendungs- und Auslegungsprobleme bei der Durchführung eines Sachgruppenvergleichs ist das Bestehen einer Zweifelsregelung von hoher praktischer Bedeutung: Ergibt der Günstigkeitsvergleich nicht eindeutig die Günstigkeit der arbeitsvertraglichen Regelung einer Sachgruppe, handelt es sich etwa um eine ambivalente oder günstigkeitsneutrale Regelung, die freilich über eine inhaltsgleiche Wiederholung der Tarifnorm hinausgeht (zu diesem Fall vgl. Rz. 15), ergibt sich bereits aus dem systematischen Zusammenspiel von § 4 Abs. 1 und Abs. 3 TVG ein Vorrang der tarifvertraglichen Regelung. Ein Beispiel sind Regelungen zur Lage der Arbeitszeit, bei denen sich aus dargelegter objektiver Perspektive mitunter eine klare Günstigkeit nicht ermitteln lässt4. Gleiches gilt, wenn sich die Günstigkeit durch eine unterschiedliche Ausgestaltung der Tatbestandsvoraussetzungen bzw. Berechnungsmodalitäten der zu vergleichenden Leistungen im Einzelfall verschieden darstellt, z.B. eine Jubiläumszuwendung durch Anrechnung bestimmter Dienstzeiten mal nach der einen, mal nach der anderen Regelung höher ausfallen kann. Angesichts des anzuwendenden objektiven Maßstabs handelt es sich auch dann um eine ambivalente Regelung5. Im Zweifel muss in derartigen Fällen zu Gunsten der zwingenden Wirkung des TVs entschieden werden, da dies die Grundregel ist, von der § 4 Abs. 3 TVG nur in Fällen einer belegbaren Günstigkeit eine Abweichung zulässt6. ff) Maßgeblicher Zeitpunkt der Günstigkeitsbetrachtung 220 Der für die Günstigkeitsbetrachtung relevante Zeitpunkt ist grundsätzlich derjenige, in dem die beiden Regelungen erstmals konkurrierend nebeneinander bestehen, also der Zeitpunkt des Abschlusses der zeitlich nachgehenden Regelung7. Häufig ist dies der Zeitpunkt, zu dem die vom TV abweichende arbeitsvertragliche Regelung getroffen wurde. Im Sinne einer prognostischen Ex-ante-Entscheidung von diesem Zeitpunkt aus ist zu entscheiden, ob die arbeitnehmerungünstigen Abweichungen durch die arbeitnehmergünstigen Abweichungen derselben Sachgruppe mehr als eine Kom1 Vgl. nur ErfK/Müller-Glöge, § 14 TzBfG Rz. 56b m.w.N. 2 Entgegen Stein, Tarifvertragsrecht, Rz. 603 m.w.N. 3 Zutr. Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 413; a.A. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 471. 4 Arbeitszeiten außerhalb der „üblichen“ sind regelmäßig schon ungünstiger, Wiedemann/ Wank, § 4 TVG Rz. 465 entgegen Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 564. 5 So auch BAG v. 10.12.2014 – 4 AZR 503/12, NZA 2015, 946. 6 So auch BAG v. 10.12.2014 – 4 AZR 503/12, NZA 2015, 946. 7 BAG v. 20.7.1961 – 5 AZR 343/60, DB 1961, 1427; BAG v. 12.4.1972 – 4 AZR 211/71, DB 1972, 1242; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 475; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 558; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 856 f.
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Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 224 Teil 9
pensation erfahren. Nicht erforderlich ist, dass die arbeitsvertragliche Regelung den Arbeitnehmer in jedem einzelnen Zeitpunkt im Zeitablauf besser stellt1. Dies legt es nahe, auch insofern den Gruppenzusammenhang eng dahingehend zu interpretieren, dass er nur hinsichtlich solcher Arbeitsbedingungen bestehen kann, die einer sicheren Prognose zugänglich sind. Insofern scheidet eine Kompensation einer sich sofort ergebenden arbeitnehmerungünstigen Abweichung durch eine erst nach geraumer Zeit in Zukunft eintretende arbeitnehmergünstige Abweichung regelmäßig aus. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn die Begünstigung in der Zukunft auf einer unsicheren Tatsachengrundlage beruht, so dass nicht klar ist, ob sie überhaupt eintreten wird. Mit Recht wird vertreten, dass die Günstigkeitsbetrachtung erneut anzustellen ist, wenn die zu vergleichenden Regelungen neu gefasst wurden2 oder eine tatsächliche Änderung eingetreten ist, die zur Anwendbarkeit anderer Tarifnormen führt3. e) Grenzfragen des Günstigkeitsprinzips In den 1980er Jahren entstanden neue Diskussionen um das Günstigkeitsprinzip. Diese 221 knüpften zum einen an die von den Gewerkschaften propagierte Tarifpolitik der Arbeitszeitverkürzung auf 35 Stunden an, zum anderen an wirtschaftliche Krisenphänomene und ihre Bewältigung. Beide Facetten lassen sich prägnant unter den Stichworten des „beschäftigungspolitischen Mandats“ der Tarifparteien sowie der „betrieblichen Bündnisse für Arbeit“ zusammenfassen. aa) Beschäftigungspolitisches Mandat der TV-Parteien Die erste Problematik nimmt die Frage in den Blick, ob den TV-Parteien hinsichtlich 222 des vereinbarten Wochenarbeitszeitvolumens und korrespondierend auch der Entgelthöhe die Kompetenz zusteht, Höchstarbeitsbedingungen zu setzen. Sieht also beispielsweise der TV eine wöchentliche Arbeitszeit von 38 Stunden vor und vereinbaren die Arbeitsvertragsparteien einzelvertraglich eine Wochenarbeitszeit von 40 Stunden und eine entsprechend oder gar überproportional erhöhte Vergütung, stellt sich die Frage, welche Regelung in der Gesamtheit für den Arbeitnehmer günstiger ist. Vielfach wird es subjektiv aus Sicht des Arbeitnehmers günstiger sein, etwas mehr zu 223 arbeiten und dafür ein höheres Arbeitsentgelt zu erhalten. Die subjektive Perspektive des Arbeitnehmers scheint insbesondere dann für diese Annahme zu sprechen, wenn er für das zugesagte Mehrarbeitsvolumen eine überproportional erhöhte Vergütung erhält. Stellt man im Falle einer nur proportionalen Entgelt- und Arbeitszeiterhöhung auf die generell zugrunde zu legende Sichtweise eines objektiven, vernünftig abwägenden „Normal-Arbeitnehmers“ ab (vgl. Rz. 207), ergibt sich kein klares Bild: Der eine Arbeitnehmer mag eine kürzere Arbeitszeit präferieren, der andere Arbeitnehmer ein höheres Arbeitsentgelt bei erhöhtem Arbeitszeitvolumen. Es scheint sich also um eine ambivalente Regelung zu handeln. Die Kontroverse um das „beschäftigungspolitische Mandat“ der Tarifparteien knüpft genau bei dieser Fragestellung an. Haben es die TV-Parteien in der Hand, verbindli1 So aber Richardi, Kollektivgewalt, S. 381; wie hier Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 475. 2 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 475; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 561; Kempen/Zachert/ Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 419; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 693. 3 Beispiele bei Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 561.
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Teil 9 Rz. 225
Wirkung der Tarifnormen
che, durch den Arbeitsvertrag in keinem Fall zu erhöhende Arbeitszeitgrenzen zu setzen? Bejaht man diese Frage, gesteht man den Tarifparteien die Kompetenz zu, durch die Setzung von Höchstarbeitsbedingungen beschäftigungspolitische Ziele umzusetzen, insbesondere die Arbeitskräftenachfrage auf dem Arbeitsmarkt zu steuern, indem das vorhandene Arbeitszeitvolumen auf viele Schultern verteilt werden muss. 225 Nach einer Ansicht verfügen die Tarifparteien über keine derartigen arbeitsmarktpolitischen Kompetenzen. Vielmehr falle dies in die ausschließliche Kompetenz des parlamentarischen Gesetzgebers1. Ähnlich meint Richardi, die Frage der wöchentlichen Arbeitszeit könne durch die TV-Parteien nicht entgegen dem Willen der Arbeitsvertragsparteien geregelt werden2; sie sei Kern des rechtsgeschäftlichen Leistungsversprechens. Die Frage des Günstigkeitsvergleichs stelle sich daher gar nicht. Dieser Position lässt sich entgegenhalten3, dass Art. 9 Abs. 3 GG explizit die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen der Regelungskompetenz der Koalitionen anvertraut. Gerade mit Blick auf das heute vorherrschende weite Schutzbereichsverständnis zu Art. 9 Abs. 3 GG (vgl. Teil 1 Rz. 7 f.) lässt sich eine Ausklammerung arbeitsmarktpolitischer Erwägungen schwerlich begründen. Insbesondere die Benennung der Wirtschaftsbedingungen deutet auf eine über Regelungen für das einzelne Arbeitsverhältnis hinausgehende Kompetenz der TV-Parteien hin. Insofern ist der TV nicht nur auf individuelle Positionen im einzelnen Arbeitsverhältnis gerichtet und somit „privatnützig“, sondern kann auch gesamtgesellschaftliche Belange in den Blick nehmen und sich damit als „sozialnützig“ erweisen4. Die Sicherung der Beschäftigung ist somit ebenso wie die Förderung des Arbeitsmarkts unzweifelhaft ein legitimes Betätigungsfeld der TV-Parteien. Einem A-priori-Ausschluss der Beschäftigungspolitik hat daher auch die Rechtsprechung des BAG eine Absage erteilt5. 226 So sehr derartige Belange von den Kompetenzen der TV-Parteien prinzipiell umfasst sind, so deutlich wird jedoch gerade in dem genannten Beispielsfall der Konflikt mit Grundrechtspositionen der Arbeitsvertragsparteien. Mit der prinzipiellen Anerkennung arbeitsmarktpolitischer Kompetenzen ist dieser Konflikt im Binnenverhältnis von Koalition und Koalitionsmitglied noch nicht beantwortet. Letztlich geht es um das grundlegende Verhältnis zwischen kollektiv und individuell ausgeübter Privatautonomie (vgl. schon Rz. 201 ff.). 227 Insofern ist der dogmatische Ausgangspunkt des § 4 Abs. 1 TVG in den Blick zu nehmen, wonach der TV lediglich einseitig zwingende Mindestarbeitsbedingungen, ein Mindestschutzniveau zu Gunsten des Arbeitnehmers, schaffen möchte (vgl. Rz. 10, 13). Er will hingegen nicht in bevormundender und leistungsfeindlicher Weise den Arbeitnehmer an der Wahrnehmung gesteigerter individueller Marktchancen hindern. Mit diesem dogmatischen Ausgangspunkt der zwingenden Wirkung des TVs und des Günstigkeitsprinzips wäre es kaum vereinbar, dem Arbeitnehmer, der infolge 1 So etwa Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1133; Zöllner, DB 1989, 2121 ff.; Bengelsdorf, ZfA 1990, 563 ff.; Buchner, DB 1990, 1715 (1718 f.); Joost, ZfA 1984, 173 (181 f.); Loritz, ZfA 1990, 133 (154 ff.). 2 Richardi, DB 1990, 1613 (1615 f.); Richardi, ZfA 1990, 211 (232). 3 Zu Recht anders auch Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 480 f.; Hanau/Thüsing, ZTR 2001, 1 (6); Zachert, DB 2001, 1198 (1199). 4 Zutr. Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 423; Kempen, FS Hanau, S. 529 ff. 5 BAG v. 28.6.2001 – 6 AZR 114/00, NZA 2002, 331.
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Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 230 Teil 9
besonderer Kompetenzen für seinen Arbeitgeber von besonders hohem Wert ist und der deswegen das Angebot einer Arbeitszeiterhöhung bei überproportional gesteigertem Arbeitsentgelt erhält, diese Möglichkeit zu versagen. Letztlich würden die individuellen Arbeitnehmerinteressen zu Gunsten – an sich legitimer – sozialpolitischer Anliegen seiner Gewerkschaft geopfert. Die Kompetenz, Höchstarbeitszeiten zu setzen, beinhaltet damit eine verfassungswidrige Beeinträchtigung der individuellen Vertragsfreiheit (Art. 12 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG)1 beider Vertragsparteien, deren Entfaltung der TV gerade dient. Die vorrangige und die verfassungsrechtliche Stellung der Gewerkschaften erst legiti- 228 mierende Aufgabe, die Ungleichgewichte im Arbeitsverhältnis zu Gunsten des Arbeitnehmers auszugleichen, würde hinter die genannten beschäftigungspolitischen Zielsetzungen zurücktreten. Letztlich wäre auch der Gewerkschaft damit nicht gedient, da die Handlungsempfehlung an den betreffenden Arbeitnehmer lauten müsste, die Tarifbindung durch Gewerkschaftsaustritt abzustreifen. Insofern spricht viel dafür, es bei dem dargestellten Grundprinzip zu belassen, dass Tarifnormen keine Höchstarbeitsbedingungen setzen; § 4 Abs. 3 TVG tritt als „gesetzliche Öffnungsklausel“2 neben die tarifliche Höchstarbeitszeitregelung und ermöglicht eine einzelvertragliche Arbeitszeitverlängerung, soweit diese objektiv und eindeutig arbeitnehmergünstiger ist. Erweist sich demnach die einzelvertragliche Arbeitszeitverlängerung aufgrund einer 229 überproportionalen Entgeltsteigerung als insgesamt arbeitnehmergünstig, ist sie geeignet, die tarifvertragliche Arbeitszeit- und Entgeltregelung nach § 4 Abs. 3 TVG zu verdrängen3. Bei einer ambivalenten Günstigkeit, also in Fällen, in denen der Arbeitszeiterhöhung keine überproportionale, sondern nur eine proportionale Entgeltsteigerung gegenübersteht, kann es hingegen bei dem Grundprinzip (vgl. Rz. 219) bleiben, dass bei einer nicht klar ersichtlichen Günstigkeit der einzelvertraglichen Regelung im Zweifel die tarifliche Regelung Vorrang behält. bb) Betriebliche Bündnisse für Arbeit (1) Grundkonstellation und rechtliche Bewertung Grundgedanke der in der Debatte um betriebliche Bündnisse für Arbeit angestrebten 230 Aufweichung der zwingenden Wirkung von Tarifnormen ist, dass tarifvertragliche Vorgaben vielfach den betrieblichen Bedürfnissen vor Ort nicht hinreichend gerecht würden und sich in Unternehmenskrisen beschäftigungsfeindlich auswirkten4. Dahinter steht die Sorge, dass die TV-Parteien auch in Krisensituationen eines Unternehmens abstrakte Ideale wie den FlächenTV verteidigen und die Interessen der konkret betroffenen Belegschaft an der Beschäftigungssicherung demgegenüber in den Hintergrund treten lassen. Notwendige Zugeständnisse bei Arbeitszeit und Arbeits-
1 Vgl. die ausf. verfassungsrechtlichen Darlegungen bei Bengelsdorf, ZfA 1990, 563 (573 ff.); Buchner, DB 1990, 1715 ff.; Hromadka, DB 1992, 1042 (1045); Zöllner, DB 1989, 2121 (2122); Schlüter, FS Stree und Wessels, S. 1061 (1082 f.). 2 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 491. 3 In diese Richtung insbes. Heinze, NZA 1991, 329 (395); Schmidt, Günstigkeitsprinzip, S. 138. 4 Rieble, ZfA 2004, 1 (31).
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Teil 9 Rz. 231
Wirkung der Tarifnormen
entgelt könnten auf diese Weise unterbleiben und mit Rücksicht auf abstrakte organisationspolitische Erwägungen der Verlust von Arbeitsplätzen hingenommen werden. In der Unternehmenskrise müsse daher den Betriebsräten, gegebenenfalls in Verbindung mit einer Urabstimmung in der Belegschaft, bzw. den Arbeitsvertragsparteien die Kompetenz eingeräumt werden, mit der Arbeitgeberseite beschäftigungssichernde Zugeständnisse bei den Arbeitsbedingungen zu vereinbaren und zu diesem Zweck – in Verbindung mit Beschäftigungsgarantien – arbeitnehmerungünstigere Beschäftigungsbedingungen vorzusehen als im TV statuiert. Teilweise wird die Zulassung derartiger Tarifunterbietungen unter Hinweis auf Art. 12 Abs. 1 GG sogar für verfassungsrechtlich geboten gehalten1. Unter dem Stichwort der „betrieblichen Bündnisse für Arbeit“ wird somit die Möglichkeit eines Günstigkeitsvergleichs (vgl. Rz. 206 ff.) zwischen den Regelungskomplexen Arbeitszeitvolumen und Arbeitsentgelt einerseits und Beschäftigungssicherung andererseits diskutiert. Derartige Vereinbarungen finden sich vielfach in SanierungsTVen. Insofern sind sie unproblematisch zu vereinbaren, da der spezielle SanierungsTV einem von derselben Gewerkschaft abgeschlossenen VorläuferTV im Wege der Zeitkollisionsregel oder Spezialität vorgeht (vgl. Rz. 79 ff.). Unter dem genannten Stichwort der betrieblichen Bündnisse für Arbeit wird hingegen diskutiert, ob derartige Vereinbarungen auch ohne Beteiligung der tarifschließenden Gewerkschaft auf arbeitsvertraglicher oder betrieblicher Ebene geschlossen werden können. 231 Zutreffend weist das BAG darauf hin, dass die praktische Notwendigkeit dieses Wegs dadurch reduziert wird, dass die TV-Parteien idealtypisch einem Konkurrenz- und damit Rechtfertigungsdruck ausgesetzt sind2: Berücksichtigen sie die Günstigkeitsvorstellungen ihrer Mitglieder nicht ausreichend, etwa durch Versagung eines beschäftigungssichernden SanierungsTVs, laufen sie Gefahr, ihre Mitglieder an eine konkurrierende Gewerkschaft zu verlieren3. Voraussetzung für dieses Argument ist freilich das Vorhandensein mehrerer konkurrierender Koalitionen. Dieser Zustand ist bei weitem noch nicht flächendeckend realisiert. Durch die Aufgabe des Prinzips der Tarifeinheit im Betrieb (vgl. Rz. 108 ff.)4 ist eine weitere Entwicklung in Richtung auf ein wettbewerbs- und konkurrenzorientiertes TV-System zu erwarten. 232 De lege lata scheitert ein in Form einer Betriebsvereinbarung vereinbartes „betriebliches Bündnis“ an § 77 Abs. 3 BetrVG (vgl. Rz. 262 ff.). Auch de lege ferenda sehen sich derartige Überlegungen dem Einwand ausgesetzt, dass durch die entstehende Regelungskonkurrenz zwischen tarifvertraglicher und betriebsverfassungsrechtlicher Ebene die verfassungsrechtlich durch Art. 9 Abs. 3 GG institutionell gesicherte Funktionsfähigkeit des TV-Systems5 in Gefahr geraten könnte. Zwar ist bei der Ausgestaltung der Tarifautonomie ein erheblicher Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers anzuerkennen. Die entstehende Konkurrenzsituation zwischen Gewerkschaften und Betriebsräten als „Regelungsanbietern“ könnte jedoch zu einer verfassungsrechtlich problematischen Marginalisierung des TV-Systems führen6. Vergleichbare Entwicklungen lassen sich etwa im spanischen Tarifvertragsrecht beobachten. 1 2 3 4 5 6
So etwa Schliemann, NZA 2003, 122 (128); Hromadka, DB 2003, 42 (43). BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. Vgl. Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 338. BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068. Zu diesem Topos Wank, FS SOKA Bau 2007, S. 141. Dazu auch Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 334.
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Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 235 Teil 9
Soweit § 77 Abs. 3 BetrVG nicht eingreift – also bei Einführung eines „betrieblichen 233 Bündnisses“ auf einzelvertraglicher Ebene, ggf. im Zusammenspiel mit einer Regelungsabrede1 zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat, muss die Wirksamkeit angesichts der einseitig zwingenden Wirkung der Tarifnormen (§ 4 Abs. 1 TVG) in Form einer Günstigkeitsbetrachtung nach § 4 Abs. 3 TVG diskutiert werden. Mit Recht verneint das BAG in der grundlegenden Burda-Entscheidung2 die Möglichkeit eines Sachgruppenvergleichs zwischen den genannten Regelungskomplexen. Zwischen Beschäftigungssicherung einerseits und Arbeitszeit/Arbeitsentgelt andererseits besteht kein hinreichender Sachzusammenhang. Die Regelungskomplexe Beschäftigungssicherung und Arbeitszeit/Arbeitsentgelt sind jeweils für sich genommen einer Günstigkeitsbetrachtung zuzuführen (vgl. Rz. 212 ff.). Käme man zu einer entgegengesetzten Betrachtungsweise, würde die zwingende Wirkung des TVs (§ 4 Abs. 1 TVG) auf weiter Front aufgeweicht: Der Arbeitgeber hätte es in der Hand, auf arbeitsvertraglicher Ebene die tariflichen Kernregelungen zum Synallagma durch Zugeständnisse an anderer Stelle auszuhebeln3. Sofern von Teilen der Literatur4 eingewandt wird, dass das „Ob“ des Bestehens eines 234 Arbeitsverhältnisses, also der Erhalt des Arbeitsplatzes, logische Grundlage aller Arbeitsbedingungen wie Arbeitszeit und Arbeitsentgelt ist, ist dies zwar zutreffend. Ein Günstigkeitsvergleich zwischen Beschäftigungsgarantie, Arbeitszeit und Arbeitsentgelt lässt sich damit jedoch nicht begründen, da die Beschäftigungsgarantie zwar den Bestandsschutz verbessert, der Arbeitsplatzverlust jedoch nicht die unmittelbar drohende Alternative darstellt, sondern vielmehr regelmäßig von anderen Fragen, insbesondere kündigungsrechtlicher Natur, abhängig ist. (2) Sanierungstarifvertrag, dreiseitige Standortvereinbarung Mit der zwingenden Wirkung des TVs und den Grundsätzen des Günstigkeitsver- 235 gleichs ist ausschließlich vereinbar, den Arbeitgeber in der Unternehmenskrise auf den unbequemen, aber gangbaren Weg von Tarifverhandlungen über einen SanierungsTV zu verweisen. In der Praxis hat sich hier die Möglichkeit „dreiseitiger Standortvereinbarungen“ unter Beteiligung von Arbeitgeber, Gewerkschaft und Betriebsrat herausgebildet5. Dies ist eine sinnvolle Alternative, die die betriebsbezogene, sachnahe Kompetenz des Betriebsrats ebenso einbindet wie übergreifende Erwägungen auf Gewerkschaftsseite6. Dreiseitige Standortvereinbarungen sollten von der Rechtsprechung geschützt und gefördert werden7; unverständlich scheint, wenn in der jüngeren
1 Zum Begriff ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 127. 2 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887; krit. dazu u.a. Buchner, NZA 1999, 897 (901 f.); Picker, NZA 2002, 761 (767); zust. u.a. Franzen, RdA 2001, 1 (2 f.); Richardi, DB 2000, 42 (44, 47); vgl. weiterhin auch ArbG Marburg v. 7.8.1996 – 1 Bv 6/96, NZA 1996, 1331; ArbG Frankfurt v. 28.10.1996 – 1 Ca 6331/96, NZA 1996, 1340. 3 Zutr. BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887; BAG v. 7.11.2002 – 2 AZR 742/00, NZA 2003, 1139; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 443 ff.; Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 434; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 636 ff.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 88 f.; a.A. insbes. Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 574 ff. m.w.N. 4 Grundlegend Adomeit, NJW 1984, 26; vgl. auch etwa Niebler/Schmiedl, BB 2001, 1631. 5 Dazu Thüsing, NZA 2008, 201. 6 Vgl. auch Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 546. 7 So noch die Tendenz in BAG v. 7.11.2000 – 1 AZR 175/00, NZA 2001, 727.
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Teil 9 Rz. 236
Wirkung der Tarifnormen
Rechtsprechung1 erhebliche neue formale Hürden für derartige wünschenswerte Abreden geschaffen werden, ohne dass dafür eine echte Regelungsnotwendigkeit ersichtlich ist. (3) Arbeitszeitverlängerung im Sanierungstarifvertrag 236 Verneint man einen Sachzusammenhang zwischen Beschäftigungssicherung einerseits und Arbeitszeit/Arbeitsentgelt andererseits, ist es logisch zwingend, auch den umgekehrten Fall einer tarifvertraglichen Verlängerung der im Einzelarbeitsvertrag vereinbarten Arbeitszeit bei Zusage einer Beschäftigungssicherung, etwa in einem SanierungsTV, entsprechend zu beurteilen: Auch hier scheidet ein übergreifender Sachgruppenvergleich aus. Dogmatisch nicht begründbar ist es, wenn gerade die Rechtsprechung, die in der umgekehrten Konstellation die zwingende Wirkung des TVs zu Recht hochhält, insofern die Möglichkeit eines kollektiven Günstigkeitsvergleichs bejaht2. 237 Will der Arbeitgeber bei dieser Sachlage von einer arbeitsvertraglichen Zusage abrücken, bleibt ihm nur die Möglichkeit einer individualrechtlichen Änderungskündigung oder eines Änderungsvertrags; er kann freilich auch bei der ursprünglichen Arbeitsvertragsgestaltung bereits für derartige Konstellationen Sorge tragen, indem Änderungsvorbehalte in den Vertrag aufgenommen werden3. Auch kann durch geeignete Bezugnahmeklauseln auf den TV (s. Teil 10) und den Verzicht auf eine abweichende einzelvertragliche Ausgestaltung die Divergenz zwischen tarifvertraglicher Regelungssituation und Einzelarbeitsvertrag vermieden werden. Ist hingegen eine uneingeschränkte und vorbehaltlose einzelvertragliche Ausgestaltung von Arbeitszeit und Arbeitsentgelt erfolgt, kann diese durch eine ungünstigere tarifvertragliche Regelung in einem SanierungsTV auch in Kombination mit einer tarifvertraglichen Beschäftigungsgarantie nicht beseitigt werden. 2. Öffnungsklauseln 238 Die in § 4 Abs. 3 TVG vorgesehenen Öffnungsklauseln erklären die davon erfassten Tarifnormen für vertragsdispositiv. Sie ermöglichen mithin die Unterschreitung des tarifvertraglichen Niveaus durch eine rangniedere Regelung. Für die praxisrelevante Abweichung durch Betriebsvereinbarung ist eine explizite Öffnung für die betriebsverfassungsrechtliche Ebene erforderlich (vgl. § 77 Abs. 3 BetrVG; s. Rz. 284). Die praktische Bedeutung einer allgemeinen und damit nur zu Gunsten der individualvertraglichen Ebene wirkenden Öffnungsklausel nach § 4 Abs. 3 TVG ist demgegenüber gering4. 239 Als Abweichung von der gesetzlich vorgesehenen einseitig zwingenden Wirkung der Tarifnormen werden Öffnungsklauseln regelmäßig ausdrücklich vereinbart. Jedoch 1 BAG v. 15.4.2008 – 1 AZR 86/07, NZA 2008, 1074; dazu Grau/Döring, NZA 2008, 1335; plastisch Thüsing, NZA-Editorial 13/2011. 2 BAG v. 25.10.2000 – 4 AZR 438/99, NZA 2001, 328; BAG v. 28.6.2001 – 6 AZR 114/00, NZA 2002, 331; Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 435; Zachert, AuR 1995, 1 (11 f.); Gotthardt, DB 2000, 1462. 3 Vgl. Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 70 Rz. 1 ff. 4 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 376; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 553.
828 Greiner
Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 243 Teil 9
ist nicht ersichtlich, weshalb eine nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen ermittelte, z.B. konkludente, Öffnung nicht in Betracht kommen sollte1. Eine durch Auslegung zu ermittelnde Öffnung kann sich insbesondere aus der Verwendung von Solloder Kann-Vorschriften im TV ergeben. Die Öffnungsklausel kann generell oder nur unter eingegrenzten Voraussetzungen Ab- 240 weichungen zulassen. Eine Grenze liegt darin, dass die Tarifvertragsparteien ihre Regelungsmacht nicht vollständig oder auch nur im Kern auf rangniedere Ebenen delegieren dürfen2. Eine derart weite Ausgestaltung liefe auf eine Abbedingung des zwingenden gesetzlichen Günstigkeitsprinzips hinaus. Durch eine enge oder weite Ausgestaltung der Öffnungsklausel haben es die Tarifparteien gleichwohl gewissermaßen in der Hand, den Günstigkeitsvergleich partiell zu steuern3. Die Öffnungsklausel unterliegt wie andere Tarifnormen keiner Inhaltskontrolle (§ 310 Abs. 4 Satz 1 BGB), ist jedoch an den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) gebunden. Liegen sachliche Differenzierungsgründe vor, kann die Unterschreitung des tariflichen Niveaus für einzelne Arbeitnehmergruppen gerechtfertigt sein, etwa wenn in diesen Arbeitnehmergruppen ein statistisch nachweisbarer Überhang an Arbeitskräften besteht4. Häufiger als eine echte, Abweichungen zulassende Öffnungsklausel ist die Öffnung 241 für ergänzende einzelvertragliche Regelungen. Derartige Formulierungen haben letztlich nur deklaratorischen Charakter, da einzelvertragliche Regelungen zur Ergänzung einer Tarifnorm, also zur Regelung tarifvertraglich nicht geregelter Fragen, stets zulässig sind. 3. Anrechnungs-/Aufsaugungsprinzip a) Einführung Wie bereits festgestellt, enthalten TV-Normen nur einseitig zwingende Arbeitsbedin- 242 gungen. Der TV will lediglich Mindestarbeitsbedingungen, keine Höchstarbeitsbedingungen festlegen. Dieses Verständnis ist nach dem Gesagten bereits verfassungsrechtlich geboten (vgl. Rz. 199); auf diese Weise wird ein sachangemessener Ausgleich zwischen kollektivierter Privatautonomie (Tarifautonomie) und individueller Privatautonomie im Arbeitsverhältnis erzielt. Diese Überlegungen müssen auch Leitlinie sein für die Behandlung der Anrechnung 243 von Tariflohnerhöhungen auf arbeitsvertraglich gewährte außer- und übertarifliche Arbeitgeberleistungen. Zweifellos haben es die Arbeitsvertragsparteien in der Hand, durch eine angemessene Ausgestaltung des Arbeitsvertrags das Schicksal derartiger Zulagen zum Tariflohn zu regeln5. So kann der Arbeitgeber darauf hinwirken, dass ein Anrechnungsvorbehalt, ein Freiwilligkeits- oder Widerrufsvorbehalt in den Arbeitsvertrag Eingang findet6. Insbesondere kann der Arbeitsvertrag transparent vorsehen, dass künftige Erhöhungen des Tarifentgelts auf die übertariflich gewährte Zu1 Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 379; Koberski/Clasen/Menzel, § 4 TVG Rz. 96; strenger Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 421. 2 Vgl. Wank, NJW 1996, 2273 (2280). 3 Vgl. Bieback, ZfA 1979, 453 (477); Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 352. 4 Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 377; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 412. 5 Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 508. 6 Zur Klauselgestaltung Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 70.
Greiner
829
Teil 9 Rz. 244
Wirkung der Tarifnormen
lage angerechnet werden. Auch das BAG teilt den Ansatz, zunächst den Arbeitsvertragsinhalt auszuwerten: Ob eine Tariflohnerhöhung individualrechtlich auf eine übertarifliche Vergütung angerechnet werden könne, hänge von der zugrunde liegenden Vergütungsabrede ab. Haben die Arbeitsvertragsparteien dazu eine ausdrückliche Vereinbarung getroffen, gelte diese1. 244 Problematisch ist die Rechtslage, wenn keine derartige Vereinbarung zum Schicksal einer übertariflichen Zulage im Falle künftiger Tariflohnerhöhungen vorhanden ist. In diesem Fall liegt der zutreffende Ansatz in einer Auslegung der übertariflichen Zulage2. Ergibt die Auslegung kein klares Bild, wäre es aus individualarbeitsrechtlicher Sicht einzig konsequent, den Arbeitgeber im Anwendungsbereich der §§ 305 ff. BGB angesichts seiner Möglichkeiten zur transparenten Vertragsgestaltung „im Zweifel“ an dem unbedingt abgegebenen Leistungsversprechen festzuhalten. Dies gebietet bereits die Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB. Doch auch bei der Gewährung eines übertariflichen Entgeltbestandteils im Wege einer echten Individualabrede ist nach dem objektivierten Empfängerhorizont des Arbeitnehmers, auf den es für die Auslegung ankommt (§§ 133, 157 BGB), nicht ersichtlich, dass das Angebot des Arbeitgebers unter einem stillschweigenden Anrechnungsvorbehalt stehen soll3. Die Rückbesinnung auf die vertragsrechtlichen Auslegungsgrundsätze sollte auch hier4 an die Stelle einer rein tarifrechtsfunktionalen Handhabung individualvertraglicher Abreden treten. 245 In deutlichem Kontrast zu dieser eigentlich klaren individualrechtlichen Situation steht, dass nach h.M. eine Anrechnung von Tariflohnerhöhungen auf unbenannte außertarifliche Zulagen möglich sein soll, wenn diese keinen eigenständigen Zweck verfolgen, sondern tarifliche Entgeltbestandteile lediglich erhöhen – auch wenn es an einer arbeitsvertraglichen Anrechnungsregelung fehlt. Es kommt also auf die Zweckidentität5 an; Oetker bezeichnet dies als „Einheitsprinzip“6. Aus Sicht des BAG ist „aus den Umständen zu ermitteln, ob eine Befugnis zur Anrechnung besteht“. Diese Auslegung ergebe, dass die Anrechnung „grundsätzlich möglich“ sein soll, sofern dem Arbeitnehmer nicht explizit ein selbständiger Entgeltbestandteil neben dem jeweiligen Tarifentgelt zugesagt worden ist7. Die Eigenständigkeit gegenüber der tariflichen Grundvergütung wird z.B. bejaht bei Zulagen, die besondere Leistungen des Arbeitnehmers oder Erschwernisse bei der Arbeitsleistung honorieren bzw. eigenständigen sozialen Zwecken dienen (vgl. näher Rz. 255)8. 1 BAG v. 27.8.2008 – 5 AZR 821/07, AP Nr. 206 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie. 2 Allg. Ansicht, vgl. nur BAG v. 6.3.1958 – 2 AZR 457/55, AP Nr. 6 zu § 4 TVG Übertarifliche Lohn- und Tariflohnerhöhung; Oetker, RdA 1991, 16 (21 ff.); Richardi, NZA 1992, 961 (964). 3 Großzügiger ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 420, der die Auslegung des BAG in dieser Konstellation für vertretbar hält. 4 Vgl. die an eine ähnliche Begründung anknüpfende Rechtsprechungsänderung zur Auslegung kleiner dynamischer Bezugnahmeklauseln als „Gleichstellungsabreden“, BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965 (insbes. Rz. 30 ff.). 5 Oetker, RdA 1991, 16 (22 ff.). 6 Oetker, RdA 1991, 16 (22). 7 BAG v. 27.8.2008 – 5 AZR 821/07, AP Nr. 206 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; s.a. BAG v. 1.3.2006 – 5 AZR 540/05, NZA 2006, 688 m.w.N.; BAG v. 30.5.2006 – 1 AZR 111/05, NZA 2006, 1170; mit Recht gegen eine derartige Zweifelsregel plädieren Joost, JuS 1989, 274 (277); Meyer, DB 1990, 1086 (1087). 8 BAG v. 19.5.2004 – 5 AZR 354/03, NZA 2005, 599; BAG v. 21.1.2003 – 9 AZR 546/01, NZA 2003, 879; näher Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 512.
830 Greiner
Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 249 Teil 9
Bei „unbenannten“ Zulagen liegt aus Sicht des BAG in der tatsächlichen Zahlung 246 keine konkludente vertragliche Abrede, dass die Zulage auch nach einer Tariflohnerhöhung als selbständiger Lohnbestandteil neben dem jeweiligen Tariflohn gezahlt werden solle. Vielmehr bedürfe es dafür entweder einer ausdrücklichen Regelung der Nicht-Anrechenbarkeit oder zumindest einer besonderen Zweckbestimmung. Das soll selbst dann gelten, wenn die Zulage über einen längeren Zeitraum vorbehaltlos gezahlt und nicht mit der Tariflohnerhöhung verrechnet worden ist1. Das Rechtsinstitut der betrieblichen Übung steht einer Anrechnung somit nur bei Zulagen mit eigenständiger Zwecksetzung entgegen, wenn bei Tariflohnerhöhungen in der Vergangenheit eine Anrechnung unterblieben ist2. Bei „unbenannten“ Zulagen soll anderes gelten: Hier hält das BAG die Grundsätze der betrieblichen Übung nur in Ausnahmefällen für einschlägig3. Das BAG begründet diese Auslegung mit dem Parteiwillen: Die Zulage werde gewährt, 247 weil den Arbeitsvertragsparteien das Tarifentgelt nicht ausreichend erscheine. Es werde gewissermaßen künftigen Tariflohnerhöhungen vorgegriffen. Für den Arbeitgeber sei „regelmäßig nicht absehbar, ob er bei künftigen Tariflohnerhöhungen weiter in der Lage sein wird, eine bisher gewährte Zulage in unveränderter Höhe fortzuzahlen“. Dies sei für den Arbeitnehmer erkennbar. Erhöhe sich dann die Tarifvergütung, entspreche die Anrechnung „regelmäßig dem Parteiwillen, weil sich die Gesamtvergütung nicht verringert“4. Dem Arbeitnehmer geschehe kein Unrecht, da sich „lediglich das Verhältnis von übertariflichen zu tariflichen Entgeltbestandteilen“ verschiebe5. Die Anrechnung dient dabei ersichtlich dem Interesse des Arbeitgebers an Flexibili- 248 sierung und Überforderungsschutz. Daneben wird mittelbar jedoch auch dem Interesse der Tarifparteien genutzt, indem durch die Anrechnung übertariflicher Entgeltbestandteile die Verhandlungsmasse erhöht wird. Übertarifliche Entgeltbestandteile können auf diese Weise abgeschmolzen und in die Verhandlungsmasse für den tariflichen Bereich einbezogen werden. Letztlich wird mit der Anerkennung eines Anrechnungsprinzips die Individualautonomie der Arbeitsvertragsparteien zugunsten der Kollektivautonomie der Tarifparteien geschmälert; individualvertraglich ausgehandelte Rechtspositionen, die der einzelne Arbeitnehmer kraft individueller Privatautonomie ausgehandelt hat, werden entgegen den Prinzipien des Arbeitsvertragsrechts für eine kollektive Neuverteilung verfügbar gemacht. b) Anrechnungsvorbehalt Liegen die Voraussetzungen für eine AGB-Kontrolle (§§ 305 ff. BGB) vor, erfolgt eine 249 Prüfung des Anrechnungsvorbehalts am Maßstab der §§ 308 Nr. 4, 307 Abs. 1, 2 BGB. 1 BAG v. 31.10.1995 – 1 AZR 276/95, NZA 1996, 613, Rz. 21; BAG v. 27.8.2008 – 5 AZR 821/07, AP Nr. 206 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; ebenso Koberski/Clasen/Menzel, § 4 TVG Rz. 32; Etzel, NZA-Beil. 1987, 19 (30). 2 So BAG v. 31.3.1955 – 2 AZR 49/53, AP Nr. 4 zu § 4 TVG. 3 BAG v. 4.9.1985 – 7 AZR 262/83, NZA 1986, 521; BAG v. 26.5.1993 – 4 AZR 149/92, NZA 1994, 513; BAG v. 4.6.1980 – 4 AZR 530/78, BB 1980, 1583. 4 BAG v. 27.8.2008 – 5 AZR 821/07, AP Nr. 206 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG v. 21.1.2003 – 1 AZR 125/02, NZA 2003, 1056; BAG v. 14.8.2001 – 1 AZR 744/00, NZA 2002, 342 (Rz. 40). 5 BAG v. 27.8.2008 – 5 AZR 821/07, AP Nr. 206 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie (Rz. 26).
Greiner
831
Teil 9 Rz. 250
Wirkung der Tarifnormen
Insofern ist von hoher Bedeutung, dass auch ein einzelvertraglicher ausdrücklicher Anrechnungsvorbehalt nur dann ohne weiteres angemessen scheint, wenn er sich auf eine sog. unbenannte übertarifliche Zulage bezieht, die lediglich tarifvertraglich vorgesehene Vergütungsbestandteile quantitativ erhöht. Werden arbeitsvertragliche Zulagen mit einer eigenständigen Zwecksetzung gewährt, die in tariflich geregelten Entgeltbestandteilen keine Berücksichtigung gefunden hat, ist die Wirksamkeit einer Anrechnungsklausel im Lichte der §§ 305 ff. BGB fragwürdig, da die spätere Erhöhung der Tarifvergütung den Zweck der einzelvertraglich vereinbarten Zulage in keiner Weise berührt. 250 Bei der AGB-rechtlichen Beurteilung von ausdrücklich vereinbarten Anrechnungsvorbehalten im Individualvertrag ist jedoch zu beachten, dass gegenüber den Prüfungsmaßstäben für Freiwilligkeits- und Widerrufsvorbehalte1 die Angemessenheit prinzipiell großzügiger zu bewerten ist. Infolge der bloßen Anrechenbarkeit tritt eine Reduktion des verfügbaren und für den Lebensunterhalt des Arbeitnehmers notwendigen Einkommens nicht ein2. Auch liegen Anrechnungsvorbehalten rechtliche Besonderheiten des Arbeitsrechts zugrunde, die gemäß § 310 Abs. 4 Satz 2 BGB angemessen zu berücksichtigen sind3: Der Arbeitgeber hat angesichts der Dynamisierung der Vergütung durch künftige Tarifabschlüsse ein berechtigtes Interesse daran, übertarifliche Entgeltbestandteile nicht fest zuzusagen. Dieses Interesse wirkt sich deutlich zugunsten der Klauselangemessenheit aus. Gleichwohl wird man auch in diesen Fällen, da es sich um eine Preisnebenabrede handelt, zu einer vollen Angemessenheitskontrolle gelangen müssen und es nicht bei einer Transparenzkontrolle (§ 307 Abs. 3, Abs. 1 Satz 2 BGB) bewenden lassen können4. 251 Zur Ausübung des individualvertraglichen Anrechnungsvorbehalts ist entgegen der h.M. eine Ausübungserklärung des Arbeitgebers schon aus Gründen der individualrechtlichen Wirksamkeit und Transparenz erforderlich. Die darüber hinaus für möglich gehaltene Anrechnung ipso iure auch ohne Erklärung des Arbeitgebers5 ist nur auf Grundlage der verfehlten (vgl. Rz. 244) Geltung des Anrechnungsprinzips erklärbar. Zutreffend ist freilich der Hinweis, dass die Anrechnungserklärung häufig der Entgeltabrechnung konkludent zu entnehmen sein wird6; dies genügt. Die bisher vorherrschende Sichtweise, wonach ein unwirksamer Widerrufsvorbehalt als Anrechnungsvorbehalt gedeutet werden und Wirksamkeit entfalten kann7, dürfte bei konsequenter Anwendung des AGB-Rechts und des dort anerkannten Verbots der geltungserhaltenden Reduktion regelmäßig keinen Bestand mehr haben. Möglich bleibt freilich auch eine partielle Anrechnung. Insofern ist in einer uneingeschränkt vorbehaltenen Anre-
1 Vgl. insbes. BAG v. 12.1.2005 – 5 AZR 364/04, NZA 2005, 465; BAG v. 11.10.2006 – 5 AZR 721/05, NZA 2007, 87; ausf. ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 51 ff. m.w.N. 2 Zutr. Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 469; die Zumutbarkeit bejahend auch BAG v. 19.4.2012 – 6 AZR 14/11, AP Nr. 10 zu § 5 TVÜ (Rz. 47). 3 BAG v. 1.3.2006 – 5 AZR 363/05, NZA 2006, 746. 4 So aber BAG v. 1.3.2006 – 5 AZR 363/05, NZA 2006, 746; BAG v. 1.3.2006 – 5 AZR 540/05, NZA 2006, 688 (Rz. 15). 5 Dafür BAG v. 25.6.2002 – 3 AZR 167/01, NZA 2002, 1216; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 866 m.w.N. 6 Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 471. 7 So BAG v. 22.4.1997 – 1 ABR 77/96, NZA 1997, 1059.
832 Greiner
Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 254 Teil 9
chenbarkeit auch die Möglichkeit einer Teilanrechnung enthalten. Sie stellt ein milderes Mittel, ein Minus, zur vollständigen Anrechnung dar. c) Anrechnung ohne Vorbehalt aa) Kritik Wie bereits dargelegt (vgl. Rz. 244), unterliegt es Bedenken, wenn das BAG in ständi- 252 ger Rechtsprechung1 und mit Zustimmung großer Teile der Literatur2 darüber hinaus die Anrechnung auch dann zulässt, wenn kein entsprechender Vorbehalt im Arbeitsvertrag enthalten ist. Das BAG statuiert die Zweifelsregel, dass die Anrechnung der arbeitsvertraglich gewährten übertariflichen Entgeltbestandteile dem Parteiwillen entspricht, wenn dieser Auslegung im Einzelfall keine anderen Aspekte entgegenstehen3. Diese Zweifelsregel, der letztlich eine ergänzende Vertragsauslegung zu Grunde liegt4, kehrt die gesetzlich normierte Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB geradezu um5. Dies damit zu rechtfertigen, dass der Arbeitgeber den Zweck der Zulage ohnehin faktisch einseitig bestimme und ihm daher auch die Anrechnungskompetenz zustehe6, greift zu kurz. Das Auslegungsergebnis kann eigentlich nur gegenteilig ausfallen: Will der Arbeit- 253 geber sich die Anrechnung vorbehalten, muss und kann er dies im Arbeitsvertrag klarstellen. Hat er dies bei der Arbeitsvertragsgestaltung versäumt oder nicht durchsetzen können, wirkt die Nichtregelung im Zweifel zu seinen Lasten. Es scheint schon mit den Prinzipien der Auslegung von Willenserklärungen nach dem Empfängerhorizont (§§ 133, 157 BGB) schwer vereinbar, im Falle einer vorbehaltlos gewährten Leistung einen stillschweigenden Vorbehalt in den Arbeitsvertrag hinein zu lesen: Der dazu erforderliche rechtsgeschäftliche Annahmewille des Arbeitnehmers hinsichtlich der stillschweigenden Vereinbarung eines Anrechnungsvorbehalts ist nicht mehr als eine Fiktion. Preis weist zu Recht darauf hin, dass das BAG nur die Zwecksetzung des Arbeitgebers im Blick zu haben scheint, den Parteiwillen des Arbeitnehmers dagegen nicht hinreichend beachtet7. Das Fehlen einer Anrechnungsregel im Arbeitsvertrag kann für den Arbeitgeber nicht 254 günstiger sein als die Statuierung einer intransparenten und damit unwirksamen Anrechnungsklausel. Das BAG macht es sich zu einfach, wenn es ausführt, das Trans1 BAG v. 16.6.1993 – 4 AZR 380/92, EzA § 4 TVG Tariflohnerhöhung Nr. 29; BAG v. 13.11.1963 – 4 AZR 25/63, BB 1964, 220; BAG v. 10.3.1982 – 4 AZR 540/79, NJW 1982, 2575; BAG v. 25.6.2002 – 3 AZR 167/01, NZA 2002, 1216; BAG v. 27.8.2008 – 5 AZR 821/07, AP Nr. 206 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; BAG v. 21.1.2003 – 1 AZR 125/02, NZA 2003, 1056; BAG v. 14.8.2001 – 1 AZR 744/00, NZA 2002, 342. 2 Statt vieler Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 510 ff. m.w.N. 3 So BAG v. 15.3.2000 – 5 AZR 557/98, NZA 2001, 105; BAG v. 8.6.2004 – 1 AZR 308/03, NZA 2005, 66; BAG v. 27.1.2004 – 1 AZR 105/03, NZA 2004, 1239. 4 Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 471. 5 Zu Recht kritisch auch ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 420, §§ 305–310 BGB Rz. 65; Preis, FS Kissel, S. 879 (890 f.); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 875; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 770. Dagegen aber mit bemerkenswerter Selbstverständlichkeit BAG v. 27.8.2008 – 5 AZR 821/07, AP Nr. 206 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie (Rz. 22): Die Auslegung als „ohne weiteres anrechenbarer Lohnbestandteil“ unterliege keinen Zweifeln. 6 So Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 515. 7 Preis, FS Kissel, S. 879 (896).
Greiner
833
Teil 9 Rz. 255
Wirkung der Tarifnormen
parenzgebot verlange „von dem Verwender nicht, alle gesetzlichen Folgen einer Vereinbarung ausdrücklich zu regeln“1. Es handelt sich beim Anrechnungsprinzip nicht um eine gesetzlich normierte Rechtsfolge, sondern um eine richterrechtliche Auslegung eines vermeintlich typisierbaren Parteiwillens. Der Wertungswiderspruch ist evident: Würde der Arbeitgeber eine ausdrückliche Anrechnungsklausel in den Vertrag aufnehmen, unterläge diese der vollen AGB-Kontrolle und liefe Gefahr, infolge einer defizitären Klauselgestaltung unwirksam zu sein. Regelt der Arbeitgeber gar nichts, nimmt ihm der Richter jedes Risiko der Vertragsgestaltung ab und liest zu seinen Gunsten eine in jedem Fall wirksame Anrechnungsklausel in den Vertrag hinein. Auch sonst überzeugt die rudimentäre AGB-rechtliche Prüfung durch das BAG nicht: Wäre eine Anrechnungsklausel vorhanden, wäre diese eine unter den Voraussetzungen des § 305 Abs. 1 BGB vollständig kontrollfähige Preisnebenabrede, nicht hingegen eine nur auf Transparenz kontrollierbare Hauptabrede2. Die fehlende, erst durch den Richter in den Vertrag hineininterpretierte Anrechnungsklausel kann dann richtigerweise keinem milderen Prüfungsmaßstab unterliegen. bb) Grenzen 255 Das Anrechnungsprinzip bezieht sich auch aus Sicht des BAG nur auf solche Vergütungsbestandteile, für die kein eigenständiger Zweck ersichtlich ist. Man muss für die Anwendung des Anrechnungsprinzips daher immer die Frage stellen, ob die arbeitsvertragliche Zulage einen eigenständigen Zweck verfolgt oder ob sie die tarifvertragliche Grundvergütung bzw. im TV vorgesehene Zulagen, Gratifikationen und andere Sonderzahlungen lediglich quantitativ erhöht. Eine Anrechnung kommt ohne Anrechnungsvorbehalt nur in letzterem Fall in Betracht. Hinsichtlich anrechenbarer Tariflohnerhöhung und einzelvertraglicher übertariflicher Zulage muss eine identische Zwecksetzung bestehen: Auch in dem Fall, dass durch den Arbeitsvertrag eine tarifvertraglich gewährte Zulage lediglich quantitativ erhöht wird, scheidet eine Anrechnung aus, sofern nicht die zweckentsprechende Zulage im TV eine Erhöhung erfährt, sondern lediglich die tarifvertragliche Grundvergütung oder eine andere Zulage3. Ist ein Zweck der Zulage nicht näher bezeichnet, handelt es sich also um eine sog. allgemeine Zulage, kann die Anrechnung nach Meinung des BAG stattfinden4. Dies soll auch rückwirkend in Betracht kommen5. Zur Abgrenzung von allgemeinen und benannten Zulagen kann auf Auslegungskriterien wie insbesondere die getrennte Ausweisung von Zulagen auf der Vergütungsmitteilung rekurriert werden6. 256 Eine weitere Grenze der Anrechenbarkeit liegt auch aus Sicht des BAG darin, dass diese ausscheidet, wenn die tarifliche Entgelterhöhung lediglich als Kompensation für eine Arbeitszeitverlängerung erfolgt: Wird etwa die Stundenvergütung herauf1 BAG v. 27.8.2008 – 5 AZR 821/07, AP Nr. 206 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie (Rz. 26). 2 So aber BAG v. 1.3.2006 – 5 AZR 363/05, NZA 2006, 746; BAG v. 1.3.2006 – 5 AZR 540/05, NZA 2006, 688, Rz. 15. 3 Zutr. Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 472 ff. 4 Etwa BAG v. 3.6.2003 – 1 AZR 314/02, FA 2004, 151; BAG v. 21.1.2003 – 1 AZR 125/02, AP Nr. 118 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung m.w.N. 5 BAG v. 3.6.2003 – 1 AZR 314/02, FA 2004, 151. 6 BAG v. 1.11.1956 – 2 AZR 194/54, AP Nr. 5 zu § 4 TVG Übertariflicher Lohn und Tariflohnerhöhung.
834 Greiner
Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 259 Teil 9
gesetzt, das Arbeitszeitvolumen jedoch reduziert, so dass im Ergebnis gar keine Erhöhung der tariflichen Gesamtvergütung eintritt, soll die Anrechnung unterbleiben1. Zu der Möglichkeit der TV-Parteien, die Anrechnung durch sog. Effektivklauseln oder 257 Verdienstsicherungsklauseln zu verhindern, vgl. Teil 5 (10). d) Mitbestimmung Nach Rechtsprechung des BAG besteht bei der Anrechnung auf übertarifliche Zu- 258 lagen ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG nur, wenn sich durch die Anrechnung die bisherigen Verteilungsrelationen ändern2, etwa indem bei unterschiedlichen Arbeitnehmergruppen in unterschiedlichem Ausmaß angerechnet wird3. Der Dotierungsrahmen, also die Höhe der übertariflichen Vergütungsbestandteile insgesamt, wird vom Arbeitgeber mitbestimmungsfrei vorgegeben. Die Anrechnung ist mitbestimmungsfrei, wenn die Tariferhöhung im Rahmen des rechtlich und tatsächlich Möglichen vollständig und gleichmäßig auf die übertarifliche Vergütung sämtlicher Arbeitnehmer angerechnet wird4. Eine zwar gleichmäßige, aber nur partielle Anrechnung soll dagegen ein Mitbestimmungsrecht auslösen können5. Dies ist zu kritisieren6, da es bei dieser Fallgestaltung nur zu einer Reduktion des Dotierungsrahmens bei Fortschreibung der Verteilungsrelationen kommt. Grundvoraussetzung für ein Mitbestimmungsrecht ist der kollektive Charakter der Anrechnung7, so dass es ausscheidet, wenn nur individuell von einem Anrechnungsvorbehalt Gebrauch gemacht wird.
III. Verhältnis des Tarifvertrags zu betrieblichen Regelungen (Tarifvorrang, Tarifvorbehalt) Spannungsreich ist das Verhältnis von TV und Betriebsvereinbarung. Der Problematik 259 liegt das sog. duale System der Interessenvertretung zu Grunde, das im deutschen Arbeitsrecht realisiert ist. Die Arbeitnehmerinteressen werden einerseits, gewissermaßen von außen auf die Unternehmen einwirkend, durch die Gewerkschaften mit dem Regelungsinstrument des TVs gewahrt, daneben aber auch innerhalb von Betrieb, Unternehmen und Konzern durch Betriebsräte mit den Mitteln der Betriebsvereinbarung und Regelungsabrede. Beide Formen der Arbeitnehmerrepräsentation haben ihre Vorzüge: So genießt der TV eine besondere Richtigkeitsgewähr8, da er idealtypisch durch gleichgewichtige Verhandlungspartner mit dem Mittel des Arbeitskampfs bzw. einer
1 BAG v. 15.3.2000 – 5 AZR 557/98, NZA 2001, 105; BAG v. 3.6.1998 – 5 AZR 616/97, NZA 1999, 208; zust. Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 775; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 866 f.; a.A. etwa Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 523 m.w.N. 2 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 517 m.w.N. 3 BAG v. 3.12.1991 – GS 2/90, NZA 1992, 749. 4 BAG v. 3.12.1991 – GS 2/90, NZA 1992, 749; zuletzt bestätigt in BAG v. 27.8.2008 – 5 AZR 821/07, AP Nr. 206 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie (Rz. 29). 5 BAG v. 3.12.1991 – GS 2/90, NZA 1992, 749. 6 Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 517. 7 BAG v. 3.12.1991 – GS 2/90, NZA 1992, 749; dazu Wank, FS Wiese, S. 617 ff. 8 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 284 ff.
Greiner
835
Teil 9 Rz. 260
Wirkung der Tarifnormen
Arbeitskampfdrohung ausgehandelt wird. Ein Wirkungsdefizit des TVs gegenüber der Betriebsvereinbarung liegt jedoch darin, dass die normative Wirkung des TVs die beiderseitige Tarifgebundenheit voraussetzt (§ 4 Abs. 1 TVG), während die Betriebsvereinbarung unmittelbar und zwingend für den gesamten Betrieb gilt (§ 77 Abs. 1 BetrVG). 260 Dieses Nebeneinander zweier normativer Regelungsinstrumente mit unterschiedlichen Voraussetzungen und Wirkungen macht Abgrenzungen notwendig. Nach der im deutschen TV-Recht gefundenen Ausgestaltung sollen die Betriebsräte den Gewerkschaften keine Regelungskonkurrenz machen dürfen. Sie sollen nicht als beitragsfreie „Ersatzgewerkschaften“ tätig werden1. Vielmehr wird das Verhältnis zwischen Betriebspartnern und Tarifpartnern konkurrenzfrei ausgestaltet und dem TV ein prinzipieller Geltungsvorrang eingeräumt. 261 In diesem Sinne stellt § 2 Abs. 3 BetrVG klar, dass die Aufgaben von Gewerkschaften und Arbeitgeberkoalitionen durch das BetrVG unberührt bleiben. § 77 Abs. 3 BetrVG statuiert, dass Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch TV geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein können (sog. Tarifvorbehalt); es sei denn, der TV sieht eine Öffnungsklausel (§ 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG) vor. Ergänzend statuiert § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG, dass der Betriebsrat in den dort aufgeführten sozialen Angelegenheiten nur mitzubestimmen hat, „soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht“ (sog. Tarifvorrang). Problematisch sind Auslegung und Abgrenzung beider Bestimmungen. Aus Sicht des BAG verletzt selbst ein eintretender Verdrängungseffekt neu abgeschlossener tariflicher Regelungen gegenüber zuvor geltenden Betriebsvereinbarungen nicht „die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte negative Koalitionsfreiheit“ der davon betroffenen Arbeitnehmer2, obwohl ihnen i.d.R. (vgl. aber Rz. 270 für Fragen der betrieblichen Entgeltstruktur) nur die Möglichkeit des Gewerkschaftsbeitritts bleibt, um von der tariflichen Regelung zu profitieren. Die dafür gegebene Begründung bezieht sich allerdings ausschließlich auf § 77 Abs. 3 BetrVG3; für § 87 Abs. 1 Einls. BertrVG fehlt es nach wie vor an einer stichhaltigen Begründung für die nach h.M. eingreifende weitreichende Verdrängung der Mitbestimmungsrechte (vgl. Rz. 297 ff.). 1. Tarifvorbehalt (§ 77 Abs. 3 BetrVG) a) Schutzzweck und Anwendungsbereich 262 Regelungszweck des § 77 Abs. 3 BetrVG ist, das TV-System in seiner Funktionsfähigkeit zu schützen und eine Aushöhlung durch konkurrierende betriebsverfassungsrechtliche Regelungen zu unterbinden. Die Gegenstände, derer sich die Tarifvertragsparteien angenommen haben, sollen nicht zugleich Gegenstand einer konkurrierenden Betriebsvereinbarung sein können.4 Dass rechtspolitisch auch ein anderes Konzept vorstellbar wäre, nämlich eine freie Konkurrenz zwischen tarifvertraglichen und betriebsverfassungsrechtlichen Normgebern, zeigt exemplarisch das spanische Tarif1 2 3 4
BAG v. 3.12.1991 – GS 2/90, NZA 1992, 749; Fitting, § 77 BetrVG Rz. 67. BAG v. 13.3.2012 – 1 AZR 659/10, NZA 2012, 990 (Rz. 25). BAG v. 13.3.2012 – 1 AZR 659/10, NZA 2012, 990 (Rz. 29). Vgl. BAG v. 30.5.2006 – 1 AZR 111/05, NZA 2006, 1170, Rz. 26 m.w.N.; BAG v. 9.7.2013 – 1 AZR 275/12, NZA 2013, 1438, Rz. 15.
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Rz. 266 Teil 9
recht1 – freilich auch mit allen Problemen, die damit einhergehen, insbesondere einem stark reduzierten Organisationsgrad der Gewerkschaften. Leitlinie bei der Auslegung und Anwendung des § 77 Abs. 3 BetrVG muss sein, den angestrebten Schutz der Tarifautonomie zu effektuieren. Das in § 77 Abs. 3 BetrVG normierte Prinzip des Tarifvorrangs überlagert das Güns- 263 tigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG (vgl. Rz. 181 ff.): Als speziellere Regelung für das Verhältnis von TV und Betriebsvereinbarung geht es diesem vor. Auch eine arbeitnehmergünstigere Regelung in einer Betriebsvereinbarung wird mithin von einem ungünstigeren TV verdrängt. Seine Grundlage hat diese Kollisionsregelung darin, dass die Tarifautonomie durch 264 Art. 9 Abs. 3 GG eine starke verfassungsrechtliche Absicherung erfahren hat, die ein Handlungsgebot an den Gesetzgeber beinhaltet, die Funktionsfähigkeit des TV-Systems gesetzlich abzusichern2. Die Betriebsverfassung kennt keine dementsprechende Garantie3. Grundlage der Betriebsverfassung ist letztlich das Direktionsrecht des Arbeitgebers, das in seiner Unternehmerfreiheit wurzelt (Art. 12 Abs. 1 GG). Die Mitbestimmung dient als einfachgesetzliche Begrenzung der Unternehmerfreiheit der Realisierung des Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1 GG), das freilich sehr wertungsoffen ist, sowie der Sicherung der Persönlichkeitsrechte des Arbeitnehmers. Die unterschiedliche verfassungsrechtliche Absicherung begründet einen Rangunterschied zwischen tariflicher und betriebsverfassungsrechtlicher Arbeitnehmerrepräsentanz4. Rechtspolitisch wurde unter dem Stichwort der „betrieblichen Bündnisse für Arbeit“ über eine Aufwertung der betrieblichen Ebene diskutiert (vgl. Rz. 230 ff.); dabei wurden Flexibilität und Zielgenauigkeit betrieblicher Regelungen als Vorteile insbesondere gegenüber dem FlächenTV ausgemacht5. Nach geltendem Recht sollen insbesondere Kernfragen des Synallagmas der tarifver- 265 traglichen Regelungsebene vorbehalten bleiben, da es der Betriebsvereinbarung an einer vergleichbaren Richtigkeitsgewähr fehlt. Hier verhandeln nicht zwangsläufig Partner mit gleichen Verhandlungs- und Gestaltungschancen. Zu beachten ist insofern auch das Arbeitskampfverbot der Betriebsverfassung6. Auch ist das grundsätzlich freie Spiel der Kräfte, das auf dem Gebiet der Tarifautonomie gewährleistet ist, ein marktkonformeres Regelungsinstrument als die durch Einigungsstellen und Einigungszwang gekennzeichnete betriebliche Mitbestimmung. Kernfragen des arbeitsvertraglichen Synallagmas können damit als „Hausgut“ der Tarifparteien7 bzw. – noch präziser – als „Hausgut“ der Parteien des Einzelarbeitsvertrags betrachtet werden, das diese im Fall ihrer Koalitionsmitgliedschaft mit Blick auf die gesteigerte Richtigkeitsgewähr partiell den TV-Parteien anvertraut haben. Das durch ein geringeres Maß an Autonomie gekennzeichnete betriebsverfassungsrecht1 2 3 4
Vgl. Greiner, Rechtsfragen, S. 30. ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 86; Cornils, S. 650 ff. Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, Grundlagen Rz. 427. Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 547; Hanau, RdA 1993, 1 (4); Kittner, FS Schaub, S. 389 (405 f.); Löwisch, JZ 1996, 812 (817 f.). 5 Z.B. Buchner, RdA 1990, 1 (4); Kissel, NZA 1994, 586 (591); Reuter, RdA 1994, 152 (154); Linnenkohl, BB 1994, 2077 (2078). 6 Zutr. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 325. 7 Bieback/Dieterich, Tarifgestützte Mindestlöhne, S. 117 m.w.N.
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Teil 9 Rz. 267
Wirkung der Tarifnormen
liche Mitbestimmungsregime, aus dem ein Arbeitnehmer etwa nicht durch „Austritt“ ausscheren kann, ist demgegenüber auf andere Fragen beschränkt, die den Kern des arbeitsvertraglichen Synallagmas nicht berühren. Insofern dient § 77 Abs. 3 BetrVG auch dem Schutz des Arbeitnehmers vor Fremdbestimmung1. Entscheidet er sich gegen die kollektive Interessenvertretung durch eine Gewerkschaft, ist das Ausweichinstrument, auf das er zur Regelung des Synallagmas zurückfällt, die Individualfreiheit, der Individualarbeitsvertrag, nicht hingegen das gleichfalls kollektive Regelungsmodell der Betriebsverfassung. 267 Entsprechend diesem Regelungszweck bezieht sich § 77 Abs. 3 BetrVG auf Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen. Im Fokus stehen damit Leistung und Gegenleistung im Arbeitsverhältnis. Der Begriff der sonstigen Arbeitsbedingungen beinhaltet demgegenüber nach h.M. umfassend materielle wie formelle Arbeitsbedingungen2. Dafür werden der weite Wortlaut, die Entstehungsgeschichte sowie der Regelungszweck angeführt3. Eine beachtliche Literaturansicht verengt den Anwendungsbereich dagegen auf materielle Arbeitsbedingungen4 und argumentiert systematisch mit der Vergleichbarkeit zu dem ausdrücklich genannten Arbeitsentgelt sowie teleologisch mit dem Zweck des § 77 Abs. 3 BetrVG, die Betriebsvereinbarung lediglich als Mittel der Entgeltpolitik auszuschließen5. Ähnlich wollen andere jede durch tarifliche Inhaltsnormen regelbare Frage für erfasst halten6, was freilich die Unsicherheiten in der Abgrenzung von Betriebs- und Inhaltsnormen auf diese Frage durchschlagen ließe. Für die Beschränkung auf materielle Arbeitsbedingungen spricht in der Tat, dass die formellen Arbeitsbedingungen klassische Fragen betrieblicher Regelungspraxis sind, für deren sinnvolle Regelung die dezentralen Kenntnisse und Kompetenzen des Betriebsrats von eminenter Bedeutung sind. Um die Trennlinie zwischen formellen und materiellen Arbeitsbedingungen klarer zu ziehen, sollte § 77 Abs. 3 BetrVG auf die das Synallagma betreffenden Fragen beschränkt werden7. 268 Nicht in den Anwendungsbereich des § 77 Abs. 3 BetrVG einbezogen sind lediglich schuldrechtlich verbindliche Regelungsabreden zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat8. Da es Regelungsabreden an normativer Wirkung fehlt, entsteht kein Konkurrenzverhältnis zwischen zwei in ihrer Wirkung ähnlichen, nämlich normativen Regelungsinstrumenten. Eine Regelungsabrede bedarf, wenn sie Inhalte des Arbeitsverhältnisses betrifft, stets der Umsetzung auf individualvertraglicher Ebene, um Wirksamkeit im einzelnen Arbeitsverhältnis zu entfalten; das insofern anwendbare Kollisionsprinzip ist das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG. Der Fall ist folglich mit dem Konkurrenzverhältnis zwischen TV und Betriebsvereinbarung nicht vergleichbar. Inkon1 Zur Unterscheidung von formellen und materiellen Arbeitsbedingungen noch Franzen, RdA 2001, 1 (4) m.w.N. 2 BAG v. 9.4.1991 – 1 AZR 406/90, NZA 1991, 734; Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 973; Fitting, § 77 BetrVG Rz. 71. 3 BAG v. 9.4.1991 – 1 AZR 406/90, NZA 1991, 734. 4 Richardi, § 77 BetrVG Rz. 256; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 572; Wank, RdA 1991, 129 (133). 5 Wank, RdA 1991, 129. 6 DKKW/Berg, § 77 BetrVG Rz. 129; Heinze, NZA 1989, 41 (45). 7 Vgl. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 573. 8 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887; BAG v. 21.1.2003 – 1 ABR 9/02, NZA 2003, 1099; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 560; Fitting, § 77 BetrVG Rz. 102; Moll, Tarifvorrang, S. 54 ff.; Kreutz, S. 220 ff.; Wiese, FS BAG, 1979, S. 661 (664 f.).
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Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 270 Teil 9
sequent wirkt, dass bereits eine tarifwidrige Regelungsabrede, obwohl ihr keine unmittelbaren Rechtswirkungen im einzelnen Arbeitsverhältnis zukommen, gleichwohl nach der Rechtsprechung des BAG1 einen Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft gemäß §§ 1004, 823 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 9 Abs. 3 GG auslösen soll; mangels unmittelbarer Rechtswirkungen einer Regelungsabrede kann man daran zweifeln. Nicht erfasst werden mangels normativer Wirkung gleichfalls „quasi-kollektive“ Gestaltungsformen auf individualvertraglicher Ebene, also Gesamtzusagen oder betriebliche Übungen2. Aus § 77 Abs. 3 BetrVG folgt insbesondere auch, dass eine Erstreckung der Wirkung des 269 TVs auf Außenseiter-Arbeitnehmer, die keiner Gewerkschaft angehören, durch Betriebsvereinbarung nicht möglich ist – anders als durch einzelvertragliche Bezugnahmeklausel (s. Teil 10). § 77 Abs. 3 BetrVG erfasst mithin auch eine Regelung in Betriebsvereinbarungen, die den TV lediglich wiederholt3. Darin läge nicht nur eine Umgehung des Verfahrens der Allgemeinverbindlicherklärung (§ 5 TVG, vgl. Teil 7 Rz. 23 ff.). Vielmehr bezöge sich eine derartige Regelung in einer Betriebsvereinbarung klar auf eine tarifvertraglich geregelte Materie. Betroffen sind die synallagmatischen Arbeitsbedingungen, die ausschließlich einer Regelung durch TV und Individualvertrag, nicht hingegen durch Betriebsvereinbarung anvertraut sein sollen, so dass ein derartiges Verfahren schon nach dem Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG ausgeschlossen ist4. b) Relativierung durch Erga-omnes-Wirkung tariflicher Entgeltstrukturnormen über § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG Relativierend ist allerdings darauf hinzuweisen, dass nach problematischer Judikatur 270 des BAG der Mitbestimmungstatbestand des § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG dazu führen soll, dass der tarifgebundene Arbeitgeber betriebsverfassungsrechtlich verpflichtet ist, Inhaltsnormen eines TVs unabhängig von der (ggf. fehlenden) Tarifbindung der Arbeitnehmer im Betrieb anzuwenden, soweit deren Gegenstände der erzwingbaren Mitbestimmung des § 87 Abs. 1 BetrVG unterliegen5. Die Tarifverträge sind insofern dann auch ein allgemeingültiger Eingruppierungsmaßstab i.S.d. § 99 BetrVG. Praktisch kommt es damit zu einer gesetzlich in § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG angeordneten Erga-omnes-Wirkung von tariflichen Entgeltstrukturnormen für alle Arbeitnehmer in Betrieben, die der betrieblichen Mitbestimmung unterliegen6. Der Grundgedanke des § 77 Abs. 3 BetrVG, das TV-System vor einer Aushöhlung durch konkurrierende betriebsverfassungsrechtliche Regelungen zu schützen, indem der Arbeitnehmer der Gewerkschaft beitreten muss, um kollektivrechtlichen Schutz zu erlangen, wird dadurch abgeschwächt: Der nicht organisierte Arbeitnehmer erlangt auch ohne Ge-
1 BAG v. 20.4.1999 – 1 AZR 631/98, NZA 1999, 887. 2 BAG v. 13.8.1980 – 5 AZR 325/78, DB 1981, 274; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 585 m.w.N. 3 Zutr. Fitting, § 77 BetrVG Rz. 98; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 581 ff.; differenzierend v. Hoyningen-Huene, DB 1994, 2026 (2027 m.w.N.). 4 Zutr. DKKW/Berg, § 77 BetrVG Rz. 136 m.w.N. 5 BAG v. 18.10.2011 – 1 ABR 25/10, NZA 2012, 392 (Rz. 16); bestätigt durch BAG v. 13.3.2012 – 1 AZR 659/10, NZA 2012, 990 (Rz. 30). 6 Mit Recht kritisch Reichold, RdA 2013, 108; Salamon, NZA 2012, 899.
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Teil 9 Rz. 271
Wirkung der Tarifnormen
werkschaftsbeitritt durch die Betriebsverfassung mittelbar tarifrechtlichen Schutz, jedenfalls soweit es um Regelungsgegenstände des § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG geht. 271 Diese Judikatur bezieht sich ausschließlich auf Entlohnungsgrundsätze i.S.d. § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG, also abstrakt-generelle Grundsätze zur Lohnfindung, die das kollektive System konstituieren, nach welchem das Arbeitsentgelt für die Belegschaft oder Teile der Belegschaft abstrakt-generalisierend ermittelt oder bemessen werden soll1. Betroffen sind insbesondere: – die Grundentscheidung für eine Zeit- oder Leistungsvergütung oder auch die Einführung eines aus beiden Elementen kombinierten Vergütungssystems; – die daraus folgenden Ausgestaltungsentscheidungen, insbes. auch die Festlegung der Vergütungsunterschiede zwischen Vergütungs-/Belegschaftsgruppen nach Prozentsätzen oder anderen Bezugsgrößen; – die Festlegung von Vergütungsgruppen nach abstrakten Kriterien; – die Festlegung von Vergütungsgruppenmerkmalen2. 272 Die betriebsverfassungsrechtliche Erga-omnes-Wirkung der geltenden TVe ist strikt auf die nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG mitbestimmten Fragen zu beschränken. Einbezogen sind somit nur die abstrakten Entgeltstrukturfragen, nicht hingegen die konkrete Entgelthöhe. Diese Abgrenzung ist aber weniger trennscharf als das BAG suggeriert: Rechnerisch wird die individuelle Entgelthöhe in aller Regel durch die tariflich vorgegebenen Entgeltstrukturen und Verteilungsrelationen maßgeblich beeinflusst. Allerdings dürfte die dargestellte Rechtsprechung individuell abweichenden Vereinbarungen – z.B. über- bzw. außertariflichen Zulagen – nicht entgegenstehen3, solange dabei keine generalisierende Gestaltungspraxis des Arbeitgebers erkennbar wird. c) „Durch Tarifvertrag geregelt“ 273 „Durch Tarifvertrag geregelt“ sind die erfassten Gegenstände, wenn ein TV abgeschlossen ist, in dessen Geltungsbereich (s. Teil 8) der Betrieb fällt4. Vorausgesetzt wird eine tatsächlich erfolgte Regelung. Der bloße Wille etwa der Gewerkschaft, eine Sachfrage regeln zu wollen, genügt nicht, wenn sie eine derartige Regelung nicht durchsetzen konnte. 274 Ob eine Frage eine Regelung erfahren hat, ist durch Auslegung zu ermitteln. Da Tarifnormen nur höchst selten jede Detailregelung treffen, ist zu ermitteln, ob die TV-Parteien eine bestimmte Sachmaterie abschließend regeln wollten5; die zur Reichweite 1 So BAG v. 17.5.2011 – 1 AZR 797/09, EzA BetrVG 2001 § 87 Betriebliche Lohngestaltung Nr. 25, Rz. 16. 2 Vgl. zu allem BAG v. 18.10.2011 – 1 ABR 34/10, AP Nr. 142 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung (Rz. 17); weiterhin BAG v. 14.8.2001 – 1 AZR 619/00, NZA 2002, 276. Instruktiver Überblick zu den von § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG erfassten Gegenständen bei Richardi/Richardi, BetrVG § 87 Rz. 747 m.w.N. 3 Zu relativieren ist daher die auf die individuelle Vertragsfreiheit des Arbeitnehmers abzielende Kritik bei Salamon, NZA 2012, 899. 4 BAG v. 9.12.1997 – 1 AZR 319/97, NZA 1998, 661; Fitting, § 77 BetrVG Rz. 75; Buchner, DB 1997, 573. 5 BAG v. 3.12.1991 – GS 2/90, NZA 1992, 749.
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Rz. 276 Teil 9
der relativen Friedenspflicht entwickelten Grundsätze können übertragen werden (vgl. Teil 4 Rz. 117 f.)1. Insofern ist freilich nicht auf den subjektiven Willen der TVParteien abzustellen. Maßgeblich ist vielmehr der Regelungsinhalt des TVs, wie er sich bei objektiver Auslegung darstellt2. Die grundsätzliche Tendenz in der Rechtsprechung geht zu Recht dahin, § 77 Abs. 3 275 BetrVG einen weiten Anwendungsbereich einzuräumen3. Entscheidende Auslegungsleitlinie sollte sein, welche objektiv erkennbare Zwecksetzung mit einer tariflichen und einer betriebsverfassungsrechtlichen Regelung verfolgt wird. Divergieren diese, dürfte eine Betriebsvereinbarung zulässig sein. Decken sich die Regelungsziele und wird eine tarifvertragliche Regelung bei gleichen Tatbestandsvoraussetzungen lediglich inhaltlich ergänzt, dürfte die Tarifsperre des § 77 Abs. 3 BetrVG regelmäßig eingreifen. Als Faustformel zur Ermittlung der Zwecksetzung wird man darauf abstellen können, ob die Betriebsvereinbarung an gleiche Tatbestandsmerkmale anknüpft wie die tarifvertragliche Regelung oder gänzlich andere Tatbestandsmerkmale voraussetzt. Der Tarifvorbehalt greift etwa ein, wenn eine tarifliche Sonderzahlung gewährt wird und in der Betriebsvereinbarung lediglich eine zusätzliche Sondervergütung bei gleichen Tatbestandsvoraussetzungen vorgesehen ist. Knüpft die Sondervergütung hingegen an gänzlich andere Tatbestandsmerkmale an, gelten die betriebsverfassungsrechtliche Regelung und die tarifliche Regelung nebeneinander, da sie objektiv erkennbar unterschiedlichen Regelungszwecken dienen. Beispiel: Nach der Rechtsprechung des BAG verstößt eine Betriebsvereinbarung über eine übertarifliche Zulage gegen den Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG, wenn sie sich in der Aufstockung der Tariflöhne erschöpft4, nicht jedoch dann, wenn in der Betriebsvereinbarung zusätzliche Entgeltbestandteile geregelt sind, die an besondere Voraussetzungen gebunden und daher nicht Teil des Tariflohns sind5. Entsprechend dem intendierten institutionellen Schutz des TV-Systems ist es nicht 276 erforderlich, dass Arbeitgeber oder Arbeitnehmer tarifgebunden sind (§ 3 Abs. 1 TVG)6. Ausreichend ist, dass die Möglichkeit zur Herstellung einer kongruenten Tarifbindung besteht, weil das Arbeitsverhältnis in den Geltungsbereich eines einschlägigen TVs fällt. Will der Arbeitgeber demnach auf kollektivrechtliche Regelungsinstrumentarien zurückgreifen, wird ihm vom Gesetz die Herstellung einer Tarifbindung abverlangt, entweder durch Beitritt zum Arbeitgeberverband oder durch Abschluss eines FirmenTVs. Gleiches gilt auf Arbeitnehmerseite: Hier wird ein starker Anreiz zum Gewerkschaftsbeitritt gesetzt, wenn der Arbeitnehmer nicht auf die Regelungsinstrumentarien des Individualvertrags vertrauen möchte. Ein Ausweichen auf die betriebsverfassungsrechtliche Ebene mit dem dort vorhandenen normativ wir-
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Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 579. Zutr. Kempen/Zachert/Brecht-Heitzmann/Zachert, Grundlagen Rz. 501. Vgl. BAG v. 9.12.1997 – 1 AZR 319/97, NZA 1998, 661. BAG v. 9.7.2013 – 1 AZR 275/12, NZA 2013, 1438 (Rz. 15); ebenso bereits BAG v. 30.5.2006 – 1 AZR 111/05, NZA 2006, 1170 (Rz. 29 m.w.N.). 5 BAG v. 9.7.2013 – 1 AZR 275/12, NZA 2013, 1438 (Rz. 15); so auch schon BAG v. 9.12.1997 – 1 AZR 319/97, NZA 1998, 661. 6 BAG v. 24.1.1996 – 1 AZR 597/95, NZA 1996, 948; WPK/Preis, § 77 BetrVG Rz. 66 m.w.N.; a.A. (Tarifbindung des Arbeitgebers erforderlich): GK-BetrVG/Kreutz, § 77 BetrVG Rz. 100; Ehmann/Schmidt, NZA 1995, 193 (196).
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Teil 9 Rz. 277
Wirkung der Tarifnormen
kenden Instrument der Betriebsvereinbarung ist nicht möglich. Genau darin liegt die institutionell die Tarifautonomie stärkende Wirkung des Tarifvorbehalts. 277 In einem pluralen Koalitions- und Tarifsystem (vgl. Rz. 107 ff.) ändert sich die Wirkungsweise des § 77 Abs. 3 BetrVG nicht grundlegend: Sobald ein TV besteht, dessen Geltungsbereich (vgl. Teil 8) ein Arbeitsverhältnis erfasst und der mithin potentiell anwendbar wäre, ist für dieses Arbeitsverhältnis die Regelung tariflich geregelter Materien durch Betriebsvereinbarung gesperrt1. Auf die Tarifbindung von Arbeitgeber oder Arbeitnehmer kommt es dafür nicht an. 278 Trifft nur ein Berufs- oder SpartenTV zu einer Regelungsfrage eine Regelung, bleibt für andere Berufsgruppen bzw. Sparten die Regelung durch Betriebsvereinbarung möglich, weil diese Arbeitsverhältnisse nicht in den (persönlich-fachlichen) Geltungsbereich des TVs fallen2. Insofern löst der Berufs- oder SpartenTV die Sperrwirkung nicht aus, so dass eine Regelung der Frage durch Betriebsvereinbarung für andere Berufsgruppen möglich bleibt. Die Alternative, eine Tarifbindung herzustellen, besteht dann gar nicht, da der Geltungsbereich für derartige Arbeitsverhältnisse nicht eröffnet ist. Der Schutzzweck des § 77 Abs. 3 BetrVG ist mithin nicht einschlägig. Dem Arbeitgeber fehlt es möglicherweise sogar für die anderen Berufsgruppen an einem gewerkschaftlichen Gegenüber zum Abschluss eines TVs. Eine umfassend sperrende Wirkung für die Regelungskompetenzen des Betriebsrats geht somit lediglich von TVen aus, die am Industrieverbandsprinzip orientiert sind und mithin alle Berufsgruppen im Betrieb erfassen. BerufsTVe erfassen nicht den Betrieb als Ganzes und lassen somit einen Spielraum für betriebliche Regelungen ansonsten üblicherweise tarifvertraglich geregelter Sachmaterien. Konkurrieren mehrere TVe mit überlappendem Geltungsbereich, ändert sich nichts: Die Regelungssperre, die schon durch einen TV ausgelöst wird, entsteht ebenso in Fällen der Tarifpluralität. d) Tarifüblichkeit 279 Die gleichfalls erfassten Fälle der Tarifüblichkeit nehmen die Konstellation in den Blick, dass in dem jeweiligen Geltungsbereich eine einschlägige tarifliche Regelung in der Vergangenheit existierte, deren Geltung freilich, z.B. wegen Ablaufs oder Kündigung des TVs (zur Beendigung des TVs s. Teil 3) geendet hat. Erfasst wird damit insbesondere das Nachwirkungsstadium (§ 4 Abs. 5 TVG; vgl. Rz. 21 ff.). Auch im Nachwirkungsstadium sollen keine konkurrierenden Betriebsvereinbarungen über bislang tarifvertraglich geregelte Materien abgeschlossen werden können. 280 Auch der einmalige Abschluss einer Tarifnorm im jeweiligen Geltungsbereich kann zur Begründung von Tarifüblichkeit genügen, wenn die Regelung eine zeitlich ausgedehnte Wirkung hatte3. Der Abschluss von TVen mit anderem Geltungsbereich, also ohne Geltungsanspruch für den jeweiligen Betrieb, begründet noch keine Tarifüblichkeit. Maßstab für die Tarifüblichkeit sind daher ausschließlich abgelaufene tarifvertragliche Regelungen im jeweiligen Geltungsbereich4. Auch dasjenige, was in
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Ebenso Bayreuther, NZA 2007, 187; Franzen, RdA 2008, 193 (200). BAG v. 22.1.1980 – 1 ABR 48/77, NJW 1981, 75. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 567 m.w.N. Zutr. BAG v. 27.1.1987 – 1 ABR 66/85, NZA 1987, 489.
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Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 283 Teil 9
anderen Branchen oder Unternehmen selbstverständlich durch TV geregelt ist, ist nicht „tarifüblich“ i.S.v. § 77 Abs. 3 BetrVG. Dementsprechend begründen auch FirmenTVe zwischen Gewerkschaft und anderen Arbeitgebern derselben Branche keine Tarifüblichkeit der dort geregelten Materien. Dies folgt bereits daraus, dass der räumliche bzw. persönliche Geltungsbereich auf Arbeitgeberseite durch derartige TVe nicht eröffnet ist1. Es handelt sich um fremde TVe. Auf die „Repräsentativität“ des TVs kommt es auch in Fällen bloßer Tarifüblichkeit nicht an2. e) Beendigung der Sperrwirkung Ein Ende der Sperrwirkung tarifüblicher Regelungen wird erst dann erreicht, wenn 281 prognostisch feststeht, dass zu diesen Fragen keine tarifliche Regelung für den Geltungsbereich mehr getroffen werden wird oder sich ein tarifloser Zustand von gewisser Dauer abzeichnet3. f) Prozessuale Geltendmachung Die Verdrängungswirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG kann einerseits im Individualprozess 282 eine Rolle spielen, wenn der Arbeitnehmer, dem aufgrund einer Betriebsvereinbarung untertarifliche Arbeitsbedingungen gewährt wurden, die tarifvertraglich geregelten Arbeitsbedingungen einklagt. Die Betriebsvereinbarung bleibt dann wirkungslos, so dass der Arbeitnehmer die tariflich zugesagten Bedingungen einfordern kann. Unrichtig ist die Auffassung, dass auch hier eine Art Günstigkeitsbetrachtung Platz zu greifen habe, etwa eine – nicht tarifliche oder tarifübliche – Gegenleistung für die Unterschreitung des Tarifniveaus einzubeziehen sei und an der verdrängenden Wirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG teilhabe4. Auch kollektive Rechtsbehelfe können den Tarifvorrang zur Geltung bringen: Die 283 Gewerkschaft hat den jedem TV innewohnenden, auf Vertragserfüllung gerichteten Durchführungsanspruch, der in Form eines Einwirkungsanspruchs auch beinhaltet, dass der Arbeitgeberverband auf den eine tarifwidrige Betriebsvereinbarung abschließenden Arbeitgeber, der Mitglied im Arbeitgeberverband ist, mit vereinsrechtlichen Sanktionen einwirkt. In Betracht kommt ein betriebsverfassungsrechtlicher Unterlassungsanspruch (§ 23 Abs. 3 BetrVG) sowie ein Unterlassungsanspruch auf Grundlage der §§ 1004, 823 Abs. 1 BGB, Art. 9 Abs. 3 GG5.
1 Großzügiger aber BAG v. 16.9.1960 – 1 ABR 5/59, BB 1960, 1329; BAG v. 6.12.1963 – 1 ABR 7/63, DB 1964, 411. 2 So aber früher BAG v. 6.12.1963 – 1 ABR 7/63, DB 1964, 411; dem folgend Löwisch/Kaiser, § 77 BetrVG Rz. 65; wie hier BAG v. 13.8.1980 – 5 AZR 325/78, DB 1981, 274; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 565 m.w.N. 3 Zutr. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 568; Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, Grundlagen, Rz. 450; Fitting, § 77 BetrVG Rz. 91. 4 LAG Nürnberg v. 23.11.2000 – 6 TaBV 13/01, NZA-RR 2002, 524; zustimmend wohl Kempen/ Zachert/Wendeling-Schröder, Grundlagen Rz. 423. 5 Grundlegend BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887; zur Rechtsprechungsentwicklung und zum Meinungsstand Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 595 ff.
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Teil 9 Rz. 284
Wirkung der Tarifnormen
g) Öffnungsklauseln (§ 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG) 284 Gemäß § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG können die TV-Parteien Öffnungsklauseln zu Gunsten der betriebsverfassungsrechtlichen Ebene vorsehen. Hierdurch wird bezüglich tarifvertraglich geregelter Fragen die Regelung durch Betriebsvereinbarung ermöglicht. Mit Blick darauf, dass § 77 Abs. 3 BetrVG lediglich ergänzende Betriebsvereinbarungen zulässt, wird teilweise eine nur beschränkte Befugnis zur Delegation von Regelungskompetenzen auf die Betriebsparteien anerkannt. Demnach muss der Schwerpunkt der Regelung im TV selbst liegen1. Mit ähnlicher Tendenz hat auch das BAG entschieden, indem es einen im TV vorgesehenen Spielraum für eine Regelung der Wochenarbeitszeit durch Betriebsvereinbarung von 37–40 Stunden anerkannt hat, zugleich jedoch angedeutet hat, dass die vollständige Delegation der Regelungskompetenz die Grenzen einer zulässigen Öffnungsklausel verletzen könnte2. Verbreiteter und richtiger Ansicht entspricht, dass der Übertragungsbefugnis nur großzügige Grenzen zu setzen sind3. Lediglich ein substantieller Kernbestand an Regelungsbefugnissen muss bei den TV-Parteien verbleiben. Auch darf die Kompetenzdelegation nicht unwiderruflich ausgestaltet werden. Bei gebotenem weitem Verständnis der Tarifautonomie ist dagegen auch der Verzicht auf eine eigene Regelung einzelner Sachfragen und die Delegation die Betriebsparteien eine legitime, durch das staatliche Recht grundsätzlich hinzunehmende Entscheidung4. Gibt man insoweit der tarifautonomen Freiheit Raum, besteht für die Einführung zusätzlicher gesetzlicher Öffnungsklauseln zu Gunsten der Regelung durch Betriebsvereinbarung, etwa für Fälle der Unternehmenskrise, kaum Bedarf: Es ist Aufgabe der Tarifparteien, zu vernünftigen Öffnungen zu Gunsten der Betriebsparteien zu gelangen, wenn die betrieblichen Bedürfnisse dies erfordern (vgl. auch Rz. 235). h) Sonderregelung: § 3 BetrVG 285 Eine Sonderregelung stellt § 3 BetrVG dar. Hier ist vorgesehen, dass die TV-Parteien die Strukturen der Betriebsverfassung durch TV abweichend vom Gesetz regeln können. Der Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG wird insofern spezialgesetzlich dahingehend erweitert, dass überhaupt kein TV im jeweiligen Geltungsbereich bestehen darf, die punktuelle Betrachtung, ob die konkrete Sachmaterie (vgl. Rz. 274 f.) eine tarifliche Regelung erfahren hat oder üblicherweise erfährt (vgl. Rz. 279 f.), weicht damit einer globalen Betrachtung. 286 Sinn und Zweck ist, die Tarifautonomie in derart fundamentalen Regelungsfragen weiter zu stärken: Nur dann, wenn überhaupt keine Gewerkschaft als Ansprechpartner vorhanden ist, soll der Arbeitgeber auf den Betriebsrat als Ansprechpartner zurückgreifen können, um die Strukturen der Betriebsverfassung abweichend vom Gesetz zu regeln. Ist eine Gewerkschaft vorhanden, muss der Arbeitgeber zur Regelung der Strukturen der Betriebsverfassung auf diese zugehen und mit ihr eine Verständi1 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 591; Baumann, Die Delegation tariflicher Rechtsetzungsbefugnisse, 1992, S. 54 (60); Waltermann, RdA 1996, 129 (136); Kittner, FS Schaub, S. 389 (408 ff.). 2 BAG v. 18.8.1987 – 1 ABR 30/86, NZA 1987, 779. 3 Schwarze, Der Betriebsrat im Dienst der Tarifparteien, S. 203 ff.; v. Hoyningen-Huene/MeierKrenz, ZfA 1988, 293 (305 f.). 4 GK-BetrVG/Kreutz, § 77 BetrVG Rz. 156.
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Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 288 Teil 9
gung erzielen. Dies kann man auch kritisieren, da der sachnahe Ansprechpartner für derartige Fragen letztlich derjenige ist, der davon am stärksten betroffen ist, nämlich der Betriebsrat1. De lege lata ist jedoch der Rückgriff auf eine Betriebsvereinbarung über derartige Fragen die nachrangige Notlösung2. i) Rechtsfolge: Verdrängung der Betriebsvereinbarung Nach zutreffender Auffassung sind tarifwidrige Betriebsvereinbarungen, bei denen 287 der Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG eingreift, nicht nichtig, sondern werden lediglich verdrängt. Sie können während der Geltungsdauer des TVs keinerlei Rechtswirkung herbeiführen3. § 77 Abs. 3 BetrVG ist damit nicht als Verbotsnorm zu interpretieren, sondern lediglich als kompetenzbegrenzende Norm4. Anders akzentuiert das BAG in seiner jüngeren Rechtsprechung, wenn es aus der Überschneidung der Geltungszeiträume von TV und konkurrierender Betriebsvereinbarung die Unwirksamkeit der Betriebsvereinbarung ableiten will5. Milder und harmonischer wirkt die hier vertretene Auffassung; sie hat u.a. zur Folge, dass die TV-Parteien eine vom TV abweichende Betriebsvereinbarung zum Anlass nehmen können, diese gewissermaßen rückwirkend zu genehmigen, indem sie eine Öffnungsklausel i.S.d. § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG (vgl. Rz. 284) statuieren6. Dieser Position ist beizupflichten, da sie die Tarifautonomie respektiert und ein – auch koalitionspolitisch – problematisches Auseinanderklaffen von tarifvertraglicher und betriebsverfassungsrechtlicher Regelungssituation zu heilen hilft. j) Umdeutung Hinsichtlich der Umdeutung einer durch den Tarifvorbehalt verdrängten Betriebsver- 288 einbarung in ein individualvertragliches Angebot auf Abschluss eines Änderungsvertrags ist Zurückhaltung geboten. Davon wird man nur ausgehen können, wenn der Arbeitgeber deutlich macht, dass er die zugesagte Leistung in jedem Fall erbringen möchte, unabhängig von ihrer rechtlichen Grundlage und den damit verbundenen Änderungsmöglichkeiten. Insbesondere wird man davon ausgehen können, wenn der Arbeitgeber in Kenntnis des Eingreifens des Tarifvorbehalts die Leistung weiter erbringt; der Änderungsvertrag kommt dann durch konkludente Annahmeerklärung seitens der Arbeitnehmer durch bloße Entgegennahme der sie begünstigenden Leistung zustande7.
1 Kritisch Buchner, NZA 2001, 633 (635); Hanau, RdA 2001, 65 (66); Reichold, NZA 2001, 857 (859). 2 Plastisch Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, Grundlagen Rz. 455. 3 BAG v. 20.4.1999 – 1 AZR 631/98, NZA 1999, 1059; Fitting, § 77 BetrVG Rz. 97. 4 Zutr. Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, Grundlagen Rz. 457. 5 So BAG v. 19.10.2011 – 4 ABR 116/09, NZA-RR 2012, 417, allerdings für die Betriebsvereinbarung obiter (Verfahrensgegenstand war ein Einigungsstellenspruch, der bei Verstoß gegen § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG wegen Kompetenzüberschreitung der Einigungsstelle tatsächlich unwirksam sein dürfte). 6 Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, Grundlagen Rz. 457. 7 Vgl. BAG v. 24.1.1996 – 1 AZR 597/95, NZA 1996, 948; BAG v. 5.3.1997 – 4 AZR 532/95, NZA 1997, 951.
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Teil 9 Rz. 289
Wirkung der Tarifnormen
2. Tarifvorrang gemäß § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG a) Schutzzweck 289 § 87 BetrVG enthält die zentralen Regelungen zu Mitbestimmungsrechten des Betriebsrats in sozialen Angelegenheiten. Die Vorschrift beschränkt angesichts der persönlichen Abhängigkeit des Arbeitnehmers und zur Stärkung des Teilhabegedankens die einseitigen Gestaltungsmöglichkeiten des Arbeitgebers und sein Direktionsrecht1. Anders als § 77 Abs. 3 BetrVG nimmt die Vorschrift damit nicht Regelungsgegenstände in den Blick, die gewissermaßen von Natur aus dem Individualarbeitsvertrag und dem TV anvertraut sind und somit als „Hausgut“ der Arbeits- bzw. Tarifvertragsparteien bezeichnet werden können (vgl. Rz. 266). Vielmehr kann man die hier geregelten Fragen durchaus als „Hausgut“ der Betriebspartner interpretieren, da ein besonderes Interesse an einer betriebsnahen Regelungsfindung besteht. Gleichwohl kann es auch bei derartigen Fragen zu Kompetenzkonflikten zwischen Betriebsverfassung und TV kommen, wenn nämlich ein TV sich derartiger Fragen annimmt. Dies ist von der aus Art. 9 Abs. 3 GG folgenden inhaltlichen Ausgestaltungsfreiheit, der Tarifautonomie, zweifellos umfasst (s. Teil 1). 290 Auch diesen Regelungskonflikt entscheidet § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG zu Gunsten des TVs. Aus Sicht des BAG besteht für die Umsetzung des Zwecks der Mitbestimmung nach § 87 BetrVG, der Fremdbestimmung durch den Arbeitgeber eine wirksame Grenze zu setzen, kein Raum mehr, wenn bereits eine den Arbeitgeber bindende Regelung durch Gesetz oder Tarifvertrag vorliegt, da schon diese den Interessen und Schutzbedürfnissen auf Arbeitnehmerseite Rechnung trägt2. Von zentraler Bedeutung ist jedoch, sich zu vergegenwärtigen, dass der Sinn und Zweck dieser Kollisionsregelung ein ganz anderer als im Falle des § 77 Abs. 3 BetrVG ist. Hier geht es nicht um die Abgrenzung einer Kompetenzsphäre vor beeinträchtigenden, illegitimen Regelungen durch die Betriebspartner, sondern um die schlichte Lösung einer Kompetenzkollision, wenn zwei Akteure mit insofern vergleichbarer Legitimität widersprechende Regelungen zu derselben Regelungsfrage treffen. Mit Blick auf den verfassungsrechtlich gesicherten Rang der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) gewährt § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG dem TV auch hier den Vorrang. Angesichts des anderen Regelungszwecks genügt hier jedoch – abweichend von § 77 Abs. 3 BetrVG – die bloße Tarifüblichkeit nicht, um eine betriebsverfassungsrechtliche Kompetenz auszuschließen3. Die Kollisionsregel wird nur dann zur Anwendung gebracht, wenn es zu einem akuten Kompetenzkonflikt kommt. 291 Neben dem dargestellten Regelungszweck wird zugleich sichergestellt, dass einseitige Entscheidungsmöglichkeiten des Arbeitgebers kraft Direktionsrechts in den von § 87 Abs. 1 BetrVG erfassten Regelungsfragen ausgeschlossen werden4. Die hier gefundene Regelung zielt also nicht darauf ab, die betriebsverfassungsrechtliche Ebene zu Gunsten TV (und Einzelarbeitsvertrag) zurückzudrängen, sondern es soll ein möglichst nahtloses Ineinandergreifen der kollektiven Regelungsinstrumente TV und Be1 BAG v. 12.11.2013, NZA 2014, 557 (Rz. 38); GK-BetrVG/Wiese, § 87 Rz. 56. 2 Zuletzt BAG v. 12.11.2013 – 1 ABR 59/12, NZA 2014, 557 (Rz. 38); BAG v. 18.10.2011 – 1 ABR 25/10, NZA 2012, 392 (Rz. 19). 3 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 603. 4 Vgl. BAG v. 24.2.1987 – 1 ABR 18/85, NZA 1987, 639; BAG v. 3.12.1991 – GS 1/90, DB 1991, 2593; Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, Grundlagen Rz. 461.
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Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 295 Teil 9
triebsvereinbarung erreicht werden. Anders als durch § 77 Abs. 3 BetrVG soll gerade die einzelarbeitsvertragliche Regelungsebene zurückgeschnitten werden, auf der das arbeitgeberseitige Direktionsrecht verortet werden kann1. b) Anwendungsbereich Angesichts des vollständig unterschiedlichen Regelungsansatzes bei § 77 Abs. 3 292 BetrVG und § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG sind nach überwiegender Ansicht die Anwendungsbereiche beider Vorschriften klar zu trennen; sie überschneiden sich nicht. Im Verhältnis beider Normen wird § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG die Funktion einer speziellen Sonderregelung für die dort normierten Regelungsfragen zugewiesen. Dieser Vorschrift kommt der Vorrang im Verhältnis zu der allgemeineren Regelung des § 77 Abs. 3 BetrVG zu (sog. Vorrangtheorie)2. Nach der von einer Minderheit vertretenen Zwei-Schranken-Theorie3 soll demgegen- 293 über auch hinsichtlich der in § 87 BetrVG geregelten Regelungsmaterien der Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG Anwendung finden. Folge dieser Sichtweise wäre jedoch, dass die Regelungskompetenz der Betriebsparteien bereits im Falle bloßer Tarifüblichkeit und beim Fehlen einer Tarifbindung (des Arbeitgebers) gesperrt wäre, so dass es im Ergebnis zu einem Wiederaufleben des arbeitgeberseitigen Direktionsrechts käme. Eine plausible Begründung für diese Auffassung lässt sich nicht finden: Der andere Schutzzweck des § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG gebietet keine Anwendung der die Tarifautonomie institutionell absichernden Vorschrift des § 77 Abs. 3 BetrVG, da ein speziell der Tarifautonomie vorbehaltener und somit vor einer Regelungskonkurrenz durch die Betriebsparteien unbedingt zu schützender Bereich nicht betroffen ist. Es geht gerade um besonders betriebsnahe Fragen, in denen der Betriebsrat eine eigenständige Sachkompetenz vorweisen kann. Insofern unterscheidet sich der in § 87 BetrVG umrissene Kompetenzbereich sehr deutlich von den mit § 77 Abs. 3 BetrVG in den Blick genommenen Fragen des arbeitsvertraglichen Synallagmas. Auch mit Blick auf den Regelungszweck des § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG, das einseitige 294 Direktionsrecht des Arbeitgebers zurückzudrängen und in sozialen Fragen eine nahtlose Arbeitnehmerbeteiligung durch Ineinandergreifen von TV und Betriebsvereinbarung zu erzielen, würde durch Anwendung der Zwei-Schranken-Theorie konterkariert. Schließlich sprechen auch systematische Argumente für die Vorrangtheorie4. Umstritten ist die Frage, ob die Regelung lediglich – ihrem Wortlaut entsprechend – 295 die erzwingbare Mitbestimmung nach § 87 BetrVG ausschließt und damit den Weg zur Einigungsstelle verschließt oder auch die Möglichkeit einer freiwilligen Betriebsvereinbarung (§ 88 BetrVG) bei einer bestehenden tarifvertraglichen Regelung aus-
1 Vgl. ErfK/Preis, § 106 GewO Rz. 1. 2 Zuletzt BAG v. 19.6.2012 – 1 ABR 19/11, NZA 2012, 1237 (Rz. 31); BAG v. 13.3.2012 – 1 AZR 659/10, NZA 2012, 990 (Rz. 21); mittlerweile ständige Rspr. seit BAG v. 3.12.1991 – GS 1/90, DB 1991, 2593; vgl. bereits BAG v. 24.2.1987 – 1 ABR 18/85, NZA 1987, 639; vgl. weiterhin Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, Grundlagen Rz. 464; Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 998; Farthmann, RdA 1974, 65 (72). 3 Dafür etwa Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 611 ff.; Fitting, § 77 BetrVG Rz. 109 ff. 4 Vgl. ausführlich BAG v. 24.2.1987 – 1 ABR 18/85, NZA 1987, 639; dagegen aber Wiedemann/ Wank, § 4 TVG Rz. 617 ff.
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Teil 9 Rz. 296
Wirkung der Tarifnormen
geschlossen sein soll. Entsprechend Wortlaut und Systematik ist im Einklang mit der überwiegenden Meinung der Anwendungsbereich auf die erzwingbare Mitbestimmung zu beschränken, so dass trotz bestehender Tarifnorm der Abschluss einer freiwilligen Betriebsvereinbarung mit gleichem Gegenstand möglich bleibt1. Im Verhältnis von freiwilliger Betriebsvereinbarung und TV stellt sich in diesen Fällen jedoch ein lösungsbedürftiges Kollisionsproblem. § 77 Abs. 3 BetrVG greift auch hier ein, sofern materielle Arbeitsbedingungen betroffen sind2. Im Übrigen wird man in Gesetzesanalogie zu den beiden statuierten Kollisionsregeln und mit Blick auf den unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Rang von Tarifautonomie und Betriebsverfassung einen ungeschriebenen Vorrang der Tarifnorm gegenüber einer freiwilligen Betriebsvereinbarung annehmen müssen. c) Anwendungsvoraussetzungen 296 Aus dem dargestellten Regelungszweck folgt auch die Antwort auf die umstrittene Frage nach den Anwendungsvoraussetzungen des § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG. Genügt auch hier – wie bei § 77 Abs. 3 BetrVG (vgl. Rz. 273) – die bloße Einschlägigkeit eines TVs, also die Tatsache, dass der Betrieb in den Geltungsbereich eines TVs fällt, für das Eingreifen der Kollisionsregel oder kommt es auf die tatsächliche normative Tarifgeltung (§ 4 Abs. 1 TVG) an? Für Letzteres wäre grundsätzlich die beiderseitige Tarifbindung Voraussetzung (vgl. Rz. 1). aa) Beidseitige Tarifgebundenheit oder einseitige Tarifbindung des Arbeitgebers? 297 Bejaht man die hier vertretene Auffassung, dass es sich bei § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG um eine bloße Kollisionsregel handelt (vgl. Rz. 290), ist die tatsächliche Geltung einer tarifvertraglichen Regelung vorauszusetzen, da es andernfalls zu keinerlei lösungsbedürftigem Kompetenzkonflikt kommt. Auch der Schutzzweck der Mitbestimmung nach § 87 BetrVG, das einseitige Direktionsrecht des Arbeitgebers möglichst wirkungsvoll zurückzudrängen (vgl. Rz. 289, 291), wird nur dann erreicht, wenn dem Bereich der betrieblichen Mitbestimmung dort Raum gegeben wird, wo eine tatsächlich anwendbare tarifvertragliche Regelung nicht existiert. In jedem Fall muss die mitbestimmungspflichtige Angelegenheit eine zwingende und abschließende inhaltliche Regelung durch den TV erfahren haben und damit dem Schutzzweck des verdrängten Mitbestimmungsrechts Genüge getan worden sein3; ansonsten greift schon sachgegenständlich die Kollisionsregel nicht ein. Ob dies der Fall ist, ist im Zweifelsfall durch Auslegung der tariflichen Vorschrift zu ermitteln4. 298 Für die Anwendbarkeit des § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG kommt es demnach grundsätzlich auf die beiderseitige Tarifgebundenheit an5. Unabhängig auch von der einseitigen 1 Fitting, § 87 BetrVG Rz. 40; GK-BetrVG/Wiese, § 87 BetrVG Rz. 65; Richardi, § 87 BetrVG Rz. 169. 2 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 609; Fitting, § 88 BetrVG Rz. 4. 3 BAG v. 12.11.2013 – 1 ABR 59/12, NZA 2014, 557 (Rz. 39); BAG v. 18.10.2011 – 1 ABR 25/10, NZA 2012, 392 (Rz. 18); BAG v. 22.10.2014 – 5 AZR 731/12, NZA 2015, 501 (Rz. 33); vgl. auch schon BAG v. 3.12.1991 – GS 2/90, NZA 1992, 749 (zu C II 1 b der Gründe). 4 Anwendungsbeispiel: BAG v. 12.11.2013 – 1 ABR 59/12, NZA 2014, 557 (Rz. 40 ff.). 5 Zutr. GK-BetrVG/Wiese, § 87 BetrVG Rz. 68; Wiese, FS 25 Jahre BAG, 1979, S. 661 (670 ff.); Jahnke, Tarifautonomie, S. 163 f.
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Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 300 Teil 9
Tarifbindung des Arbeitgebers ist die Anwendung der Kollisionsregel nur in Fällen der Allgemeinverbindlicherklärung des jeweiligen TVs (§ 5 Abs. 1 TVG; vgl. Teil 7). In den meisten Fällen wird im Übrigen, da es sich bei den von § 87 BetrVG in den Blick genommenen Regelungsgegenständen typischerweise um nur betriebseinheitlich regelbare Fragen handelt, die einseitige Tarifbindung des Arbeitgebers genügen (§ 3 Abs. 2 TVG), denn es handelt sich um betriebliche Tarifnormen (vgl. Teil 4 Rz. 86 ff.). Die h.M. überträgt dies auf Individualnormen. Auch dort soll die einseitige Tarifbin- 299 dung des Arbeitgebers genügen1. Ein Teil der Literatur will die Regelungssperre hingegen erst dann eingreifen lassen, wenn die tarifschließende Gewerkschaft im Betrieb „repräsentativ“ ist oder jedenfalls eine „Mindestrepräsentativität“ aufweist2. Ähnlich wollen Teile der Literatur darauf abstellen, ob der TV kraft normativer Tarifbindung oder Bezugnahmeklausel im Wesentlichen auf alle Arbeitnehmer im Betrieb angewandt wird3. Wiese schließlich fordert die beiderseitige Tarifbindung4. Die h.M. überzeugt ebenso wie die nur Repräsentativität voraussetzende Meinung nach den dargestellten Grundsätzen, insbesondere mit Blick auf den beschränkten Regelungszweck des Tarifvorrangs, nicht. Hintergrund dieser Auffassung scheint die pragmatische Überlegung zu sein, dass nach traditionellem Vorstellungsbild der Arbeitgeber ohnehin keine Möglichkeiten hat, die Gewerkschaftszugehörigkeit seiner Arbeitnehmer in Erfahrung zu bringen, so dass bei einseitiger Tarifbindung des Arbeitgebers immer davon auszugehen ist, dass in einzelnen Arbeitsverhältnissen eine kongruente Tarifbindung infolge Gewerkschaftszugehörigkeit des Arbeitnehmers gegeben sein kann. Für tatsächlich nicht tarifgebundene Arbeitnehmer wird ein Anreiz gesetzt, der Gewerkschaft beizutreten; das andernfalls eintretende Schutzdefizit durch Rückfall auf das arbeitgeberseitige Direktionsrecht kann (nur) auf diesem Wege abgewendet werden5. Es scheint daher auch im Kontext von § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG geboten, die Kollisi- 300 onsregel nur dann anzuwenden, wenn im jeweiligen Arbeitsverhältnis eine beidseitige kongruente Tarifbindung besteht. Es muss auf die normative Wirkung eines TVs im jeweiligen Arbeitsverhältnis abgestellt werden. Dies hat zur Folge, dass im tarifpluralen Betrieb für die Arbeitsverhältnisse nicht organisierter Arbeitnehmer die Kollisionsregel nicht greift, so dass für durch tarifliche Individualnormen geregelte Fragen insofern eine etwa nach § 87 BetrVG gegebene Regelungskompetenz des Betriebsrats besteht. Die akzeptierte Tarifpluralität weitet sich damit zur Regelungspluralität6, die auch ein Nebeneinander unterschiedlicher tarifvertraglicher und betriebs-
1 Zuletzt z.B. BAG v. 22.10.2014 – 5 AZR 731/12, NZA 2015, 501 (Rz. 33); aus der älteren Rspr. etwa BAG v. 24.2.1987 – 1 ABR 18/85, NZA 1987, 639; BAG v. 10.8.1993 – 1 ABR 21/93, NZA 1994, 326; BAG v. 24.11.1987 – 1 ABR 12/86, NZA 1988, 320; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 606; Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 990; Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, Grundlagen Rz. 467; DKKW/Klebe, § 87 BetrVG Rz. 36 ff.; Fitting, § 87 BetrVG Rz. 42; WPK/Bender, § 87 BetrVG Rz. 27 m.w.N. 2 DKKW/Klebe, § 87 BetrVG Rz. 37; Richardi, § 87 BetrVG Rz. 156. 3 Richardi, § 87 BetrVG Rz. 155 m.w.N. 4 GK-BetrVG/Wiese, § 87 BetrVG Rz. 68; Wiese, FS 25 Jahre BAG, 1979, S. 661 (670 ff.); ebenso auch Hueck/Nipperdey/Säcker, Lehrbuch des Arbeitsrechts Bd. II/2, 7. Aufl. 1970, S. 1395. 5 Zum Zusammenhang mit der Richtungsentscheidung zwischen Tarifeinheit und Tarifpluralität s. ausf. Voraufl. Rz. 256. 6 Greiner, Rechtsfragen, S. 377.
Greiner
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Teil 9 Rz. 301
Wirkung der Tarifnormen
verfassungsrechtlicher Regelungen (für nicht tarifgebundene Arbeitnehmer) zu denselben Regelungsfragen zulässt. Der Mitbestimmung kommt eine „Ergänzungsfunktion“ für nicht tarifgebundene Arbeitnehmer zu1. bb) Vermittelnder Ansatz des BAG 301 Einen vermittelnden Ansatz zwischen den dargelegten Positionen vertritt – unter expliziter Aufgabe der früheren Sichtweise – die neuere BAG-Rechtsprechung: Richtig wird erkannt, dass die bisherige Handhabung dem Schutzzweck der Mitbestimmungsrechte bei Individualnormen nur hinsichtlich der tarifgebundenen Arbeitnehmer gerecht wird2, da diese sich gegenüber dem Arbeitgeber gem. § 4 Abs. 1 TVG auf zwingende tarifliche Regelungen berufen können. Anerkannt wird der auch hier vertretene Einwand, dass durch den Ausfall der betrieblichen Mitbestimmung Schutzlücken zulasten nicht tarifgebundener Arbeitnehmer drohen3. Den früheren Ansatz, diese Schutzlücken mit Blick auf die Möglichkeit der Betroffenen zum Gewerkschaftsbeitritt hinzunehmen4, verfolgt das BAG wegen der Unvereinbarkeit mit der umfassenden Schutzintention des § 87 BetrVG und dem Schutz der negativen Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) explizit nicht mehr5. 302 Die auftretende Schutzlücke sei jeweils nach dem Zweck des einschlägigen Mitbestimmungstatbestands zu schließen6, dem bei § 87 BetrVG grds. der Charakter einer kollektiven, überindividuellen Regelungsmaterie anhafte.7 Die Mitbestimmungsgegenstände müssten zwar nicht notwendig für alle betriebszugehörigen Arbeitnehmer einheitlich geregelt werden. Eine allein an der Verbandszugehörigkeit orientierte Sachgruppenbildung sei jedoch sowohl den Betriebsparteien als auch dem Arbeitgeber typischerweise mit Blick auf § 75 Abs. 1 BetrVG verwehrt8. Damit stehe eine ansonsten drohende Zuordnung der Arbeitnehmer zu unterschiedlichen Entlohnungssystemen – einem tariflichen und einem einseitig durch den Arbeitgeber vorgegebenen bzw. nach § 87 BetrVG betriebsverfassungsrechtlich mitbestimmten – allein nach der Gewerkschaftszugehörigkeit im Konflikt9. § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG verlange eine tätigkeitsbezogene Vergütungsgruppenbildung10; ansonsten fehle es für sie an einem legitimierenden Sachgrund. 303 Das BAG füllt die entstehende Schutzlücke speziell für die betriebliche Lohngestaltung (§ 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG) dadurch, dass die bereits dargestellte (vgl. Rz. 270 ff.) 1 So Wiese, FS 25 Jahre BAG, 1979, S. 661 (672). 2 BAG v. 18.10.2011 – 1 ABR 34/10, NZA 2012, 392 (Rz. 22). 3 BAG v. 18.10.2011 – 1 ABR 34/10, NZA 2012, 392 (Rz. 22); s. auch Kreft, FS Kreutz, S. 263 (270). 4 BAG v. 24.2.1987 – 1 ABR 18/85, NZA 1987, 639. 5 BAG v. 18.10.2011 – 1 ABR 34/10, NZA 2012, 392 (Rz. 22; ausf. Begr. in Rz. 23 ff.). 6 BAG v. 18.10.2011 – 1 ABR 34/10, NZA 2012, 392 (Rz. 26). 7 BAG v. 18.10.2011 – 1 ABR 34/10, NZA 2012, 392 (Rz. 23); vgl. auch schon BAG v. 24.4.2007 – 1 ABR 47/06, NZA 2007, 818 (Rz. 19). 8 BAG v. 18.10.2011 – 1 ABR 34/10, NZA 2012, 392 (Rz. 24). 9 BAG v. 18.10.2011 – 1 ABR 34/10, NZA 2012, 392 (Rz. 26). Hier scheint sich eine Divergenz zur jüngsten Rechtsprechung des 4. Senats bei den Differenzierungsklauseln (Teil 5 (8)) anzudeuten; näher dazu Greiner, jM 2016, 66. 10 BAG v. 18.10.2011 – 1 ABR 34/10, NZA 2012, 392 (Rz. 26); ebenso schon BAG v. 18.11.2003 – 1 AZR 604/02, NZA 2004, 803.
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Verhltnis zu anderen Regelungen
Rz. 305 Teil 9
betriebsverfassungsrechtliche Erga-omnes-Wirkung des tariflichen Entlohnungssystems rechtsfortbildend implementiert wird: Die abstrakt-generellen Entgeltstrukturfragen und damit die Gegenstände der erzwingbaren Mitbestimmung des § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG (vgl. Rz. 271) sind demnach auch gegenüber nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern anzuwenden. Das BAG will damit mehrere widerstreitende Zwecke versöhnen: Es interpretiert § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG einerseits weiterhin als strikten Tarifvorrang: Eine betriebsverfassungsrechtliche Gestaltung der Entgeltstruktur für die nicht tarifgebundenen Außenseiter-Arbeitnehmer scheidet aus bzw. würde verdrängt1. Andererseits füllt es die betriebsverfassungsrechtliche Schutzlücke jedenfalls bei § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG durch universelle Anwendung der Tarifinhalte. Letztlich ergibt sich auf diese Weise ein konfliktfreies, kooperatives Verhältnis zwi- 304 schen tariflicher und betriebsverfassungsrechtlicher Ebene: Auch der Betriebsrat wird nicht rechtlos gestellt, sondern kann bei organisierten und nicht organisierten Arbeitnehmern die tarifliche Eingruppierung nach § 99 BetrVG mitbeurteilen2. Dienen soll dieses Regelungsmodell nicht zuletzt auch der „Transparenz der betrieblichen Lohngestaltung“ und der „Beachtung der Verteilungsgerechtigkeit“3, da einheitliche und transparente Vergütungsstrukturen erreicht werden. Die Grenze des Regelungsmodells liegt in seinen Rechtsfolgen, die ausschließlich betriebsverfassungsrechtlicher Natur sind. Insbes. resultiert daraus also kein Individualanspruch des nicht tarifgebundenen Arbeitnehmers auf das Tarifentgelt4. Der Arbeitgeber könne daher für die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer die Höhe des Entgelts unter Beachtung der in der tariflichen Vergütungsordnung enthaltenen abstrakten Verteilungsgrundsätze festlegen – nimmt man die Aussage hinzu, dass eine allein an der Gewerkschaftszugehörigkeit orientierte unterschiedliche Ausgestaltung mit § 75 BetrVG unvereinbar wäre, dürfte es de facto aber in aller Regel auf eine umfassende Entgeltgleichbehandlung der Belegschaft nach Maßgabe des TVs hinauslaufen. Uneingeschränkt positiv zu bewerten ist die damit erreichte Schließung zuvor beste- 305 hender Schutzlücken. Allerdings ist die Einführung einer betriebsverfassungsrechtlich vermittelten Erga-omnes-Wirkung der Entgeltstrukturen i.S.d. § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG (und de facto auch der Entgelthöhe) als massiver Eingriff in die Grundstrukturen des Tarifrechts zu kritisieren. Vorzugswürdig und gesetzeskonform scheint eine Schutzlückenschließung nach der hier befürworteten Methode: Für tarifgebundene Arbeitnehmer gölte dann der TV, für Außenseiter bliebe Raum für eine mitbestimmte betriebsverfassungsrechtliche Regelung nach § 87 BetrVG. Bedenkt man die an anderer Stelle5 zu beobachtende Großzügigkeit des BAG – jedenfalls des 4. Senats – hinsichtlich Differenzierungen zwischen beiden Gruppen, überraschen die hier formulierten Skrupel. Nicht ausgeschlossen ist, dass das BAG künftig bei anderen Mitbestimmungstatbeständen diesen Weg geht und die Schutzlücke dort nicht durch Tariferstreckung, sondern durch punktuelle Freigabe der betriebsverfassungsrechtlichen Regelungskom-
1 BAG v. 18.10.2011 – 1 ABR 34/10, NZA 2012, 392 (Rz. 28). 2 BAG v. 18.10.2011 – 1 ABR 34/10, NZA 2012, 392 (Rz. 28); vgl. zu diesem Aspekt auch Reichold, RdA 2013, 108. 3 So BAG v. 18.10.2011 – 1 ABR 34/10, NZA 2012, 392 (Rz. 26). 4 BAG v. 18.10.2011 – 1 ABR 34/10, NZA 2012, 392 (Rz. 29). 5 Zuletzt BAG v. 15.4.2015 – 4 AZR 796/13, NZA 2015, 1388 (Differenzierungsklausel mit Stichtagsregelung).
Greiner
851
Teil 9 Rz. 306
Wirkung der Tarifnormen
petenz für Außenseiter-Arbeitnehmer trotz Vorhandenseins einer tarifvertraglichen Regelung schließt. cc) Abschließende tarifvertragliche Regelung 306 Unabhängig von diesen Fragen kann die Kollisionsregel des § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG nur dann greifen, wenn es sich um eine abschließende tarifvertragliche Regelung handelt, die dem Arbeitgeber keinen Umsetzungsspielraum mehr belässt. Besteht bei der Anwendung einer tarifvertraglichen (Rahmen)Vorschrift ein einseitiger, direktionsrechtlicher Entscheidungsspielraum des Arbeitgebers, kann dieser durch Mitbestimmungsrechte nach § 87 BetrVG flankiert werden1. Erst recht gilt dies für Fälle, in denen die Tarifnorm dem Arbeitgeber das alleinige Entscheidungsrecht in einer Frage zuweist2. Voraussetzung für ein Eingreifen der Sperrwirkung ist somit, dass der TV eine vollständige, als abschließend gewollte und anwendbare Regelung enthält3. Auch insoweit kann es auf die Auslegung im Einzelfall ankommen (vgl. Rz. 274). dd) Überlappung der Geltungszeiträume 307 In zeitlicher Hinsicht ist zu beachten, dass es für die Frage der Verdrängungswirkung des TVs gegenüber der betriebsverfassungsrechtlichen Kompetenz nach § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG nicht auf den Zeitpunkt des Abschlusses der Betriebsvereinbarung ankommt, sondern vielmehr auf die (erstmalige) Überlappung der Geltungszeiträume4: Nicht verdrängt wird daher eine Betriebsvereinbarung, die erst zum bzw. nach dem Ende des Tarifvertrags in Kraft treten soll. Jede Überschneidung der Geltungszeiträume soll dagegen zur Unwirksamkeit der Betriebsvereinbarung führen5. Dies gilt auch dann, wenn die Betriebsvereinbarung zunächst mangels tariflicher Regelung Geltung entfaltete, später aber ein verdrängender TV in Kraft tritt6. Der nur nachwirkende TV (§ 4 Abs. 5 TVG; vgl. Rz. 21 ff.) löst die Kollisionsregel des § 87 Abs. 1 Einls. BetrVG nicht aus7. Dafür spricht der dargestellte Regelungszweck, ein möglichst nahtloses Ineinandergreifen von (zwingender) tarifvertraglicher Regelung und betriebverfassungsrechtlichen Mitbestimmungskompetenzen zu ermöglichen und auf diese Weise das einseitige Gestaltungsrecht des Arbeitgebers möglichst zurückzudrängen. Anführen lässt sich auch die Zwecksetzung des § 4 Abs. 5 TVG: Regelungszweck ist die Verhinderung einer normativen Regelungslücke. Diese Lücke kann gerade in den Fällen des § 87 BetrVG durch eine Betriebsvereinbarung sinnvoll geschlossen werden8.
1 Vgl. dazu BAG v. 3.12.1991 – GS 1/90, DB 1991, 2593; Fitting, § 87 BetrVG Rz. 46 ff.; Richardi, § 87 BetrVG Rz. 161 ff. 2 BAG v. 17.12.1985 – 1 ABR 6/84, NZA 1986, 364; BAG v. 4.7.1989 – 1 ABR 40/88, NZA 1990, 29. 3 BAG v. 31.8.1982 – 1 ABR 8/81, BB 1983, 60; BAG v. 4.7.1989 – 1 ABR 40/88, NZA 1990, 29; Fitting, § 87 BetrVG Rz. 46 ff. 4 Vgl. BAG v. 27.11.2002 – 4 AZR 660/01, AP Nr. 34 zu § 87 BetrVG 1972 Tarifvorrang. 5 So BAG v. 19.10.2011 – 4 ABR 116/09, NZA-RR 2012, 417; dazu o. Rz. 287. 6 BAG v. 13.3.2012 – 1 AZR 659/10, NZA 2012, 990. 7 So zutr. BAG v. 24.2.1987 – 1 ABR 18/85, NZA 1987, 639; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 605; Fitting, § 87 BetrVG Rz. 41 m.w.N. 8 Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 605.
852 Greiner
Teil 10 Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme Rz.
Rz.
6
b) Globalverweisungen auf den sachlich und örtlich einschlägigen TV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Einzel- und Teilverweisungen auf den sachlich und örtlich einschlägigen TV. . . . . . . . . . . . . . . d) Verweisungen auf branchenfremde oder nichtige TVe . . . . . . . . . . . .
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7
C. Erscheinungsformen . . . . . . . . . . . . . .
47
8
I. Deklaratorische und konstitutive Inbezugnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48
A. Arbeitsvertragliche Geltung von Tarifverträgen I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wirkung der vertraglichen Inbezugnahme 1. Keine normative Wirkung der Bezugnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rein schuldrechtlicher Charakter der Bezugnahme. . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bezugnahmeklauseln bei beidseitiger Tarifbindung . . . . . . . . . . . . . . . .
1
B. Die vertragliche Vereinbarung und ihre Wirksamkeit I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
II. Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12
III. AGB-rechtliche Kontrolle und Auslegung arbeitsvertraglicher Bezugnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Einbeziehung der Bezugnahmeklausel in den Vertrag a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schutz vor überraschenden Klauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Auslegung von Bezugnahmeklauseln a) Vermutung dynamischer Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Keine Geltung der Unklarheitenregelung des § 305c Abs. 2 BGB. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Wirkungen bei tarifvertraglichen Differenzierungsklauseln . . . d) Auslegung bei Tarifpluralität und Änderungen durch das Tarifeinheitsgesetz vom 3.7.2015 . . . e) Verweisung auf den BAT . . . . . . . . 3. Inhaltskontrolle von Bezugnahmeklauseln a) Eröffnung der Inhaltskontrolle (§ 307 Abs. 3 BGB). . . . . . . . . . . . . . b) Transparenzgebot (§ 307 Abs. 1 Satz 2 BGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Inhaltskontrolle der in Bezug genommenen TV-Normen a) Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . .
16
18 20
24
26 27
32 34
36 38
40
II. Statische oder dynamische Inbezugnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Statische Inbezugnahme a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wirkungen bei Verbandsaustritt, Verbandswechsel und Umstrukturierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kleine dynamische Bezugnahmeklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vor dem 1.1.2002 vereinbarte Klauseln: Auslegung als Gleichstellungsabrede . . . . . . . . . . . . . . . . b) Klauseln ab dem 1.1.2002: Konstitutive Ewigkeitsbindung bei Neuklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Abgrenzung von Altklauseln und Neuklauseln . . . . . . . . . . . . . . d) Europarechtliche Bedenken gegenüber der „Ewigkeitsbindung“ – Rückkehr zur Gleichstellungsabrede? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Folgen bei Verbandsaustritt, Verbandswechsel und Umstrukturierung aa) Auslegung von Altklauseln. . . bb) Wirkung von Neuklauseln . . . f) Tarifsukzession . . . . . . . . . . . . . . . . g) Konkurrenz von (allgemeinverbindlichem) Verbandstarifvertrag und Firmentarifvertrag? . . . . . . . . . 3. Große dynamische Bezugnahmeklausel a) Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausgestaltung als Gleichstellungsabrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Henssler
42
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52 53
55 58
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62 66
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853
Teil 10
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme Rz.
Rz.
IV. Die Beendigung der Tarifbindung durch betriebliche Übung . . . . . . . . . . 119
c) Wirkung bei Verbandsaustritt, Herauswachsen und Betriebsübergang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
90
III. Teil- und Einzelverweisung . . . . . . . .
99
D. Bezugnahme kraft betrieblicher Übung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 I. Dogmatische Grundlagen der betrieblichen Übung . . . . . . . . . . . . . . . . 104 II. Entstehung der Tarifbindung durch betriebliche Übung 1. Regelmäßig wiederkehrendes, gleichförmiges Arbeitgeberverhalten . . . . . 107 2. Entgegenstehende Absprachen . . . . . 111 III. Inhalt der Bezugnahme durch betriebliche Übung . . . . . . . . . . . . . . . 114
E. Sonstige Rechtsgrundlagen für eine nicht tarifrechtlich begründete Anwendbarkeit von Tarifverträgen I. Bezugnahme durch Betriebsvereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 II. Tarifvertragliche Außenseiterklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 III. Arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 F. Formulierungsvorschläge . . . . . . . . . . 131 I. Tarifgebundene Arbeitgeber . . . . . . . . 132 II. Nicht tarifgebundene Arbeitgeber . . . 133
A. Arbeitsvertragliche Geltung von Tarifverträgen Literatur: Bauer/Günther, Bezugnahmeklauseln bei Verbandswechsel und Betriebsübergang – Ein Irrgarten?, NZA 2008, 6; Bauer/Haußmann, Schöne Bescherung: Abschied von der Gleichstellungsabrede!, DB 2005, 2815; Clemenz, Arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge – ein Paradigmenwechsel mit offenen Fragen, NZA 2007, 769; Giesen, Bezugnahmeklauseln – Auslegung, Formulierung und Änderung, NZA 2006, 625; Giesen, Die Auslegung von Bezugnahmeklauseln in Konflikt um Tarifanwendung und Tarifvermeidung, ZfA 2010, 657; Greiner, Das Tarifeinheitsgesetz, NZA 2015, 769; Henssler, Schuldrechtliche Tarifgeltung bei Verbandsaustritt, Verbandswechsel und Unternehmensumstrukturierung, in: Festschrift Wißmann, 2005, S. 133; Henssler/Heiden, Wirkung kleiner dynamischer Bezugnahmeklauseln bei Verbandsaustritt des Arbeitgebers – Besprechung des Urteils BAG v. 19.3.2003 – 4 AZR 331/02, RdA 2004, 241; Hohenstatt/Kuhnke, Die arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge beim Betriebs(teil)übergang – Zugleich Besprechung der Urteile BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 765/06, 4 AZR 766/06 und 4 AZR 767/06, RdA 2009, 107; Höpfner, Vertrauensschutz bei Änderung der Rechtsprechung zu arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln, NZA 2008, 91; Höpfner, Nochmals: Vertrauensschutz bei Änderung der Rechtsprechung zu arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln, NZA 2009, 420; Houben, Wie dynamisch sind dynamische Verweisungsklauseln?, SAE 2007, 109; Jordan/Bissels, Gilt „der jeweils anwendbare Tarifvertrag in der jeweils gültigen Fassung“ noch? – Wirksamkeit von großen dynamischen Bezugnahmeklauseln, NZA 2010, 71; Kania/Seitz, Die Entdynamisierung von Bezugnahmeklauseln, RdA 2015, 228; Lingemann, Kleine dynamische Bezugnahmeklausel bei Änderung der Tarifbindung, in: Festschrift Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht zum 25jährigen Bestehen, 2006, S. 71; Meinel/Herms, Änderung der BAG-Rechtsprechung zu Bezugnahmeklauseln in Arbeitsverträgen, DB 2006, 1429; Moll, Fortgeltung von Tarifverträgen bei Betriebsübergang – Besprechung des Urteils BAG v. 11.5.2005 – 4 AZR 315/04, RdA 2007, 48; Möller, Gleichstellungsrechtsprechung „Der Anfang vom Ende?“, NZA 2006, 579; Oetker, Arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge und AGB-Kontrolle, in: Festschrift Wiedemann, 2002, S. 383; Preis/ Greiner, Vertragsgestaltung bei Bezugnahmeklauseln nach der Rechtsprechungsänderung des BAG, NZA 2007, 1073; Rinck, Kollision von fortwirkenden Tarifnormen und Bezugnahmeklauseln und Betriebsübergang, RdA 2010, 216; Schliemann, Zur Inbezugnahme des Minderheitstarifvertrages, NZA 2015, 1298; Schwarz, Kleine dynamische Bezugnahmeklauseln – Abschied vom Tarifwechsel, BB 2010, 1021; Sittard/Ulbrich, Zur Rechtsprechungsänderung bei der Auslegung von Bezugnahmeklauseln – zugleich Besprechung des Urteils BAG vom 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, ZTR 2006, 458; Thüsing, Europarechtliche Bezüge der Bezugnahmeklausel, NZA 2006, 473.
854 Henssler
Arbeitsvertragliche Geltung von Tarifvertrgen
Rz. 2 Teil 10
I. Allgemeines TVe gelten normativ grundsätzlich nur bei einer kongruenten Tarifbindung beider 1 Parteien des Arbeitsvertrages (§ 3 Abs. 1 TVG). Fehlt bei einem der Vertragspartner diese Tarifgebundenheit bzw. sind die Tarifbindungen jedenfalls nicht kongruent1 und ist auch keine Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG (bzw. eine RVO nach dem Arbeitnehmerentsendegesetz) erfolgt2, gelten die fachlich und örtlich einschlägigen tariflichen Rechtsnormen nicht gemäß § 4 Abs. 1 TVG unmittelbar und zwingend. In diesen Fällen können Tarifnormen gleichwohl durch Bezugnahmeklauseln auf individualarbeitsvertraglicher Ebene zum Bestandteil des Arbeitsverhältnisses gemacht werden. An die Stelle einer normativen Bindung an den TV tritt in diesem Fall eine lediglich schuldrechtliche Bindung an die Tarifnormen. Eine vergleichbare, nur schuldrechtliche Bindung kann auch durch eine betriebliche Übung entstehen (Rz. 107 ff.). In Deutschland enthält seit jeher die große Mehrzahl aller Arbeitsverträge3 eine ent- 2 sprechende Bezugnahmeklausel. Die Klauseln werden von den Arbeitgebern zwangsläufig unterschiedslos in alle Arbeitsverträge, also auch in diejenigen der organisierten Arbeitnehmer, aufgenommen, da die Arbeitgeber grundsätzlich keine Kenntnis von einer Gewerkschaftsmitgliedschaft ihrer Mitarbeiter haben4. Zwar ist die Frage nach der Gewerkschaftszugehörigkeit nur im Zeitraum vor der Einstellung generell unzulässig5, nach der Einstellung besteht dagegen grundsätzlich – wie schon die Anerkennung von Differenzierungsklauseln durch das BAG6 zeigt – ein berechtigtes Interesse an der Frage7. Da die Arbeitgeber aber an einheitlichen Arbeitsbedingungen für alle Arbeitnehmer interessiert sind8, wird die Gewerkschaftszugehörigkeit regelmäßig auch nach der positiven Entscheidung über die Einstellung nicht abgefragt. Ohnehin wird der die Bezugnahmeklausel enthaltende Vertrag dem Arbeitnehmer unterschriftsreif vorgelegt. Ist der Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert, spiegelt die Bezugnahmeklausel grundsätzlich nur schuldrechtlich dasjenige wider, das bereits normativ aufgrund der Tarifgebundenheit gilt. Allerdings wirken die Klauseln auch in diesem Fall konstitutiv, begründen also einen eigenständigen (schuldrechtlichen) Anspruch auf die tariflichen Arbeitsbedingungen (Rz. 7).
1 Eine kongruente Tarifbindung liegt nur vor, wenn der Arbeitnehmer derjenigen Gewerkschaft angehört, die entweder mit dem Arbeitgeber einen FirmenTV geschlossen hat oder aber einen VerbandsTV mit jenem Arbeitgeberverband vereinbart hat, dem der Arbeitgeber als tarifgebundenes Mitglied angehört. 2 Von rund 71 900 TVen sind zur Zeit 490 allgemeinverbindlich, siehe Verzeichnis der für allgemeinerbindlich erklärten TVe, Stand 1.1.2016, abrufbar beim BMAS (www.bmas.de). 3 Bereits im Jahr 1989 enthielten rund 90 % aller untersuchten Arbeitsverträge Bezugnahmen auf TVe, vgl. Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 1. 4 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 29. 5 ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 278; Staudinger/Richardi/Fischinger, (2016) § 611 BGB Rz. 580. 6 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028; BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920. 7 Für die Zulässigkeit der Frage Richardi/Thüsing, § 94 BetrVG Rz. 21; Staudinger/Richardi/Fischinger, (2016) § 611 BGB Rz. 580, für die Arbeitskampfsituation verneinend, aber im Übrigen offengelassen durch BAG v. 18.11.2014 – 1 AZR 257/13, NZA 2015, 306 Rz. 38. 8 BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736; BAG v. 21.1.1997 – 1 AZR 572/96, NZA 1997, 1009.
Henssler
855
Teil 10 Rz. 3
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
3 Bedingt durch den Mitgliederschwund bei den Gewerkschaften1 und den gleichzeitig auf Arbeitgeberseite zu beobachtenden Trend zur Mitgliedschaft OT2 gewinnen Bezugnahmeklauseln kontinuierlich eine eigenständige Bedeutung. Ihnen ist es zu verdanken, dass sich weiterhin in über 77 % aller Arbeitsverhältnisse in Deutschland die Arbeitsbedingungen nach tariflichen Regelungen richten3. Nicht nur tarifgebundene Arbeitgeber verwenden sie, auch nicht tarifgebundene Arbeitgeber nutzen über sie die Vorteile der Anbindung an ein kollektives Regelungssystem. Stellt man auf die Betriebe ab, so orientieren sich rund 43 % aller nicht normativ an einen TV gebundenen Betriebe an den einschlägigen BranchenTVen4. Die arbeitsvertragliche Inbezugnahme von TVen ist heute im Arbeitsleben als Gestaltungsinstrument derart verbreitet, dass ihre Aufnahme in Formularverträge regelmäßig nicht überraschend i.S.d. § 305c BGB ist5. 4 Die Verwendung von Bezugnahmeklauseln bietet aus Sicht der Arbeitgeber zahlreiche Vorteile. Tarifgebundene Arbeitgeber werden sich in erster Linie den mit einer Differenzierung verbundenen Verwaltungs- und Vertragsgestaltungsaufwand ersparen und soziale Spannungen im Betrieb vermeiden wollen. Zudem vermeidet die Gleichstellung Anreize, der Gewerkschaft allein um der tariflichen Vorteile willen beizutreten6. Nicht tarifgebundene Arbeitgeber schätzen den Vorteil der Transaktionskostenersparnis, da durch die Anbindung an ein von den Arbeitnehmern akzeptiertes, sich dynamisch entwickelndes kollektives System die aufwändige Entwicklung und laufende Anpassung eines eigenen betrieblichen Systems der Arbeitsbedingungen entbehrlich wird. 5 Ob die Bezugnahmeklausel im Einzelfall tatsächlich eine vollständige Gleichstellung mit Gewerkschaftsmitgliedern bezweckt, ist durch Auslegung zu ermitteln (vgl. Rz. 26 f.). Nach der älteren Rechtsprechung des BAG war eine dynamische Verweisung von tarifgebundenen Arbeitgebern auf einen konkreten TV im Zweifel als Gleichstellungsabrede zu verstehen mit der Konsequenz, dass die arbeitsvertragliche Verweisung lediglich die fehlende Tarifbindung des Arbeitnehmers ersetzte7. Klauseln, die nach 1 Im Jahr 2014 zählten die Gewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbundes 6 104 851 Mitglieder, verglichen mit 6 193 252 Mitglieder im Jahr 2010, 7 772 795 Mitgliedern im Jahr 2000 und 7 937 923 Mitgliedern im Jahr 1990, www.dgb.de/uber-uns/dgb-heute/mitgliederzahlen. Rund 14,2 % aller Arbeitnehmer in Deutschland (Erwerbstätigenzahl Stand 4.1.2016: 43 Millionen, Bundesamt für Statistik, https://www.destatis.de/) sind gewerkschaftlich organisiert, verglichen mit 19,3 % im Jahr 2008, 28,8 % im Jahr 2001 und 40,6 % im Jahr 1991, Institut der deutschen Wirtschaft Köln (www.iwkoeln.de). 2 Vgl. Deinert/Walser, AuR 2015, 386 (386); v. Joest, FS Buchner, 2009, S. 358, 367 f. 3 Vgl. WSI-Statistisches Taschenbuch Tarifpolitik 2015, Tabellen 1.9, 1.10; nach Angaben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) waren im Jahr 2004 in Deutschland noch für etwa 84 % aller Arbeitsverhältnisse TVe unmittelbar oder mittelbar maßgebend, siehe Tarifvertragliche Arbeitsbedingungen im Jahr 2004, abrufbar unter www.bmas.de. 4 WSI-Statistisches Taschenbuch Tarifpolitik 2015, Tabelle 1.8. 5 So auch BAG v. 24.9.2008 – 6 AZR 76/07, NZA 2009, 154; es sei denn, das Bezugnahmeobjekt ist ein orts- oder branchenfremder TV ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 30; Staudinger/Richardi/ Fischinger, (2016) § 611 BGB Rz. 828. 6 Staudinger/Richardi/Fischinger, (2016) § 611 BGB Rz. 828; Thüsing/Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 3 f. 7 Vgl. nur BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736; BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, NZA 2006, 634; BAG v. 19.3.2003 – 4 AZR 331/02, NZA 2003, 1207; BAG v. 24.11.2004 – 10 AZR 202/04, NZA 2005, 349.
856 Henssler
Arbeitsvertragliche Geltung von Tarifvertrgen
Rz. 7 Teil 10
dem 1.1.2002 vereinbart wurden, legt der 4. Senat des BAG mit Blick auf die Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB im Zweifel im Sinne einer dauerhaften dynamischen Bindung an den in der Vereinbarung genannten TV aus1 (vgl. ausführlich Rz. 47 ff.).
II. Wirkung der vertraglichen Inbezugnahme 1. Keine normative Wirkung der Bezugnahme Früher fand sich im Schrifttum vereinzelt die Auffassung, die arbeitsvertragliche Be- 6 zugnahme auf einen TV bewirke sogar eine zwingende normative Wirkung der TV-Normen i.S.d. § 3 Abs. 1 TVG2. Die Tarifvertragsverordnung von 1918 nannte in ihrem § 1 Abs. 13 die „Berufung auf den Tarifvertrag“ gleichrangig neben der Tarifbindung kraft Mitgliedschaft in der tarifschließenden Vereinigung als einen die „Tarifbeteiligung“ auslösenden Tatbestand und ließ damit ein solches Verständnis zu4. Der Gesetzgeber des TVG 1949 hat diese Vorschrift allerdings nicht übernommen und die Rechtswirkungen der allgemeinen Bezugnahme auf TVe nicht ausdrücklich geregelt. 2. Rein schuldrechtlicher Charakter der Bezugnahme Heute ist dagegen zu Recht allgemein anerkannt, dass die Bezugnahme einen rein 7 schuldrechtlichen Charakter hat5. Die Normen des TVs werden aufgrund der Bezugnahme Inhalt des Arbeitsvertrages und wirken damit nicht anders, als hätten die Parteien die Regelungen als Vertragsklauseln direkt in den Vertrag aufgenommen. Sie gelten also nicht zwingend und unmittelbar, sondern kraft vertraglicher Abrede als individualvertraglich abänderbarer Bestandteil des Arbeitsvertrages. Findet ein TV auf ein Arbeitsverhältnis kraft beidseitiger Tarifbindung oder Allgemeinverbindlichkeit zwingende Anwendung, so kann die Verweisung auf den TV im Arbeitsvertrag folglich nicht zu einer echten Tarifkonkurrenz führen. Vielmehr „konkurriert“ ein Arbeitsvertrag mit einem TV6. Derartige Kollisionen sind nach der zutreffenden Rechtsprechung des BAG über das Günstigkeitsprinzip i.S.d. § 4 Abs. 3 TVG zu lösen. Eine Abweichung von normativ geltenden Tarifnormen mittels Bezugnahme auf einen nicht normativ geltenden TV ist somit nur zugunsten des Arbeitnehmers möglich.
1 BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NZA 2006, 607; BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965; BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 653/05, DB 2007, 2598. 2 v. Hoyningen-Huene, RdA 1978, 138 ff.; in Richtung einer normativen Tarifgeltung kraft Bezugnahme tendierend auch BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736. 3 § 1 Abs. 1 TVVO 1918: „[…] Beteiligte Personen im Sinne des Abs. 1 sind Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die Vertragsparteien des Tarifvertrages oder Mitglieder der vertragsschließenden Vereinigungen sind oder bei Abschluss des Arbeitsvertrages gewesen sind oder die den Arbeitsvertrag unter Berufung auf den Tarifvertrag abgeschlossen haben.“ 4 Vgl. zu den divergierenden Auffassungen zu § 1 Abs. 1 TVVO Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 272 f. 5 HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 27; MüKo/Müller-Glöge, § 611 BGB Rz. 346; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 285; Thüsing/Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 2; Staudinger/Richardi/Fischinger, (2016) § 611 BGB Rz. 828; Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, 2012, S. 162 m.w.N. 6 BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364, unter ausdr. Aufg. von BAG v. 23.3.2005 – 4 AZR 203/04, NZA 2005, 1003; BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736.
Henssler
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Teil 10 Rz. 8
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
3. Bezugnahmeklauseln bei beidseitiger Tarifbindung 8 Im Falle beidseitiger Tarifbindung wurde insbesondere im älteren Schrifttum vertreten, dass einer arbeitsvertraglichen Bezugnahme lediglich deklaratorische Wirkung zukomme1. Ein eigener arbeitsvertraglicher Anspruch erwachse dem Arbeitnehmer in diesen Fällen nicht. Die normative oder konstitutive Wirkung von Verweisungsklauseln ist gesetzlich nicht vorgegeben, sondern im Wege der Vertragsauslegung nach §§ 133, 157 BGB zu ermitteln. Da es sich um Allgemeine Geschäftsbedingungen handelt, gehen Unklarheiten nach § 305c Abs. 2 BGB zu Lasten des Verwenders, also des Arbeitgebers. Aus der maßgeblichen Sicht eines objektivierten Erklärungsempfängers ist davon auszugehen, dass die Parteien auch für den Fall einer beiderseitigen Tarifgebundenheit in der Regel eine konstitutive Wirkung erzielen wollten (vgl. auch Rz. 48 ff.)2. Der Arbeitgeber hat bei Vertragsschluss regelmäßig keine Kenntnis von der Gewerkschaftszugehörigkeit des Arbeitnehmers3, sodass es lebensfremd wäre, von einem unterschiedlichen Bindungswillen in Abhängigkeit von der Tarifgebundenheit des einzustellenden Arbeitnehmers auszugehen. Aus Arbeitnehmersicht ist eine Auslegung als konstitutiv wirkende Klausel eindeutig vorzugswürdig, weil nur sie eine sichere Anspruchsgrundlage bietet. Schon die aktuelle Tarifbindung ist bei Verbandstarifen dem Arbeitnehmer meist unbekannt, vor allem aber ist die künftige Tarifbindung des Arbeitgebers für den Arbeitnehmer ungewiss. Nur eine konstitutive Verweisung und die entsprechende Gestaltung des Arbeitsverhältnisses können damit zuverlässig Rechtspositionen begründen und Rechtssicherheit schaffen.
B. Die vertragliche Vereinbarung und ihre Wirksamkeit Literatur: Bayreuther, Die Rolle des Tarifvertrags bei der AGB-Kontrolle von Arbeitsverträgen, RdA 2003, 129; Bayreuther, Die AGB-Kontrolle der Tarifwechselklausel, in: Festschrift Kreutz, 2010, S. 29; Bepler, Der Nachweis von Ausschlussfristen, ZTR 2001, 241; Brors, Zur Übertragbarkeit der Rechtsprechung zu den CGZP-Tarifverträgen auf die derzeit geltenden Tarifwerke – zugleich Anm. zu BAG v. 13.3.2013 – 5 AZR 954/11, RdA 2014, 182; Diehn, AGB-Kontrolle von arbeitsrechtlichen Verweisungsklauseln, NZA 2004, 129; Gaul, Bezugnahmeklauseln – zwischen Inhaltskontrolle und Nachweisgesetz, ZfA 2003, 75; Greiner, „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf …“ – die Entscheidung des BAG vom 15.4.2015 zu tarifvertraglichen Stichtagsklauseln, NZA 2016, 10; Greiner/Suhre, Tarifvertragliche Exklusivleistungen für Gewerkschaftsmitglieder nach der Rechtsprechungsänderung des BAG, NJW 2010, 131; Henssler/Höpfner/Orlowski, Der CGZP-Beschluss des Bundesarbeitsgerichts und seine tarifrechtlichen Folgen, 2012; Höpfner, Aktuelle Strategien im deutschen Tarif- und Arbeitskampfrecht, in: Latzel/Picker, Neue Arbeitswelt, 2014, S. 115; Klebeck, Unklarheiten bei arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklausel – Zur angekündigten Anwendbarkeit des § 305c II BGB auf arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln, NZA 2006, 15; Leydecker, Das Urheberrecht am Tarifvertrag, GRUR 2007, 1030; Linde/Lindemann, Der Nachweis tarifvertraglicher Ausschlussfristen, NZA 2003, 649; Müntefering, Die formularvertragliche Bezugnahme auf Zeitarbeitstarifverträge, NZA 2015, 711; Oetker, Dynamische Verweisungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen als Rechtsproblem, JZ 2002, 337; Schindele/Söhl, Bezugnahmeklauseln auf die Tarifverträge der DGB-Tarifgemeinschaft Zeitarbeit, NZA 2014, 1049; Schliemann, Zur Inbezugnahme des Minderheitstarifvertrags, NZA 1 Schwab, BB 1994, 781 (783); Hanau, NZA 2005, 489 (490). 2 So auch BAG v. 19.3.2003 – 4 AZR 331/02, NZA 2003, 1207; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 33; Thüsing/Lambrich, RdA 2002, 192 (201 f.). 3 Eine entsprechende Frage im Einstellungsgespräch ist nach der Rspr. des BAG unzulässig, vgl. BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, NZA 2002, 634; BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41.
858 Henssler
Teil 10 Rz. 8
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
3. Bezugnahmeklauseln bei beidseitiger Tarifbindung 8 Im Falle beidseitiger Tarifbindung wurde insbesondere im älteren Schrifttum vertreten, dass einer arbeitsvertraglichen Bezugnahme lediglich deklaratorische Wirkung zukomme1. Ein eigener arbeitsvertraglicher Anspruch erwachse dem Arbeitnehmer in diesen Fällen nicht. Die normative oder konstitutive Wirkung von Verweisungsklauseln ist gesetzlich nicht vorgegeben, sondern im Wege der Vertragsauslegung nach §§ 133, 157 BGB zu ermitteln. Da es sich um Allgemeine Geschäftsbedingungen handelt, gehen Unklarheiten nach § 305c Abs. 2 BGB zu Lasten des Verwenders, also des Arbeitgebers. Aus der maßgeblichen Sicht eines objektivierten Erklärungsempfängers ist davon auszugehen, dass die Parteien auch für den Fall einer beiderseitigen Tarifgebundenheit in der Regel eine konstitutive Wirkung erzielen wollten (vgl. auch Rz. 48 ff.)2. Der Arbeitgeber hat bei Vertragsschluss regelmäßig keine Kenntnis von der Gewerkschaftszugehörigkeit des Arbeitnehmers3, sodass es lebensfremd wäre, von einem unterschiedlichen Bindungswillen in Abhängigkeit von der Tarifgebundenheit des einzustellenden Arbeitnehmers auszugehen. Aus Arbeitnehmersicht ist eine Auslegung als konstitutiv wirkende Klausel eindeutig vorzugswürdig, weil nur sie eine sichere Anspruchsgrundlage bietet. Schon die aktuelle Tarifbindung ist bei Verbandstarifen dem Arbeitnehmer meist unbekannt, vor allem aber ist die künftige Tarifbindung des Arbeitgebers für den Arbeitnehmer ungewiss. Nur eine konstitutive Verweisung und die entsprechende Gestaltung des Arbeitsverhältnisses können damit zuverlässig Rechtspositionen begründen und Rechtssicherheit schaffen.
B. Die vertragliche Vereinbarung und ihre Wirksamkeit Literatur: Bayreuther, Die Rolle des Tarifvertrags bei der AGB-Kontrolle von Arbeitsverträgen, RdA 2003, 129; Bayreuther, Die AGB-Kontrolle der Tarifwechselklausel, in: Festschrift Kreutz, 2010, S. 29; Bepler, Der Nachweis von Ausschlussfristen, ZTR 2001, 241; Brors, Zur Übertragbarkeit der Rechtsprechung zu den CGZP-Tarifverträgen auf die derzeit geltenden Tarifwerke – zugleich Anm. zu BAG v. 13.3.2013 – 5 AZR 954/11, RdA 2014, 182; Diehn, AGB-Kontrolle von arbeitsrechtlichen Verweisungsklauseln, NZA 2004, 129; Gaul, Bezugnahmeklauseln – zwischen Inhaltskontrolle und Nachweisgesetz, ZfA 2003, 75; Greiner, „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf …“ – die Entscheidung des BAG vom 15.4.2015 zu tarifvertraglichen Stichtagsklauseln, NZA 2016, 10; Greiner/Suhre, Tarifvertragliche Exklusivleistungen für Gewerkschaftsmitglieder nach der Rechtsprechungsänderung des BAG, NJW 2010, 131; Henssler/Höpfner/Orlowski, Der CGZP-Beschluss des Bundesarbeitsgerichts und seine tarifrechtlichen Folgen, 2012; Höpfner, Aktuelle Strategien im deutschen Tarif- und Arbeitskampfrecht, in: Latzel/Picker, Neue Arbeitswelt, 2014, S. 115; Klebeck, Unklarheiten bei arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklausel – Zur angekündigten Anwendbarkeit des § 305c II BGB auf arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln, NZA 2006, 15; Leydecker, Das Urheberrecht am Tarifvertrag, GRUR 2007, 1030; Linde/Lindemann, Der Nachweis tarifvertraglicher Ausschlussfristen, NZA 2003, 649; Müntefering, Die formularvertragliche Bezugnahme auf Zeitarbeitstarifverträge, NZA 2015, 711; Oetker, Dynamische Verweisungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen als Rechtsproblem, JZ 2002, 337; Schindele/Söhl, Bezugnahmeklauseln auf die Tarifverträge der DGB-Tarifgemeinschaft Zeitarbeit, NZA 2014, 1049; Schliemann, Zur Inbezugnahme des Minderheitstarifvertrags, NZA 1 Schwab, BB 1994, 781 (783); Hanau, NZA 2005, 489 (490). 2 So auch BAG v. 19.3.2003 – 4 AZR 331/02, NZA 2003, 1207; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 33; Thüsing/Lambrich, RdA 2002, 192 (201 f.). 3 Eine entsprechende Frage im Einstellungsgespräch ist nach der Rspr. des BAG unzulässig, vgl. BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, NZA 2002, 634; BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41.
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Die vertragliche Vereinbarung und ihre Wirksamkeit
Rz. 10
Teil 10
2015, 1298; Siegfanz-Strauß, „Boni“ für Gewerkschaftsmitglieder – Feste Grundsätze statt Einzelfalljudikatur, RdA 2015, 266; Sprenger, Tarifpluralität und die Frage nach der Gewerkschaftszugehörigkeit – Die unliebsame Kehrseite der Medaille, NZA 2015, 719; Stoffels/Bieder, AGB-rechtliche Probleme der arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf mehrgliedrige Zeitarbeitstarifverträge, RdA 2012, 27; Thüsing/Lambrich, AGB-Kontrolle arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln – Vertragsgestaltung nach der Schuldrechtsreform, NZA 2002, 1361.
I. Allgemeines Die privatautonome Verweisung auf TVe ist allgemein zulässig. Teilweise sieht das 9 Gesetz die Möglichkeit einer arbeitsvertraglichen Inbezugnahme von TVen ausdrücklich vor, vgl. etwa § 622 Abs. 4 Satz 2 BGB, § 4 Abs. 3 Satz 2 EFZG, §§ 12 Abs. 3 Satz 2, 13 Abs. 4 Satz 2, 14 Abs. 2 Satz 4, 22 Abs. 2 TzBfG oder § 13 Abs. 1 Satz 2 BUrlG. Diese Normen sollen aber die arbeitsvertragliche Bezugnahme von TVen nicht abschließend regeln, so dass auch außerhalb ihres Anwendungsbereiches in Arbeitsverträgen problemlos auf tarifliche Regelungen verwiesen werden kann. Die durch das Tarifeinheitsgesetz vom 3.7.20151 eingefügte Kollisionsregelung in § 4a 9a Abs. 2 Satz 2 TVG, nach welcher im Fall der Tarifkollision nur der TV Anwendung finden soll, der im Betrieb die Mehrheit der Arbeitnehmer widerspiegelt, ändert nichts an der grundsätzlichen Zulässigkeit der individualvertraglichen Verweisung. Das gilt unabhängig davon, ob auf den MehrheitsTV oder auf einen aufgrund § 4a Abs. 2 TVG unanwendbaren sog. „MinderheitsTV“ verwiesen wird2. Der „Minderheitstarif“ wird zwar normativ verdrängt, verliert aber nicht seine Wirksamkeit, kann damit weiterhin taugliches Verweisungsobjekt sein. Ein Urheberrechtsschutz zugunsten der TV-Parteien besteht nach § 5 Abs. 1 UrhG 10 nicht3. Aus der kollektiven Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG) ergeben sich ebenfalls keine Bedenken. Zwar führen die Vereinbarung von Bezugnahmeklauseln und die damit verbundene Gleichstellung von nichtorganisierten Arbeitnehmern mit Gewerkschaftsmitgliedern dazu, dass eine Mitgliedschaft in der tarifschließenden Gewerkschaft weniger attraktiv erscheint. Sie schwächt somit indirekt die Durchschlagskraft der Gewerkschaften4. Die Folge ist ein aus Sicht der Gewerkschaften problematischer „Trittbrettfahrereffekt“. Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG verpflichtet den Gesetzgeber jedoch nicht, die Attraktivität und Aktionsfähigkeit der Koalitionen zu optimieren5. Die Koalitionsfreiheit umfasst nicht den Schutz vor Tarifgeltung6 (zu den Grenzen der Tarifgeltung vgl. Rz. 67 ff.). Zu bedenken ist zudem, dass auch die Ver1 BGBl. I S. 1130. 2 HWK/Henssler § 3 TVG Rz. 18 (m.w.N.); Greiner, NZA 2015, 769 (775); Lehmann, BB 2015, 2229 (2234); Melot de Beauregard, DB 2015, 1527 (1530); Vielmeier, NZA 2015, 1294 (1294); a.A. Fischer, NZA 2015, 662 (665). 3 BAG v. 11.11.1968 – 1 AZR 16/68, NJW 1969, 861. 4 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 287. 5 BVerfG v. 4.7.1995 – 1 BvF 2/86, NZA 1995, 754. 6 BVerfG v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 (218 f.); BAG v. 29.7.2009 – 7 ABR 27/08, NZA 2009, 1424 Rz. 18; BGH v. 8.4.2014 – KZR 53/12, VersR 2014, 1473 Rz. 27 ff.; einschränkend hinsichtlich der Fortgeltung dynamischer Bezugnahmeklauseln bei Betriebsübergang vgl. EuGH v. 9.3.2006 – C-499/04 (Werhof); EuGH v. 18.7.2013 – C-426/11 (Alemo-Herron); dazu Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit, S. 254 ff., 328 ff.; Höpfner, Die Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis, S. 370 ff.
Henssler
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Teil 10 Rz. 11
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
tragsfreiheit der den Arbeitsvertrag abschließenden Parteien nach Art. 2 Abs. 1 GG Grundrechtsschutz genießt1. 11
Den TV-Parteien fehlt von vornherein die Zuständigkeit, den Arbeitsvertragsparteien im Wege einer negativen Inhaltsnorm zu verbieten, in Arbeitsverträgen auf den TV Bezug zu nehmen oder seinen Inhalt in ein individuelles Arbeitsverhältnis zu übernehmen. Die Rechtsprechung begrenzte insoweit bislang die Regelungskompetenz der TVParteien und billigte ihnen keine Normsetzungsbefugnis für die Arbeitsverhältnisse von nicht kongruent tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien zu. Sie seien damit auch nicht befugt, in den TV eine schuldrechtliche Vereinbarung aufzunehmen, nach der sich die Tarifpartner verpflichten, ihre Mitglieder dazu anzuhalten, keine Bezugnahmeklauseln in Arbeitsverträge aufzunehmen (Verbot der qualifizierten Differenzierung)2. Eine solche Abrede im schuldrechtlichen Teil des TVs verstieße gegen die negative Koalitionsfreiheit. Damit war eine Differenzierung im TV zwar möglich (sog. einfache Differenzierungsklauseln), nicht aber der Zwang zur Durchsetzung dieser Differenzierung3. Diese Rechtsprechung wird durch jüngere Entscheidungen des 4. Senats4 allerdings dahingehend relativiert, dass sog. „Binnendifferenzierungen“ (Differenzierungen innerhalb der organisierten Arbeitnehmer) durch sog. Stichtagsklauseln nicht als qualifizierte Differenzierungsklauseln angesehen, sondern als grundsätzlich zulässig bewertet werden. Faktisch laufen diese Differenzierungen auf eine Benachteiligung aller (am Stichtag noch) nicht organisierten Arbeitnehmer heraus, so dass nunmehr Differenzierungen sehr wohl durchgesetzt werden können. Das gilt jedenfalls solange die Vertragsgestaltungspraxis nicht reagiert und den Arbeitnehmern vertraglich ausdrücklich alle Rechte der Gewerkschaftsmitglieder gewährt. Trends zur arbeitnehmerfreundlichen Neugestaltung von Bezugnahmeklauseln sind derzeit aber noch nicht erkennbar.
11a Gänzlich leer laufen Bezugnahmeklauseln bei den ebenfalls vom 4. Senat gebilligten schuldrechtlichen Vereinbarungen der TV-Parteien, die außerhalb des TVs erfolgen. In ihnen kann sich der ArbGeb etwa verpflichten, an eine gewerkschaftsnahe Einrichtung bestimmte finanzielle Leistungen zu erbringen, die sodann ausschließlich Gewerkschaftsmitgliedern zugutekommen. Solche Sondervereinbarungen sind dem BAG zufolge nicht zu beanstanden, verletzten insbesondere nicht den Gleichbehandlungsgrundsatz5. Faktisch können auch auf diese Weise die Beschränkungen für qualifizierte Differenzierungsklauseln unterlaufen werden6 (zu Differenzierungsklauseln im Einzelnen vgl. Teil 5 (8) Rz. 1 ff.).
II. Form 12
Bei der Bezugnahme auf einen TV handelt es sich um eine individualrechtliche Regelung, die wie jede andere arbeitsvertragliche Vereinbarung formlos wirksam ist7 und 1 2 3 4
Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 287. BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1864 f.; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 289. BAG v. 15.4.2015 – 4 AZR 796/13, NZA 2015, 1389; BAG v. 21.8.2013 – 4 AZR 861/11, NZARR 2014, 201; BAG v. 5.9.2012 – 4 AZR 696/10, AP Nr. 53 zu § 3 TVG. 5 BAG v. 21.5.2014 – 4 AZR 50/13, NZA 2015, 115 (Opel). 6 Kritisch hierzu auch Greiner, NZA 2016, 10 (14 f.). 7 BAG v. 19.1.1999 – 1 AZR 606/98, NZA 1999, 879.
860 Henssler
Die vertragliche Vereinbarung und ihre Wirksamkeit
Rz. 14
Teil 10
auch konkludent erfolgen kann1. Die allgemeinen bürgerlich-rechtlichen Grundsätze der §§ 145 ff. BGB über den Vertragsschluss finden Anwendung. Bei tarifgebundenen Arbeitgebern kann nach der Rechtsprechung des BAG aus der Anwendung wesentlicher Tarifbedingungen, insbesondere aus der Gewährung des Tariflohns, geschlossen werden, dass das Arbeitsverhältnis insgesamt dem einschlägigen TV unterliegen soll, wenn nicht besondere Umstände des Einzelfalls, wie etwa die tatsächliche Nichtgewährung bestimmter tariflicher Leistungen an Nichtorganisierte, dagegen sprechen2. Eine umfassende Bezugnahme auf ein ganzes Tarifwerk ist aber nicht bereits dann anzunehmen, wenn der Arbeitgeber einzelne Tarifregelungen punktuell anwendet. Vielmehr muss sein Verhalten erkennen lassen, dass er die Anwendung des TVs als Ganzes möchte3. Der Bestimmtheitsgrundsatz verlangt, dass aus der Bezugnahme eindeutig hervorgeht, auf welchen TV verwiesen wird und ob ein ganzes Tarifwerk, ein einzelner TV oder auch lediglich einzelne Tarifbestimmungen in Bezug genommen werden4. Möglich ist auch die Bezugnahme auf einen TV durch eine betriebliche Übung, vgl. Rz. 103 ff. Soll in einem Unternehmen ein TV angewendet werden, sind die Vorgaben des Nach- 13 weisgesetzes zu beachten. Die in diesem Gesetz normierten Nachweispflichten sind zwar rein deklaratorischer Art und haben auf die Wirksamkeit der Bezugnahmeklausel keinen Einfluss5. Die Nachweispflichten aus §§ 2 und 3 NachwG sind aber selbständig einklagbare Nebenpflichten des Arbeitgebers, deren Verletzung Schadensersatzansprüche aus § 280 Abs. 1 BGB begründen kann6. Nach § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 NachwG hat der Arbeitgeber die Pflicht, spätestens einen Monat nach dem vereinbarten Beginn des Arbeitsverhältnisses die wesentlichen Vertragsbedingungen, zu denen auch die anwendbaren TVe, Betriebs- oder Dienstvereinbarungen zählen, schriftlich niederzulegen und dem Arbeitnehmer auszuhändigen. Zum Teil wird die Norm restriktiv dahingehend verstanden, dass mit den „anzuwendenden“ Kollektivvereinbarungen nur diejenigen gemeint sind, die unmittelbar und zwingend gelten7. Diese Frage hat keine große praktische Bedeutung, da die einzelvertragliche Bezugnahme auf einen TV jedenfalls der Nachweispflicht aus der Generalklausel des § 2 Abs. 1 Satz 1 NachwG unterliegt. Die Aufzählung in § 2 Abs. 1 Satz 2 NachwG hat keinen abschließenden Charakter, zudem stellt die Anwendbarkeit des TVs kraft Bezugnahme eine wesentliche Vertragsbedingung dar8. Die Nachweispflicht erfordert in jedem Fall die eindeutige Bezeichnung des in Bezug 14 genommenen TVs unter Nennung seines betrieblich-branchenmäßigen und räumlichen Geltungsbereichs sowie der tarifschließenden Parteien. Bei der Verwendung „großer dynamischer Klauseln“, die lediglich allgemein auf den jeweils im Betrieb geltenden TV verweisen, bedarf es daher im Rahmen des Nachweises der konkreten 1 Gaul, ZfA 2003, 75 (77); Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 295. 2 BAG v. 19.1.1999 – 1 AZR 606/98, NZA 1999, 879 m. zust. Anm. Oetker. 3 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 529; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 297; vgl. auch BAG v. 26.9.1990 – 5 AZR 112/90, NZA 1991, 247. 4 BAG v. 27.10.2004 – 10 AZR 138/04, NZA 2005, 439. 5 Thüsing/Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 7; Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 42. 6 ErfK/Preis, Einf. zum NachwG Rz. 13. 7 ErfK/Preis, § 2 NachwG Rz. 23; Thüsing/Lambrich, NZA 2002, 1361 (1369); a.A. BAG v. 23.1.2002 – 4 AZR 56/01, BB 2002, 2606. 8 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 301.
Henssler
861
Teil 10 Rz. 15
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
Benennung des jeweils einschlägigen TVs. Ändert sich der einschlägige TV, auf den die dynamische Klausel verweist, muss auch der Nachweis entsprechend angepasst werden. Ob und inwieweit über die eindeutige Bezeichnung des konkret angewendeten TVs hinaus auch der Inhalt dieses TVs nachweispflichtig ist, ist streitig1. Teilweise wird vertreten, dass insbesondere für den Arbeitnehmer nachteilige Vertragsbedingungen wie tarifliche Ausschlussfristen ausdrücklich genannt2 oder sogar inhaltlich wiedergegeben werden müssten3. Nach der überzeugenden Rechtsprechung des BAG reicht es dagegen aus, wenn auf die Anwendbarkeit des einschlägigen TVs hingewiesen wird. Der Arbeitnehmer sei verpflichtet, sich selbst darüber zu informieren, welche Rechte und Pflichten sich aus dem angewendeten TV im Einzelnen ergeben4. 15
Die Auslagepflicht nach § 8 TVG greift nach h.M. nicht ein, wenn tarifungebundene Arbeitgeber arbeitsvertraglich auf TVe Bezug nehmen5. Da es sich nach der noch geltenden Rechtsprechung des BAG6 bei § 8 TVG um eine reine Ordnungsvorschrift handelt, lassen sich aus einer Verletzung der Auslagepflicht ohnehin keine Ansprüche des Arbeitnehmers herleiten. Die Neufassung des § 8 TVG im Zuge des Tarifeinheitsgesetzes7 hat an dieser Rechtslage nichts geändert8.
III. AGB-rechtliche Kontrolle und Auslegung arbeitsvertraglicher Bezugnahmen 16
Die gesetzlichen Regelungen zu Allgemeinen Geschäftsbedingungen in §§ 305 ff. BGB finden bis auf die Einbeziehungsvorschriften des § 305 Abs. 2, 3 BGB unter angemessener Berücksichtigung der arbeitsrechtlichen Besonderheiten (§ 310 Abs. 4 Satz 2 Halbs. 1 BGB) auch auf Arbeitsverträge Anwendung. Der Kontrolle nach §§ 305 ff. BGB unterliegen alle für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierten Vertragsbedingungen, die der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer bei Abschluss des Arbeitsvertrags stellt. Nach der Rechtsprechung und der h.M. in der Literatur sind Arbeitnehmer beim Abschluss des Arbeitsvertrags regelmäßig als Verbraucher anzusehen9. Die Vertragsbedingungen gelten damit nach § 310 Abs. 3 Nr. 1 BGB als vom Arbeitgeber gestellt, sofern sie nicht ausnahmsweise durch den Arbeitnehmer in den Vertrag eingeführt wurden. Zudem ist nach § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB eine Inhaltskontrolle 1 2 3 4 5
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Vgl. zu den vertretenen Ansichten Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 44. Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 45; Linde/Lindemann, NZA 2003, 649 (655). Thüsing/Lambrich, NZA 2002, 1361 (1370). BAG v. 23.1.2002 – 4 AZR 56/01, NZA 2001, 800; vgl. auch BT-Drucks. 13/668 S. 10 f. ErfK/Franzen, § 8 TVG Rz. 2; HWK/Henssler, § 8 TVG Rz. 4 m.w.N.; Wiedemann/Oetker, § 8 TVG Rz. 16; offen gelassen von BAG v. 5.11.1963 – 5 AZR 136/63, NJW 1964, 470; BAG v. 23.1.2002 – 4 AZR 56/01, NZA 2002, 800. BAG v. 30.9.1970 – 1 AZR 535/69, NJW 1971, 480; BAG v. 23.1.2002 – 4 AZR 56/01, NZA 2002, 800; BAG v. 27.1.2004 – 1 AZR 148/03, NZA 2004, 667; ebenso die h.M. im Schrifttum Wiedemann/Oetker § 8 TVG Rz. 22; ErfK/Franzen, § 8 TVG Rz. 4. Gesetz v. 3.7.2015, BGBl. I S. 1130. So jedenfalls im Ergebnis ErfK/Franzen, § 8 TVG Rz. 4. BAG v. 18.3.2008 – 9 AZR 186/07, NZA 2008, 1004; BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 303/05, NZA 2006, 1273; BAG v. 25.5.2005 – 5 AZR 572/04, NZA 2005, 1111; Boemke, BB 2002, 96; Däubler, NZA 2001, 1329 (1333); Henssler, RdA 2002, 129 (133 ff.); Hunold, NZA-RR 2008, 449 (450); HWK/Gotthardt, § 310 BGB Rz. 2; ErfK/Preis, § 611 Rz. 182; a.A. Annuß, NJW 2002, 2844 ff.; Staudinger/Kannowski, (2013) § 13 BGB Rz. 53.
862 Henssler
Die vertragliche Vereinbarung und ihre Wirksamkeit
Rz. 19
Teil 10
auch dann durchzuführen, wenn die vorformulierten Vertragsbedingungen nur zur einmaligen Verwendung bestimmt waren, soweit der Arbeitnehmer auf ihren Inhalt keinen Einfluss nehmen konnte. Arbeitsvertragliche Verweisungen auf TVe sind zunächst auf ihre wirksame Einbezie- 17 hung in den Vertrag hin zu überprüfen (§§ 305–306 BGB). Bei der eigentlichen Inhaltskontrolle ist zu differenzieren zwischen der AGB-rechtlichen Prüfung der arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel selbst und der Kontrolle der in Bezug genommenen TV-Normen. 1. Die Einbeziehung der Bezugnahmeklausel in den Vertrag a) Grundsatz Die Einbeziehung der Verweisungsklausel in den Arbeitsvertrag richtet sich nach den 18 Vorschriften der §§ 305–305c BGB. § 305 Abs. 2 BGB findet bei der Kontrolle vorformulierter Vertragsbedingungen im Arbeitsrecht nach § 310 Abs. 4 Satz 2 BGB keine Anwendung1. Anders als im allgemeinen Zivilrecht muss der Arbeitgeber zur Wirksamkeit der AGB also weder erkennbar auf diese hinweisen noch dem Arbeitnehmer eine zumutbare Möglichkeit der Kenntnisnahme verschaffen. Nach Auffassung des Gesetzgebers wird im Arbeitsrecht der notwendige Schutz des Vertragspartners bereits durch die Anforderungen des Nachweisgesetzes gewährleistet2. Die Einbeziehung von AGB richtet sich somit nach den allgemeinen Grundsätzen 19 des Vertragsrechts. Auf die Möglichkeit des Arbeitnehmers, bei Vertragsschluss von dem in Bezug genommenen TV inhaltlich Kenntnis zu nehmen, kommt es für die wirksame Einbeziehung des TVs durch die arbeitsvertragliche Verweisungsklausel demnach nicht an. Für die wirksame Einbeziehung genügt jede stillschweigende Willensübereinkunft3. Mit § 305 Abs. 2 und 3 BGB unvereinbar sind im allgemeinen Zivilrecht sog. Jeweiligkeitsklauseln, die auf ein Regelwerk in der jeweiligen Fassung verweisen. Diese Klauseln führen bei einer Änderung des Bezugsobjektes automatisch zu geänderten AGB, auf die der Verwender den Vertragspartner nach § 305 Abs. 2 BGB hinweisen und ihm die geänderte Fassung zugänglich machen muss. Die Unanwendbarkeit des § 305 Abs. 2 und 3 BGB führt im Arbeitsrecht zu einer eigenständigen Beurteilung. Obwohl der Arbeitnehmer bei Vertragsschluss nicht absehen kann, welchen Änderungen das Bezugsobjekt in der Zukunft unterliegt und obwohl er faktisch vom geänderten Inhalt der in Bezug genommenen TV-Normen häufig keine Kenntnis erlangt, werden auf TVe verweisende Jeweiligkeitsklauseln (dynamische Bezugnahmeklauseln) wirksamer Vertragsbestandteil (zur Vereinbarkeit mit dem Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB vgl. Rz. 38)4. Die dynamische Wirkung lässt sich vor dem Hintergrund der Richtigkeitsgewähr der TVe rechtfertigen. Verwiesen wird stets nur auf diejenigen Arbeitsbedingungen, die von den fachkundigen Ta-
1 BAG v. 19.3.2014 – 5 AZR 252/12, NZA 2014, 1076 Rz. 56. 2 BT-Drucks. 14/6857, S. 54. 3 BAG v. 29.8.2012 – 10 AZR 385/11, NZA 2013, 148 Rz. 24; BAG v. 24.9.2008 – 6 AZR 76/07, NZA 2009, 154; ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 28. 4 ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 80a; HWK/Gotthardt, § 305 BGB Rz. 11; Diehn, NZA 2004, 129 (132); vgl. zur abweichenden Beurteilung bei Verweisungen auf Allgemeine Arbeitsbedingungen Preis, NZA 2010, 361.
Henssler
863
Teil 10 Rz. 20
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
rifpartnern aktuell für die konkrete Tätigkeit des Arbeitnehmers als angemessen eingestuft werden. Zudem führen Änderungen des TVs regelmäßig zu einer Verbesserung der Rechtsposition des Arbeitnehmers (vgl. aber Rz. 22). b) Schutz vor überraschenden Klauseln 20
Der Schutz vor überraschenden Vertragsklauseln nach § 305c Abs. 1 BGB gilt hingegen auch im Arbeitsrecht, sodass Bezugnahmeklauseln an dieser Norm zu messen sind1. Das Verbot greift, wenn die fragliche Klausel objektiv betrachtet so ungewöhnlich ist, dass ein durchschnittlicher Arbeitnehmer mit ihr den Umständen nach vernünftigerweise nicht zu rechnen braucht2. Angesichts des weiten Verbreitungsgrades von statischen und dynamischen Bezugnahmeklauseln als Gestaltungselementen in Formulararbeitsverträgen sind sie regelmäßig nicht als überraschend im Sinne des § 305c Abs. 1 BGB anzusehen3. Mit einer Bezugnahme auf die für den Betrieb fachlich und räumlich einschlägigen TVe hat der Arbeitnehmer stets zu rechnen4.
21
Umstritten ist, ob dies auch für eine Verweisung auf branchen- oder ortsfremde TVe gilt. Teils wird dies unter Verweis auf die Üblichkeit derartiger Klauseln bejaht5, teils pauschal verneint6. Eine schematische Betrachtung verbietet sich hier; vielmehr hängt es von einer Einzelfallbetrachtung ab, ob die Bezugnahme auf einen fremden TV als überraschend mit der Folge des Anwendbarkeit des § 305c Abs. 1 BGB anzusehen ist7. In der Regel wird der branchen- oder ortsfremde TV allerdings gerade nicht die Richtigkeitsgewähr für das betroffene Arbeitsverhältnis bieten können.
22
Umstritten ist die Reichweite des Überraschungsschutzes bei dynamischen Verweisungen auf TVe, die alle zukünftigen – also möglicherweise auch überraschenden – Änderungen des TVs einbeziehen. Es wird vorgeschlagen, dynamische Bezugnahmeklauseln bei jeder Änderung der kollektiven Regelung, auf die verwiesen wird, am Maßstab des § 305c Abs. 2 BGB zu überprüfen8. Eine Verringerung der Vergütung um mehr als ein Viertel etwa sei als Verstoß gegen § 305c Abs. 2 BGB nicht hinzunehmen9. Die Ein1 ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 29 f.; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 303. 2 Allein der Umstand, dass die Klausel – trotz fehlender Deutschkenntnisse des ArbN – in deutscher Sprache verfasst ist, begründet keinen Überrumpelungseffekt BAG v. 19.3.2014 – 5 AZR 252/12, NZA 2014, 1076 Rz. 62. 3 BAG v. 3.4.2007 – 9 AZR 283/06, NZA-RR 2008, 504; BAG v. 24.9.2008 – 6 AZR 76/07, NZA 2009, 154. 4 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 304; grds. zust. auch Gaul, ZfA 2003, 75 (86). 5 Gaul, ZfA 2003, 75 (86); Reichel, Die arbeitsvertragliche Bezugnahme auf den TV, S. 44. 6 DBD/Däubler, § 305c BGB Rz. 22; ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 30; Kempen/Zachert/ Brecht-Heitzmann, § 3 TVG Rz. 190; Graf v. Westphalen/Thüsing, Vertragsrecht und AGBKlauselwerke, Rz. 194; Thüsing/Lambrich, NZA 2002, 1361 (1365); wohl auch Seibert, NZA 1985, 730 (732); differenzierend Diehn, NZA 2004, 129 (133). 7 Ebenso Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 305; Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, 2012, S. 200; ebenfalls für eine Einzelfallbetrachtung Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 73; ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 30; Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching/Jacobs, § 305c BGB Rz. 16, die allerdings in der Regel einen Überraschungseffekt annehmen. 8 Annuß, ZfA 2005, 405 (438); DBD/Däubler, § 305c BGB Rz. 22; Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching/Jacobs, § 305c BGB Rz. 17. 9 Thüsing/Lambrich, NZA 2002, 1361 (1365); a.A. Annuß, ZfA 2005, 405 (438), nach dem sich ein Überraschungseffekt nur aus qualitativen Veränderungen des Regelungskonzeptes ergeben kann, nicht aber aus lediglich quantitativen Änderungen.
864 Henssler
Die vertragliche Vereinbarung und ihre Wirksamkeit
Rz. 24
Teil 10
beziehungskontrolle der Bezugnahmeklausel selbst bleibe unberührt1. Der Widerspruch zu dem in den §§ 307 Abs. 2, 310 Abs. 4 Satz 3 BGB zum Ausdruck gebrachten Ausschluss einer mittelbaren Tarifzensur sei im Interesse des Arbeitnehmerschutzes hinzunehmen2. Nach anderer Ansicht sollen unvorhersehbare Änderungen des in Bezug genommenen TVs von vornherein nicht von der dynamischen Bezugnahmeklausel erfasst werden3. Bezogen auf solche Änderungen fehle es bei Vertragsschluss am rechtsgeschäftlichen Bindungswillen der Parteien4. Nach der Gegenauffassung soll § 305c Abs. 2 BGB bei Verweisungen auf TVe grundsätzlich keinen Anwendungsraum haben, da selbst erhebliche nachträgliche Änderungen eines global bezogenen einschlägigen TVs keinen Überraschungseffekt hätten. Der einschlägige TV gelte als Indiz für das Übliche, so dass eine Unangemessenheit der darin enthaltenen Klauseln ausgeschlossen sei5. Die einschränkenden Auffassungen überzeugen nicht. Der Regelungswille der Partei- 23 en geht (jedenfalls bei Vereinbarung einer Bezugnahmeklausel in Form einer Gleichstellungsabrede) gerade dahin, dem Arbeitsverhältnis alle Regelungen zugrunde zu legen, die auch die tarifgebundenen Arbeitnehmer hinzunehmen haben6. Für den sachlich und räumlich einschlägigen TV folgt aus dem arbeitskampf- und tarifvertragsrechtlichen Verhandlungsgleichgewicht der TV-Parteien (Paritätsprinzip) eine Angemessenheitsvermutung, nach der zum einen davon ausgegangen werden muss, dass für die tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien ein ausgewogener Interessenausgleich gefunden wurde7. Die Regelungen des arbeitsvertraglich in Bezug genommenen einschlägigen TVs können damit auch für den nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer per se nicht objektiv ungewöhnlich sein. Dies gilt uneingeschränkt dann, wenn die in Bezug genommenen TVe von Gewerkschaften innerhalb des Dachverbandes des DGB geschlossen wurden. Auch bei den TVen anderer Gewerkschaften stellt aber das Kriterium der sozialen Mächtigkeit sicher, dass die in ihnen enthaltenen Regeln für den persönlichen, fachlichen und regionalen Geltungsbereich angemessen sind. Missbräuchliche TVe sind ohnehin unwirksam. Im Ergebnis ist es daher schlechterdings ausgeschlossen, dass eine tarifliche Regelung als überraschend qualifiziert werden kann. 2. Die Auslegung von Bezugnahmeklauseln a) Vermutung dynamischer Wirkung Die Auslegung der Bezugnahmeklausel richtet sich nach den allgemeinen für Wil- 24 lenserklärungen geltenden Auslegungsregeln der §§ 133, 157 BGB. Ergänzend ist die Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB zu beachten, die für Bezugnahmeklauseln nach der Rechtsprechung allerdings nur von begrenzter Bedeutung ist (Rz. 26). Für eine Anwendung des § 305c Abs. 2 BGB bleibt nur dann Raum, wenn nach Ausschöpfung der in Betracht kommenden Auslegungsmethoden Zweifel verbleiben, wie die 1 2 3 4 5 6 7
Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching/Jacobs, § 305c BGB Rz. 17. Thüsing/Lambrich, NZA 2002, 1361 (1365). Seibert, NZA 1985, 730 (732 f.). Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 80. Diehn, NZA 2004, 129 (133). So zutreffend Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 307. Vgl. BAG v. 10.6.1980 – 1 AZR 822/79, NJW 1980, 1642.
Henssler
865
Teil 10 Rz. 25
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
Parteien die Regelung verstanden wissen wollten (objektive Mehrdeutigkeit)1. Hinter der Regelung steckt der Gedanke, dass es Sache der die Vertragsgestaltungsfreiheit nutzenden Partei ist, sich unmissverständlich auszudrücken. Verbleibende Unklarheiten gehen daher zu ihren Lasten2. Diese Auslegungsregel gilt auch für den Fall, dass die Tragweite einer Verweisung auf Tarifnormen zweifelhaft ist. 25
Unabhängig von der Geltung der Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB (vgl. Rz. 26) geht das BAG davon aus, dass der TV nach dem Willen der Arbeitsvertragsparteien im Zweifel in seiner jeweiligen Fassung gelten soll, wenn sich aus der Vereinbarung nicht mit hinreichender Deutlichkeit ergibt, ob die Bezugnahme in zeitlicher Hinsicht statisch oder dynamisch erfolgen soll. Der Arbeitnehmer erhält also im Zweifel einen Anspruch auf Teilhabe an zukünftigen Tarifentwicklungen (vgl. zur Entwicklung der Rechtsprechung zur Auslegung dynamischer Bezugnahmeklauseln Rz. 57 ff.)3. Zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses – und nur auf diesen kommt es an – kann man in der Regel davon ausgehen, dass eine dynamische Bezugnahme für den Arbeitnehmer günstiger ist, weil die Vergütungserhöhung durch spätere (Vergütungs-)TVe die Regel ist, eine Vergütungsabsenkung dagegen die seltene Ausnahme. Dass sich im Einzelfall nachträglich herausstellen kann, dass die statische Verweisung für den Arbeitnehmer günstiger gewesen wäre, spielt für die Auslegung der Vereinbarung keine Rolle4. Dem BAG genügen bei VergütungsTVen bereits geringfügige Hinweise, wie die Benennung einer Lohngruppe oder die Bezeichnung einer Gehaltszahlung als „Tarifgehalt“5, um eine dynamische Wirkung zu bejahen. b) Keine Geltung der Unklarheitenregelung des § 305c Abs. 2 BGB
26
Die Anwendbarkeit der Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB auf arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln wird von der höchstrichterlichen Rechtsprechung jedenfalls „in der Regel“ abgelehnt6. Sie scheitere daran, dass die Frage der Günstigkeit für den Arbeitnehmer nicht abstrakt und unabhängig von der jeweiligen Fallkonstellation beantwortet werden könne. MantelTVe enthielten zumeist nicht nur für den Arbeitnehmer günstige, sondern auch ungünstige Regelungen, so dass man je nach der vom Arbeitnehmer erstrebten Rechtsfolge zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen müsste. Einer je nach der Art des streitigen Anspruchs und des Zeitpunkts der Geltendmachung unterschiedlichen Beurteilung der Günstigkeit stehe jedoch entgegen, dass die Reichweite der Bezugnahme und die Anwendbarkeit des TVs gemäß § 256 ZPO zum Gegenstand einer Feststellungsklage gemacht werden und die entsprechende Feststellung dann in Rechtskraft erwachsen könne7. Anders seien möglicherweise Verweisungen 1 Gaul, ZfA 2003, 75 (87). 2 Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, S. 118. 3 BAG v. 9.11.2005 – 5 AZR 128/05, NZA 2006, 202; BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NZA 2006, 607; BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965; BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 653/05, DB 2007, 2598. 4 BAG v. 24.9.2008 – 6 AZR 76/07, NZA 2009, 154; ebenso ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 32; Graf v. Westphalen/Thüsing, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, Rz. 198; a.A. DBD/Däubler, § 305c BGB Rz. 43. 5 BAG v. 8.7.2015 – 4 AZR 51/14, NZA 2015, 1462 Rz. 15 f.; BAG v. 9.11.2005 – 5 AZR 128/05, NZA 2006, 202. 6 BAG v. 24.9.2008 – 6 AZR 76/07, NZA 2009, 154. 7 BAG v. 26.8.2015 – 4 AZR 719/13, NZA 2016, 177 Rz. 11.
866 Henssler
Die vertragliche Vereinbarung und ihre Wirksamkeit
Rz. 28
Teil 10
auf VergütungsTVe zu beurteilen. Hier müsse die dynamische Verweisung für den Arbeitnehmer bezogen auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses aufgrund der zu erwartenden Tariflohnerhöhungen stets als günstiger angesehen werden1. c) Wirkungen bei tarifvertraglichen Differenzierungsklauseln Außerhalb der geschilderten Günstigkeitsproblematik gibt aber auch bei Bezugnah- 27 meklauseln durchaus einen Anwendungsbereich für die Unklarheitenregel. So wird im Schrifttum zutreffend die Auffassung vertreten, eine arbeitsvertragliche Verweisung auf einen TV, der eine einfache Differenzierungsklausel enthält, sei aufgrund der Unklarheitenregel dahingehend auszulegen, dass dem Arbeitnehmer ein voller Anspruch auf alle tariflichen Leistungen, also auch die in der Differenzierungsklausel genannten „Exklusivleistungen“, zustehen soll2. Nach der Rechtsprechung des BAG soll hingegen ein nicht organisierter Arbeitnehmer 28 selbst dann keinen Anspruch aus einer solchen einfachen Differenzierungsklausel geltend machen können, wenn sein Arbeitsvertrag eine als Gleichstellungsabrede auszulegende Bezugnahmeklausel enthält3. Der 4. Senat4 hält einfache Differenzierungsklauseln grundsätzlich für zulässig, soweit sie nicht an das Austauschverhältnis von Leistung und Gegenleistung anknüpfen. Die damit bewirkte Ungleichbehandlung zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und Außenseitern sei rechtswirksam, verletze insbesondere nicht die negative Koalitionsfreiheit. Ergänzt wird dieses Bekenntnis zur Wirksamkeit einfacher Differenzierungsklauseln durch eine arbeitgeberfreundliche Auslegung der Bezugnahme. Eine arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel, die auf einen TV verweist, der eine solche Differenzierungsklausel enthält, ersetze nicht die in der Klausel enthaltene konstitutive Anspruchsvoraussetzung der Gewerkschaftsmitgliedschaft. Stattdessen bewirke sie lediglich die Anwendbarkeit des TVs5. Zwar könne die Gewerkschaftsmitgliedschaft des Außenseiters durch eine Bezugnahmeklausel fingiert und die Differenzierungsklausel damit de facto unterlaufen werden, dies müsse aber durch eine ausdrückliche Vereinbarung im Arbeitsvertrag geschehen6. Bei einer solchen arbeitsvertraglichen Bezugnahme gehe es nicht um einen deklaratorischen Hinweis auf den Geltungsbereich des TVs, sondern um ein echtes Tatbestandsmerkmal der betreffenden Tarifnorm. Die Notwendigkeit einer durch ausdrückliche Vereinbarung fingierten Gewerkschaftszugehörigkeit ergebe sich schon aus dem systematischen Vergleich mit § 613a Abs. 1 Satz 2, 3 BGB7. Der 4. Senat hat diese Rechtsprechung in der Zwischenzeit bestätigt8.
1 BAG v. 13.2.2013 – 5 AZR 2/12, NZA 2013, 1024; BAG v. 24.9.2008 – 6 AZR 76/07, NZA 2009, 154, unter III 1a) ee). 2 Bauer/Arnold, NZA 2009, 1169 (1171); Greiner/Suhre, NJW 2010, 131 (133); ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 62c. 3 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028, Rz. 54. 4 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028, Rz. 54; anders dagegen seine Rspr. zu qualifizierten Differenzierungsklauseln, BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920. 5 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028, Rz. 27. 6 BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028. 7 Höpfner, NZA 2012, 370 (371). 8 BAG v. 21.8.2013 – 4 AZR 861/11, NZA-RR 2014, 201 Rz. 24.
Henssler
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Teil 10 Rz. 29
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
29
Tatsächlich ist eine Verweisungsklausel, die eine Differenzierungsklausel des in Bezug genommenen TVs nicht explizit berücksichtigt, im Hinblick auf ihre Rechtsfolgen nicht eindeutig. Für den Außenseiter-Arbeitnehmer ist nicht klar ersichtlich, ob der Arbeitgeber ihm einzelne Leistungen aus dem TV vorenthalten oder ihn in jeder Hinsicht wie ein Gewerkschaftsmitglied behandeln will. Die unklare Klauselgestaltung durch den Arbeitgeber darf aber nach § 305c Abs. 2 BGB nicht dazu führen, dass Zweifel bei der Auslegung sich im Ergebnis zuungunsten des Arbeitnehmers auswirken1. Im Zweifel wird der nichtorganisierte Arbeitnehmer eine als Gleichstellungsabrede auszulegende Bezugnahmeklausel dahin verstehen, dass über sie auch im Hinblick auf eine Differenzierungsklausel die fehlende Tarifbindung ersetzt werden soll.
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Angesichts der entgegengesetzten Tendenz in der Rechtsprechung empfiehlt es sich aus Arbeitnehmersicht, auf einen Zusatz in den Gleichstellungsklauseln zu drängen. Klargestellt werden sollte, dass der Arbeitnehmer im Hinblick auf die tariflichen Leistungen so behandelt wird, als sei er Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaft2. Arbeitgeber, die sich die Möglichkeit offen halten möchten, auf Gewerkschaftsmitglieder beschränkte tarifliche Rechte nicht an alle Belegschaftsmitglieder weiterzugeben, werden dagegen weiterhin die üblichen großen dynamischen Bezugnahmeklauseln verwenden.
31
Ähnliche Ergebnisse lassen sich erzielen, wenn man mit einer im Schrifttum vertretenen Auffassung Bezugnahmeklauseln, die dem Arbeitnehmer bei einer im TV enthaltenen rechtswirksamen Differenzierungsklausel keine Ansprüche vermitteln, als überraschend i.S.d. § 305c Abs. 1 BGB qualifiziert. Mit dieser Rechtsfolge brauche, so diese Ansicht, der betroffene Arbeitnehmer bei der Festlegung der dynamischen Verweisung auf einschlägige TVe nicht zu rechnen. Die Beschränkung auf die Gewerkschaftszugehörigkeit bei der Erbringung der Sonderleistung werde daher nach § 305c Abs. 1 BGB kein Vertragsbestandteil3. Da die Bezugnahmeklausel indes in den problematischen Fällen gerade keine voneinander trennbaren Bestandteile aufweist, so dass eine partielle Streichung von Klauselteilen nicht in Betracht kommt, erscheint die Lösung über die Auslegung der Bezugnahmeklausel stimmiger, zumal sie zu überzeugenden Ergebnissen führt. d) Auslegung bei Tarifpluralität und Änderungen durch das Tarifeinheitsgesetz vom 3.7.2015
32
Seit der Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit durch die Entscheidungen des 4.4 und 10.5 Senats hatten sich aufgrund der damit ermöglichten Tarifpluralität neue Auslegungsfragen gestellt. Das Tarifeinheitsgesetz vom 3.7.20156 hat diese seit 2010 aufgekommenen Auslegungsprobleme weder erledigt noch völlig neue Auslegungsfra1 Bauer/Arnold, NZA 2009, 1169 (1171); Greiner/Suhre, NJW 2010, 131 (133); ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 62c; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1866. 2 Vgl. Bauer/Arnold, NZA 2009, 1169 (1171). 3 Richardi, NZA 2010, 417 (419); vgl. auch Giesen, ZfA 2010, 657, 674. 4 Vgl. die Divergenzanfrage des 4. Senats (BAG v. 27.1.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 645) sowie das nahezu wortgleiche abschließende Urteil v. 7.7.2010 (4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068). 5 BAG v. 23.6.2010 – 10 AS 2/10, NZA 2010, 778. 6 BGBl. I S. 1130.
868 Henssler
Die vertragliche Vereinbarung und ihre Wirksamkeit
Rz. 33a Teil 10
gen aufgeworfen1 (vgl. Rz. 33a). Klärungsbedürftig ist insbesondere die Auslegung von großen dynamischen Klauseln, die auf den „im Betrieb normativ geltenden“ oder „im Betrieb fachlich einschlägigen“ TV verweisen. Für die hier zu beobachtenden (durch Rechtsprechungskorrektur und Gesetzesänderung) erst nachträglich entstandenen Vertragslücken bietet die Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB (vgl. bereits Rz. 26) keine passende Lösung. Vielmehr ist im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung2 zu fragen, was die Parteien redlicherweise vereinbart hätten, wenn ihnen das Problem der (teilweise weiterhin möglichen, vgl. Rz. 33a) Tarifpluralität schon zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses bekannt gewesen wäre. Allgemein bietet es sich bei der entsprechenden Lückenfüllung zwischen der Kollisi- 33 on mehrerer dem Industrieverbandsprinzip folgender TVe und einer Konkurrenz von Industrieverbands- und BerufsverbandsTV zu differenzieren. Treffen mehrere TVe aufeinander, die jeweils die Gesamtbelegschaft des Betriebs erfassen, also mit nach dem Industrieverbandsprinzip organisierten Gewerkschaften abgeschlossen wurden, so drängt es sich – unabhängig von der in § 4a TVG angeordneten Geltung des Mehrheitsprinzips – auf, jenen TV für maßgeblich zu erklären, an den im Sinne des Repräsentationsprinzips die meisten Arbeitnehmer normativ gebunden sind. Denn dieser TV ist für den Betrieb am stärksten legitimiert, so dass es nahe liegt, auch die Außenseiter an eben diesen TV zu binden. Bei einer Konkurrenz zwischen einem Spartentarif eines Berufsverbands und einem mit einem Industrieverband abgeschlossen TV erweist sich der letztgenannte TV in Bezug auf die Gesamtbelegschaft des Betriebs als stärker legitimiert. Er allein ist durch das Ziel motiviert, eine solidarische, die innerbetriebliche Lohngerechtigkeit achtende Regelung zu treffen3. Bei einer Konkurrenz mehrerer SpartenTVe, wie sie etwa im Fall der Lufthansa gegeben ist, wird die Geltung desjenigen TV nach Redlichkeitserwägungen gewollt sein, der nach seinem personellen Anwendungsbereich (Bodenpersonal, Flugbegleiter, Techniker) auf das konkrete Arbeitsverhältnis am besten zugeschnitten ist. Das 2015 in Kraft getretene Tarifeinheitsgesetz hat nicht zu einer vollständigen 33a Rückkehr zur alten Tarifeinheit und Auflösung aller Tarifpluralitäten geführt. Der neu eingefügte § 4a TVG sieht vielmehr nur für den Fall der überschneidenden Geltungsbereiche die Wiedereinführung der Tarifeinheit vor4. Zudem wird der MinderheitsTV nur verdrängt, seine Wirksamkeit wird dagegen nicht tangiert. Er bleibt damit taugliches Objekt einer schuldrechtlichen Bezugnahme. Zwar wird teilweise die Auffassung vertreten, dass nun neue Auslegungsprobleme aufgeworfen würden, weil unklar sei, ob unter „einschlägigen TV“ nur noch der nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG anwendbare TV zu verstehen sei oder alle fachlich einschlägigen TVen (also auch die MinderheitsTV)5. Weder die Frage noch ihre Beantwortung sind indes neu. Welcher von mehreren kollidierenden TVen durch eine Verweisung in Bezug genommen wird,
1 Lehmann, BB 2015, 2293 (2300). 2 Hierzu Uffmann, Das Verbot der geltungserhaltenden Reduktion, 2010, S. 175 ff.; Bader, NZABeil. 3/2011, 142 ff.; Schlewing, NZA-Beil. 3/2012, 33 (36 ff.). 3 Dazu Henssler RdA 2011, 65 (73 ff.). 4 Vgl. auch HWK/Henssler, § 4a TVG Rz. 19 ff.; somit keine Auflösung von Tarifpluralitäten hinsichtlich verschiedener Berufsgruppen, bei denen die Gewerkschaften ihre Zuständigkeiten klar voneinander abgrenzen. 5 Berg/Kocher/Schumann/Dierßen/Schoof, § 3 Rz. 299a.
Henssler
869
Teil 10 Rz. 34
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
ist weiterhin nach dem objektiven Empfängerhorizont (§§ 133, 157 BGB) bzw. im Fall von Regelungslücken über eine ergänzende Vertragsauslegung zu bestimmen1. Eine einschränkende Auslegung dahingehend, dass nunmehr grds. nur der MehrheitsTV gemeint sein könne, widerspricht dem Wortlaut der Verweisung, wenn dieser von dem „einschlägigen“ und nicht von dem „normativ anwendbaren“ oder „repräsentativen“ TV spricht2. Das gilt jedenfalls für vor dem TEG abgeschlossene Vereinbarungen. Seit Inkrafttreten des TEG abgeschlossene Neuklauseln werden dagegen im Zweifel so auszulegen sein, dass sie auf die Anwendung des nach § 4a TVG geltenden TV abzielen3. Hinsichtlich kleiner dynamischer sowie statischer Bezugnahmeklauseln ergeben sich aufgrund des Inkrafttretens des TEG ohnehin keine neuen Auslegungsprobleme. Die Regelung des § 4a TVG berührt diese grundsätzlich nicht4. e) Verweisung auf den BAT 34
Dynamische Bezugnahmen auf den BAT/BMT-G o.ä. sind nach der Rechtsprechung des BAG im Zweifel als dynamische Bezugnahmen auf das Tarifrecht für den öffentlichen Dienst zu verstehen. Eine Versteinerung des in Bezug genommenen Tarifrechts auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens von haus/TV-L wird nur ganz ausnahmsweise gewollt sein. Dies gilt auch dann, wenn die „ersetzenden“ TVe nicht ausdrücklich ebenfalls in Bezug genommen sind5.
35
Im Bereich des öffentlichen Dienstes führen dynamische Verweisungen nach diesen Grundsätzen zu der Neuregelung, die in ihrem Geltungsbereich dem bisher angewendeten TV entspricht. Schwieriger ist die Beurteilung bei sonstigen Vertragsverhältnissen, die an das Tarifrecht des öffentlichen Dienstes nur angelehnt sind. Soweit sich bei außerhalb des Geltungsbereichs des in Bezug genommenen Tarifrechts angesiedelten Arbeitsverhältnissen aus der Bezugnahme kein Hinweis auf einen konkreten Fortsetzungswillen ergibt (z.B. „BAT in der Bund/Länder-Fassung“ o.ä.), gilt bei Drittmittelempfängern das für den Drittmittelgeber maßgebliche Tarifrecht als in Bezug genommen6. Ansonsten soll nach der Rechtsprechung des BAG das Tarifrecht gelten, das Anwendung fände, wenn die betreffende Aufgabe durch die öffentliche Hand erledigt würde7. 3. Inhaltskontrolle von Bezugnahmeklauseln a) Eröffnung der Inhaltskontrolle (§ 307 Abs. 3 BGB)
36
Bezugnahmeklauseln unterliegen, sofern sie – wie in aller Regel – vorformulierte Vertragsbedingungen i.S.d. §§ 305 Abs. 1, 310 Abs. 3 BGB enthalten, grundsätzlich der 1 Dazu auch Berg/Kocher/Schumann/Dierßen/Schoof, § 3 Rz. 299a; ErfK/Franzen § 4a Rz. 36; zur ergänzenden Vertragsauslegung vgl. BAG v. 18.4.2012 – 4 AZR 392/10, NZA 2012, 1171. 2 So auch Greiner, NZA 2015, 769 (775); Däubler/Bepler, Das neue Tarifeinheitsgesetz, F. IV. Rz. 173. 3 So auch Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching/Giesen, § 4 TVG Rz. 26. 4 ErfK/Franzen, § 4a TVG Rz. 5; HWK/Henssler, § 4a TVG Rz. 10, 17; a.A. wohl Fischer, NZA 2015, 662 (665). 5 BAG v. 16.6.2010 – 4 AZR 924/08, NZA 2010, 1376 (Annahme einer vertraglichen Lücke und Lückenfüllung durch ergänzende Vertragsauslegung). 6 Vgl. Bepler/Böhle/Meerkamp/Stöhr/Bepler, TVöD Anh. § 1 Exkurs Rz. 40. 7 BAG v. 19.5.2010 – 4 AZR 796/08, NZA 2010, 1183.
870 Henssler
Die vertragliche Vereinbarung und ihre Wirksamkeit
Rz. 38
Teil 10
AGB-Kontrolle1. Einschränkungen der Inhaltskontrolle ergeben sich aus § 310 Abs. 4 Satz 3 i.V.m. § 307 Abs. 3 BGB. § 307 Abs. 3 BGB nimmt deklaratorische Vertragsklauseln, die in jeder Hinsicht mit einer bestehenden gesetzlichen Regelung übereinstimmen, von der Inhaltskontrolle nach §§ 307 ff. BGB aus. Aufgrund der Gleichstellung von TVen durch § 310 Abs. 4 Satz 3 BGB bleiben auch solche Vertragsklauseln kontrollfrei, die einen TV lediglich inhaltlich wiedergeben. Auch ein sog. MinderheitsTV (TV, der aufgrund der neuen Kollisionsnorm des § 4a Abs. 2 TVG verdrängt wird) unterfällt nicht der AGB-Kontrolle, da er auch bei Nichtanwendbarkeit nach § 4a Abs. 2 TVG weiterhin ein fachlich einschlägiger TV ist2. Nichts anderes kann für den MehrheitsTV gelten, der einen MinderheitsTV verdrängt und ggf. schlechtere Bedingungen vorsieht3. Außerdem unterliegen Abreden, die ihrer Art nach nicht durch Gesetz oder andere Rechtsvorschriften geregelt werden, sondern von den Vertragsparteien festgelegt werden müssen, nur einer eingeschränkten Kontrolle4. Dies gilt insbesondere für Bestimmungen in AGB, mit denen die Vertragsparteien die Hauptleistungspflichten (Arbeitsentgelt) regeln, ohne von Rechtsvorschriften abzuweichen5. Die Bezugnahme auf tarifvertragliche Regelungen von Arbeitsleistung und Arbeits- 37 entgelt ist danach lediglich einer eingeschränkten Inhaltskontrolle zugänglich6. § 310 Abs. 4 Satz 3 i.V.m. § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB stehen allerdings nur einer Inhaltskontrolle des in Bezug genommenen TVs im Sinne einer Tarifzensur entgegen. Ausgeschlossen ist also nur die Kontrolle der in Bezug genommenen TVe. Die Bezugnahmeklausel selbst bleibt dagegen kontrollfähig7. Sie muss sich insbesondere an dem in § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB verankerten Transparenzgebot messen lassen. Die §§ 308, 309 BGB finden hingegen keine Anwendung (§ 307 Abs. 3 Satz 1 BGB)8. b) Transparenzgebot (§ 307 Abs. 1 Satz 2 BGB) Nach § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB kann sich eine unangemessene Benachteiligung daraus 38 ergeben, dass eine Vertragsklausel nicht eindeutig und verständlich ist. Sinn des Transparenzgebotes ist es, der Gefahr vorzubeugen, dass der Vertragspartner von der Durchsetzung bestehender Rechte abgehalten wird9. Der Verwender von AGB ist verpflichtet, die Rechte und Pflichten seines Vertragspartners möglichst klar und durchschaubar zu gestalten10. Eine Verweisung auf Vorschriften eines Regelwerks Dritter führt nicht zur Intransparenz, da derartige Klauseln nicht ungewöhnlich sind11. Auch
1 BAG v. 9.11.2005 – 5 AZR 128/05, NZA 2006, 202; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 18a; Thüsing/ Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 19; Gaul, ZfA 2003, 75 (86); vgl. auch BT-Drucks. 14/6857, S. 54. 2 HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 18; Schliemann, NZA 2015, 1298 (1302). 3 A.A. wohl Greiner, NZA 2015, 769 (777). 4 BAG v. 27.7.2005 – 7 AZR 486/04, NZA 2006, 40. 5 BAG v. 15.4.2008 – 9 AZR 159/07, NZA-RR 2008, 586. 6 BAG v. 15.4.2008 – 9 AZR 159/07, NZA-RR 2008, 586; BAG v. 14.3.2007 – 5 AZR 630/06, NZA 2008, 45. 7 BAG v. 9.5.2007 – 4 AZR 319/06, NJOZ 2010, 178. 8 So BAG v. 21.11.2012 – 4 AZR 85/11, NZA 2013, 512 Rz. 43, das die Anwendung des § 308 Nr. 4 BGB ablehnt. 9 BAG v. 10.12.2008 – 4 AZR 801/07, NZA 2009, 1423. 10 BGH v. 24.11.1988 – III ZR 188/87, NJW 1989, 222; BGH v. 14.11.2003 – V ZR 144/03, NJWRR 2004, 263; Oetker, JZ 2002, 337 m.w.N. 11 BAG v. 24.9.2004 – 6 AZR 76/07, NZA 2009, 154.
Henssler
871
Teil 10 Rz. 39
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
dynamische Verweisungen auf Normen Dritter, insbesondere auf TVe (vgl. bereits Rz. 21), schließt das Transparenzgebot nicht aus1. Zwar ist zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch unklar, welche Entwicklung ein in Bezug genommener TV in Zukunft durchlaufen wird und welche Tarifnormen künftig kraft Bezugnahme auf das Arbeitsverhältnis anwendbar sein werden. § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB verlangt jedoch nicht notwendigerweise die Bestimmtheit der jetzigen und zukünftigen Ausgestaltung des Vertragsverhältnisses bereits bei Vertragsschluss, sondern lässt es genügen, wenn die das Arbeitsverhältnis regelnden Normen bestimmbar sind. 39
Dynamische Verweisungsklauseln genügen daher dem Transparenzgebot des § 307 Abs. 3 Satz 2 BGB i.V.m. § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB, wenn sie bei Vertragsschluss den jeweils anzuwendenden TV derart festlegen, dass im Zeitpunkt der jeweiligen Anwendung die geltenden, in Bezug genommenen Regelungen bestimmbar sind2. Sie entsprechen einer üblichen und weithin akzeptierten Regelungstechnik und dienen den Interessen beider Parteien3. Dies ergibt sich aus der generellen Zukunftsgerichtetheit von Arbeitsverhältnissen. Diese verlangt eine ständige Anpassung der Vertragsbedingungen an die allgemeine lohn- und sozialpolitische Entwicklung. Die dynamische Ausgestaltung des Arbeitsvertrages stellt eine interessengerechte Alternative zu sukzessiven Vertragsanpassungen dar4. Ein Verstoß gegen das Transparenzgebot liegt nur dann vor, wenn sich aus der Bezugnahmeklausel nicht eindeutig bestimmbar ergibt, welche Tarifnormen jeweils auf das Arbeitsverhältnis anwendbar sind. Intransparent kann daher etwa eine gestaffelte Verweisung auf mehrere einschlägige TVe mit einer unübersichtlichen oder unbestimmten Kollisionsregelung sein5.
39a Probleme können sich bei der Bestimmung des in Bezug genommenen TVs zudem bei der Verweisung auf sog. mehrgliedrige TVe ergeben. Unter mehrgliedrigen TVen sind solche TVe zu verstehen, bei denen mindestens auf einer Seite mehrere Tarifparteien auftreten (z.B. mehrere Gewerkschaften, mehrere Unternehmen eines Konzerns oder mehrere Arbeitgeberverbände)6. Unterschieden wird hierbei im weiteren danach, ob ein einheitliches Tarifwerk vorliegt (sog. EinheitsTV) oder mehrere selbständige TVe, die nur in einer Urkunde zusammengefasst sind (mehrgliedriger TV im engeren Sinne)7. Der 4. Senat des BAG geht im Zweifel davon aus, dass mehrere selbständige TVe und kein EinheitsTV gewollt sind, selbst wenn die TVe in einer Urkunde zusam-
1 So auch BAG v. 16.2.2010 – 3 AZR 181/08, NZA 2011, 42; BAG v. 18.11.2009 – 4 AZR 493/08, NZA 2010, 595; BAG v. 10.12.2008 – 4 AZR 801/07, NZA 2009, 1423; ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 80a; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 293; Thüsing, AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, Rz. 193; Diehn, NZA 2004, 129 (134); Däubler, NZA 2001, 1329 (1336); Thüsing/Lambrich, NZA 2002, 1361 (1364). 2 BAG v. 21.11.2012 – 4 AZR 85/11, NZA 2013, 512 Rz. 34 ff.; BAG v. 16.2.2010 – 3 AZR 181/08, NZA 2011, 42 Rz. 42; BAG v. 18.11.2009 – 4 AZR 493/08, NZA 2010, 595; BAG v. 10.12.2008 – 4 AZR 801/07, NZA 2009, 1423. 3 BAG v. 16.2.2010 – 3 AZR 181/08, NZA 2011, 42. 4 BAG v. 10.12.2008 – 4 AZR 801/07, NZA 2009, 1423; Thüsing/Lambrich, NZA 2002, 1361 (1364). 5 DBD/Däubler, § 310 BGB Rz. 46a. 6 Beispiele für mehrgliedrige TVe (im weiten Sinne) der frühere BAT, der heutige TVöD, TV-L, CGZP-TVe, TVe der DGB-Tarifgemeinschaft. 7 Zur Terminologie EinheitsTV und mehrgliedriger TV auch BAG v. 8.11.2006 – 4 AZR 590/05, NZA 2007, 576 Rz. 22; Däubler/Reim/Nebe, § 1 TVG Rz. 78.
872 Henssler
Die vertragliche Vereinbarung und ihre Wirksamkeit
Rz. 39b Teil 10
mengefasst sind1. Denn nur dann bleiben die einzelnen TV-Parteien in der Lage, unabhängig voneinander den TV zu ändern oder zu kündigen2. Die Bezugnahme auf mehrgliedrige TVe im engeren Sinne ist nach dem BAG grundsätzlich gem. § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB intransparent, wenn keine Kollisionsregel den anzuwendenden TV bestimmt3. Rechtsprechung zu mehrgliedrigen TVe ist in der jüngeren Vergangenheit insbesondere zu den CGZP-TVen in der Leiharbeit ergangen. Eine Bezugnahmeklausel, mit der mehrere eigenständige tarifliche Regelwerke der Leiharbeit gleichzeitig auf das Arbeitsverhältnis zur Anwendung gebracht werden sollen, ist nicht hinreichend bestimmt, wenn ihr nicht zu entnehmen ist, welches Regelwerk bei sich widersprechenden Regelungen den Vorrang haben soll.4 Höchstrichterlich noch nicht geklärt ist die Frage, wie die TVe der DGB-Tarifgemein- 39b schaft Zeitarbeit einzuordnen sind und damit verbunden die Frage, ob Verweisungsklauseln (ohne Kollisionsregel) nach § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB intransparent sind5. Nach wohl überwiegender Meinung wird davon ausgegangen, dass es sich bei den TVen der DGB-Tarifgemeinschaft um einen EinheitsTV handelt und es deswegen keiner Kollisionsregel bedürfe6. Das LAG Baden-Württemberg geht hingegen davon aus, dass das DGB-Tarifwerk ein Regelungskomplex eigener Art sei, der mit der Bezeichnung „mehrgliedrig-einheitlich“ charakterisiert werden könne7. Das Gericht kommt aber hinsichtlich der Transparenz zum gleichen Ergebnis wie die Vertreter des EinheitsTVs. Ein mehrgliedriger TV im engeren Sinne, bei dem die Bestimmung des anzuwendenden TVs nicht möglich ist, liegt in der Tat nicht vor. Denn im Unterschied zu den CGZP-TVen befindet sich in dem DGB-Tarifwerk keine Bezeichnung als mehrgliedriges Tarifwerk. Der TV spricht durchgängig von „dem Tarifvertrag“. Zudem erstreckt sich der persönliche Geltungsbereich auf sämtliche Arbeitnehmer aller vertragsschließenden Gewerkschaften. Die Richtlinien über die Organisationszuständigkeit der DGB-Mitgliedsgewerkschaften Zeitarbeit vom 5.3.2003 sehen eine vertragliche Verbindung der DGB-Gewerkschaften zum gemeinschaftlichen und koordinierten Verhandeln und Abschluss der ZeitarbeitsTVe vor, so dass ein inhaltliches Auseinanderdriften der verbundenen TVe ausgeschlossen ist. Sowohl Wortlaut als auch Sinn und Zweck des Tarifwerkes (kein Auseinanderdriften der TVe, sondern Inhaltsgleichheit) sprechen dafür, eine Bezugnahmeklausel auf die Tarifwerke der DGBTarifgemeinschaft auch ohne ausdrückliche Kollisionsregel für transparent zu halten.
1 BAG v. 8.9.1976 – 4 AZR 359/75, AP Nr. 5 zu § 1 TVG Form; 28.9.1977 – 4 AZR 446/76, AP Nr. 1 zu § 9 TVG 1969. 2 Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 198 Rz. 12. 3 BAG v. 13.3.2013 – 5 AZR 146/12, NZA 2013, 680 zur Bezugnahme auf die CGZP-Tarifverträge; hierzu auch ErfK/Franzen § 3 TVG Rz. 34a. 4 BAG v. 13.3.2013 – 5 AZR 146/12, NZA 2013, 680 Rz. 30; zustimmend Brors, RdA 2014, 182; a.A. ErfK/Franzen § 3 Rz. 34a; Stoffels/Bieder, RdA 2012, 27; Bayreuther, DB 2014, 717 die eine Intransparenz jedenfalls dann verneinen, wenn die in Bezug genommenen TV identisch sind. 5 LAG Baden-Württemberg v. 4.6.2013 – 22 Sa 73/12; LAG Nürnberg v. 11.10.2013 – 3 Sa 699/10, anhängig BAG, Az: 4 AZR 995/13. 6 LAG Nürnberg v. 11.10.2013 – 3 Sa 699/10 Rz. 84; LAG Düsseldorf v. 29.10.2014 – 7 Sa 1053/13 Rz. 73; Bayreuther, DB 2014, 717; Herrmann/Molle, BB 2013, 1781; Müntefering, NZA 2015, 711; a.A. Schindele/Söhl, NZA 2014, 1049 (1051). 7 LAG Baden-Württemberg v. 4.6.2013 – 22 Sa 73/12 Rz. 32 ff.
Henssler
873
Teil 10 Rz. 40
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
4. Die Inhaltskontrolle der in Bezug genommenen TV-Normen a) Grundsätzliches 40
Von der Kontrolle der Bezugnahmeklausel zu unterscheiden ist die Inhaltskontrolle der einbezogenen TV-Normen. § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB enthält eine Bereichsausnahme für TVe sowie für Betriebs- und Dienstvereinbarungen. Diese stehen nach § 310 Abs. 4 Satz 3 BGB Rechtsvorschriften i.S.d. § 307 Abs. 3 BGB gleich. Grund für diese Bereichsausnahme ist die Tatsache, dass die genannten Rechtsverhältnisse nicht nur ausgehandelte Verträge zwischen den beteiligten Kollektivparteien darstellen, sondern zugleich Rechtsnormen enthalten, die unmittelbar und zwingend für die Arbeitsverhältnisse der betriebsangehörigen bzw. tarifgebundenen Arbeitnehmer gelten. In diesem gewissermaßen „normsetzenden“ Bereich könne und dürfe eine AGB-Kontrolle nicht eingreifen, da anderenfalls das System der Tarifautonomie konterkariert werde1. Die Ausklammerung tarifvertraglicher Regelungen aus der Inhaltskontrolle ist auch deshalb gerechtfertigt, weil TVe aufgrund der verfassungsrechtlich garantierten Parität der Sozialpartner eine Vermutung der Angemessenheit der ausgehandelten Arbeitsbedingungen in sich tragen2. Eine gerichtliche Billigkeitskontrolle der Tarifinhalte wäre ein verfassungsrechtlich unzulässiger Eingriff in die Tarifautonomie. Das rechtspolitisch überzeugende Anliegen des § 310 Abs. 4 Satz 3 BGB liegt darin, eine mittelbare Tarifzensur auszuschließen.
41
Das Verbot der Tarifzensur führt allerdings nicht dazu, dass jede Vertragsbestimmung, die auf irgendeine Klausel in irgendeinem, sei es auch branchenfremden, TV verweist, von der Inhaltskontrolle ausgenommen ist. Inwieweit eine Inhaltskontrolle der in Bezug genommenen Tarifnormen zu erfolgen hat, richtet sich nach der Art der Verweisung (Global-, Einzel- oder Teilverweisung) und danach, ob der in Bezug genommene TV räumlich und fachlich einschlägig ist3. b) Globalverweisungen auf den sachlich und örtlich einschlägigen TV
42
Übernimmt eine Bezugnahmeklausel den gesamten Inhalt eines räumlich und fachlich einschlägigen TVs in einen Arbeitsvertrag, entfällt nach fast einhelliger Ansicht eine Inhaltskontrolle nach §§ 307 ff. BGB4. Aus der Sachnähe der TV-Parteien zum Regelungsgegenstand ergibt sich eine Angemessenheits- und Richtigkeitsvermutung für die TV-Normen, unabhängig davon, ob diese normativ gelten oder kraft Bezugnahme auf das Arbeitsverhältnis anwendbar sind5. Die Globalverweisung nimmt den TV in seinem Gesamtzusammenhang in Bezug, so dass der sachgerechte Interessenaus1 Vgl. die Gegenäußerung der BReg zur Stellungnahme des BR v. 13.7.2001, BT-Drucks. 14/6857, S. 54; Staudinger/Krause, (2013) Anhang zu § 310 BGB Rz. 88. 2 Sog. Richtigkeitsgewähr, vgl. BAG v. 12.2.1992 – 7 AZR 100/91, NZA 1993, 998; ausf. zur dogmatischen Herleitung Krämer, Die Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags, 2015, S. 74 ff. m.w.N.; kritisch zur Richtigkeitsgewähr von MehrheitsTV i.S.d. § 4a Abs. 2 TVG Greiner, NZA 2015, 769 (777). 3 Dauner-Lieb/Konzen/Schmidt/Henssler, Das neue Schuldrecht in der Praxis, 2003, S. 615, 639; Preis, FS Wiedemann, 2002, S. 425, 429 ff. 4 DBD/Däubler, § 307 BGB Rz. 164a; ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 13 f.; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 18; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 341 m.w.N.; a.A. Annuß, ZfA 2005, 405 (436 f.). 5 ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 13; Thüsing/Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 20.
874 Henssler
Die vertragliche Vereinbarung und ihre Wirksamkeit
Rz. 45
Teil 10
gleich, den die Tarifparteien gefunden haben und der in der Gesamtheit aller tarifvertraglichen Normen seinen Ausdruck findet, im Arbeitsverhältnis zur Anwendung kommt. c) Einzel- und Teilverweisungen auf den sachlich und örtlich einschlägigen TV Beschränkt sich die Inbezugnahme auf einzelne Vorschriften eines TVs, entfällt die 43 Rechtfertigung für die von § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB angeordnete Privilegierung. Für beide Tarifpartner gilt: Begünstigungen und Vorteile bei einzelnen Regelungen im TV lassen sich in den Verhandlungen in aller Regel nur um den Preis von Nachteilen in anderen Bereichen des tariflichen Regelungssystems durchsetzen. Erst die Gesamtheit der Regelungen eines TVs im Sinne eines Gesamtpakets trägt die Vermutung eines angemessenen Interessenausgleichs in sich. Bei Einzelverweisungen kann diese Angemessenheitsvermutung hingegen naturgemäß nicht greifen1. Teilverweisungen nehmen zwar nicht den gesamten TV in Bezug, verweisen aber 44 auch nicht lediglich auf einzelne Passagen, sondern auf ganze Regelungskomplexe. Zum Teil wird auch in diesen Fällen eine Inhaltskontrolle für erforderlich gehalten, da andernfalls die Gefahr bestünde, dass der Verwender der AGB lediglich auf für ihn vorteilhafte Regelungskomplexe verweise2. Die Gesetzesmaterialien enthalten keine eindeutige Stellungnahme, nehmen allerding ausdrücklich nur die Bezugnahme auf einen TV (nicht auf tarifliche Regelungen) oder die Wiedergabe des gesamten Inhalts einer Kollektivvereinbarung von der Inhaltskontrolle aus3. Im Schrifttum wird außerdem auf die Schwierigkeiten bei der Abgrenzung geschlossener Teilkomplexe hingewiesen4. Ausschlaggebend sind systematische Überlegungen, die recht deutlich für die An- 45 erkennung von Teilverweisungen sprechen. Das Arbeitsrecht ermöglicht an zahlreichen Stellen durch Teilverweisungen auf Tarifnormkomplexe die Abweichung von gesetzlichen Mindestnormen zuungunsten des Arbeitnehmers, vgl. § 622 Abs. 4 Satz 2 BGB, § 13 Abs. 1 Satz 2 BUrlG, § 7 Abs. 3 ArbZG, § 4 Abs. 4 Satz 2 EFZG5. Nach der maßgeblichen Vorstellung des Gesetzgebers erstreckt sich die Angemessenheitsvermutung des TVs somit auf in sich abgeschlossene Teilkomplexe. Ausreichend, aber auch notwendig, erscheint danach die Verweisung auf in sich geschlossene und ausgewogene Teile von TVen, um eine Klausel gemäß § 307 Abs. 3 BGB von der Inhaltskontrolle freizustellen6. Die Selbstständigkeit und isolierte Ausgewogenheit von tarifvertraglichen Teilkomplexen bedarf im Einzelfall einer besonderen Prüfung. Der 10. Senat des BAG hat sich der hier vertretenen Auffassung für einen Sach1 BAG v. 6.5.2009 – 10 AZR 390/08, NZA-RR 2009, 593; Däubler, NZA 2001, 1329 (1335); Diehn, NZA 2004, 129 (130); Preis, Der Arbeitsvertrag, I V 40 Rz. 86; Thüsing/Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 23; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 342. 2 Däubler, NZA 2001, 1329 (1335 f.); einschr. ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 17 f. 3 Thüsing/Lambrich, NZA 2002, 1361 (1363); ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 17; vgl. BTDrucks. 14/6857, S. 54. 4 ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 18. 5 Bayreuther, RdA 2003, 129 (131); Diehn, NZA 2004, 129 (131); Gaul, ZTR 1991, 188 (190); Henssler, RdA 2002, 129 (136); MüKo/Müller-Glöge, § 611 BGB Rz. 70; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 343. 6 HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 18 m.w.N.; a.A. DBD/Däubler, § 310 BGB Rz. 52; Staudinger/ Krause, (2013) Anhang zu § 310 BGB Rz. 96.
Henssler
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Teil 10 Rz. 46
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
verhalt angeschlossen, in dem „ein geschlossenes Regelungssystem“ für Angestellte des Außendienstes in Rede stand, „in dem die Besonderheiten dieses Tätigkeitsbereichs umfassend berücksichtigt werden“1. Auch die Gegenansicht wird im Rahmen der von ihr vorgenommenen Inhaltskontrolle in aller Regel zu dem Ergebnis kommen, dass die Inbezugnahme eines in sich geschlossenen Teils eines TVs nicht zu beanstanden ist. Die Kontrolle des tariflichen Normenkomplexes kann allenfalls in atypischen Ausnahmefällen zu einer Beanstandung der tariflichen Regelung führen. d) Verweisungen auf branchenfremde oder nichtige TVe 46
Die vorstehenden Ausführungen beziehen sich auf Bezugnahmeklauseln, die auf den jeweils einschlägigen TV verweisen. Einschlägig ist ein TV, wenn das Arbeitsverhältnis in seinen fachlichen, zeitlichen und örtlichen Geltungsbereich fällt. Bedenken begegnet hingegen ein Ausweichen in branchenfremde TVe, die für den Unternehmer günstigere Arbeitsbedingungen enthalten2. Der tarifgebundene Arbeitgeber kann sich nach dem Regelungskonzept des Tarifrechts – selbstverständlich! – nicht durch freie Wahl eines ihm genehmen Arbeitgeberverbandes die für ihn günstigen Arbeitsbedingungen „erschleichen“. Erforderlich ist jeweils die Tarifzuständigkeit des Verbands für das Unternehmen des Verbandsmitglieds. Für eine Besserstellung des Außenseiter-Arbeitgebers gibt es keine Rechtfertigung, ein Sachgrund für die Freistellung von entsprechenden Bezugnahmeklauseln von der Inhaltskontrolle ist nicht ersichtlich3. Da die wirtschaftlichen und betrieblichen Bedingungen in den verschiedenen Branchen zum Teil erheblich voneinander abweichen, kann die Vermutung der Angemessenheit der tariflichen Vereinbarungen stets nur im näheren Umfeld der Branche gelten. Nur insoweit greift auch die „Richtigkeitsgewähr“ des TVs. Zutreffend wird die Durchführung einer Inhaltskontrolle auch dann für erforderlich gehalten, wenn der in Bezug genommene TV zwar fachlich und geographisch einschlägig ist, nicht aber in zeitlicher Hinsicht4. Eine von Rechtsvorschriften abweichende Regelung i.S.d. § 307 Abs. 3 BGB ist auch dann anzunehmen, wenn auf nicht mehr in Kraft befindliche Vorgängervorschriften verwiesen wird. Dasselbe gilt, wenn der ausdrücklich in Bezug genommene TV aus formalen Gründen – etwa mangels Tariffähigkeit einer Vertragspartei – nichtig ist5.
C. Erscheinungsformen Literatur: Bauer/Günther, Bezugnahmeklauseln bei Verbandswechsel und Betriebsübergang – Ein Irrgarten?, NZA 2008, 6; Bepler, Probleme um den Sanierungstarifvertrag, AuR 2010, 234; Clemenz, Arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge – ein Paradigmenwechsel mit offenen Fragen, NZA 2007, 769; Fieberg, TVöD – ohne Tarifwechselklausel ade – oder doch nicht?, NZA 2005, 1226; Forst, Betriebsübergang: Ende der Dynamik einer arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf einen Tarifvertrag?, DB 2013, 1847; Gaul, Bezugnahmeklauseln – Zwischen Inhalts1 BAG v. 6.5.2009 – 10 AZR 390/08, NZA-RR 2009, 593. 2 So auch BAG v. 25.4.2007 – 10 AZR 634/06, NZA 2007, 875. 3 So auch Däubler, NZA 2001, 1329 (1335); Gotthardt, ZIP 2002, 277 (281); Gaul, ZfA 2003, 74 (89); vgl. auch Reinicke, DB 2002, 583; ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 14. 4 Diehn, NZA 2004, 129 (131); Thüsing/Lambrich, NZA 2002, 1361 (1363). 5 Vgl. LAG Düsseldorf v. 8.12.2011 – 11 Sa 852/11, BB 2012, 1671.
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Teil 10 Rz. 46
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
verhalt angeschlossen, in dem „ein geschlossenes Regelungssystem“ für Angestellte des Außendienstes in Rede stand, „in dem die Besonderheiten dieses Tätigkeitsbereichs umfassend berücksichtigt werden“1. Auch die Gegenansicht wird im Rahmen der von ihr vorgenommenen Inhaltskontrolle in aller Regel zu dem Ergebnis kommen, dass die Inbezugnahme eines in sich geschlossenen Teils eines TVs nicht zu beanstanden ist. Die Kontrolle des tariflichen Normenkomplexes kann allenfalls in atypischen Ausnahmefällen zu einer Beanstandung der tariflichen Regelung führen. d) Verweisungen auf branchenfremde oder nichtige TVe 46
Die vorstehenden Ausführungen beziehen sich auf Bezugnahmeklauseln, die auf den jeweils einschlägigen TV verweisen. Einschlägig ist ein TV, wenn das Arbeitsverhältnis in seinen fachlichen, zeitlichen und örtlichen Geltungsbereich fällt. Bedenken begegnet hingegen ein Ausweichen in branchenfremde TVe, die für den Unternehmer günstigere Arbeitsbedingungen enthalten2. Der tarifgebundene Arbeitgeber kann sich nach dem Regelungskonzept des Tarifrechts – selbstverständlich! – nicht durch freie Wahl eines ihm genehmen Arbeitgeberverbandes die für ihn günstigen Arbeitsbedingungen „erschleichen“. Erforderlich ist jeweils die Tarifzuständigkeit des Verbands für das Unternehmen des Verbandsmitglieds. Für eine Besserstellung des Außenseiter-Arbeitgebers gibt es keine Rechtfertigung, ein Sachgrund für die Freistellung von entsprechenden Bezugnahmeklauseln von der Inhaltskontrolle ist nicht ersichtlich3. Da die wirtschaftlichen und betrieblichen Bedingungen in den verschiedenen Branchen zum Teil erheblich voneinander abweichen, kann die Vermutung der Angemessenheit der tariflichen Vereinbarungen stets nur im näheren Umfeld der Branche gelten. Nur insoweit greift auch die „Richtigkeitsgewähr“ des TVs. Zutreffend wird die Durchführung einer Inhaltskontrolle auch dann für erforderlich gehalten, wenn der in Bezug genommene TV zwar fachlich und geographisch einschlägig ist, nicht aber in zeitlicher Hinsicht4. Eine von Rechtsvorschriften abweichende Regelung i.S.d. § 307 Abs. 3 BGB ist auch dann anzunehmen, wenn auf nicht mehr in Kraft befindliche Vorgängervorschriften verwiesen wird. Dasselbe gilt, wenn der ausdrücklich in Bezug genommene TV aus formalen Gründen – etwa mangels Tariffähigkeit einer Vertragspartei – nichtig ist5.
C. Erscheinungsformen Literatur: Bauer/Günther, Bezugnahmeklauseln bei Verbandswechsel und Betriebsübergang – Ein Irrgarten?, NZA 2008, 6; Bepler, Probleme um den Sanierungstarifvertrag, AuR 2010, 234; Clemenz, Arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge – ein Paradigmenwechsel mit offenen Fragen, NZA 2007, 769; Fieberg, TVöD – ohne Tarifwechselklausel ade – oder doch nicht?, NZA 2005, 1226; Forst, Betriebsübergang: Ende der Dynamik einer arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf einen Tarifvertrag?, DB 2013, 1847; Gaul, Bezugnahmeklauseln – Zwischen Inhalts1 BAG v. 6.5.2009 – 10 AZR 390/08, NZA-RR 2009, 593. 2 So auch BAG v. 25.4.2007 – 10 AZR 634/06, NZA 2007, 875. 3 So auch Däubler, NZA 2001, 1329 (1335); Gotthardt, ZIP 2002, 277 (281); Gaul, ZfA 2003, 74 (89); vgl. auch Reinicke, DB 2002, 583; ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 14. 4 Diehn, NZA 2004, 129 (131); Thüsing/Lambrich, NZA 2002, 1361 (1363). 5 Vgl. LAG Düsseldorf v. 8.12.2011 – 11 Sa 852/11, BB 2012, 1671.
876 Henssler
Erscheinungsformen
Rz. 47
Teil 10
kontrolle und Nachweisgesetz, ZfA 2003, 75; Giesen, Bezugnahmeklauseln – Auslegung, Formulierung und Änderung, NZA 2006, 625; Greiner, Der „unechte Tarifwechsel“ – Zu den Wirkungen kleiner dynamischer Bezugnahmeklauseln bei Tarifwechsel, Tarifsukzession und Tarifrestrukturierung, NZA 2009, 877; Hanau, Die Rechtsprechung des BAG zur arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf Tarifverträge, NZA 2005, 489; Hartmann, Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu dynamischen Bezugnahmeklauseln im Betriebsübergang, EuZA 2015, 203; Henssler, Schuldrechtliche Tarifgeltung bei Verbandsaustritt und Unternehmensumstrukturierung, in: Festschrift für Hellmut Wißmann zum 65. Geburtstag, 2005, S. 133; Henssler/Heiden, Wirkung kleiner dynamischer Bezugnahmeklauseln bei Verbandsaustritt des Arbeitgebers, RdA 2004, 241; Henssler/Seidensticker, Ergänzende Auslegung einer arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel auf den BAT, RdA 2011, 247; Höpfner, Vertrauensschutz bei Änderung der Rechtsprechung zu arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln, NZA 2008, 91; Höpfner, Nochmals: Vertrauensschutz bei Änderung der Rechtsprechung zu arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln, NZA 2009, 420; Holthausen, Hinweise zur Gestaltung arbeitsvertraglicher Bezugnahmen, ArbRAktuell 2011, 29; Hümmerich/Mäßen, TVöD – ohne Tarifwechsel ade!, NZA 2005, 961; Jacobs, Bezugnahmeklauseln als Stolpersteine beim Betriebsübergang, BB 2011, 2037; Jacobs/ Frieling, Keine dynamische Weitergeltung von kleinen dynamischen Bezugnahmeklauseln nach Betriebsübergängen, EuZW 2013, 737; Jordan/Bissels, Gilt „der jeweils anwendbare Tarifvertrag in seiner jeweils gültigen Fassung“ noch? – Wirksamkeit von großen dynamischen Bezugnahmeklauseln, NZA 2010, 71; Klebeck, Unklarheiten bei arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln, NZA 2006, 15; Latzel, Unternehmerische Freiheit als Grenze des Arbeitnehmerschutzes – vom Ende dynamischer Bezugnahmen nach Betriebsübergang – Zugleich Besprechung des EuGH-Urteils vom 18.7.2013 – Rs. C-426/11 – Alemo-Herron, RdA 2014, 110; Lobinger, EuGH zur dynamischen Bezugnahme von Tarifverträgen beim Betriebsübergang, NZA 2013, 945; Meinel/ Herms, Änderung der BAG-Rechtsprechung zu Bezugnahmeklauseln in Arbeitsverträgen, DB 2006, 1429; Meyer, Bezugnahme-Klauseln und neues Tarifwechselkonzept des BAG, NZA 2003, 1126; Möller, Gleichstellungsrechtsprechung „Der Anfang vom Ende?“, NZA 2006, 579; Möller/ Welkoborsky, Bezugnahmeklauseln unter Berücksichtigung des Wechsels vom BAT zum TVöD, NZA 2006, 1382; Preis/Greiner, Vertragsgestaltung bei Bezugnahmeklauseln nach der Rechtsprechungsänderung des BAG, NZA 2007, 1073; Reinecke, Vertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge in der neueren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, BB 2006, 2637; Schliemann, Arbeitsvertragliche Verweisung auf Tarifverträge, Sonderbeilage zu NZA 16/2003, 3; Schwarz, Kleine dynamische Bezugnahmeklauseln – Abschied vom Tarifwechsel, BB 2010, 1021; Seitz/ Werner, Arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln bei Unternehmensumstrukturierungen, NZA 2000, 1257; Sittard/Ulbrich, Zur Rechtsprechungsänderung bei der Auslegung von Bezugnahmeklauseln – zugleich Besprechung des Urteils BAG vom 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, ZTR 2006, 458; Spielberger, Vertrauensschutz light: Das Urteil des BAG vom 18.4.2007 zur Gleichstellungsabrede, NZA 2007, 1086; Stein, Verweisungen auf Tarifverträge – Ein kritischer Blick auf die BAG-Rechtsprechung, AuR 2003, 361; Sutschet, Werhof reloaded – Oder: kommt die Gleichstellungsabrede nach England?, RdA 2013, 28; Thüsing, Europarechtliche Bezüge der Bezugnahmeklausel, NZA 2006, 473; Thüsing, Zur dynamischen Bezugnahme nach Betriebsübergang, EWiR 2013, 543; Thüsing/Lambrich, Arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Tarifnormen – Verbandsaustritt, Verbandswechsel, Betriebsübergang, RdA 2002, 193; Vogel/Oelkers, Tarifliche Bezugnahmeklauseln in der Praxis, NJW-Spezial 2006, 369; Willemsen/Grau, Zurück in die Zukunft – Das europäische Aus für dynamische Bezugnahmen nach Betriebsübergang?, NJW 2014, 12; Zerres, Fortgeltung tarifvertraglicher Regelungen beim Betriebsübergang im Falle arbeitsvertraglicher Bezugnahme, NJW 2006, 3533.
Wird auf individualvertraglicher Ebene auf einen TV Bezug genommen, kann dies 47 verschiedene Konsequenzen haben, je nachdem, um welche Erscheinungsform der Bezugnahmeklausel es sich handelt. Abhängig hiervon können die Verweisungen nicht nur einen unterschiedlichen Gegenstand, sondern auch eine unterschiedliche Reichweite haben. Zudem können diese Klauseln sowohl deklaratorischen als auch konstitutiven Charakter haben.
Henssler
877
Teil 10 Rz. 48
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
I. Deklaratorische und konstitutive Inbezugnahme 48
Bei Bezugnahmeklauseln wird zwischen deklaratorischen und konstitutiven Klauseln unterschieden1. Deklaratorisch ist eine Bezugnahmeklausel grundsätzlich dann, wenn sie nur das wiederholt, was ohnehin der Rechtslage entspricht2. Konstitutiv ist sie hingegen, wenn der TV erst durch die Inbezugnahme auf individualvertraglicher Ebene gilt3. Ausgehend von dieser Differenzierung wird die ohnehin geltende Rechtslage durch eine Verweisungsklausel dann wiedergegeben, wenn sowohl der Arbeitgeber als auch der Arbeitnehmer kongruent tarifgebunden sind4 oder der in Bezug genommene TV für allgemeinverbindlich erklärt worden ist5. In diesen Fällen müsste der Klausel nach der genannten Definition somit allein deklaratorische Wirkung zukommen, wie dies auch im – vorwiegend älteren – Schrifttum vertreten wurde6. Überzeugender ist es, mit der ganz h.M. auch im Fall kongruenter Tarifbindung jedenfalls in der Regel den Klauseln konstitutive Wirkung zuzusprechen (vgl. bereits Rz. 8)7. Da der Arbeitgeber i.d.R. keine Kenntnis von der gewerkschaftlichen Organisation des Arbeitnehmers hat, kann sein rechtsgeschäftlicher Wille nicht auf eine nur deklaratorische Wirkung gerichtet sein8. Auch der Arbeitnehmer verfügt nur selten über verlässliche Informationen zur Verbandsmitgliedschaft des Arbeitgebers9, die sich zudem kurzfristig, etwa durch den Wechsel in eine OT-Mitgliedschaft, ändern kann. Beide Parteien wollen sich über die Verweisungsklausel regelmäßig fest an das in Bezug genommene Tarifsystem binden10.
49
Die Annahme einer mit Bedingungen verknüpften Willenserklärung erscheint angesichts der kurzfristigen Austrittsmöglichkeiten aus den Verbänden gekünstelt11. Wollte man den Klauseln allein deklaratorische Wirkung beimessen, so würde sich die Frage stellen, ob die Klausel nach Wegfall der beidseitigen Tarifgebundenheit durch Verbandsaustritt automatisch konstitutive Wirkungen entfalten soll12. Dies wäre schwer begründbar, da der Regelung allein aufgrund des Endes der Tarifbindung inhaltlich eine völlig andere Qualität zugemessen werden müsste13. Allein eine von der Frage der Tarifbindung gelöste konstitutive Wirkung von Bezugnahmeklauseln
1 Vgl. Hümmerich/Reufels/Reufels, Rz. 1634 f.; Thüsing/Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 28 ff.; zweifelnd: Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 347; Jacobs/Oetker/Krause/Schubert/Oetker, § 6 Rz. 265 f. 2 Thüsing/Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 29. 3 Kempen/Zachert/Stein, § 3 TVG Rz. 150. 4 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 206. 5 Hümmerich/Reufels/Reufels, Rz. 1634; Kempen/Zachert/Stein, § 3 TVG Rz. 150. 6 Schaub/Schaub, ArbR-Hdb, 13. Aufl. 2009, § 208 Rz. 3; Hanau, NZA 2005, 489 (490); so auch noch Wiedemann/Oetker, 6. Aufl., § 3 TVG Rz. 346. 7 Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 7; Thüsing/Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 30; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 33; Hümmerich/Reufels/Reufels, Rz. 1635; Schaub/Treber, ArbR Hb, § 206 Rz 9; Thüsing, RdA 2002, 193 (201). 8 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 33; Thüsing/Lambrich, RdA 2002, 193 (201). 9 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 33; Thüsing/Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 30; Hümmerich/Reufels/ Reufels, Rz. 1635. 10 Thüsing/Lambrich, RdA 2002, 193 (202). 11 Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 7. 12 Thüsing/Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 29; Kempen/Zachert/Stein, § 3 TVG Rz. 244. 13 BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 253/06, NZA 2007, 1455; Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 7.
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Erscheinungsformen
Rz. 51
Teil 10
wird damit dem beiderseitigen Parteiwillen gerecht: eine Auffassung, die auch vom BAG geteilt wird1. Bei kongruent tarifgebundenen Vertragspartnern kommt es damit zu einem „doppel- 50 ten Rechtsgrund der Tarifgeltung“:2 Zum einen findet der TV aufgrund seiner unmittelbaren und zwingenden Geltung gemäß § 4 Abs. 1 TVG normative Anwendung, zum anderen gelten seine Regelungen auch schuldrechtlich aufgrund der individualvertraglichen Bezugnahme. Es steht den Parteien allerdings frei, durch eindeutige Absprachen eine bloß deklaratorische Wirkung zu vereinbaren3. Besonderheiten ergeben sich, wenn ein vertraglich in Bezug genommener TV auf ei- 50a nen nicht identischen normativ geltenden TV trifft, die Bezugnahme also konstitutiv nicht dasjenige widerspiegelt, was der normativ geltenden Rechtslage entspricht. Zwar treffen hier zwei TVe aufeinander, die Kollision wird aber nicht nach den allgemeinen Grundsätzen der Tarifkonkurrenz (Spezialitätsprinzip) aufgelöst. Vielmehr greift nach ganz h.M. das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG; es ist also der für den Arbeitnehmer günstigere TV anzuwenden4. Dasselbe gilt auch im Falle eines Betriebsübergangs, da die nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB „transformierten“ Tarifnormen ihren kollektivrechtlichen Charakter beibehalten und damit normativ wirkenden Tarifnormen gleichstehen5. Praktische Schwierigkeiten können sich in diesen Fällen bei der Ermittlung der Günstigkeit ergeben. Der von der Rechtsprechung allgemein der Ermittlung des Vergleichsgegenstands zugrunde gelegte Sachgruppenvergleich wird vom Schrifttum teilweise abgelehnt, weil die Auslegung der Bezugnahmeklausel i.d.R. ergebe, dass der in Bezug genommene TV vollständig anzuwenden sei6. Danach muss ein (in der Praxis sehr schwieriger) Gesamtvergleich zwischen dem in Bezug genommenen TV und dem normativ geltenden TV vorgenommen werden7. Das BAG wendet dagegen den Maßstab des Sachgruppenvergleichs auch in diesen Fällen an8. Das erscheint konsequent. Die Günstigkeit darf nicht je nach der Art des streitigen Anspruchs und des Zeitpunkts der Geltendmachung von Fall zu Fall unterschiedlich beurteilt werden, so dass es zu unterschiedlichen Auslegungsergebnissen hinsichtlich ein und derselben vertraglichen Bezugnahme kommt9. Relevant wird der „doppelte Rechtsgrund der Tarifgeltung“ insbesondere dann, wenn 51 die Tarifbindung, aus welchen Gründen auch immer, wegfällt. Dann ist zu beachten, dass der TV aufgrund der individualvertraglichen Inbezugnahme auch bei den ehemals kongruent tarifgebundenen Arbeitnehmern je nach Klauseltyp statisch oder dynamisch schuldrechtlich fortgelten kann. 1 Vgl. BAG v. 19.3.2003 – 4 AZR 331/02, NZA 2003, 1207 Rz. 30. 2 Thüsing/Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 30; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 226; Hümmerich/Reufels/ Reufels, Rz. 1635; a.A.: Thüsing/Lambrich, RdA 2002, 193 (202). 3 Hanau/Kania, FS Schaub, 1998, S. 239 (248 f.). 4 BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364 (368); BAG v. 15.4.2015 – 4 AZR 587/13, NZA 2015, 1274 Rz. 27. 5 BAG v. 12.12.2014 – 4 AZR 328/11, AP Nr. 122 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag. 6 ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 37; Löwisch/Rieble, § 4 Rz. 486, 543. 7 Wiedemann/Oetker § 3 Rn. 291. 8 BAG v. 17.4.2002 – 5 AZR 644/00, AP Nr. 40 zu § 611 BGB Mehrarbeitsvergütung; BAG v. 12.12.2014 – 4 AZR 328/11, AP Nr. 122 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; ebenso LAG Düsseldorf v. 2.9.2010 – 5 Sa 720/10, ZTR 2011, 90. 9 BAG v. 24.9.2008 – 6 AZR 76/07, AP Nr. 11 zu § 305c BGB.
Henssler
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Teil 10 Rz. 52
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
II. Statische oder dynamische Inbezugnahme 52
In der arbeitsvertraglichen Kautelarpraxis haben sich verschiedene Formen von Bezugnahmeklauseln entwickelt. Üblicherweise wird zwischen statischen, kleinen dynamischen und großen dynamischen Verweisungsklauseln unterschieden. Bedeutung entfaltet diese Unterscheidung, wenn der individualvertraglich in Bezug genommene TV im Laufe der Zeit abgeändert wird oder aber die Tarifbindung des Arbeitgebers Änderungen unterworfen ist. 1. Statische Inbezugnahme a) Grundsatz
53
Eine statische Bezugnahmeklausel liegt dann vor, wenn ein bestimmter TV in einer bestimmten zeitlichen Ausgestaltung auf ein Arbeitsverhältnis Anwendung finden soll1. Dabei kann auf einen gegenwärtig oder auch früher geltenden TV Bezug genommen werden2. Die statische Inbezugnahme wirkt so, als hätten die Arbeitsvertragsparteien den Inhalt des TVs wortwörtlich in den Arbeitsvertrag geschrieben3. Diese Form der Inbezugnahme hat für den Arbeitgeber den Vorteil, dass die Beschäftigungsbedingungen konstant bleiben. Auf der anderen Seite kann sie in dem Betrieb des Arbeitgebers dazu führen, dass nach einer Tarifänderung die Bedingungen für tarif- und nicht-tarifgebundene Arbeitnehmer auseinanderfallen. Regelmäßig sind Arbeitgeber jedoch an einheitlichen Arbeitsbedingungen in ihren Betrieben interessiert. Der Arbeitnehmer hat zwar einen sicheren Mindestschutz, der nicht abgesenkt werden kann, zugleich ist aber seine Teilhabe an der Tarifentwicklung ausgeschlossen4. Aufgrund dieser Nachteile sind statische Bezugnahmen in Arbeitsverträgen eher selten5. Sie kommen bei temporär begrenzter Besitzstandswahrung, ansonsten aber nur für solche Tarifbestimmungen in Betracht, die keiner Anpassung an die sich ändernden Wirtschaftsbedingungen bedürfen6.
54
Gleichwohl ist nicht auszuschließen, dass einer Bezugnahmeklausel im Einzelfall statische Wirkung zukommen soll. Der maßgebliche Parteiwille ist durch Auslegung der Klausel gemäß §§ 133, 157 BGB zu ermitteln7. Wie unter Rz. 24 dargelegt, ist im Zweifel davon auszugehen, dass keine statische, sondern eine dynamische Inbezugnahme des TVs gewollt ist8. Eine dynamische Klausel liegt auch dann vor, wenn nicht ausdrücklich die „jeweils gültige Fassung“ (sog. „Jeweiligkeitsklausel“)9 eines
1 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 207; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 36; Schaub/Treber, ArbRHdb., § 206 Rz. 30. 2 Thüsing/Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 31; Kempen/Zachert/Stein, § 3 TVG Rz. 214. 3 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 284. 4 Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 206 Rz. 30; Thüsing/Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 31; Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 9. 5 HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 17. 6 Henssler, FS Wißmann, 2005, S. 133 (136). 7 Thüsing/Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 32; MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 178 Rz. 28. 8 BAG v. 9.11.2005 – 5 AZR 128/05, NZA 2006, 202 (204); BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, NZA 2007, 634 (635); BAG v. 26.9.2007 – 5 AZR 808/06, NZA 2008, 179 (180); MünchArbR/ Rieble/Klumpp, § 178 Rz. 28. 9 HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 24.
880 Henssler
Erscheinungsformen
Rz. 56
Teil 10
TVs in Bezug genommen wird1. Dies folgert das BAG allein aus der Zukunftsgerichtetheit des Arbeitsverhältnisses. Nur wenn die Formulierung der Klausel eindeutig zum Ausdruck bringt, dass allein eine statische Geltung der Tarifnormen gewollt ist – etwa durch Aufnahme eines bestimmten Geltungsdatums eines TVs –, bleiben die Wirkungen der Klausel von künftigen Änderungen des TVs unberührt2. Statische Bezugnahmeklauseln sind dementsprechend i.d.R. nur dann anzunehmen, wenn ein TV „in seiner/der Fassung vom …“ in Bezug genommen wird3. Dagegen kann der Arbeitnehmer bereits bei der Bezeichnung eines im Arbeitsvertrag bezifferten Gehalts als „Tarifgehalt“ davon ausgehen, dass eine dynamische Gehaltsentwicklung, entsprechend der Entwicklung des maßgeblichen Gehaltstarifvertrags gewollt ist4. b) Wirkungen bei Verbandsaustritt, Verbandswechsel und Umstrukturierung Der durch die Globalisierung gestiegene Wettbewerbsdruck zwingt gerade die export- 55 orientierten deutschen Unternehmen zu einer ständigen Anpassung ihrer Personalkosten an internationale Standards. Lässt sich die Wettbewerbsfähigkeit nicht durch Änderung der vertraglichen Arbeitsbedingungen bzw. durch Anpassung der TVe erreichen, suchen die Unternehmen durch schlichten Verbandsaustritt, z.B. nach Kündigung der Verbandsmitgliedschaft, durch einen Verbandswechsel – u.U. auch nach Herauswachsen aus einem TV – oder durch Unternehmensumstrukturierungen ein wettbewerbsfähiges Personalkostenniveau außerhalb des bislang geltenden Tarifsystems zu erreichen. In all diesen Fallkonstellationen stellt sich jeweils die Frage, welche Wirkung das Ende der Tarifbindung auf die arbeitsvertragliche Inbezugnahme von TVen hat5. Statische Bezugnahmeklauseln erweisen sich insoweit als relativ unproblematisch. 56 Da die Vertragsparteien statt der Bezugnahme auch den Text des betreffenden TVs hätten abschreiben können6, werden statische Bezugnahmeklauseln im Fall der Änderung der Tarifbindung sowie Änderungen des TVs selbst genauso behandelt wie sonstige individualvertragliche Vereinbarungen. So wirkt die Klausel bei einem Verbandsaustritt weiter fort7. Ob der TV für den Arbeitgeber in der Phase der Nachbindung nach § 3 Abs. 3 TVG oder der Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG noch Wirkungen entfaltet, spielt keine Rolle. Das Gleiche gilt, wenn der Arbeitgeber aufgrund einer Veränderung seines Tätigkeitsschwerpunktes aus dem TV herausgewachsen ist. In diesem Fall endet die Tarifbindung nach § 3 Abs. 1 TVG sofort, es kommt aber zur Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG (vgl. Rz. 21 ff.). Davon ganz unabhängig bleibt der
1 BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736 (738); BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, NZA 2002, 634 (635); BAG v. 13.11.2002 – 4 AZR 64/02, NZA-RR 2003, 329; BAG v. 12.6.2013 – 4 AZR 970/11, AP Nr. 228 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie. 2 BAG v. 13.11.2013 – 4 AZR 16/12, NZA-RR 2014, 299, für den Verweis auf „derzeit“ geltende Tarifregelungen eines HausTV auf VerbandsTV; Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, B XXI 1c). 3 Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 8, 10; Thüsing, AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, Rz. 178. 4 BAG v. 8.7.2015 – 4 AZR 51/14, NZA 2015, 1462. 5 Henssler, FS Wißmann, 2005, S. 133 (133 f.); Schwab, Auslegung und Inhaltskontrolle arbeitsvertraglicher Bezugnahmen auf Tarifverträge, S. 163. 6 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 596. 7 Henssler, FS Wißmann, 2005, S. 130 (136).
Henssler
881
Teil 10 Rz. 57
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
Arbeitgeber aufgrund der statischen Klausel schuldrechtlich an den konkreten TV gebunden. 57
Im Fall eines Verbandswechsels greift für den Arbeitgeber eine neue normative Bindung an den nunmehr fachlich einschlägigen TV. Seine schuldrechtliche Bindung aufgrund der statischen Bezugnahmeklausel bleibt hiervon unberührt. Kommt es zu einer kongruenten Bindung beider Vertragspartner an den neuen TV, so kann der Arbeitnehmer gleichwohl eventuelle für ihn günstigere Arbeitsbedingungen des statisch in Bezug genommenen TVs für sich beanspruchen. Es gilt das Günstigkeitsprinzip (Rz. 50a)1. Kommt es aufgrund einer Unternehmensumstrukturierung zu einem Betriebsübergang, gilt § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB: Der Erwerber tritt in die zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs bestehenden Arbeitsverhältnisse ein. Somit gilt die statische Bezugnahmeklausel auch nach dem Betriebsübergang fort2. Dies ist und bleibt auch nach der jüngeren Rechtsprechung des EuGH unproblematisch, da diese nur die dynamische Fortgeltung nach Betriebsübergang in Frage stellt (vgl. Rz. 66 f.). Eine Änderung des Inhalts der statischen Bezugnahmeklausel kommt nur dann in Betracht, wenn es aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalles einer ergänzenden Auslegung bedarf oder der Wegfall der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 BGB eine Vertragsanpassung gebietet3. Eine Anpassung ist ferner durch einvernehmliche Vertragsänderungen oder aufgrund von Änderungskündigungen möglich4. 2. Kleine dynamische Bezugnahmeklauseln
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Die den statischen Verweisungsklauseln gegenüberstehenden dynamischen Bezugnahmeklauseln wurden in der Kautelarpraxis bislang in zwei Erscheinungsformen als kleine dynamische Klausel und als große dynamische Bezugnahmeklauseln bzw. Tarifwechselklauseln verwendet5. Dynamische Klauseln lassen sich auch als „Jeweiligkeitsklauseln“ bezeichnen6, da sie auf einen TV in seiner „jeweils gültigen Fassung“ bzw. auf den „jeweils einschlägigen TV in seiner jeweils gültigen Fassung“7 verweisen. a) Vor dem 1.1.2002 vereinbarte Klauseln: Auslegung als Gleichstellungsabrede
59
Kleine dynamische Bezugnahmeklauseln unterscheiden sich von der statischen Bezugnahmeklausel dadurch, dass sie zwar auf einen bestimmten TV verweisen, dabei jedoch auf die jeweils zeitlich aktuell geltende Fassung abstellen8. Das Arbeitsverhältnis partizipiert damit an den Anpassungen des konkret benannten TVs an die ge-
1 2 3 4 5
Zum Ganzen Henssler, FS Wißmann, 2005, S. 130 (141). Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 265; Henssler, FS Wißmann, 2005, S. 130 (150). Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 354. Holthausen, ArbRAktuell 2011, 29. Vgl. hierzu Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 600; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 36; MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 178 Rz. 6. 6 Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 11; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 24; Jacobs/Krause/Oetker/Schubert/Oetker, § 6 Rz. 243. 7 Vgl. hierzu die Formulierungsvorschläge bei Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 1, 12, 18; Thüsing, AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, Rz. 178 f. 8 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 36; MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 178 Rz. 6.
882 Henssler
Erscheinungsformen
Rz. 62
Teil 10
änderten Rahmenbedingungen1. Ob eine kleine dynamische Bezugnahmeklausel oder eine noch weiter gehende Dynamik im Sinne einer Tarifwechselklausel gewollt ist, muss wiederum durch Auslegung der Abrede geklärt werden2. Dabei ist im Zweifel anzunehmen, dass nur eine kleine dynamische Klausel gewollt ist, wenn nicht besondere Umstände auf eine große dynamische Klausel (vgl. Rz. 83) hindeuten3. Das BAG ging in seiner älteren Rechtsprechung davon aus, dass die Parteien mit klei- 60 nen dynamischen Bezugnahmeklauseln den Zweck verfolgten, die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer den tarifgebundenen Arbeitnehmern gleichzustellen4. Die Klauseln wurden dementsprechend bei Tarifbindung des Arbeitgebers im Zweifel als Gleichstellungsabrede verstanden5. Die Bezugnahmeklausel sollte die fehlende Tarifgebundenheit der nicht-tarifgebundenen Arbeitnehmer überwinden, für die der einschlägige TV nicht bereits gemäß § 4 Abs. 1 TVG unmittelbar und zwingend galt6, um so einheitliche Arbeitsbedingungen zu schaffen. Da die Klauseln unabhängig von der Gewerkschaftsmitgliedschaft der Arbeitnehmer eingesetzt wurden, war es genauer, von einer „Widerspiegelung“ der bei kongruenter Tarifbindung bestehenden Arbeitsbedingungen zu sprechen. Die Klausel sollte schuldrechtlich dasjenige widerspiegeln, was im Falle einer unterstellten kongruenten Tarifbindung normativ gelten würde. Folge dieser Auslegung als Gleichstellungs- bzw. Widerspiegelungsklausel war, dass die in Bezug genommenen TVe nur so lange auf das Arbeitsverhältnis Anwendung fanden, wie der Arbeitgeber auch tarifgebunden war7. Im Falle einer Beendigung der Tarifbindung durch Verbandsaustritt oder Herauswachsen aus dem TV endete damit die dynamische Bindung an den TV. Die bis dato geltenden tariflichen Arbeitsbedingungen galten nur noch statisch fort. Die Auslegung als Gleichstellungsabrede war jedoch nur dann möglich, wenn der Ar- 61 beitgeber auch tarifgebunden war8. Verwendete dagegen ein weder verbandlich organisierter noch an einen Firmentarif gebundener Arbeitgeber kleine dynamische Klauseln, so führte der Gedanke der beabsichtigten Gleichstellung der Arbeitnehmer ins Leere9. b) Klauseln ab dem 1.1.2002: Konstitutive Ewigkeitsbindung bei Neuklauseln Die im Ergebnis sehr arbeitgeberfreundliche Rechtsprechung des BAG wurde im 62 Schrifttum schon vor Inkrafttreten der Schuldrechtsreform, erst recht aber nach der Öffnung des Arbeitsvertragsrechts für das AGB-Recht durch § 310 Abs. 4 BGB, kritisiert10. Hauptkritikpunkte waren zum einen die Missachtung des Wortlauts der Klau1 2 3 4
5 6 7 8 9 10
HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 17. MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 178 Rz. 29. MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 178 Rz. 29; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 24. BAG v. 4.9.1996 – 4 AZR 135/96, BB 1996, 2628; BAG v. 4.8.1999 – 5 AZR 642/98, NZA 2000, 154; BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, NZA 2002, 634; BAG v. 27.11.2002 – 4 AZR 540/01, NZA 2003, 1278. ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 37. BAG v. 27.11.2002 – 4 AZR 663/01, NZA 2003, 805 (806); BAG v. 1.12.2004 – 4 AZR 50/04, NZA 2005, 478 (479) m.w.N. BAG v. 27.11.2002 – 4 AZR 663/01, NZA 2003, 805 (806). Dies gilt auch für sog. Altklauseln: BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 396/08, BB 2010, 2245. BAG v. 25.10.2000 – 4 AZR 506/99, AP Nr. 13 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag. Hanau, NZA 2005, 489 (490 ff.).
Henssler
883
Teil 10 Rz. 63
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
sel sowie der Grundsätze der Vertragsauslegung1. Zum anderen wurde auch die Unvereinbarkeit mit §§ 305c Abs. 2, 307 Abs. 1 Satz 2 BGB angenommen2. 63
Ungeachtet dieser Kritik hatte das BAG seine Rechtsprechung zunächst lange Zeit beibehalten und verteidigt3. Dem 4. Senat waren die anderen Senate des BAG gefolgt4 – im Gegensatz zu einigen Landesarbeitsgerichten5. Erst nach einem Wechsel in der personellen Besetzung des 4. Senats kam es zu einer mit Urteil vom 14.12.20056 vorab angekündigten Änderung der Rechtsprechung. Die neuen Auslegungsgrundsätze wurden in zwei Urteilen vom 18.4.20077 vorgestellt und in der Folgezeit weiter präzisiert. Grundlage der neuen Rechtsprechung ist eine Trennung zwischen Altklauseln, die vor dem 1.1.2002 vereinbart wurden, und Neuklauseln, die auf ab diesem Stichtag geschlossenen Abreden beruhen. Neuklauseln sind nicht mehr als Gleichstellungsabreden zu verstehen. Das Ende der Tarifgebundenheit des Arbeitnehmers führt somit nicht zu einer Beendigung der Dynamik, vielmehr muss der Arbeitgeber auch künftig Tariferhöhungen an seine Arbeitnehmer weiterreichen. Es kommt somit zu einer „konstitutiven Ewigkeitsbindung“ des Arbeitgebers an die sich dynamisch entwickelnden Arbeitsbedingungen des in Bezug genommenen TVs. Der Arbeitgeber muss diese Arbeitsbedingungen aufgrund seiner schuldrechtlichen Zusage auch dann gewähren, wenn sie längst nicht mehr auf sein unternehmerisches Tätigkeitsfeld und damit auch nicht mehr auf das Arbeitsverhältnis zugeschnitten sind8.
64
Ausnahmen gelten nur dann, wenn die Klausel Anhaltspunkte für einen Gleichstellungswillen der Vertragspartner bietet. Die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers müsse in erkennbarer Weise zur auflösenden Bedingung für die dynamische Wirkung der Klausel gemacht werden9. In seinem Urteil vom 14.12.2005 setzt sich das BAG dabei mit der geäußerten Kritik aufgrund des Verstoßes gegen die Unklarheitenregel gemäß § 305c Abs. 2 BGB und der mangelnden Wortlautorientierung auseinander und trägt dieser durch die Ankündigung einer Rechtsprechungsänderung Rechnung.
65
Für die sog. Altklauseln, die bis zum 31.12.2001 in Arbeitsverträgen vereinbart wurden, gewährt das BAG Vertrauensschutz10. Der Stichtag knüpft an das Inkrafttreten des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes am 1.1.2002 an, mit dem die Klauselkon-
1 Lambrich, FS Ehmann, 2005, S. 169 (227); Annuß, RdA 2000, 179 (180); Annuß, AuR 2002, 361 (362 f.). 2 Hanau, NZA 2005, 489 (491); Wiedemann, RdA 2007, 65 (66). 3 Vgl. BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, NZA 2002, 634; BAG v. 19.3.2003 – 4 AZR 331/02, NZA 2003, 1207; BAG v. 27.11.2002 – 4 AZR 540/01, NZA 2003, 1278. 4 BAG v. 19.1.1999 – 1 AZR 606/98; NZA 1999, 879; BAG v. 4.8.1999 – 5 AZR 642/98, NZA 2000, 154; BAG v. 24.11.2004 – 10 AZR 202/04, NZA 2005, 349. 5 Vgl. hierzu LAG Hamburg v. 15.11.2000, NZA 2001, 562 (566); LAG Hessen v. 23.3.1999 – NZA-RR 2000, 93 (94). 6 BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NZA 2006, 607. 7 BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965; BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 653/05, DB 2007, 2598. 8 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 597; zu möglichen „Auswegen“ aus der arbeitsvertraglichen Ewigkeitsbindung Kania/Seitz, RdA 2015, 228. 9 BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965 (967); BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 793/07, NZA 2009, 323 (326). 10 BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NZA 2006, 607 (609 f.); BAG v. 17.11.2010 – 4 AZR 391/09, NZA 2011, 356 (357).
884 Henssler
Erscheinungsformen
Rz. 67
Teil 10
trolle gemäß §§ 305 ff. BGB auf Arbeitsverträge erstreckt wurde. Diese Stichtagswahl wurde jedoch teilweise stark kritisiert1 und dies zu Recht. Anstelle des vom BAG gewählten Stichtages hätte aus Vertrauensschutzgründen an den Tag des die Rechtsprechungsänderung ankündigenden Urteils angeknüpft werden müssen. c) Abgrenzung von Altklauseln und Neuklauseln Nach der Rechtsprechung kommt der Unterscheidung zwischen sog. Neu- und Alt- 66 klauseln somit zentrale Bedeutung zu. Für die Einordnung ist nicht entscheidend, wann der Arbeitsvertrag, der einen TV in Bezug nimmt, erstmalig abgeschlossen wurde. Eine Neuklausel liegt vielmehr schon dann vor, wenn der Arbeitsvertrag überarbeitet oder neugefasst worden ist. Ausschlaggebend ist, ob auch die Klausel Gegenstand der rechtsgeschäftlichen Willensbildung war, wobei dies schon bei bloß geringfügigen Änderungen anzunehmen ist2. Der 4. Senat3 löst die anstehenden Fälle mit einer Faustformel: Eine „Neuvertragsklausel“ liegt vor, wenn dem Änderungsvertrag zu entnehmen ist, dass die Bezugnahme Gegenstand der (änderungs-)vertraglichen Willensbildung war. Dies ist insbesondere dann zweifelsfrei der Fall, wenn die Bezugnahmeklausel selbst durch die Vertragsänderung im Wortlaut leicht verändert wird4. Nach der Rechtsprechung des BAG gilt dasselbe, wenn die Parteien vereinbart haben, dass „alle anderen Vereinbarungen aus diesem Anstellungsvertrag [von der Vertragsänderung] unberührt bleiben“, da damit zum Ausdruck gebracht werde, dass auch diese unmittelbar nicht geänderten Klauseln Gegenstand des Willensbildungsprozesses der Parteien im Rahmen der Vertragsänderung gewesen sind5. d) Europarechtliche Bedenken gegenüber der „Ewigkeitsbindung“ – Rückkehr zur Gleichstellungsabrede? Die Abkehr von der Gleichstellungsabrede war und ist vielfacher Kritik ausgesetzt, 67 insbesondere werden europarechtliche Bedenken geäußert6. In der Rechtssache Werhof7 hatte der EuGH die bisherige Rechtsprechung zur Gleichstellungsabrede als europarechtskonform erachtet und zugleich einen Verstoß gegen das europäische Grundrecht der negativen Koalitionsfreiheit für möglich gehalten, wenn der Erwerber nach einem Betriebsübergang künftige TVe anwenden müsse, ohne dass dies durch seine eigene Tarifbindung oder privatautonome Entscheidung legitimiert sei. Aus der Europarechtskonformität der statischen Fortgeltung von Verweisungsklauseln leiten Teile der Literatur ein Gebot der statischen Fortgeltung nach Betriebsübergang ab8.
1 Hierzu kritisch u.a. Gaul/Naumann, DB 2007, 2594 (2596); Giesen, NZA 2006, 625 (628); Hanau, RdA 2007, 180 (182); Höpfner, NZA 2008, 91 (92); Höpfner, NZA 2009, 420 (421); Spelberger, NZA 2007, 1086 (1087 f.); Zerres, NJW 2006, 3533 (3535). 2 BAG v. 19.10.2011 – 4 AZR 811/09, AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 9 Rz. 23 ff.; BAG v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, NZA-RR 2010, 530 (532). 3 BAG v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, NZA-RR 2010, 530 (532). 4 So in BAG v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, NZA-RR 2010, 530 (532). 5 So in BAG v. 18.11.2009 – 4 AZR 514/08, NZA 2010, 170 (172). 6 Nicolai, DB 2006, 670 (671 f.); Simon/Kock/Halbsguth, ZIP 2006, 723 (727 f.). 7 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04, NZA 2006, 376. 8 Meinel/Herms, DB 2006, 1430; Kort, AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 39.; Simon/ Weninger, BB 2007, 2127 (2128); Simon/Kock/Halbsguth, ZIP 2006, 723 (727 f.).
Henssler
885
Teil 10 Rz. 67a
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
Der 4. Senat des BAG vertritt hingegen die Auffassung, dass die Entscheidung des EuGH statische Klauseln zwar zulässt, dynamische Klauseln aber nicht verbietet1. Danach hat ein Betriebsübergang keine Auswirkungen auf die Dynamik der Klausel2. Eine Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit kommt nach diesem Verständnis nur dann in Betracht, wenn es um die von arbeitsvertraglichen Vereinbarungen unabhängige kollektivrechtliche Wirkungsweise von tariflichen Normen geht, denn nur in diesem Bereich lasse sich die Verbindlichkeit von Rechten und Pflichten mit der Ausübung von negativer oder positiver Koalitionsfreiheit begründen. Beruht die Begründung von Rechten und Pflichten unmittelbar auf Abgabe einer privatautonomen Willenserklärung, ist die negative Koalitionsfreiheit dagegen nicht tangiert. Bei einem Betriebsübergang folge die Pflicht zur Anwendung der TVe aber aus der privatautonomen Entscheidung des Erwerbers, den Betrieb zu übernehmen3. 67a Erneute Zweifel an der Unionsrechtskonformität der dynamischen Fortgeltung von Bezugnahmeklauseln nach einem Betriebsübergang hat die jüngere Rspr. des EuGH in der Rechtssache Alemo-Herron4 aufgeworfen. Der auf einem englischen Sachverhalt beruhenden Entscheidung zufolge dürfen die Mitgliedstaaten nicht vorschreiben, dass im Fall eines Unternehmensübergangs die Klauseln, die dynamisch auf nach dem Zeitpunkt des Übergangs verhandelte und abgeschlossene TVe verweisen, gegenüber dem Erwerber durchsetzbar sind, wenn dieser nicht die Möglichkeit hat, an den Verhandlungen über die nach dem Übergang abgeschlossenen TVe teilzunehmen. Hiermit werde der Wesensgehalt der unternehmerischen Freiheit in unzulässigem Maße beeinträchtigt. Während sich die Kritiker der Werhof-Entscheidung nun bestätigt sehen und weitere Stimmen die Rückkehr zur Gleichstellungsabrede fordern5, interpretieren andere – darunter mittlerweile mehrere Berufungsgerichte6 – das Urteil als Einzelfallentscheidung zum englischen Recht, die auf das deutsche Recht nicht übertragbar sei7. Im englischen Recht existiere keine unmittelbare und zwingende Geltung von Tarifnormen, vielmehr könnten TVe überhaupt nur durch arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln eine rechtsverbindliche Wirkung entfalten. Die Entscheidung betreffe folglich lediglich die kollektivrechtliche Wirkung nach Art. 3 Abs. 3 der Betriebsübergangsrichtlinie 2001/23/EG und sei auf die arbeitsvertragliche Bezugnahme, die Art. 3 Abs. 1 der Betriebsübergangsrichtlinieumfasst, nicht übertragbar. 67b
Die Frage, ob die aktuelle Auslegung der dynamischen Fortgeltung mit dem Unionsrecht vereinbar ist, hat der 4. Senat des BAG jüngst dem EuGH vorgelegt8. Bis zur 1 BAG v. 23.9.2009 – 4 AZR 331/08, NZA 2010, 513; BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 396/08, NZARR 2010, 361. 2 Bestätigt BAG v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, AP Nr. 75 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; Bepler, RdA 2009, 65 ff. 3 So auch Willemsen, Arbeitsvertragliche Bezugnahme, 2009, S. 185 ff.; Reinecke, BB 2006, 2637 (2641); Sittard/Ulbrich, ZTR 2006, 458 (461). 4 EuGH v. 18.7.2013 – C-426/11, NZA 2013, 835. 5 Lobinger, NZA 2013, 945; Schiefer/Hartmann, BB 2013, 2614; Mückl, ZIP 2014, 207; Willemsen/Grau, NJW 2014, 12; Latzel, RdA 2014, 110; Reinhard, RdA 2015, 321. 6 LAG Berlin-Brandenburg v. 30.4.2015 – 26 Sa 1130/14 Rz. 46 ff.; HessLAG v. 10.12.2013 – 8 Sa 537/13 Rz. 115 ff.; Sächsisches LAG v. 24.3.2015 – 1 Sa 541/14, Rz. 51; a.A. Sächsisches LAG v. 25.7.2014 – 3 Sa 128/14 Rz. 88. 7 Commandeur/Kleinebrink, BB 2014, 181; Forst, DB 2013, 1847 und Heuschmid, AuR 2013, 498; Sutschet, RdA 2013, 28. 8 BAG v. 17.6.2015 – 4 AZR 61/14 (A).
886 Henssler
Erscheinungsformen
Rz. 68
Teil 10
Entscheidung herrscht somit eine erhebliche Rechtsunsicherheit1. Weitere Ungereimtheiten bringt die Entscheidung des EuGH in der Rs. Österreichischer Gewerkschaftsbund2. Im Rahmen der Vorlagefrage über die Nachwirkung eines gekündigten Kollektivvertrags nach einem Betriebsübergang führt der EuGH aus, dass er jegliche kollektivvertraglich vereinbarten Arbeitsbedingungen wie Kollektivrecht behandeln will, unabhängig davon, auf welcher Technik ihre Geltung für die Arbeitsvertragsparteien beruht, so dass immer Art. 3 Abs. 3 der Betriebsübergangsrichtlinie Anwendung finde. Dies würde dazu führen, dass § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB auch auf arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln anzuwenden wäre3. Die Folgen dieser Entscheidung für das deutsche Recht sind umstritten. Teilweise wird angenommen, dass die Entscheidung die Ansicht der Europarechtskonformität der dynamischen Fortgeltung von Bezugnahmeklauseln stütze4. Der EuGH führt nämlich aus, dass die Interessen des Erwerbers bei einem Betriebsübergang und der Nachwirkung eines TVs ausreichend geschützt seien, da dem Erwerber die Möglichkeit bleibe, mit den Arbeitnehmern neue Einzelvereinbarungen bzw. Vertragsanpassungen zur Beendigung der Nachwirkung abzuschließen. Gleiches müsse für die Anpassung von dynamisch fortgeltenden Bezugnahmeklauseln gelten5. Es ist zu hoffen, dass sich der EuGH entschließt, auf die aktuelle Vorlage des BAG hin zu einer weitreichenden Klärung der Streitfragen beizutragen. e) Folgen bei Verbandsaustritt, Verbandswechsel und Umstrukturierung aa) Auslegung von Altklauseln Die große Tragweite der Rechtsprechungsänderung erschließt sich erst, wenn man 68 die Auswirkungen auf individualvertraglicher Ebene beim Ende der Tarifbindung des Arbeitgebers oder bei Änderung der TVe betrachtet. Endet die Tarifbindung aufgrund eines Verbandsaustritts des Arbeitgebers (vgl. Rz. 55), mussten auf der Grundlage des von der älteren Rechtsprechung präferierten Gleichstellungsgedankens die nicht-tarifgebundenen Arbeitnehmer genauso behandelt werden wie die tarifgebundenen. Dieses für Altklauseln weiterhin maßgebliche Verständnis führt in aller Regel zu einer rein statischen Weitergeltung des in Bezug genommenen TV: Beim Verbandsaustritt des Arbeitgebers kommt es auf der normativen Ebene zu einer (zwingenden) Fortgeltung des TVs gemäß § 3 Abs. 3 TVG. Endet dieser TV durch Zeitablauf, Kündigung oder Änderung, so hat er dennoch gemäß § 4 Abs. 5 TVG noch eine unmittelbare Wirkung, bis er durch eine andere Abmachung ersetzt wird. Für die Gleichstellungsabrede galt in diesem Fall, dass es nicht zu einer Teilhabe an der weiteren Tarifentwicklung kam, vielmehr wirkte der TV in seiner bei Verbandsaustritt geltenden Fassung statisch fort6. Wächst ein Unternehmen aus einem TV heraus, verliert dieser seine normative Wirkung und wirkt lediglich unmittelbar, jedoch nicht zwin1 ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 127a. 2 EuGH v. 11.9.2014 – C-328/13, NZA 2014, 1092. 3 EuGH v. 11.9.2014 – C-328/13, NZA 2014, 1092 Rz. 24; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 127a; abl. Forst, EuZW 2014, 822. 4 So LAG Berlin-Brandenburg v. 30.4.2015 – 26 Sa 1130/14, Rz. 55. 5 LAG Berlin-Brandenburg v. 30.4.2015 – 26 Sa 1130/14, Rz. 55. 6 BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, NZA 2002, 634 f.; BAG v. 19.3.2003 – 4 AZR 331/02, NZA 2003, 1207 ff.; Frieges, DB 1996, 1281 (1282); so i.E. auch Kania, RdA 2000, 173 (177), der jedoch diese Konsequenz als nicht mehr zeitgemäß ansieht.
Henssler
887
Teil 10 Rz. 69
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
gend gemäß § 4 Abs. 5 TVG (analog) nach (vgl. Teil 9 Rz. 33)1. Dies gilt sodann auch, wenn der TV individualvertraglich in Bezug genommen wurde. 69
Tritt der Arbeitgeber einem anderen Arbeitgeberverband bei, so gilt auf normativer Ebene der anwendbare TV gemäß § 3 Abs. 1 TVG. Bei einem solchen Verbandswechsel hatte das BAG noch 1996 angenommen, ein Tarifwechsel könne durch eine „korrigierende Auslegung“ der kleinen dynamischen Bezugnahmeklausel zumindest dann erfolgen, wenn der neue sowie der alte TV mit derselben Gewerkschaft geschlossen worden seien2. Diese dem Wortlaut zuwiderlaufende Auslegung hatte das BAG zu Recht schon vor dem Inkrafttreten der Schuldrechtsreform aufgegeben und nur dann für möglich erachtet, wenn die Klausel nicht nur als Gleichstellungsabrede gewollt war, sondern darüber hinaus besondere Umstände auf ein Verständnis als Tarifwechselklausel hindeuteten3. Schon vor der 2005 eingeleiteten Rechtsprechungsänderung konnte folglich eine kleine dynamische Bezugnahmeklausel nicht ohne weiteres zu einem Tarifwechsel führen. Vielmehr verwies eine als Gleichstellungsabrede auszulegende Klausel grundsätzlich statisch auf den gemäß § 4 Abs. 5 TVG nachwirkenden TV4.
70
Nach einem Betriebs(teil)übergang gilt der TV grundsätzlich nach der von § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB angeordneten Transformation mit einer einjährigen Veränderungssperre fort, sofern er nicht gemäß § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB durch einen beim Erwerber geltenden TV verdrängt wird. Die Verdrängung setzt allerdings beiderseitige Tarifbindung voraus. Damit kann es zu einer Diskrepanz zwischen der gesetzlich angeordneten Rechtslage und dem schuldrechtlich aufgrund der Bezugnahmeklausel geltenden Recht kommen. Die kleine dynamische Altklausel führt in ihrer Funktion als Gleichstellungsabrede zu einer statischen Fortwirkung des beim Veräußerer geltenden Tarifniveaus5. Die Klausel spiegelt also schuldrechtlich dasjenige wider, das für einen beim Veräußerer ehemals kongruent tarifgebundenen Arbeitnehmer gelten würde. Auf diejenigen – eventuell ungünstigeren – Ansprüche, die ein beim Erwerber kongruent gebundener Arbeitnehmer erhalten würde, der sich nunmehr der für den Erwerber tarifzuständigen Gewerkschaft anschließt, kommt es nicht an, obwohl diese nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB normativ maßgeblich sind. Das von § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB geschützte Interesse des Erwerbers an einheitlichen Arbeitsbedingungen in seinen Betrieben bleibt damit nach der Rechtsprechung des BAG bei der Auslegung der Bezugnahmeklausel unberücksichtigt.
71
Etwas anderes muss allerdings dann gelten, wenn beim Erwerber zwar ein anderer TV als beim Veräußerer gilt, dieser aber mit derselben Gewerkschaft geschlossen wurde, die auch für den beim Veräußerer geltenden TV zuständig war. Hier greift nämlich auch für die beim Veräußerer kongruent tarifgebundenen Arbeitnehmer nach dem Betriebsübergang sofort gemäß § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB das neue Tarifniveau6. Diese
1 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 (analoge Anwendung); Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 337; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 19. 2 BAG v. 4.9.1996 – 4 AZR 135/95, NZA 1997, 271 (273). 3 BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 581/99, NZA 2001, 510 (511); BAG v. 25.10.2000 – 4 AZR 506/99, NZA 2002, 100 (103). 4 BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 581/99, NZA 2001, 510 (511). 5 Vgl. BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 581/99, NZA 2001, 510 (511); BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NZA 2006, 607 (610 f.). 6 BAG v. 11.5.2005 – 4 AZR 315/04, NZA 2005, 1362 (Fall: ver.di-Gründung).
888 Henssler
Erscheinungsformen
Rz. 73
Teil 10
Rechtslage soll die Gleichstellungsabrede widerspiegeln. Ist das Tarifniveau beim Erwerber niedriger, so werden damit die Arbeitsbedingungen über die Bezugnahmeklausel sofort auf dieses niedrigere Niveau abgesenkt. Auch für Altklauseln gelten dann Besonderheiten, wenn sie einen normativ nicht gel- 72 tenden TV in Bezug nehmen1. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die Klausel von einem selbst nicht tarifgebundenen Arbeitgeber verwendet wurde. Da in diesem Fall kein Raum für eine Funktion als Gleichstellungsabrede ist, muss die Verweisung grundsätzlich so verstanden werden, dass von den Parteien eine dauerhafte Partizipation an der Dynamik des entsprechenden TV gewollt war, sodass ebenso wie bei einer Neuklausel (Rz. 74 ff.; dort auch zu weiteren Einzelheiten) von einer „konstitutiven Ewigkeitsklausel“ gesprochen werden kann2. Das Arbeitsverhältnis nimmt folglich an den Entwicklungen des in Bezug genommen TVs stetig teil, die Klausel wirkt dauerhaft dynamisch und führt im Ergebnis zu einer stärkeren Bindung als die Verbandsmitgliedschaft. In der Praxis sind Altklauseln bis heute auch in den Arbeitsverträgen von nicht tarif- 73 gebundenen Arbeitgebern anzutreffen (vgl. schon Rz. 3 f.). Sie dienen nicht nur der Anbindung an ein Kollektivsystem, sondern auch der Vereinheitlichung von Arbeitsbedingungen, insbesondere der Einheitlichkeit innerhalb eines Konzerns bei einer verbandsangehörigen Muttergesellschaft3. Das Verständnis als Ewigkeitsklausel steht zwar in einem gewissen Spannungsverhältnis zu der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten negativen Koalitionsfreiheit des Arbeitgebers. Im Ergebnis greifen hierauf gestützte Bedenken4 allerdings nicht durch, da die Ewigkeitsbindung nicht gegen den Willen des Arbeitsgebers eintritt, sondern eine Folge konsequenter Anwendung der Vertragsauslegungsregeln ist5. Der Arbeitgeber konnte durch sachgerechte Formulierung der Klausel verhindern, dass es zu einer dauerhaft dynamischen Bindung kommt6. Im Grunde musste auch schon vor der Schuldrechtsreform von der Verwendung kleiner dynamischer Klauseln durch nicht tarifgebundene Arbeitgeber dringend abgeraten werden. Eine denkbare Gestaltung war allenfalls die Verbindung der Klausel mit einem Widerrufvorbehalt7. Bei der Anwendung der von der Rechtsprechung zu solchen Änderungsvorbehalten gemäß § 308 Nr. 4 BGB entwickelten Grundsätze8 ist zu berücksichtigen, dass der Widerruf nicht mit einem Eingriff in den Bestandsschutz der Arbeitnehmer verbunden ist9. Ohne entsprechenden Vorbehalt lässt sich die vereinbarte Dynamik nur durch eine einvernehmliche Änderung der Bezugnah-
1 BAG v. 25.9.2002 – 4 AZR 294/01, NZA 2003, 807 (809); BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, NZA 2002, 634. 2 Henssler, FS Wißmann, 2005, S. 133 (137); Vogel/Oelkers, NJW-Spezial 2006, 369; Klebeck, NZA 2006, 15 (18 f.). 3 Henssler, FS Wißmann, 2005, S. 133 (138). 4 Möller, NZA 2006, 579 (583). 5 Vgl. Sittard/Ulbrich, ZTR 2006, 458 (460). 6 BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965 (968). 7 Müller-Bonanni/Mehrens, NZA 2012, 195 (197). 8 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 44; Preis/Greiner, NZA 2007, 1073 (1078); a.A. Klebeck, NZA 2006, 15 (19), der den entscheidenden Unterschied darin sieht, dass die Arbeitnehmer behalten, was sie haben, und nur die Chance auf künftige Verbesserungen verlieren. 9 Vgl. Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, B XXI 3d).
Henssler
889
Teil 10 Rz. 74
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
meklausel sowie in Ausnahmefällen durch Änderungskündigung1 oder über die Grundsätze der Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 BGB2 beenden. bb) Wirkung von Neuklauseln 74
Nach der derzeitigen Rechtsprechung des BAG hat das Ende der Tarifbindung keinen Einfluss mehr auf die Dynamik der Verweisung (vgl. Rz. 62, zu den europarechtlichen Bedenken Rz. 67 f.). Diese Konsequenz hat das BAG in einer seiner ersten Entscheidungen für den Fall des Verbandsaustritts gezogen3 und in der Folgezeit bestätigt4. Da der in Bezug genommene TV auch für die tarifgebundenen Arbeitnehmer konstitutiv wirkt, profitieren sie ebenfalls von der nach dem Verbandsaustritt fortbestehenden dynamischen Bindung. Im Verhältnis zwischen gesetzlichen und schuldrechtlichen Ansprüchen gilt das Günstigkeitsprinzip gemäß § 4 Abs. 3 TVG (Rz. 50a)5. Als Folge der aktuellen Entscheidungspraxis bleibt somit auch für die ehemals tarifgebundenen Arbeitnehmer trotz des Wegfalls der Tarifbindung beim Arbeitgeber die Dynamik aufrecht erhalten6. Entsprechendes gilt bei einem Verbandswechsel7 und im Falle eines Betriebsübergangs8. Unabhängig davon, welche gesetzlich abgesicherten Ansprüche dem Arbeitnehmer aufgrund der Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG oder aufgrund der Bestandssicherung durch § 613a Abs. 1 Satz 2 und 3 BGB zustehen, hat er in jedem Fall einen schuldrechtlichen Anspruch auf die sich dynamisch entwickelnden Arbeitsbedingungen des in Bezug genommenen TVs.
75
Neu vereinbarte kleine dynamische Bezugnahmeklauseln führen aufgrund der auch bei Wegfall der Tarifbindung weiterbestehenden Dynamik nun in der Regel zu einer „Ewigkeitsbindung“ an den in Bezug genommenen TV9. Das gilt auch für den unter Rz. 71 geschilderten Fall, in dem nach einem Betriebsübergang beim Erwerber zwar ein anderer TV gilt als beim Veräußerer, dieser aber mit derselben Gewerkschaft abgeschlossen wurde, die auch Vertragspartnerin des beim Veräußerer geltenden TV war. Während hier normativ nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB der neue – für die Arbeitnehmer möglicherweise ungünstigere – TV greift, behalten die übergeleiteten und durch „Neuklauseln“ geschützten Arbeitnehmer nicht nur ihre bisherigen Ansprüche, sondern können sogar deren Dynamisierung verlangen. Für den Erwerber, der anlässlich einer im Vorfeld eines Unternehmenskaufes durchgeführten „due diligence“ entsprechende Klauseln in den Arbeitsverträgen der Belegschaft feststellt, kann das Kaufobjekt damit allein aufgrund der arbeitsvertraglichen Gestaltung deutlich an Attrakti-
1 BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965 (968). 2 Thüsing, AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, Rz. 205 ff.; die Lösung über § 313 BGB wird teilweise (insbesondere für den Verbandswechsel und -austritt des Arbeitgebers) abgelehnt: Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 247; Giesen, NZA 2006, 625 (631). 3 BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965 (967). 4 BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 793/07, NZA 2009, 323 (326). 5 Vgl. hierzu BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364. 6 Bauer/Günther, NZA 2008, 6 (8). 7 HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 30c; Bauer/Günther, NZA 2008, 6 (9). 8 Vgl. BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 793/07, NZA 2009, 323; BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 396/08, NZA-RR 2010, 361 und BAG v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, NZA-RR 2010, 530; Bepler, RdA 2009, 65 ff. 9 So u.a. Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, B XXI 1c) bb) (1); Klebeck, NZA 2006, 15 (18).
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Erscheinungsformen
Rz. 78
Teil 10
vität verlieren. Er muss damit rechnen, dass eine Anpassung an das bei ihm geltende Tarifniveau nur mit erheblichen Schwierigkeiten erreichbar ist. Die potentiellen strategischen Maßnahmen, die ein Arbeitgeber zur Anpassung seines Tarifniveaus ergreifen kann, laufen damit bei einer Bindung durch kleine dynamische Neuklauseln weitgehend leer. Für die Beratungspraxis gilt: Bevor strategische Überlegungen (Verbandsaustritt, Verbandswechsel oder Umstrukturierung) angestellt werden, müssen zunächst die Bezugnahmeklauseln einer sorgfältigen Analyse unterzogen werden. Gegebenenfalls muss erst die Bezugnahmeklausel angepasst werden, bevor die genannten strategischen Überlegungen weiterverfolgt werden.
76
Eine Bezugnahmeklausel kann als „andere Abmachung“ i.S.d. § 4 Abs. 5 TVG bei den 77 Gewerkschaftsmitgliedern die auf tariflicher Ebene vorliegende Nachwirkung des bisherigen TVs beenden1. Andere Abmachungen im Sinne dieser Vorschrift können nach der Rechtsprechung des BAG unter engen Voraussetzungen auch vor dem Eintritt der Nachwirkung abgeschlossen werden (Einzelheiten bei Rz. 98)2. f) Tarifsukzession Kleine dynamische Bezugnahmeklauseln, die auf einen bestimmten TV (in der je- 78 weils gültigen Fassung) Bezug nehmen, können nach den dargelegten Grundsätzen (Rz. 69) prinzipiell nicht in eine Tarifwechselklausel umgedeutet werden3. Von einem Tarifwechsel aufgrund einer Änderung des unternehmerischen Schwerpunktes oder einem Verbandswechsel sind die Fälle der Tarifsukzession zu unterscheiden. Hierunter sind Konstellationen zu verstehen, in denen ein TV, auf den Bezug genommen wurde, nicht mehr weitergeführt und von den TV-Parteien durch einen anderen ersetzt wird4. Dies war insbesondere in den Jahren 2005/2006 der Fall, als der BundesangestelltenTV für den öffentlichen Dienst (BAT) auf Bundesebene durch den TV für den öffentlichen Dienst (TVöD) sowie auf Länderebene durch den TV für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) ersetzt wurde. Hingegen liegt kein Fall der Tarifsukzession vor, wenn im Rahmen eines Betriebsübergangs oder einer Abspaltung für die neue Gesellschaft HausTVe geschlossen werden5. Handelte es sich bei der vereinbarten Klausel um eine einfache kleine dynamische Bezugnahmeklausel, schied hier aufgrund des Wortlauts eine Auslegung als große dynamische Bezugnahmeklausel aus. Die entstandene Lücke kann aber im Sonderfall der Tarifsukzession durch ergänzende Vertragsauslegung geschlossen werden. Aufgrund der Dynamik der Klausel ist der Wille der Parteien dahingehend zu verstehen, dass die Arbeitsbedingungen dynamisch an der Tarifentwicklung auszurichten sind6. Unproblematisch war und ist ein
1 BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923 (924); ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 63. 2 BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 789/07, NZA 2009, 265 (267); BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 230/08, NZA-RR 2010, 591 (595); BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (60); s. hierzu Henssler, FS Picker, 2010, S. 987 (997). 3 BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 581/99, NZA 2001, 510 (511); BAG v. 16.2.2002 – 4 AZR 467/01, NZA 2003, 390 (392); Thüsing, AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, Rz. 205. 4 Vgl. Möller/Welkoborsky, NZA 2009, 1382 (1384). 5 BAG v. 16.11.2011 – 4 AZR 873/09, NZA 2012, 1000. 6 So die ständige Rspr. des BAG: BAG v. 19.5.2010 – 4 AZR 796/08, NZA 2010, 1183; BAG v. 25.8.2010 – 4 AZR 14/09, NZA-RR 2011, 248 (251); BAG v. 10.11.2010 – 5 AZR 633/09, NZA 2011, 655; BAG v. 6.7.2011 – 4 AZR 706/09, NZA 2012, 100; BAG v. 21.8.2013 – 5 AZR 581/11
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Teil 10 Rz. 79
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
ersetzender TV auch dann in Bezug genommen, wenn es sich um eine sog. erweiterte kleine dynamische Bezugnahmeklausel1 handelt, wie dies vielfach in den Arbeitsverträgen des öffentlichen Dienstes der Fall war, d.h. wenn auch auf einen den TV ersetzenden TV Bezug genommen wurde2. Einer großen dynamischen Bezugnahmeklausel (Tarifwechselklausel) bedurfte es somit in diesen Fällen nicht3. g) Konkurrenz von (allgemeinverbindlichem) Verbandstarifvertrag und Firmentarifvertrag? 79
Verweist eine kleine dynamische Bezugnahmeklausel allein auf einen VerbandsTV, so stellt sich in Sanierungsfällen das Problem, inwieweit durch solche Klauseln eine Änderung der Arbeitsbedingungen durch einen SanierungsTV in der Form eines FirmenTVs oder eines firmenbezogenen VerbandsTVs im Ergebnis unterlaufen werden kann. Bei streng wortlautgetreuer Auslegung behalten die Arbeitnehmer aufgrund der Inbezugnahme des VerbandsTVs ihre entsprechenden Ansprüche, so dass der FirmenTV entweder überhaupt nicht zu Anwendung kommt (Außenseiter) oder aber nach dem Günstigkeitsprinzip durch den schuldrechtlichen Anspruch verdrängt wird (kongruent gebundene Gewerkschaftsmitglieder). Die Rettung eines Unternehmens über einen SanierungsTV wäre nicht möglich4. Ein mit dem Arbeitgeber geschlossener FirmenTV wäre nur dann anwendbar, wenn die Klausel auch diesen in Bezug nimmt5.
80
Geklärt hat das BAG bislang nur die Sanierung aufgrund eines firmenbezogenen VerbandsTVs6. Das Gericht begründet die von ihm bejahte Einbeziehung auch dieses TVs mit dem Wortlaut der Klausel und stellt darüber hinaus auf den erkennbaren Sinn und Zweck der arbeitsvertraglichen Bezugnahme ab. Dieser liege darin, dass der Arbeitgeber die Anwendbarkeit der einschlägigen für ihn geltenden TVe auf die Arbeitsverhältnisse aller Beschäftigten erreichen wolle.
81
Die Einbeziehung von reinen FirmenTVen ist dagegen höchstrichterlich bislang nicht geklärt. Bei Altklauseln kommt es gemäß der Gleichstellungsfunktion aufgrund der Verdrängung des Verbandstarifs für die organisierten Arbeitnehmer auch für die Außenseiter zur Geltung des FirmenTVs. Bei Neuklauseln lässt sich die Einschätzung durch das BAG nur schwer prognostizieren. Überzeugend erscheint es, darauf abzustellen, wer Partner des TVs auf Gewerkschaftsseite ist. Ist der FirmenTV mit derselben Gewerkschaft geschlossen worden, so tritt er nach dem Willen der Gewerkschaft für den betreffenden Betrieb an die Stelle des VerbandsTVs. Haben die Parteien eine einfache kleine dynamische Klausel verwendet, die nur einen VerbandsTV in Be-
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NZA 2014, 271; BAG v. 25.2.2015 – 5 AZR 481/13, NZA 2015, 943 Rz. 18; Greiner, NZA 2009, 877 (879); zustimmend Henssler/Seidensticker, RdA 2011, 247 (248 ff.). Greiner, NZA 2009, 877 (878). BAG v. 22.4.2009 – 4 ABR 14/08, NZA 2009, 1286 (1289); Thüsing, AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, Rz. 209; Hümmerich/Reufels/Reufels, Rz. 1311; Fieberg, NZA 2005, 1226 (1227). A.A. Hümmerich/Mäßen, NZA 2005, 962 (965). Thüsing, AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, Rz. 207, Graf von Westphalen/Thüsing, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, Rz. 207. Bepler, AuR 2010, 234 (235). BAG v. 14.12.2005 – 10 AZR 296/05, NZA 2006, 744 (745); so auch Jacobs/Krause/Oetker/ Schubert/Oetker, § 6 Rz. 242; Hanau, NZA 2005, 489 (491 f.).
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Erscheinungsformen
Rz. 83
Teil 10
zug nimmt, so liegt ersichtlich eine Vertragslücke für den Fall der Sanierungsbedürftigkeit vor. Diese Lücke ist im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung durch Einbeziehung des FirmenTVs zu schließen. Denkt man die Vorstellungen der Parteien für den nicht bedachten Fall der Sanierung zu Ende, so kommt unter Redlichkeitsaspekten allein eine entsprechende Regelung in Betracht. Der Arbeitnehmer hätte sich nach Treu und Glauben auf eine entsprechende Ergänzung einlassen müssen. In allen übrigen Konstellationen, insbesondere bei Abschluss des SanierungsTVs mit einer anderen Gewerkschaft, ist im konkreten Einzelfall durch ergänzende Auslegung der Klausel zu klären, ob auch ein HausTV erfasst ist1. Für die Praxis ist dringend zu empfehlen, neben den durch die beteiligten Verbände und die Branche leicht zu kennzeichnenden FlächenTVen auch etwa abgeschlossene und abzuschließende FirmenTVe in Bezug zu nehmen, sofern nicht ohnehin der vorzugswürdige Weg über eine große dynamische Klausel gewählt wird. Selbst wenn die kleine dynamische Klausel FirmenTVe ausdrücklich mit einbezieht, 82 stellen sich dann Auslegungsschwierigkeiten, wenn ein allgemeinverbindlicher TV – tarifrechtlich zulässig – auf Zeit durch einen FirmensanierungsTV abgelöst wird2. Im Schrifttum wird überzeugend erwogen, § 5 Abs. 4 TVG im Wege einer teleologisch reduzierenden Auslegung als „gesetzliche Gleichstellungsregelung“ zu verstehen mit der Folge, dass die Anwendbarkeit des allgemeinverbindlichen TV für alle Arbeitnehmer einheitlich endet. Nach Auffassung von Bepler ist es Sinn und Zweck des § 5 Abs. 4 TVG, Außenseiter vor Beschäftigungen zu untertariflichen Bedingungen zu schützen und ihren sozialen Schutz auf das Niveau der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer anzuheben. Eine Besserstellung der nicht organisierten Arbeitnehmer bezwecke die Vorschrift dagegen nicht, vielmehr sei die Allgemeinverbindlicherklärung eine „gesetzliche Gleichstellungsregelung“3. Nach der Gegenansicht widerspricht die teleologische Reduktion des § 5 Abs. 4 TVG dem Gesetzeszweck des Arbeitnehmerschutzes. Die Norm verbiete gerade eine Schlechterstellung der Außenseiter gegenüber Gewerkschaftsmitgliedern. Ohne Bezugnahmeklausel würde aber anstelle des allgemeinverbindlichen TVs für die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer überhaupt kein TV gelten4. 3. Große dynamische Bezugnahmeklausel a) Grundlagen Die dritte Erscheinungsform ist diejenige der großen dynamischen Bezugnahmeklau- 83 sel. Sie nimmt im Unterschied zu der kleinen dynamischen Bezugnahmeklausel nicht nur einen bestimmten TV in seiner jeweils aktuellen Fassung in Bezug, sondern verweist auf den jeweils sachlich einschlägigen oder normativ gültigen TV in seiner jeweils geltenden Fassung5. Sie wirkt also doppelt, nämlich sowohl in inhaltlicher als
1 Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 206 Rz. 39. 2 Vgl. BAG v. 23.3.2005 – 4 AZR 203/04, BAGE 114, 186 = NZA 2005, 1003; Bepler, FS 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht, 2006, S. 791 (795 ff.); Krets, RdA 2011, 294. 3 Bepler, AuR 2010, 234 (237); Bepler, FS 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht, 2006, S. 791 (796). 4 Krets, RdA 2011, 294 (297 ff.). 5 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 36.
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Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
auch in zeitlicher Hinsicht, dynamisch1. Die Bezugnahme auf den jeweils gültigen TV in seiner jeweils gültigen Fassung führt grundsätzlich zur Anwendung jedes neu berufenen TVs2. Aufgrund dieser Dynamik ermöglicht sie als einzige Klausel den Tarifwechsel, wenn ein Betrieb – aus welchem Grund auch immer – aus dem Anwendungsbereich eines TVs herausfällt3. Sie wird aus diesem Grund mitunter auch als Tarifwechselklausel bezeichnet4 und ermöglicht dem Arbeitgeber die „Flucht“ aus einem TV5. Der Wille zur Vereinbarung einer großen dynamischen Bezugnahme muss sich eindeutig aus dem Wortlaut der Klausel oder aus besonderen, bei Vertragsschluss vorliegenden Umständen ergeben6. 84
Statische und insbesondere kleine dynamische Bezugnahmeklauseln, die auf einen bestimmten TV (in der jeweils gültigen Fassung) Bezug nehmen, können grundsätzlich nicht in eine Tarifwechselklausel umgedeutet werden und so zu einem Tarifwechsel führen (vgl. Rz. 69).
85
Zur Wirksamkeit großer dynamischer Bezugnahmeklauseln hat sich das BAG in seiner die Rechtsprechungskorrektur einleitenden Entscheidung vom 14.12.2005 nicht geäußert7. Nach der älteren Rechtsprechung des BAG war auch die große dynamische Bezugnahmeklausel grundsätzlich als Gleichstellungsabrede auszulegen8. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Klauseltypen besteht vor dem Hintergrund der Rechtsprechungsänderung darin, dass der Gleichstellungszweck von dieser Klausel schon durch ihre Formulierung stärker betont wird, als es bei der kleinen dynamischen Klausel der Fall ist9.
86
Große dynamische Klauseln sind AGB-rechtlich unbedenklich. Zwar sind an die Transparenz (§ 307 Abs. 1 BGB) von vorformulierten Klauseln hohe Anforderungen zu stellen10. Große dynamische Bezugnahmeklauseln entsprechen aber grundsätzlich einer im Arbeitsrecht gebräuchlichen Regelungstechnik. Die doppelte Dynamisierung (zeitlich und sachlich) dient wegen des Zukunftsbezugs des Arbeitsverhältnisses als Dauerschuldverhältnis grundsätzlich den Interessen beider Seiten11. Grundsätzlich können Tarifwechselklauseln auch nicht als Änderungsvorbehalte i.S.v. § 308 Nr. 4 BGB qualifiziert werden12. 1 2 3 4
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Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 18. Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, B XXI 1d). Zerres, NJW 2006, 3533 m.w.N. BAG v. 4.9.1996 – 4 AZR 135/95, NZA 1997, 271; BAG v. 25.10.2000 – 4 AZR 506/99, NZA 2002, 100; BAG v. 16.10.2002 – 4 AZR 467/01; NZA 2003, 390 (391); Berg/Kocher/Schumann/ Dierßen/Schoof, § 3 TVG Rz. 259; Hümmerich/Reufels/Reufels, Rz. 1310 f.; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 206 Rz. 30 f.; Thüsing/Braun/Thüsing, Kap. 8 Rz. 36; Jordan/Bissels, NZA 2010, 71. MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 178 Rz. 27; Thüsing/Braun/Thüsing, Kap. 8 Rz. 36. BAG v. 17.11.2010 – 4 AZR 391/09, NZA 2011, 356 (358); BAG v. 6.7.2011 – 4 AZR 706/09 Rz. 45. Sittard/Ulbrich, ZTR 2006, 458 (463); Jordan/Bissels, NZA 2010, 71 (72); a.A. Giesen, NZA 2006, 625 (626). Vgl. BAG v. 4.8.1999 – 5 AZR 642/98, NZA 2000, 154 (155). Henssler, FS Wißmann, 2005, S. 133 (138 f.). Vgl. BAG v. 19.12.2005 – 4 AZR 536/04, NZA 2006, 607. BAG v. 15.4.2008 – 9 AZR 159/07, NZA-RR 2008, 586 Rz. 78. BAG v. 21.11.2012 – 4 AZR 85/11, NZA 2013, 512 Rz. 43; aA Reinecke, BB 2006, 2637 (2645).
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Erscheinungsformen
Rz. 89
Teil 10
Völlig unproblematisch sind Tarifwechselklauseln jedenfalls, soweit mit ihnen ledig- 87 lich die Folgen eines Branchenwechsels des regelungsbetroffenen Betriebes nachgezeichnet werden. Die Bezugnahmeklausel verweist ja in diesem Fall nur auf den TV, der nach der Veränderung des Tätigkeitsschwerpunktes gerade für den konkreten Betrieb die Richtigkeitsgewähr für sich in Anspruch nehmen kann. Die Geltung des „passenden“ TVs ist für den Arbeitnehmer aber von vornherein weder überraschend noch inhaltlich unangemessen. Das gilt selbst dann, wenn der Branchenwechsel auf einer Ausgliederung des Betriebes beruht, da auch in diesem Fall lediglich die Arbeitsbedingungen an die aus Sicht der Tarifpartner angemessenen Arbeitsbedingungen angepasst werden. Im Ergebnis begegnet es aber auch keinen Bedenken, wenn über eine Tarifwechsel- 88 klausel bei gleichbleibender Branche ein Wechsel zu einem TV mit einer anderen Gewerkschaft angeordnet wird. Mit einem entsprechenden Wechsel muss ein Arbeitnehmer nach der in § 4a TVG verankerten Wertung des Gesetzgebers rechnen. Ändern sich die Mehrheitsverhältnisse in einem Betrieb, so wird den Belegschaftsmitgliedern danach sogar zugemutet, ihre tariflichen Ansprüche vollständig zu verlieren. Ihre Gewerkschaft hat zwar ein Recht auf Nachzeichnung der Bedingungen des Mehrheitstarifs, selbst dieses Nachzeichnungsrecht ist aber begrenzt, greift etwa nicht, wenn der Minderheitstarif erst nachträglich abgeschlossen wird1. Erst recht kann es damit kein schutzwürdiges Vertrauen geben, ohne Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft, dauerhafte Ansprüche auf einem bestimmten tariflichen Niveau der Arbeitsbedingungen zu erhalten. Der Arbeitnehmer muss generell damit rechnen, dass sein Arbeitgeber bzw. dessen Verband nicht nur mit DGB-Gewerkschaften kontrahiert. Berücksichtigt man, dass jede Gewerkschaft die strengen, vom BAG2 aufgestellten Anforderungen an die Tariffähigkeit erfüllen muss, lässt sich eine unterschiedliche Behandlung einzelner Gewerkschaften nicht rechtfertigen. b) Ausgestaltung als Gleichstellungsabrede Zwar wird die kleine dynamische Klausel als Neuklausel von der aktuellen Recht- 89 sprechung nicht mehr als Gleichstellungsabrede interpretiert, so dass der Anwendungsbereich solcher Abreden erheblich eingeschränkt worden ist (Rz. 74 ff.)3. Auf große dynamische Klauseln lässt sich diese Wertung indes nicht übertragen. Sie lassen sich vielmehr auch auf der Grundlage der aktuellen Rechtsprechung ohne weiteres als derartige Abrede ausgestalten4. Voraussetzung ist lediglich, dass sich der Zweck der Gleichstellung aus dem Wortlaut der Klausel und/oder den Begleitumständen bei Vertragsschluss5 mit hinreichender Deutlichkeit ergibt6. Aus der Klausel muss folglich unmissverständlich hervorgehen, dass die Dynamik nur so lange nachvoll-
1 HWK/Henssler, § 4a TVG Rz. 39 ff. 2 Vgl. u.a. BAG v. 14.12.2004 – 1 ABR 51/03, NZA 2005, 697 (700 f.); BAG v. 28.3.2006 – 1 ABR 58/04, NZA 2006, 1112 (1114); BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 88/09, NZA 2011, 300 (302). 3 Hümmerich/Reufels/Reufels, Rz. 1313. 4 Thüsing/Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 38; Hamacher, in: Moll, Münchener Anwaltshandbuch Arbeitsrecht, § 65 Rz. 87b m.w.N. 5 BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007 965 (967). 6 Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 18 f.; Hümmerich/Reufels/Reufels, Rz. 1351.
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Teil 10 Rz. 90
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
zogen werden soll, wie eine Tarifgebundenheit des Arbeitgebers besteht1, und dass es dem die Klausel verwendenden Arbeitgeber vorrangig darum geht, einheitliche Arbeitsbedingungen für tarifgebundene und nicht tarifgebundene Arbeitnehmer herzustellen (vgl. auch Rz. 60). Ist der Arbeitgeber nicht tarifgebunden, scheidet – ganz unabhängig vom Wortlaut – das Vorliegen einer Gleichstellungsabrede auch nach der Rechtsprechungsänderung des BAG von vornherein aus2. Je nach Tarifgebundenheit des Arbeitgebers ist daher auf eine optimale Gestaltung der Bezugnahmeklausel zu achten. c) Wirkung bei Verbandsaustritt, Herauswachsen und Betriebsübergang 90
Ändert sich die Tarifbindung des Arbeitgebers, so zeichnet die große dynamische Klausel diese Veränderung grundsätzlich nach. Die Wirkungen hängen im Einzelfall von der konkreten Ausgestaltung der Klausel ab. So ist denkbar, dass in der Klausel auf den „jeweils normativ bindenden TV“ verwiesen wird. Eine andere Klauselvariante verweist auf den bzw. die jeweils für den Betrieb „fachlich einschlägigen“ TVe. In der Kautelarpraxis sind vielfältige weitere Gestaltungen zu beobachten, deren Wirkung jeweils gesondert durch Auslegung zu ermitteln ist (zur Auslegungsfragen nach Inkrafttreten des Tarifeinheitsgesetzes vgl. bereits Rz. 32 f.).
91
Wird auf den „jeweils normativ bindenden TV“ verwiesen und fällt die Tarifbindung des Arbeitgebers (ersatzlos) weg, wie es insbesondere beim Verbandsaustritt nach Beendigung der Nachbindung gemäß § 3 Abs. 3 TVG der Fall ist, so sollte nach gefestigter Rechtsprechung die künftige Tarifentwicklung auch schuldrechtlich nicht mehr nachvollzogen werden3. Die normative Geltung setzt ersichtlich die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers voraus, so dass der Wortlaut eindeutig ist. Nur bei besonderen Umständen kann etwas anderes gelten. Im Falle eines Verbands- oder Branchenwechsels oder eines Betriebsübergangs auf einen tarifgebundenen Arbeitgeber ist davon auszugehen, dass die große dynamische Bezugnahmeklausel zu einem Tarifwechsel führt4.
92
Daran hat sich durch die Rechtsprechungskorrektur, die das BAG bei den kleinen dynamischen Klauseln vollzogen hat, nichts geändert5. Angesichts des von kleinen dynamischen Klauseln abweichenden Wortlauts stellt sich die Problematik nicht in vergleichbarer Form. Im Einzelfall ist auf die konkrete Formulierung abzustellen. Verweist die Klausel auf die „im Betrieb jeweils normativ geltenden Tarifbestimmungen in der jeweils gültigen Fassung“, so ist das Auslegungsergebnis eindeutig. Die Klausel begründet auch nach der geänderten Rechtsprechung bei Verbandsaustritt des Arbeitgebers keinen Anspruch auf die Teilhabe an den sich nach dem Ende der Nachwirkung gemäß § 3 Abs. 3 TVG ändernden TVen, da die Tarifbindung des Arbeitgebers von dem Wortlaut der Klausel unmissverständlich vorausgesetzt wird. Verweist die Klausel hingegen auf den „jeweils fachlich einschlägigen TV in seiner jeweils gültigen 1 BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965; so auch Hümmerich/Reufels/Reufels, Rz. 1331. 2 BAG v. 16.5.2012 – 4 AZR 321/10, AP Nr. 431 zu § 613a BGB für unternehmensfremde HausTV. 3 BAG v. 16.10.2002 – 4 AZR 467/01, NZA 2003, 390. 4 Jordan/Bissels, NZA 2010, 71 (72). 5 Vgl. zur Problematik Sittard/Ulbrich, ZTR 2006, 458 (463).
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Erscheinungsformen
Rz. 95
Teil 10
Fassung“, kommt zwar eine dauerhafte dynamische Bindung an den einschlägigen TV über § 3 Abs. 3 TVG hinaus in Betracht1. Anders als bei den kleinen dynamischen Klauseln besteht aber nicht die Gefahr der dauerhaften Bindung an ein nicht mehr auf den Betrieb zugeschnittenes Tarifsystem. Einschlägig ist immer nur dasjenige Tarifrecht, das dem Tätigkeitsschwerpunkt des Betriebes entspricht. Aus Sicht der Arbeitgeber ist die große dynamische Klausel daher uneingeschränkt vorzugswürdig. Ebenso verhält es sich bei einem Betriebs(teil)übergang. Über § 613a Abs. 1 Satz 1 93 BGB findet sowohl für tarifgebundene als auch für nicht tarifgebundene Arbeitnehmer der bei dem Erwerber anwendbare TV Anwendung2. Ähnlich wie beim Verbandsaustritt ist auch insoweit der genaue Wortlaut der Klausel zu beachten3. Die individualvertraglich vereinbarte Bezugnahmeklauseln geht gemäß § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB in das Arbeitsverhältnis zum Erwerber über. Stellt die Klausel auf den normativ geltenden TV ab, so greift der TV nur, wenn der Erwerber selbst tarifgebunden ist. Bei einer Bezugnahme auf den fachlich einschlägigen TV greift dagegen dasjenige Tarifniveau, das dem Tätigkeitsschwerpunkt des Erwerberbetriebs bzw. bei unternehmensbezogenen TVen dem Schwerpunkt des Unternehmens entspricht. Im Übrigen kommt es auf die Organisation des Arbeitnehmers an. Für Außenseiter 94 bleibt es bei den geschilderten Grundsätzen, da sie von vornherein nur einen schuldrechtlichen Anspruch hatten, so dass für sie auch nur § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB greift. Für Gewerkschaftsmitglieder gilt dagegen der VeräußererTV bei fehlender Tarifbindung des Erwerbers (zusätzlich) gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fort4. Ist dieses Niveau günstiger, verdrängt es insoweit das schuldrechtlich in Bezug genommene Tarifrecht. Ist jedoch auch der Erwerber seinerseits tarifgebunden, so greift nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB der bei ihm geltende TV und zwar selbst dann, wenn dessen Regelungen für den Arbeitnehmer ungünstiger sind als die Regelungen des beim Veräußerer geltenden TVs. § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB schützt den Vorrang des Vereinheitlichungsinteresses des Erwerbers5. Die Vorschrift eröffnet damit erhebliche Gestaltungsspielräume im Rahmen von Unternehmensumstrukturierungen, weil das Tarifniveau als Folge des Betriebsübergangs sofort abgesenkt werden kann, ohne dass ein Bestandsschutz zugunsten der Arbeitnehmer zum Tragen kommt. Ihre Rechtfertigung hat diese Regelung in dem Umstand, dass der Erwerber diesen TV ja nicht beliebig nach seinen Wünschen gestalten kann, sondern dass es sich um jenen TV handelt, der eben für den Betrieb bzw. das Unternehmen des Erwerbers die tarifliche Richtigkeitsgewähr für sich in Anspruch nehmen kann und der aus der Sicht der tarifzuständigen Gewerkschaft angemessene Arbeitsbedingungen für den Erwerberbetrieb enthält. Die Verdrängung des beim Veräußerer geltenden und gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB 95 transformierten TVs durch den Erwerbertarif setzt allerdings eine kongruente Tarifbindung voraus6. Sie greift also nur dann, wenn der beim Erwerber einschlägige TV mit derselben Gewerkschaft geschlossen wurde, die auch den beim Veräußerer geltenden TV vereinbart hat oder wenn der Arbeitnehmer den Tarifwechsel durch Über1 2 3 4 5 6
Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, B XXI 1d). Thüsing/Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 70. Vgl. Jacobs, BB 2011, 2037 (2040). Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 255. Vgl. BAG v. 20.4.1994 – 4 AZR 342/93, NZA 1994, 1140 (1142). BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 581/99, NZA 2001, 510 (511).
Henssler
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Teil 10 Rz. 96
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
tritt in die für den Erwerber zuständige Gewerkschaft herbeiführt.1 Die normative Geltung des Erwerbertarifs kann bei großen dynamischen Klauseln typischerweise nicht nach dem Günstigkeitsprinzip durch den in Bezug genommenen TV verdrängt werden. Denn diese Klausel verweist ja auf eben jenen TV, der normativ beim Erwerber aufgrund dessen Tarifbindung gilt. Dabei spielt es im Ergebnis keine Rolle, ob die Verweisungsklausel den „normativ geltenden“ oder den „für den Betrieb einschlägigen“ TV in Bezug nimmt. Die Klausel richtet sich in jedem Fall nicht auf den Veräußerertarif, sondern auf den Erwerbertarif. 96
Umstritten ist, ob die große dynamische Bezugnahmeklausel im Fall der Geltung von § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB, also bei fehlender kongruenter Bindung an den Erwerbertarif, als „Vereinbarung“ im Sinne des § 613a Abs. 1 Satz 4 BGB qualifiziert werden kann, die geeignet ist, die Weitergeltung des transformierten Tarifrechts zu beseitigen2. Grundsätzlich wird man davon ausgehen müssen, dass eine Vereinbarung im Sinne des § 613a Abs. 1 Satz 4 BGB auch schon vor dem Betriebsübergang vereinbart werden kann3, wie dies auch bei einer Abmachung im Sinne von § 4 Abs. 5 TVG der Fall ist4. Die Formulierung „vereinbart wird“ ist nicht zwingend in zeitlicher Hinsicht als Futur zu verstehen5, sondern als Passiv in dem Sinne, dass irgendwann eine entsprechende Vereinbarung getroffen „wird“. Nach dem maßgeblichen Normzweck des § 613a Abs. 2 Satz 4 BGB ist ausschlaggebend, dass die Klausel die schutzbedürftigen Interessen des Arbeitnehmers dadurch wahrt, dass sie nur auf jenen TV (in seiner Gesamtheit) verweist, der gerade für den betreffenden Betrieb, in dem der Arbeitnehmer tätig ist, die Richtigkeitsgewähr für sich in Anspruch nehmen kann6. Dem Arbeitnehmer wird damit in vollem Umfang der tarifliche Schutz gewährt, so dass das Interesse des Erwerbers an einheitlichen Arbeitsbedingungen Vorrang genießt.
97
Über die große dynamische Klausel gelangen danach auch für die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer abweichend von § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB sofort nach dem Betriebsübergang die beim Erwerber geltenden Tarifbedingungen zur Anwendung, wenn dieser selbst tarifgebunden ist. Bei fehlender Tarifbindung des Arbeitgebers kommt es auf den Klauselwortlaut an. Verlangt dieser die normative Geltung des TVs, so läuft die Klausel ins Leere. Es bleibt dann für die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer bei der Geltung des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB. Eine unbedingt zeitdynamische Wirkung kann der Klausel nur zugesprochen werden, wenn sie auf den fachlich einschlägigen TV verweist7. Auch für diesen Fall liegt freilich bislang keine abschließende Klärung durch das BAG vor. Legt das Gericht auch bei der Aus1 Vgl. HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a Rz. 268. 2 Für die Anwendbarkeit der § 613a Abs. 1 Satz 4 BGB: Annuß, ZfA 2005, 405 (456); Bauer/Günther, NZA 2008, 6 (11); Hanau, NZA 2005, 489 (492); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 30b; HWK/ Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 280b; Jacobs, NZA-Beilage 2009, 45 (51); Meyer, NZA 2003, 1126 (1129); Staudinger/Annuß, (2011) § 613a BGB Rz. 240; Thüsing/Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 71; gegen die Anwendbarkeit: Fuchs/Reichold, Tarifvertragsrecht, § 3 TVG, Rz. 210; Schliemann, NZA-Beilage 2003, 3 (11). 3 Ebenso HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 279. 4 HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 30b; ebenso Thüsing/Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 71. 5 Vgl. zum parallel gelagerten Problem bei § 4 Abs. 5 TVG: BAG v. 23.2.2005 – 4 AZR 186/04, DB 2005, 2305 (2307). 6 Vgl. HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 283; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 122; Staudinger/Annuß, (2011) § 613a BGB Rz. 235. 7 Unklar Thüsing/Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 72.
898 Henssler
Erscheinungsformen
Rz. 99
Teil 10
legung des § 613a Abs. 1 Satz 4 BGB die gleichen strengen Maßstäbe an, die es zu der parallel gelagerten Problematik des § 4 Abs. 5 TVG entwickelt hat (vgl. Rz. 98; Teil 9 Rz. 54 ff.), dürfte die Verdrängung nur ausnahmsweise, nämlich nur dann in Betracht kommen, wenn die Bezugnahmeklausel unmittelbar vor dem Betriebsübergang speziell mit Blick auf die dann geltende Situation vereinbart wurde. Der Verbandswechsel des Arbeitgebers bereitet bei großen dynamischen Bezugnah- 98 meklauseln in der Regel keine Probleme, da die Verweisung in diesem Fall den neuen TV erfasst1. Weil die individualvertragliche Verweisung regelmäßig in allen Arbeitsverträgen, also auch in denen der tarifgebundenen Arbeitnehmer enthalten ist, bleibt klärungsbedürftig allein, ob diese Vertragsklausel aufgrund ihres neuen Inhalts als ablösende Abmachung i.S.d. § 4 Abs. 5 TVG die Nachwirkung der bisherigen Tarifbestimmungen bei jenen Arbeitnehmern verhindern kann, die zwar der bislang zuständigen Gewerkschaft angehörten, nicht jedoch derjenigen, die den nunmehr einschlägigen TV abgeschlossen hat. Die so organisierten Arbeitnehmer sind ja nunmehr zu Außenseitern geworden. Brisant ist dies, weil es dadurch zu einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen kommen könnte. Mittlerweile bejaht das BAG zwar die Möglichkeit der Vereinbarung einer „anderen Abmachung“ vor Ablauf des TVs2. Die Absprache muss aber die Nachwirkung eindeutig ausschließen und spezifisch auf den Nachwirkungszeitraum gerichtet sein. Außerdem muss das Ende der Tarifbindung nicht nur absehbar sein, sondern sogar „unmittelbar bevorstehen“3. Diese Voraussetzungen werden bei Bezugnahmeklauseln nicht erfüllt sein.
III. Teil- und Einzelverweisung Der Darstellung der bisherigen Erscheinungsformen der Bezugnahmeklausel lag die 99 Annahme zugrunde, dass ein TV in seiner Gesamtheit in Bezug genommen wird, es sich also um eine Globalverweisung handelt4. Eine vertragliche Verweisung kann sich jedoch auch auf Teile, also auf bestimmte Normenkomplexe eines TVs (etwa die Urlaubsregelung) oder auf einzelne Vorschriften eines TVs, beschränken5. Grundsätzlich besteht insoweit Vertragsfreiheit6. Zwar lässt sich die Gefahr nicht leugnen, dass der Klauselverwender, also der Arbeitgeber, sich die für ihn günstigen Regeln aus einem Gesamtwerk „herauspickt“, so dass der in sich abgewogene TV auseinander gerissen wird7. Das schließt aber nicht die Bezugnahmemöglichkeit als solche aus. Der Gefahr kann angemessen dadurch begegnet werden, dass solche Teilverweisungen, 1 HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 30c; Thüsing/Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 66. 2 BAG v. 23.2.2005 – 4 AZR 186/04, NZA 2005, 1320; BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923 (925); BAG v. 3.4.2007 – 9 AZR 867/06, NZA 2007, 1045 (1047); BAG v. 22.10.2008 – 4 ABR 789/07, NZA 2009, 265 (267). 3 BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 789/07, NZA 2009, 265 (267). 4 Preis, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 81 f. 5 BAG v. 17.11.1998 – 9 AZR 584/97, NZA 1999, 938 (939); Preis, Der Arbeitsvertrag, II V Rz. 23; BAG v. 29.7.1986 – 3 AZR 71/85, AP Nr. 16 zu § 1 BetrAVG – Zusatzversorgungskassen; BAG v. 19.1.1999 – 1 AZR 606/98, NZA 1999, 879 (881). Krit. zur Einzelverweisung jedoch Kempen/ Zachert/Stein, § 3 TVG Rz. 173 ff.; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 236. 6 BAG v. 19.1.1999 – 1 AZR 606/98, NZA 1999, 879 (881); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 739; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 523; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 314; Jakobs/Krause/Oetker/Oetker, § 6 Rz. 238. 7 Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 236 f.; ähnlich auch Kempen/Zachert/Stein, § 3 TVG Rz. 173.
Henssler
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Teil 10 Rz. 100
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
wenn sie nicht in sich abgeschlossene Teile eines TVs in Bezug nehmen, nicht an der Privilegierung durch § 310 Abs. 4 Satz 3 BGB partizipieren. Sie sind vielmehr uneingeschränkt der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle unterworfen (vgl. Rz. 37). 100 Auch bei der Teil- und Einzelverweisung ist das von den Parteien Gewollte durch Auslegung gemäß §§ 133, 157 BGB zu ermitteln1. Lautet die Bezugnahmeklausel „Der Jahresurlaub richtet sich nach den Bestimmungen des (einschlägigen) Tarifvertrages“2 oder „Der Urlaub richtet sich nach den einschlägigen tariflichen Regelungen“3, so muss folglich durch Auslegung ermittelt werden, welche Vorschriften des TVs konkret in Bezug genommen werden. Nach der Rechtsprechung des BAG muss der Arbeitnehmer eine solche Formulierung regelmäßig als Inbezugnahme des gesamten Regelungskomplexes „Urlaub“ verstehen. Dies gilt auch dann, wenn die entsprechenden tarifvertraglichen Regelungen, bspw. bezüglich Urlaubsdauer, Urlaubsentgelt oder zusätzlichem Urlaubsgeld, auf mehrere tarifvertragliche Bestimmungen verteilt sind, denn Anknüpfungspunkt ist für alle diese Regelungen die Gewährung von Urlaub4. Die Unklarheitenregel gemäß § 305c Abs. 2 BGB ist nach dieser Rechtsprechung auf solche Bezugnahmeklauseln nicht anwendbar, da sie hinreichend klar sind. Dem steht nicht entgegen, dass eine Bezugnahmeklausel auch die Begrenzung einzelner Regelungen, wie z.B. die Begrenzung der Urlaubsdauer, beinhalten kann5. 101 Bezieht sich die Klausel allein auf bestimmte tarifliche Regelungen, so müssen besondere Umstände hinzutreten, um die Anwendung eines gesamten TVs (oder auch nur mehrerer Vorschriften) zu rechtfertigen6. Es ist also hier regelmäßig davon auszugehen, dass nur die einzelnen Regelungen gelten sollen7. Dies kann bspw. bei betrieblicher Übung der Fall sein8. 102 Aus AGB-rechtlicher Sicht besteht bei Einzelverweisungen auf einen TV die Besonderheit, dass in diesem Fall § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB nicht eingreift9. Keiner Angemessenheitskontrolle unterliegen jedoch Bezugnahmeklauseln, die auf einzelne, in sich geschlossene Komplexe eines TVs verweisen10 (vgl. ausführlich Rz. 43 ff.).
D. Bezugnahme kraft betrieblicher Übung Literatur: Betz, Die Inbezugnahme tarifvertraglicher Regelungen im Wege der betrieblichen Übung, BB 2010, 2045; Hanau, Objektive Elemente im Tatbestand der Willenserklärung, AcP 165 (1965), 220; Hanau/Kania, Die Bezugnahme auf Tarifverträge durch Arbeitsvertrag und betriebliche Übung, in: Festschrift Schaub, 1998, S. 239; Henssler, Tarifbindung durch betriebliche Übung, in: Festschrift 50 Jahre BAG, 2004, S. 683; Hromadka, Die betriebliche Übung: Vertrau-
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BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923 (926). BAG v. 17.11.1998 – 9 AZR 584/97, NZA 1999, 938 (939). BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923. BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923 (926). BAG v. 17.11.1998 – 9 AZR 584/97, NZA 1999, 938 (939). BAG v. 23.2.1988 – 3 AZR 300/86, NZA 1988, 614 (615). Jacobs/Krause/Oetker/Schubert/Oetker, § 6 Rz. 238. Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 321. BAG v. 6.5.2009 – 10 AZR 390/08, NZA-RR 2009, 593 (594). HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 18; Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, A II 3b).
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Teil 10 Rz. 100
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
wenn sie nicht in sich abgeschlossene Teile eines TVs in Bezug nehmen, nicht an der Privilegierung durch § 310 Abs. 4 Satz 3 BGB partizipieren. Sie sind vielmehr uneingeschränkt der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle unterworfen (vgl. Rz. 37). 100 Auch bei der Teil- und Einzelverweisung ist das von den Parteien Gewollte durch Auslegung gemäß §§ 133, 157 BGB zu ermitteln1. Lautet die Bezugnahmeklausel „Der Jahresurlaub richtet sich nach den Bestimmungen des (einschlägigen) Tarifvertrages“2 oder „Der Urlaub richtet sich nach den einschlägigen tariflichen Regelungen“3, so muss folglich durch Auslegung ermittelt werden, welche Vorschriften des TVs konkret in Bezug genommen werden. Nach der Rechtsprechung des BAG muss der Arbeitnehmer eine solche Formulierung regelmäßig als Inbezugnahme des gesamten Regelungskomplexes „Urlaub“ verstehen. Dies gilt auch dann, wenn die entsprechenden tarifvertraglichen Regelungen, bspw. bezüglich Urlaubsdauer, Urlaubsentgelt oder zusätzlichem Urlaubsgeld, auf mehrere tarifvertragliche Bestimmungen verteilt sind, denn Anknüpfungspunkt ist für alle diese Regelungen die Gewährung von Urlaub4. Die Unklarheitenregel gemäß § 305c Abs. 2 BGB ist nach dieser Rechtsprechung auf solche Bezugnahmeklauseln nicht anwendbar, da sie hinreichend klar sind. Dem steht nicht entgegen, dass eine Bezugnahmeklausel auch die Begrenzung einzelner Regelungen, wie z.B. die Begrenzung der Urlaubsdauer, beinhalten kann5. 101 Bezieht sich die Klausel allein auf bestimmte tarifliche Regelungen, so müssen besondere Umstände hinzutreten, um die Anwendung eines gesamten TVs (oder auch nur mehrerer Vorschriften) zu rechtfertigen6. Es ist also hier regelmäßig davon auszugehen, dass nur die einzelnen Regelungen gelten sollen7. Dies kann bspw. bei betrieblicher Übung der Fall sein8. 102 Aus AGB-rechtlicher Sicht besteht bei Einzelverweisungen auf einen TV die Besonderheit, dass in diesem Fall § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB nicht eingreift9. Keiner Angemessenheitskontrolle unterliegen jedoch Bezugnahmeklauseln, die auf einzelne, in sich geschlossene Komplexe eines TVs verweisen10 (vgl. ausführlich Rz. 43 ff.).
D. Bezugnahme kraft betrieblicher Übung Literatur: Betz, Die Inbezugnahme tarifvertraglicher Regelungen im Wege der betrieblichen Übung, BB 2010, 2045; Hanau, Objektive Elemente im Tatbestand der Willenserklärung, AcP 165 (1965), 220; Hanau/Kania, Die Bezugnahme auf Tarifverträge durch Arbeitsvertrag und betriebliche Übung, in: Festschrift Schaub, 1998, S. 239; Henssler, Tarifbindung durch betriebliche Übung, in: Festschrift 50 Jahre BAG, 2004, S. 683; Hromadka, Die betriebliche Übung: Vertrau-
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BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923 (926). BAG v. 17.11.1998 – 9 AZR 584/97, NZA 1999, 938 (939). BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923. BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923 (926). BAG v. 17.11.1998 – 9 AZR 584/97, NZA 1999, 938 (939). BAG v. 23.2.1988 – 3 AZR 300/86, NZA 1988, 614 (615). Jacobs/Krause/Oetker/Schubert/Oetker, § 6 Rz. 238. Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 321. BAG v. 6.5.2009 – 10 AZR 390/08, NZA-RR 2009, 593 (594). HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 18; Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, A II 3b).
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Bezugnahme kraft betrieblicher bung
Rz. 104 Teil 10
ensschutz im Gewande eines Vertrags – Widerrufsrecht statt Anfechtung, NZA 2011, 165; Picker, Die betriebliche Übung, 2011; Sutschet, Bezugnahmeklausel kraft betrieblicher Übung, NZA 2008, 679.
Nach gefestigter Rechtsprechung des BAG1 kann die Anwendung tariflicher Regelun- 103 gen Gegenstand einer betrieblichen Übung sein. In der Praxis sind aufgrund des gewachsenen Problembewusstseins der Arbeitgeber solche Fälle zwar nicht häufig. Sie bilden aber ein durchaus bekanntes arbeitsrechtliches Phänomen. So kommt es weiterhin vor, dass Arbeitgeber in die vertraglichen Absprachen keine ausdrückliche Bezugnahme auf TVe aufnehmen, sondern schlicht „nach Tarif“ bezahlen2. Praktisch bedeutsam sind ferner Konstellationen, in denen zwar der Arbeitsvertrag ausdrücklich auf einen bestimmten TV Bezug nimmt, die tatsächliche Handhabung aber von dieser Vereinbarung abweicht. So kann etwa der Arbeitgeber nur eine statische Bezugnahme auf einen bestimmten TV vereinbart, gleichwohl aber in der Folgezeit auch nachträgliche Tariflohnerhöhungen an seine Mitarbeiter weitergegeben haben. Da die arbeitsvertragliche Bezugnahme auf einen TV formlos möglich ist (vgl. Rz. 12 ff.) und auch konkludent erfolgen kann, ist heute allgemein anerkannt, dass die Anwendung von Tarifnormen auf ein Individualarbeitsverhältnis mittels einer Bezugnahme kraft betrieblicher Übung möglich ist3.
I. Dogmatische Grundlagen der betrieblichen Übung Die dogmatische Grundlage der betrieblichen Übung ist bis heute umstritten. Das 104 BAG leitet die anspruchsbegründende Wirkung der betrieblichen Übung aus dem allgemeinen Vertragsrecht des BGB ab4. Aus der regelmäßigen Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers könne der Arbeitnehmer schließen, dass ihm eine Leistung oder Vergünstigung auf Dauer eingeräumt werden solle. Das als Vertragsangebot zu wertende Verhalten des Arbeitgebers werde von den Arbeitnehmern i.d.R. stillschweigend angenommen (§ 151 BGB). Maßgeblich sei nicht der subjektive Verpflichtungswille des Arbeitgebers, sondern wie der Erklärungsempfänger das Verhalten des Arbeitgebers nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung aller Begleitumstände (§§ 133, 157 BGB) verstehen musste und durfte5. Die aktuelle
1 BAG v. 21.11.2012 – 4 AZR 27/11, NZA-RR 2014, 545 Rz. 34 m.w.N.; BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 268/09, AP Nr. 101 zu § 77 BetrVG 1972 Rz. 56. 2 Vgl. auch Hanau/Kania, FS Schaub, 1998, S. 239 (258); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 17 II 2; § 17 II 6. 3 BAG v. 11.8.1988 – 2 AZR 53/88, NZA 1989, 595; BAG v. 19.1.1999 – 1 AZR 606/98, RdA 2000, 173; BAG v. 21.11.2012 – 4 AZR 27/11, NZA-RR 2014, 545 Rz. 34 m.w.N.; Hanau/Kania, FS Schaub, 1998, S. 239 (258 ff.); Staudinger/Richardi/Fischinger, (2016) § 611 BGB Rz. 989; Sutschet, NZA 2008, 679 (683); Thüsing/Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 11; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 296. 4 Vgl. zur Entwicklung der Vertragstheorie in der Rechtsprechung des BAG Picker, Die betriebliche Übung, 2011, S. 35 ff.; zu aktuellen Tendenzen Pauly, AuR 2013, 249; Schneider, DB 2011, 2718 ff.; Wank, NZA-Beilage 2011, 126; Willemsen, FS Wank, Moderne Arbeitswelt, 2014, S. 657 f. 5 Ständige Rechtsprechung, vgl. BAG v. 16.1.2002 – 5 AZR 715/00, NZA 2002, 632; BAG v. 16.9.1998 – 5 AZR 598/97, NZA 1999, 203; BAG v. 13.12.2000 – 5 AZR 381/99; BAG v. 4.5.1999 – 10 AZR 290/98, NZA 1999, 1162; BAG v. 19.6.2001 – 1 AZR 597/00.
Henssler
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Teil 10 Rz. 105
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
Rechtsprechung verzichtet vollständig auf das Erfordernis eines Verpflichtungswillens1. 105 Ob eine für den Arbeitgeber bindende betriebliche Übung aufgrund der Gewährung von Leistungen an seine Arbeitnehmer entstanden ist, wird allein danach beurteilt, „inwieweit die Arbeitnehmer aus dem Verhalten des Arbeitgebers unter Berücksichtigung von Treu und Glauben sowie der Verkehrssitte (§ 242 BGB) und der Begleitumstände auf einen Bindungswillen des Arbeitgebers schließen durften (…)“2. Damit stellt sich das BAG in Widerspruch zur allgemeinen zivilrechtlichen Doktrin, nach der bei fehlendem Verpflichtungs- bzw. Rechtsbindungswillen zwar eine wirksame Willenserklärung angenommen, diese aber stets der Anfechtung nach § 119 Abs. 1 BGB ausgesetzt wird3. Die zur Wahrung der Privatautonomie des Erklärenden unverzichtbare Anfechtung erlauben Arbeitsrechtswissenschaft4 und Rechtsprechung5 indes bei der betrieblichen Übung nicht. 106 Die im Schrifttum vertretenen Gegenansichten gehen teilweise entweder davon aus, dass in den Fällen der betrieblichen Übung ein Vertrauenstatbestand des Arbeitnehmers entstehe und dass ein einseitiger Bruch mit der entstandenen Übung als § 242 BGB verletzendes, widersprüchliches Verhalten qualifiziert werden müsse6. Andere Stimmen ordnen die betriebliche Übung als durch richterliche Rechtsfortbildung geschaffenes, eigenständiges arbeitsrechtliches Rechtsinstitut ein, dessen Ursprung in der Rechtsgeschäftslehre liege7. Bei allen Kontroversen um ihre dogmatische Konstruktion sind allerdings die Rechtsfolgen der betrieblichen Übung in Rechtsprechung und Schrifttum im Wesentlichen unbestritten, sodass sie heute als anerkannt gelten kann.
II. Entstehung der Tarifbindung durch betriebliche Übung 1. Regelmäßig wiederkehrendes, gleichförmiges Arbeitgeberverhalten 107 Der Sonderfall der Tarifbindung durch betriebliche Übung dürfte einer der Bereiche dieses Rechtsinstitutes sein, bei dem die größten Unklarheiten bestehen. Sie betreffen sowohl die Entstehung als auch die Rechtsfolgen des wiederkehrenden Verhaltens. Die anfängliche Zurückhaltung, die das BAG gegenüber einer Einbeziehung ta-
1 Vgl. nur die Entwicklung in BAG v. 5.2.1971 – 3 AZR 28/70, NJW 1971, 1422 bis hin zu BAG v. 16.9.1998 – 5 AZR 598/97, NZA 1999, 203; BAG v. 4.5.1999 – 10 AZR 290/98, NZA 1999, 1162; BAG v. 16.1.2002 – 5 AZR 715/00, NZA 2002, 632; vgl. auch Hromadka, NZA 2011, 65 (67). 2 BAG v. 4.5.1999 – 10 AZR 290/98, NZA 1999, 1162; BAG v. 16.9.1998 – 5 AZR 598/97, NZA 1999, 203. 3 BGH v. 7.6.1984 – IX ZR 66/83, NJW 1984, 2279 (2280); Soergel/Hefermehl, Vor § 116 BGB Rz. 14. 4 Backhaus, AuR 1983, 65 (71 f.); Hromadka, Anm. zu BAG v. 30.10.1984, AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVG – Betriebliche Übung. 5 Vgl. etwa BAG v. 3.4.1957 – 4 AZR 270/54, AP Nr. 6 zu § 611 BGB – Gratifikation. 6 Canaris, Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971, S. 387 ff.; Hanau, AcP 165 (1965), 221 (260 f.); Hromadka, NZA 1984, 241 (244 f.); Singer, ZfA 1993, 487 (497). 7 Henssler, FS 50 Jahre BAG, S. 683 (691).
902 Henssler
Bezugnahme kraft betrieblicher bung
Rz. 108 Teil 10
riflicher Inhalte über eine betriebliche Übung gezeigt hatte1, ist schon vor Jahrzehnten aufgegeben worden2. Für die inzwischen gefestigte Rechtsprechung des BAG stellt die Tarifbindung kraft betrieblicher Übung einen unselbständigen Unterfall der Anwendbarkeit von tarifvertraglichen Regelungen aufgrund stillschweigender Bezugnahme dar3. Die Bezugnahme auf TVe könne entweder ausdrücklich oder aber durch betriebliche Übung erfolgen4. Die Zulässigkeit einer schuldrechtlichen Tarifbindung durch betriebliche Übung wird auch im Schrifttum nahezu einhellig bejaht5. Im Falle der Einbeziehung eines TVs mittels betrieblicher Übung liegt das die Bin- 108 dung auslösende regelmäßig wiederkehrende, gleichförmige Verhalten6 darin, dass der Arbeitgeber die Bestimmungen des TVs ganz oder teilweise – etwa beschränkt auf die Regelungen von Lohn und Arbeitszeit – anwendet. Eine feste Regel, ab welcher Anzahl von Wiederholungen ein Arbeitnehmer auf die Fortgewährung der Leistungen schließen darf, wurde bislang nicht einmal ansatzweise entwickelt. Die Faustregel, die das BAG für jährliche Sonderzuwendungen, wie etwa Weihnachtsgratifikationen, entwickelt hat, bei denen eine dreimalige vorbehaltlose Gewährung zu einer betrieblichen Übung führt7, ist auf tarifliche Leistungen nicht übertragbar8. Zu beachten ist allerdings, dass nach der aktuellen Rechtsprechung bei der Zahlung von Sondervergütungen schon nach der dreimaligen Leistung in unterschiedlicher Höhe eine betriebliche Übung entstehen kann9. Hinsichtlich der Bindung an TVe ist eine Einzelfallbewertung unverzichtbar, die unter anderem auf die Art, Dauer und Intensität der Leistungen abstellt10. Dass der Arbeitgeber drei Monate lang einzelne tarifliche Ansprüche gewährt, ohne dies näher zu erläutern, genügt nicht, da hieraus nicht auf einen künftigen Bindungswillen geschlossen werden kann. Sachgerecht erscheint es, frühestens ab einem Zeitraum von sechs Monaten kontinuierlicher Anwendung eines TVs eine für die Zukunft bindende Übung zu bejahen. Das BAG legt eine zurückhaltende Betrachtungsweise an den Tag. Die nicht vorhersehbare Dynamik der Lohnentwicklung und die hierdurch verursachten Personalkosten sprächen grundsätzlich gegen einen rechtsgeschäftlichen Willen des Arbeitgebers für eine dauerhafte Entgeltanhebung entsprechend der Tarifentwicklung. Regelmäßigen, der Tarifentwicklung entsprechende Lohnerhöhungen in der Vergangenheit allein könnte kein Erklärungs1 BAG v. 6.6.1958 – 1 AZR 515/57, NJW 1958, 1843; BAG v. 1.3.1972 – 4 AZR 200/71, NJW 1978, 1248; BAG v. 31.5.1972 – 4 AZR 309/71, AP Nr. 16 zu § 611 BGB – Bergbau. 2 BAG v. 11.8.1988 – 2 AZR 53/88, NZA 1989, 595, unter II 3 c) cc) der Gründe. 3 Oetker sieht den Unterschied allein im quantitativen Bereich: Anm. zu BAG AP Nr. 9 zu § 1 TVG – Bezugnahme auf TV. 4 BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 268/09, AP Nr. 101 zu § 77 BetrVG 1972 Rz. 56 f.; BAG v. 17.4.2002 – 5 AZR 89/01, NZA 2002, 1096; BAG v. 19.1.1999 1 – AZR 606/98, NZA 1999, 879. 5 Etzel, NZA Beilage 1/1987, 19; Gaul, ZTR 1991, 188; Hanau/Kania, FS Schaub, 1998, S. 239 (258 ff.); Sutschet, NZA 2008, 679 (683); Thüsing/Lambrich, NZA 2002, 1361 (1367); Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 345; ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 228; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 19; Kempen/Zachert/Brecht-Heitzmann, § 3 TVG Rz. 271; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 528; Thüsing/Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 80; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 296; Schaub/Treber, ArbR-Hdb, § 206 Rz. 16; Stein, Tarifvertragsrecht, Rz. 257; a.A. unter Verweis auf das Schriftformerfordernis des § 1 Abs. 2 TVG noch Kempen/Zachert, 3. Aufl., § 3 TVG Rz. 73. 6 BAG v. 28.7.2004 – 10 AZR 19/04, NZA 2004, 1152. 7 BAG v. 28.2.1996 – 10 AZR 516/95, NZA 1996, 758. 8 Sutschet, NZA 2008, 682; Thüsing/Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 81. 9 BAG v. 13.5.2015 – 10 AZR 266/14, NZA 2015, 992. 10 BAG v. 28.7.2004 – 10 AZR 19/04, NZA 2004, 1152.
Henssler
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Teil 10 Rz. 109
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
wert beigemessen werden, der zum Entstehen einer betrieblichen Übung führen könnte. Soweit keine weiteren, deutlichen Anhaltspunkte für eine betriebliche Übung auf zukünftige Lohnerhöhungen entsprechend der Tariflohnentwicklung vorlägen, könne davon ausgegangen werden, dass die einzelnen Lohnerhöhungen sich jeweils nur auf den konkreten Einzelfall bezogen1. Die Fälle, in denen der Arbeitgeber sein auf Übernahme eines TVs zielendes Verhalten nicht näher begründet, dürften allerdings sehr selten sein. In den von der Rechtsprechung entschiedenen Fällen war es meist unstreitig, dass der Arbeitgeber seit längerem TVe beachtet hatte. Die Problematik der Bindung auch eines bestimmten Arbeitsverhältnisses an diese Übung stellte sich aufgrund atypischer Besonderheiten, etwa weil ein als freie Mitarbeit gewolltes Vertragsverhältnis nachträglich als Arbeitsverhältnis qualifiziert wurde2. 109 Eine betriebliche Übung im Hinblick auf die Anwendung eines TVs wird nicht begründet, wenn der Arbeitgeber mit seiner Leistung vermeintliche (tatsächlich aber nicht bestehende) tarifvertragliche Verpflichtungen erfüllen will und dies für den Arbeitnehmer erkennbar ist3. Das gilt etwa, wenn ein TV mangels Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit der Gewerkschaft unwirksam ist. Hier kann über die Lehre vom fehlerhaften TV4 für die Vergangenheit Rechtssicherheit und Vertrauensschutz gewährt werden. Für die Zukunft lassen sich indes aus der tatsächlichen Anwendung des TVs keine Rechte herleiten. 110 Eine betriebliche Übung kann – wie schon ihr Name („betrieblich“) verdeutlicht – nicht durch ein rein individualrechtliches Verhalten entstehen, sondern nur bei kollektiven Sachverhalten. Es bedarf der (schlüssigen) Aufstellung und Befolgung einer Regel durch den Arbeitgeber, und zwar entweder für alle Belegschaftsmitglieder oder aber zumindest für eine kollektiv abgrenzbare Gruppe, der auch der betreffende Arbeitnehmer angehört5. Neu in den Betrieb eintretende Arbeitnehmer partizipieren an bereits bestehenden betrieblichen Übungen. Sie dürfen das Vertragsangebot des Arbeitgebers in der Regel so verstehen, dass er sie zu den im Betrieb üblichen Bedingungen einstellen will. Im Bereich der schuldrechtlichen Tarifbindung wird man einen Anspruch eines neu eingestellten Arbeitnehmers bejahen können, wenn alle Belegschaftsmitglieder oder jedenfalls eine bestimmte Gruppe, der auch der neu Eingestellte angehört, bislang „nach Tarif“ bezahlt wurden. Der Arbeitgeber kann zwar seine Übung jederzeit schlicht dadurch beenden, dass er dem Arbeitnehmer eine untertarifliche Vergütung anbietet und es zu einem entsprechenden Vertragsschluss kommt. Er muss eine solche Abweichung gegenüber der bisherigen Übung allerdings unmissverständlich zum Ausdruck bringen. Dies kann sowohl mittels einer individuellen Bekanntgabe als auch mittels einer zum Zeitpunkt der Neueinstellung aushängenden Betriebsmitteilung geschehen6. Ändert der Arbeitgeber mit der Aufgabe der betrieblichen Übung die betriebliche Vergütungsstruktur, kann es sich um einen gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG mitbestimmungspflichtigen Vorgang handeln7.
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BAG v. 19.10.2011 – 5 AZR 359/10, NZA-RR 2012, 344. Vgl. BAG v. 17.4.2002 – 5 AZR 89/01, NZA 2002, 1096. BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 653/05, AP Nr. 54 zu § 1 TVG – Bezugnahme auf TV. Dazu HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 21a. Dazu MünchKomm/Müller-Glöge, § 611 BGB Rz. 416. LAG Baden-Württemberg v. 25.11.2010 – 11 Sa 70/10, BeckRS 2011, 68819. BAG v. 15.4.2008 – 1 AZR 65/07, NZA 2008, 888.
904 Henssler
Bezugnahme kraft betrieblicher bung
Rz. 113 Teil 10
2. Entgegenstehende Absprachen Bezieht sich eine betriebliche Übung auf Sonderzuwendungen, so kann ihr Entstehen 111 durch einen Freiwilligkeitsvorbehalt verhindert werden1. Bei einer Tarifbindung durch betriebliche Übung scheidet dieser Weg regelmäßig aus, da es sich bei den tariflichen Arbeitsbedingungen um das laufende Entgelt handelt, bei dem nach Auffassung des 5. Senats des BAG ein Freiwilligkeitsvorbehalt nicht vereinbart werden kann2. Ein probates Mittel zur Verhinderung einer betrieblichen Übung bieten – unter engen 112 Voraussetzungen – Schriftformklauseln, allerdings nur, wenn sie als doppelte Schriftformklauseln ausgestaltet sind. Einfache Schriftformklauseln3 („Änderungen und Ergänzungen dieses Vertrages bedürfen der Schriftform“) können die Entstehung einer betrieblichen Übung nicht verhindern. Die Vertragsparteien können das für eine Vertragsänderung vereinbarte Schriftformerfordernis jederzeit schlüssig und formlos aufheben4. Dagegen hat das BAG schon 2003 hervorgehoben, dass die Entstehung einer betriebli- 113 chen Übung durch doppelte Schriftformklausel5 („Änderungen und Ergänzungen dieses Vertrages bedürfen zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform. Dieses Formerfordernis kann durch mündliche oder schlüssige Vereinbarung nicht aufgehoben werden.“) verhindert wird6. Das BAG hat an diesem Grundsatz festgehalten, allerdings zusätzliche Anforderungen für den Regelfall der Vereinbarung in AGBs aufgestellt7. Die Schriftformklausel müsse nach Maßgabe des Transparenzgebots (§ 307 Abs. 1 Satz 1 BGB) klar und verständlich formuliert sein. Sie dürfe nicht den Eindruck erwecken, dass auch eine mündliche individuelle Abrede entgegen der Schutzvorschrift des § 305b BGB wegen Nichteinhaltung der Schriftform gemäß § 125 Satz 2 BGB unwirksam sei. Dann sei sie nämlich geeignet, den Arbeitnehmer von der Durchsetzung der ihm zustehenden Rechte abzuhalten. Es ist daher zu empfehlen, die Schriftformklausel wie folgt zu gestalten8: Schriftformklausel: „(1) nderungen und Ergnzungen dieses Vertrages bedrfen der Schriftform. Das gilt auch fr die Aufhebung der Schriftformabrede selbst. Ausgenommen hiervon sind Individualabreden i.S.v. § 305b BGB. 1 BAG v. 5.6.1996 – 10 AZR 883/95, NZA 1996, 1028; BAG v. 30.7.2008 – 10 AZR 606/07, NZA 2008, 1173; BAG v. 18.3.2009 – 10 AZR 289/08, NZA 2009, 535. Vgl. jedoch das insoweit sehr zurückhaltende Urteil des BAG v. 14.9.2011 – 10 AZR 526/10, NZA 2012, 91, in dem das Gericht Zweifel äußerte, ob ein solcher vertraglicher Vorbehalt dauerhaft den Erklärungswert einer ohne den Hinweis auf die vertragliche Regelung erfolgten Zahlung so erschüttern kann, dass der Arbeitnehmer das spätere konkludente Verhalten des Arbeitgebers nicht als Angebot zur dauerhaften Leistungserbringung verstehen kann. Letztlich konnte das BAG die Frage offen lassen. 2 BAG v. 25.4.2007 – 5 AZR 627/06, NZA 2007, 853. 3 Dazu Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, S. 88. 4 BAG v. 20.5.2008 – 9 AZR 382/07, AP Nr. 35 zu § 307 BGB; BAG v. 17.7.2007 – 9 AZR 819/06, NZA 2008, 118. 5 Dazu Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, S. 89. 6 BAG v. 24.6.2003 – 9 AZR 302/02, NZA 2003, 1143. 7 BAG v. 20.5.2008 – 9 AZR 382/07, NZA 2008, 1233. 8 Dazu und zu weiteren Gestaltungsmöglichkeiten: Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, S. 90.
Henssler
905
Teil 10 Rz. 114
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
(2) Durch die bloße mehrfache Gewhrung von Leistungen, auf die weder ein individualvertraglicher noch ein kollektivvertraglicher (Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung) Anspruch besteht, kann ein Anspruch auf knftige Gewhrung dieser Leistungen nicht begrndet werden.“
III. Inhalt der Bezugnahme durch betriebliche Übung 114 Die betriebliche Übung kann nur schuldrechtliche Ansprüche gewähren; die normative Geltung von TVen oder Betriebsvereinbarungen kann über sie nicht erweitert werden1. Nicht nur den Arbeitnehmer begünstigende Tarifregelungen können von der Bezugnahme durch betriebliche Übung erfasst werden, sondern auch belastende Tarifbestimmungen wie z.B. Ausschlussfristen. Kommt der Arbeitgeber allerdings seiner Verpflichtung aus § 2 Abs. 1 NachwG zur Aushändigung einer Niederschrift mit den wesentlichen Vertragsbedingungen nicht nach – wie es beim Entstehen der Bezugnahme durch betriebliche Übung regelmäßig der Fall ist –, können dem Arbeitnehmer nach §§ 286 Abs. 1, 284, Abs. 2, 249 BGB Schadensersatzansprüche zustehen (vgl. Rz. 13)2. 115 Die Einbeziehung von Tarifinhalten über die betriebliche Übung kann sich auf den ganzen TV erstrecken, aber auch nur einzelne Tarifklauseln umfassen3. Die gegen die Übernahme einzelner Klauseln mit Blick auf eine angebliche Schwächung der Gewerkschaften vorgebrachte Kritik vernachlässigt die hinter dem Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG stehende Wertung4. Auch dieses Prinzip schwächt zwar die Gestaltungsmacht der Koalitionen, die Durchbrechung der Tarifbindung ist aber mit Rücksicht auf die Privatautonomie zwingend. 116 Ob sich die Übung auf den ganzen TV oder nur auf einzelne Klauseln bezieht, ist wiederum durch Auslegung zu ermitteln. Meist wird sich die tatsächliche Anwendung jedenfalls zunächst nur auf einzelne Tarifinhalte, etwa auf die Vorschriften über die Vergütungsbemessung beziehen. Nach der Rechtsprechung des 5. Senates5 soll die Bezugnahme auf ein Tarifwerk durch betriebliche Übung generellen Charakter haben. Überzeugend ist eine differenzierende Betrachtung. Bei einem tarifgebundenen Arbeitgeber ist die faktische Vergütung der Außenseiter „nach Tarif“ in der Tat regelmäßig dahin zu verstehen, dass eine Gleichstellung der Außenseiter erfolgen und daher der gesamte Tarifinhalt auf sie erstreckt werden soll, einschließlich der den Arbeitnehmer belastenden Tarifnormen wie Ausschlussfristen6. Bei einem nicht tarifgebundenen Arbeitgeber ist demgegenüber gerade umgekehrt zunächst davon auszugehen, dass er nur einzelne Tarifinhalte aufgreifen will. Erst wenn hier Regelungen 1 Vgl. BAG v. 19.2.2002 – 1 ABR 26/01, NZA 2002, 1300. 2 BAG v. 17.4.2002 – 5 AZR 89/01, NZA 2002, 1096. 3 BAG v. 19.1.1999 – 1 AZR 606/98, AP Nr. 9 zu § 1 TVG – Bezugnahme auf TV m. zust. Anm. Oetker. 4 Hanau/Kania, FS Schaub, 1998, S. 240 (241) lehnen die Zulässigkeit ab, weil entsprechende Klauseln zu einer Schlechterstellung der Gewerkschaftsmitglieder führen und einen erheblichen Austrittsdruck erzeugen würden; sie seien deshalb als Abreden zu werten, die die Koalitionsfreiheit i.S.v. Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG behindern. 5 BAG v. 17.4.2002 – 5 AZR 89/01, NZA 2002, 1096. 6 A.A. Betz, BB 2010, 2045 (2047).
906 Henssler
Bezugnahme kraft betrieblicher bung
Rz. 117 Teil 10
aus unterschiedlichen Teilkomplexen des Gesamtwerkes übernommen werden, kann ein Wille zu einer generellen Einbeziehung des TVs in die Arbeitsverträge unterstellt werden1. Es müssen deutliche Anhaltspunkte im Verhalten des Arbeitgebers dafür erkennbar sein, dass er auf Dauer die von den TV-Parteien jeweils ausgehandelten Tariflohnerhöhungen übernehmen will2. Auch bei der Frage, ob der Bezugnahme kraft betrieblicher Übung eine statische oder 117 dynamische Wirkung zukommt, bedarf es einer Einzelfallbeurteilung. Bei der gebotenen Gesamtwürdigung des Verhaltens des Arbeitgebers ist wiederum dessen Tarifbindung entscheidend zu berücksichtigen3. Wer als Arbeitgeber dem zuständigen Arbeitgeberverband nicht beitritt oder sogar bewusst nur eine OT-Mitgliedschaft eingeht, bringt damit hinreichend deutlich zum Ausdruck, dass er die strikte Bindung an den TV gerade nicht will. Die in die Zukunft gerichtete, dynamische Bindung an künftige TVe entspricht ersichtlich nicht seinem Willen. Er möchte lediglich die Vorteile für sich in Anspruch nehmen, die eine Anbindung an ein kollektives Regelwerk in puncto Rechtssicherheit und Transaktionskostenersparnis aufweist. Die sich über einen längeren Zeitraum und mehrere Arbeitnehmer erstreckende Übung muss daher nach ihrem objektiven Erklärungsgehalt so verstanden werden, dass die aufgegriffenen Tarifinhalte mit statischer Wirkung zum Inhalt des Arbeitsvertrages erhoben werden. Nur ganz ausnahmsweise kann eine betriebliche Übung eines nicht organisierten Arbeitgebers dynamisch wirken. Allein der Umstand, dass der Arbeitgeber in der Vergangenheit verschiedene Tariferhöhungen übernommen hat, begründet noch keinen entsprechenden Erklärungswillen4. Das konkrete Ausmaß der künftigen dynamischen Lohnentwicklung ist für ihn nicht vorhersehbar. Der nicht tarifgebundene Arbeitgeber will für jedermann erkennbar seine Entscheidungsfreiheit über die Lohn- und Gehaltsentwicklung in seinen Betrieben behalten. Insoweit wirkt der Verzicht auf eine Mitgliedschaft mit Tarifbindung wie ein ständig parallel erklärter Vorbehalt5. Bei einem tarifgebundenen Arbeitgeber bringt die wiederholte Erstreckung eines TVs auf Außenseiter hingegen in der Regel den Willen zur Gleichstellung der nicht organisierten Arbeitnehmer zum Ausdruck. Die betriebliche Übung wirkt damit wie eine kleine dynamische Altklausel bzw. wie eine große dynamische (Alt-)Klausel, die auf den jeweils normativ geltenden TV verweist. Ersichtlich wünscht der Arbeitgeber keine Bindung, die über diejenige hinausgeht, die er gegenüber den gewerkschaftlich organisierten und kongruent tarifgebundenen Belegschaftsmitgliedern eingegangen ist6.
1 Ähnlich Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 297. 2 BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 268/09, AP Nr. 101 zu § 77 BetrVG 1972 Rz. 61. 3 Vgl. BAG v. 19.10.2011 – 5 AZR 359/10, NZA-RR 2012, 344; a.A. Betz, BB 2010, 2045 (2048), nach dem die Tarifbindung des Arbeitgebers bei der Auslegung seines Verhaltens keine Berücksichtigung finden kann, da sie für den Arbeitnehmer nicht erkennbar ist. 4 BAG v. 9.2.2005 – 5 AZR 284/04, BeckRS 2005 30350626; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 529; ebenso für die zeitliche Dynamik, aber a.A. in Bezug auf die sachliche Dynamik des TVs Sutschet, NZA 2008, 679 (685). 5 Vgl. auch BAG v. 20.6.2001 – 4 AZR 290/00, NJOZ 2002, 669. 6 So auch Hanau/Kania, FS Schaub, S. 260; Däubler, NZA 1996, 225 (228).
Henssler
907
Teil 10 Rz. 118
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
118 Gewährt ein tarifgebundener Arbeitgeber aufgrund einer betrieblichen Übung auch den Außenseitern tarifliche Leistungen, so stehen diese Leistungen in einem engen Abhängigkeitsverhältnis zum Schicksal der beiderseits tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse. So führt der Abschluss eines FirmensanierungsTVs, der einen Anspruch auf tarifliche Sonderleistungen ausschließt, dazu, dass auch der tarifungebundene Arbeitnehmer keinen Anspruch nach dem einschlägigen FlächenmantelTV (hier: MantelTV der Druckindustrie für gewerbliche Arbeitnehmer) hat1. Wächst ein Arbeitgeber durch Änderung des Unternehmensgegenstandes aus einem TV heraus, dann findet auch die Tarifbindung kraft betrieblicher Übung ihr Ende. Endet nach einem Verbandsaustritt die Tarifbindung mit Ablauf der Nachbindungsfrist des § 3 Abs. 3 TVG, gilt das Gleiche. Die von einem tarifgebundenen Arbeitgeber gegenüber Außenseitern praktizierte betriebliche Übung bezieht sich nach ihrem Erklärungswert immer nur auf die konkrete Tarifbindung. Die Rechtsprechung des BAG, wonach kleine dynamische Neuklauseln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen im Zweifel keine bloße Gleichstellung der nichtorganisierten mit den tarifgebundenen Arbeitnehmern bewirken sollen, steht dem nicht entgegen, da sie sich auf die Auslegung des Arbeitgeberwillens bei der Entstehung der betrieblichen Übung nicht übertragen lässt2. Außenseiter sollen nicht schlechter, aber eben auch nicht besser behandelt werden.3 Bei Wegfall der Tarifbindung des Arbeitgebers wandelt sich daher die dynamische Wirkung einer betrieblichen Übung in eine statische Weitergeltung der Tarifnormen.
IV. Die Beendigung der Tarifbindung durch betriebliche Übung 119 Die Möglichkeiten des Arbeitgebers, sich von einer betrieblichen Übung wieder zu lösen, sind stark begrenzt. Gestaltungsfreiheit hat er – unter Beachtung des Mitbestimmungsrechts aus § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG sowie des Gleichbehandlungsgrundsatzes – gegenüber neu eintretenden Arbeitnehmern. Hier kann er Ansprüche für die Zukunft durch eindeutige individuelle Vereinbarung oder durch eine betriebsöffentliche Mitteilung zum Einstellungszeitpunkt ausschließen4. Gegenüber den anspruchsberechtigten Arbeitnehmern können Änderungen dagegen nur mittels einer einvernehmlichen Vertragsänderung und über die Änderungskündigung5 herbeigeführt werden. Die durch eine betriebliche Übung erworbenen Ansprüche sind vertragliche Ansprüche mit voller Rechtsbeständigkeit. Der Arbeitgeber kann sie daher nicht durch einseitige Erklärung beseitigen6. 120 Verschlossen ist auch der Weg über eine sog. negative betriebliche Übung. Das BAG hat im Jahr 2009 seine Rechtsprechung zur gegenläufigen betrieblichen Übung aufgegeben, nach der der Arbeitgeber die Möglichkeit hatte, sich von einer entstandenen
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LAG Düsseldorf v. 24.6.2014 – 16 Sa 388/14, ZIP 2015, 144. So auch Thüsing/Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 87. LAG Düsseldorf v. 24.6.2014 – 16 Sa 388/14, ZIP 2015, 144. BAG v. 5.2.1971 – 3 AZR 28/70, NJW 1971, 1422; LAG Baden-Württemberg v. 25.11.2010 – 11 Sa 70/10. 5 Vgl. zur Beendigung mittels individualvertraglicher Gestaltungsmittel Picker, Die betriebliche Übung, 2011, S. 392 ff. 6 BAG v. 25.11.2009 – 10 AZR 779/08, NZA 2010, 283; vgl. bereits zuvor kritisch zur negativen betrieblichen Übung Henssler, FS 50 Jahre BAG, S. 683 (704 ff.).
908 Henssler
Sonstige Rechtsgrundlagen
Rz. 123 Teil 10
betrieblichen Übung wieder zu lösen, indem er sein Verhalten änderte und der betroffene Arbeitnehmer über einen bestimmten Zeitraum nicht widersprach (Beispiel: dreimalige Nichtleistung einer zuvor gewährten Weihnachtsgratifikation)1. Eine Abänderung der betrieblichen Übung zuungunsten des Arbeitnehmers durch eine Betriebsvereinbarung scheidet wegen des Günstigkeitsprinzips ebenfalls aus2.
E. Sonstige Rechtsgrundlagen für eine nicht tarifrechtlich begründete Anwendbarkeit von Tarifverträgen Literatur: v. Hoyningen-Huene, Die Bezugnahme auf einen Firmentarifvertrag durch Betriebsvereinbarung, DB 1994, 2026; Vetter, Zur Zulässigkeit tarifvertragsübernehmender Betriebsvereinbarungen, DB 1991, 1833; Wiedemann, Der nicht organisierte Arbeitnehmer im kollektiven Arbeitsrecht, RdA 2007, 65.
I. Bezugnahme durch Betriebsvereinbarung Aus den Arbeitszeitvorschriften der §§ 7, 12 ArbZG ergibt sich, dass grundsätzlich 121 auch Betriebsvereinbarungen auf TVe Bezug nehmen können. Voraussetzung ist allerdings, dass der Betriebsrat im Hinblick auf den Tarifinhalt überhaupt eine Regelungskompetenz hat. Der Tarifinhalt muss also tauglicher Regelungsgegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Nach § 77 Abs. 3 BetrVG können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, 122 die durch TV geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein (sog. Sperrwirkung). Diese Norm schützt die Tarifautonomie nach Art. 9 Abs. 3 GG vor der Betriebsautonomie, indem sie den TV-Parteien den Vorrang vor den Betriebsparteien bei der Regelung von Arbeitsbedingungen einräumt3 und verhindert, dass der Betriebsrat zur beitragsfreien Ersatzgewerkschaft wird. Der Tarifvorbehalt gilt nach der Rechtsprechung und der herrschenden Lehre als Zuständigkeitsregelung unabhängig von der Tarifbindung des Arbeitgebers4. Es genügt die Üblichkeit der tariflichen Regelung5. Arbeitsbedingungen, für die eine tarifvertragliche Regelung besteht oder die üblicherweise durch TV geregelt werden, dürfen grundsätzlich nur dann Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein, wenn der TV den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt. Aus dem Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG folgt, dass Betriebsvereinbarungen 123 unwirksam sind, soweit sie tarifliche Regelungen von Arbeitsbedingungen übernehmen, um sie auch auf die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer eines Betriebes zu erstrecken. Der Geltungsbereich von TVen soll allein auf dem dafür vorgesehenen Weg
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BAG v. 18.3.2009 – 10 AZR 281/08, NZA 2009, 601. Sutschet, NZA 2008, 679 (684). BAG v. 21.1.2003 – 1 ABR 9/02, NZA 2003, 1097. BAG v. 10.10.2006 – 1 ABR 59/05, NZA 2007, 523; BAG v. 26.8.2008 – 1 AZR 354/07, NZA 2008, 1426; ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 40; HWK/Gaul, § 77 BetrVG Rz. 49; Wiedemann/ Wank, § 4 TVG Rz. 562; a.A. Richardi, § 77 BetrVG Rz. 259. 5 Berg/Kocher/Schumann/Berg, § 4 TVG Rz. 187.
Henssler
909
Sonstige Rechtsgrundlagen
Rz. 123 Teil 10
betrieblichen Übung wieder zu lösen, indem er sein Verhalten änderte und der betroffene Arbeitnehmer über einen bestimmten Zeitraum nicht widersprach (Beispiel: dreimalige Nichtleistung einer zuvor gewährten Weihnachtsgratifikation)1. Eine Abänderung der betrieblichen Übung zuungunsten des Arbeitnehmers durch eine Betriebsvereinbarung scheidet wegen des Günstigkeitsprinzips ebenfalls aus2.
E. Sonstige Rechtsgrundlagen für eine nicht tarifrechtlich begründete Anwendbarkeit von Tarifverträgen Literatur: v. Hoyningen-Huene, Die Bezugnahme auf einen Firmentarifvertrag durch Betriebsvereinbarung, DB 1994, 2026; Vetter, Zur Zulässigkeit tarifvertragsübernehmender Betriebsvereinbarungen, DB 1991, 1833; Wiedemann, Der nicht organisierte Arbeitnehmer im kollektiven Arbeitsrecht, RdA 2007, 65.
I. Bezugnahme durch Betriebsvereinbarung Aus den Arbeitszeitvorschriften der §§ 7, 12 ArbZG ergibt sich, dass grundsätzlich 121 auch Betriebsvereinbarungen auf TVe Bezug nehmen können. Voraussetzung ist allerdings, dass der Betriebsrat im Hinblick auf den Tarifinhalt überhaupt eine Regelungskompetenz hat. Der Tarifinhalt muss also tauglicher Regelungsgegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Nach § 77 Abs. 3 BetrVG können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, 122 die durch TV geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein (sog. Sperrwirkung). Diese Norm schützt die Tarifautonomie nach Art. 9 Abs. 3 GG vor der Betriebsautonomie, indem sie den TV-Parteien den Vorrang vor den Betriebsparteien bei der Regelung von Arbeitsbedingungen einräumt3 und verhindert, dass der Betriebsrat zur beitragsfreien Ersatzgewerkschaft wird. Der Tarifvorbehalt gilt nach der Rechtsprechung und der herrschenden Lehre als Zuständigkeitsregelung unabhängig von der Tarifbindung des Arbeitgebers4. Es genügt die Üblichkeit der tariflichen Regelung5. Arbeitsbedingungen, für die eine tarifvertragliche Regelung besteht oder die üblicherweise durch TV geregelt werden, dürfen grundsätzlich nur dann Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein, wenn der TV den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt. Aus dem Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG folgt, dass Betriebsvereinbarungen 123 unwirksam sind, soweit sie tarifliche Regelungen von Arbeitsbedingungen übernehmen, um sie auch auf die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer eines Betriebes zu erstrecken. Der Geltungsbereich von TVen soll allein auf dem dafür vorgesehenen Weg
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BAG v. 18.3.2009 – 10 AZR 281/08, NZA 2009, 601. Sutschet, NZA 2008, 679 (684). BAG v. 21.1.2003 – 1 ABR 9/02, NZA 2003, 1097. BAG v. 10.10.2006 – 1 ABR 59/05, NZA 2007, 523; BAG v. 26.8.2008 – 1 AZR 354/07, NZA 2008, 1426; ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 40; HWK/Gaul, § 77 BetrVG Rz. 49; Wiedemann/ Wank, § 4 TVG Rz. 562; a.A. Richardi, § 77 BetrVG Rz. 259. 5 Berg/Kocher/Schumann/Berg, § 4 TVG Rz. 187.
Henssler
909
Teil 10 Rz. 124
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
der Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG ausgedehnt werden können1. Der Schutz der Tarifautonomie steht deshalb der Möglichkeit entgegen, durch Betriebsvereinbarung den Inhalt eines TVs unverändert zu übernehmen2. Das Gleiche gilt, wenn die betreffenden tarifvertraglichen Regelungen in Bezug genommen werden3. Soweit allerdings eine tarifvertragliche Öffnungsklausel Betriebsvereinbarungen gestattet, können diese wiederum auf den TV Bezug nehmen4. 124 Vereinzelt wird vertreten, dass eine Bezugnahme auf einzelne Tarifbestimmungen oder einzelne Regelungsbereiche des TVs im Gegensatz zur vollständigen Inbezugnahme eines Tarifwerks nicht an § 77 Abs. 3 BetrVG scheitere. Ihr Zweck liege lediglich in der Anknüpfung an vom TV festgelegte Tatbestandsmerkmale, um sie im Interesse einer einheitlichen Ordnung zu übernehmen. Eine Ausdehnung des personellen Geltungsbereiches des TVs auf die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer im Sinne einer „betrieblichen Allgemeinverbindlicherklärung“ sei damit nicht beabsichtigt5. Auch wenn ihre Argumente durchaus bedenkenswert erscheinen, so ist diese Ansicht im Ergebnis doch mit der überwiegenden Auffassung6 abzulehnen. Eine „betriebliche Allgemeinverbindlichkeit“ für nicht tarifgebundene Arbeitnehmer lässt sich auch bei einer Beschränkung auf Teilbereiche eines TVs nicht mit der Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG vereinbaren. 125 Ist die Bezugnahme auf einen TV mittels Betriebsvereinbarung ausnahmsweise zulässig, weil sich der betreffende Betrieb außerhalb jedes potentiellen tariflichen Geltungsbereichs bewegt, eine tarifvertragliche Öffnungsklausel eine betriebliche Regelung gestattet oder weil im Bereich der erzwingbaren Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 BetrVG die Schutzfunktion des Mitbestimmungsrechts eine betriebliche Regelung erfordert7, so handelt es sich nicht um eine tarifliche Normgeltung. Der Inhalt des TVs gilt als Teil der Betriebsvereinbarung. Die unmittelbare und zwingende Wirkung folgt somit aus § 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG8. Allerdings soll nach der vom Schrifttum9 gebilligten Rechtsprechung des 1. Senats10 selbst in diesen Sonderfällen nur eine statische, nicht dagegen eine dynamische Bezugnahme auf den TV zulässig sein. In der Tat lässt sich der mit einer dynamischen Blankettverweisung verbundene dauerhafte Regelungsverzicht mit der Aufgabenstellung und der koalitionspolitischen Neutralität des Betriebsrats nicht vereinbaren.
1 Vgl. die Begründung zum Regierungsentwurf BetrVG 1972, BT-Drucks. 6/1786, S. 47. 2 BAG v. 3.12.1991 – GS 2/90, NZA 1992, 749; BAG v. 20.11.2001 – 1 AZR 12/01, NJOZ 2002, 1944; v. Hoyningen-Huene, DB 1994, 2026 ff.; HWK/Gaul, § 77 BetrVG Rz. 53; Richardi, § 77 BetrVG Rz. 288. 3 HWK/Gaul, § 77 BetrVG Rz. 53; Kempen/Zachert/Brecht-Heitzmann, § 3 TVG Rz. 265; Thüsing/Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 76. 4 BAG v. 30.11.1973 – 3 AZR 96/73, AP Nr. 164 zu § 242 BGB – Ruhegehalt. 5 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 407 f. 6 Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 268; Kempen/Zachert/Brecht-Heitzmann, § 3 TVG Rz. 267; Thüsing/Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 78. 7 BAG v. 5.3.1997 – 4 AZR 532/95, NZA 1997, 951. 8 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 562. 9 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 557; Kauffmann-Lauven, in: Moll, Münchener Anwaltshandbuch Arbeitsrecht, § 60 Rz. 17. 10 BAG v. 23.6.1992 – 1 ABR 9/92, NZA 1993, 229.
910 Henssler
Sonstige Rechtsgrundlagen
Rz. 128 Teil 10
II. Tarifvertragliche Außenseiterklauseln Außenseiterklauseln sind Vereinbarungen der TV-Parteien, die den Arbeitgeber ver- 126 pflichten, auch nicht tarifgebundene Arbeitnehmer zu den Tarifbedingungen zu beschäftigen. Sie haben, anders als für allgemeinverbindlich erklärte TVe, keine normative Wirkung, sondern lassen lediglich eine schuldrechtliche Verpflichtung entstehen1. Derartige Klauseln sind nach überwiegender Auffassung zulässig2. Die Außenseiterklausel verschafft den nichtorganisierten Arbeitnehmern als Vertrag zugunsten Dritter einen eigenen unmittelbaren Anspruch auf Gewährung der im TV festgelegten Arbeitsbedingungen gegenüber der tarifvertragsschließenden Partei. Ein Verstoß gegen die negative Koalitionsfreiheit liegt nicht vor, da die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer das ihnen zugewendete Recht nach § 333 BGB zurückweisen können und auf individualvertraglichem Weg andere Arbeitsbedingungen vereinbaren können3. Außenseiterklauseln laufen in aller Regel dem Interesse der Gewerkschaften zuwider, 127 den Gewerkschaftsbeitritt möglichst attraktiv zu gestalten. Sie haben daher eine geringe praktische Bedeutung. Die Bemühungen der Gewerkschaften, in verstärktem Umfang Differenzierungsklauseln4 durchzusetzen, verdeutlichen den gegenläufigen Trend in aktuellen Tarifverhandlungen.
III. Arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz verbietet eine willkürliche bzw. 128 sachfremde Schlechterstellung einzelner Arbeitnehmer gegenüber anderen Arbeitnehmern in vergleichbarer Lage5. Gewährt der Arbeitgeber aufgrund einer abstrakten Regelung eine freiwillige Leistung nach einem erkennbar generalisierenden Prinzip und legt er gemäß dem mit der Leistung verfolgten Zweck die Anspruchsvoraussetzungen für die Leistung fest, darf er einzelne Arbeitnehmer von der Leistung nur ausnehmen, wenn dies sachlichen Kriterien entspricht6. Unstreitig ist der Arbeitgeber verpflichtet, Gewerkschaftsmitglieder und nichtorganisierte Arbeitnehmer gleich zu behandeln, soweit es um Leistungen geht, die nicht auf einem TV beruhen7.
1 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 328; Kempen/Zachert/Stein, § 3 TVG Rz. 236. 2 BAG v. 21.2.1967 – 1 AZR 495/65, AP Nr. 12 zu Art. 9 GG; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 328; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 33; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1887; Kempen/Zachert/ Brecht-Heitzmann, § 3 TVG Rz. 289; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 414; a.A. Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II 1, S. 330. 3 Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1887. 4 Dazu BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028; BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920. 5 St. Rspr. des BAG, vgl. BAG v. 3.4.1957 – 4 AZR 644/54, AP Nr. 4 zu § 242 BGB – Gleichbehandlung; BAG v. 28.2.1962 – 4 AZR 352/60, AP Nr. 31 zu § 242 BGB – Gleichbehandlung; BAG v. 30.9.1970 – 4 AZR 343/69, AP Nr. 34 zu § 242 BGB – Gleichbehandlung; BAG v. 28.3.2007 – 10 AZR 261/06, NZA 2007, 687; BAG v. 21.5.2014 – 4 AZR 50/13, NZA 2015, 115; BAG v. 15.4.2015 – 4 AZR 796/13, NZA 2015, 1388. 6 BAG v. 28.3.2007 – 10 AZR 261/06, NZA 2007, 687. St. Rspr., vgl. BAG v. 17.12.2009 – 6 AZR 242/09, NZA 2010, 273 m.w.N.; ErfK/Preis, § 611 BGB Rz. 575. 7 Kempen/Zachert/Brecht-Heitzmann, § 3 TVG Rz. 284; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 415.
Henssler
911
Teil 10 Rz. 129
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
129 Nach der heute einhelligen Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum widerspricht es dem Gleichbehandlungsgrundsatz jedoch nicht, wenn bei Leistungen aus einem TV zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und Außenseitern unterschieden wird1. Die Konzeption des TV-Rechts geht von einer Differenzierung zwischen tarifgebundenen und nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern bei der Teilhabe an tariflichen Leistungen aus. Dies ergibt sich sowohl aus dem in § 3 Abs. 1 TVG angelegten Konzept der kongruenten Tarifbindung als auch aus dem in § 5 TVG gesetzlich speziell geregelten Sonderfall der Allgemeinverbindlicherklärung, dem ersichtlich die Prämisse zugrunde liegt, dass Außenseiter nicht bereits durch den Gleichbehandlungsgrundsatz Leistungen aus einem TV in Anspruch nehmen können2. Nach Auffassung des BAG3 ist die „Nichtanwendung des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes auf tarifliche Regelungen … nicht darin begründet, dass der Arbeitgeber den für ihn geltenden normativ wirkenden Tarifverträgen im Sinne einer ‚fremdbestimmten Normenwirkung‘ unterlegen wäre und sie lediglich zu erfüllen hätte.“ Sie habe vielmehr ihren Grund darin, dass bei TVen keine strukturelle Ungleichgewichtigkeit der Verhandlungspartner bestehe, sondern von Verfassungs wegen eine Verhandlungsparität vorausgesetzt werde und es deshalb einer Inhaltskontrolle des privatautonomen Handelns des Arbeitgebers nicht bedürfe.“ Werden also in arbeitsvertraglichen Regelungen allein die tarifvertraglichen Vorgaben umgesetzt, ist der Anwendungsbereich des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes regelmäßig nicht eröffnet4. 130 Zur Anwendung kommt der Gleichbehandlungsgrundsatz aber im Verhältnis von nichtorganisierten Arbeitnehmern untereinander. Der Arbeitgeber darf nicht grundsätzlich Nichtorganisierten die gleichen Arbeitsbedingungen wie den Gewerkschaftsmitgliedern gewähren und ohne sachliche Rechtfertigung lediglich einzelne Außenseiter von diesen Vorteilen ausnehmen. Für die willkürlich benachteiligten Außenseiter ergibt sich in diesem Fall ein Anspruch auf Gleichbehandlung mit den anderen nichtorganisierten Arbeitnehmern5. In der Praxis stellt sich dieses Problem allerdings nicht, da ein entsprechend inkonsequentes Verhalten auch aus Arbeitgebersicht ersichtlich unvernünftig ist und die benachteiligten Arbeitnehmer geradezu zum Gewerkschaftsbeitritt zwingt.
F. Formulierungsvorschläge Literatur: Bauer/Günther, Bezugnahmeklauseln bei Verbandswechsel und Betriebsübergang – Ein Irrgarten?, NZA 2008, 6; Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge am Beispiel der Bezugnahme und Öffnungsklausel, S. 637 ff.; Giesen, Bezugnahmeklauseln – Auslegung, Formulierung und Änderung, NZA 2006, 625; Haußmann, Vorausschauende Vertragsgestaltung zur Ablösung nachwirkender Tarifverträge, ArbRAktuell 2010, 307; Holthausen, Hinweise zur Gestaltung arbeitsvertraglicher Bezugnahmen, ArbRAktuell 2011, 29; Müntefering, Die formular1 Annuß, ZfA 2005, 405 (409); Wiedemann, RdA 2007, 65 (68); Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II 1 Rz. 479; Kempen/Zachert/Brecht-Heitzmann, § 3 TVG Rz. 285; Thüsing/Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 89; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 420. 2 Kempen/Zachert/Brecht-Heitzmann, § 3 TVG Rz. 286; Thüsing/Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 89. 3 BAG v. 21.5.2014 – 4 AZR 50/13, NZA 2015, 115 Rz. 29. 4 BAG v. 21.5.2014 – 4 AZR 50/13, NZA 2015, 115 Rz. 29 („Opel“, m.w.N.); 15.4.2015 – 4 AZR 796/13, NZA 2015, 1388 Rz. 55. 5 Kempen/Zachert/Brecht-Heitzmann, § 3 TVG Rz. 288.
912 Henssler
Teil 10 Rz. 129
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
129 Nach der heute einhelligen Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum widerspricht es dem Gleichbehandlungsgrundsatz jedoch nicht, wenn bei Leistungen aus einem TV zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und Außenseitern unterschieden wird1. Die Konzeption des TV-Rechts geht von einer Differenzierung zwischen tarifgebundenen und nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern bei der Teilhabe an tariflichen Leistungen aus. Dies ergibt sich sowohl aus dem in § 3 Abs. 1 TVG angelegten Konzept der kongruenten Tarifbindung als auch aus dem in § 5 TVG gesetzlich speziell geregelten Sonderfall der Allgemeinverbindlicherklärung, dem ersichtlich die Prämisse zugrunde liegt, dass Außenseiter nicht bereits durch den Gleichbehandlungsgrundsatz Leistungen aus einem TV in Anspruch nehmen können2. Nach Auffassung des BAG3 ist die „Nichtanwendung des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes auf tarifliche Regelungen … nicht darin begründet, dass der Arbeitgeber den für ihn geltenden normativ wirkenden Tarifverträgen im Sinne einer ‚fremdbestimmten Normenwirkung‘ unterlegen wäre und sie lediglich zu erfüllen hätte.“ Sie habe vielmehr ihren Grund darin, dass bei TVen keine strukturelle Ungleichgewichtigkeit der Verhandlungspartner bestehe, sondern von Verfassungs wegen eine Verhandlungsparität vorausgesetzt werde und es deshalb einer Inhaltskontrolle des privatautonomen Handelns des Arbeitgebers nicht bedürfe.“ Werden also in arbeitsvertraglichen Regelungen allein die tarifvertraglichen Vorgaben umgesetzt, ist der Anwendungsbereich des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes regelmäßig nicht eröffnet4. 130 Zur Anwendung kommt der Gleichbehandlungsgrundsatz aber im Verhältnis von nichtorganisierten Arbeitnehmern untereinander. Der Arbeitgeber darf nicht grundsätzlich Nichtorganisierten die gleichen Arbeitsbedingungen wie den Gewerkschaftsmitgliedern gewähren und ohne sachliche Rechtfertigung lediglich einzelne Außenseiter von diesen Vorteilen ausnehmen. Für die willkürlich benachteiligten Außenseiter ergibt sich in diesem Fall ein Anspruch auf Gleichbehandlung mit den anderen nichtorganisierten Arbeitnehmern5. In der Praxis stellt sich dieses Problem allerdings nicht, da ein entsprechend inkonsequentes Verhalten auch aus Arbeitgebersicht ersichtlich unvernünftig ist und die benachteiligten Arbeitnehmer geradezu zum Gewerkschaftsbeitritt zwingt.
F. Formulierungsvorschläge Literatur: Bauer/Günther, Bezugnahmeklauseln bei Verbandswechsel und Betriebsübergang – Ein Irrgarten?, NZA 2008, 6; Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge am Beispiel der Bezugnahme und Öffnungsklausel, S. 637 ff.; Giesen, Bezugnahmeklauseln – Auslegung, Formulierung und Änderung, NZA 2006, 625; Haußmann, Vorausschauende Vertragsgestaltung zur Ablösung nachwirkender Tarifverträge, ArbRAktuell 2010, 307; Holthausen, Hinweise zur Gestaltung arbeitsvertraglicher Bezugnahmen, ArbRAktuell 2011, 29; Müntefering, Die formular1 Annuß, ZfA 2005, 405 (409); Wiedemann, RdA 2007, 65 (68); Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht II 1 Rz. 479; Kempen/Zachert/Brecht-Heitzmann, § 3 TVG Rz. 285; Thüsing/Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 89; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 420. 2 Kempen/Zachert/Brecht-Heitzmann, § 3 TVG Rz. 286; Thüsing/Braun/Reufels, Kap. 8 Rz. 89. 3 BAG v. 21.5.2014 – 4 AZR 50/13, NZA 2015, 115 Rz. 29. 4 BAG v. 21.5.2014 – 4 AZR 50/13, NZA 2015, 115 Rz. 29 („Opel“, m.w.N.); 15.4.2015 – 4 AZR 796/13, NZA 2015, 1388 Rz. 55. 5 Kempen/Zachert/Brecht-Heitzmann, § 3 TVG Rz. 288.
912 Henssler
Formulierungsvorschlge
Rz. 132 Teil 10
vertragliche Bezugnahme auf Zeitarbeitstarifverträge, NZA 2015, 711; Preis/Greiner, Vertragsgestaltung bei Bezugnahmeklauseln nach der Rechtsprechungsänderung des BAG, NZA 2007, 1073; Thüsing/Lambrich, AGB-Kontrolle arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln – Vertragsgestaltung nach der Schuldrechtsreform, NZA 2002, 1361.
Bezugnahmeklauseln sind für Arbeitgeber mit klaren Vorteilen verbunden. Sie er- 131 leichtern eine Vereinheitlichung der betrieblichen Arbeitsbedingungen und die notwendige Anpassung der Arbeitsbedingungen durch die Orientierung an einem Kollektivsystem. Für tarifgebundene Arbeitgeber sind sie zudem ein probates Mittel, um die Attraktivität des Gewerkschaftsbeitritts für nichtorganisierte Arbeitnehmer zu vermindern. Nicht tarifgebundene Arbeitgeber (OT-Mitglieder) werden im Einzelfall abzuwägen haben, ob eine Bezugnahmeklausel für sie sinnvoll ist. Die optimale Gestaltung der Klausel lässt sich nicht abstrakt, sondern nur unter Berücksichtigung der konkreten Interessenlage festlegen. Diese wird je nach der wirtschaftlichen Situation und den Marktbedingungen von Arbeitgeber zu Arbeitgeber durchaus unterschiedlich sein. Entscheidend ist im Einzelfall, ob für den Arbeitgeber im Vordergrund steht, eine dauerhafte zeitdynamische Bindung zu vermeiden, ob er bereit ist, eine dauerhafte statische Bindung an das aktuelle Tarifniveau zu akzeptieren oder ob er Wert auf die Möglichkeit legt, das aktuelle Tarifniveau künftig auch nach unten abzusenken. Für den Kautelarjuristen stellt sich zudem die Frage, ob der Arbeitgeber eine konstitutive Wirkung der Bezugnahmeklausel für kongruent tarifgebundene Arbeitnehmer vermeiden will1.
I. Tarifgebundene Arbeitgeber Für tarifgebundene Arbeitgeber bietet sich die folgende Formulierung an, um mit der 132 arbeitsvertraglichen Bezugnahme die jeweilige tarifrechtliche Bindung des Arbeitgebers widerzuspiegeln: „Auf das Arbeitsverhltnis sind die jeweils fr den Betrieb normativ geltenden Tarifvertrge in ihrer jeweils gltigen Fassung anzuwenden.“ Zur Klarstellung empfiehlt es sich, in einem gesonderten Satz den aktuell in Bezug genommenen TV konkret zu benennen: „Dies sind zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses die von der X-Gewerkschaft mit dem Y-Arbeitgeberverband fr das Tarifgebiet Z abgeschlossenen Tarifvertrge fr die A-Branche. Die auf das Arbeitsverhltnis anzuwendenden Tarifvertrge kçnnen im Personalbro eingesehen werden.“ Die Folgen bei Beendigung der Tarifbindung durch Verbandsaustritt oder bei Betriebsübergang sollten vertraglich geregelt werden. Dies kann mit den folgenden Formulierungen geschehen: „Im Falle des Verbandsaustritts des Arbeitgebers gelten die Tarifvertrge in der zu diesem Zeitpunkt geltenden Fassung statisch fort, es sei denn, sie werden nach tarifrechtlichen Grundstzen durch andere Tarifnormen abgelçst. 1 Vgl. zum Ganzen auch Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, S. 128 ff.
Henssler
913
Teil 10 Rz. 133
Tarifgebundenheit durch Inbezugnahme
Bei einem Betriebs(teil)bergang auf einen nicht verbandlich organisierten Erwerber gelten die Tarifnormen ebenfalls nur statisch fort. Wird der Betrieb(steil) auf einen anderweitig tariflich gebundenen Erwerber bertragen, so sind die fr diesen normativ geltenden Tarifbedingungen anzuwenden. Dabei kann es zu einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen kommen.“ Verfolgt der Arbeitgeber das Ziel, mit der Bezugnahmeklausel lediglich das widerzuspiegeln, was sich aus tarifrechtlichen Grundsätzen bzw. § 613a BGB ergibt, so bietet sich alternativ folgende Formulierung an, um Probleme, die sich aus der konstitutiven Wirkung der Bezugnahmeklauseln für Gewerkschaftsmitglieder ergeben könnten, zu vermeiden und außerdem die Gleichstellungsfunktion für die Außenseiter unzweifelhaft klarzustellen: „Sollte der Arbeitnehmer tarifgebunden sein, gelten fr ihn diejenigen Regelungen, die sich aus seiner Tarifgebundenheit/Gewerkschaftsmitgliedschaft ergeben. Dies sind zurzeit … Sollte der Arbeitnehmer nicht tarifgebunden sein, gelten fr ihn ebenfalls diejenigen Regelungen, die jeweils gelten wrden, wenn er tarifgebunden, insbesondere Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaft, wre.“ Nach Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit gab es für mehrere Jahre keinen übergeordneten Grundsatz, wonach für verschiedene Arbeitsverhältnisse derselben Art in einem Betrieb nur einheitliche Tarifregelungen zur Anwendung kommen konnten1. Auch durch das 2015 in Kraft getretene Tarifeinheitsgesetz sind Tarifpluralitäten nicht hinfällig geworden. Nach der neuen Kollisionsregel des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG wird eine Auflösung der Tarifpluralität zwar in weiten Bereichen bereits von Gesetzes wegen vorgenommen, aufgrund der Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Tarifeinheitsgesetzes und der 2016 ausstehenden Entscheidung des BVerfG2 ist die folgende Klausel dennoch zu empfehlen. Im Zweifel hat sie eine rein deklaratorische Wirkung. Unklarheiten über den in Bezug genommenen TV können durch folgende Formulierung weitgehend ausgeräumt werden: „Kommen nach dieser Regelung unterschiedliche Tarifvertrge in Betracht, so ist bei einem Nebeneinander von Verbands- und Firmentarifvertrag der Firmentarif und im brigen derjenige Tarifvertrag anzuwenden, an den die meisten Belegschaftsmitglieder normativ gebunden sind.“
II. Nicht tarifgebundene Arbeitgeber 133 Bei nicht tarifgebundenen Arbeitgebern oder wenn sichergestellt werden soll, dass über die Bezugnahmeklausel keine weiterreichende Tarifbindung erreicht werden soll, als sie für die Gewerkschaftsmitglieder besteht, kann sich folgende Gestaltungsvariante anbieten: 1 BAG v. 23.6.2010 – 10 AS 2/10, NZA 2010, 778; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068; vgl. zur Aufgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit Rz. 44 ff. 2 Vgl. HWK/Henssler, § 4a TVG Rz. 3.
914 Henssler
Formulierungsvorschlge
Rz. 133 Teil 10
„(Regelungen des Arbeitsvertrages) Im brigen gilt der X-Tarifvertrag in seiner Fassung vom … nderungen dieses Tarifvertrages gelten dann fr das Arbeitsverhltnis, wenn der Arbeitgeber ihrer Geltung nicht innerhalb einer Frist von vier Wochen nach ihrem Inkrafttreten aus wirtschaftlichen Grnden widerspricht. Im Fall eines Betriebs(teil)bergangs gilt der Tarifvertrag in der im Zeitpunkt des Betriebsbergangs geltenden Fassung weiter. Die Geltung des Tarifvertrages endet mit einer Tarifbindung des Arbeitgebers durch Beitritt zu einem Arbeitgeberverband. In diesem Fall ist der nunmehr kraft Tarifbindung geltende Tarifvertrag anzuwenden.“ Mit dieser Variante wird sichergestellt, dass der Arbeitgeber jeweils im Einzelfall entscheiden kann, ob er eine künftige Tariferhöhung übernehmen will. Entsprechend den vom 5. Senat des BAG für Widerrufsvorbehalte entwickelten Grundsätzen1 ist es erforderlich, auch den einseitigen Widerspruch des Arbeitgebers an einen spezifizierten Sachgrund („wirtschaftliche Gründe“) zu koppeln. Im Schrifttum wird sogar noch einen Schritt weitergehend gefordert, dass formularmäßige Widerrufsvorbehalte, die sich unmittelbar auf synallagmatische Pflichten beziehen und bei denen der Arbeitnehmer keinen Einfluss auf den Eintritt der Änderung hat, nur dann wirksam seien, wenn die Vertragsklausel einen konkreten Widerrufsgrund nennt, der vor dem Hintergrund der Wertung des § 2 KSchG bestehen kann2. Das würde dafür sprechen, die zum Widerruf berechtigende wirtschaftliche Lage des Betriebs noch zu präzisieren. Der Rechtsprechung lassen sich derart verschärfte Anforderungen allerdings bislang nur für den Sonderfall des Widerrufs einer Dienstwagennutzungsberechtigung3 entnehmen.
1 BAG v. 12.1.2005 – 5 AZR 364/04, NZA 2005, 465; zum Ganzen Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, S. 21 ff. 2 Singer, RdA 2006, 362, 373; ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 61 m.w.N. 3 BAG v. 13.4.2010 – 9 AZR 113/09, NZA-RR 2010, 457.
Henssler
915
Teil 11 Haustarif Rz.
Rz. A. Begriff, Arten und Bedeutung in der Praxis I. Begriff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wesentliche Chancen und Risiken von Haustarifverträgen im Verhältnis zu Verbandstarifverträgen aus Unternehmenssicht. . . . . . . . . . . 1. Chancen/Vorteile von Haustarifverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Risiken/Nachteile von Haustarifverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bedeutung gewerkschaftsinterner Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Arten von Haustarifverträgen . . . . . . 1. Anerkennungstarifverträge . . . . . . . . 2. Anerkennungstarifverträge mit Abweichungen von den Flächentarifverträgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Selbständige Tarifverträge ohne Bezugnahme auf Flächentarifverträge . 4. Unternehmensbezogener Verbandstarifvertrag (firmenbezogener Verbandstarifvertrag) . . . . . . . . . . . . . 5. Haustarifvertrag als Strukturtarifvertrag gemäß § 3 BetrVG . . . . . . . . .
VII. Umstrukturierung . . . . . . . . . . . . . . .
24
VIII. Unternehmen in der Krise . . . . . . . . .
25
1 D. Wirkung/Geltung des Haustarifvertrages 2 3 4 5 6 7
8 9
I. Normative Geltung des Haustarifvertrages kraft beiderseitiger Tarifbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26
II. Schuldrechtliche Geltung kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme . . .
27
III. Tarifzuständigkeit der Gewerkschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
28
IV. Beginn und Ende der zwingenden Tarifgeltung, insb. Auswirkungen des Verbandsaustritts bzw. des Wechsels zur OT-Mitgliedschaft 1. Auswirkungen des Verbandsaustritts bzw. des Wechsels zur OT-Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beendigung i.S.d. § 3 Abs. 3 TVG . . .
29 30
10
E. Verhältnis zwischen Haustarifvertrag und Verbandstarifvertrag . . . . . .
31
11
I. Arbeitgeber kein Verbandsmitglied .
32
C. Typische Ausgangssituationen für Haustarifverträge . . . . . . . . . . . . . . . .
17
I. Post Merger Situation. . . . . . . . . . . . .
18
II. Outsourcing/Joint VentureSituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
III. Austritt aus dem Arbeitgeberverband. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
20
II. Verbandsangehöriger Arbeitgeber 1. Abschluss mit Gewerkschaft des Flächentarifvertrages . . . . . . . . . . . . . a) Während der zwingenden Geltung des Flächentarifvertrages . . . b) Nach Ablauf des Flächentarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abschluss mit anderer Gewerkschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Tarifpluralität: Rechtsprechung und Gesetzgebung aa) Rechtslage bis zum Inkrafttreten des TEG . . . . . . . . . . . . . bb) Die neue Tarifkollisionsregel . b) Besonderheit: Abschluss nach Ablauf des Flächentarifvertrages der Mehrheitsgewerkschaft. . . . . .
IV. Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eines Flächentarifvertrages. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
F. Verhältnis zu anderen Haustarifverträgen
V. Wettbewerber hat tarifliche Vorteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
22
VI. Standortfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
B. Der Arbeitgeber als Tarifvertragspartei I. Haustariffähigkeit des Arbeitgebers .
13
II. Begriff des Arbeitgebers . . . . . . . . . . .
14
III. Besonderheiten im Konzern . . . . . . .
15
IV. Beginn und Ende der Tariffähigkeit .
16
33 34 35 36
37 38
39
I. Abschluss eines anderen Haustarifvertrages mit derselben Gewerkschaft
Seitz
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Teil 11
Haustarif Rz.
Rz. 1. Während der Laufzeit des anderen Haustarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nach Ablauf des anderen Haustarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Abschluss eines anderen Haustarifvertrages mit einer anderen Gewerkschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40
42
I. Grundsatz: Tarifvorrang und Tarifvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
II. Öffnungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . .
44
H. Verhältnis zum Arbeitsvertrag I. Arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
II. Sonstige einzelvertragliche Zusagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
J. Streikrecht I. Erstreikbarkeit von Haustarifverträgen 1. Rechtsprechung des BAG. . . . . . . . . . 52 2. Gegenauffassungen. . . . . . . . . . . . . . . 54 3. Unzulässige Streikziele . . . . . . . . . . . 56 4. Beschränkung des Streikrechts durch das Tarifeinheitsgesetz? . . . . . 56a 57
K. Praxisrelevante Fragestellungen bei Anerkennungstarifverträgen I. Begriff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
58
II. Umfang der Anerkennung . . . . . . . . .
60
III. Status der Tarifgeltung . . . . . . . . . . . .
61
IV. Nachwirkung bei Anerkennungstarifverträgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nachwirkung des Anerkennungstarifvertrages a) Beendigung des Anerkennungstarifvertrages. . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Nachwirkung aller in Bezug genommenen Regelungen. . . . . . . . . c) Auswirkungen in der Praxis . . . . . d) Abgrenzung zu Stufenregelungen in Tarifverträgen . . . . . . . . . . . 2. Nachwirkung des anerkannten Tarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64
65 66 67 69 70
V. Friedenspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72
VI. Tarifliche Differenzierungsklauseln.
73
918 Seitz
74 75
L. Überleitungstarifverträge. . . . . . . . . .
76
41
G. Verhältnis zu Betriebsvereinbarungen
II. Friedenspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Qualifizierte Differenzierungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einfache Differenzierungsklauseln. .
M. Rechtliche und taktische Vorbereitung und Durchführung von Haustarifvertrags-Verhandlungen I. Typische Fragen vor der Einführung von Haustarifverträgen . . . . . . . 1. Klärung der Gewerkschaftszuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Festlegung des Geltungsbereichs a) Räumlicher Geltungsbereich . . . . b) Persönlicher Geltungsbereich. . . . aa) Definition der AT-Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Schuldrechtliche Verpflichtungen hinsichtlich des AT-Bereichs . . . . . . . . . . . . . . . cc) Herausnahme von Arbeitnehmergruppen aus dem Geltungsbereich. . . . . . . . . . . . dd) Erstreckung der Tarifgeltung auf Außenseiter? . . . . . . . c) Zeitlicher Geltungsbereich . . . . . . aa) Nachwirkung . . . . . . . . . . . . . . bb) Rückkehr zum Flächentarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Risiken aus arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln aa) Risiko: Leerlaufen des Haustarifvertrages . . . . . . . . . . bb) Mögliche Lösungsansätze. . . . e) Günstigere Regelungen in den Arbeitsverträgen. . . . . . . . . . . . . . . f) Überschneidungen mit Betriebsvereinbarungen . . . . . . . . . . . g) Überschneidungen mit anderen anzuwendenden Tarifverträgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vorbereitung von Haustarifvertrags-Verhandlungen . . . . . . . . . . . . . 1. Definition des Status quo und der Zielstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wesentliche Verhandlungspunkte . . a) Arbeitszeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Arbeitsentgelt/Zuschläge . . . . . . . c) Investitionszusagen . . . . . . . . . . . . d) Standort- und Beschäftigungssicherungszusagen . . . . . . . . . . . . . e) Nachwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80 81 85 86 87
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89 90 91 92 93
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99 100 101 102 103 104 105 106 107 108
Teil 11
Haustarif Rz.
Rz.
4. Zeitpunkt der Verhandlungen . . . . . . 109 5. Alternativkonzept . . . . . . . . . . . . . . . 110 111
4. Arbeitskämpfe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 5. Informationspolitik im Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
112 113
N. Haustarifverträge bei Betriebsübergang und Umwandlung . . . . . . . 117
III. Ablauf der Verhandlungsphase . . . . . 1. Kontaktaufnahme mit dem Tarifpartner und Sondierungsgespräche . . 2. Kick-off-Veranstaltung . . . . . . . . . . . . 3. Erster Verhandlungstermin und weitere Verhandlungen . . . . . . . . . . .
114
Literatur: Ahrendt, Firmentarifvertrag und firmenbezogener Verbandstarifvertrag, RdA 2012, 129; Annuß, Tarifbindung durch arbeitsvertragliche Bezugnahme?, ZfA 2005, 405; Baeck/Winzer, Aktuelle Entwicklungen im Arbeitsrecht, NZG 2013, 655; Bauer/Günther, Bezugnahmeklauseln bei Verbandswechsel und Betriebsübergang, NZA 2008, 6; Bauer/Krieger, „Firmensozialplan“ als zulässiges Ziel eines Arbeitskampfes?, NZA 2004, 1019; Bayreuther, OT-Mitgliedschaft, Tarifzuständigkeit und Tarifbindung, BB 2007, 325; Bepler, Probleme um den Sanierungstarifvertrag, AuR 2010, 234; Boecken, Unternehmensumwandlung und Arbeitsrecht, 1996; Buchner, Die tarifrechtliche Situation bei Verbandsaustritt und bei Auflösung eines Arbeitgeberverbandes, RdA 1997, 259; Buchner, Möglichkeiten und Grenzen betriebsnaher Tarifpolitik, DB 1970, 2025; Buchner, Unternehmensbezogene Tarifverträge – tarif-, verbands- und arbeitskampfrechtlicher Spielraum, DB Beilage 9/2001, 1; Däubler, Das Arbeitsrecht im neuen Umwandlungsgesetz, RdA 1995, 136; Fischer, Gewaltenteilung paradox – Der Entwurf zum Tarifeinheitsgesetz, FA 2015, 74; Fischinger, Die Tarif- und Arbeitskampffähigkeit des verbandsangehörigen Arbeitgebers, ZTR 2006, 518; Gaul, Das Schicksal von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen bei der Umwandlung von Unternehmen, NZA 1995, 717; Gaul, Neue Felder des Arbeitskampfs: Streikmaßnahmen zur Erzwingung eines Tarifsozialplans, RdA 2008, 13; Gaul/Naumann, Tarifwechsel durch Firmentarifvertrag, DB 2006, 1054; Gaul/Otto, Konsequenzen einer Spaltung nach § 123 UmwG für Firmentarifverträge, BB 2014, 500; Greiner, Das Tarifeinheitsgesetz – ein „Brandbeschleuniger“ für Tarifauseinandersetzungen?, RdA 2015, 36; Greiner, Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen zwischen mitgliedschaftlicher Legitimation und öffentlichem Interesse, Festschrift von Hoyningen-Huene, 2014; Greiner, Dogmatik und Praxis der gesetzlichen Tarifeinheit, NZA 2015, 769; Hanau, Arbeitsrecht und Mitbestimmung in Umwandlung und Fusion, ZGR 1990, 548; Hanau/Thüsing, Streik um Anschlusstarifverträge, ZTR 2002, 506; Hensche, Zur Zulässigkeit von Firmentarifverträgen mit verbandsangehörigen Unternehmen, RdA 1971, 9; Henssler, Der „Arbeitgeber in der Zange“ – Rechtsfragen der Firmentarifsozialpläne –, in: Festschrift Richardi, 2007, S. 553; Henssler, Firmentarifverträge und unternehmensbezogene Verbandstarifverträge als Instrumente einer „flexiblen“ betriebsnahen Tarifpolitik, ZfA 1998, 517; v. Hoyningen-Huene, Die Rolle der Verbände bei Firmenarbeitskämpfen, ZfA 1980, 453; Jacobs, Die Erkämpfbarkeit von firmenbezogenen Tarifverträgen mit verbandsangehörigen Arbeitgebern, ZTR 2001, 249; Kilg/ Hendrik, Haustarifverträge – Vertretung von Konzernunternehmen durch die Konzernobergesellschaft beim Abschluss, BB 2007, 1670; Kleinebrink, Grundsätze der Gestaltung von Tarifverträgen zur Sanierung eines Unternehmens, ArbRB 2008, 279; Kleinebrink, Öffnungsklauseln in Tarifverträgen und ihre Nutzung auf betrieblicher Ebene, ArbRB 2008, 350; Kleinebrink, Sanierende Ablösung von Verbandstarifverträgen durch Firmentarifverträge und firmenbezogene Verbandstarifverträge, ArbRB 2006, 119; Kleinebrink, Tücken des Anerkennungstarifvertrags, DB 2007, 518; Krichel, Ist der Firmentarifvertrag mit einem verbandsangehörigen Arbeitgeber erstreikbar?, NZA 1986, 731; Lägeler/Maier, Schicksal des Ergänzungstarifvertrags bei Verbandsaustritt, NZA 2008, 1106; Lieb, Erkämpfbarkeit von Firmentarifverträgen mit verbandsangehörigen Arbeitgebern, DB 1999, 2058; Melms/Kentner, Die Modifikation des Günstigkeitsprinzips, NZA 2014, 127; Mengel, Umwandlungen im Arbeitsrecht, 1997; Meyer, Der Firmentarif-Sozialplan als Kombinationsvertrag, DB 2005, 830; Oberwinter/Stürtz-Deligiannis, Haustarifverträge, AuA 2007, 406; Preis, Der Preis der Koalitionsfreiheit, FA 2014, 354; Preis/Greiner, Vertragsgestaltung bei Bezugnahmeklauseln nach der Rechtsprechung des BAG, NZA 2007, 1073; Reuter, Können verbandsangehörige Arbeitgeber zum Abschluss von Haustarifverträgen gezwungen werden?, NZA 2001, 1097; Rieble, Der Fall Holzmann und seine Lehren, NZA 2000, 225; Rolfs/Clemens, Entwicklungen und Fehl-
Seitz
919
Teil 11 Rz. 1
Haustarif
entwicklungen im Arbeitskampfrecht, NZA 2004, 410; Schelp, Dreigliedrige Standortsicherheitsvereinbarungen, 2013; Schleusener, Rechtmäßigkeit kampfweiser Durchsetzung von Firmentarifverträgen gegenüber verbandsangehörigen Arbeitgebern, NZA 1998, 239; Sittard, Voraussetzungen und Wirkungen der Tarifnormerstreckung nach § 5 TVG und dem AEntG, 2010; Thüsing, Dreigliedrige Standortvereinbarungen, NZA 2008, 201; Thüsing, Tarifkonkurrenz durch arbeitsvertragliche Bezugnahme, NZA 2005, 1280; Umbach, Rechtsfragen des Anerkennungstarifvertrages, 2004; Wendeling-Schröder, Betriebliche Ergänzungstarifverträge, NZA 1998, 624; Willemsen/ Mehrens, Die Friedenspflicht im Zeitraum der Nachbindung, NZA 2009, 169. Der Autor dankt seiner Kollegin Frau Rechtsanwältin Heinke von Netzer für die maßgebliche Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts.
A. Begriff, Arten und Bedeutung in der Praxis I. Begriff 1 Bei einem HausTV (auch FirmenTV genannt) schließt nicht wie bei einem VerbandsTV der Arbeitgeberverband mit der Gewerkschaft einen TV, sondern der einzelne Arbeitgeber selbst wird Partei des TVs. TV-Parteien bei einem HausTV sind also der Arbeitgeber und die Gewerkschaft. Der Geltungsbereich kann sich auf einzelne Betriebe des Unternehmens beziehen, aber auch das Unternehmen insgesamt erfassen.
II. Wesentliche Chancen und Risiken von Haustarifverträgen im Verhältnis zu Verbandstarifverträgen aus Unternehmenssicht 2 Die pauschale Benennung von Vorteilen und Nachteilen eines HausTVs im Verhältnis zu VerbandsTVen bereitet Schwierigkeiten. Sie hängt maßgeblich von dem jeweiligen Betrachter ab. In der anwaltlichen Praxis der Beratung von Unternehmen hat die Abwägung von VerbandsTVen im Vergleich zu FlächenTVen erhebliche Bedeutung. Die folgenden Überlegungen werden typischerweise auf Arbeitgeberseite angestellt. 1. Chancen/Vorteile von Haustarifverträgen 3 HausTVen wird aus Unternehmenssicht gegenüber VerbandsTVen insbesondere der Vorteil beigemessen, dass sie „maßgeschneiderte Lösungen“, zugeschnitten auf die spezielle Situation des jeweiligen Unternehmens ermöglichen1. VerbandsTVe dagegen müssen der wirtschaftlichen Situation aller dem Arbeitgeberverband angehörenden Unternehmen Rechnung tragen. Es wird daher von Unternehmensseite oftmals beanstandet, dass die Bedingungen eines VerbandsTVs auf das jeweilige Unternehmen nicht passen bzw. zu pauschal seien. VerbandsTVe werden von Unternehmen zudem häufig als zu „teuer“ kritisiert. HausTVe bieten zudem die Chance einer größeren Flexibilität. Häufig dienen HausTVe Unternehmen in der Krise als SanierungsTV zur Sicherung des Standortes durch die Unterschreitung des FlächenTVs2. Durch den Abschluss eines HausTVs können im Gegensatz zu VerbandsTVen ggf. schnellere Regelungen als auf 1 So auch Oberwinter/Stürtz-Deligiannis, AuA 2007, 406 f. und Gaul/Naumann, DB 2006, 1054. 2 Vgl. hierzu auch Bepler, AuR 2010, 234 ff.; Kleinebrink, ArbRB 2006, 119 ff.; eingehend zum Sanierungstarifvertrag: Moll, Kapitel 12.
920 Seitz
Begriff, Arten und Bedeutung in der Praxis
Rz. 6 Teil 11
Ebene des Verbandes getroffen werden, da bei HausTVen die Abstimmung auf Verbandsebene entfällt. 2. Risiken/Nachteile von Haustarifverträgen Die Aufnahme von HausTV-Verhandlungen ist mit Unwägbarkeiten verbunden. Zu- 4 nächst muss die zuständige Gewerkschaft überhaupt zur Verhandlung eines HausTVs bereit sein. Die Flexibilität von HausTVen realisiert sich somit erst, wenn die Gewerkschaft bereit ist, diese Flexibilität mitzutragen (vgl. auch Rz. 5). Das Unternehmen verfügt auch nicht immer über das erforderliche Know-how, um HausTV-Verhandlungen professionell vorzubereiten und durchzuführen. Zudem sind HausTV-Verhandlungen oft aufwendig und personalintensiv. Gleichzeitig lässt sich bei Beginn der Verhandlungen nicht absehen, ob sich die Investition für das Unternehmen lohnt und ob das gewünschte Verhandlungsergebnis erzielt werden wird. Bei der Mitgliedschaft in einem Arbeitgeberverband dagegen muss sich das Unternehmen nicht mit dem Aushandeln von Arbeitsbedingungen belasten, sondern es gelten kraft Verbandsmitgliedschaft die von dem Arbeitgeberverband mit der Gewerkschaft ausgehandelten Arbeitsbedingungen. 3. Bedeutung gewerkschaftsinterner Richtlinien Ob und unter welchen Voraussetzungen eine Gewerkschaft zum Abschluss von Haus- 5 TVen bereit ist, hängt oftmals von gewerkschaftsinternen Richtlinien ab. Dies gilt insbesondere für SanierungsTVe, in denen das Flächentarifniveau unterschritten wird. So hat z.B. der Gewerkschaftsrat von ver.di Grundsätze für Notfall- und Härtefallvereinbarungen aufgestellt1. Nach diesen Grundsätzen ist ver.di nur unter genau definierten wirtschaftlichen und sonstigen Voraussetzungen bereit, von den jeweiligen FlächenTVen abzuweichen. Ferner werden Mindestanforderungen festgelegt, die auf keinen Fall unterschritten werden dürfen. Ver.di hält dies insbesondere zum Schutz des TVSystems und zur Wahrung tariflicher Standards für zwingend erforderlich. Denn die FlächenTVe würden entwertet, würde die Gewerkschaft auf jede Anfrage der Arbeitgeberseite jederzeit Abweichungen von den jeweils gültigen FlächenTVen zulassen. In den internen Grundsätzen werden zudem bestimmte Positionen in den FlächenTVen als nicht verhandelbar definiert. Die Kenntnis solcher gewerkschaftsinterner Grundsätze bzw. die Bereitschaft der Arbeitgeberseite, auf diese internen Vorgaben flexibel zu reagieren, ist unerlässlich für den Erfolg von HausTV-Projekten.
III. Arten von Haustarifverträgen Es gibt keine konkreten gesetzlichen Vorgaben über die inhaltliche Gestaltung von 6 HausTVen. Der Inhalt eines HausTVs unterliegt im Rahmen der geltenden Gesetze der Vertragsfreiheit. In der Praxis haben sich bezogen auf ihren Inhalt im Wesentlichen die folgenden Gestaltungsmöglichkeiten für HausTVe durchgesetzt2: 1 Grundsätze für Notfall- und Härtefallvereinbarungen, beschlossen durch den Gewerkschaftsrat in seiner Sitzung vom 15. und 16.7.2003. 2 Die Bezeichnungen sind uneinheitlich. Abweichend von der hier vorgenommenen Unterteilung unterscheidet Däubler AnerkennungsTVe mit der unmodifizierten Übernahme des ein-
Seitz
921
Teil 11 Rz. 7
Haustarif
1. Anerkennungstarifverträge 7 AnerkennungsTVe sind HausTVe, die den Inhalt des FlächenTVs grundsätzlich nicht verdrängen und kein eigenständiges Regelungswerk beinhalten. Es wird zumeist die Geltung des einschlägigen Flächentarifwerks (z.B. TVe des Einzelhandels, TVe der Metall- und Elektroindustrie, TVe der chemischen Industrie etc.) vereinbart. Die Geltung der FlächenTVe wird „anerkannt“. Denkbar sind aber auch eine Anerkennung nur einzelner TVe sowie die Anerkennung branchenfremder TVe. Ausführlich zum AnerkennungsTV vgl. Rz. 58 ff. 2. Anerkennungstarifverträge mit Abweichungen von den Flächentarifverträgen 8 AnerkennungsTVe enthalten häufig zugleich Abweichungen von den anerkannten TVen. Man spricht dann von modifizierten AnerkennungsTVen1. Häufig werden in Restrukturierungs- bzw. Sanierungssituationen AnerkennungsTVe abgeschlossen, die für die Mitarbeiter in einzelnen Punkten Verschlechterungen von den in Bezug genommenen FlächenTVen enthalten, um Personalkosteneinsparungen zu bewirken. Im Gegenzug macht das Unternehmen regelmäßig Zugeständnisse, z.B. in Form von Nichtverlagerungsgarantien oder Beschäftigungssicherungszusagen. Beispiele: eine höhere Arbeitszeit als in den FlächenTVen, eine geringere Vergütung als in den FlächenTVen. Solche HausTVe werden als „SanierungsTV“ oder „RestrukturierungsTV“ bezeichnet (ausführlich zum SanierungsTV s. Teil 12 Rz 1 ff.). Die Gewerkschaft ist in der Regel nur zu verschlechternden Abweichungen von den FlächenTVen bereit, wenn das Unternehmen belegen kann, dass eine Sanierungssituation vorliegt. Ansonsten ist es für die Gewerkschaft politisch nicht vertretbar, einzelne Unternehmen besser zu stellen. Es gibt aber auch AnerkennungsTVe mit Verbesserungen gegenüber den einschlägigen FlächenTVen. Dies ist z.B. bei großen Unternehmen mit langer Historie der Fall, die traditionell HausTVe abschließen. 8a
Muster eines „Modifizierten Anerkennungstarifvertrages“ Firmentarifvertrag Zwischen der Gewerkschaft …, vertreten durch … – nachfolgend „Gewerkschaft“ genannt – und der x-GmbH, vertreten durch die Geschftsfhrung, … nachfolgend „x GmbH“ genannt wird folgender Tarifvertrag geschlossen:
schlägigen Flächentarifwerks, im Gegensatz zu HausTVen mit speziellen Regelungen für das jeweilige Unternehmen, vgl. Däubler, § 1 TVG Rz. 71; vgl. zur abweichenden Unterteilung auch die Anmerkung bei Kilg/Hendrik, BB 2007, 1670. 1 Siehe hierzu das Muster eines modifizierten AnerkennungsTV, Rz. 8a.
922 Seitz
Begriff, Arten und Bedeutung in der Praxis
Rz. 8a
Teil 11
§ 1 Geltungsbereich Dieser Tarifvertrag gilt rumlich fr alle Betriebe der x-GmbH in der Bundesrepublik Deutschland. Er gilt persçnlich fr alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (Angestellte und gewerbliche Arbeitnehmerinnen sowie Arbeitnehmer, Auszubildende) bei der x-GmbH, mit Ausnahme der Personen im Sinne des § 5 Abs. 2 und Abs. 3 BetrVG. § 2 Anerkennung der Tarifvertrge 1. Die Tarifvertrge der …-Industrie fr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Arbeiterinnen und Arbeiter, Angestellte und Auszubildende des Tarifgebietes (Bundesland) des Beschftigungsortes, abgeschlossen zwischen der Gewerkschaft sowie dem Arbeitgeberverband xy, gelten in ihrer jeweiligen Fassung fr die in ihrem jeweiligen Geltungsbereich aufgefhrten Beschftigten des Unternehmens, soweit in diesem Tarifvertrag nichts Abweichendes geregelt ist. 2. Es gelten alle Abkommen, Zusatzabkommen, nderungen und Neufassungen von Tarifvertrgen sowie alle neuen Tarifvertrge und Bestimmungen, die zwischen den in Absatz 1 genannten Tarifvertragsparteien fr das Tarifgebiet (Bundesland) vereinbart sind und werden. § 3 Arbeitszeit Abweichend von § 3 Manteltarifvertrag betrgt die regelmßige wçchentliche Arbeitszeit abzglich der Pausen 40 Stunden mit entsprechendem Entgeltausgleich. § 4 Zuschlge Fr alle Beschftigten werden abweichend von den in § 2 genannten tariflichen Bestimmungen einheitlich die in der Anlage aufgefhrten Werte aus der Tabelle angewandt. § 5 Eingruppierung Wird ein Beschftigter vorbergehend mindestens fr die Dauer von drei Tagen zusammenhngend mit Arbeiten beschftigt, die den Ttigkeitsmerkmalen einer hçheren Tariflohn- bzw. Gehaltsgruppe entsprechen, so hat er/sie abweichend von § 8 des Lohn- und Gehaltsrahmentarifvertrags Anspruch auf den hçheren Tariflohn bzw. das hçhere Tarifgehalt fr die Dauer der Ttigkeit. § 6 Inkrafttreten und Laufzeit 1. Dieser Tarifvertrag tritt mit Unterzeichnung in Kraft. 2. Er kann von jeder Vertragspartei schriftlich mit sechsmonatiger Frist zum Jahresende, erstmalig jedoch zum 31.12.20…, gekndigt werden. Im Falle der Kndigung werden die Parteien unverzglich Verhandlungen ber einen Neuabschluss aufnehmen. …, den … … x-GmbH
… Gewerkschaft
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923
Teil 11 Rz. 9
Haustarif
3. Selbständige Tarifverträge ohne Bezugnahme auf Flächentarifverträge 9 Bei dieser Gestaltungsvariante wird in einem HausTV ohne Anlehnung an FlächenTVe eine eigene Arbeitsrechtsordnung vereinbart. Dies findet sich in der Praxis seltener, da die Gewerkschaften aus nachvollziehbaren Gründen eine Anwendung der jeweils mit dem Arbeitgeberverband verhandelten FlächenTVe anstreben. 4. Unternehmensbezogener Verbandstarifvertrag (firmenbezogener Verbandstarifvertrag) 10
Der unternehmensbezogene VerbandsTV ist im strengen Sinn kein HausTV, weil Vertragspartner der zuständigen Gewerkschaft der Arbeitgeberverband ist. In der Rechtswirkung ist der unternehmensbezogene VerbandsTV jedoch mit dem HausTV vergleichbar, da sich sein personeller Geltungsbereich auf ein oder mehrere Unternehmen bzw. auf einen oder mehrere Betriebe eines Unternehmens beschränkt1. Oft tritt der unternehmensbezogene VerbandsTV neben den „klassischen“ TV als sogenannter betriebsbezogener ErgänzungsTV. Unternehmensbezogene VerbandsTVe sind häufig zugleich SanierungsTVe2. 5. Haustarifvertrag als Strukturtarifvertrag gemäß § 3 BetrVG
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Grundsätzlich ist der Betrieb nach dem Betriebsverfassungsgesetz Anknüpfungspunkt der Betriebsratsstrukturen. Seit der Neuregelung des § 3 BetrVG zum 28.7.2001 kann jedoch von der im BetrVG vorgesehenen Normalstruktur einer Arbeitnehmervertretung abgewichen werden. Ziel des Gesetzgebers durch die Neuregelung ist es in erster Linie, den TV-Parteien flexible und weitreichende Möglichkeiten zu eröffnen, durch Vereinbarungen von der betriebsverfassungsrechtlichen Normalstruktur abzuweichen3. Die bisherigen Möglichkeiten zur Schaffung alternativer Strukturen wurden als nicht mehr ausreichend angesehen. Mögliche Strukturen sind z.B. ein unternehmenseinheitlicher Betriebsrat, die Zusammenfassung mehrerer Betriebe, die Gründung von Spartenbetriebsräten oder anderweitiger Arbeitnehmervertretungen. Der TV ist regelmäßig Rechtsgrundlage für die vom Gesetz abweichende Gestaltung. Als Gestaltungsmittel nennt § 3 BetrVG ausdrücklich den TV. Im Regelfall wird ein HausTV aufgrund der größeren Sachnähe die abweichenden Regelungen beinhalten. Der Abschluss eines firmenbezogenen VerbandsTVs ist zwar möglich, doch in der Praxis eher die Ausnahme.
12
Bei HausTVen gemäß § 3 BetrVG genügt die Tarifbindung des Arbeitgebers gemäß § 3 Abs. 2 TVG, wenn der Betrieb in den fachlichen, räumlichen und betrieblichen Geltungsbereich des TVs fällt. Die tariflichen Regelungen gelten dann auch für Außenseiter normativ und zwingend.
1 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 184 ff.; Kleinebrink, ArbRB 2006, 119 (121). 2 Näher hierzu Kleinebrink, ArbRB 2008, 279 ff. 3 ErfK/Koch, § 3 BetrVG Rz. 1; Fitting, § 3 BetrVG Rz. 7; Richardi/Richardi, § 3 BetrVG Rz. 3 ff.; HWGNRH/Rose, § 3 BetrVG Rz. 6.
924 Seitz
Der Arbeitgeber als Tarifvertragspartei
Rz. 14
Teil 11
B. Der Arbeitgeber als Tarifvertragspartei I. Haustariffähigkeit des Arbeitgebers Gemäß § 2 Abs. 1 TVG ist neben den Arbeitgeberverbänden auch der einzelne Arbeit- 13 geber tariffähig. Hierdurch soll gewährleistet werden, dass die Gewerkschaften stets einen TV-Partner zur Verfügung haben1. Auch soll sich der Arbeitgeber nicht durch Nichtbeitritt zu einem Arbeitgeberverband dem TV-System entziehen können2. Die Haustariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers ist Teil der individuellen Privatautonomie des Art. 12 Abs. 1 GG. Die Haustariffähigkeit beruht auf gesetzlicher Anordnung und tritt kraft Gesetzes ein. Der Arbeitgeber muss weder tarifwillig sein3, noch eine soziale Mächtigkeit besitzen4 oder eine Mindestanzahl an Arbeitnehmern beschäftigen5. Durch einen Beitritt zum Arbeitgeberverband verliert der Arbeitgeber nach dem BAG nicht seine Haustariffähigkeit6. Eine Gegenauffassung plädiert in diesem Fall für einen Entzug der Tariffähigkeit7. Andere halten in diesem Fall die auf den Abschluss eines HausTVs gerichteten Arbeitskämpfe für unzulässig8. Diese Auffassungen lassen sich jedoch nach dem BAG weder mit Art. 9 Abs. 3 GG noch mit § 2 Abs. 1 TVG vereinbaren9. Für die Praxis hat dies aufgrund der BAG-Rechtsprechung wohl nur geringe Bedeutung. Ist der Arbeitgeber zugleich Mitglied in einem Arbeitgeberverband, kann auch ein Verbot in der Verbandssatzung den Abschluss eines FirmenTVs nicht hindern. Der FirmenTV ist wirksam10. Der Unternehmer verstößt lediglich gegen seine Mitgliedschaftspflichten im Innenverhältnis und muss die daraus folgenden Konsequenzen, ggf. sogar den Ausschluss aus dem Verband tragen.
II. Begriff des Arbeitgebers Als Arbeitgeber i.S.v. § 2 Abs. 1 TVG kommt jede natürliche oder juristische Person des Privatrechts sowie des öffentlichen Rechts in Betracht11. Aufgrund der neueren Rechtsprechung des BGH zur Rechtsfähigkeit von Personengesellschaften ist von der Tariffähigkeit von oHG, KG, GbR, EWIV sowie von Partnerschaftsgesellschaften auszugehen12. Auch Trägerunternehmen eines gemeinsamen Unternehmens sind als 1 ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 20; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 338; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 124. 2 Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 78, unter Hinweis auf BVerfG v. 20.10.1980 – 1 BvR 404/78, DB 1982, 231; ausführlich Fischinger, ZTR 2006, 518 ff. 3 Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 340; JKOS/Schubert § 2 Rz. 13. 4 BAG v. 20.11.1990 – 1 ABR 62/89, NZA 1991, 428. 5 BAG v. 20.11.1990 – 1 ABR 62/89, NZA 1991, 428. 6 BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, NZA 2003, 334; BAG v. 24.1.2001 – 4 AZR 655/99, NZA 2001, 788; BAG v. 20.4.1999 – 1 AZR 631/08, NZA 1999, 1059. 7 Reuter, NZA 2001, 1097 (1098); Matthes, FS Schaub, 1998, S. 483. 8 Bauer/Krieger, NZA 2004, 1019 (1021); Rolfs/Clemens, NZA 2004, 410 (411 ff.); ausführlich Rz. 52 ff. 9 Zustimmend Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 80. 10 BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, NZA 2003, 334. 11 Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 349; ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 23; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 125 ff. 12 Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 129, 130; ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 23; Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 85.
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925
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Teil 11 Rz. 15
Haustarif
GbR tariffähig1. Hinsichtlich der BGB-Gesellschaft gilt dies jedenfalls, wenn es sich um eine Außengesellschaft handelt. Kirchen und ihre rechtlich selbständigen Gliederungen sind als Körperschaften des öffentlichen Rechts tariffähig2. Die Staatsangehörigkeit spielt keine Rolle für die Tariffähigkeit; maßgeblich ist die Beschäftigung von Arbeitnehmern im Inland3. Aufgrund ihrer Doppelstellung als Arbeitgeber und Gewerkschaft werden Bedenken gegen die Tariffähigkeit von Gewerkschaften geäußert. Dies beseitigt aber nicht deren grundsätzliche Tariffähigkeit4. Weiterhin existieren Sonderregelungen für TV-Abschlüsse, die im Zusammenhang mit der Privatisierung der Post und der Bahn erlassen wurden5.
III. Besonderheiten im Konzern 15
Ein Konzern wird überwiegend als nicht tariffähig betrachtet6. Trotzdem kann in der Praxis im Ergebnis über verschiedene rechtliche Konstruktionen eine einheitliche Tarifgeltung im Konzern erreicht werden. Zum einen kann jedes Konzernunternehmen Mitglied in demselben Arbeitgeberverband sein7. Weiterhin besteht die Möglichkeit, dass alle Konzernunternehmen denselben VerbandsTV anerkennen. Schließlich können die Konzernunternehmen die Konzernobergesellschaft oder einen anderen Verhandlungsführer mit dem Abschluss eines Konzerntarifs beauftragen8.
IV. Beginn und Ende der Tariffähigkeit 16
Die Tariffähigkeit beginnt, wenn die Einstellung von Arbeitnehmern vorgesehen ist. Sie endet, wenn der Arbeitgeber als TV-Partei ersatzlos wegfällt9. Die Tariffähigkeit bleibt bestehen, wenn ein Insolvenzverfahren bei Bestehen eines HausTVs eröffnet wurde. Auch der Insolvenzverwalter bleibt an bestehende HausTVe gebunden. Zudem besitzt er die Möglichkeit, mit den Gewerkschaften neue TVe abzuschließen10.
C. Typische Ausgangssituationen für Haustarifverträge 17
Die nachfolgende Aufzählung beschreibt typische Ausgangssituationen für HausTV-Abschlüsse und zeigt auf, welche Ziele ein Unternehmen in der jeweiligen Situation verfolgt.
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 23; JKOS/Schubert § 2 Rz. 127. Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 56; Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 86. ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 23. BAG v. 17.2.1998 – 1 AZR 364/97, NZA 1998, 754; ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 23. Näher Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 87. ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 24; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 147; Wieland, Firmentarifverträge, Rz. 80; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 141. So auch Kleinebrink, ArbRB 2008, 279 (280). Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 94; Kilg/Hendrik, BB 2007, 1670 ff. Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 99 f.; ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 25. BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41; ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 26; Löwisch/ Rieble, § 2 TVG Rz. 378.
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Teil 11 Rz. 15
Haustarif
GbR tariffähig1. Hinsichtlich der BGB-Gesellschaft gilt dies jedenfalls, wenn es sich um eine Außengesellschaft handelt. Kirchen und ihre rechtlich selbständigen Gliederungen sind als Körperschaften des öffentlichen Rechts tariffähig2. Die Staatsangehörigkeit spielt keine Rolle für die Tariffähigkeit; maßgeblich ist die Beschäftigung von Arbeitnehmern im Inland3. Aufgrund ihrer Doppelstellung als Arbeitgeber und Gewerkschaft werden Bedenken gegen die Tariffähigkeit von Gewerkschaften geäußert. Dies beseitigt aber nicht deren grundsätzliche Tariffähigkeit4. Weiterhin existieren Sonderregelungen für TV-Abschlüsse, die im Zusammenhang mit der Privatisierung der Post und der Bahn erlassen wurden5.
III. Besonderheiten im Konzern 15
Ein Konzern wird überwiegend als nicht tariffähig betrachtet6. Trotzdem kann in der Praxis im Ergebnis über verschiedene rechtliche Konstruktionen eine einheitliche Tarifgeltung im Konzern erreicht werden. Zum einen kann jedes Konzernunternehmen Mitglied in demselben Arbeitgeberverband sein7. Weiterhin besteht die Möglichkeit, dass alle Konzernunternehmen denselben VerbandsTV anerkennen. Schließlich können die Konzernunternehmen die Konzernobergesellschaft oder einen anderen Verhandlungsführer mit dem Abschluss eines Konzerntarifs beauftragen8.
IV. Beginn und Ende der Tariffähigkeit 16
Die Tariffähigkeit beginnt, wenn die Einstellung von Arbeitnehmern vorgesehen ist. Sie endet, wenn der Arbeitgeber als TV-Partei ersatzlos wegfällt9. Die Tariffähigkeit bleibt bestehen, wenn ein Insolvenzverfahren bei Bestehen eines HausTVs eröffnet wurde. Auch der Insolvenzverwalter bleibt an bestehende HausTVe gebunden. Zudem besitzt er die Möglichkeit, mit den Gewerkschaften neue TVe abzuschließen10.
C. Typische Ausgangssituationen für Haustarifverträge 17
Die nachfolgende Aufzählung beschreibt typische Ausgangssituationen für HausTV-Abschlüsse und zeigt auf, welche Ziele ein Unternehmen in der jeweiligen Situation verfolgt.
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 23; JKOS/Schubert § 2 Rz. 127. Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 56; Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 86. ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 23. BAG v. 17.2.1998 – 1 AZR 364/97, NZA 1998, 754; ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 23. Näher Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 87. ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 24; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 147; Wieland, Firmentarifverträge, Rz. 80; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 141. So auch Kleinebrink, ArbRB 2008, 279 (280). Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 94; Kilg/Hendrik, BB 2007, 1670 ff. Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 99 f.; ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 25. BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41; ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 26; Löwisch/ Rieble, § 2 TVG Rz. 378.
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Typische Ausgangssituationen fr Haustarifvertrge
Rz. 20
Teil 11
I. Post Merger Situation Als Post Merger Situation wird die Integrationsphase nach einer rechtlichen Zusam- 18 menlegung mindestens zweier Unternehmen bezeichnet. Ziel ist innerhalb dieser Phase aus Unternehmenssicht meist eine Vereinheitlichung von Prozessen und Strukturen. Denn ansonsten läuft das erwerbende Unternehmen gerade bei wiederholten Unternehmenskäufen Gefahr, mit jeder Transaktion ein neues „Arbeitsrechtsregime“ mit zu erwerben. Dies kann im Laufe der Zeit eine völlige Zersplitterung der Arbeitsvertragslandschaft zur Folge haben. Unterschiedliche Arbeitsbedingungen für unterschiedliche Mitarbeitergruppen bedeuten einen hohen Verwaltungsaufwand und sind kostenintensiv. Zudem sind einheitliche Veränderungen für alle Mitarbeiter bei einer Vielzahl unterschiedlicher Einzelregelungen schwer umsetzbar. Gerade wenn das erworbene Unternehmen tarifgebunden war, wird oftmals versucht, die bislang bestehenden tariflichen Arbeitsbedingungen im Wege eines HausTVs auf die Bedingungen des Erwerberunternehmens überzuleiten. Dann wird ein sog. ÜberleitungsTV geschlossen (zum ÜberleitungsTV vgl. Rz. 76 ff.). Beispiel: Ein mittelständisches Logistikunternehmen erwirbt den zuvor in eine eigene Gesellschaft ausgegliederten Logistikbereich eines Blue-Chip-Konzerns. Zur Anpassung der Arbeitsbedingungen an die eigene Unternehmensstruktur und zur Ablösung der VerbandsTVe bzw. der HausTVe des Veräußerers soll ein HausTV geschlossen werden.
II. Outsourcing/Joint Venture-Situation In der typischen Joint Venture-Situation wird ein Teil des Unternehmens auf eine 19 Joint Venture-Gesellschaft ausgegliedert (Outsourcing). Ziel innerhalb der Joint Venture-Situation ist häufig, die Arbeitsbedingungen in der neuen Gesellschaft zu vereinheitlichen und die Tarifstrukturen zu optimieren. Beispiel: Ein Einzelhandelskonzern gliedert bundesweit seine Lebensmittelabteilungen in den Kaufhäusern auf eine Joint Venture-Gesellschaft aus. In den einzelnen Bundesländern existieren zum Teil allgemeinverbindliche TVe. Zur Vereinheitlichung der Arbeitsbedingungen in der neuen Gesellschaft und zur Optimierung der Tarifstrukturen strebt die Konzernleitung den Abschluss eines HausTVs mit der zuständigen Gewerkschaft an.
III. Austritt aus dem Arbeitgeberverband Durch den Austritt aus dem Arbeitgeberverband bezweckt ein Unternehmen häufig, 20 dass zukünftig weiterhin tarifvertragliche Regelungen gelten, diese allerdings vom VerbandsTV abweichen und speziell an die Bedürfnisse des Unternehmens angepasst sind. Der Arbeitgeber nutzt seine eigene Tariffähigkeit, um einen HausTV zu schließen, der unternehmensspezifische Regelungen enthält. Zwar könnte der Arbeitgeber auch bei fortbestehender Verbandsmitgliedschaft einen HausTV abschließen. Er befürchtet aber, dass er die zuständige Gewerkschaft nur mit dem Austritt aus dem Ver-
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Teil 11 Rz. 21
Haustarif
band dazu bewegen kann, in HausTV-Verhandlungen mit ihm einzutreten. Er spekuliert darauf, dass der Abschluss eines HausTVs angesichts des Austritts aus dem Arbeitgeberverband für die Gewerkschaft das geringere Übel im Vergleich zu einem vollständigen Verlust der Tarifbindung ist. Beispiel: Ein Unternehmen der Erdölindustrie tritt aus dem Arbeitgeberverband aus. Das Unternehmen hält einige Regelungen der FlächenTVe nicht für interessengerecht. Es möchte zwar weiterhin tarifliche Regelungen anwenden, bestimmte Regelungen der FlächenTVe aber abändern. Insbesondere strebt das Unternehmen eine höhere Wochenarbeitszeit an, da auch bei der Konkurrenz länger gearbeitet wird. Außerdem möchte es das Weihnachtsgeld künftig abhängig vom Unternehmenserfolg zahlen.
IV. Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eines Flächentarifvertrages 21
Insbesondere bei Traditionsunternehmen mit langer Tarifhistorie kann das Unternehmen aufgrund der Änderung des Unternehmensgegenstandes im Laufe der Jahre aus dem fachlichen oder räumlichen Geltungsbereich der angewendeten FlächenTVe herauswachsen. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG gilt der Inhalt der TVe in diesem Fall in entsprechender Anwendung des § 4 Abs. 5 TVG kraft Nachwirkung für die Arbeitsverhältnisse weiter1. Allerdings ist zu beachten, dass das Herauswachsen aus dem fachlichen Geltungsbereich der FlächenTVe nicht zwangsläufig eine Tarifunzuständigkeit der Gewerkschaft zur Folge haben muss. Dies richtet sich allein nach der Satzung der jeweiligen Gewerkschaft. Die Satzung ist regelmäßig weiter gefasst als der fachliche Geltungsbereich der FlächenTVe. Beispiel: Ein Unternehmen hatte früher überwiegend Produkte hergestellt, die dem Metallbereich zugeordnet sind. Über die Mitgliedschaft im Metall-Arbeitgeberverband wendet das Unternehmen die MetallTVe an. Über die Jahre ändern sich der Markt und die Produkte. Das Unternehmen stellt die früher aus Metall gefertigten Produkte nunmehr überwiegend aus Kunststoffen her. Auch das Marktumfeld wendet nicht die MetallTVe an, sondern andere TVe. Die anderen TVe sehen insbesondere eine höhere Wochenarbeitszeit vor. Ziel des Unternehmens ist es zunächst, einen ÜberleitungsTV abzuschließen, und später die Ablösung des bisherigen VerbandsTV zu erreichen.
V. Wettbewerber hat tarifliche Vorteile 22
Wenn ein konkurrierendes Unternehmen aufgrund fehlender Tarifbindung unter – aus Arbeitgebersicht – wesentlich günstigeren Bedingungen arbeiten kann (z.B. 40-Stunden-Woche im Vergleich zu einer 35-Stunden-Woche), hält sich möglicherweise das tarifgebundene Unternehmen für nicht mehr konkurrenzfähig. Durch den Abschluss eines HausTVs, der die Senkung der Personalkosten beinhaltet, soll die Wettbewerbsfähigkeit gesichert werden.
1 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484; BAG v. 28.5.1997 – 4 AZR 546/95, NZA 1998, 40; BAG v. 18.3.1992 – 4 AZR 339/91, NZA 1992, 700.
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Typische Ausgangssituationen fr Haustarifvertrge
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Teil 11
Beispiel: Die tarifgebundene X-AG stellt Spritzgussmaschinen her und fällt unter den Geltungsbereich der Metall-VerbandsTVe. Der unmittelbare Hauptwettbewerber, die W-GmbH, ist nicht tarifgebunden und beschäftigt ihre Belegschaft zu untertariflichen Bedingungen. Die X-AG strebt einen HausTV an, um die Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen.
VI. Standortfrage Eine weitere typische Ausgangslage für HausTV-Verhandlungen liegt vor, wenn der 23 Unternehmer vor der Entscheidung steht, entweder den Betrieb aufgrund hoher Produktionskosten teilweise zu schließen und künftig im Ausland zu produzieren oder, um am bisherigen Standort festzuhalten, die Arbeitnehmer zu untertariflichen Konditionen (gegenüber dem VerbandsTV) weiter zu beschäftigen. Er strebt dann den Abschluss eines HausTVs zur Kostensenkung und zur Sicherung der Arbeitsplätze am Standort an. Beispiel: Die W-AG (1200 Arbeitnehmer) hat Berechnungen angestellt, wonach die Produktion in China um 60 % kostengünstiger erfolgen könnte. Die deutsche Geschäftsleitung will den Standort durch ein Kosteneinsparungsprogramm halten und eine Betriebsschließung verhindern. Zur Senkung der Personalkosten und zur Verhinderung der Standortschließung strebt die Geschäftsleitung einen HausTV an.
VII. Umstrukturierung Bei Umstrukturierungen innerhalb von Konzernen oder Unternehmensgruppen kann 24 es z.B. infolge der Zusammenlegung von Standorten zu uneinheitlichen Arbeitsbedingungen innerhalb der Gesellschaft kommen. Dann können HausTVe dazu dienen, die Arbeitsbedingungen zu vereinheitlichen1. Beispiel: Eine Unternehmensgruppe der Automobilzulieferindustrie legt in Deutschland mehrere Werke zusammen und fusioniert die ehemals eigenständigen Gesellschaften auf eine einheitliche Gesellschaft. Für alle Mitarbeiter der deutschen Gesellschaft sollen einheitliche Arbeitsbedingungen gelten.
VIII. Unternehmen in der Krise Steht ein Unternehmen kurz vor der Zahlungsunfähigkeit, dient der Abschluss eines HausTVs vor allem der kurzfristigen Kostensenkung und Liquiditätssicherung. Der HausTV dient in dieser Situation als SanierungsTV.
1 Vgl. zu den Konsequenzen einer Spaltung: Gaul/Otto, BB 2014, 500 ff.
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Haustarif
Beispiel: Die L-GmbH, ein bundesweit tätiger Tiefkühllieferant, steht kurz vor der Zahlungsunfähigkeit. Die Banken drohen mit einer Fälligstellung der Kredite, wenn nicht innerhalb kurzer Zeit ein bestimmtes Einsparungsvolumen erreicht werden kann. Einen wesentlichen Teil stellen Einsparungen von Personalkosten dar. Ein HausTV ist Teil eines Gesamtsanierungskonzepts. Der HausTV wird unter Einbeziehung der Banken konzipiert und umgesetzt. Weiterhin werden Gesamt- und Konsolidierungsvereinbarungen unter Beteiligung der Betriebsräte geschlossen. Mit dem HausTV sollen kurzfristige Kostensenkungen erzielt werden, um das Unternehmen zu retten.
D. Wirkung/Geltung des Haustarifvertrages I. Normative Geltung des Haustarifvertrages kraft beiderseitiger Tarifbindung 26
Die Rechtsnormen des TVs entfalten gemäß § 4 Abs. 1 TVG – mit Ausnahme der Betriebsnormen und Betriebsverfassungsnormen – nur bei beiderseitiger Tarifbindung unmittelbare und zwingende Wirkung, d.h. wenn der Arbeitgeber tarifgebunden und der Arbeitnehmer Mitglied in der tarifschließenden Gewerkschaft ist. Die alleinige Tarifbindung des Arbeitgebers ist nicht ausreichend. Ausnahmsweise tritt im Falle der Allgemeinverbindlicherklärung gemäß § 5 TVG eine Tarifbindung für den Arbeitnehmer auch ohne Gewerkschaftszugehörigkeit ein. Die Allgemeinverbindlichkeit ist im Grundsatz auch für HausTVe möglich. Eine Allgemeinverbindlichkeit bei HausTVen kommt in der Praxis aber aufgrund der Voraussetzungen von § 5 TVG soweit ersichtlich nicht vor1.
II. Schuldrechtliche Geltung kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme 27
Bei fehlender beiderseitiger Tarifbindung kann der TV durch eine Bezugnahmeklausel Geltung für das jeweilige Arbeitsverhältnis erlangen. Bei einer arbeitsvertraglichen Bezugnahme wirken die tariflichen Regelungen schuldrechtlich. Ihnen kommt keine normative Wirkung zu. Umfang und Wirkung der Bezugnahmeklausel ist jeweils durch Auslegung der gewählten Formulierung zu ermitteln (vgl. ausführlich Teil 10 Rz. 24 ff.). Die Formulierung von Bezugnahmeklauseln hat erhebliche praktische Bedeutung (vgl. Rz. 94 ff.). Die genaue Formulierung hat unmittelbaren Einfluss darauf, ob auch ein HausTV erfasst ist und dieser gegenüber den Arbeitnehmern Geltung entfaltet (detailliert bei Henssler, Teil 10).
III. Tarifzuständigkeit der Gewerkschaft 28
Die Wirksamkeit eines HausTVs setzt – wie beim VerbandsTV – die Tarifzuständigkeit der tarifschließenden Gewerkschaft gemäß § 2 Abs. 1 TVG voraus. Die Tarifzuständigkeit bestimmt den Geschäftsbereich, innerhalb dessen die Gewerkschaft
1 Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 198.
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Teil 11 Rz. 26
Haustarif
Beispiel: Die L-GmbH, ein bundesweit tätiger Tiefkühllieferant, steht kurz vor der Zahlungsunfähigkeit. Die Banken drohen mit einer Fälligstellung der Kredite, wenn nicht innerhalb kurzer Zeit ein bestimmtes Einsparungsvolumen erreicht werden kann. Einen wesentlichen Teil stellen Einsparungen von Personalkosten dar. Ein HausTV ist Teil eines Gesamtsanierungskonzepts. Der HausTV wird unter Einbeziehung der Banken konzipiert und umgesetzt. Weiterhin werden Gesamt- und Konsolidierungsvereinbarungen unter Beteiligung der Betriebsräte geschlossen. Mit dem HausTV sollen kurzfristige Kostensenkungen erzielt werden, um das Unternehmen zu retten.
D. Wirkung/Geltung des Haustarifvertrages I. Normative Geltung des Haustarifvertrages kraft beiderseitiger Tarifbindung 26
Die Rechtsnormen des TVs entfalten gemäß § 4 Abs. 1 TVG – mit Ausnahme der Betriebsnormen und Betriebsverfassungsnormen – nur bei beiderseitiger Tarifbindung unmittelbare und zwingende Wirkung, d.h. wenn der Arbeitgeber tarifgebunden und der Arbeitnehmer Mitglied in der tarifschließenden Gewerkschaft ist. Die alleinige Tarifbindung des Arbeitgebers ist nicht ausreichend. Ausnahmsweise tritt im Falle der Allgemeinverbindlicherklärung gemäß § 5 TVG eine Tarifbindung für den Arbeitnehmer auch ohne Gewerkschaftszugehörigkeit ein. Die Allgemeinverbindlichkeit ist im Grundsatz auch für HausTVe möglich. Eine Allgemeinverbindlichkeit bei HausTVen kommt in der Praxis aber aufgrund der Voraussetzungen von § 5 TVG soweit ersichtlich nicht vor1.
II. Schuldrechtliche Geltung kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme 27
Bei fehlender beiderseitiger Tarifbindung kann der TV durch eine Bezugnahmeklausel Geltung für das jeweilige Arbeitsverhältnis erlangen. Bei einer arbeitsvertraglichen Bezugnahme wirken die tariflichen Regelungen schuldrechtlich. Ihnen kommt keine normative Wirkung zu. Umfang und Wirkung der Bezugnahmeklausel ist jeweils durch Auslegung der gewählten Formulierung zu ermitteln (vgl. ausführlich Teil 10 Rz. 24 ff.). Die Formulierung von Bezugnahmeklauseln hat erhebliche praktische Bedeutung (vgl. Rz. 94 ff.). Die genaue Formulierung hat unmittelbaren Einfluss darauf, ob auch ein HausTV erfasst ist und dieser gegenüber den Arbeitnehmern Geltung entfaltet (detailliert bei Henssler, Teil 10).
III. Tarifzuständigkeit der Gewerkschaft 28
Die Wirksamkeit eines HausTVs setzt – wie beim VerbandsTV – die Tarifzuständigkeit der tarifschließenden Gewerkschaft gemäß § 2 Abs. 1 TVG voraus. Die Tarifzuständigkeit bestimmt den Geschäftsbereich, innerhalb dessen die Gewerkschaft
1 Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 198.
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Verhltnis zwischen Haustarifvertrag und Verbandstarifvertrag
Rz. 32
Teil 11
TVe abschließen kann. Die Tarifzuständigkeit einer Gewerkschaft richtet sich nach der Satzung der jeweiligen Gewerkschaft1. Schließt ein Arbeitgeber einen HausTV mit einer unzuständigen Gewerkschaft ab, so ist dieser TV unwirksam2. Zu praxisrelevanten Fragestellungen bei der Vorbereitung von HausTV-Verhandlungen im Zusammenhang mit der Tarifzuständigkeit vgl. Rz. 81 ff.
IV. Beginn und Ende der zwingenden Tarifgeltung, insb. Auswirkungen des Verbandsaustritts bzw. des Wechsels zur OT-Mitgliedschaft 1. Auswirkungen des Verbandsaustritts bzw. des Wechsels zur OT-Mitgliedschaft Auch bei HausTVen endet die Tarifbindung des Arbeitgebers grundsätzlich nicht mit 29 dem Austritt aus dem Arbeitgeberverband. Gemäß § 3 Abs. 3 TVG bleibt die Tarifgebundenheit im Falle des Verbandsaustritts bzw. des Wechsels zur OT-Mitgliedschaft zunächst bestehen (sog. Nachbindungsphase, vgl. ausführlich Teil 6 Rz. 61 ff.). Erst mit Ende des TVs beginnt die Nachwirkung des HausTV gemäß § 4 Abs. 5 TVG, d.h. die Rechtsnormen wirken nicht mehr unmittelbar und zwingend und können durch eine andere Abmachung ersetzt werden. 2. Beendigung i.S.d. § 3 Abs. 3 TVG In Betracht kommen unterschiedliche Beendigungstatbestände3. Dies sind insbeson- 30 dere: Befristung, Bedingung, Aufhebungsvertrag sowie ordentliche und außerordentliche Kündigung. Auch der Verlust der Tariffähigkeit einer TV-Partei kann zur Beendigung des TVs führen4. Zu praxisrelevanten Fragestellungen im Zusammenhang mit der Beendigung vgl. Rz. 91 ff., zur Frage der Nachwirkung bei AnerkennungsTVen vgl. Rz. 64 ff.
E. Verhältnis zwischen Haustarifvertrag und Verbandstarifvertrag Das Verhältnis eines HausTVs zu anderen TVen ist gesetzlich nicht geregelt. Maßgeb- 31 lich für die Praxis sind die vom BAG entwickelten Grundsätze.
I. Arbeitgeber kein Verbandsmitglied Ist der haustarifvertragsschließende Arbeitgeber kein Mitglied in einem Arbeitgeberverband, besteht grds. keine Konkurrenz zwischen dem FlächenTV und dem HausTV,
1 BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613; BAG v. 12.11.1996 – 1 ABR 33/96, NZA 1997, 609; MüArbR/Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 94. 2 BAG v. 17.4.2012 – 1 ABR 5/11, NZA 2012, 1104; BAG v. 29.7.2009 – 7 ABR 27/08, NZA 2009, 1424. 3 S. ausführlich Teil 3: Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages. 4 Vgl. BAG v. 28.5.1997 – 4 AZR 546/95, NZA 1998, 40; kritisch: Buchner, RdA 1997, 259 (264).
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Verhltnis zwischen Haustarifvertrag und Verbandstarifvertrag
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TVe abschließen kann. Die Tarifzuständigkeit einer Gewerkschaft richtet sich nach der Satzung der jeweiligen Gewerkschaft1. Schließt ein Arbeitgeber einen HausTV mit einer unzuständigen Gewerkschaft ab, so ist dieser TV unwirksam2. Zu praxisrelevanten Fragestellungen bei der Vorbereitung von HausTV-Verhandlungen im Zusammenhang mit der Tarifzuständigkeit vgl. Rz. 81 ff.
IV. Beginn und Ende der zwingenden Tarifgeltung, insb. Auswirkungen des Verbandsaustritts bzw. des Wechsels zur OT-Mitgliedschaft 1. Auswirkungen des Verbandsaustritts bzw. des Wechsels zur OT-Mitgliedschaft Auch bei HausTVen endet die Tarifbindung des Arbeitgebers grundsätzlich nicht mit 29 dem Austritt aus dem Arbeitgeberverband. Gemäß § 3 Abs. 3 TVG bleibt die Tarifgebundenheit im Falle des Verbandsaustritts bzw. des Wechsels zur OT-Mitgliedschaft zunächst bestehen (sog. Nachbindungsphase, vgl. ausführlich Teil 6 Rz. 61 ff.). Erst mit Ende des TVs beginnt die Nachwirkung des HausTV gemäß § 4 Abs. 5 TVG, d.h. die Rechtsnormen wirken nicht mehr unmittelbar und zwingend und können durch eine andere Abmachung ersetzt werden. 2. Beendigung i.S.d. § 3 Abs. 3 TVG In Betracht kommen unterschiedliche Beendigungstatbestände3. Dies sind insbeson- 30 dere: Befristung, Bedingung, Aufhebungsvertrag sowie ordentliche und außerordentliche Kündigung. Auch der Verlust der Tariffähigkeit einer TV-Partei kann zur Beendigung des TVs führen4. Zu praxisrelevanten Fragestellungen im Zusammenhang mit der Beendigung vgl. Rz. 91 ff., zur Frage der Nachwirkung bei AnerkennungsTVen vgl. Rz. 64 ff.
E. Verhältnis zwischen Haustarifvertrag und Verbandstarifvertrag Das Verhältnis eines HausTVs zu anderen TVen ist gesetzlich nicht geregelt. Maßgeb- 31 lich für die Praxis sind die vom BAG entwickelten Grundsätze.
I. Arbeitgeber kein Verbandsmitglied Ist der haustarifvertragsschließende Arbeitgeber kein Mitglied in einem Arbeitgeberverband, besteht grds. keine Konkurrenz zwischen dem FlächenTV und dem HausTV,
1 BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613; BAG v. 12.11.1996 – 1 ABR 33/96, NZA 1997, 609; MüArbR/Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 94. 2 BAG v. 17.4.2012 – 1 ABR 5/11, NZA 2012, 1104; BAG v. 29.7.2009 – 7 ABR 27/08, NZA 2009, 1424. 3 S. ausführlich Teil 3: Zustandekommen, Inhaltsbestimmung und Beendigung des Tarifvertrages. 4 Vgl. BAG v. 28.5.1997 – 4 AZR 546/95, NZA 1998, 40; kritisch: Buchner, RdA 1997, 259 (264).
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Teil 11 Rz. 33
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da es an einer Tarifbindung des Unternehmens fehlt. Hier kann sich die Frage einer Konkurrenz nur im Verhältnis des HausTVs zu einem für allgemeinverbindlich erklärten FlächenTV (vgl Rz. 34 ff.) oder zu Betriebsvereinbarungen und einzelvertraglichen Regelungen stellen.
II. Verbandsangehöriger Arbeitgeber 1. Abschluss mit Gewerkschaft des Flächentarifvertrages 33
Ist der Arbeitgeber Mitglied in einem Arbeitgeberverband und schließt er mit der Gewerkschaft des FlächenTVs einen HausTV, muss unterschieden werden, ob der HausTV im zeitlichen Geltungsbereich des VerbandsTVs geschlossen wurde oder ob der VerbandsTV bereits geendet hat und nur noch i.S.v. § 4 Abs. 5 TVG nachwirkt. a) Während der zwingenden Geltung des Flächentarifvertrages
34
Wird ein HausTV während der Laufzeit des FlächenTVs abgeschlossen, kommt es hinsichtlich der tarifgebundenen Arbeitnehmer zu einer Tarifkonkurrenz. Tarifkonkurrenz bedeutet, dass ein Arbeitsverhältnis gleichzeitig durch mehrere TVe mit sich überschneidenden Regelungsbereichen normativ geregelt wird1. Bei der Auflösung der Tarifkonkurrenz gilt im Verhältnis von HausTVen und VerbandsTVen bei Beteiligung derselben Gewerkschaft der Spezialitätsgrundsatz (vgl. Teil 9 Rz. 81). Der HausTV geht dem FlächenTV als die speziellere Regelung stets vor, soweit es sich um die gleichen Regelungsbereiche handelt2. Der neue § 4a Abs. 2 TVG und die damit einhergehende Neuregelung der Tarifkollision kommen in diesen Fällen nicht zur Anwendung. § 4a Abs. 2 TVG beschränkt sich auf Konstellationen, in welchen unterschiedliche Gewerkschaften beteiligt sind. Das Spezialitätsprinzip soll laut Gesetzesentwurf weiterhin als Kollisionsregel geeignet sein, sofern es sich um verschiedene TVe derselben Gewerkschaft handelt3. Weitere Fälle der Tarifkonkurrenz, die über den Spezialitätsgrundsatz gelöst werden, sind: Verbandswechsel des Arbeitgebers bei Zuständigkeit der gleichen Gewerkschaft, Konkurrenz eines für allgemeinverbindlich erklärten FlächenTVs mit einem HausTV bei Zuständigkeit der gleichen Gewerkschaft4. Kein Fall der Tarifkonkurrenz liegt vor, wenn ein normativ geltender TV mit einer schuldrechtlichen Geltung von Tarifnormen aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme kollidiert5. In diesem Fall ist § 4 Abs. 3 TVG einschlägig.
1 BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736; BAG v. 14.9.1989 – 4 AZR 200/89, DB 1990, 129. 2 BAG v. 21.6.2005 – 9 AZR 353/04, EzA § 4 TVG Altersteilzeit Nr. 16; BAG v. 4.4.2001 – 4 AZR 237/00, NZA 2001, 1085; JKOS/Schubert § 7 Rz. 217; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 277; Ahrendt, RdA 2012, 129 (133); Bepler, AuR 2010, 234 (235); Gaul/Naumann, DB 2006, 1054 (1055). 3 BT-Drucks. 18/4062 S. 10. 4 ErfK/Franzen, § 4a TVG Rz. 29. 5 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 1023/08, NZA-RR 2011, 30; BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 784/07, NZA 2009, 151; unter Aufgabe der dem widersprechenden Entscheidung des BAG v. 23.3.2005 – 4 AZR 203/04, NZA 2005, 1003.
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Verhltnis zwischen Haustarifvertrag und Verbandstarifvertrag
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b) Nach Ablauf des Flächentarifvertrages Gemäß § 4 Abs. 5 TVG gelten die Rechtsnormen eines TVs nach dessen Ablauf solan- 35 ge weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden1. Schließt der Arbeitgeber im Nachwirkungszeitraum eines VerbandsTVs einen HausTV mit der Gewerkschaft, die mit dem Arbeitgeberverband den abgelaufenen VerbandsTV abgeschlossen hat, so ersetzt der HausTV als andere Abmachung die nachwirkenden Normen des FlächenTVs2. 2. Abschluss mit anderer Gewerkschaft Ist der Arbeitgeber Mitglied in einem Arbeitgeberverband und schließt er mit einer 36 Gewerkschaft einen HausTV, die nicht zugleich Partei des einschlägigen FlächenTVs ist, kommt es anders als bei dem Abschluss des HausTVs mit der gleichen Gewerkschaft zu einer sog. Tarifpluralität, die im Regelfall keine Tarifkonkurrenz für das einzelne Arbeitsverhältnis zur Folge hat. Eine Tarifpluralität liegt vor, wenn ein Arbeitgeber an mehrere TVe gebunden ist, sei es aufgrund von Verbandsmitgliedschaft oder Gesetz. Soweit sich in diesem Fall die Geltungsbereiche des HausTV und des FlächenTV überschneiden, liegt darin nach neuer Gesetzeslage grundsätzlich eine sog. Tarifkollision, die nach dem neuen § 4a TVG aufzulösen ist. Dabei muss nach § 4a TVG unterschieden werden, welche der beiden Gewerkschaften im Zeitpunkt der Kollision beider Tarifverträge im Betrieb die meisten Mitglieder im Betrieb hat (sog. Mehrheitsprinzip)3. Im Einzelnen gilt: a) Tarifpluralität: Rechtsprechung und Gesetzgebung aa) Rechtslage bis zum Inkrafttreten des TEG Lange Zeit löste das BAG auch die Tarifpluralität nach den Grundsätzen der Spezialität. Nur der speziellere TV sollte zur Anwendung kommen. Demnach würde der HausTV dem FlächenTV vorgehen4. Mit der Rechtsprechungsänderung vom 7.7.2010 vollzog das BAG jedoch die Abkehr vom Grundsatz der Tarifeinheit, sodass eine Tarifpluralität in einem Unternehmen grundsätzlich möglich sein sollte5. Damit löste das BAG eine Tarifpluralität, die nicht gleichzeitig eine Tarifkonkurrenz begründet, grundsätzlich nicht mehr auf.
37
bb) Die neue Tarifkollisionsregel Mit Wirkung vom 10.7.2015 verabschiedete der Gesetzgeber trotz teilweise massiver 38 Kritik6 das Gesetz zur Tarifeinheit7, durch welches dem TVG mit dem neuen § 4a eine Regelung zur Tarifkollision hinzugefügt wurde. Damit werden bestimmte Konstel1 BAG v. 4.4.2001 – 4 AZR 237/00, NZA 2001, 1085; s. hierzu näher Teil 9: Wirkungen der Tarifnormen. 2 BAG v. 20.4.2005 – 4 AZR 288/04, NZA 2005, 1360. 3 ErfK/Franzen, § 4a TVG Rz. 3. 4 BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90, NZA 1991, 736. 5 BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068; s. hierzu Teil 9: Wirkungen der Tarifnormen. 6 Greiner, RdA 2015, 36 ff.; Fischer, FA 2015, 74; Preis, FA 2014, 354 ff. 7 BGBl. I S. 1130.
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Teil 11 Rz. 39
Haustarif
lationen einer Tarifpluralität nicht mehr hingenommen, sondern sind nach § 4a TVG aufzulösen. Eine solche auflösungsbedürftige „Tarifkollision“ liegt gemäß § 4a TVG vor, soweit sich die Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften überschneiden. Für diesen Fall ordnet § 4a Abs. 2 TVG an, dass in dem betroffenen Betrieb nur die Rechtsnormen des Tarifvertrages derjenigen Gewerkschaft anwendbar sind, welche im Betrieb die meisten Mitglieder hat. Relevanter Zeitpunkt soll hierbei der Abschluss des zuletzt abgeschlossenen kollidierenden TVs sein. Ausnahmen für den Fall eines kollidierenden HausTV sind nicht ersichtlich. Dies bedeutet, dass auch bei einer Tarifpluralität, bei welcher sich ein HausTV und ein FlächenTV mit sich überschneidenden Geltungsbereichen gegenüberstehen, derjenige TV Geltung erlangt, der von der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern im Betrieb abgeschlossen wurde. Ob diese neuen Regelungen des Gesetzes zur Tarifeinheit in Zukunft jedoch Bestand haben werden bleibt abzuwarten. Mehrere Gewerkschaften haben bereits Verfassungsbeschwerde gegen dieses Gesetz eingelegt. Allerdings hat das BVerfG den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt1. b) Besonderheit: Abschluss nach Ablauf des Flächentarifvertrages der Mehrheitsgewerkschaft 39
An dieser Stelle stellt sich die Frage, ob ein nachwirkender FlächenTV der Mehrheitsgewerkschaft bei dem Abschluss eines HausTV mit überschneidendem Geltungsbereich mit einer anderen Gewerkschaft als kollidierend im Sinne des § 4a TVG verstanden werden muss. In der Gesetzesbegründung heißt es, dass von kollidierenden TVen ausgegangen werden muss, wenn diese sich – neben der räumlichen, fachlichen und persönlichen – auch in zeitlicher Hinsicht überschneiden2. Befindet sich der FlächenTV jedoch lediglich in der Nachwirkung, kann von einer solchen zeitlichen Überschneidung nicht mehr ausgegangen werden. Wurde der HausTV also von einer Minderheitsgewerkschaft abgeschlossen und der FlächenTV der Mehrheitsgewerkschaft befindet sich lediglich in der Phase der Nachwirkung, ist der HausTV anwendbar, da das Mehrheitsprinzip nun keine Anwendung mehr findet. Selbst dann, wenn ein HausTV der Minderheitengewerkschaft bislang verdrängt wurde, lebt dieser mit Beginn der Nachwirkungsphase des FlächenTV der Mehrheitsgewerkschaft wieder auf3.
F. Verhältnis zu anderen Haustarifverträgen I. Abschluss eines anderen Haustarifvertrages mit derselben Gewerkschaft 1. Während der Laufzeit des anderen Haustarifvertrages 40
Schließt der Arbeitgeber mit der Gewerkschaft, mit der er bereits einen HausTV abgeschlossen hat, einen neuen HausTV mit sich überschneidenden Regelungsbereichen, gilt die sog. Zeitkollisionsregel (vgl. Teil 9 Rz. 80). Der neuere TV geht dem älteren TV vor. Er löst den älteren HausTV ab. 1 Siehe BVerfG v. 6.10.2015 – 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1582/15, 1 BvR 1588/15. 2 BT-Drucks. 18/4062 S. 13. 3 ErfK/Franzen, § 4a TVG Rz. 7 f.
934 Seitz
Teil 11 Rz. 39
Haustarif
lationen einer Tarifpluralität nicht mehr hingenommen, sondern sind nach § 4a TVG aufzulösen. Eine solche auflösungsbedürftige „Tarifkollision“ liegt gemäß § 4a TVG vor, soweit sich die Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften überschneiden. Für diesen Fall ordnet § 4a Abs. 2 TVG an, dass in dem betroffenen Betrieb nur die Rechtsnormen des Tarifvertrages derjenigen Gewerkschaft anwendbar sind, welche im Betrieb die meisten Mitglieder hat. Relevanter Zeitpunkt soll hierbei der Abschluss des zuletzt abgeschlossenen kollidierenden TVs sein. Ausnahmen für den Fall eines kollidierenden HausTV sind nicht ersichtlich. Dies bedeutet, dass auch bei einer Tarifpluralität, bei welcher sich ein HausTV und ein FlächenTV mit sich überschneidenden Geltungsbereichen gegenüberstehen, derjenige TV Geltung erlangt, der von der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern im Betrieb abgeschlossen wurde. Ob diese neuen Regelungen des Gesetzes zur Tarifeinheit in Zukunft jedoch Bestand haben werden bleibt abzuwarten. Mehrere Gewerkschaften haben bereits Verfassungsbeschwerde gegen dieses Gesetz eingelegt. Allerdings hat das BVerfG den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt1. b) Besonderheit: Abschluss nach Ablauf des Flächentarifvertrages der Mehrheitsgewerkschaft 39
An dieser Stelle stellt sich die Frage, ob ein nachwirkender FlächenTV der Mehrheitsgewerkschaft bei dem Abschluss eines HausTV mit überschneidendem Geltungsbereich mit einer anderen Gewerkschaft als kollidierend im Sinne des § 4a TVG verstanden werden muss. In der Gesetzesbegründung heißt es, dass von kollidierenden TVen ausgegangen werden muss, wenn diese sich – neben der räumlichen, fachlichen und persönlichen – auch in zeitlicher Hinsicht überschneiden2. Befindet sich der FlächenTV jedoch lediglich in der Nachwirkung, kann von einer solchen zeitlichen Überschneidung nicht mehr ausgegangen werden. Wurde der HausTV also von einer Minderheitsgewerkschaft abgeschlossen und der FlächenTV der Mehrheitsgewerkschaft befindet sich lediglich in der Phase der Nachwirkung, ist der HausTV anwendbar, da das Mehrheitsprinzip nun keine Anwendung mehr findet. Selbst dann, wenn ein HausTV der Minderheitengewerkschaft bislang verdrängt wurde, lebt dieser mit Beginn der Nachwirkungsphase des FlächenTV der Mehrheitsgewerkschaft wieder auf3.
F. Verhältnis zu anderen Haustarifverträgen I. Abschluss eines anderen Haustarifvertrages mit derselben Gewerkschaft 1. Während der Laufzeit des anderen Haustarifvertrages 40
Schließt der Arbeitgeber mit der Gewerkschaft, mit der er bereits einen HausTV abgeschlossen hat, einen neuen HausTV mit sich überschneidenden Regelungsbereichen, gilt die sog. Zeitkollisionsregel (vgl. Teil 9 Rz. 80). Der neuere TV geht dem älteren TV vor. Er löst den älteren HausTV ab. 1 Siehe BVerfG v. 6.10.2015 – 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1582/15, 1 BvR 1588/15. 2 BT-Drucks. 18/4062 S. 13. 3 ErfK/Franzen, § 4a TVG Rz. 7 f.
934 Seitz
Verhltnis zu Betriebsvereinbarungen
Rz. 43
Teil 11
2. Nach Ablauf des anderen Haustarifvertrages Der neue HausTV ersetzt bei sich überschneidenden Regelungsgegenständen gemäß 41 § 4 Abs. 5 TVG den alten HausTV und beendet die Nachwirkung.
II. Abschluss eines anderen Haustarifvertrages mit einer anderen Gewerkschaft Schließt der Arbeitgeber bei einem bereits bestehenden HausTV einen weiteren, 42 nicht inhaltsgleichen HausTV mit einer anderen Gewerkschaft, besteht zwischen den beiden HausTVen Tarifpluralität, die, soweit sich die Geltungsbereiche der HausTVe überschneiden, eine Tarifkollision nach § 4a TVG begründet und gemäß den Regelungen des § 4a TVG aufzulösen ist. Wirkt ein HausTV der Mehrheitsgewerkschaft lediglich nach, so sind – wie auch im Fall der Kollision von FlächenTV und HausTV – die Normen des HausTVs der Minderheitengewerkschaft anwendbar.
G. Verhältnis zu Betriebsvereinbarungen I. Grundsatz: Tarifvorrang und Tarifvorbehalt Im Verhältnis von HausTVen und Betriebsvereinbarungen gilt grundsätzlich nichts an- 43 deres als auch für das Verhältnis von VerbandsTVen zu Betriebsvereinbarungen (vgl. Teil 9 Rz. 259 ff.). Es gilt gemäß § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG der Tarifvorbehalt, ferner der Tarifvorrang des § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG. Das BAG hat die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG ausdrücklich auch bei Tarifbindung des Arbeitgebers an einen HausTV anerkannt1. Die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie werde auch dann beeinträchtigt, wenn der selbst tarifschließende Arbeitgeber nunmehr mit dem betrieblichen Vertragspartner andere oder ergänzende Regelungen treffen will. Zweck des § 77 Abs. 3 BetrVG sei die Sicherung des Vorrangs der aktualisierten Tarifautonomie2. (Übliche) Regelungen eines HausTVs können daher grundsätzlich nicht gleichzeitig in einer Betriebsvereinbarung getroffen werden, außer bei Vorliegen einer betrieblichen Öffnungsklausel oder bei fehlender Tarifbindung des Arbeitgebers nach der Vorrangtheorie im Geltungsbereich der zwingenden Mitbestimmung nach § 87 BetrVG. Das Günstigkeitsprinzip gemäß § 4 Abs. 3 TVG gilt im Verhältnis von TV und Betriebsvereinbarung nicht3. Erfolgt eine Regelung im HausTV, wird die Betriebsvereinbarung grundsätzlich unwirksam. Im Verhältnis von HausTV und Betriebsvereinbarung ist weiter zu beachten, dass sich die Sperre für die Betriebsvereinbarung aufgrund von Tarifbindung oder Tarifüblichkeit durch VerbandsTVe erweitern kann. Unwirksam sind Betriebsvereinbarungen über einen tariflich (üblicherweise) geregelten Gegenstand nicht nur, wenn bei ihrem Zustandekommen entsprechende TVe bereits bestanden. Die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG wirkt auch dann, wenn entsprechende Tarifbestimmungen erst später in Kraft treten.
1 BAG v. 21.1.2003 – 1 ABR 9/02, NZA 2003, 1097; hierzu auch Fitting, § 77 BetrVG Rz. 80. 2 BAG v. 21.1.2003 – 1 ABR 9/02, NZA 2003, 1097. 3 BAG v. 21.1.2003 – 1 ABR 9/02, NZA 2003, 1097.
Seitz
935
Verhltnis zu Betriebsvereinbarungen
Rz. 43
Teil 11
2. Nach Ablauf des anderen Haustarifvertrages Der neue HausTV ersetzt bei sich überschneidenden Regelungsgegenständen gemäß 41 § 4 Abs. 5 TVG den alten HausTV und beendet die Nachwirkung.
II. Abschluss eines anderen Haustarifvertrages mit einer anderen Gewerkschaft Schließt der Arbeitgeber bei einem bereits bestehenden HausTV einen weiteren, 42 nicht inhaltsgleichen HausTV mit einer anderen Gewerkschaft, besteht zwischen den beiden HausTVen Tarifpluralität, die, soweit sich die Geltungsbereiche der HausTVe überschneiden, eine Tarifkollision nach § 4a TVG begründet und gemäß den Regelungen des § 4a TVG aufzulösen ist. Wirkt ein HausTV der Mehrheitsgewerkschaft lediglich nach, so sind – wie auch im Fall der Kollision von FlächenTV und HausTV – die Normen des HausTVs der Minderheitengewerkschaft anwendbar.
G. Verhältnis zu Betriebsvereinbarungen I. Grundsatz: Tarifvorrang und Tarifvorbehalt Im Verhältnis von HausTVen und Betriebsvereinbarungen gilt grundsätzlich nichts an- 43 deres als auch für das Verhältnis von VerbandsTVen zu Betriebsvereinbarungen (vgl. Teil 9 Rz. 259 ff.). Es gilt gemäß § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG der Tarifvorbehalt, ferner der Tarifvorrang des § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG. Das BAG hat die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG ausdrücklich auch bei Tarifbindung des Arbeitgebers an einen HausTV anerkannt1. Die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie werde auch dann beeinträchtigt, wenn der selbst tarifschließende Arbeitgeber nunmehr mit dem betrieblichen Vertragspartner andere oder ergänzende Regelungen treffen will. Zweck des § 77 Abs. 3 BetrVG sei die Sicherung des Vorrangs der aktualisierten Tarifautonomie2. (Übliche) Regelungen eines HausTVs können daher grundsätzlich nicht gleichzeitig in einer Betriebsvereinbarung getroffen werden, außer bei Vorliegen einer betrieblichen Öffnungsklausel oder bei fehlender Tarifbindung des Arbeitgebers nach der Vorrangtheorie im Geltungsbereich der zwingenden Mitbestimmung nach § 87 BetrVG. Das Günstigkeitsprinzip gemäß § 4 Abs. 3 TVG gilt im Verhältnis von TV und Betriebsvereinbarung nicht3. Erfolgt eine Regelung im HausTV, wird die Betriebsvereinbarung grundsätzlich unwirksam. Im Verhältnis von HausTV und Betriebsvereinbarung ist weiter zu beachten, dass sich die Sperre für die Betriebsvereinbarung aufgrund von Tarifbindung oder Tarifüblichkeit durch VerbandsTVe erweitern kann. Unwirksam sind Betriebsvereinbarungen über einen tariflich (üblicherweise) geregelten Gegenstand nicht nur, wenn bei ihrem Zustandekommen entsprechende TVe bereits bestanden. Die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG wirkt auch dann, wenn entsprechende Tarifbestimmungen erst später in Kraft treten.
1 BAG v. 21.1.2003 – 1 ABR 9/02, NZA 2003, 1097; hierzu auch Fitting, § 77 BetrVG Rz. 80. 2 BAG v. 21.1.2003 – 1 ABR 9/02, NZA 2003, 1097. 3 BAG v. 21.1.2003 – 1 ABR 9/02, NZA 2003, 1097.
Seitz
935
Teil 11 Rz. 44
Haustarif
II. Öffnungsklauseln 44
Durch Öffnungsklauseln im HausTV ist es dem Arbeitgeber und dem Betriebsrat gemäß § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG trotz bestehender Regelungen im HausTV möglich, ergänzende Regelungen in einer Betriebsvereinbarung aufzustellen1. Der Begriff der Ergänzung ist weit auszulegen, sodass auch vom TV abweichende Betriebsvereinbarungen und auch untertarifliche Regelungen zugelassen werden können2.
45
Öffnungsklauseln haben oftmals einen strategischen Hintergrund. Bei gewerkschaftspolitisch brisanten Themen können es die TV-Parteien als vorzugswürdig betrachten, das Thema auf die betriebliche Ebene zu verlagern und somit die Situation zu entschärfen. Ferner können Öffnungsklauseln auch vereinbart werden, weil Regelungen auf betrieblicher Ebene flexibler und schneller geändert werden können als ein HausTV. Dies kann je nach Thematik im Interesse aller Parteien gewünscht sein. Schließlich ist der Betriebsrat bei bestimmten Themen häufig sachnäher. Auch wenn eine Thematik sehr komplex ist, z.B. Arbeitszeitsysteme, würde eine abschließende tarifliche Regelung den zeitlichen Rahmen von Tarifverhandlungen oftmals sprengen. Dann kann es sich anbieten, Eckpfeiler im HausTV festzulegen und die weitere Ausgestaltung der Regelung auf die betriebliche Ebene zu verlagern. Aus Arbeitgebersicht ist bei Öffnungsklauseln dennoch Vorsicht geboten. Wenn die Arbeitgeberseite anstrebt, mit dem HausTV die Befriedung einer Streitsituation zu erreichen, besteht das Risiko, dass der Konflikt später auf betrieblicher Ebene wieder aufbricht.
H. Verhältnis zum Arbeitsvertrag I. Arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln 46
Vielfach verweisen Arbeitsverträge auf tarifliche Regelungen. Dann stellt sich die Frage der Rechtswirksamkeit solcher Bezugnahmen und deren Verhältnis zum Tarifrecht3. Insoweit wird auf die ausführliche Darstellung in Teil 10 verwiesen. Nachfolgend sind die wesentlichen, für die Praxis relevanten, Grundsätze zusammengefasst: Terminologisch wird zunächst zwischen statischen und dynamischen Bezugnahmeklauseln unterschieden. Bezieht sich die Klausel auf einen bestimmten TV in einer genauen Fassung, handelt es sich um eine statische Bezugnahmeklausel. Wird dagegen auf einen bestimmten TV oder ein näher bezeichnetes Tarifwerk in seiner jeweils geltenden Fassung hingewiesen, spricht man von einer sogenannten kleinen dynamischen Bezugnahmeklausel. Eine große dynamische Klausel liegt vor, wenn auf den jeweils für den Betrieb oder das Unternehmen geltenden TV verwiesen wird.
47
Bis zum Jahr 2005 interpretierte das BAG4 die dynamischen Bezugnahmeklauseln als sogenannte Gleichstellungsabrede. Dies bedeutet, dass der tarifgebundene Arbeitgeber regelmäßig den Arbeitnehmer ungeachtet seiner Gewerkschaftszugehörigkeit so stellen will, als sei dieser tarifgebunden. Dies führte in der Praxis insbesondere da1 2 3 4
Hierzu auch Kleinebrink, ArbRB 2008, 350 (351); Wendeling-Schröder, NZA 1998, 624 ff. ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 60 m.w.N. Vgl. Ahrendt, RdA 2012, 129 (132 f.). Vgl. BAG v. 4.8.1999 – 5 AZR 642/98, NZA 2000, 154; BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, NZA 2002, 634.
936 Seitz
Teil 11 Rz. 44
Haustarif
II. Öffnungsklauseln 44
Durch Öffnungsklauseln im HausTV ist es dem Arbeitgeber und dem Betriebsrat gemäß § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG trotz bestehender Regelungen im HausTV möglich, ergänzende Regelungen in einer Betriebsvereinbarung aufzustellen1. Der Begriff der Ergänzung ist weit auszulegen, sodass auch vom TV abweichende Betriebsvereinbarungen und auch untertarifliche Regelungen zugelassen werden können2.
45
Öffnungsklauseln haben oftmals einen strategischen Hintergrund. Bei gewerkschaftspolitisch brisanten Themen können es die TV-Parteien als vorzugswürdig betrachten, das Thema auf die betriebliche Ebene zu verlagern und somit die Situation zu entschärfen. Ferner können Öffnungsklauseln auch vereinbart werden, weil Regelungen auf betrieblicher Ebene flexibler und schneller geändert werden können als ein HausTV. Dies kann je nach Thematik im Interesse aller Parteien gewünscht sein. Schließlich ist der Betriebsrat bei bestimmten Themen häufig sachnäher. Auch wenn eine Thematik sehr komplex ist, z.B. Arbeitszeitsysteme, würde eine abschließende tarifliche Regelung den zeitlichen Rahmen von Tarifverhandlungen oftmals sprengen. Dann kann es sich anbieten, Eckpfeiler im HausTV festzulegen und die weitere Ausgestaltung der Regelung auf die betriebliche Ebene zu verlagern. Aus Arbeitgebersicht ist bei Öffnungsklauseln dennoch Vorsicht geboten. Wenn die Arbeitgeberseite anstrebt, mit dem HausTV die Befriedung einer Streitsituation zu erreichen, besteht das Risiko, dass der Konflikt später auf betrieblicher Ebene wieder aufbricht.
H. Verhältnis zum Arbeitsvertrag I. Arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln 46
Vielfach verweisen Arbeitsverträge auf tarifliche Regelungen. Dann stellt sich die Frage der Rechtswirksamkeit solcher Bezugnahmen und deren Verhältnis zum Tarifrecht3. Insoweit wird auf die ausführliche Darstellung in Teil 10 verwiesen. Nachfolgend sind die wesentlichen, für die Praxis relevanten, Grundsätze zusammengefasst: Terminologisch wird zunächst zwischen statischen und dynamischen Bezugnahmeklauseln unterschieden. Bezieht sich die Klausel auf einen bestimmten TV in einer genauen Fassung, handelt es sich um eine statische Bezugnahmeklausel. Wird dagegen auf einen bestimmten TV oder ein näher bezeichnetes Tarifwerk in seiner jeweils geltenden Fassung hingewiesen, spricht man von einer sogenannten kleinen dynamischen Bezugnahmeklausel. Eine große dynamische Klausel liegt vor, wenn auf den jeweils für den Betrieb oder das Unternehmen geltenden TV verwiesen wird.
47
Bis zum Jahr 2005 interpretierte das BAG4 die dynamischen Bezugnahmeklauseln als sogenannte Gleichstellungsabrede. Dies bedeutet, dass der tarifgebundene Arbeitgeber regelmäßig den Arbeitnehmer ungeachtet seiner Gewerkschaftszugehörigkeit so stellen will, als sei dieser tarifgebunden. Dies führte in der Praxis insbesondere da1 2 3 4
Hierzu auch Kleinebrink, ArbRB 2008, 350 (351); Wendeling-Schröder, NZA 1998, 624 ff. ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 60 m.w.N. Vgl. Ahrendt, RdA 2012, 129 (132 f.). Vgl. BAG v. 4.8.1999 – 5 AZR 642/98, NZA 2000, 154; BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, NZA 2002, 634.
936 Seitz
Verhltnis zum Arbeitsvertrag
Rz. 51
Teil 11
zu, dass nach einem Verbandsaustritt die FlächenTVe auch für Nicht-Gewerkschaftsmitglieder mit einer kleinen dynamischen Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag „eingefroren“ wurden. Mit dem Urteil vom 14.12.20051 änderte das BAG seine Rechtsprechung für ab dem 48 1.1.2002 abgeschlossene Arbeitsverträge. Die Auslegungsregel der Gleichstellungsabrede sei nicht mehr anzuwenden. Stattdessen wendet das BAG bei Auslegungszweifeln die Unklarheitsregel des § 305c Abs. 2 BGB an. Für vor dem 1.1.2002 abgeschlossene Arbeitsverträge gewährt das BAG einen Vertrauensschutz und wendet die früheren Rechtsprechungsgrundsätze weiterhin an. Zur Auslegung von Bezugnahmeklauseln vgl. ausführlich Teil 10. Aufgrund der geänderten Rechtsprechung ist eine der meistgestellten Fragen in der 49 Praxis, ob kleine dynamische Bezugnahmeklauseln, die auf einen konkret bezeichneten VerbandsTV verweisen, automatisch einen für den Arbeitgeber geltenden HausTV mit in Bezug nehmen, der sodann tarifrechtlich dem VerbandsTV vorgeht. Insbesondere bei den meist mit für Arbeitnehmer schlechteren Bedingungen ausgestatteten SanierungsTVen stellt sich die Frage, ob ein SanierungsTV rechtsverbindlich für die Arbeitnehmer ist, oder ob die arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel den SanierungsTV bei Neuklauseln ins Leere laufen lässt (ausführlich zu SanierungsTVen Moll, Teil 12.). Die ältere Rechtsprechung des BAG legt dynamische Altklauseln (= vor dem 1.1.2002 50 vereinbarte Klauseln) so aus, dass eine Verweisung auf den einschlägigen VerbandsTV eines tarifgebundenen Arbeitgebers einen später abgeschlossenen HausTV mit umfasst. Angesichts der strengen Anforderungen der neuen Rechtsprechung erscheint eine solche Auslegung für Neuklauseln fraglich. Henssler (vgl. Teil 10 Rz. 81) vertritt die Auffassung, dass zumindest dann, wenn der FirmenTV von der Gewerkschaft der einschlägigen VerbandsTVe abgeschlossen wird, auch bei Neuklauseln der Vorrang des FirmenTVs gelte. Dieses Ergebnis lasse sich zwanglos durch Auslegung der Klausel gewinnen. Nach dem Parteiwillen sei es selbstredend, dass auch die Außenseiter von dem HausTV erfasst werden sollen. Dem Arbeitnehmer sei klar, dass sich der Arbeitgeber an die von der zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses zuständigen Gewerkschaft gestalteten Arbeitsbedingungen halten möchte. Schließt der Arbeitgeber hingegen einen HausTV mit einer anderen Gewerkschaft, dann wird eine Auslegung im Sinne einer Gültigkeit des HausTVs nur dann möglich sein, wenn die Neuklausel entsprechend eindeutig gestaltet ist, sodass deutlich wird, dass dem FirmenTV Vorrang vor einem VerbandsTV gebühren soll. Für die Praxis empfiehlt sich aufgrund der geänderten Rechtsprechung eine Formulierung, welche die Inbezugnahme eines potentiellen HausTVs ausreichend klar berücksichtigt.
II. Sonstige einzelvertragliche Zusagen Neben Bezugnahmeklauseln können im Arbeitsvertrag weitere vorteilhafte Regelun- 51 gen enthalten sein, die einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen durch einen HausTV, welcher z.B. als SanierungsTV das Unternehmen vor der Zahlungsunfähigkeit 1 Vgl. BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NZA 2006, 607.
Seitz
937
Teil 11 Rz. 52
Haustarif
schützen soll, entgegenstehen. Dem Arbeitnehmer kann zum einen einzelvertraglich eine übertarifliche Vergütungszusage gewährt werden, die aufgrund des Günstigkeitsprinzips gemäß § 4 Abs. 3 TVG (vgl. näher Teil 9 Rz. 181 ff.) auch eingehalten werden muss, zum anderen können dem Arbeitnehmer z.B. qua betrieblicher Übung Weihnachts- und Urlaubsgeldansprüche zustehen.
J. Streikrecht I. Erstreikbarkeit von Haustarifverträgen 1. Rechtsprechung des BAG 52
Nach der Rechtsprechung des BAG ist es den Gewerkschaften grundsätzlich gestattet, für den Abschluss eines HausTVs zu streiken. Hier gilt zunächst nichts anderes als bei Arbeitskampfmaßnahmen für den Abschluss eines VerbandsTVs. Das BAG stellt in seinem Urteil vom 10.12.20021 fest, dass allein der Umstand, dass die Gewerkschaft gegenüber einem verbandsangehörigen Arbeitgeber den Abschluss eines HausTVs erzwingen will, nicht zur Rechtswidrigkeit eines Streiks führe. Maßgeblich seien allein die Maßstäbe, die für jeden Arbeitskampf gelten2. Die Rechtmäßigkeit eines Streiks um einen FirmenTV ist daher nach den allgemein geltenden Grundsätzen zu beurteilen. Das BAG3 geht weiterhin davon aus, dass nicht schon allein das Gebot der Arbeitskampfparität der Zulässigkeit eines Streiks um einen HausTV entgegensteht.
53
Der Streik um den Abschluss eines HausTVs ist auch nicht bereits deshalb rechtswidrig, weil der Arbeitgeber aufgrund der Satzung seines Arbeitgeberverbandes dazu verpflichtet ist, keine HausTVe abzuschließen. Dieses Verbot gilt lediglich im Innenverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitgeberverband und hat auf das Außenverhältnis zu Dritten keine Auswirkungen4. Die Tariffähigkeit des Arbeitgebers ist nicht disponibel. 2. Gegenauffassungen
54
Die Auffassung des BAG ist nicht unumstritten und wurde teilweise abgelehnt. Das LAG Schleswig-Holstein5 und ein Teil der Literatur6 verneinen grundsätzlich die Zulässigkeit eines gegenüber dem Vollmitglied eines Arbeitgeberverbands zur Erzwingung eines FirmenTVs geführten Streiks. Begründet wird diese Auffassung unter ande-
1 BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, RdA 2003, 356; vgl. zum firmenbezogenen VerbandsTV BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, NZA 2007, 987. 2 So auch: LAG Düsseldorf v. 31.7.1985 – 13 Sa 1082/85, BB 1986, 807; LAG Köln v. 14.6.1996 – 4 Sa 127/96, NZA 1997, 327; Schaub/Treber, § 192 Rz. 27; Fischinger, ZTR 2006, 518 ff.; Jacobs, ZTR 2001, 249 (252 f.); Hensche, RdA 1971, 9 ff. 3 BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, RdA 2003, 356. 4 Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 348. 5 Vgl. LAG Schleswig-Holstein v. 25.11.1999 – 4 Sa 584/99, NZA-RR 2000, 143. 6 Vgl. Bauer/Krieger, NZA 2004, 1019 (1021); Rolfs/Clemens, NZA 2004, 410 (411 ff.); Reuter, NZA 2001, 1097; Lieb, DB 1999, 2058; Schleusener, NZA 1998, 239; Krichel, NZA 1986, 731; Buchner, DB 1970, 2025.
938 Seitz
Teil 11 Rz. 52
Haustarif
schützen soll, entgegenstehen. Dem Arbeitnehmer kann zum einen einzelvertraglich eine übertarifliche Vergütungszusage gewährt werden, die aufgrund des Günstigkeitsprinzips gemäß § 4 Abs. 3 TVG (vgl. näher Teil 9 Rz. 181 ff.) auch eingehalten werden muss, zum anderen können dem Arbeitnehmer z.B. qua betrieblicher Übung Weihnachts- und Urlaubsgeldansprüche zustehen.
J. Streikrecht I. Erstreikbarkeit von Haustarifverträgen 1. Rechtsprechung des BAG 52
Nach der Rechtsprechung des BAG ist es den Gewerkschaften grundsätzlich gestattet, für den Abschluss eines HausTVs zu streiken. Hier gilt zunächst nichts anderes als bei Arbeitskampfmaßnahmen für den Abschluss eines VerbandsTVs. Das BAG stellt in seinem Urteil vom 10.12.20021 fest, dass allein der Umstand, dass die Gewerkschaft gegenüber einem verbandsangehörigen Arbeitgeber den Abschluss eines HausTVs erzwingen will, nicht zur Rechtswidrigkeit eines Streiks führe. Maßgeblich seien allein die Maßstäbe, die für jeden Arbeitskampf gelten2. Die Rechtmäßigkeit eines Streiks um einen FirmenTV ist daher nach den allgemein geltenden Grundsätzen zu beurteilen. Das BAG3 geht weiterhin davon aus, dass nicht schon allein das Gebot der Arbeitskampfparität der Zulässigkeit eines Streiks um einen HausTV entgegensteht.
53
Der Streik um den Abschluss eines HausTVs ist auch nicht bereits deshalb rechtswidrig, weil der Arbeitgeber aufgrund der Satzung seines Arbeitgeberverbandes dazu verpflichtet ist, keine HausTVe abzuschließen. Dieses Verbot gilt lediglich im Innenverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitgeberverband und hat auf das Außenverhältnis zu Dritten keine Auswirkungen4. Die Tariffähigkeit des Arbeitgebers ist nicht disponibel. 2. Gegenauffassungen
54
Die Auffassung des BAG ist nicht unumstritten und wurde teilweise abgelehnt. Das LAG Schleswig-Holstein5 und ein Teil der Literatur6 verneinen grundsätzlich die Zulässigkeit eines gegenüber dem Vollmitglied eines Arbeitgeberverbands zur Erzwingung eines FirmenTVs geführten Streiks. Begründet wird diese Auffassung unter ande-
1 BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, RdA 2003, 356; vgl. zum firmenbezogenen VerbandsTV BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, NZA 2007, 987. 2 So auch: LAG Düsseldorf v. 31.7.1985 – 13 Sa 1082/85, BB 1986, 807; LAG Köln v. 14.6.1996 – 4 Sa 127/96, NZA 1997, 327; Schaub/Treber, § 192 Rz. 27; Fischinger, ZTR 2006, 518 ff.; Jacobs, ZTR 2001, 249 (252 f.); Hensche, RdA 1971, 9 ff. 3 BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, RdA 2003, 356. 4 Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 348. 5 Vgl. LAG Schleswig-Holstein v. 25.11.1999 – 4 Sa 584/99, NZA-RR 2000, 143. 6 Vgl. Bauer/Krieger, NZA 2004, 1019 (1021); Rolfs/Clemens, NZA 2004, 410 (411 ff.); Reuter, NZA 2001, 1097; Lieb, DB 1999, 2058; Schleusener, NZA 1998, 239; Krichel, NZA 1986, 731; Buchner, DB 1970, 2025.
938 Seitz
Streikrecht
Rz. 56a Teil 11
rem damit, dass es zur Schutzfunktion einer Arbeitgeberkoalition gehöre, ihre Mitglieder vor gezielten Streiks um UnternehmensTVe bewahren zu können. Zwar bestimme § 2 Abs. 1 TVG die Tariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers Daraus folge jedoch nicht, dass die Tariffähigkeit des Arbeitgebers mit dem Beitritt in den Arbeitgeberverband erhalten bliebe1. Mit dem Eintritt in den Arbeitgeberverband werde die Tariffähigkeit des Arbeitgebers entbehrlich2. Das BAG wendet in seiner Entscheidung vom 10.12.20023 dagegen ein: Eine Differenzierung nach der Verbandszugehörigkeit des Arbeitgebers sehe der Wortlaut des § 2 Abs. 1 TVG gerade nicht vor. Ebenfalls spreche die Gesetzessystematik gegen eine differenzierende Annahme. In § 54 Abs. 3 Nr. 1 HandwO sei die Tariffähigkeit der Handwerksinnungen ausdrücklich auf die Fälle beschränkt, in denen der Innungsverband nach § 82 Abs. 2 Nr. 3 HandwO keinen einschlägigen TV abgeschlossen habe. Eine solche subsidiäre Regelung sehe das TVG hingegen gerade nicht vor4. Zudem verbiete der Sinn und Zweck des § 2 Abs. 1 TVG eine Differenzierung. Zutref- 55 fend sei zwar, dass dieser der effektiven Verwirklichung der Tarifautonomie diene, indem verhindert werde, dass sich der Arbeitgeber der Tarifbindung entziehe. Auch entfiele dieser Zweck, wenn der Arbeitgeber Mitglied eines Arbeitgeberverbands sei, doch rechtfertige dies keinen Ausschluss der Tariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers. Die Tariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers gehöre vielmehr zu dessen durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Betätigungsfreiheit5. 3. Unzulässige Streikziele Sowohl der Streik gegen einen Arbeitgeber mit dem Ziel, ihn zum Austritt aus dem 56 Arbeitgeberverband zu zwingen, als auch der Streik mit dem Ziel, ihn aus der Tarifgemeinschaft der Verbandsmitglieder „herauszubrechen“6, verstoßen gegen Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG. Könnte die Gewerkschaft solche Ziele verfolgen, liefe der Schutz der Verbandsmitgliedschaft leer, wenn die Teilnahme an der Koalitionsbetätigung nicht geschützt wird7. 4. Beschränkung des Streikrechts durch das Tarifeinheitsgesetz? Fragen zum Streikrecht wirft auch das neue Tarifeinheitsgesetz auf, dessen wesentli- 56a che Änderung im neu geschaffenen § 4a TVG besteht. Die Vorschrift selbst enthält keine unmittelbaren Regelungen zum Streikrecht, dennoch ist zu erwarten, dass jedenfalls mittelbar eine Beeinträchtigung des Streikrechts insbesondere kleinerer Gewerkschaften bewirkt wird. Das deutet auch die Gesetzesbegründung8 an, nach der von der Rechtswidrigkeit eines Arbeitskampfes ausgegangen werden müsse, sollte die streikende Gewerkschaft offensichtlich nicht die Mehrheit der organisierten Ar-
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Vgl. LAG Schleswig-Holstein v. 25.11.1999 – 4 Sa 584/99, NZA-RR 2000, 143. Vgl. Matthes, FS Schaub, 1998, S. 477 ff. BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, RdA 2003, 356. Jacobs, ZTR 2001, 249 (250); Rieble, NZA 2000, 225 (229). BAG v. 20.11.1990 – 1 ABR 62/89, NJW 1991, 1699. Reuter, NZA 2001, 1097 (1102). Buchner, DB 1970, 2074 (2078 f.). BT-Drucks. 18/4062 S. 12.
Seitz
939
Teil 11 Rz. 57
Haustarif
beitnehmer des zu bestreikenden Betriebes haben. Ein mögliches Szenario ist daher, dass ein Arbeitskampf einer Minderheitsgewerkschaft nur dann als rechtmäßig angesehen werden könnte, sofern zumindest die Möglichkeit besteht, dass der Arbeitskampf zu einer gültigen tariflichen Regelung führt1. Ein Streikverbot für die klare Minderheitsgewerkschaft in diesem Sinne käme damit im Ergebnis einem präventiven Arbeitskampfverbot gleich2. Problematisch bei den Ausführungen zum Gesetzesentwurf ist, dass die Kollisionsregel erst dann greift, wenn der kollidierende TV abgeschlossen wurde. Es ist durchaus möglich, dass sich die Mehrheitsverhältnisse vom Beginn des Arbeitskampfes bis zum Abschluss des dann kollidierenden TV zu Gunsten der Gewerkschaft verschieben, die zu Streikbeginn noch Minderheitsgewerkschaft war. Auch das Nachzeichnungsrecht nach § 4a Abs. 4 TVG spricht dafür, einen Streik der Minderheitsgewerkschaft zuzulassen, da dieses Recht erst dann entsteht, wenn der MinderheitenTV verdrängt worden ist3. Darüber hinaus dürfte ein präventives Verbot von Arbeitskampfmaßnahmen gegen die verfassungsrechtlichen Vorgaben zur koalitionsspezifischen Betätigungsfreiheit verstoßen4. Jedenfalls wird allein anhand dieser Auslegungsfrage deutlich, dass weder das Gesetz noch dessen Begründung zu einem geregelten Streikrecht beitragen. Es bleibt abzuwarten, wie die Arbeitsgerichtsbarkeit die Auswirkungen des neuen Gesetzes auf das Streikrecht bewertet.
II. Friedenspflicht 57
Der verbandsangehörige Arbeitgeber ist nach dem BAG durch die sich aus den VerbandsTVen ergebende Friedenspflicht gegen einen Streik geschützt, der auf den Abschluss von FirmenTVen mit derselben Gewerkschaft über dieselbe Regelungsmaterie gerichtet ist. Der TV sei in seinem schuldrechtlichen Teil, zu dem die Friedenspflicht gehöre, zugleich ein Vertrag zugunsten Dritter und schütze die Mitglieder der TV-Parteien davor, hinsichtlich der tariflich geregelten Materie mit Arbeitskampfmaßnahmen überzogen zu werden5. Dies gelte auch, wenn gegenüber einem verbandsangehörigen Arbeitgeber ein FirmenTV erstreikt werden soll6. Auch wenn der Arbeitgeber über Jahre hinweg nur HausTVe abgeschlossen hat, kann er sich weiterhin auf die Friedenspflicht des VerbandsTVs berufen7. Dies folgt aus dem Recht der positiven Koalitionsfreiheit. Das Mitglied einer Koalition darf auch am Schutz derselben teilhaben. Eine Verwirkung dieses Rechts ist ausgeschlossen. Außerhalb der Regelungsgegenstände des VerbandsTVs gilt die Friedenspflicht nicht. Praktische Bedeutung hat dies insbesondere für das Recht der Gewerkschaft zur Erstreikung eines Tarifsozialplans bei bestehender Tarifbindung an einen VerbandsTV; zum Tarifsozialplan vgl. Teil 12 Rz. 120 ff.
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Zutreffend Greiner, RdA 2015, 36 (41). Preis, FA 2014, 356. ErfK/Franzen, § 4a TVG Rz. 26; Greiner, NZA 2015, 769 (777). Preis, FA 2014, 356. BAG v. 31.10.1958 – 1 AZR 632/57, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Friedenspflicht. So auch v. Hoyningen-Huene, ZfA 1980, 453 (466); Jacobs, ZTR 2001, 249 (254). Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1063.
940 Seitz
Praxisrelevante Fragestellungen bei Anerkennungstarifvertrgen
Rz. 62
Teil 11
K. Praxisrelevante Fragestellungen bei Anerkennungstarifverträgen I. Begriff Mit einem AnerkennungsTV vereinbart ein in der Regel nicht tarifgebundener Arbeitgeber mit der zuständigen Gewerkschaft kein eigenes Tarifwerk, sondern die Geltung eines oder mehrerer anderer TVe. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts schließt die Tarifautonomie die Möglichkeit ein, in einem TV auf jeweils andere Tarifnormen zu verweisen1. Grenzen hinsichtlich der Verweisung sieht das BAG bei einer Aufgabe des Kernbereichs der Normsetzungsbefugnis. Diese könne etwa bei Vereinbarung einer Unkündbarkeit der Verweisungsnorm oder einer besonders langen Laufdauer oder Kündigungsfrist vorliegen2.
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AnerkennungsTVe sind in der Praxis sehr verbreitet. Im Zusammenhang mit dem 59 Abschluss von AnerkennungsTVen sind in der Praxis insbesondere die nachfolgenden Fragestellungen von Bedeutung.
II. Umfang der Anerkennung Der Umfang der Anerkennung ist unterschiedlich: Denkbar ist die Verweisung auf das 60 fachlich einschlägige TV-Werk. Zulässig ist aber auch die Anerkennung nur einzelner der einschlägigen FlächenTVe, die Anerkennung der einschlägigen TVe mit bestimmten unternehmensspezifischen Abweichungen oder die Anerkennung eines branchenfremden Tarifwerks bzw. einzelner branchenfremder TVe. Um den Umfang der Anerkennung klarzustellen, ist es in der Praxis üblich, in der Anlage zum AnerkennungsTV eine Auflistung der TVe zu vereinbaren. Dieses Vorgehen bietet sich ferner an, wenn bei der Übernahme eines Flächentarifwerks einer Branche bestehend aus einer Vielzahl von TVen einzelne TVe von der Geltung ausgenommen werden sollen.
III. Status der Tarifgeltung Für die Praxis erhebliche Bedeutung hat der im AnerkennungsTV vereinbarte Rechtsstatus der TVe. Dies betrifft insbesondere die Frage, ob die anerkannten TVe dynamisch, d.h. in der jeweils gültigen Fassung, anerkannt werden, oder lediglich statisch, d.h. in der bei Abschluss des AnerkennungsTVs gültigen Fassung. Bei statischer Anerkennung werden insbesondere spätere Tariflohnerhöhungen in der Fläche nicht von dem Anerkenntnis umfasst. Trotz der wesentlichen Bedeutung dieser Frage für beide TV-Parteien zeigen sich in der Tarifpraxis erhebliche Formulierungsschwächen. Nicht selten führt das erkennbare Bemühen der Tarifparteien, hinsichtlich des Rechtsstatus eine eindeutige Regelung zu treffen, zum Gegenteil mit der Folge von gerichtlichen Auslegungsstreitigkeiten.
61
Häufiger Fall ist in der Praxis eine Abkoppelung von der Vergütungsautomatik in der 62 Fläche. Die Lohn- und GehaltsTVe in der Fläche werden bewusst nicht automatisch 1 BAG v. 16.6.2010 – 4 AZR 944/08, NZA 2011, 480. 2 BAG v. 10.11.1982 – 4 AZR 1203/79, DB 1983, 717.
Seitz
941
Teil 11 Rz. 63
Haustarif
von der Anerkennung umfasst. Deren Wirksamwerden für das Unternehmen wird an Voraussetzungen geknüpft, z.B. an die Zustimmung der Geschäftsführung anhand bestimmter wirtschaftlicher Kennzahlen. 63
Die Rechtssetzungsbefugnis der TV-Parteien umfasst nach dem BAG auch die Möglichkeit, in AnerkennungsTVen die Übernahme fremder Tarifregelungen im jeweiligen Geltungszustand vereinbaren zu können1. Dies schließt auch die Möglichkeit ein, den Geltungszustand der Nachwirkung im Sinne von § 4 Abs. 5 TVG zu vereinbaren2.
IV. Nachwirkung bei Anerkennungstarifverträgen 64
Hinsichtlich der Nachwirkung der Rechtsnormen eines AnerkennungsTVs gemäß § 4 Abs. 5 TVG ist zwischen der Nachwirkung des AnerkennungsTVs und der Nachwirkung des anerkannten TVs zu unterscheiden: 1. Nachwirkung des Anerkennungstarifvertrages a) Beendigung des Anerkennungstarifvertrages
65
Auch für AnerkennungsTVe gilt, dass die Nachwirkungsphase nach § 4 Abs. 5 TVG eintritt, wenn der TV endet. Der AnerkennungsTV endet mit Ablauf der vereinbarten Geltungsdauer, im Übrigen wie sonstige HausTVe im Falle der Kündigung mit Ablauf der Kündigungsfrist. Enthält der AnerkennungsTV keine Kündigungsregelung, gelten für seine Laufzeit bzw. seine Kündbarkeit die Bestimmungen des umfassend in Bezug genommenen fremden TVs entsprechend3. Es gibt allerdings keine gesetzliche Vorgabe, nach welcher der AnerkennungsTV an die Laufzeit des in Bezug genommenen TVs gekoppelt werden müsste. b) Nachwirkung aller in Bezug genommenen Regelungen
66
Wesentlich ist, dass die Nachwirkung des AnerkennungsTVs zur Nachwirkung aller in Bezug genommenen Tarifnormen führt. Die Nachwirkung für die in Bezug genommenen Tarifnormen tritt unabhängig davon ein, ob das in Bezug genommene Tarifwerk weiterhin zwingend gilt oder ebenfalls in die Nachwirkung eingetreten ist. Denn die Normen des BezugsTVs werden vom BAG richtigerweise als Inhalt des VerweisungsTVs verstanden4. c) Auswirkungen in der Praxis
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Verweist der AnerkennungsTV dynamisch auf andere TVe, so endet nach den vorstehend beschriebenen Grundsätzen die Dynamik mit Eintritt der Nachwirkung des An-
1 BAG v. 16.6.2010 – 4 AZR 944/08, NZA 2011, 480; BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 561/06, NZA-RR 2008, 249; BAG v. 18.2.2003 – 1 AZR 142/02, NZA 2003, 866; BAG v. 13.8.1986 – 4 ABR 2/86, EzA § 1 TVG Auslegung Nr. 15. 2 BAG v. 16.6.2010 – 4 AZR 944/08, NZA 2011, 480. 3 BAG v. 18.7.1997 – 4 AZR 710/95, NZA 1997, 1234. 4 BAG v. 9.7.1980 – 4 AZR 564/78, DB 1981, 374.
942 Seitz
Praxisrelevante Fragestellungen bei Anerkennungstarifvertrgen
Rz. 70
Teil 11
erkennungsTVs. Aus der dynamischen wird eine statische Verweisung auf den anderen TV in der Fassung, die er bei Ablauf des verweisenden TVs hat1. Das hat zur Folge, dass die Bindung an ein Flächentarifwerk über einen Anerken- 68 nungsTV deutlich schneller durch Kündigung des AnerkennungsTVs wieder beseitigt werden kann als dies bei Bindung an die FlächenTVe über eine Verbandsmitgliedschaft der Fall ist. Denn im Falle des Austritts aus dem Arbeitgeberverband enden die FlächenTVe erst mit deren Ablauf. Dies kann insbesondere bei MantelTVen zu einer jahrelangen Nachbindung führen. Ist ein Arbeitgeber dagegen kraft AnerkennungsTV an das gleiche Flächentarifwerk gebunden, so tritt Nachwirkung für alle in Bezug genommenen FlächenTVe einschließlich des MantelTVs mit Ablauf der Kündigungsfrist des AnerkennungsTVs ein2. Befindet sich der TV, der anerkannt ist, ebenfalls in der Nachwirkung, ändert dies an der Nachwirkung ebenfalls nichts. Änderungen der anerkannten FlächenTVe nach Ablauf der Kündigungsfrist des AnerkennungsTVs werden für den verweisenden TV nicht mehr wirksam3. d) Abgrenzung zu Stufenregelungen in Tarifverträgen Vorsicht ist bei sogenannten Stufenregelungen in TVen geboten. Dies meint Tarif- 69 regelungen, die eine stufenweise Steigerung von Leistungen über mehrere Jahre hinweg vorsehen, z.B. Lohnerhöhungen in den nächsten drei Jahren. Die Nachwirkung des TVs lässt die Stufensteigerungen grundsätzlich unberührt, wenn es sich um eine in sich geschlossene Tarifregelung handelt. Es werden daher auch die Stufen wirksam, die erst im Nachwirkungszeitraum wirksam werden. Die Stufensteigerungen sind als Inhalt der nachwirkenden Tarifnorm zu beachten4. Denn die Nachwirkung bewirkt nur, dass neue Tarifabschlüsse keine Wirksamkeit mehr entfalten, die Stufenregelung ist aber Bestandteil der ehemals zwingend geltenden TVe. 2. Nachwirkung des anerkannten Tarifvertrages Nach der Rechtsprechung des BAG ist bei einer Verweisung eines TVs auf die Tarif- 70 normen eines anderen TVs bei Fehlen einer ausdrücklichen Regelung durch Auslegung zu ermitteln, ob die in Bezug genommenen Tarifnormen in ihrem jeweiligen Geltungszustand Anwendung finden sollen oder ob die zwingende Wirkung der in Bezug genommenen Tarifnormen durch deren Kündigung nicht berührt wird5. Maßgeblich ist nach dem BAG, ob mit der Verweisung eine Gleichstellung mit der Entwicklung der in Bezug genommenen Tarifnormen gewollt ist. Bei einem AnerkennungsTV spreche das „in der Regel“ dafür, dass auch der Geltungszustand der in Bezug genommenen Tarifnormen auf den VerweisungsTV durchschlagen soll6. Vorsicht aus Arbeitgebersicht ist jedoch bei der Übernahme schon im Zeitpunkt der Aufnahme nachwir1 BAG v. 29.1.2008 – 3 AZR 426/06, NZA 2008, 541; BAG v. 10.3.2004 – 4 AZR 140/03, EzA § 4 TVG Nachwirkung Nr. 36; Ahrendt, RdA 2012, 129 (135). 2 BAG v. 10.11.1982 – 4 AZR 1203/79, DB 1983, 717. 3 BAG v. 10.11.1982 – 4 AZR 1203/79, DB 1983, 717. 4 BAG v. 16.8.1990 – 8 AZR 439/89, NZA 1991, 353. 5 BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 561/06, NZA-RR 2008, 249. 6 BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 561/06, NZA-RR 2008, 249; BAG v. 7.5.2008 – 4 AZR 229/07, BB 2008, 2148; BAG v. 17.5.2000 – 4 AZR 363/99, NZA 2001, 453 mit zust. Anm. Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 96.
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943
Teil 11 Rz. 71
Haustarif
kender Regelungen in einen AnerkennungsTV geboten. Hier zeigen die TV-Parteien, dass sie nicht etwa die nachwirkenden Normen als solche übernehmen wollen. Die nachwirkenden Regelungen verlieren in einem solchen Fall zwar beim anerkannten FlächenTV ihre zwingende Wirkung. Diese würde allerdings sodann im Rahmen des AnerkennungsTV wieder aufleben1. 71
Da das BAG die Normen des BezugsTVs als Inhalt des VerweisungsTVs versteht, stellt sich im Ergebnis die neue Fassung des BezugsTVs als Änderung der als Einheit verstandenen tariflichen Regelungen von Verweisungs- und BezugsTV dar2. Praxisrelevant ist die neuere Rechtsprechung des 4. Senats des BAG zur Nachwirkung der FlächenTVe der Metall- und Elektroindustrie durch die ERA-TVe. Nach jahrelangen Unsicherheiten über den Tarifstatus im Zusammenhang mit ERA hat der 4. Senat in zwei Entscheidungen geurteilt, dass für Arbeitgeber, die während der sogenannten Freiwilligkeitsphase der ERA-Einführung ihre Tarifbindung beendet haben, die ERA-TVe nicht wirksam geworden sind. Arbeitgeber, die das ERA bis zur Beendigung der Tarifbindung nicht betrieblich eingeführt haben, waren weiterhin ausschließlich an die „alten“ MetallTVe gebunden. Die Rechtsnormen dieser TVe sind mit Ablauf der Freiwilligkeitsphase und dem zwingenden Inkrafttreten des ERA-Tarifwerks in die Nachwirkung eingetreten3.
V. Friedenspflicht 72
Praxisrelevant ist weiterhin die Frage, inwieweit sich Arbeitnehmer im Geltungsbereich eines ungekündigten AnerkennungsTVs rechtmäßig an einem Flächenstreik zum Neuabschluss des gekündigten FlächenTVs beteiligen können. Das BAG bejaht dies4. In der Praxis wird diese Fragestellung meist durch eine ausdrückliche Regelung im AnerkennungsTV gelöst. Die Standard-AnerkennungsTV-Entwürfe der großen Gewerkschaften enthalten in der Regel eine Klausel, wonach die Friedenspflicht so zu behandeln ist, als sei der Arbeitgeber Mitglied des Arbeitgeberverbandes. Eine so oder ähnlich in Standardentwürfen von Gewerkschaften verwendete Formulierung lautet: „Werden diese Tarifvertrge oder Teile von ihnen gekndigt, gelten sie auch zwischen den Parteien dieses Haustarifvertrages als gekndigt. Forderungen, die zu den in Bezug genommenen Tarifvertrgen gestellt werden, gelten auch gegenber der Partei dieses Tarifvertrages als gestellt. Arbeitskampffreiheit und Friedenspflicht regeln sich so, als wre die Firma Mitglied des Arbeitgeberverbandes, der die in Bezug genommenen Tarifvertrge abgeschlossen hat.“
VI. Tarifliche Differenzierungsklauseln 73
In HausTV-Verhandlungen streben die tarifschließenden Gewerkschaften zum Teil eine „Besserstellung“ ihrer Mitglieder mittels sogenannter Differenzierungsklauseln 1 Vgl. Kleinebrink, DB 2007, 518. 2 BAG v. 17.5.2000 – 4 AZR 363/99, NZA 2001, 453. 3 BAG v. 19.10.2011 – 4 ABR 116/09, BB 2011, 2739; BAG v. 6.7.2011, 4 AZR 424/09, NZA 2012, 281. 4 BAG v. 18.2.2003 – 1 AZR 142/02, NZA 2003, 866.
944 Seitz
berleitungstarifvertrge
Rz. 76
Teil 11
an. So fordern manche Gewerkschaften als Gegenleistungen für Abweichungen von den FlächenTVen Bonuszahlungen für ihre Mitglieder. Die Gewerkschaften möchten durch solche Klauseln die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft attraktiv machen und „unsolidarischen Nutznießern gewerkschaftlicher Leistungen“ das Trittbrettfahren erschweren. Je nach Inhalt der Klausel hält das BAG diese für unzulässig: 1. Qualifizierte Differenzierungsklauseln Unter qualifizierten Differenzierungsklauseln versteht der Tarifsenat Klauseln, die 74 auf die Vertragspraxis oder die Vereinbarungen des tarifgebundenen Arbeitgebers mit nicht organisierten Arbeitnehmern Einfluss nehmen wollen. Qualifizierte Differenzierungsklauseln sind unter verschiedenen Bezeichnungen bekannt und werden vom BAG als unzulässig erachtet: Unzulässig sind nach einer Entscheidung des Großen Senats und der Entscheidung des BAG vom 23.3.20111 zum einen sog. „Spannensicherungsklauseln“ bzw. Abstandsklauseln. Spannensicherungsklauseln sollen sicherstellen, dass die Gewerkschaftsmitglieder bei jeder zusätzlichen Leistung an nicht-organisierte Arbeitnehmer entsprechend mehr erhalten2. Nach dem BAG verstoßen solche Klauseln aufgrund einer gezielten Diskriminierung nicht- bzw. anders organisierter Arbeitnehmer gegen Art. 9 Abs. 3 GG. Ebenfalls unzulässig sind sog. Tarifausschlussklauseln, die dem Arbeitgeber verbieten wollen, tarifliche Leistungen auch Nichtgewerkschaftsmitgliedern zu gewähren3. 2. Einfache Differenzierungsklauseln Sogenannte einfache Differenzierungsklauseln, die die Gewerkschaftszugehörigkeit 75 als Anspruchsvoraussetzung definieren, hält das BAG je nach Ausgestaltung im Einzelfall je nach Grad der Beeinträchtigung der negativen Koalitionsfreiheit für zulässig bzw. unzulässig. Eine Differenzierungsklausel, wonach die Tariferhöhung nur für Arbeitnehmer gelten soll, die an einem Stichtag Mitglied der zuständigen Gewerkschaft sind und bleiben, hat das BAG für unwirksam befunden4. Dagegen hält das BAG die Verknüpfung einer Sonderzahlung mit der Gewerkschaftsmitgliedschaft unter bestimmten Voraussetzungen für zulässig5. In der Praxis ist daher auch bei einfachen Differenzierungsklauseln jeweils zu prüfen, ob von ihnen ein unverhältnismäßiger Druck zum Gewerkschaftsbeitritt ausgeht.
L. Überleitungstarifverträge Der Begriff des ÜberleitungsTVs ist ebenfalls nicht gesetzlich definiert. Damit sind 76 HausTVe gemeint, die meist im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Umstrukturierungen Überführungen von einem Tarifwerk auf ein anderes Tarifwerk regeln6. Ein ÜberleitungsTV muss nicht zwingend als HausTV abgeschlossen werden. Die HausTV-Lösung ist aber in der Praxis häufig anzufinden. 1 2 3 4 5 6
BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920. BAG GS v. 29.11.1967 – GS 1/67, DB 1968, 1539. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 626. BAG v. 9.5.2007 – 4 AZR 275/06, NZA 2007, 1439. BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028. Vgl. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 63.
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berleitungstarifvertrge
Rz. 76
Teil 11
an. So fordern manche Gewerkschaften als Gegenleistungen für Abweichungen von den FlächenTVen Bonuszahlungen für ihre Mitglieder. Die Gewerkschaften möchten durch solche Klauseln die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft attraktiv machen und „unsolidarischen Nutznießern gewerkschaftlicher Leistungen“ das Trittbrettfahren erschweren. Je nach Inhalt der Klausel hält das BAG diese für unzulässig: 1. Qualifizierte Differenzierungsklauseln Unter qualifizierten Differenzierungsklauseln versteht der Tarifsenat Klauseln, die 74 auf die Vertragspraxis oder die Vereinbarungen des tarifgebundenen Arbeitgebers mit nicht organisierten Arbeitnehmern Einfluss nehmen wollen. Qualifizierte Differenzierungsklauseln sind unter verschiedenen Bezeichnungen bekannt und werden vom BAG als unzulässig erachtet: Unzulässig sind nach einer Entscheidung des Großen Senats und der Entscheidung des BAG vom 23.3.20111 zum einen sog. „Spannensicherungsklauseln“ bzw. Abstandsklauseln. Spannensicherungsklauseln sollen sicherstellen, dass die Gewerkschaftsmitglieder bei jeder zusätzlichen Leistung an nicht-organisierte Arbeitnehmer entsprechend mehr erhalten2. Nach dem BAG verstoßen solche Klauseln aufgrund einer gezielten Diskriminierung nicht- bzw. anders organisierter Arbeitnehmer gegen Art. 9 Abs. 3 GG. Ebenfalls unzulässig sind sog. Tarifausschlussklauseln, die dem Arbeitgeber verbieten wollen, tarifliche Leistungen auch Nichtgewerkschaftsmitgliedern zu gewähren3. 2. Einfache Differenzierungsklauseln Sogenannte einfache Differenzierungsklauseln, die die Gewerkschaftszugehörigkeit 75 als Anspruchsvoraussetzung definieren, hält das BAG je nach Ausgestaltung im Einzelfall je nach Grad der Beeinträchtigung der negativen Koalitionsfreiheit für zulässig bzw. unzulässig. Eine Differenzierungsklausel, wonach die Tariferhöhung nur für Arbeitnehmer gelten soll, die an einem Stichtag Mitglied der zuständigen Gewerkschaft sind und bleiben, hat das BAG für unwirksam befunden4. Dagegen hält das BAG die Verknüpfung einer Sonderzahlung mit der Gewerkschaftsmitgliedschaft unter bestimmten Voraussetzungen für zulässig5. In der Praxis ist daher auch bei einfachen Differenzierungsklauseln jeweils zu prüfen, ob von ihnen ein unverhältnismäßiger Druck zum Gewerkschaftsbeitritt ausgeht.
L. Überleitungstarifverträge Der Begriff des ÜberleitungsTVs ist ebenfalls nicht gesetzlich definiert. Damit sind 76 HausTVe gemeint, die meist im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Umstrukturierungen Überführungen von einem Tarifwerk auf ein anderes Tarifwerk regeln6. Ein ÜberleitungsTV muss nicht zwingend als HausTV abgeschlossen werden. Die HausTV-Lösung ist aber in der Praxis häufig anzufinden. 1 2 3 4 5 6
BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920. BAG GS v. 29.11.1967 – GS 1/67, DB 1968, 1539. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 626. BAG v. 9.5.2007 – 4 AZR 275/06, NZA 2007, 1439. BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, NZA 2009, 1028. Vgl. Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 63.
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945
Teil 11 Rz. 77
Haustarif
77
Ein häufiger Anwendungsfall in der Praxis sind große Umstrukturierungsmaßnahmen in Unternehmensgruppen oder Konzernen. Ein Beispiel hierfür sind Umstrukturierungen bei der Deutschen Telekom AG. Hier wurden in den vergangenen Jahren eine erhebliche Anzahl von Arbeitsverhältnissen in Servicegesellschaften mit niedrigerem Tarifniveau überführt. Im Zusammenhang mit der Überführung wurden ÜberleitungsTVe mit der zuständigen Gewerkschaft ver.di abgeschlossen. Diese beinhalteten insbesondere Besitzstands- und Überleitungsschutz für die Stammbelegschaft.
78
Ein weiteres Beispiel ist die Fusion von Arbeitgebern mit unterschiedlicher Tarifgeltung. So wurden beispielsweise bei der Fusion der Gewerkschaft Holz und Kunststoff (GHK) mit der IG Metall für die Flächen- und FirmenTVe ÜberleitungsTVe zwischen den jeweiligen Arbeitgeberverbänden bzw. Unternehmen einerseits und der GHK sowie der IG Metall andererseits abgeschlossen. Zweck war die Fortsetzung von sämtlichen zwischen den TV-Parteien abgeschlossenen TVen.
79
Ein weiterer Anwendungsfall eines ÜberleitungsTVs ist das Herauswachsen aus dem fachlichen Geltungsbereich, z.B. aus dem Geltungsbereich der FlächenTVe für die Metall- und Elektroindustrie in die der chemischen Industrie. Dann kann ein ÜberleitungsTV festlegen, dass nach einer Übergangsfrist, und ggf. mit Besitzstandswahrung, die neuen TVe gelten.
M. Rechtliche und taktische Vorbereitung und Durchführung von Haustarifvertrags-Verhandlungen I. Typische Fragen vor der Einführung von Haustarifverträgen 80
Für die strategische Vorbereitung von TV-Verhandlungen gibt es kein Patentrezept. Einzelne Vorgehensweisen hängen stets von den beteiligten Unternehmen und Gewerkschaften ab, wobei zum Teil sogar regional große Unterschiede zu erkennen sind. Die in diesem Kapitel sehr kompakt aufgeführten Praxistipps stellen weitestgehend Erfahrungen aus einzelnen Tarifprojekten der letzten Jahre dar und sind daher nicht vorbehaltslos verallgemeinerungsfähig. Unabhängig von der strategischen Vorbereitung sollten vor der Einführung von HausTVen aber insbesondere die folgenden Rechtsfragen geklärt bzw. beachtet werden, um typische Risiken und Fallstricke möglichst zu vermeiden: 1. Klärung der Gewerkschaftszuständigkeit
81
Es ist festzustellen, welche Gewerkschaft für das Unternehmen tarifzuständig ist (vgl. Teil 2 Rz. 209 ff.). Die Tarifzuständigkeit richtet sich grundsätzlich nach der Satzung der jeweiligen Gewerkschaft1. Ein mit der unzuständigen Gewerkschaft abgeschlossener TV ist unwirksam2. Bei der anwaltlichen Beratung liegt die Herausforderung meist
1 BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613; BAG v. 12.11.1996 – 1 ABR 33/96, NZA 1997, 609; BAG v. 14.12.1999 – 1 ABR 74/98, NZA 2000, 949. 2 BAG v. 27.11.1964 – 1 ABR 13/63, DB 1965, 479; BAG v. 24.7.1990 – 1 ABR 46/89, NZA 1991, 21.
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Teil 11 Rz. 77
Haustarif
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Ein häufiger Anwendungsfall in der Praxis sind große Umstrukturierungsmaßnahmen in Unternehmensgruppen oder Konzernen. Ein Beispiel hierfür sind Umstrukturierungen bei der Deutschen Telekom AG. Hier wurden in den vergangenen Jahren eine erhebliche Anzahl von Arbeitsverhältnissen in Servicegesellschaften mit niedrigerem Tarifniveau überführt. Im Zusammenhang mit der Überführung wurden ÜberleitungsTVe mit der zuständigen Gewerkschaft ver.di abgeschlossen. Diese beinhalteten insbesondere Besitzstands- und Überleitungsschutz für die Stammbelegschaft.
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Ein weiteres Beispiel ist die Fusion von Arbeitgebern mit unterschiedlicher Tarifgeltung. So wurden beispielsweise bei der Fusion der Gewerkschaft Holz und Kunststoff (GHK) mit der IG Metall für die Flächen- und FirmenTVe ÜberleitungsTVe zwischen den jeweiligen Arbeitgeberverbänden bzw. Unternehmen einerseits und der GHK sowie der IG Metall andererseits abgeschlossen. Zweck war die Fortsetzung von sämtlichen zwischen den TV-Parteien abgeschlossenen TVen.
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Ein weiterer Anwendungsfall eines ÜberleitungsTVs ist das Herauswachsen aus dem fachlichen Geltungsbereich, z.B. aus dem Geltungsbereich der FlächenTVe für die Metall- und Elektroindustrie in die der chemischen Industrie. Dann kann ein ÜberleitungsTV festlegen, dass nach einer Übergangsfrist, und ggf. mit Besitzstandswahrung, die neuen TVe gelten.
M. Rechtliche und taktische Vorbereitung und Durchführung von Haustarifvertrags-Verhandlungen I. Typische Fragen vor der Einführung von Haustarifverträgen 80
Für die strategische Vorbereitung von TV-Verhandlungen gibt es kein Patentrezept. Einzelne Vorgehensweisen hängen stets von den beteiligten Unternehmen und Gewerkschaften ab, wobei zum Teil sogar regional große Unterschiede zu erkennen sind. Die in diesem Kapitel sehr kompakt aufgeführten Praxistipps stellen weitestgehend Erfahrungen aus einzelnen Tarifprojekten der letzten Jahre dar und sind daher nicht vorbehaltslos verallgemeinerungsfähig. Unabhängig von der strategischen Vorbereitung sollten vor der Einführung von HausTVen aber insbesondere die folgenden Rechtsfragen geklärt bzw. beachtet werden, um typische Risiken und Fallstricke möglichst zu vermeiden: 1. Klärung der Gewerkschaftszuständigkeit
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Es ist festzustellen, welche Gewerkschaft für das Unternehmen tarifzuständig ist (vgl. Teil 2 Rz. 209 ff.). Die Tarifzuständigkeit richtet sich grundsätzlich nach der Satzung der jeweiligen Gewerkschaft1. Ein mit der unzuständigen Gewerkschaft abgeschlossener TV ist unwirksam2. Bei der anwaltlichen Beratung liegt die Herausforderung meist
1 BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613; BAG v. 12.11.1996 – 1 ABR 33/96, NZA 1997, 609; BAG v. 14.12.1999 – 1 ABR 74/98, NZA 2000, 949. 2 BAG v. 27.11.1964 – 1 ABR 13/63, DB 1965, 479; BAG v. 24.7.1990 – 1 ABR 46/89, NZA 1991, 21.
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Durchfhrung von Haustarifvertrags-Verhandlungen
Rz. 83
Teil 11
darin, Zugang zu der Satzung der möglicherweise zuständigen Gewerkschaften zu erhalten. Einige Gewerkschaften veröffentlichen die jeweils gültige Fassung im Internet; dies gilt aber bei Weitem nicht für alle Gewerkschaften. Zu beachten ist, dass die Satzungen der Gewerkschaften grundsätzlich weiter gefasst sind als der Geltungsbereich der gängigen VerbandsTVe. Um z.B. die Tarifzuständigkeit der IG Metall zu ermitteln, ist es daher nicht ausreichend, den Geltungsbereich der TVe der Metall- und Elektroindustrie zu überprüfen. Es können auch mehrere Gewerkschaften tarifzuständig sein. Die Gewerkschaften 82 gestalten ihre satzungsmäßige Zuständigkeit in der Regel sehr weit, um möglichst für viele potentielle Unternehmen zuständig zu sein. Gerade in den letzten Jahren haben sie auch auf Veränderungen der Unternehmensstrukturen reagiert. So hat z.B. die IG Metall durch eine Satzungsergänzung ihre Zuständigkeit auf ausgegliederte Bereiche von Unternehmen (z.B. Logistikbereiche) erweitert, die rein nach ihrem Unternehmensgegenstand möglicherweise nicht mehr unter die Zuständigkeit der IG Metall fallen würden. Für die Praxis bleibt festzuhalten, dass im Vorfeld von HausTV-Verhandlungen die Gewerkschaftszuständigkeit geprüft werden sollte. Möglicherweise bietet sich ein HausTV-Abschluss mit einer anderen Gewerkschaft als der bisherigen an. Diese Gewerkschaft hat voraussichtlich auch ein Interesse daran, das jeweilige Unternehmen als neuen Tarifpartner zu gewinnen. Zu beachten ist, dass sich die DGB-Mitgliedsgewerkschaften satzungsmäßig (§ 15 der 83 DGB-Satzung) auf den Grundsatz „Ein Betrieb – eine Gewerkschaft“ festgelegt haben1. Damit ist innerhalb des DGB trotz einer satzungsmäßigen Doppelzuständigkeit der Einzelgewerkschaften stets nur eine Gewerkschaft für ein Unternehmen zuständig. In Überschneidungsfällen entscheidet nach einem Vermittlungsverfahren das DGB-Schiedsgericht (§ 16 der DGB-Satzung). Die Entscheidung des DGB-Schiedsgerichts bindet nach dem BAG auch den tariflichen Gegenspieler2. Nach dem BAG bleibt es bis zu einer Entscheidung des DGB-Schiedsgerichts bei der Tarifzuständigkeit der Gewerkschaft, die vor Entstehung der Konkurrenzsituation als zuständig angesehen worden war3. Daher kann sich der Arbeitgeber bei DGB-Gewerkschaften nicht einfach an eine nach ihrer Satzung ebenfalls zuständige andere DGB-Gewerkschaft wenden. Der Arbeitgeber ist auch selbst nicht befugt, ein Vermittlungsverfahren bzw. ein Schiedsverfahren einzuleiten. Er kann allenfalls durch Kontaktaufnahme mit dem gewünschten Tarifpartner diesen dazu motivieren, die Tarifzuständigkeit klären zu lassen. Hieran ändert auch das neue Gesetz zur Tarifeinheit nichts. Zwar wird die Thematik der Gewerkschaftszuständigkeit zumindest in der Begründung des Gesetzes aufgegriffen. Jedoch heißt es dort nur, dass die Gewerkschaften ihre jeweiligen Zuständigkeiten abstimmen sollen4. Eine Handhabe für den Arbeitgeber, die jeweiligen Tarifzuständigkeiten aufklären zu können, lassen sowohl das Gesetz als auch dessen Begründung weiterhin vermissen.
1 DGB-Schiedsgericht v. 4.4.2002 – III ZR 62/01, AP Nr. 16 zu § 2 TVG Tarifzuständigkeit. 2 BAG v. 25.9.1996 – 1 ABR 4/96, NZA 1997, 613; BAG v. 12.11.1996 – 1 ABR 33/96, NZA 1997, 609. 3 BAG v. 27.9.2005 – 1 ABR 41/04, NZA 2006, 273; BAG v. 12.11.1996 – 1 ABR 33/96, NZA 1997, 609. 4 BT-Drucks. 18/4062, S. 9.
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Teil 11 Rz. 84 84
Haustarif
Weiterhin kann auch die Festlegung der Tarifzuständigkeit bei Mischbetrieben (vgl. Teil 2 Rz. 217) bzw. Mischunternehmen Schwierigkeiten bereiten und bedarf von daher einer genauen Prüfung. 2. Festlegung des Geltungsbereichs a) Räumlicher Geltungsbereich
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Der räumliche Geltungsbereich eines HausTVs kann sich sowohl auf das ganze Unternehmen als auch auf einen Betrieb oder mehrere Betriebe bzw. Betriebsteile des Unternehmens beziehen. Es kommen demnach entweder unternehmensbezogene HausTVe oder betriebsbezogene HausTVe in Frage. Innerhalb eines Unternehmens sind auch unterschiedliche FirmenTVe für einzelne Betriebe möglich, auch mit unterschiedlichen Gewerkschaften. b) Persönlicher Geltungsbereich
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In persönlicher Hinsicht ist festzulegen, welche Arbeitnehmergruppen von dem HausTV erfasst werden sollen. Hier sind in der Praxis insbesondere die folgenden Problemstellungen relevant: aa) Definition der AT-Mitarbeiter
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Es stellt sich regelmäßig die Frage nach der Definition der außertariflichen Mitarbeiter („AT-Mitarbeiter“) in Abgrenzung zum Tarifbereich. Möglich ist, die AT-Mitarbeiter durch Festlegung einer bestimmten Jahreseinkommensgrenze, ggf. zuzüglich einer Abstandsklausel zum Tarifbereich, zu bestimmen. Dann stellt sich die Folgefrage, ob das festgelegte Jahreseinkommen bei späteren Tariferhöhungen entsprechend angehoben wird. Eine Abgrenzung kann auch über die Festlegung einer bestimmten Qualifikation und/oder Berufserfahrung erfolgen. bb) Schuldrechtliche Verpflichtungen hinsichtlich des AT-Bereichs
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Insbesondere in SanierungsTVen kann es vorkommen, dass aus Gründen der Gleichbehandlung auch Maßnahmen für den AT-Bereich im TV festgelegt werden, wie z.B. bestimmte Einsparziele. Auch wenn diese Regelungen nicht unmittelbar für den AT-Bereich wirken, sondern lediglich eine schuldrechtliche Verpflichtung des Arbeitgebers darstellen, kommt solchen Klauseln betriebspolitische Bedeutung zu. Teilweise werden diese Einsparvorgaben auch an ein Sonderkündigungsrecht der Gewerkschaft geknüpft: Weist der Arbeitgeber nicht innerhalb einer bestimmten Frist die Umsetzung der Einsparvorgaben im AT-Bereich gegenüber der Gewerkschaft nach, so steht der Gewerkschaft ein Sonderkündigungsrecht zu. cc) Herausnahme von Arbeitnehmergruppen aus dem Geltungsbereich
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Insbesondere bei SanierungsTVen werden bestimmte Arbeitnehmergruppen, z.B. Altersteilzeitler in der Freistellungsphase und Auszubildende, in der Regel aus dem Geltungsbereich herausgenommen.
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Durchfhrung von Haustarifvertrags-Verhandlungen
Rz. 93
Teil 11
dd) Erstreckung der Tarifgeltung auf Außenseiter? Nur bei beidseitiger Tarifbindung kommt den Rechtsnormen des HausTVs normative 90 Wirkung zu (§§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG). Nach dem BAG ist es aber grundsätzlich möglich, den Arbeitgeber zur Anwendung des HausTVs auch auf Außenseiter zu verpflichten1. Den Arbeitgeber trifft dann eine schuldrechtliche Verpflichtung, welche die Gewerkschaft einklagen kann. Mit der Verpflichtung des Arbeitgebers ist für den Außenseiterarbeitnehmer jedoch keine normative Wirkung des TVs verbunden. Denn eine Rechtsetzung für Außenseiter ist den Tarifpartnern – von § 3 Abs. 2 TVG abgesehen – verwehrt. Hierzu mangelt es an einer staatlichen Ermächtigung. Dies würde einen Verstoß gegen die negative Koalitionsfreiheit des Arbeitnehmers darstellen (Art. 9 Abs. 3 GG)2. Die Regelungen eines HausTVs können bei Außenseitern durch Bezugnahmeklauseln in den Arbeitsverträgen Wirkung entfalten. c) Zeitlicher Geltungsbereich In zeitlicher Hinsicht stellt sich insbesondere die Frage der Laufzeit des HausTV und welche Regelungen gelten, wenn der HausTV endet.
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aa) Nachwirkung Auch die Rechtsnormen eines HausTVs wirken gesetzlich gemäß § 4 Abs. 5 TVG 92 nach, wenn die Nachwirkung nicht ausdrücklich ausgeschlossen ist. Insbesondere SanierungsTVe werden von den Gewerkschaften in der Regel nur mit einer zeitlichen Befristung und einem Ausschluss der Nachwirkung akzeptiert. bb) Rückkehr zum Flächentarifvertrag Praktisch von erheblicher Bedeutung ist die Frage der Nachwirkung und etwaiger Fol- 93 geregelungen nach Beendigung des HausTVs. Insbesondere wenn HausTVe in Sanierungssituationen Abweichungen von den für den Arbeitgeber bindenden FlächenTVen vorsehen, fordert die Gewerkschaft in der Regel eine zeitliche Begrenzung des HausTVs mit anschließender Rückkehr zur Fläche. Für die Arbeitgeber sind solche Klauseln problematisch. Denn während der Laufzeit des HausTVs entsteht eine „Schere“ zwischen dem FlächenTV und dem HausTV. Ein sofortiges „Zurückschnellen“ auf das FlächenTV-Niveau im Beendigungszeitpunkt des HausTVs kann zur Existenzbedrohung führen. Daher ist bei der Gestaltung der Beendigungsnormen aus Arbeitgebersicht möglichst ein entsprechendes risikoverringerndes Prozedere sicherzustellen. Dies kann z.B. die Vereinbarung einer Fortsetzung des HausTVs unter bestimmten Voraussetzungen sein oder eine stufenweise Rückführung auf die Fläche. Bei tarifgebundenen Arbeitgebern kommt ggf. auch der Austritt aus dem Arbeitgeberverband während der Laufzeit des SanierungsTVs mit dem Ziel eines Einfrierens der FlächenTVe im Austrittszeitpunkt in Betracht. Damit kann der Arbeitgeber ggf. erreichen, dass sich die Schere zwischen Flächentarifniveau und HausTV-Niveau nicht zu sehr öffnet. Eine Verpflichtung zum Nichtaustritt aus dem Arbeitgeberverband im HausTV ist nach dem BAG wegen
1 BAG GS v. 29.11.1967 – GS 1/67, DB 1968, 1539. 2 BAG GS v. 29.11.1967 – GS 1/67, DB 1968, 1539.
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Teil 11 Rz. 94
Haustarif
Verstoßes gegen die negative Koalitionsfreiheit unzulässig1. Allerdings wird das Einfrieren der VerbandsTVe ggf. durch arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln verhindert (vgl. Teil 10 Rz. 55 ff.). d) Risiken aus arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln aa) Risiko: Leerlaufen des Haustarifvertrages 94
Eine der wichtigsten Maßnahmen vor der Verhandlung eines HausTVs ist die Prüfung der Arbeitsverträge im Hinblick auf tarifliche Bezugnahmeklauseln. Die Prüfung sämtlicher Arbeitsverträge in der Vorbereitungsphase von HausTV-Verhandlungen ist auch bei der Beratung großer Unternehmen unerlässlich. Bezugnahmeklauseln in den Arbeitsverträgen können dazu führen, dass der HausTV vollständig ins Leere läuft.
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Problemfälle können sich insbesondere ergeben bei Tarifgarantieklauseln (Bezugnahmeklauseln bei fehlender Tarifbindung), bei Bezugnahmeklauseln im Falle wechselnder Tarifbindung („Zwei-Klassen-Betrieb2), bei der Bezugnahme von nicht einschlägigen TVen und Bezugnahmen nach weggefallener Allgemeinverbindlichkeit, und schließlich auch, wenn die Bezugnahmeklausel bei Verträgen nach dem 1.1.2002 unzureichend im Sinne der BAG-Rechtsprechung formuliert ist. In diesen Fällen kann sich als Rechtsfolge ergeben, dass die Regelungen des HausTVs für die Arbeitnehmer nicht ohne Weiteres wirksam werden und für die Arbeitnehmer über die Bezugnahme im Arbeitsvertrag weiterhin dynamisch die in Bezug genommen bisher maßgeblichen FlächenTVe gelten. bb) Mögliche Lösungsansätze
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Mögliche Lösungsszenarien bei problematischen Arbeitsverträgen können beispielsweise sein: die einzelvertragliche Zustimmung der Mitarbeiter zum HausTV, die nachträgliche Vereinbarung einer Tarifwechselklausel oder eine Geltung des HausTVs über die Grundsätze der betrieblichen Übung nach einem gewissen Zeitablauf. In der Praxis kommt teilweise auch eine Umsetzung des HausTVs unter Inkaufnahme des Risikos (Akzeptanzlösung) in Betracht. e) Günstigere Regelungen in den Arbeitsverträgen
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Neben Tarifbezugnahmeklauseln können im Arbeitsvertrag weitere vorteilhafte Regelungen enthalten sein, die einer Geltung des HausTVs entgegenstehen. Diese können insbesondere sein: einzelvertragliche (übertarifliche) Vergütungszusagen, zugesicherte Eingruppierungen, Weihnachts- und Urlaubsgeld in einer bestimmten Höhe, Zulagen etc. Dabei ist zu prüfen, ob nach der Formulierung im Arbeitsvertrag tatsächlich ein individueller Anspruch des Arbeitnehmers begründet werden sollte. Nach dem BAG ist jeweils abzugrenzen, ob nicht lediglich ein bloß deklaratorischer Hinweis auf die bei Einstellung im Betrieb geltenden Regelungen erfolgen sollte3. Dies ist insbesondere bei der Bezugnahme auf Tarifnormen der Fall. 1 BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734. 2 Vgl. BAG v. 1.12.2004 – 4 AZR 50/04, NZA 2005, 478. 3 BAG v. 7.12.2000 – 6 AZR 444/99, NZA 2001, 780; BAG v. 23.6.1992 – 1 AZR 57/92, NZA 1993, 89.
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Durchfhrung von Haustarifvertrags-Verhandlungen
Rz. 102 Teil 11
f) Überschneidungen mit Betriebsvereinbarungen Wie oben (Rz. 43 ff.) erläutert, gelten im Verhältnis eines HausTVs zu Betriebsverein- 98 barungen die tariflichen Regelungssperren, insbesondere der Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG (vgl. Rz. 43). Im Rahmen von HausTV-Verhandlungen können tarifliche Regelungssperren ggf. strategisch genutzt werden. So können durch entsprechende Formulierungen im HausTV Betriebsvereinbarungen außer Kraft gesetzt werden. Weiterhin sind HausTV und Betriebsvereinbarungen inhaltlich aufeinander abzustimmen. Es sollte festgelegt werden, welche Inhalte Gegenstand des HausTVs werden und welche Themen auf die betriebliche Ebene verlagert werden sollen. Insoweit kommt auch der Gestaltung von Öffnungsklauseln strategische Bedeutung zu (vgl. Rz. 45). g) Überschneidungen mit anderen anzuwendenden Tarifverträgen Weiterhin sollte geprüft werden, ob das Unternehmen durch andere TVe anderweitig 99 gebunden ist oder ob durch den HausTV alle anderen TVe verdrängt werden (vgl. Rz. 31 ff.). Zusammenfassend gilt im Verhältnis zu VerbandsTVen und unternehmensbezogenen VerbandsTVen der Spezialitätsgrundsatz, während im Verhältnis zu weiteren HausTVen mit derselben Gewerkschaft im Grundsatz die Zeitkollisionsregel zur Anwendung kommt (vgl. Rz. 31 ff.). Ein besonderes Augenmerk muss auf die neue Gesetzgebung zur Tarifeinheit gelegt werden, sofern es sich um Tarifverhandlungen mit unterschiedlichen Gewerkschaften handelt (vgl. Rz. 37).
II. Vorbereitung von Haustarifvertrags-Verhandlungen In der Vorbereitungsphase von Verhandlungen über einen HausTV sollten insbesondere folgende Aspekte beachtet werden:
100
1. Definition des Status quo und der Zielstruktur Zunächst sollte der arbeitsvertragliche, betriebsverfassungsrechtliche und tarifliche 101 status quo ermittelt werden. Anschließend ist die Zielstruktur zu definieren. Dabei ist im Einzelnen zu benennen, welche Änderungen auf der tariflichen, betrieblichen und ggf. auf der arbeitsvertraglichen Ebene angestrebt werden. Dabei ist zu prüfen, ob überhaupt eine tarifliche Regelung erforderlich ist, oder ob bestimmte Fragen auch in Betriebsvereinbarungen bzw. in Regelungsabreden vereinbart werden können. Eine weitere Frage ist, ob für bestimmte Themen Öffnungsklauseln angestrebt werden. Zudem sollte definiert werden, ob der HausTV eine Modifizierung des VerbandsTVs (AnerkennungsTVs, ErgänzungsTVs) oder ein neues Tarifwerk darstellen soll. 2. Wesentliche Verhandlungspunkte In der Praxis sind häufig folgende Verhandlungspunkte wesentlicher Gegenstand von HausTVen, wobei dies je nach Situation und Art des Unternehmens unterschiedlich sein kann:
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Teil 11 Rz. 103
Haustarif
a) Arbeitszeit 103 Bei Regelungen zur Arbeitszeit strebt die Arbeitgeberseite meist eine Flexibilisierung im Verhältnis zum status quo an. Dies betrifft insbesondere die Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit („40-Stunden-Woche“, Regelung für Teilzeitarbeitnehmer), ferner Regelungen zur Flexibilisierung der Lage der Arbeitszeit (Arbeitszeitkonten, Jahresarbeitszeit, Öffnungsklauseln für Betriebsparteien, Aufhebung tarifvertraglicher Beschränkungen). b) Arbeitsentgelt/Zuschläge 104 Insbesondere wenn der HausTV anlässlich einer wirtschaftlichen Krise abgeschlossen wird, enthält er typischerweise Regelungen zum Arbeitsentgelt, die die FlächenTVe modifizieren. Häufig wird die Aussetzung von Tarifrunden („Einfrierung der TVe“) bzw. eine Abkoppelung von den Entwicklungen der VerbandsTVe für die nächsten Jahre beabsichtigt, um weitere Personalkostensteigerungen zu vermeiden. Eine Variante ist die zeitlich verzögerte Weitergabe von Tariflohnerhöhungen in der Fläche oder eine im Vergleich zur Fläche reduzierte Tariferhöhung, ggf. auch eine Tarifentwicklung in Abhängigkeit von dem Geschäftsergebnis. In einer echten Sanierungssituation sehen HausTVe häufig sogar eine Absenkung der Vergütung oder eine Reduzierung des Weihnachts- und/oder Urlaubsgeldes, bzw. eine Koppelung von Sonderzahlungen an das Unternehmensergebnis oder die persönliche Leistung vor. Auch eine Absenkung von Zuschlägen wie z.B. für Sonn- und Feiertagsarbeit oder die Kürzung von Urlaubstagen sind typische Kosteneinsparmaßnahmen in Sanierungssituationen. c) Investitionszusagen 105 Bei Verschlechterungen der FlächenTVe in HausTVen verpflichtet sich der Arbeitgeber meist dazu, im Gegenzug einen bestimmten Betrag am Standort zu investieren bzw. bestimmte Güter anzuschaffen. Je nach Ausgestaltung kann die Investitionszusage eine bloße Absichtserklärung oder eine bindende schuldrechtliche Vereinbarung mit der Gewerkschaft sein. Bei langfristigen Investitionszusagen ist Vorsicht angebracht, da bei einem etwaigen Unternehmensverkauf der Kaufpreis ggf. herabgesetzt wird. Das Unternehmen sollte aus diesem Grund möglichst Öffnungsklauseln verhandeln. d) Standort- und Beschäftigungssicherungszusagen 106 Typische Zusagen im HausTV sind: umfassender Ausschluss von betriebsbedingten (Beendigungs-)Kündigungen während der Laufzeit, eingeschränkte Beschäftigungszusagen, Ausschluss von Outsourcing-Maßnahmen und Standortsicherungszusagen; s. zu typischen Formulierungen Teil 13 Rz. 82 ff. e) Nachwirkung 107 Ein HausTV wirkt grundsätzlich gemäß § 4 Abs. 5 TVG gesetzlich nach. Die Nachwirkung muss für jede einzelne Regelung im HausTV gesondert geprüft und ggf. ausdrücklich ausgeschlossen werden. Typischer Fallstrick der Nachwirkung ist die „ewige“ Wirkung von Kündigungsverboten, Standortzusagen oder zusätzlichen Leistungen durch 952 Seitz
Durchfhrung von Haustarifvertrags-Verhandlungen
Rz. 113 Teil 11
eine nicht hinreichend klare zeitliche Begrenzung auf den Zeitraum der zwingenden Geltung des HausTVs. Dies kann durch eine entsprechende Gestaltung der jeweiligen Klausel vermieden werden. 3. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen Gewerkschaften verlangen von Unternehmen häufig eine vollständige Aufdeckung der Unternehmenskennzahlen, z.B.: Gewinn- und Verlustrechnung (GuV), Bilanzen, Kreditlinien bei Banken oder Ergebnisprognosen. Unternehmen dagegen verfolgen in der Regel das Ziel, möglichst wenig Geschäftszahlen preiszugeben, hauptsächlich aufgrund der Gefahr, dass die Informationen unkontrolliert verbreitet werden. Hier gilt es, im Verhandlungswege eine Verständigung auf bestimmte Kennzahlen zu erreichen. Ferner kann eine Geheimhaltungsvereinbarung getroffen werden.
108
4. Zeitpunkt der Verhandlungen In vielen Fällen steht der Zeitpunkt der Verhandlungen von vornherein fest, z.B. bei 109 SanierungsTVen. In anderen Fällen kann der Verhandlungseinstieg frei bestimmt werden. Hierbei sollten insbesondere die innerbetrieblichen und wirtschaftlichen Umstände berücksichtigt werden, z.B. rückläufige Erträge, Preisverfall der Produkte, ein starker Anstieg der Rohstoffpreise oder die Streikgefahr in sensiblen Zeiträumen wie z.B. während des Weihnachtsgeschäfts im Einzelhandel. 5. Alternativkonzept Es sollten von vornherein Alternativkonzepte für den Fall entwickelt werden, dass die HausTV-Verhandlungen scheitern.
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III. Ablauf der Verhandlungsphase Eine HausTV-Verhandlung durchläuft häufig die nachfolgenden Phasen. Allerdings ist jedes Haustarifprojekt individuell. Beide Tarifparteien müssen jederzeit flexibel auf die unterschiedlichen Gegebenheiten und Entwicklungen reagieren.
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1. Kontaktaufnahme mit dem Tarifpartner und Sondierungsgespräche Oftmals finden im Vorfeld von HausTV-Verhandlungen zunächst Sondierungsgespräche statt, bei denen die Tarifparteien die gegenseitigen Verhandlungspositionen ausloten. Sondierungsgespräche haben insbesondere den Zweck, dass die Parteien unverbindlich prüfen können, ob HausTV-Verhandlungen überhaupt erfolgversprechend sind.
112
2. Kick-off-Veranstaltung Vor dem ersten Verhandlungstermin findet in der Regel eine sogenannte Kick-off-Veranstaltung statt. In dieser stellt das Unternehmen seine Ziele gegenüber der Gewerkschaft und dem Betriebsrat vor. Die Präsentation sollte die Ausgangssituation darstel-
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Teil 11 Rz. 114
Haustarif
len und Ziele formulieren. Des Weiteren sollte ein gemeinsamer Weg zur Zielerreichung vorgeschlagen werden. 3. Erster Verhandlungstermin und weitere Verhandlungen 114 Beim ersten Verhandlungstermin hat die Arbeitnehmerseite die Möglichkeit, zur Zielvorstellung der Arbeitgeberseite Stellung zu nehmen. Die Gewerkschaft kann ihrerseits Gegenforderungen stellen und bestimmte Arbeitgeberforderungen ablehnen. Anschließend hat die Arbeitgeberseite Zeit, auf die Stellungnahme der Arbeitnehmerseite zu reagieren. 4. Arbeitskämpfe 115 Es muss immer damit gerechnet werden, dass die Gewerkschaft die HausTV-Verhandlungen mit Streiks oder anderen Maßnahmen flankiert. Allerdings stellen Streiks bei HausTV-Verhandlungen eher eine untergeordnete Rolle dar. Zudem ist die Streikbereitschaft regional und von Branche zu Branche sowie von Unternehmen zu Unternehmen sehr unterschiedlich. Auch hier muss die Einführung des Tarifeinheitsgesetzes Beachtung finden, wenn auch bisher nicht geklärt ist, wie genau sich diese auf das Streikrecht auswirkt (vgl. Rz. 56a f.). 5. Informationspolitik im Unternehmen 116 Eine tragende Säule der Verhandlungen ist die Kommunikation gegenüber den Mitarbeitern. Eine zwischen den TV-Parteien abgestimmte Kommunikation beugt der Verunsicherung bei den Mitarbeitern vor. Wenn die Gewerkschaft eine abgestimmte Kommunikation ablehnt, sollte man sich dennoch möglichst auf eine sachliche Kommunikation verständigen (kein Schlag-und-Gegenschlag-Prinzip). Im Extremfall kommt bei unwahrer Kommunikation ein Unterlassungsanspruch in Betracht (einstweilige Verfügung).
N. Haustarifverträge bei Betriebsübergang und Umwandlung 117 Im Zusammenhang mit Betriebs(teil-)übergängen und Umwandlungen stellt sich in der Praxis insbesondere die Frage nach der kollektivrechtlichen oder individualrechtlichen Fortgeltung bestehender HausTVe, weiterhin die Frage der Ablösung bestehender Haus- oder VerbandsTVe durch HausTVe des Erwerbers. Hierzu wird auf die ausführliche Darstellung in Teil 15 Rz. 17 ff. verwiesen.
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Teil 11 Rz. 114
Haustarif
len und Ziele formulieren. Des Weiteren sollte ein gemeinsamer Weg zur Zielerreichung vorgeschlagen werden. 3. Erster Verhandlungstermin und weitere Verhandlungen 114 Beim ersten Verhandlungstermin hat die Arbeitnehmerseite die Möglichkeit, zur Zielvorstellung der Arbeitgeberseite Stellung zu nehmen. Die Gewerkschaft kann ihrerseits Gegenforderungen stellen und bestimmte Arbeitgeberforderungen ablehnen. Anschließend hat die Arbeitgeberseite Zeit, auf die Stellungnahme der Arbeitnehmerseite zu reagieren. 4. Arbeitskämpfe 115 Es muss immer damit gerechnet werden, dass die Gewerkschaft die HausTV-Verhandlungen mit Streiks oder anderen Maßnahmen flankiert. Allerdings stellen Streiks bei HausTV-Verhandlungen eher eine untergeordnete Rolle dar. Zudem ist die Streikbereitschaft regional und von Branche zu Branche sowie von Unternehmen zu Unternehmen sehr unterschiedlich. Auch hier muss die Einführung des Tarifeinheitsgesetzes Beachtung finden, wenn auch bisher nicht geklärt ist, wie genau sich diese auf das Streikrecht auswirkt (vgl. Rz. 56a f.). 5. Informationspolitik im Unternehmen 116 Eine tragende Säule der Verhandlungen ist die Kommunikation gegenüber den Mitarbeitern. Eine zwischen den TV-Parteien abgestimmte Kommunikation beugt der Verunsicherung bei den Mitarbeitern vor. Wenn die Gewerkschaft eine abgestimmte Kommunikation ablehnt, sollte man sich dennoch möglichst auf eine sachliche Kommunikation verständigen (kein Schlag-und-Gegenschlag-Prinzip). Im Extremfall kommt bei unwahrer Kommunikation ein Unterlassungsanspruch in Betracht (einstweilige Verfügung).
N. Haustarifverträge bei Betriebsübergang und Umwandlung 117 Im Zusammenhang mit Betriebs(teil-)übergängen und Umwandlungen stellt sich in der Praxis insbesondere die Frage nach der kollektivrechtlichen oder individualrechtlichen Fortgeltung bestehender HausTVe, weiterhin die Frage der Ablösung bestehender Haus- oder VerbandsTVe durch HausTVe des Erwerbers. Hierzu wird auf die ausführliche Darstellung in Teil 15 Rz. 17 ff. verwiesen.
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Teil 12 Der Sanierungstarifvertrag Rz.
Rz. A. Einleitung; Begriff. . . . . . . . . . . . . . . .
1
B. Gestaltungsoptionen . . . . . . . . . . . . .
3
I. Haustarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . .
4
II. Firmenbezogener Verbandstarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
C. Gebot der Rechtsquellenklarheit . . . D. Inhaltliche Gestaltung und Formulierungshinweise. . . . . . . . . . . . . . . . . I. Geltungsbereich 1. Betrieblicher/Räumlicher Geltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Persönlicher Geltungsbereich . . . . . . 3. Zeitlicher Geltungsbereich . . . . . . . . II. Sanierungsbeiträge . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sanierungsbeiträge der Arbeitnehmer a) Arbeitszeiterhöhung ohne Entgeltausgleich. . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vergütungsabsenkung . . . . . . . . . . c) Reduzierung/Wegfall von Sonderzahlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Aussetzung/Reduzierung von geplanten Tariflohnerhöhungen . . 2. Sanierungsbeiträge des Arbeitgebers/Beschäftigungssicherung . . . . . . a) Standortsicherung . . . . . . . . . . . . . b) Ausschluss/Zahlenmäßige Beschränkung betriebsbedingter Kündigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vereinbarung von Voraussetzungen für betriebsbedingte Kündigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. 1. 2. 3. 4.
Sonstige Klauseln Änderung der Geschäftsgrundlage . . Ausgleichsregelungen . . . . . . . . . . . . Differenzierungsklauseln . . . . . . . . . Sanierungsrisiko . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
19
20 21 25 28
29 30 31 33 34 35
39
42 43 44 46 49
E. Wirkungen I. Verhältnis zwischen Verbandstarifvertrag und Sanierungstarifvertrag . . 1. Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind verbandsangehörig . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lediglich der Arbeitgeber ist verbandsangehörig . . . . . . . . . . . . . . . . . .
52 53 68
a) Statische Bezugnahmeklausel . . . b) Dynamische Bezugnahmeklauseln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Allgemeinverbindlicher Verbandstarifvertrag trifft auf individualvertraglich geltenden Sanierungstarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verhältnis zu günstigeren Vertragsabreden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71 72
81 82
III. Verhältnis zum gesetzlichen Mindestlohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82a IV. Rückwirkende Änderung von Arbeitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundsätzliche Möglichkeit der rückwirkenden Änderung durch TV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grenze: Vertrauensschutz . . . . . . . . . 3. Information der betroffenen Kreise. . 4. Rückwirkender Eingriff in ein beendetes Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . F. Sanierungstarifvertrag und Betriebsübergang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Auswirkungen eines Betriebsübergangs auf die Geltung des Sanierungstarifvertrages 1. Normativ wirkender SanierungsTV . a) Kollektivrechtliche Weitergeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Transformation in das Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ausschluss der Weitergeltung gemäß § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Geltung des Sanierungstarifvertrages aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kleine dynamische Bezugnahmeklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Große dynamische Bezugnahmeklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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91 92 94
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II. Wegfall der Geschäftsgrundlage des Sanierungstarifvertrages durch den Betriebsübergang auf einen nicht tarifgebundenen Betriebserwerber? . 107 III. Kündigung des Sanierungstarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
Moll
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Teil 12
Der Sanierungstarifvertrag Rz.
Rz. G. Sanierungsbetriebsvereinbarung . . . . 111 I. Bedeutung des Tarifvorrangs; Reichweite. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 II. Tarifvertragliche Öffnungsklausel . . 116 III. Betriebsvereinbarungsoffene Klausel im Arbeitsvertrag . . . . . . . . . . . . . 119 H. Tarifsozialplan I. Einleitung; Begriff; Gestaltungsoptionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 II. Gebot der Rechtsquellenklarheit . . . 122 III. Tarifliche Regelbarkeit, § 1 Abs. 1 TVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 IV. Sperrwirkung der §§ 111 ff. BetrVG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 V. Arbeitskampf um einen Tarifsozialplan 1. Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
2. 3. 4. 5. 6.
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz . . . . Koalitionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . Grundsatz der Kampfparität . . . . . . . Unternehmerische Freiheit . . . . . . . . Relative Friedenspflicht . . . . . . . . . . .
126 127 131 134 140
VI. Kollision von betrieblichen und tariflichen Sozialplänen . . . . . . . . . . . 148 VII. Betriebliche Beteiligungsrechte beim Arbeitskampf . . . . . . . . . . . . . . . 149 VIII. Handlungsmöglichkeiten des Arbeitgebers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Präventivmaßnahmen . . . . . . . . . . . . 2. Maßnahmen bei Rechtswidrigkeit des Streiks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Maßnahmen bei rechtmäßigem Streik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
151 152 155 158
I. Beispiel eines Sanierungstarifvertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
Literatur: Adomeit, Das Günstigkeitsprinzip – neu verstanden, NJW 1984, 26; Ahrendt, Firmentarifvertrag und firmenbezogener Verbandstarifvertrag, RdA 2012, 129; Annuß, Tarifbindung durch arbeitsvertragliche Bezugnahme?, ZfA 2005, 405; Annuß/Lembke, Umstrukturierung in der Insolvenz, 2005; Bauer/Arnold, Rote Karte für qualifizierte Differenzierungsklauseln, NZA 2011, 945; Bauer/Günther, Bezugnahmeklauseln bei Verbandswechsel und Betriebsübergang, NZA 2008, 6; Bauer/Krieger, „Firmentarifsozialplan“ als zulässiges Ziel eines Arbeitskampfes?, NZA 2004, 1019; Bayreuther, Sanierungs- und Insolvenzklauseln im Arbeitsverhältnis, ZIP 2008, 573; Bayreuther, Der Streik um einen Tarifsozialplan, NZA 2007, 1017; Bayreuther, Tarifbindung und „Tarifflucht“: Eine Skizze der jüngeren Rechtsprechung des BAG, DZWIR 2010, 353; Bayreuther, Konsolidierungstarifvertrag und freiwilliger Tarifsozialplan als Regelungsinstrumente in der Unternehmenskrise, NZA 2010, 378; Bepler, Probleme um den Sanierungstarifvertrag, AuR 2010, 234; Bepler, Problematische Arbeitsverhältnisse und Mindestlohn, in: Festschrift Richardi, 2007, 189; Berger, Zulässigkeit eines gewerkschaftlichen Zustimmungsvorbehalts zu Kündigungen, NZA 2015, 208; Brecht-Heitzmann, Verhinderung von Betriebsstilllegungen durch Sozialtarifvertrag?, NJW 2007, 3617; Buchner, Tarifpluralität und Tarifeinheit – einige Überlegungen zur Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, in: Festschrift 50 Jahre BAG, 2004, S. 631; Buchner, Unternehmensbezogene Tarifverträge – tarif-, verbands-, und arbeitskampfrechtlicher Spielraum, DB Beilage 9/2001, 1; Buchner, Der Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft – Stabilisierung oder Ende des Verbandstarifvertrages?, NZA 1999, 897; Däubler/Heuschmidt, Tarifverträge nur für Gewerkschaftsmitglieder?, RdA 2013, 1; Deinert, Negative Koalitionsfreiheit, RdA 2014, 129; Dieterich, Gleichheitsgrundsätze im Tarifvertragsrecht, RdA 2005, 177; Federlin, Die Zukunft der betrieblichen Bündnisse für Arbeit, in: Festschrift 50 Jahre BAG, 2004, S. 645; Fischinger, Streik um Tarifsozialpläne?, NZA 2007, 310; Franzen, Tarifrechtssystem und Gewerkschaftswettbewerb – Überlegungen zur Flexibilisierung des Flächentarifvertrags, RdA 2001, 1; Franzen, Standortverlagerung und Arbeitskampf, ZfA 2005, 315; Fröhlich, Dreigliedrige Standortsicherungsvereinbarung, ArbRB 2009, 208; Gaul, Neue Felder des Arbeitskampfs: Streikmaßnahmen zur Erzwingung eines Tarifsozialplans, RdA 2008, 13; Gaul/Janz, Chancen und Risiken tariflicher Lösungen, NZA-Beilage 2010, 60; Gaul/Mückl, „Flashmob-Aktionen“, Unterstützungsstreiks und Streiks um Tarifsozialpläne, ArbRB 2009, 330; Gaul/Süßbrich/Kulejewski, Verschlechterung einzelvertraglicher Ansprüche durch Betriebsvereinbarung, ArbRB 2004, 346; Giesen, Bezugnahmeklauseln – Auslegung, Formulierung und Änderung, NZA 2006, 625; Giesen, Richterrechtsänderndes Richterrecht – Tarifvertragsrechtsprechung zwischen Stringenz und Beliebigkeit, RdA 2014, 78; Giesen, Für einen Abschied vom „Gebot der Rechtsquellenklarheit“, NZA 2014, 1; Grau/Döring, Un-
956 Moll
Der Sanierungstarifvertrag
Teil 12
wirksamkeit dreigliedriger Standortsicherungsvereinbarungen bei unklarem Normcharakter als Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung, NZA 2008, 1335; Grau/Sittard, Sanierungstarifvertrag gilt grundsätzlich auch nach einem Betriebsübergang weiter, BB 2010, 1093; Greiner, Der „unechte Tarifwechsel“ – Zu den Wirkungen kleiner dynamischer Bezugnahmeklauseln bei Tarifwechsel, Tarifsukzession und Tarifrestrukturierung, NZA 2009, 877; Greiner, „Tarifsozialplan“ bei Betriebsübergang?, NZA 2008, 1274; Greiner, „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf …“ – die Entscheidung des BAG vom 15.4.2015 zu tarifvertraglichen Stichtagsklauseln, NZA 2016, 10; Greiner/Suhre, Tarifvertragliche Exklusivleistungen für Gewerkschaftsmitglieder nach der Rechtsprechungsänderung des BAG, NJW 2010, 131; Grimm/Pelzer, Tarifsozialpläne im Tendenzunternehmen?, NZA 2008, 1321; Hanau/Strauß, Die neue Rechtsprechung zur Kündigung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang, in: Festschrift Bepler, 2012, S. 199; Heise, Günstigkeitsprinzip und betriebliche Bündnisse für Arbeit, in Festschrift 50 Jahre BAG, 2004, S. 657; Henssler, Der „Arbeitgeber in der Zange“ – Rechtsfragen der Firmentarifsozialpläne –, in: Festschrift Richardi, 2007, S. 553; Henssler, Mindestlohn und Tarifrecht, RdA 2015, 43; Hohenstatt, Die Fortgeltung von Tarifnormen nach § 613a I 2 BGB, NZA 2010, 23; Hohenstatt/Schramm, Erstreikbarkeit von „tariflichen Sozialplänen“?, DB 2004, 2214; Kaiser, Standortsicherungs- und Tarifsozialpläne zwischen Tarif- und Betriebsverfassungsrecht, in: Festschrift Buchner, 2009, S. 385; Kalb, Es lebe der kleine Unterschied – Zur Renaissance der tariflichen Differenzierungsklausel, jM 2015, 107; Kast/Stuhlmann, Sind betriebliche Bündnisse für Arbeit noch durchführbar?, BB 2000, 614; Kleinebrink, Sanierende Ablösung von Verbandstarifverträgen durch Firmentarifverträge und firmenbezogene Verbandstarifverträge, ArbRB 2006, 119; Kleinebrink, Grundsätze der Gestaltung von Tarifverträgen zur Sanierung eines Unternehmens, ArbRB 2008, 279; Kort, Kündigungserschwerungen gegen Lohnverzicht in „Bündnisse für Arbeit“ – Vergleich von Äpfel und Birnen?, in Festschrift 50 Jahre BAG, 2004, S. 753; Krieger/Wiese, Neue Spielregeln für Streiks um Tarifsozialpläne, BB 2010, 568; Kühling/Bertelsmann, Tarifautonomie und Unternehmerfreiheit, NZA 2005, 1017; Kuhn/Willemsen, Gestaltungsspielräume bei Tarifsozialplänen, NZA 2012, 593; Lelley, Zu den tariflich regelbaren Zielen, EWiR 2003, 1035; Lelley/Becker, Gewerkschafter-Boni bei Restrukturierung – was ist erlaubt?, BB 2015, 1397; Lesch, Dezentralisierung der Tarifpolitik und Reform des Tarifrechts, DB 2000, 322; Lieb, Erkämpfbarkeit von Firmentarifverträgen mit verbandsangehörigen Arbeitgebern, DB 1999, 2058; Lindemann/Dannhorn, Erstreikung von Tarifsozialplänen – Friedenspflicht bei Rationalisierungsschutzabkommen?, BB 2008, 1226; Lipinski/Ferme, Erstreikbarkeit von Tarifsozialplänen zulässig – Erste Gedanken zu Gegenmaßnahmen der Arbeitgeberseite, DB 2007, 1250; Löwisch, Beschäftigungssicherung als Gegenstand betrieblicher und tariflicher Regelungen und von Arbeitskämpfen, DB 2005, 554; Löwisch, Tariflicher Sozialplan – Abfindungsausschluss, RdA 2009, 253; Löwisch, Die neue Mindestlohngesetzgebung, RdA 2009, 215; Löwisch, Rechtsschutz gegen das Mindestlohngesetz, NZA 2014, 948; Lunk/Leder/Seidler, Die tarifvertragliche und schuldrechtliche Besserstellung von Gewerkschaftsmitgliedern, RdA 2015, 399; Matthes, Der Arbeitgeber als Tarifvertragspartei, in: Festschrift Schaub, 1998, S. 477; Meyer, Gestaltungsfragen von Sanierungstarifverträgen, SAE 2008, 55; Meyer, Der Firmentarif-Sozialplan als Kombinationsvertrag, DB 2005, 830; Meyer, Betriebsübergang: Neues zur Transformation gem. § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB, DB 2010, 1404; Moll, Kollektivvertragliche Arbeitsbedingungen nach einem Betriebsübergang, RdA 1996, 275; Moll, Unkündbarkeitsregelungen im Kündigungsschutzsystem, in: Festschrift Wiedemann, 2002, S. 333; Moll, Fortgeltung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang, RdA 2007, 47; Moll, Staatliche Vergütungsregulierung zwischen Tarifautonomie und Gemeinschaftsrecht, RdA 2010, 321; Moll, Betriebliche Bündnisse, in: Festschrift Bepler, 2012, S. 425; Nicolai, Zur Zulässigkeit tariflicher Sozialpläne, RdA 2006, 33; Niebler/Schmiedl, Sind Abweichungen vom Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung zulässig?, BB 2001, 1631; Olbertz/Reinartz, Die erweiterten Kampfrechte der Gewerkschaften – Was Arbeitgeber künftig beachten müssen, ArbRB 2008, 310; Picker, Tarifautonomie – Betriebsautonomie – Privatautonomie, NZA 2002, 761; Preis/Greiner, Vertragsgestaltung bei Bezugnahmeklauseln nach der Rechtsprechungsänderung des BAG, NZA 2007, 1073; Reichold, Zulässigkeitsgrenzen eines Arbeitskampfs zur Standortsicherung, BB 2004, 2814; Reuter, Können verbandsangehörige Arbeitgeber zum Abschluss von Haustarifverträgen gezwungen werden?, NZA 2001, 1097; Richardi, Tarifautonomie und Betriebsautonomie als Formen wesensverschiedener Gruppenautonomie im Arbeitsrecht, DB 2000, 42; Ricken, Der Sozialplantarifvertrag als zulässiges Arbeitskampfziel?, ZfA 2008, 283; Rieble, Arbeitsniederlegung zur Standorterhaltung, RdA 2005, 200; Rolfs/Clemens, Entwicklungen und Fehlentwicklungen im Arbeitskampfrecht, NZA 2004, 410; Rüthers, Mehr Beschäftigung
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Teil 12 Rz. 1
Der Sanierungstarifvertrag
durch Entrümpelung des Arbeitsrechts?, NJW 2003, 546; Schiefer/Worzalla, Unzulässige Streiks um Tarifsozialpläne, DB 2006, 46; Schwarz, Kleine dynamische Bezugnahmeklauseln – Abschied vom Tarifwechsel, BB 2010, 1021; Seel, Umstrukturierung von Unternehmen – Auswirkungen auf Kollektivvereinbarungen, MDR 2008, 657; Siegfranz-Strauß, „Boni“ für Gewerkschaftsmitglieder – Feste Grundsätze statt Einzelfalljudikation, RdA 2105, 266; Spielberger, Zulässigkeit einfacher Differenzierungsklauseln, NJW 2010, 170; Stück, Interessenausgleich, Sozialplan und tarifliche Sozialpläne – Handlungsoptionen des Arbeitgebers, MDR 2008, 127; Thüsing, Tarifkonkurrenz durch arbeitsvertragliche Bezugnahme, NZA 2005, 1280; Thüsing, Dreigliedrige Standortvereinbarungen, NZA 2008, 201; Trappehl/Lambrich, Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft – das Ende für betriebliche „Bündnisse für Arbeit“?, NJW 1999, 3217; Wank, Aktuelle Probleme des Arbeitskampfrechts, RdA 2009, 1; Weller, Streiks gegen Unternehmerentscheidungen?, GmbHR 2007, R241; Wendeling-Schröder, Betriebliche Ergänzungstarifverträge, NZA 1998, 624; Wiedemann, Neuere Rechtsprechung zur Verteilungsgerechtigkeit und zu den Benachteiligungsverboten, RdA 2005, 193; Wiedemann, Anm. in BAG AP Nr. 2 zu § 3 TVG; Willemsen/Stamer, Erstreikbarkeit tariflicher Sozialpläne: Die Wiederherstellung der Arbeitskampfparität, NZA 2007, 413.
A. Einleitung; Begriff 1 Sieht sich ein Unternehmen mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert, besteht das Bedürfnis nach Einsparungsmaßnahmen, insbesondere im Personalbereich. Für das Unternehmen wirft dies eine Reihe von Problemen auf. Die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ist oftmals zu zeitaufwendig, da eine finanzielle Entlastung erst mit dem Ablauf ggf. langer Kündigungsfristen der Arbeitnehmer eintritt. Zudem ist das Unternehmen unter Umständen zur Zahlung von ggf. hohen (Sozialplan-)Abfindungen verpflichtet. Falls das Unternehmen an einen VerbandsTV gebunden ist, scheitert die Vereinbarung von einzelvertraglichen Regelungen mit gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmern in der Regel an dem in § 4 Abs. 3 TVG verankerten Günstigkeitsprinzip, das besagt, dass vom TV abweichende Abmachungen nur zulässig sind, soweit sie eine Änderung der Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers enthalten. Anders verhält es sich nur, soweit der VerbandsTV eine sog. Öffnungsklausel enthält, d.h. die Vereinbarung von für den Arbeitnehmer ungünstigen abweichenden Abmachungen durch den TV selber gestattet ist. Einer Abweichung von Tarifregelungen mittels Betriebsvereinbarung steht die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG entgegen; danach können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch TV geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein (Einzelheiten unter Rz. 111 ff.). 2 Eine Lösung kann der Abschluss eines SanierungsTVs in Form eines firmenbezogenen VerbandsTVs oder eines HausTVs sein. Ziel des SanierungsTVs ist es in aller Regel, einen geltenden VerbandsTV abzulösen und für das Unternehmen günstigere Arbeitsbedingungen zu ermöglichen. Das Unternehmen soll dadurch saniert und wieder wettbewerbsfähig gemacht werden.
B. Gestaltungsoptionen 3 Da ein SanierungsTV speziell auf die Krisensituation eines ganz bestimmten Unternehmens reagieren und diese entschärfen soll, mithin also nur für ein bestimmtes Unternehmen Geltung beanspruchen soll, ist er sowohl als HausTV als auch als fir958 Moll
Teil 12 Rz. 1
Der Sanierungstarifvertrag
durch Entrümpelung des Arbeitsrechts?, NJW 2003, 546; Schiefer/Worzalla, Unzulässige Streiks um Tarifsozialpläne, DB 2006, 46; Schwarz, Kleine dynamische Bezugnahmeklauseln – Abschied vom Tarifwechsel, BB 2010, 1021; Seel, Umstrukturierung von Unternehmen – Auswirkungen auf Kollektivvereinbarungen, MDR 2008, 657; Siegfranz-Strauß, „Boni“ für Gewerkschaftsmitglieder – Feste Grundsätze statt Einzelfalljudikation, RdA 2105, 266; Spielberger, Zulässigkeit einfacher Differenzierungsklauseln, NJW 2010, 170; Stück, Interessenausgleich, Sozialplan und tarifliche Sozialpläne – Handlungsoptionen des Arbeitgebers, MDR 2008, 127; Thüsing, Tarifkonkurrenz durch arbeitsvertragliche Bezugnahme, NZA 2005, 1280; Thüsing, Dreigliedrige Standortvereinbarungen, NZA 2008, 201; Trappehl/Lambrich, Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft – das Ende für betriebliche „Bündnisse für Arbeit“?, NJW 1999, 3217; Wank, Aktuelle Probleme des Arbeitskampfrechts, RdA 2009, 1; Weller, Streiks gegen Unternehmerentscheidungen?, GmbHR 2007, R241; Wendeling-Schröder, Betriebliche Ergänzungstarifverträge, NZA 1998, 624; Wiedemann, Neuere Rechtsprechung zur Verteilungsgerechtigkeit und zu den Benachteiligungsverboten, RdA 2005, 193; Wiedemann, Anm. in BAG AP Nr. 2 zu § 3 TVG; Willemsen/Stamer, Erstreikbarkeit tariflicher Sozialpläne: Die Wiederherstellung der Arbeitskampfparität, NZA 2007, 413.
A. Einleitung; Begriff 1 Sieht sich ein Unternehmen mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert, besteht das Bedürfnis nach Einsparungsmaßnahmen, insbesondere im Personalbereich. Für das Unternehmen wirft dies eine Reihe von Problemen auf. Die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ist oftmals zu zeitaufwendig, da eine finanzielle Entlastung erst mit dem Ablauf ggf. langer Kündigungsfristen der Arbeitnehmer eintritt. Zudem ist das Unternehmen unter Umständen zur Zahlung von ggf. hohen (Sozialplan-)Abfindungen verpflichtet. Falls das Unternehmen an einen VerbandsTV gebunden ist, scheitert die Vereinbarung von einzelvertraglichen Regelungen mit gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmern in der Regel an dem in § 4 Abs. 3 TVG verankerten Günstigkeitsprinzip, das besagt, dass vom TV abweichende Abmachungen nur zulässig sind, soweit sie eine Änderung der Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers enthalten. Anders verhält es sich nur, soweit der VerbandsTV eine sog. Öffnungsklausel enthält, d.h. die Vereinbarung von für den Arbeitnehmer ungünstigen abweichenden Abmachungen durch den TV selber gestattet ist. Einer Abweichung von Tarifregelungen mittels Betriebsvereinbarung steht die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG entgegen; danach können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch TV geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein (Einzelheiten unter Rz. 111 ff.). 2 Eine Lösung kann der Abschluss eines SanierungsTVs in Form eines firmenbezogenen VerbandsTVs oder eines HausTVs sein. Ziel des SanierungsTVs ist es in aller Regel, einen geltenden VerbandsTV abzulösen und für das Unternehmen günstigere Arbeitsbedingungen zu ermöglichen. Das Unternehmen soll dadurch saniert und wieder wettbewerbsfähig gemacht werden.
B. Gestaltungsoptionen 3 Da ein SanierungsTV speziell auf die Krisensituation eines ganz bestimmten Unternehmens reagieren und diese entschärfen soll, mithin also nur für ein bestimmtes Unternehmen Geltung beanspruchen soll, ist er sowohl als HausTV als auch als fir958 Moll
Gestaltungsoptionen
Rz. 6 Teil 12
menbezogener VerbandsTV denkbar. Bei der Entscheidung darüber, einen SanierungsTV als HausTV oder als firmenbezogenen VerbandsTV abzuschließen, ist ein Blick auf die Bezugnahmeklauseln der Arbeitsverträge von erheblicher Bedeutung. Dies deshalb, weil nur dann, wenn die Verweisungsklauseln auch den SanierungsTV umfassen, eine umfassende Geltung auch in Bezug auf die nicht verbandsangehörigen Arbeitnehmer gewährleistet werden kann.
I. Haustarifvertrag Ein SanierungsTV in der Form eines HausTVs wird zwischen dem Unternehmen und 4 der Gewerkschaft abgeschlossen. Der einzelne Arbeitgeber ist gemäß § 2 Abs. 1 TVG tariffähig. Arbeitgeber ist jede natürliche oder juristische Person, die den Arbeitnehmern als Vertragspartner gegenübersteht1. Ein Unternehmen kann daher grundsätzlich als einzelner Arbeitgeber mit der Gewerkschaft einen HausTV abschließen. Der Konzern ist als solcher weder rechtsfähig noch rechtsgeschäftsfähig und damit auch nicht tariffähig2. Die Konzernobergesellschaft ist nicht Arbeitgeber der bei den Konzernunternehmen Beschäftigten3. Falls eine Konzernobergesellschaft einen HausTV abschließt, bindet dieser nur die bei ihr beschäftigten Arbeitnehmer, nicht auch die bei den übrigen Konzernunternehmen Beschäftigten. Dem Bedürfnis nach der Herbeiführung konzernweiter Tarifbestimmungen kann auf unterschiedliche Weise Rechnung getragen werden:
5
– Jedes einzelne Konzernunternehmen kann den TV abschließen. – Die Konzernobergesellschaft kann in Stellvertretung für die einzelnen Konzernunternehmen handeln; die Stellvertretung muss hinreichend zum Ausdruck gebracht werden (§ 164 Abs. 2 BGB). – Die einzelnen Konzernunternehmen können AnschlussTVe schließen. – Die Konzernunternehmen können einen auf den Konzern bezogenen Arbeitgeberverband gebildet haben, und dieser schließt dann für seine Mitglieder (Verbands-)TVe (Bsp.: RWE Konzern, Telekom Konzern). Die Tariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers wird nach herrschender Auffassung 6 nicht durch die Mitgliedschaft in einem Arbeitgeberverband beendet4. § 2 Abs. 1 TVG verleiht dem Arbeitgeber die Tariffähigkeit unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Arbeitgebervereinigung. Über diese Tariffähigkeit kann der einzelne Arbeitgeber nicht durch schuldrechtliche Vereinbarungen mit einem Arbeitgeberverband disponieren. Die Tariffähigkeit ist nicht nur ein Recht, sondern zugleich eine dem Ar1 2 3 4
Vgl. MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 51. Vgl. ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 24; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 147. Vgl. MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 57. Vgl. BAG v. 4.4.2001 – 4 AZR 237/00, AP Nr. 26 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, AP Nr. 162 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; Bepler, AuR 2010, 234; Kleinebrink, ArbRB 2008, 279; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 340; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 171 ff.; MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 73. Siehe aber demgegenüber: LAG Schleswig-Holstein v. 25.11.1999 – 4 Sa 584/99, NZA-RR 2000, 143; Matthes, FS Schaub, S. 477 (481 ff.).
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Teil 12 Rz. 7
Der Sanierungstarifvertrag
beitgeber auch im Interesse des sozialen Gegenspielers gesetzlich verliehene, unverzichtbare Eigenschaft. Der Arbeitgeber kann trotz Verbandszugehörigkeit und trotz eines für ihn gültigen VerbandsTVs einen konkurrierenden oder ergänzenden HausTV abschließen. Die Satzung des Arbeitgeberverbandes kann zwar den Abschluss eines HausTVs untersagen. Der Arbeitgeber verstößt dann durch den Abschluss eines verbandswidrigen HausTVs im Innenverhältnis gegen seine Verbandspflichten und setzt sich dadurch ggf. Verbandsstrafen aus, ein verbandswidriger HausTV ist dennoch wirksam1. Es bleibt ungeachtet der Verbandsmitgliedschaft des Arbeitgebers bei seiner Tariffähigkeit nach § 2 Abs. 1 TVG. Der Abschluss eines FirmenTVs durch den Arbeitgeber ist trotz der Verbandsmitgliedschaft möglich. Die Satzungen von Arbeitgeberverbänden sehen zwar regelmäßig vor, dass es den Mitgliedern nicht gestattet ist, ohne die Erlaubnis des Verbandes FirmenTVe abzuschließen. Dies ändert aber weder an der Tariffähigkeit etwas noch an der Wirksamkeit eines von einem Verbandsmitglied abgeschlossenen FirmenTVs. Der FirmenTV ist im Außenverhältnis wirksam. Das Verbandsmitglied verstößt lediglich gegen seine Verbandspflichten. 7 Dies ist Ausgangspunkt und Grundlage dafür, dass Arbeitskämpfe zur Erzwingung von HausTVen gegen einzelne, verbandsangehörige Arbeitgeber grundsätzlich zulässig sind2. Das BAG hat bereits 1955 (!) ausgeführt3: „Weiter ist ein Streik auch nicht deshalb rechtswidrig, weil der bestreikte Arbeitgeber, der einem Arbeitgeberverband angehört, diesem gegenüber satzungsmäßig verpflichtet ist, keinen Firmentarif abzuschließen. Verpflichtungen, die ein Arbeitgeberverband tariflich einem Tarifpartner der Arbeitnehmerseite gegenüber eingegangen ist, oder Verpflichtungen, die einem einzelnen Arbeitgeber satzungsgemäß gegenüber seinem Arbeitgeberverband obliegen, berühren nicht die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit eines Streiks, zu dem eine Gewerkschaft aufruft, die in keinem Vertragsverhältnis zu dem Arbeitgeberverband oder dem Arbeitgeber steht. Wenn es einer Gewerkschaft erlaubt ist, ihre gewerkschaftlichen Aufgaben und Ziele durch einen TV zu verwirklichen, zu dessen Abschluss der Arbeitgeber notfalls durch Streik veranlasst werden soll, dann kann der Arbeitgeber einem solchen Streik die Legitimität nicht dadurch nehmen, dass er sich anderweitig Dritten gegenüber verpflichtet oder verpflichtet hat, einen solchen TV nicht abzuschließen.“ Der 1. Senat hat dies zuletzt in der Entscheidung vom 10. Dezember 2002 unter Auseinandersetzung mit den Gegenstimmen im Schrifttum ausführlich begründet4. 8 Bei der Entscheidung, einen SanierungsTV als HausTV abzuschließen, ist es wichtig, vorab zu prüfen, ob die Arbeitsverträge insbesondere der nicht gewerkschaftsangehö1 Vgl. BAG v. 4.5.1955 – 1 AZR 493/54, AP Nr. 2 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; BAG v. 4.4.2001 – 4 AZR 237/00, AP Nr. 26 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, AP Nr. 162 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; Ahrendt, RdA 2012, 129; Kuhn/Willemsen, NZA 2012, 593 (594); Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 171. 2 Vgl. BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, AP Nr. 162 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 168; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, § 21 II 5c; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 131; MünchArbR/Otto, § 285 Rz. 66; MünchArbR/Ricken, § 200 Rz. 25; Wendeling-Schröder, NZA 1998, 624 (628). Siehe aber demgegenüber: LAG Schleswig-Holstein v. 25.11.1999 – 4 Sa 584/99, NZA-RR 2000, 143; Bauer/Krieger, NZA 2004, 1019 (1021); Buchner, DB Beilage 9/2001, 1 (12 ff.); Lieb, DB 1999, 2058 (2062); Reuter, NZA 2001, 1097 (1104); Rolfs/ Clemens, NZA 2004, 410 (411). 3 Vgl. BAG v. 4.5.1955 – 1 AZR 493/54, AP Nr. 2 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. 4 Vgl. BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, AP Nr. 162 zu Art. 9 GG Arbeitskampf.
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Gebot der Rechtsquellenklarheit
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Teil 12
rigen Arbeitnehmer Bezugnahmeklauseln enthalten, die einen HausTV umfassen, um die umfassende Wirkung des SanierungsTVs zu gewährleisten.
II. Firmenbezogener Verbandstarifvertrag Wird der SanierungsTV als firmenbezogener VerbandsTV abgeschlossen, sind TV-Parteien die Gewerkschaft und der Arbeitgeberverband, dem das Unternehmen angehört. Dieser Arbeitgeberverband schließt den SanierungsTV speziell für das Unternehmen ab, der betriebliche, personelle, räumliche Geltungsbereich des VerbandsTVs wird eingeschränkt. TV-Partei ist der Arbeitgeberverband und nicht das einzelne Unternehmen. Dies hat zur Konsequenz, dass der SanierungsTV auf Arbeitgeberseite auch nur durch den Arbeitgeberverband gekündigt werden kann1.
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Arbeitskämpfe zur Erzwingung eines firmenbezogenen VerbandsTVs sind nach Auffassung des BAG zulässig2.
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Der Abschluss eines firmenbezogenen VerbandsTVs kann für das betroffene Unter- 11 nehmen unter anderem die Vorteile haben, dass es die Sachkunde seines Arbeitgeberverbandes nutzen kann, dass die Kosten für interne oder externe Berater in der Regel entfallen, da die Kosten für die Verbandsvertreter mit dem Verbandsbeitrag bereits abgegolten sind, und dass es sich nicht der Gefahr der Verletzung von Verbandspflichten durch den Abschluss eines HausTVs aussetzt. Ebenso ist zu berücksichtigen, dass die Bezugnahmeklauseln der Arbeitsverträge 12 möglicherweise keine HausTVe, sondern allenfalls firmenbezogene VerbandsTVe erfassen. Das BAG hat eine Bezugnahmeklausel, die auf die TVe der Metallindustrie Nordrhein-Westfalen verweist, derart ausgelegt, dass auch firmenbezogene VerbandsTVe und im entschiedenen Fall ein firmenbezogener VerbandssanierungsTV erfasst seien. Durch eine Verweisung auf Verbandstarifverträge werden auch solche TVe in Bezug genommen, die Einschränkungen im Hinblick auf den sachlichen, personellen oder örtlichen Geltungsbereich beinhalten3. Bezugnahmeklauseln, die auf die jeweils einschlägigen FlächenTVe verweisen, umfassen nach Ansicht des BAG in der Regel auch firmenbezogene VerbandsTVe. Die Auslegung von Bezugnahmeklauseln hängt dabei allerdings immer vom Einzelfall ab.
C. Gebot der Rechtsquellenklarheit Normative Regelungen, durch welche der Inhalt von Arbeitsverhältnissen unmittel- 13 bar und zwingend gestaltet werden soll, müssen nach der Rechtsprechung des BAG dem Gebot der Rechtsquellenklarheit im Sinne einer Eindeutigkeit der Normurheberschaft genügen4: Dies folge aus dem Erfordernis der Rechtssicherheit, das in den Schriftformgeboten insbesondere des § 1 Abs. 2 TVG und des § 77 Abs. 2 Satz 1 und 2 BetrVG seinen gesetzlichen Niederschlag gefunden habe. Zu den dem Gebot der 1 2 3 4
Vgl. Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 160. Vgl. BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan. Vgl. BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, AP Nr. 24 zu § 1 TVG Rückwirkung. Vgl. BAG v. 15.4.2008 – 1 AZR 86/07, AP Nr. 96 zu § 77 BetrVG 1972.
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Gebot der Rechtsquellenklarheit
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Teil 12
rigen Arbeitnehmer Bezugnahmeklauseln enthalten, die einen HausTV umfassen, um die umfassende Wirkung des SanierungsTVs zu gewährleisten.
II. Firmenbezogener Verbandstarifvertrag Wird der SanierungsTV als firmenbezogener VerbandsTV abgeschlossen, sind TV-Parteien die Gewerkschaft und der Arbeitgeberverband, dem das Unternehmen angehört. Dieser Arbeitgeberverband schließt den SanierungsTV speziell für das Unternehmen ab, der betriebliche, personelle, räumliche Geltungsbereich des VerbandsTVs wird eingeschränkt. TV-Partei ist der Arbeitgeberverband und nicht das einzelne Unternehmen. Dies hat zur Konsequenz, dass der SanierungsTV auf Arbeitgeberseite auch nur durch den Arbeitgeberverband gekündigt werden kann1.
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Arbeitskämpfe zur Erzwingung eines firmenbezogenen VerbandsTVs sind nach Auffassung des BAG zulässig2.
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Der Abschluss eines firmenbezogenen VerbandsTVs kann für das betroffene Unter- 11 nehmen unter anderem die Vorteile haben, dass es die Sachkunde seines Arbeitgeberverbandes nutzen kann, dass die Kosten für interne oder externe Berater in der Regel entfallen, da die Kosten für die Verbandsvertreter mit dem Verbandsbeitrag bereits abgegolten sind, und dass es sich nicht der Gefahr der Verletzung von Verbandspflichten durch den Abschluss eines HausTVs aussetzt. Ebenso ist zu berücksichtigen, dass die Bezugnahmeklauseln der Arbeitsverträge 12 möglicherweise keine HausTVe, sondern allenfalls firmenbezogene VerbandsTVe erfassen. Das BAG hat eine Bezugnahmeklausel, die auf die TVe der Metallindustrie Nordrhein-Westfalen verweist, derart ausgelegt, dass auch firmenbezogene VerbandsTVe und im entschiedenen Fall ein firmenbezogener VerbandssanierungsTV erfasst seien. Durch eine Verweisung auf Verbandstarifverträge werden auch solche TVe in Bezug genommen, die Einschränkungen im Hinblick auf den sachlichen, personellen oder örtlichen Geltungsbereich beinhalten3. Bezugnahmeklauseln, die auf die jeweils einschlägigen FlächenTVe verweisen, umfassen nach Ansicht des BAG in der Regel auch firmenbezogene VerbandsTVe. Die Auslegung von Bezugnahmeklauseln hängt dabei allerdings immer vom Einzelfall ab.
C. Gebot der Rechtsquellenklarheit Normative Regelungen, durch welche der Inhalt von Arbeitsverhältnissen unmittel- 13 bar und zwingend gestaltet werden soll, müssen nach der Rechtsprechung des BAG dem Gebot der Rechtsquellenklarheit im Sinne einer Eindeutigkeit der Normurheberschaft genügen4: Dies folge aus dem Erfordernis der Rechtssicherheit, das in den Schriftformgeboten insbesondere des § 1 Abs. 2 TVG und des § 77 Abs. 2 Satz 1 und 2 BetrVG seinen gesetzlichen Niederschlag gefunden habe. Zu den dem Gebot der 1 2 3 4
Vgl. Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 160. Vgl. BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan. Vgl. BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, AP Nr. 24 zu § 1 TVG Rückwirkung. Vgl. BAG v. 15.4.2008 – 1 AZR 86/07, AP Nr. 96 zu § 77 BetrVG 1972.
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Rechtssicherheit unterliegenden Rechtsnormen gehören neben den Gesetzen insbesondere TVe und Betriebsvereinbarungen. Da zwischen TVen und Betriebsvereinbarungen in vielfacher Hinsicht wesentliche Unterschiede bestehen, folgt daraus, dass der Rechtscharakter einer Sanierungsvereinbarung als TV oder als Betriebsvereinbarung zweifelsfrei bestimmbar sein muss. 14
Werden Vereinbarungen nur von den TV-Parteien oder nur von den Betriebsparteien unterzeichnet, entstehen hinsichtlich der Urheberschaft dieser Vereinbarungen in der Regel keine Unklarheiten. Probleme hinsichtlich der Zuordnung der Urheberschaft können in den in der Praxis nicht selten vorkommenden Fällen auftreten, in denen Sanierungsvereinbarungen von den TV-Parteien und auch vom Betriebsrat unterzeichnet werden (drei- oder mehrseitige Vereinbarungen). In diesen Fällen kann es sein, dass die Vereinbarung auch von Personen/Stellen unterzeichnet wird, deren Regelungskompetenz sich nicht auf sämtliche Regelungsgegenstände erstreckt. Die Mitunterzeichnung eines arbeitsrechtlichen kollektiven Normenvertrages durch eine hierfür unzuständige Person oder Stelle führt zwar alleine nicht zur Gesamt- oder Teilnichtigkeit der Vereinbarung. Dies gilt aber bei gemischten Vereinbarungen nur, wenn sich für die Normadressaten aus der Vereinbarung selbst ohne Weiteres und zweifelsfrei ergibt, um welche Rechtsquelle es sich bei den jeweiligen Regelungskomplexen handelt1. Bei von Arbeitgeber, Gewerkschaft und Betriebsrat unterzeichneten Vereinbarungen, die sich nicht zweifelsfrei insgesamt entweder als TV oder als Betriebsvereinbarung qualifizieren lassen, sind daher aus Gründen der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit sowie wegen des betriebsverfassungs- und tarifrechtlichen Schriftformgebots allenfalls diejenigen Regelungskomplexe wirksam, die sich selbständig von den übrigen abgrenzen lassen und deren Urheber ohne Weiteres erkennbar sind2. Es ist also grundsätzlich möglich, Sanierungsvereinbarungen durch die TV-Parteien und den Betriebsrat unterschreiben zu lassen, solange sich jede einzelne Regelung zweifelsfrei entweder als tarifvertragliche oder als betriebsverfassungsrechtliche Regelung qualifizieren und sich deutlich von den anders zu qualifizierenden Regelungen trennen lässt. Es ist nicht erforderlich, dass stets getrennte Vereinbarungen abgeschlossen werden müssen. Dreibzw. mehrseitige Vereinbarungen sind grundsätzlich möglich3.
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Das BAG hat sich mit der Problematik insbesondere in zwei Entscheidungen befasst4. Das BAG hatte in der ersten Entscheidung über einen Fall zu befinden, in dem ein mit „Betriebsvereinbarung über einen Konsolidierungsvertrag“ überschriebenes Papier unterzeichnet worden war5, das zur Realisierung eines Sanierungskonzepts Kürzungen von Tarifentgelten vorsah. Die Vereinbarung war von dem Arbeitgeber, dem Betriebsrat und der Gewerkschaft unterschrieben worden. Ein Arbeitnehmer machte die Unwirksamkeit dieser Kürzungen geltend. Das BAG würdigte die Vereinbarung trotz der Überschrift und trotz der Mitunterzeichnung durch den Betriebsrat als TV
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Vgl. BAG v. 15.4.2008 – 1 AZR 86/07, AP Nr. 96 zu § 77 BetrVG 1972. Vgl. BAG v. 15.4.2008 – 1 AZR 86/07, AP Nr. 96 zu § 77 BetrVG 1972. Vgl. Fröhlich, ArbRB 2009, 208 (210). Siehe dazu näher Ahrendt, RdA 2012, 129 (130–131); Bayreuther, NZA 2010, 378 (380); Giesen, NZA 2014, 1 ff.; Grau/Döring, NZA 2008, 1335 ff.; Moll, FS Bepler, S. 425 (434 ff.); Thüsing, NZA 2008, 201 ff.; jeweils m.w.N. 5 Vgl. BAG v. 7.11.2000 – 1 AZR 175/00, AP Nr. 14 zu § 77 BetrVG 1972 Tarifvorbehalt.
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und hielt deshalb die Entgeltkürzungen für tarifvertraglich wirksam vereinbart. Ausgangspunkt und Grundlage der Entscheidung ist, dass derartige Vereinbarungen im Zweifel TVe sind, weil ansonsten Betriebsvereinbarungsregelungen mit entsprechenden Inhalten unwirksam wären. Die Tendenz des BAG, derartige Vereinbarungen aufrecht zu erhalten, ist zu begrüßen. Die Nachfolgeentscheidung, die in eine andere Richtung weist1, erscheint demgegenüber problematisch2. Ein „Standortsicherungsvertrag“ war zwischen dem Arbeitgeber, dem Betriebsrat, dem Konzernbetriebsrat und der Gewerkschaft abgeschlossen worden. Er enthielt fünf Abschnitte. Der 1. Abschnitt änderte TVe ab und sah vor, dass für bestimmte Zeiträume tarifliche Leistungen entfielen. Der 2. Abschnitt regelte, dass Betriebsvereinbarungen dahingehend geändert wurden, dass im Rahmen von Zeitkonten auf Gleitzeitguthaben in Höhe von 200 Stunden verzichtet wurde. Der 3. Abschnitt bestimmte, dass im Hinblick auf einen Personalabbau eine Bestimmung des bereits bestehenden Interessenausgleichs ersatzlos gestrichen und eine Sozialplanregelung getroffen wurde. Der 4. Abschnitt enthielt eine Standortsicherungsgarantie durch den Arbeitgeber. Es wurde 5. schließlich die Laufzeit ohne Nachwirkung festgelegt. Ein Arbeitnehmer machte geltend, dass der Arbeitgeber zum Abzug von 200 Guthabenstunden auf dem Gleitzeitkonto nicht berechtigt gewesen sei, und klagte. Das BAG hat die Regelung über den Abzug des Gleitzeitguthabens von 200 Stunden für unwirksam gehalten, „weil sich die Urheberschaft für die Regelung nicht mit der erforderlichen Eindeutigkeit feststellen lässt.“ Es erklärt, dass die Rechtsqualität der Regelung nicht hinreichend eindeutig sei und dass dies dem für kollektive arbeitsrechtliche Normenverträge geltenden Gebot der Rechtsquellenklarheit widerspreche. Die Normurheberschaft und der Normsetzungswille der jeweiligen Normgeber müssten im Interesse der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit deutlich und überprüfbar hervortreten. Eine von Arbeitgeber, Betriebsrat und Gewerkschaft unterzeichnete Vereinbarung sei zwar nicht bereits wegen der gemeinsamen Unterzeichnung unwirksam. Es müsse sich jedoch feststellen lassen, wer Urheber der jeweiligen Regelung sei. Wenn dies mit hinreichender Deutlichkeit nicht geschehe, sei die Vereinbarung unwirksam. Der 1. Senat weist zwar einen Widerspruch zu seiner Entscheidung vom 7. November 16 2000 zurück. Es ist doch unübersehbar, dass er sich bei der Würdigung der mehrseitigen Vereinbarung nicht von dem Bestreben und dem Grundsatz leiten lässt, die der Senat in der Entscheidung vom 7. November 2000 als maßgeblich angesehen hat, nämlich Regelungen möglichst so zu verstehen, dass sie wirksam sind. Das (jüngere) Prinzip des BAG und die Anwendung auf den Einzelfall sind erheblichen Bedenken ausgesetzt. Hatte der Senat in der Entscheidung vom 7. November 2000 noch durch Auslegung festgestellt, dass die Regelungen TV-Qualität hatten, scheint der Senat in der Entscheidung vom 15. April 2008 zu verlangen, dass ohne weiteres und von vornherein klar und ausdrücklich bestimmt sein müsse, wer welche Normen verantwortet, ohne auf eine Auslegung in unklaren Fällen abzustellen. Eine Auslegung hätte in dem entschiedenen Fall aus sehr guten Gründen eine Zuordnung der Normen vornehmen und die Regelungen als wirksam ansehen können. Abschnitt 1 hatte ausdrücklich die „Abänderung des TVs“ zum Gegenstand. Es lag daher nichts näher, als diesbezüglich eine TV-Regelung anzunehmen. Abschnitt 2 betraf die Abänderung von Betriebsvereinbarungen, Abschnitt 3 die Kündigung von Arbeitnehmern, Personal1 Vgl. BAG v. 15.4.2008 – 1 AZR 86/07, AP Nr. 96 zu § 77 BetrVG 1972. 2 Siehe dazu kritisch Giesen, NZA 2014, 1 ff.; Moll, FS Bepler, 425 (434 ff.).
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abbau, Interessenausgleich und Sozialplan. Es hätte insoweit nichts näher gelegen, als diesen Regelungen Betriebsvereinbarungscharakter zuzubilligen. Es hätte sich dann die Frage gestellt, ob in dieser Weise TV-Regelungen und Betriebsvereinbarungsregelungen in einer von allen zuständigen Parteien unterschriebenen Urkunde zusammengefasst werden können. Warum nicht? Der 4. Senat des BAG ist diesen Weg noch in der Entscheidung vom 23. Januar 2008 (richtigerweise) gegangen1. Der 1. Senat hat demgegenüber in der Entscheidung vom 15. April 2008 im Unterschied zu den Entscheidungen vom 7. November 2000 und 23. Januar 2008 den Auslegungsweg nicht beschritten, angeblich weil mangels Deutlichkeit die Normgeber nicht erkennbar gewesen seien. Überzeugend erscheint weder der Rechtsgrundsatz noch die Anwendung im Einzelfall. Dass sich aus der Regelung „selbst ohne weiteres und zweifelsfrei“ ergibt, wer Urheber der einzelnen Regelungskomplexe ist, lässt sich nicht postulieren. Nicht minder zweifelhaft erscheint, dass der 1. Senat die Normzuordnung im Auslegungswege verweigert. Es ist Aufgabe der Rechtsprechung, im Einzelfall festzustellen, welche Rechtsnorm und welcher Rechtscharakter vorliegen2. 17
Wem diese Verkomplizierung der Rechtslage dient, ist nicht wirklich auszumachen. Für die Praxis bleibt die Erkenntnis: Es ist zwar uneingeschränkt zu empfehlen, Betriebsräte und Gewerkschaften gemeinsam ins Boot zu nehmen, wenn Vereinbarungen abgeschlossen werden, mit denen unter Abänderung von betrieblichen und tariflichen Regelungen insgesamt ein abgestimmtes Maßnahmensystem aufgestellt wird. Diesbezüglich ist jedoch zu beachten, dass klargestellt wird, welche Bestimmungen als Betriebsvereinbarung und welche als TV gelten. Bei von Arbeitgeber, Gewerkschaft und Betriebsrat unterzeichneten Vereinbarungen, die sich nicht zweifelsfrei entweder insgesamt als TV oder insgesamt als Betriebsvereinbarung qualifizieren lassen, sind danach nur diejenigen Regelungskomplexe wirksam, die sich selbständig von den übrigen abgrenzen lassen und deren Urheber ohne Weiteres erkennbar sind. Der Arbeitgeber wird in besonderer Weise auf die Einhaltung der Wirksamkeitsbedingungen achten müssen, weil anderenfalls die Sanierungsbeiträge der Arbeitnehmer nicht verbindlich vereinbart sind und für die Verschlechterung von Arbeitsbedingungen keine Rechtsgrundlage bestünde. Dieses Risiko kann auch im Rahmen der arbeitsrechtlichen due diligence von Bedeutung sein, so dass bei Transaktionen eine sorgfältige Prüfung von drei- bzw. mehrseitigen Sanierungsvereinbarungen geboten ist3.
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Es bleibt bei drei- oder mehrseitigen Vereinbarungen letztlich Vorsicht geboten, weil sich für den Arbeitgeber im Falle der Unwirksamkeit einer Sanierungsvereinbarung erhebliche Risiken ergeben, da für die Sanierungsbeiträge der Arbeitnehmer wie beispielsweise die Absenkung von Vergütungen oder die Streichung von Tariflohnerhöhungen keine Rechtsgrundlage mehr bestünde. Eine genaue Bezeichnung und Einteilung ist daher anzuraten, wenn eine einheitliche Vertragsurkunde erstellt wird. Wenn man, um Risiken zu vermeiden, zwei Urkunden fertigt, für die Betriebsvereinbarungsebene einerseits und die TV-Ebene andererseits, würden Risiken aus der Normzurechnung zwar vermieden. Es müssten dann allerdings, soweit dies in dem Regelungsgeflecht von betrieblichen und tariflichen Regelungen erforderlich ist, ggf. entsprechende Abstimmungs- und Koordinierungsregelungen in die getrennten Verein1 Vgl. BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 602/06, AP Nr. 63 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag. 2 Siehe aber dem BAG zustimmend Ahrendt, RdA 2012, 129 (130); Thüsing/Braun/Oberwinter, Kap. 9 Rz. 34. 3 Vgl. Grau/Döring, NZA 2008, 1335 (1337).
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Inhaltliche Gestaltung und Formulierungshinweise
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barungen aufgenommen werden. Um Risiken zu vermeiden, kann je nach Einzelfall erwogen werden, die entsprechenden Regelungen zwar gemeinsam auszuhandeln, jedoch in zwei getrennten Urkunden mit der eindeutigen Bezeichnung als TV und Betriebsvereinbarung und der Unterschrift der jeweils zuständigen Vertragspartei niederzulegen1. In diese Vereinbarungen können und müssen, soweit erforderlich, Anrechnungs- oder Verweisungsklauseln aufgenommen werden. Die Problematik wird sich ggf. dadurch bewältigen lassen, dass durch TV eine Öffnungsklausel zugunsten der Betriebsvereinbarung vereinbart wird2.
D. Inhaltliche Gestaltung und Formulierungshinweise Die inhaltliche Gestaltung eines SanierungsTVs ist abhängig von der konkreten Si- 19 tuation des Unternehmens und den sich daraus ergebenden Regelungsbedürfnissen. In der Präambel ist sinnvollerweise der Grund für die Notwendigkeit eines SanierungsTVs kurz darzustellen, z.B. aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten zur Vermeidung einer Insolvenz.
I. Geltungsbereich 1. Betrieblicher/Räumlicher Geltungsbereich Der räumliche Geltungsbereich kann auf bestimmte Betriebe des Unternehmens be- 20 schränkt werden3. „Dieser Tarifvertrag gilt rumlich fr den Betrieb … (Bezeichnung) … in … (Adresse) … .“ Falls sich diesbezüglich keine Regelung findet, fallen im Zweifel alle Betriebe des Unternehmens unter den räumlichen Geltungsbereich4. Erwirbt das Unternehmen in der Folgezeit weitere Betriebe, so fallen auch diese darunter5. 2. Persönlicher Geltungsbereich Der persönliche Geltungsbereich des SanierungsTVs ist in der Regel identisch mit dem des abzulösenden VerbandsTVs.
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„Der Tarifvertrag gilt fr alle Arbeitnehmer/innen, einschließlich der Auszubildenden, des Unternehmens …, soweit sie unter den Geltungsbereich des Verbandsvertrages … fallen.“ Die Parteien können den persönlichen Geltungsbereich einschränken und bestimmte Arbeitnehmergruppen aus dem Geltungsbereich herausnehmen bzw. bestimmen, 1 2 3 4 5
Vgl. Fröhlich, ArbRB 2009, 208 (210). Vgl. Bayreuther, NZA 2010, 378 (381). Vgl. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 123. Vgl. Kleinebrink, ArbRB 2008, 279 (280). Vgl. BAG v. 24.1.2001 – 4 AZR 4/00, AP Nr. 1 zu § 3 BetrVG 1972; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 123.
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Inhaltliche Gestaltung und Formulierungshinweise
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barungen aufgenommen werden. Um Risiken zu vermeiden, kann je nach Einzelfall erwogen werden, die entsprechenden Regelungen zwar gemeinsam auszuhandeln, jedoch in zwei getrennten Urkunden mit der eindeutigen Bezeichnung als TV und Betriebsvereinbarung und der Unterschrift der jeweils zuständigen Vertragspartei niederzulegen1. In diese Vereinbarungen können und müssen, soweit erforderlich, Anrechnungs- oder Verweisungsklauseln aufgenommen werden. Die Problematik wird sich ggf. dadurch bewältigen lassen, dass durch TV eine Öffnungsklausel zugunsten der Betriebsvereinbarung vereinbart wird2.
D. Inhaltliche Gestaltung und Formulierungshinweise Die inhaltliche Gestaltung eines SanierungsTVs ist abhängig von der konkreten Si- 19 tuation des Unternehmens und den sich daraus ergebenden Regelungsbedürfnissen. In der Präambel ist sinnvollerweise der Grund für die Notwendigkeit eines SanierungsTVs kurz darzustellen, z.B. aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten zur Vermeidung einer Insolvenz.
I. Geltungsbereich 1. Betrieblicher/Räumlicher Geltungsbereich Der räumliche Geltungsbereich kann auf bestimmte Betriebe des Unternehmens be- 20 schränkt werden3. „Dieser Tarifvertrag gilt rumlich fr den Betrieb … (Bezeichnung) … in … (Adresse) … .“ Falls sich diesbezüglich keine Regelung findet, fallen im Zweifel alle Betriebe des Unternehmens unter den räumlichen Geltungsbereich4. Erwirbt das Unternehmen in der Folgezeit weitere Betriebe, so fallen auch diese darunter5. 2. Persönlicher Geltungsbereich Der persönliche Geltungsbereich des SanierungsTVs ist in der Regel identisch mit dem des abzulösenden VerbandsTVs.
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„Der Tarifvertrag gilt fr alle Arbeitnehmer/innen, einschließlich der Auszubildenden, des Unternehmens …, soweit sie unter den Geltungsbereich des Verbandsvertrages … fallen.“ Die Parteien können den persönlichen Geltungsbereich einschränken und bestimmte Arbeitnehmergruppen aus dem Geltungsbereich herausnehmen bzw. bestimmen, 1 2 3 4 5
Vgl. Fröhlich, ArbRB 2009, 208 (210). Vgl. Bayreuther, NZA 2010, 378 (381). Vgl. Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 123. Vgl. Kleinebrink, ArbRB 2008, 279 (280). Vgl. BAG v. 24.1.2001 – 4 AZR 4/00, AP Nr. 1 zu § 3 BetrVG 1972; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 123.
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dass der SanierungsTV nur für bestimmte Arbeitnehmergruppen gilt (z.B. nur für die in den letzten fünf Jahren vor Tarifabschluss eingestellten Mitarbeiter). Für diejenigen Arbeitnehmer, die danach nicht unter den persönlichen Geltungsbereich des SanierungsTVs fallen, gilt dann der VerbandsTV weiter. 23
Die Differenzierung beim persönlichen Geltungsbereich berührt die Frage der Bindung der TV-Parteien an den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG)1. Die TV-Parteien sind als Vereinigungen privaten Rechts zwar nicht unmittelbar grundrechtsgebunden2. Ihre Grundrechtsbindung beruht nicht unmittelbar auf der Abwehrfunktion der Grundrechte, sondern mittelbar auf deren Schutzfunktion. Der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG begrenzt zwar die Normsetzungsautonomie der Koalitionen, ihnen steht jedoch ein weiter Gestaltungsspielraum zu3. In der Festlegung des Geltungsbereichs eines TVs sind die TV-Parteien grundsätzlich autonom, solange sie die Arbeitnehmer nicht willkürlich ungleich behandeln. Diese Grenze der Willkür ist überschritten, wenn die Differenzierung im persönlichen Geltungsbereich unter keinem Gesichtspunkt plausibel erklärbar ist4.
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In der Beschränkung des persönlichen Geltungsbereichs auf diejenigen Mitarbeiter, die in den letzten fünf Jahren vor Tarifabschluss eingestellt worden sind5, liegt nach Ansicht des BAG kein Verstoß gegen den Gleichheitssatz, wenn nach der Einschätzung der TV-Parteien ansonsten betriebsbedingte Kündigungen drohen, die zahlenmäßig der betroffenen Gruppe entsprechen und im Rahmen der Sozialauswahl vorrangig diese treffen würden. Es kam in dem vom BAG entschiedenen Fall dazu, dass den von den Einschränkungen betroffenen Mitarbeitern „Abfindungen“ gezahlt wurden. Das BAG hielt die Differenzierung insgesamt für nicht sachwidrig6. 3. Zeitlicher Geltungsbereich
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Der zeitliche Geltungsbereich bestimmt den Beginn und das Ende der Wirkung der tariflichen Rechtsnormen. In der Regel tritt der TV mit dem Abschluss, d.h. mit seiner Unterzeichnung in Kraft. Die TV-Parteien können vereinbaren, dass der TV erst zu ei1 Siehe dazu Däubler/Schiek, TVG, Einl. Rz. 295 ff.; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 218a; Wiedemann, RdA 2005, 193 (194 ff.); Wiedemann/Wiedemann, TVG, Einl. Rz. 203 ff., 214. 2 Vgl. BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 563/99, AP Nr. 25 zu § 4 TVG; BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 352/00, AP Nr. 291 zu § Art. 3 GG; BAG v. 27.5.2004 – 6 AZR 129/03, AP Nr. 5 zu § 1 TVG Gleichbehandlung; BAG v. 24.6.2004 – 6 AZR 389/03, AP Nr. 10 zu § 34 BAT; BAG v. 27.4.2006 – 6 AZR 437/05, AP Nr. 19 zu § 29 BAT; BAG v. 25.10.2007 – 6 AZR 95/07, AP Nr. 12 zu § 34 BAT; BAG v. 27.1.2011 – 6 AZR 578/09, ZTR 2011, 365. Offen gelassen bei BAG v. 21.9.2010 – 9 AZR 442/09, ZTR 2011, 304. Siehe zur Entwicklung dieser heute stark überwiegenden Auffassung Dieterich, RdA 2005, 177 (178 ff.); Däubler/Schiek, TVG, Einl. Rz. 168 ff. 3 Vgl. BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 563/99, AP Nr. 25 zu § 4 TVG; BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 352/00, AP Nr. 291 zu Art. 3 GG; BAG v. 24.6.2004 – 6 AZR 389/03, AP Nr. 10 zu § 34 BAT; BAG v. 27.4.2006 – 6 AZR 437/05, AP Nr. 19 zu § 29 BAT; BAG v. 25.10.2007 – 6 AZR 95/07, AP Nr. 12 zu § 34 BAT; BAG v. 30.10.2008 – 6 AZR 682/07, AP Nr. 1 zu § 5 TVÜ; BAG v. 21.9.2010 – 9 AZR 442/09, ZTR 2011, 304; BAG v. 27.1.2011 – 6 AZR 578/09, ZTR 2011, 365. 4 Vgl. BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 563/99, AP Nr. 25 zu § 4 TVG; BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 352/00, AP Nr. 291 zu § Art. 3 GG; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 15; Däubler/Schiek, TVG, Einl. Rz. 298. 5 Vgl. BAG v. 25.6.2003 – 4 AZR 405/02, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Beschäftigungssicherung. 6 BAG v. 25.6.2003 – 4 AZR 405/02, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Beschäftigungssicherung.
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Inhaltliche Gestaltung und Formulierungshinweise
Rz. 29
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nem späteren Zeitpunkt in Kraft treten soll. In diesem Falle ergreift der TV grundsätzlich die Rechtsverhältnisse, die bei Wirksamkeitsbeginn bestehen oder nachher begründet werden1. Innerhalb der Grenzen des Vertrauensschutzes können die TV-Parteien einen SanierungsTV auch rückwirkend abschließen. Der SanierungsTV wird in der Regel befristet abgeschlossen und endet mit dem verein- 26 barten Fristablauf. Die Vereinbarung ordentlicher Kündigungsmöglichkeiten bleibt den TV-Parteien auch bei einer Befristung überlassen2. Sie können bestimmte Kündigungsgründe (z.B. Wegfall des Sanierungsbedarfs), -fristen oder -termine vereinbaren. Dabei ist auch die Vereinbarung ordentlicher fristloser Kündigungen ohne die Bestimmung eines Kündigungstermins grundsätzlich möglich3. Vereinbaren die TV-Parteien ordentliche Kündigungsmöglichkeiten, sind die Auswirkungen zu bedenken. Im Falle eines Betriebsübergangs beispielsweise ist es oftmals von erheblicher Bedeutung für den Erwerber, den SanierungsTV weiter anwenden zu können, um die Sanierung weiter voranzutreiben. Eine Möglichkeit ist es daher, die Kündigung auf den Fall des Wegfalls der Sanierungssituation zu beschränken, unabhängig von einem möglichen Betriebsübergang. Ist in dem befristeten SanierungsTV keine ordentliche Kündigungsmöglichkeit ge- 27 regelt, scheidet eine ordentliche Kündigung vor Fristablauf aus4. Eine außerordentliche Kündigung bei Vorliegen eines wichtigen Grundes und Beachtung des Ultima-ratioGrundsatzes bleibt immer möglich5. Zur Kündigung im Falle eines Betriebsübergangs siehe unten Rz. 108 ff.
II. Sanierungsbeiträge Um eine finanzielle Entlastung, insbesondere im Hinblick auf die Personalkosten, 28 und damit eine Sanierung des betroffenen Unternehmens zu erreichen, werden in SanierungsTVen üblicherweise folgende Gegenstände geregelt, die der Sanierung des Betriebs oder Unternehmens dienen. Die Auslegung von Bestimmungen des SanierungsTVs wird von diesem Sanierungsziel aus die Sicherung der Arbeitsplätze als Tarifzweck zugrunde legen6. 1. Sanierungsbeiträge der Arbeitnehmer a) Arbeitszeiterhöhung ohne Entgeltausgleich Ein Sanierungsbeitrag der Arbeitnehmer kann sein, mehr Arbeit ohne zusätzliche Vergütung zu leisten. So kann beispielsweise vereinbart werden, dass die regelmäßige Arbeitszeit erhöht wird, ohne dass sich das Gehalt entsprechend erhöht. In diesem Falle verringert sich das Entgelt pro Arbeitsstunde7. Der damit verbundene Eingriff in 1 2 3 4 5 6 7
Siehe dazu näher Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 230 ff. Vgl. Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 107a. Vgl. Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 106. Vgl. Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 74. Vgl. Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 74, 118 ff. Vgl. BAG v. 11.11.2010 – 8 AZR 392/09, NZA 2011, 763. Vgl. BAG v. 13.10.2011 – 8 AZR 514/10, AP Nr. 228 zu § 1 TVG Auslegung; Kleinebrink, ArbRB 2008, 279 (281).
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Teil 12 Rz. 30
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das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung ist regelmäßig nicht zu beanstanden, wenn und weil den Arbeitnehmern durch den SanierungsTV gleichzeitig Vorteile wie etwa ein Ausschluss oder eine zahlenmäßige Beschränkung von betriebsbedingten Kündigungen gewährt werden1. Zur Vermeidung von Streitigkeiten kann der Beginn der Mehrarbeit konkret definiert werden. „(1) Abweichend von § … des Tarifvertrages vom … wird die regelmßige tarifliche Wochenarbeitszeit auf … Stunden, ausschließlich der Pausen, ab dem … erhçht. Ein Entgeltausgleich findet nicht statt. Es verbleibt bei der tariflichen Vergtung gemß § … des Tarifvertrages vom … auch unter Bercksichtigung der erhçhten Wochenarbeitszeit. (2) Die vorgenannte Regelung gilt fr Teilzeitbeschftigte entsprechend. (3) Mehrarbeit nach § … des Tarifvertrages vom … liegt daher erst mit dem Beginn der … Wochenarbeitsstunde vor.“ Ebenso bekannt geworden sind Gestaltungen, wonach Mehrarbeit geleistet wird, die auf einem Mehrarbeitskonto gutgeschrieben und nach einem bestimmten Verhältnisschlüssel nur insoweit bezahlt wird, wie bestimmte betriebliche, wirtschaftliche Erfolgsparameter erreicht werden2. b) Vergütungsabsenkung 30
Finanzielle Entlastung bringt darüber hinaus die Verringerung der Vergütung der Arbeitnehmer3. „Das monatliche Bruttoentgelt der Beschftigten verringert sich ab dem … um … %.“ c) Reduzierung/Wegfall von Sonderzahlungen
31
Hinsichtlich der tariflichen Sonderzahlungen kann der komplette Verzicht, aber auch eine Staffelung zur Senkung der Höhe der Sonderzahlungen vereinbart werden. Enthält der VerbandsTV Berechnungsmethoden zur Bestimmung der individuellen Höhe der Sonderzahlung, sollte diese Methode im Falle der Senkung der Sonderzahlungen beibehalten werden, um Probleme durch die Abrechnungsprogramme zu vermeiden4. „Die Jahressonderzahlung gemß Tarifvertrag vom … entfllt fr die Jahre … Die Jahressonderzahlung gemß Tarifvertrag vom … wird im Jahre … auf … %, im Jahre … auf … % und im Jahre … auf … % eines Monatsverdienstes gesenkt. Die Berechnung und Voraussetzungen dieser Jahressonderzahlung bestimmen sich im brigen nach dem Tarifvertrag … . In den Jahren … entstehen keine Ansprche auf Urlaubsgeld.“
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Vgl. BAG v. 13.10.2011 – 8 AZR 514/10, AP Nr. 228 zu § 1 TVG Auslegung. Vgl. z.B. BAG v. 11.11.2010 – 8 AZR 392/09, NZA 2011, 763. Vgl. BAG v. 13.10.2011 – 8 AZR 514/10, AP Nr. 228 zu § 1 TVG Auslegung. Vgl. Kleinebrink, ArbRB 2008, 279 (282).
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Inhaltliche Gestaltung und Formulierungshinweise
Rz. 35
Teil 12
„Das gemß § … des Tarifvertrages vom … zu zahlende Urlaubsgeld wird im Jahre … auf … %, im Jahre … auf … % und im Jahre … auf … % eines Monatsverdienstes gesenkt. Die Berechnung und Voraussetzungen dieses Urlaubsgeldes bestimmen sich im brigen nach dem Tarifvertrag vom …“ Bestimmt der SanierungsTV die Reduzierung freiwilliger Sozialleistungen wie z.B. 32 Zahlung eines Sterbegeldes und lässt die Auslegung der Regelung die vollständige Streichung nicht zu, ist die vom Arbeitgeber auf den Freiwilligkeitsvorbehalt gestützte völlige Streichung der Sozialleistung unwirksam1. Die Regelung des SanierungsTVs ist verbindlich. Die Regelungsmacht der TV-Parteien umfasst auch die Absicherung freiwilliger Sozialleistungen. Ergibt die Auslegung der Regelung daher nicht, dass auch eine vollständige Streichung erlaubt sein soll (etwa weil die TV-Parteien zwischen den Wörtern „reduzieren“ und „streichen“ bewusst unterschieden haben), bleibt es bei der Reduzierung, eine Streichung ist dann trotz des vormals freiwilligen Charakters der Leistung nicht möglich. Möchte sich der Arbeitgeber die Möglichkeit der vollständigen Streichung der (freiwilligen) Sozialleistung offenlassen, ist dies daher ausdrücklich zu vereinbaren. d) Aussetzung/Reduzierung von geplanten Tariflohnerhöhungen Vorgesehene Tariflohnerhöhungen können vollständig gestrichen, sie können aber 33 auch auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden. Auch ist es möglich, die geplanten Tariflohnerhöhungen abzusenken (ggf. gestaffelt). „Die gemß Tarifvertrag vom … geplante Tariflohnerhçhung entfllt fr die Jahre …“ „Die gemß Tarifvertrag vom … geplante Tariflohnerhçhung tritt abweichend von § … des Tarifvertrages vom … erst am … in Kraft.“ „Die gemß Tarifvertrag vom … geplante Tariflohnerhçhung wird in den Jahren … auf … % gesenkt.“ „Die gemß Tarifvertrag vom … geplante Tariflohnerhçhung wird im Jahre … auf … %, im Jahre … auf … % und im Jahre … auf … % gesenkt.“ 2. Sanierungsbeiträge des Arbeitgebers/Beschäftigungssicherung Im Gegenzug zu den Beiträgen der Arbeitnehmer werden von den Gewerkschaften als Beitrag des Arbeitgebers Beschäftigungssicherungs- oder Standortsicherungsklauseln gefordert.
34
a) Standortsicherung Zur Vermeidung von Standortschließungen mit der Konsequenz zahlreicher Entlas- 35 sungen wird eine Standortsicherung für die Laufzeit des SanierungsTVs oder bis zu einem bestimmten Zeitpunkt vereinbart. So findet sich in einigen TVen beispielsweise folgende Formulierung: „Der Standort … des Unternehmens wird bis zum … abgesichert.“ 1 Vgl. LAG Düsseldorf v. 29.8.2007 – 12 Sa 921/07.
Moll
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Teil 12 Rz. 36
Der Sanierungstarifvertrag
36
Eine solche Regelung könnte in die durch Art. 12 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich garantierte Unternehmerfreiheit des Arbeitgebers eingreifen, wonach die Geschäftsführung des Unternehmens dem Arbeitgeber obliegt, verbunden mit den Entscheidungen darüber, ob, was und wo etwas hergestellt wird. Die Entscheidung darüber, ob ein Standort verlegt oder gar geschlossen wird, liegt grundsätzlich beim Unternehmen1. Allerdings ist zu beachten, dass es in der hier behandelten Konstellation nicht darum geht, eine vom Unternehmen geplante Standortverlegung/Standortschließung streikweise zu verhindern und dadurch die unternehmerische Entscheidung unmöglich zu machen, sondern es geht darum, einvernehmlich einen Ausgleich für die sanierungsbedingten Einschränkungen der Arbeitnehmer herbeizuführen. Indem der Arbeitgeber die Vereinbarung einer Standortsicherung trifft (ohne dazu streikweise gezwungen worden zu sein), beinhaltet seine – „freie“ – unternehmerische Entscheidung die Standorterhaltung. Dies ist grundsätzlich zulässig. Ein Verband kann eine solche Entscheidung nicht eigenmächtig treffen und in den SanierungsTV aufnehmen. Dies ist nur mit der ausdrücklichen Zustimmung des betroffenen Unternehmens denkbar. Im Rahmen eines HausTVs entscheidet der Arbeitgeber selbst darüber, auch Regelungen, die seine unternehmerischen Entscheidungen betreffen, in den TV aufzunehmen. Ein Streik um einen Standortsicherungsvertrag würde dagegen in die geschützte Unternehmerfreiheit des Arbeitgebers eingreifen und wäre rechtswidrig.
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Ein Streik um einen Standortsicherungsvertrag wäre nicht nur unzulässig, weil die Druckausübung die freie, geschützte unternehmerische Entscheidung vereitelt, sondern auch deshalb, weil eine Standortsicherungsklausel nicht (normativ) tariflich regelbar im Sinne des § 1 Abs. 1 TVG ist. Nach § 1 Abs. 1 TVG können Gegenstand tariflicher Regelungen Rechtsnormen sein, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen ordnen. Dies zeigt, dass tarifvertraglich über die Entscheidungen der Geschäftsleitung eines Unternehmens selbst nicht bestimmt werden kann und soll. Fragen der Unternehmenspolitik können grundsätzlich nicht normativ tariflich geregelt werden2. Die Standortsicherung eines Betriebes kann daher nicht Gegenstand des normativen Teils eines TVs gemäß § 1 Abs. 1 TVG sein3. Eine solche Standortsicherung kann lediglich im Rahmen des schuldrechtlichen Teils vereinbart werden4. Arbeitskämpfe dürfen jedoch nur zur Durchsetzung (normativ) tariflich regelbarer Ziele im Sinne des § 1 Abs. 1 TVG geführt werden5, so dass die Standortsicherung nicht streikweise erkämpft weden kann.
38
Das BAG hat zuletzt offen gelassen, ob die Tarifparteien durch eine Betriebsnorm i.S.d. § 3 Abs. 2 TVG Outsourcingmaßnahmen einem Zustimmungsvorbehalt zu 1 Vgl. LAG Hamm v. 31.5.2000 – 18 Sa 858/00, NZA-RR 2000, 535 hinsichtlich des Streiks um einen Standortsicherungsvertrag. 2 Vgl. MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 171 Rz. 14. Siehe rechtsvergleichend dazu auch Moll, Künstliche Beschäftigung im Kollektivvertragsrecht der USA und der Bundesrepublik Deutschland, 1982, S. 123 ff. 3 Vgl. Gaul, RdA 2008, 13 (18); Kaiser, FS Buchner, S. 385 (387). 4 Vgl. Buchner, DB-Beilage 9/2001, 1 (8); Franzen, ZfA 2005, 315 (329). 5 Vgl. Buchner, DB Beilage 9/2001, 1 (8); Franzen, ZfA 2005, 315 (329); Gaul, RdA 2008, 13 (18); Henssler, FS Buchner, 2009, S. 553 (555); Hohenstatt/Schramm, DB 2004, 2214 (2217); Kaiser, FS Buchner, 2009, S. 385 (387).
970 Moll
Inhaltliche Gestaltung und Formulierungshinweise
Rz. 40
Teil 12
Gunsten der Gewerkschaft unterwerfen können1. Es sieht derartige Regelungen allerdings regelmäßig nicht als solche mit normativer und zwingender Wirkung für das Arbeitsverhältnis an, sondern als schuldrechtliche Abrede zwischen den Tarifparteien. b) Ausschluss/Zahlenmäßige Beschränkung betriebsbedingter Kündigungen Regelmäßig zu finden sind Vereinbarungen hinsichtlich bestimmter Kündigungs- 39 beschränkungen oder vollständiger Kündigungsverzichte für die Laufzeit des SanierungsTVs oder einen bestimmten Zeitraum. Als Beendigungsnormen sind solche Regelungen gemäß § 1 Abs. 1 TVG tariflich regelbar2. Diesbezüglich sollte man zur Vermeidung von Auslegungsstreitigkeiten regeln, auf welchen Zeitpunkt (Zugang der Kündigung oder Ablauf der Kündigungsfrist) es ankommt. Regelt man, dass es auf den Zeitpunkt des Ablaufs der Kündigungsfrist ankommt, wäre ein Ausspruch der Kündigung noch während der Laufzeit des SanierungsTVs möglich, wenn der Ablauf der Kündigungsfrist nach dessen Beendigung liegt. „Whrend der Laufzeit dieses Vertrages sind betriebsbedingte Kndigungen ausgeschlossen. Der maßgebliche Zeitpunkt ist dabei der … (Ablauf der Kndigungsfrist) … (Zugang der Kndigung) …“ „Whrend der Laufzeit dieser Vereinbarung drfen insgesamt maximal … betriebsbedingte Kndigungen ausgesprochen werden.“ Oftmals befindet sich ein Unternehmen bereits so tief in wirtschaftlichen Schwie- 40 rigkeiten, dass eine Betriebsänderung im Sinne des § 111 BetrVG (z.B. die Einschränkung oder Stilllegung einzelner Betriebsteile mit der Konsequenz der Entlassung von Arbeitnehmern etc.) unumgänglich ist (Einzelheiten zum Tarifsozialplan unten Rz. 120 ff.). Die davon betroffenen Arbeitnehmer können im Rahmen eines Interessenausgleichs nach § 112 BetrVG beispielsweise die Möglichkeit erhalten, in eine Transfergesellschaft zu wechseln. Der SanierungsTV kann dann den Zweck haben, die übrigen noch im Unternehmen verbliebenen Arbeitnehmer zu Sanierungsbeiträgen zu verpflichten und diesen im Gegenzug Beschäftigungssicherung zu gewähren. Im SanierungsTV kann dann geregelt werden, dass betriebsbedingte personelle Maßnahmen ausschließlich im Rahmen eines Interessenausgleichs gemäß § 112 BetrVG erfolgen und darüber hinausgehende betriebsbedingte Kündigungen entweder ganz ausgeschlossen oder auf eine bestimmte Anzahl beschränkt werden. „(1) Die Umsetzung von betriebsbedingten personellen Maßnahmen aufgrund der geplanten Betriebsnderung (Anlage … dieses Vertrages) erfolgt nach Vereinbarung der Betriebsparteien im Rahmen eines Interessenausgleichs gemß § 112 BetrVG. (2) ber Abs. 1 hinausgehende betriebsbedingte Kndigungen werden fr die Laufzeit dieser Vereinbarung ausgeschlossen/auf insgesamt maximal … beschrnkt.“
1 Vgl. BAG v. 26.1.2011 – 4 AZR 159/09, AP Nr. 7 zu § 3 TVG Betriebsnormen. 2 Vgl. Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 1 TVG Rz. 100.
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Teil 12 Rz. 41 41
Der Sanierungstarifvertrag
Das „Ob“ der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ist als Beendigungsnorm im Sinne des § 1 Abs. 1 TVG grundsätzlich tariflich regelbar1. Die Vereinbarung des Ausschlusses ordentlicher betriebsbedingter Kündigungen ist richtigerweise als möglich und wirksam anzusehen. Ihre Grenze findet diese Regelung darin, dass das Recht zur außerordentlichen Kündigung auch aus betriebsbedingten Gründen nicht ausgeschlossen werden kann2: Unzumutbares kann nicht erzwungen werden. Es stellt sich allerdings hinsichtlich des vollständigen Ausschlusses betriebsbedingter Kündigungen über einen längeren Zeitraum u.U. die Frage nach einem Eingriff in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Unternehmerfreiheit des Arbeitgebers. Denn es wird das Recht des Unternehmers tangiert, autonom über die Größe seines Unternehmens und damit auch darüber zu entscheiden, in welchem Umfang er das Unternehmerrisiko zu tragen bereit ist3. Es ist auch hier zu beachten, dass es um die einvernehmliche Regelung dieser Kündigungsverzichte geht, der Arbeitgeber daher im Rahmen seiner Unternehmensautonomie frei entschieden hat, für die Laufzeit des TVs auf betriebsbedingte Kündigungen zu verzichten. Möchte er dies nicht und ruft deswegen die Gewerkschaft zum Streik auf, könnte dies einen Eingriff in die Unternehmerfreiheit darstellen4. Die Frage nach einem Eingriff in die Unternehmerfreiheit wird daher erst relevant, wenn die Gewerkschaft versucht, dem Unternehmer streikweise die unternehmerische Entscheidung über das „Ob“ des Ausspruchs betriebsbedingter Kündigungen aufzuzwingen. c) Vereinbarung von Voraussetzungen für betriebsbedingte Kündigungen
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Möglich und „weicher“ für den Arbeitgeber ist es, den Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen nicht generell auszuschließen, sondern von bestimmten Voraussetzungen wie beispielsweise Zustimmungserfordernissen abhängig zu machen. Dies ist grundsätzlich zulässig5. Die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung kann in TVen von der vorherigen Zustimmung des Betriebsrats oder der Gewerkschaft abhängig gemacht werden6. Eine derartige Regelung gehört zum normativen Teil des TVs. Es ist seit langem anerkannt, dass das Recht des Arbeitgebers, aus betrieblichen Gründen ordentlich zu kündigen, von der (vorherigen) Zustimmung des Betriebsrats oder der Gewerkschaft abhängig gemacht werden kann7. Eine solche erforderliche Zustimmung muss vor Ausspruch der Kündigung vorliegen. Eine nach Zugang der
1 Vgl. MünchArbR/Rieble/Klumpp, § 171 Rz. 44 (die den generellen Ausschluss des Kündigungsrechts als unverhältnismäßig ansehen). Siehe aber demgegenüber Gaul, RdA 2008, 13 (19) (der den Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen schon als nicht tariflich regelbar ansieht). 2 Vgl. Moll, FS Wiedemann, S. 333 (336) m.w.N. 3 Vgl. Franzen, ZfA 2005, 315 (335). 4 Vgl. Löwisch, RdA 2009, 253 (254); Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 711. Siehe aber auch LAG Köln v. 26.6.2000 – 7 Ta 160/00, NZA-RR 2001, 41 (Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen als zulässiges Streikziel). 5 Vgl. BAG v. 21.6.2000 – 4 AZR 379/99, AP Nr. 117 zu Art. 12 GG. 6 Vgl. BAG v. 24.2.2011 – 2 AZR 830/09, NZA 2011, 708. 7 Vgl. mit ausf. Nachw. aus der Rspr. etwa MünchArbR/Wank, § 100 Rz. 63 ff.; APS/Preis, Grundlagen J Rz. 10 ff.; Löwisch/Rieble, § 1 TVG Rz. 1954 ff. Gegen einen generellen gewerkschaftlichen Zustimmungsvorbehalt allerdings Berger, NZA 2015, 208 ff. (Beschränkung der Regelungsmacht auf den Ausschluss der ordentlichen Kündigung und einen Betriebsrats-Zustimmungsvorbehalt. Gewerkschaftlicher Zustimmungsvorbehalt nur unter bestimmten, differenzierten Voraussetzungen).
972 Moll
Inhaltliche Gestaltung und Formulierungshinweise
Rz. 43
Teil 12
Kündigung erteilte Zustimmung wirkt nicht gemäß § 184 BGB auf den Zeitpunkt der Kündigung zurück. Die ohne die erforderliche Zustimmung ausgesprochene Kündigung ist nach allgemeinen zivilrechtlichen Grundsätzen nicht genehmigungsfähig, sondern nichtig, da es sich um ein einseitiges, empfangsbedürftiges Rechtsgeschäft handelt1. Zulässig und sinnvoll ist es aber zu regeln, dass die Zustimmung als erteilt gilt, wenn sich der Betriebsrat/die Gewerkschaft nicht innerhalb einer Stellungnahmefrist – Länge mindestens nach § 102 Abs. 2 BetrVG – äußert2. „(1) Sollte das Ziel der Tarifvertragsparteien, volle Beschftigungssicherung zu gewhrleisten, in Einzelfllen nicht umsetzbar sein, sind betriebsbedingte Kndigungen whrend der Laufzeit dieser Vereinbarung nur mit Zustimmung des Betriebsrates mçglich. Die Zustimmung muss vor Ausspruch der Kndigung eingeholt worden sein. (2) Der Betriebsrat hat bei Verweigerung der Zustimmung dies dem Arbeitgeber schriftlich und unter Angabe der Grnde innerhalb einer Woche nach Unterrichtung durch den Arbeitgeber mitzuteilen. Teilt der Betriebsrat dem Arbeitgeber die Verweigerung seiner Zustimmung nicht innerhalb dieser Frist schriftlich mit, so gilt seine Zustimmung als erteilt.“
III. Sonstige Klauseln 1. Änderung der Geschäftsgrundlage Sinnvoll ist es, Regelungen für den Fall der Änderung der Geschäftsgrundlage zu ver- 43 einbaren. Der Begriff der Änderung der Geschäftsgrundlage sollte definiert werden. Im Interesse insbesondere eines möglichen Betriebserwerbers, der die Sanierung des Betriebs weiter betreiben möchte, sollte eine eventuelle Kündigungsmöglichkeit bei Änderung der Geschäftsgrundlage auf den Fall des Wegfalls des Sanierungsbedarfs beschränkt werden. Ist dies nicht der Fall und wird der Gewerkschaft ein Kündigungsrecht im Falle der Änderung der Geschäftsgrundlage eingeräumt, kann die Gewerkschaft auch nach einem Betriebsübergang den SanierungsTV gegenüber der anderen TV-Partei (Veräußerer oder Arbeitgeberverband) kündigen, mit der Konsequenz, dass dem SanierungsTV jedenfalls bei den übergegangenen Arbeitsverhältnissen keine Wirkung mehr zukommt. „(1) Fr den Fall der nderung der Geschftsgrundlage vereinbaren die Parteien, dass sie unverzglich nach Kenntniserlangung der maßgeblichen Umstnde in Verhandlungen ber eine mçgliche Anpassung dieser Vereinbarung eintreten. (2) Eine nderung der Geschftsgrundlage liegt beispielsweise vor, wenn – das Unternehmen verußert wird und kein Sanierungsbedarf mehr besteht – ein Betriebsinhaberwechsel stattfindet und kein Sanierungsbedarf mehr besteht – eine Umwandlung des Unternehmens oder von Teilen des Unternehmens vorgenommen wird und kein Sanierungsbedarf mehr besteht
1 Vgl. LAG Brandenburg v. 1.12.2005 – 3 Sa 161/05; LAG Hamm v. 17.9.2009 – 11 Sa 20/09. 2 Vgl. BAG v. 21.6.2000 – 4 AZR 379/99, AP Nr. 117 zu Art. 12 GG.
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Teil 12 Rz. 44
Der Sanierungstarifvertrag
– der Betrieb oder wesentliche Betriebsteile verlegt werden und kein Sanierungsbedarf mehr besteht – die Sanierung des Unternehmens als gescheitert angesehen werden muss, sptestens mit Stellung des Antrags auf Erçffnung des Insolvenzverfahrens. (3) Bleiben die Verhandlungen ohne Ergebnis, sind beide Parteien berechtigt, diese Vereinbarung ganz oder teilweise schriftlich mit sofortiger Wirkung zu kndigen.“ 2. Ausgleichsregelungen 44
Oftmals fordern die Gewerkschaften, für den Fall der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage des Unternehmens Ausgleichsregelungen für die geleisteten Sanierungsbeiträge der Arbeitnehmer in den Sanierungsvertrag aufzunehmen („Besserungsschein“). Bestimmt der SanierungsTV etwa, dass eine Arbeitszeiterhöhung ohne Entgeltausgleich stattfindet, können entsprechende Arbeitszeitkonten geführt werden, die bei Erreichung bestimmter betriebswirtschaftlicher Kennzahlen durch bezahlte Freizeit ausgeglichen werden. Auch ist es möglich, einen Ausgleich durch die Gewährung einer (einmaligen/monatlichen/jährlichen) Ausgleichszahlung in bestimmter oder ergebnisabhängiger Höhe vorzusehen.
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Insbesondere für den Fall des Scheiterns der geplanten Sanierung nach Abschluss des SanierungsTVs ist es zur Vermeidung von Streitigkeiten sinnvoll, bereits im SanierungsTV zu regeln, ob und ggf. wie die (im Ergebnis fehlgeschlagenen) Sanierungsbeiträge der Arbeitnehmer ausgeglichen werden. Die Arbeitnehmer müssen wissen, ob und ggf. welche Ansprüche sie ggf. in der Insolvenz haben. Ist beispielsweise der Ausgleich für geleistete Sanierungsstunden umfassend für den Fall der Erreichung bestimmter betriebswirtschaftlicher Kennzahlen geregelt, fehlt jedoch eine Ausgleichsregelung für den Fall des Scheiterns der Sanierung, so ergibt eine Auslegung der Klausel regelmäßig, dass ein Wille der Parteien zu einem solchen Ausgleich nicht erkennbar ist1. Allein das Fehlen einer ausdrücklichen Klausel zur Rückgewähr von Beiträgen der Arbeitnehmer bei Fehlschlagen der Sanierungsbemühungen bedeutet zwar nicht zwingend, dass solche Rückgewähransprüche nicht bestehen; es müssen sich jedoch anderweitige Anhaltspunkte im SanierungsTV finden lassen, die regelmäßig jedenfalls dann nicht vorliegen, wenn der Fall des Scheiterns im SanierungsTV angesprochen wird, ohne eine Rückgewähr zu regeln2. Die Tarifparteien wollen regelmäßig eine abschließende Regelung schaffen. Ebenso wenig lässt sich ein Rückgewähranspruch bei Scheitern der Sanierungsbemühungen aus den Grundsätzen über den Wegfall der Geschäftsgrundlage herleiten, insbesondere dann nicht, wenn die Tarifparteien eine Verhandlungspflicht für bestimmte Fälle geregelt haben. Ein Ausgleich der geleisteten Sanierungsstunden und somit eine Feststellung zur Insolvenztabelle scheidet dann aus. Es ist möglich und letztlich auch empfehlenswert, einen Ausgleich bei Scheitern der Sanierung oder für die sonstigen Fälle des Wegfalls der Geschäftsgrundlage entweder von vorneherein im SanierungsTV auszuschließen oder eine entsprechende Ausgleichsregelung konkret zu vereinbaren.
1 Vgl. BAG v. 8.10.2008 – 5 AZR 8/08, NZA 2009, 98 (Fall der Philipp Holzmann AG). 2 Vgl. LAG Hamm v. 14.7.2010 – 3 Sa 602/10, AE 2011, 133.
974 Moll
Inhaltliche Gestaltung und Formulierungshinweise
Rz. 46
Teil 12
Fr den Fall des Scheiterns der geplanten Sanierung und insbesondere im Fall des Antrags auf Erçffnung des Insolvenzverfahrens scheiden Ausgleichsansprche der Arbeitnehmer bezglich der von ihnen geleisteten Sanierungsbeitrge aus. 3. Differenzierungsklauseln SanierungsTVe machen nicht selten die Mitgliedschaft in der tarifschließenden Ge- 46 werkschaft zur Voraussetzung eines Anspruchs auf eine Arbeitgeberleistung. Haben die TV-Parteien die Gewährung von Sonderzahlungen nicht gänzlich gestrichen, findet sich beispielsweise folgende Formulierung: „Die (reduzierte) Jahressonderzahlung gemß § … dieser Vereinbarung wird fr die Mitarbeiter, die dem Geltungsbereich dieses Tarifvertrages unterliegen und ihre Zugehçrigkeit zur Tarifvertragspartei … in den Jahren … nachweisen kçnnen, um … Euro erhçht.“ Der Grund für die Häufigkeit derartiger Klauseln in SanierungsTVen liegt in dem Bestreben der Gewerkschaften, das ihren Mitgliedern (in Gestalt von Zugeständnissen bei Arbeitszeit, Entgelt oder sonstigen Arbeitsbedingungen) auferlegte Sanierungsopfer zumindest teilweise durch Sonderleistungen zu kompensieren1. Der 4. Senat des BAG hat beispielsweise über die folgende Klausel entschieden2: „Als Ersatzleistung wegen des Verzichts auf die Sonderzahlungen gemß § 19 des Haustarifvertrages der AWO-Gruppe erhalten die ver.di-Mitglieder der AWO-Gruppe in jedem Geschftsjahr zum 31. Juli eine Ausgleichszahlung in Hçhe von 535 Euro brutto je Vollzeitkraft gemß tariflicher Wochenarbeitszeit.“ Diese einfachen Differenzierungsklauseln sind dadurch gekennzeichnet, dass sie die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers unberührt lassen, ob er eine Gleichstellung der Außenseiter mit den Gewerkschaftsmitgliedern dadurch herbeiführt, dass er mit den Außenseiter-Arbeitnehmern (ausreichend deutlich) arbeitsvertraglich vereinbart, diese im Hinblick auf die im SanierungsTV zugesagten Sonderleistungen wie Gewerkschaftsmitglieder zu behandeln. Differenzierungsklauseln in Form von Tarifausschlussklauseln, die dem Arbeitgeber verbieten wollen, die Außenseiter-Arbeitnehmer über einzelvertragliche Regelungen in den Genuss der tarifvertraglichen Vergünstigung kommen zu lassen, sind unzulässig, weil sie sowohl die negative Koalitionsfreiheit der Außenseiter-Arbeitnehmer als auch die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers einschränken3. Differenzierungsklauseln in Form von Spannenklauseln, nach denen eine den Gewerkschaftsmitgliedern vorbehaltene Leistung dadurch abgesichert wird, dass sie für den Fall einer Kompensationsleistung des Arbeitgebers an nicht oder anders organisierte Arbeitnehmer das Entstehen eines entsprechend erhöhten Anspruchs für die Gewerkschaftsmitglieder vorsehen, sind wegen Überschreitung der Tarifmacht unwirksam. Denn durch diese Klausel „wird ein tariflicher Anspruch normativ begründet, der in Bestand und Höhe von vertraglichen Bedingungen zwischen dem tarif-
1 Vgl. Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Differenzierungsklauseln Rz. 1; Lelley/ Becker, BB 2015, 1397. 2 Vgl. BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, AP Nr. 41 zu § 3 TVG. 3 Vgl. HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 111.
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Teil 12 Rz. 46a
Der Sanierungstarifvertrag
gebundenen Arbeitgeber und nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern abhängig ist“1. Dies ist nicht zulässig. Die TV-Parteien sind nicht befugt, die einzelvertraglichen Gestaltungsmöglichkeiten der Arbeitsvertragsparteien mit zwingender Wirkung in diese Arbeitsverhältnisse hinein einzuschränken. Die Spannenklausel würde es dem Arbeitgeber rechtlich-logisch unmöglich machen, die vertraglichen Arbeitsbedingungen der nicht/anders organisierten Arbeitnehmer den tariflich normierten Arbeitsbedingungen der verbandsangehörigen Arbeitnehmer anzugleichen. Da qualifizierte Differenzierungsklauseln in Form von Tarifausschluss- oder Spannenklauseln von der Rechtsprechung für unwirksam gehalten werden2, haben sie in den letzten Jahren keine nennenswerte Bedeutung erlangt3. Der Grund dafür, dass sich einfache Differenzierungsklauseln in SanierungsTVen finden, ist der, dass der Arbeitgeber in Sanierungssituationen zu mehr Entgegenkommen bereit ist als sonst; denn grundsätzlich möchte der Arbeitgeber die Differenzierung zwischen organisierten und nicht organisierten Arbeitnehmern vermeiden. 46a Der 4. Senat des BAG hat (einfache) Differenzierungsklauseln für grundsätzlich zulässig erachtet4. Er hat zudem klargestellt, dass eine Bezugnahmeklausel, auch wenn sie als Gleichstellungsabrede auszulegen ist, nicht die Wirkung hat, dem betroffenen Außenseiter-Arbeitnehmer einen Anspruch darauf zu gewähren, in jeder Hinsicht wie ein Gewerkschaftsmitglied behandelt zu werden. Eine Gleichstellungsabrede ersetzt nicht die Gewerkschaftszugehörigkeit im Sinne der einfachen Differenzierungsklausel. 46b
Einfache Differenzierungsklauseln sind allerdings nicht grenzenlos zulässig. Ob eine Differenzierungsklausel zulässig ist, hängt von ihrer konkreten Ausgestaltung und den besonderen Einzelfallumständen ab. Maßstab bei der Überprüfung ist im Wesentlichen das Grundrecht der negativen Koalitionsfreiheit der Außenseiter-Arbeitnehmer. Sie dürfen nicht unter unzulässigen Druck zum Gewerkschaftsbeitritt gesetzt werden. Erforderlich ist damit eine Überprüfung der im Einzelfall konkret gewählten Ausgestaltung der Klausel. Literatur und Instanzgerichte haben aus der Entscheidungspraxis des 4. Senats – vorerst – den (zutreffenden) Schluss gezogen, dass die Wirksamkeit einer einfachen Differenzierungsklausel von Art und Höhe der Differenzierung abhängig ist5. Die dabei zu beachtenden Anforderungen müssen leider als unklar bezeichnet werden, da die Rechtsprechung des 4. Senats zu einfachen Differenzierungsklauseln in den letzten Jahren durch eine ausgesprochene Wechselhaftigkeit gekennzeichnet ist. Klarheit besteht nur insoweit, als dass das Grundrecht der negativen Koalitionsfreiheit 1 Vgl. BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920. 2 Siehe zu den verschiedenen Arten von Differenzierungsklauseln ausführlich Teil 5 (8) Rz. 4 ff. 3 Siehe allerdings zum Fall einer unzulässigen Spannenklausel BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, AP Nr. 147 zu Art. 9 GG. 4 Vgl. BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, AP Nr. 41 zu § 3 TVG (Sonderzahlung von 1/4 eines Monatsverdienstes); BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, NZA 2011, 920 (Erholungsbeihilfe von jährlich 260,00 Euro). 5 Vgl. LAG Hamm v. 12.6.2012 – 14 Sa 1275/11, LAGE Nr. 18 zu Art. 9 GG; Hessisches LAG v. 19.11.2012 – 17 Sa 134/12 und 17 Sa 285/12, Rz. 102 ff. bzw. 100 ff.; LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 30.10.2014 – 5 Sa 237/13, NZA-RR 2015, 363; LAG München v. 28.8.2013 – 10 Sa 135/13, Rz. 150 ff.; LAG Schleswig-Holstein v. 21.3.2012 – 6 Sa 256/11; Thüsing/Braun/Mengel/Burg, Tarifrecht, 5. Kap. Differenzierungsklauseln Rz. 11; Greiner/Suhre, NJW 2010, 131; Lunk/Leder/Seidler, RdA 2015, 399, 400; Spielberger, NJW 2010, 170 f.
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Inhaltliche Gestaltung und Formulierungshinweise
Rz. 46d Teil 12
der Außenseiter-Arbeitnehmer der Maßstab bei der Überprüfung einfacher Differenzierungsklauseln ist. Die Außenseiter-Arbeitnehmer dürfen nicht unter unzulässigen Druck zum Gewerkschaftsbeitritt gesetzt werden. Aus dieser Prämisse hat der 4. Senat allerdings im Laufe der Zeit unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen. Der 4. Senat des BAG hat in der Entscheidung vom 18. März 2009 über eine Aus- 46c gleichszahlung entschieden1. Diese entsprach etwa einem Viertel einer Monatsvergütung und machte nicht mehr als zwei Jahresgewerkschaftsmitgliedsbeiträge aus. Der 4. Senat des BAG hat in der Entscheidung die Auffassung vertreten, dass eine einfache Differenzierungsklausel bereits strukturell keinen unzulässigen unmittelbaren Druck auf die Außenseiter ausüben könne, da sie die Handlungs- und insbesondere Vertragsfreiheit des tarifgebundenen Arbeitgebers nicht einschränke. Der Arbeitgeber sei durch die Differenzierungsklausel nicht daran gehindert, in Ausübung seiner Vertragsfreiheit den Außenseiter schuldrechtlich so zu stellen, als sei er Gewerkschaftsmitglied. Der 4. Senat hat zusätzlich ausgeführt, dass die Klausel jedenfalls in ihrer konkreten Ausgestaltung nicht rechtswidrig sei, und darauf abgestellt, dass die im SanierungsTV zugunsten der Gewerkschaftsmitglieder vereinbarte Sonderleistung weder ihrer konkreten Art noch ihrer absoluten Höhe nach geeignet sein dürfe, einen unzulässigen Druck zum Gewerkschaftsbeitritt auf die Außenseiter auszuüben2. Weiterhin dürfe die Differenzierungsklausel nicht an die Regelungen des Austauschverhältnisses von Leistung und Gegenleistung anknüpfen, die Grundlage des laufenden Lebensunterhaltes sind, und dadurch in den Kernbereich der Lohnfindung eingreifen3. Diesen Ansatz hat der 4. Senat in der Entscheidung vom 22. September 2010 fortgeführt und ausgesprochen, dass eine einfache Differenzierungsklausel die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers nicht einschränke. „Hilfsweise und ergänzend“ hat er darauf abgestellt, dass die Gewährung eines einmaligen Festbetrags von 250 Euro brutto und eines zusätzlichen Urlaubstags an die Gewerkschaftsmitglieder weder der Art noch der Höhe nach geeignet sei, einen unverhältnismäßigen Zwang auf die Außenseiter auszuüben, zumal es sich bei dem Festbetrag um eine zwei Mal jährlich und damit außerhalb des laufenden Austauschverhältnisses liegende Leistung handele. Insgesamt betrage die Gesamtjahreszusatzleistung für die Gewerkschaftsmitglieder etwa ein Zehntel einer Monatsvergütung. Ein verständiger Arbeitnehmer werde im Hinblick darauf keinen mit Zwang vergleichbaren Druck verspüren, von seiner Entscheidung gegen eine Gewerkschaftszugehörigkeit Abstand zu nehmen4. Dasselbe hat der 4. Senat in der Entscheidung vom 23. März 2011 hinsichtlich einer einmal jährlich fällig werdenden „Erholungsbeihilfe“ in Höhe von 260 Euro angenommen5. Der 4. Senat scheint ab dem Jahr 2012 in anderer personeller Zusammensetzung einen Richtungswechsel vollzogen zu haben. In der Entscheidung vom 5. September 2012 hat er die Höhe der Sonderzahlung, die den Gewerkschaftsmitgliedern vorbehalten war, bei der Prüfung der Wirksamkeit der tariflichen Regelung nicht thematisiert6. In der Entscheidung vom 21. August 2013 hat der 4. Senat mit der – zu seiner
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Vgl. BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, AP Nr. 41 zu § 3 TVG. Vgl. BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, AP Nr. 41 zu § 3 TVG. Vgl. BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, AP Nr. 41 zu § 3 TVG. Vgl. BAG v. 22.9.2010 – 4 AZR 117/09, AP Nr. 144 zu Art. 9 GG. Vgl. BAG v. 23.3.2011 – 4 AZR 366/09, AP Nr. 147 zu Art. 9 GG. Vgl. BAG v. 5.9.2012 – 4 AZR 696/10, AP Nr. 53 zu § 3 TVG.
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46d
Teil 12 Rz. 46e
Der Sanierungstarifvertrag
früheren Rechtsprechung konträren – Behauptung überrascht, dass es für die Feststellung, ob durch die Gewährung einer Sonderzahlung an Gewerkschaftsmitglieder ein unzulässiger Druck auf Außenseiter ausgeübt werde, auf die Höhe der Sonderzahlung gar nicht ankomme1. In beiden Entscheidungen hat es der 4. Senat unterlassen, sich mit seiner früheren Rechtsprechung auseinanderzusetzen. Er hat sie an den entscheidenden Stellen nicht einmal zitiert. Den vorläufigen Höhepunkt dieser (Fehl-)Entwicklung markiert die Entscheidung des 4. Senats vom 15. April 20152. In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall war in einem Ergänzungstransfer- und SozialTV für Mitglieder der tarifschließenden Gewerkschaft zu einem bestimmten Stichtag ein um 10 % höheres Bruttomonatseinkommen sowie eine um 10 000 Euro erhöhte Abfindung vereinbart worden. Diese Besserstellung der Gewerkschaftsmitglieder gegenüber den Außenseiter-Arbeitnehmern hätte der 4. Senat auf der Grundlage seiner früheren Rechtsprechung sowohl der Art als auch der Höhe nach als unzulässig verwerfen müssen. Zum einen handelte es sich bei den laufenden monatlichen Zahlungen schon nicht um außerhalb des laufenden Austauschverhältnisses liegende Sonderleistungen des Arbeitgebers, die einer Differenzierung überhaupt zugänglich gewesen wären3. Zum anderen war die Begünstigung der Gewerkschaftsmitglieder der Höhe nach derart massiv, dass auf die übrigen Arbeitnehmer ein unzulässiger wirtschaftlicher Druck ausgeübt wurde4. Nach den Grundsätzen des 4. Senats aus seinen früheren Entscheidungen wäre die Differenzierung demnach nicht wirksam gewesen5. Der 4. Senat hat die Regelungen des Ergänzungstransfer- und SozialTV gleichwohl umfassend gebilligt. Er führt gegenüber der Möglichkeit einer Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit durch die Bevorteilung der Gewerkschaftsmitglieder an, der von den tariflichen Regelungen ausgehende bloße Anreiz zum Koalitionsbeitritt sei unerheblich und lasse sich ohne Weiteres durch die Gestaltung der individualvertraglichen Regelungen minimieren6. 46e Einfache Differenzierungsklauseln sind nach diesem Stand der Rechtsprechung „maßlos“ zulässig7. Dieser Rechtsprechungsentwicklung kann nicht gefolgt werden8. Der Umfang der Differenzierung ist richtigerweise ein maßgebliches Kriterium für die Zulässigkeit einer einfachen Differenzierungsklausel. Der fehlende unmittelbare rechtliche Druck auf das Recht des Arbeitnehmers, einer Koalition fernzubleiben, schließt eine unzulässige Beeinträchtigung der negativen Koalitionsfreiheit durch einen mittelbaren wirtschaftlichen Druck zum Gewerkschaftsbeitritt nicht strukturell aus9. Ein solcher besteht, wenn von der tariflichen Regelung ein erheblicher wirtschaftlicher Zwang ausgeht, sich der Gewerkschaft anzuschließen, die den SanierungsTV abgeschlossen hat. Die Grenze liegt dort, wo die Nachteile so groß werden, dass eine Nichtmitgliedschaft auch bei Berücksichtigung politischer Bedenken keine
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Vgl. BAG v. 21.8.2013 – 4 AZR 861/11, AP Nr. 55 zu § 3 TVG. Vgl. BAG v. 15.4.2015 – 4 AZR 796/13, NZA 2015, 1388. Siehe zutreffend Kalb, jM 2015, 107, 113. So das in der Vorinstanz mit einem Parallelverfahren befasste LAG München v. 28.8.2013 – 10 Sa 135/13, Rz. 150. Vgl. Siegfanz-Strauß, RdA 2015, 266, 268. Vgl. BAG v. 15.4.2015 – 4 AZR 796/13, NZA 2015, 1388. Vgl. Siegfanz-Strauß, RdA 2015, 266, 267. Siehe kritisch dazu Giesen, RdA 2014, 78, 86. Vgl. LAG Hamm v. 12.6.2012 – 14 Sa 1275/11, LAGE Nr. 18 zu Art. 9 GG.
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Inhaltliche Gestaltung und Formulierungshinweise
Rz. 47a Teil 12
vernünftige Entscheidung mehr wäre1. Man mag wertmäßig eine Differenzierung in Höhe von maximal einem durchschnittlichen Monatsgehalt pro Jahr für vertretbar erachten2. Ein um 10 % höheres Bruttomonatseinkommen, das für einen Zeitraum von 24 Monaten zugesagt wird, geht jedenfalls zu weit. Es führt bei den Außenseitern zu einem massiven wirtschaftlichen Druck, sich der Gewerkschaft anzuschließen, und damit zu einer unzulässigen Beeinträchtigung ihres Grundrechts auf negative Koalitionsfreiheit3. Eine vergleichbare Problematik ist bei den vermehrt zu beobachtenden Stichtagsrege- 47 lungen zu berücksichtigen. Sie führen dazu, dass die Leistung der Sonderzahlung von der Gewerkschaftszugehörigkeit zu einem bestimmten, regelmäßig kurz vor dem Zeitpunkt des TV-Abschlusses liegenden Stichtag abhängig gemacht wird. So wurde beispielsweise in einem vom BAG entschiedenen Fall zwischen den TV-Parteien am 26. Juni 2003 Folgendes vereinbart4: „Mit Wirkung ab 1.10.2003 wird ein Tarifvertrag ber eine monatliche Vergtung von 55 Euro abgeschlossen. Dieser Tarifvertrag gilt nur fr Arbeitnehmer, welche seit dem 1.6.2003 Mitglied der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie sind und bleiben.“ Eine Differenzierungsklausel mit Stichtagsregelung hat für die Außenseiter einschneidendere Rechtsfolgen als eine (bloße) einfache Differenzierungsklausel, da sie ihnen die Sonderzahlung selbst im Falle eines Gewerkschaftsbeitritts nach dem Stichtag verwehrt. Sie steht damit im Widerspruch zu den Grundsätzen der §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG, wonach die Geltung von Rechtsnormen eines TV hinsichtlich der Tarifgebundenheit allein von dem Beginn der Mitgliedschaft abhängig ist, so dass mit dem Beitritt zur Gewerkschaft grundsätzlich gegenüber einem tarifgebundenen Arbeitgeber ein Anspruch auf die tariflichen Leistungen begründet wird5. Der 4. Senat des BAG hat eine solche Klausel in seiner Entscheidung vom 9. Mai 2007 47a für unwirksam gehalten. Er hat die Unwirksamkeit der Klausel mit einer Verletzung der positiven Koalitionsfreiheit der nach dem Stichtag eintretenden Arbeitnehmer begründet: Die Klausel bewirke, dass „ein Arbeitnehmer, der der zuständigen Gewerkschaft erst nach dem Stichtag beitritt, […] hinsichtlich der Tariflohnerhöhung nicht […] an den von seiner Gewerkschaft für die bei ihr organisierten Arbeitnehmer erreichten Verhandlungsergebnissen [teilnimmt]. Auf diese Weise wird ihm der wesentliche Ertrag eines Gewerkschaftsbeitritts verwehrt, worin auch eine Beeinträchtigung der positiven Koalitionsfreiheit gesehen werden kann.“6 Der 4. Senat hat zwar später in der Entscheidung vom 18. März 2009 in erster Linie das Grundrecht der negativen Koalitionsfreiheit der Außenseiter-Arbeitnehmer zum Maßstab für die Überprüfung 1 Vgl. LAG Hamm v. 12.6.2012 – 14 Sa 1275/11, LAGE Nr. 18 zu Art. 9 GG; Deinert, RdA 2014, 129, 134; Kalb, jM 2015, 107, 112. 2 Vgl. Kalb, jM 2015, 107, 112; Lelley/Becker, BB 2015, 1397, 1400 f. Anders Deinert, RdA 2014, 129, 134 (Differenzierung um bis zu 1/3); Däubler/Heuschmid, RdA 2013, 1, 5 f. (eine Umfangsbeschränkung generell ablehnend). 3 Vgl. Kalb, jM 2015, 107, 112 f. 4 Vgl. BAG v. 9.5.2007 – 4 AZR 275/06, AP Nr. 23 zu § 3 TVG Verbandszugehörigkeit. 5 Vgl. BAG v. 9.5.2007 – 4 AZR 275/06, AP Nr. 23 zu § 3 TVG Verbandszugehörigkeit. 6 Vgl. BAG v. 9.5.2007 – 4 AZR 275/06, AP Nr. 23 zu § 3 TVG Verbandszugehörigkeit. Ebenso LAG Hamm v. 12.6.2012 – 14 Sa 1275/11, LAGE Nr. 18 zu Art. 9 GG.
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Teil 12 Rz. 47b
Der Sanierungstarifvertrag
von einfachen Differenzierungsklauseln erhoben1. Differenzierungsklauseln mit Stichtagsregelungen sind aber auch unter Zugrundelegung dieses Maßstabs jedenfalls dann nicht zu rechtfertigen, wenn den begünstigten Gewerkschaftsmitgliedern ohne sachliche Rechtfertigung überproportionale Vorteile gewährt werden, die notwendigerweise zu Abstrichen bei den Leistungen an die Außenseiter führen2. Derartige Klauseln verletzen sowohl die individuelle positive Koalitionsfreiheit der später eintretenden Gewerkschaftsmitglieder als auch die individuelle negative Koalitionsfreiheit der Außenseiter aus Art. 9 Abs. 3 GG3. 47b
Der 4. Senat hat letztendlich an dem Verdikt aus seiner Entscheidung vom 9. Mai 2007 nicht festgehalten. Ebenso, wie er sich von Art und Höhe der Differenzierung als Zulässigkeitskriterium für einfache Differenzierungsklauseln distanziert hat, hat er sich ab dem Jahr 2012 von seiner Judikatur zu Differenzierungsklauseln mit Stichtagsregelung gelöst. In den Entscheidungen vom 5. September 2012, vom 21. August 2013 und vom 15. April 2015 hat er ausgesprochen, dass die TV-Parteien eine Mitgliedschaft in der tarifschließenden Gewerkschaft zu einem Stichtag als Anspruchsvoraussetzung formulieren könnten, solange der Stichtag nicht willkürlich gewählt werde, sondern es einen sachlichen Grund für ihn gebe4. Der 4. Senat ist nunmehr der Auffassung, es handele sich bei einer derartigen Klausel schon gar nicht um eine einfache Differenzierungsklausel: Es werde durch die Stichtagsregelung gar keine Differenzierung zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und Außenseitern, sondern nur eine „Binnendifferenzierung“ zwischen verschiedenen Gruppen von Gewerkschaftsmitgliedern vorgenommen – solchen, die vor dem Stichtag Gewerkschaftsmitglieder waren, und solchen, die erst nach dem Stichtag eintreten5.
47c
Dem ist nicht zuzustimmen. Eine Klausel, die nach dem Stichtag eintretende Gewerkschaftsmitglieder von der Sonderzahlung ausnimmt, trifft entgegen der Auffassung des 4. Senats sehr wohl eine Differenzierung zwischen den (am Stichtag) organisierten Arbeitnehmern und den Außenseitern6. Die Gewerkschaftsmitglieder, die nach dem Stichtag eintreten, sind am Stichtag selbstredend Außenseiter. Die Stichtagsklausel schließt sie nicht nur im Zeitpunkt des TV-Abschlusses von der Sonderzahlung aus. Die Stichtagsregelung macht es ihnen auch unmöglich, durch einen nach TV-Abschluss vollzogenen Gewerkschaftsbeitritt in den Genuss der Sonderzahlung zu kommen. Die Mitgliedschaft in der tarifschließenden Gewerkschaft (zu einem bestimmten Stichtag sogar) wird zur Anspruchsvoraussetzung gemacht. Es liegen daher (mindestens) die Wirkungen einer einfachen Differenzierungsklausel vor7. Als solche muss sich die Regelung am Maßstab der negativen Koalitionsfreiheit der Außenseiter-Arbeitnehmer und – da durch die Stichtagsregelung auch später eintretende Gewerkschaftsmitglieder von der Sonderzahlung ausgeschlossen werden – zusätzlich am Grundrecht der positiven Koalitionsfreiheit dieser Arbeitnehmer aus 1 2 3 4
Vgl. BAG v. 18.3.2009 – 4 AZR 64/08, AP Nr. 41 zu § 3 TVG. So auch LAG München v. 28.8.2013 – 10 Sa 135/13, Rz. 150. Vgl. Kalb, jM 2015, 107, 112; a.A. Däubler/Heuschmid, RdA 2013, 1, 5. Vgl. BAG v. 5.9.2012 – 4 AZR 696/10, AP Nr. 53 zu § 3 TVG; BAG v. 21.8.2013 – 4 AZR 861/11, AP Nr. 55 zu § 3 TVG; BAG v. 15.4.2015 – 4 AZR 796/13, NZA 2015, 1388. 5 Vgl. BAG v. 15.4.2015 – 4 AZR 796/13, NZA 2015, 1388. Ebenso Helm, NZA 2015, 1437, 1438. 6 So überzeugend Greiner, NZA 2016, 10, 13; Siegfanz-Strauß, RdA 2015, 266, 268. 7 So auch LAG München v. 28.8.2013 – 10 Sa 135/13, Rz. 143.
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Inhaltliche Gestaltung und Formulierungshinweise
Rz. 47c Teil 12
Art. 9 Abs. 3 GG messen lassen. Das Schrifttum hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die negative Koalitionsfreiheit der Außenseiter sogar intensiver betroffen sein dürfte als bei einer „normalen“ einfachen Differenzierungsklausel1. Der dagegen angeführte Einwand2, dass ein unzulässiger Beitrittsdruck gar nicht entstehen könne, wenn der Stichtag im Zeitpunkt des Inkrafttretens des SanierungsTVs bereits in der Vergangenheit liege, geht fehl. Verglichen mit einer (bloßen) einfachen Differenzierungsklausel führt eine Differenzierungsklausel mit in der Vergangenheit liegendem Stichtag im Gegenteil gerade zu einer Intensivierung der Grundrechtsbetroffenheit: Sie nimmt dem Außenseiter die Möglichkeit einer autonomen Entscheidung, ob er den von der Differenzierungsklausel ausgehenden Anreiz zum Anlass für einen Gewerkschaftsbeitritt nehmen möchte oder nicht. Der Außenseiter wird zum einflusslosen Objekt einer ihn gezielt treffenden Benachteiligung. Die Klausel bietet letztlich gar keinen Anreiz zum Gewerkschaftsbeitritt, sondern zielt nur darauf ab, den Außenseiter dafür zu sanktionieren, dass er der Gewerkschaft in der Vergangenheit ferngeblieben ist. Eine stärkere Beeinträchtigung des Fernbleiberechts der Außenseiter und damit ihrer negativen Koalitionsfreiheit ist kaum vorstellbar3. Die Entscheidung vom 15. April 2015 führt deutlich vor Augen, dass eine Differenzierungsklausel mit Stichtagsregelung zu einer unzulässigen Grundrechtsbeeinträchtigung führt. Für Arbeitnehmer, die nach dem Stichtag der Gewerkschaft beitraten, blieb ihr Beitritt für 24 Monate im Hinblick auf die laufenden monatlichen Zahlungen der Transfergesellschaft unberücksichtigt, was eine Verletzung ihrer positiven Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG darstellte4. Für die Außenseiter ergaben sich durch die Vergünstigungen zugunsten der Gewerkschaftsmitglieder nicht zu rechtfertigende Einbußen. Durch die Gewährung einer zusätzlichen Abfindungszahlung in Höhe von 10 000 Euro sowie eines um 10 Prozentpunkte höheren Bruttomonatseinkommens wurden den Gewerkschaftsmitgliedern überproportionale Vorteile eingeräumt, die weder aus dem durch den SanierungsTV geregelten Verzicht auf tarifliche Rechte noch aus jahrelangen Beitragszahlungen an die Gewerkschaft gerechtfertigt werden konnten5. Es ist kaum nachvollziehbar, weshalb die Außenseiter, die mit ihren Sanierungsbeiträgen genauso wie die Gewerkschaftsmitglieder zur Sanierung des Unternehmens beigetragen und damit letztlich die „Masse“ miterwirtschaftet haben, die für den Nachteilsausgleich zur Verfügung steht, für deutliche finanzielle Vorteile der Gewerkschaftsmitglieder herangezogen werden sollen, ohne ihrerseits begünstigt zu werden, wenn diese Situation nur durch einen in der Vergangenheit liegenden Gewerkschaftsbeitritt hätte abgewendet werden können6. Das Schrifttum hat angesichts dessen darauf hingewiesen, dass eine geradezu kollusive Verhandlungssituation zum Schaden Dritter entstehe mit der Konsequenz einer Sanierung auf Kosten der Nichtorganisierten7. Der 4. Senat hat der tariflichen Regelung gleichwohl sein höchstrichterliches Plazet erteilt. Die sich daraus für die Vereinbarung von SanierungsTVen ergebenden Konsequenzen sind verheerend: „Falls eine solche Verhandlungsstrategie als zulässig ein-
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Vgl. Greiner, NZA 2016, 10, 13. So Helm, NZA 2015, 1437, 1438. Vgl. zutreffend Greiner, NZA 2016, 10, 13, 15. So auch LAG München v. 28.8.2013 – 10 Sa 135/13, Rz. 146. So auch LAG München v. 28.8.2013 – 10 Sa 135/13, Rz. 150; Kalb, jM 2015, 107, 112 f. Vgl. LAG Hamm v. 12.6.2012 – 14 Sa 1275/11, LAGE Nr. 18 zu Art. 9 GG. Vgl. Greiner, NZA 2016, 10, 14; Greiner/Suhre, NJW 2010, 131, 134; Kalb, jM 2015, 107, 113.
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Teil 12 Rz. 48
Der Sanierungstarifvertrag
gestuft würde, wäre zukünftig eine massive Verschiebung in Tarifverhandlungen bei Sanierungsvorhaben ohne sachliche Rechtfertigung zu Lasten von Nichtgewerkschaftsmitgliedern zu erwarten.“1 Die Arbeitgeberseite muss sich im Rahmen von Verhandlungen um einen SanierungsTV jedenfalls auf entsprechende Forderungen der Gewerkschaftsseite einstellen. 48
Das Ziel einer Besserstellung von Gewerkschaftsmitgliedern bei Sanierungen lässt sich nicht nur über Differenzierungsklauseln erreichen. Eine alternative Gestaltungsmöglichkeit besteht darin, den Arbeitgeber durch schuldrechtliche Vereinbarungen zu verpflichten, gewerkschaftsnahe Vereine und Einrichtungen mit Finanzmitteln auszustatten, die von diesen ausschließlich an Gewerkschaftsmitglieder ausgezahlt werden. Eine solche Konstruktion war Gegenstand der Entscheidung des 4. Senats des BAG vom 21. Mai 20142. In Zusammenhang mit dem Abschluss mehrerer Sanierungsvereinbarungen zwischen den TV-Parteien unterzeichnete der Arbeitgeber eine Beitrittsvereinbarung mit dem „Verein zur Förderung von Gesundheit und Erholung der saarländischen Arbeitnehmer e.V.“. In der Beitrittsvereinbarung verpflichtete der Arbeitgeber sich zur Zahlung eines einmaligen Mitgliedsbeitrags in Höhe von mindestens 8 Millionen Euro, der vom Verein satzungsgemäß mit der Maßgabe zu verwenden war, „Erholungsbeihilfen“ an die Beschäftigten des Arbeitgebers zu zahlen. Ausweislich der Vereinssatzung, auf die in der Beitrittsvereinbarung Bezug genommen wurde, konnten nur in der IG Metall organisierte Arbeitnehmer leistungsberechtigt sein. Ein nicht organisierter Arbeitnehmer klagte auf Leistung, weil er den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt sah. Dem ist der 4. Senat nicht gefolgt. Er hat einen Anspruch des Außenseiter-Arbeitnehmers auf die „Erholungsbeihilfe“ verneint3. Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz finde schon keine Anwendung, da die Vermutung der Angemessenheit kollektiv ausgehandelter Tarifvereinbarungen nicht nur für nach § 4 Abs. 1 TVG unmittelbar und zwingend geltende Tarifverträge, sondern auch für schuldrechtliche Vereinbarungen zwischen tariffähigen Vertragsparteien und damit auch für die Beitrittsvereinbarung als Teil einer umfassenden kollektiven (Sanierungs-)Vereinbarung gelte4.
48a Dies ist zu hinterfragen. Der 4. Senat geht in der Entscheidung vom 21. Mai 2014 mit keinem Wort auf die negative Koalitionsfreiheit des Außenseiter-Arbeitnehmers ein. Leistungen aus schuldrechtlichen Vereinbarungen können ebenso wie normative Regelungen einen unzulässigen Beitrittsdruck entfalten5. Die Leistungsgewährung über gewerkschaftsnahe Vereine muss daher den gleichen Kriterien unterliegen wie einfache Differenzierungsklauseln. Der 4. Senat hätte prüfen müssen, ob von der Gewährung der „Erholungsbeihilfe“ an die Gewerkschaftsmitglieder ein unzulässiger wirtschaftlicher Druck auf die Außenseiter ausging, der IG Metall beizutreten. Dass der 4. Senat eine Rechtfertigung der Differenzierung unüberprüft lässt, bewirkt, dass eine Besserstellung von Gewerkschaftsmitgliedern über den Umweg gewerkschaftsnaher Vereine auch „maßlos“ erlaubt zu sein scheint6. 1 2 3 4 5
Vgl. LAG München v. 28.8.2013 – 10 Sa 135/13, Rz. 153. Vgl. BAG v. 21.5.2014 – 4 AZR 50/13, AP Nr. 220 zu § 242 BGB Gleichbehandlung. Vgl. BAG v. 21.5.2014 – 4 AZR 50/13, AP Nr. 220 zu § 242 BGB Gleichbehandlung. Vgl. BAG v. 21.5.2014 – 4 AZR 50/13, AP Nr. 220 zu § 242 BGB Gleichbehandlung. Ebenso Bauer/Arnold, NZA 2011, 945, 949; Lunk/Leder/Seidler, RdA 2015, 399, 405; Siegfranz-Strauß, RdA 2015, 266 ff. Siehe auch oben Teil 5 (8) Rz. 17. 6 Vgl. Siegfanz-Strauß, RdA 2015, 266 ff.
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Inhaltliche Gestaltung und Formulierungshinweise
Rz. 51
Teil 12
4. Sanierungsrisiko Ein Problem im Wesentlichen aus Arbeitnehmersicht stellt das Sanierungsrisiko dar. 49 Die BAG-Entscheidung vom 25. April 2007 bietet dazu ein anschauliches Beispiel1. Das Flugunternehmen AeroLloyd hatte 1998 mit der Gewerkschaft einen FirmenTV geschlossen, der Personalkostensenkungen gegen einen Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen vorsah. Dem folgte, weil das Unternehmen nicht auf die Beine kam, im Jahre 2002 ein FirmenTV mit ähnlichem Inhalt. Seitens des Unternehmens wurde eine Beschäftigungsgarantie gegeben. Seitens der Gewerkschaft wurde auf Entgeltleistungen verzichtet. Die Sanierungsbemühungen blieben erfolglos, und das Unternehmen ging in die Insolvenz. Ergebnis: Die Arbeitnehmer hatten zwar auf Bezüge verzichtet. Die Beschäftigungssicherung wurde jedoch in der Insolvenz wertlos. § 113 InsO ermöglicht die Kündigung der Arbeitsverhältnisse mit einer Frist von drei Monaten auch bei tariflichem Ausschluss des Kündigungsrechts. Die Gewerkschaften bringen nach derartigen Erfahrungen mittlerweile als Bestandteil von SanierungsTVen Klauselvorschläge in die Verhandlungen ein, die – da die Beschäftigungssicherung nicht aufrecht zu erhalten ist – die Vergütungszugeständnisse zurücknehmen. Dies ist arbeitsrechtlich möglich und insolvenzrechtlich nicht zu beanstanden. Eine bekannt gewordene Klausel lautet z.B.2:
50
„Diese Sonderregelung ist fr den Fall, dass von berechtigter Seite Insolvenzantrag gestellt oder dass der Betrieb stillgelegt wird, von Anfang an gegenstandslos. In diesem Fall sind unverzglich die Ansprche auf volle Leistungen zu berechnen und an die betroffenen Arbeitnehmer zu zahlen.“ Eine derartige auflösende Bedingung lässt den Anspruch auf die ungekürzten Bezüge wieder aufleben. Regelungsmöglichkeiten und Regelungsproblematik werden in der Entscheidung des 51 BAG vom 19. Januar 2006 deutlich3. Eine Arbeitnehmerin hatte in einer Änderungsvereinbarung zum Arbeitsvertrag zu Sanierungszwecken Arbeitszeit und Entgelt reduziert. Die Änderungsvereinbarung war u.a. durch die Insolvenzeröffnung auflösend bedingt. Der Arbeitnehmerin sollte dann für die letzten zwölf Monate vor ihrem Ausscheiden bei ursprünglicher Arbeitszeit die volle Vergütung zustehen. Das BAG hat den (auflösend bedingten) Anspruch der Arbeitnehmerin auf volles Arbeitsentgelt für den Zeitraum ab Insolvenzeröffnung als Masseschuld angesehen (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO). Es habe sich nicht nur um einen aufschiebend bedingten Anspruch gehandelt. Die Vertragsänderung (Arbeitszeit- und Vergütungsherabsetzung) habe vielmehr unter einer auflösenden Bedingung gestanden. Der Verzicht sollte nur bis zu dem Zeitpunkt wirksam sein, in dem die Sanierungsbemühungen scheiterten. Die auflösende Bedingung sei mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens eingetreten. Die – ursprüngliche – Vertragslage habe aufgrund des Eintritts der auflösenden Bedingung bestanden. Die resultierenden Ansprüche bzw. Pflichten seien seit Insolvenzeröffnung für die Zeit ab Insolvenzeröffnung zu erfüllen gewesen. Das BAG stellt (abschließend) klar, dass eine derartige Vereinbarung weder der Insolvenzanfechtung un1 Vgl. BAG v. 25.4.2007 – 6 AZR 622/06, AP Nr. 23 zu § 113 InsO. 2 Vgl. BAG v. 11.11.2010 – 8 AZR 392/09, NZA 2011, 763. 3 Vgl. BAG v. 19.1.2006 – 6 AZR 529/04, AP Nr. 13 zu § 55 InsO.
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Teil 12 Rz. 51a
Der Sanierungstarifvertrag
terliegt noch sittenwidrig ist1. Die Entgeltansprüche für die Zeit vor Insolvenzeröffnung waren danach Insolvenzforderungen (§§ 38, 108 Abs. 1 Satz 1 InsO). 51a Das BAG hat folgerichtig in einem Fall den Masseschuldcharakter (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO) abgelehnt, in dem bei Mehrarbeit ein Vergütungsanspruch aufgrund SanierungsTVs ausgeschlossen gewesen und erst aufgrund kündigungsbedingten Ausscheidens entstanden ist2. Es hat darauf abgestellt, dass die Mehrarbeit in der Zeit vor Insolvenzeröffnung stattgefunden habe und nicht der Masse zugute gekommen sei. 51b
Die evtl. gekürzte Vergütung nach dem SanierungsTV wirkt sich auf die Berechnung des Arbeitslosengeldes aus3.
E. Wirkungen I. Verhältnis zwischen Verbandstarifvertrag und Sanierungstarifvertrag 52
Die Frage, ob der SanierungsTV einen bisher geltenden VerbandsTV verdrängt, hängt zunächst einmal davon ab, ob Arbeitgeber und Arbeitnehmer beide verbandsangehörig sind oder nicht. 1. Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind verbandsangehörig
53
Die beiderseits Tarifgebundenen sind gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG unmittelbar und zwingend an die Tarifnormen des VerbandsTVs gebunden. Dementsprechend sind an die Tarifnormen des SanierungsTVs die beiderseits Tarifgebundenen gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG gebunden.
54
Wird der SanierungsTV von denselben Tarifparteien wie der VerbandsTV geschlossen, treten die Sanierungsregelungen aufgrund des Ablösungsprinzips an die Stelle der entsprechenden Regelungen des VerbandsTV4. Diese Situation liegt vor, wenn der Sanierungstarifvertrag als firmenbezogener VerbandsTV abgeschlossen wird.
55
Wird ein SanierungsTV nicht zwischen denjenigen Parteien abgeschlossen, die den VerbandsTV abgeschlossen haben, ist Tarifkonkurrenz die Folge5. Diese Situation liegt insbesondere vor, wenn der Arbeitgeber mit der (gleichen) zuständigen Gewerkschaft den Haus-SanierungsTV in Abweichung vom VerbandsTV abschließt. Die Tarifkonkurrenz wird überwiegend im Wege des Spezialitätsgrundsatzes aufgelöst6. Der speziellere TV verdrängt danach den generellen TV, soweit es sich um die gleichen Regelungsbereiche handelt7. Es kommt dabei nicht darauf an, ob die Tarifbindung an den VerbandsTV nach § 3 Abs. 1 TVG oder § 3 Abs. 3 TVG besteht. Der speziellere
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Vgl. BAG v. 19.1.2006 – 6 AZR 529/04, AP Nr. 13 zu § 55 InsO. Vgl. BAG v. 21.2.2013 – 6 AZR 406/11, AP Nr. 19 zu § 55 InsO. Vgl. BSG v. 11.6.2015 – B 11 AL 13/14 R, ZInsO 2015, 1972. Vgl. BAG v. 19.12.2014 – 4 AZR 761/12, NZA 2015, 950. Vgl. HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 46 ff. Siehe dazu näher Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 275 ff.; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 298 ff. 7 Vgl. HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 47.
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Teil 12 Rz. 51a
Der Sanierungstarifvertrag
terliegt noch sittenwidrig ist1. Die Entgeltansprüche für die Zeit vor Insolvenzeröffnung waren danach Insolvenzforderungen (§§ 38, 108 Abs. 1 Satz 1 InsO). 51a Das BAG hat folgerichtig in einem Fall den Masseschuldcharakter (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO) abgelehnt, in dem bei Mehrarbeit ein Vergütungsanspruch aufgrund SanierungsTVs ausgeschlossen gewesen und erst aufgrund kündigungsbedingten Ausscheidens entstanden ist2. Es hat darauf abgestellt, dass die Mehrarbeit in der Zeit vor Insolvenzeröffnung stattgefunden habe und nicht der Masse zugute gekommen sei. 51b
Die evtl. gekürzte Vergütung nach dem SanierungsTV wirkt sich auf die Berechnung des Arbeitslosengeldes aus3.
E. Wirkungen I. Verhältnis zwischen Verbandstarifvertrag und Sanierungstarifvertrag 52
Die Frage, ob der SanierungsTV einen bisher geltenden VerbandsTV verdrängt, hängt zunächst einmal davon ab, ob Arbeitgeber und Arbeitnehmer beide verbandsangehörig sind oder nicht. 1. Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind verbandsangehörig
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Die beiderseits Tarifgebundenen sind gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG unmittelbar und zwingend an die Tarifnormen des VerbandsTVs gebunden. Dementsprechend sind an die Tarifnormen des SanierungsTVs die beiderseits Tarifgebundenen gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG gebunden.
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Wird der SanierungsTV von denselben Tarifparteien wie der VerbandsTV geschlossen, treten die Sanierungsregelungen aufgrund des Ablösungsprinzips an die Stelle der entsprechenden Regelungen des VerbandsTV4. Diese Situation liegt vor, wenn der Sanierungstarifvertrag als firmenbezogener VerbandsTV abgeschlossen wird.
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Wird ein SanierungsTV nicht zwischen denjenigen Parteien abgeschlossen, die den VerbandsTV abgeschlossen haben, ist Tarifkonkurrenz die Folge5. Diese Situation liegt insbesondere vor, wenn der Arbeitgeber mit der (gleichen) zuständigen Gewerkschaft den Haus-SanierungsTV in Abweichung vom VerbandsTV abschließt. Die Tarifkonkurrenz wird überwiegend im Wege des Spezialitätsgrundsatzes aufgelöst6. Der speziellere TV verdrängt danach den generellen TV, soweit es sich um die gleichen Regelungsbereiche handelt7. Es kommt dabei nicht darauf an, ob die Tarifbindung an den VerbandsTV nach § 3 Abs. 1 TVG oder § 3 Abs. 3 TVG besteht. Der speziellere
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Vgl. BAG v. 19.1.2006 – 6 AZR 529/04, AP Nr. 13 zu § 55 InsO. Vgl. BAG v. 21.2.2013 – 6 AZR 406/11, AP Nr. 19 zu § 55 InsO. Vgl. BSG v. 11.6.2015 – B 11 AL 13/14 R, ZInsO 2015, 1972. Vgl. BAG v. 19.12.2014 – 4 AZR 761/12, NZA 2015, 950. Vgl. HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 46 ff. Siehe dazu näher Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 275 ff.; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 298 ff. 7 Vgl. HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 47.
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Wirkungen
Rz. 58
Teil 12
SanierungsTV verdrängt danach auch als HausTV den geltenden VerbandsTV. Er steht dem Betrieb betrieblich, fachlich, räumlich am nächsten und wird deshalb den Erfordernissen und Eigenarten des Betriebes und der darin tätigen Arbeitnehmer am besten gerecht1. Das Günstigkeitsprinzip ist weder beim Ablösungsprinzip noch bei Tarifkonkurrenz 56 anwendbar. Der SanierungsTV verdrängt die Regelungen des VerbandsTVs daher auch zu Lasten der Arbeitnehmer. Es ist unerheblich, ob der VerbandsTV eine Öffnungsklausel für HausTVe enthält oder nicht2. Auf ein schützwürdiges Vertrauen auf den Bestand des VerbandsTVs können sich die Arbeitnehmer nicht berufen. Eine Tarifnorm steht stets unter dem Vorbehalt, durch eine speziellere bzw. ablösende tarifliche Regelung verschlechtert oder gar gestrichen zu werden3. Zweifelsfragen treten auf, wenn der SanierungsTV abläuft und weiterhin eine Tarif- 57 bindung an den VerbandsTV besteht, sei es nach § 3 Abs. 1 TVG, sei es aufgrund der Nachbindung nach § 3 Abs. 3 TVG, sei es aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklärung. Unstreitig ist, dass der VerbandsTV jedenfalls dann wieder an die Stelle des SanierungsTVs tritt, wenn die Nachwirkung des SanierungsTVs ausgeschlossen ist. Es kommt daher bei Ablauf des SanierungsTVs darauf an, durch Auslegung zu ermitteln, ob er nachwirkt oder ob die Nachwirkung ausgeschlossen wird bzw. ob sich ansonsten irgendwelche Anhaltspunkte aus dem Inhalt des SanierungsTVs dafür ergeben, welche Bedeutung/Wirkung er sich nach seinem Ablauf gegenüber einem in Kraft befindlichen VerbandsTV beimisst. Der Praxis ist zur Vermeidung von Streitigkeiten und Unklarheiten in jedem Falle eine grundsätzliche Regelung der Nachwirkungsproblematik zu empfehlen. Die kraft Gesetzes (§ 4 Abs. 5 TVG) vorgesehene Nachwirkung kann ausdrücklich oder konkludent ausgeschlossen werden. Meinungsverschiedenheiten treten auf, wenn der SanierungsTV nach § 4 Abs. 5 TVG 58 nachwirkt. Es ist dann erstens zu fragen, ob mit dem VerbandsTV eine andere Abmachung i.S.d. § 4 Abs. 5 TVG vorliegt, die ausweislich der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung dazu führen würde, dass der VerbandsTV gilt. Unproblematisch ist dies bei einem später, d.h. nach Ablauf des SanierungsTVs abgeschlossenen VerbandsTV. Ob ein früherer, verdrängter VerbandsTV eine andere Abmachung i.S.v. § 4 Abs. 5 TVG enthält, ist demgegenüber zweifelhaft. Der 4. Senat lässt zwar zu, dass die andere Abmachung i.S.d. § 4 Abs. 5 TVG auch schon vor Beginn der Nachwirkung abgeschlossen wird. Die entsprechende Regelung muss aber im Zuge der Auslegung einen Regelungswillen ergeben, dass sie darauf gerichtet ist, eine bestimmte bestehende Tarifregelung in Anbetracht ihrer absehbaren bevorstehenden Beendigung und des darauf folgenden Eintritts der Nachwirkung abzuändern4. Allein der Tarifabschluss über einen entsprechenden Regelungsgegenstand reicht nach Ansicht des 4. Senats nicht aus5. In welchem Umfang eine andere Abmachung einen nach § 4 Abs. 5 TVG nach1 Vgl. BAG v. 20.3.1991 – 4 AZR 455/90; BAG v. 20.4.1999 – 1 AZR 631/98; BAG v. 24.1.2001 – 4 AZR 655/99, AP Nr. 173 zu § 1 TVG; BAG v. 4.4.2001 – 4 AZR 237/00, AP Nr. 26 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 20.1.2009 – 9 AZR 146/08; ErfK/Franzen, § 4a TVG Rz. 31 f. 2 Vgl. BAG v. 24.1.2001 – 4 AZR 655/99, AP Nr. 173 zu § 1 TVG. 3 Vgl. BAG v. 20.3.2002 – 10 AZR 501/01, AP Nr. 12 zu § 1 TVG Tarifverträge: Gebäudereinigung. 4 Vgl. HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 11. 5 Vgl. BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 250/08, AP Nr. 51 zu § 4 TVG Nachwirkung.
Moll
985
Teil 12 Rz. 59
Der Sanierungstarifvertrag
wirkenden Tarifvertrag in inhaltlicher und zeitlicher Hinsicht ersetzen soll, bestimmt sich nach dem in ihr zum Ausdruck gelangenden Regelungswillen, der durch Auslegung zu ermitteln ist1. 59
Erst wenn die Frage beantwortet ist, ob eine andere Abmachung i.S.d. § 4 Abs. 5 TVG vorliegt, ist die Frage des Verhältnisses zwischen dem speziellen nachwirkenden SanierungsTV und dem allgemein geltenden VerbandsTV zu beantworten. Das Meinungsspektrum hierzu ist im Wandel. Das BAG hat herkömmlich quasi selbstverständlich einen Vorrang des allgemeinen, aber in Kraft befindlichen VerbandsTVs gegenüber dem speziellen, nachwirkenden TV angenommen, ohne allerdings zwischen der Anwendung des § 4 Abs. 5 TVG unter Berücksichtigung einer anderen Abmachung und den Grundsätzen der Tarifkonkurrenz zu unterscheiden2. Dem sind insbesondere die Landesarbeitsgerichte BadenWürttemberg, München und Schleswig-Holstein gefolgt3. Eine Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Nürnberg verhält sich allein zu dem Fall fehlender Nachwirkung4. Das BAG hat in einer Entscheidung vom 4. Juli 2007 die Problematik ausdrücklich aufgegriffen, ist aber einer Entscheidung ausgewichen5: Komme der Abschluss eines FolgeTVs aufgrund der konkreten Umstände nicht in Betracht – im konkreten Fall war eine Verschmelzung des Arbeitgebers vorausgegangen – gelte der bisher verdrängte, nach wie vor vollwirksame VerbandsTV für die ihm unterworfenen Arbeitsverhältnisse wieder unmittelbar und zwingend. Ob eine derartige Abgrenzung glücklich ist, darf bezweifelt werden. Man gibt den Parteien, die auf Rechtssicherheit angewiesen sind, Steine statt Brot, wenn man die Frage für relevant erklärt, ob der Abschluss eines FolgeTVs aufgrund der konkreten Umstände in Betracht kommt oder nicht. Selbst bei Verschmelzung des Arbeitgebers ist doch gar nicht von vornherein klar, ob nicht dem aufnehmenden oder neuen Rechtsträger früher oder später an dem Abschluss eines nachfolgenden SonderTVs gelegen ist. Was ist im Übrigen, wenn längere Zeit keinerlei Aktivitäten stattfinden, um einen NachfolgeTV abzuschließen? Man wird mit einer derartigen Einzelfallbetrachtung der Grundsatzfrage nicht ausweichen können. Einige neuere Stimmen im Schrifttum machen geltend, dass es bei dem Vorrang der Sachnähe und der Spezialität des FirmenTVs auch im Nachwirkungsstadium bleibe6; denn zum einen seien die Konkurrenzregeln im Verhältnis zwischen dem nachwirkenden und dem vollwirkenden TV dieselben wie zwischen zwei vollwirksamen
1 Vgl. BAG v. 16.5.2012 – 4 AZR 366/10, AP Nr. 52 zu § 4 TVG Nachwirkung (Geltung und Reichweite u.a. einer Erhöhung der wöchentlichen Arbeitszeit und eines Verzichts auf betriebsbedingte Kündigungen). 2 Vgl. BAG v. 10.1.1962 – 1 AZR 147/61, AP Nr. 11 zu § 5 TVG; BAG v. 4.12.1974 – 5 AZR 75/74, AP Nr. 2 zu § 3 TVG; BAG v. 4.9.1996 – 4 AZR 135/95, AP Nr. 5 zu § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag. 3 Vgl. LAG Schleswig-Holstein v. 6.2.2007 – 5 Sa 328/06, NZA-RR 2007, 482; LAG München v. 5.4.2006 – 9 Sa 1068/05; LAG Baden-Württemberg v. 15.2.2005 – 2 Sa 10/05. Ebenso Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1496. 4 Vgl. LAG Nürnberg v. 21.11.2006 – 6 Sa 470/06, NZA-RR 2007, 421. 5 Vgl. BAG v. 4.7.2007 – 4 AZR 491/06, AP Nr. 35 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz. 6 Vgl. Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 861; Gaul/Janz, NZA-Beilage 2010, 60 (66); HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 50; Kleinebrink, ArbRB 2008, 279 (281); Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, Tarifvertragsrecht, § 7 Rz. 226.
986 Moll
Wirkungen
Rz. 60
Teil 12
TVen und zum anderen müsse dem Prinzip der Sachnähe und Spezialität auch im Nachwirkungsstadium Geltung verschafft werden. Ob dem zu folgen ist, erscheint zweifelhaft, weil sich eine derartige Auffassung mit mehreren Grundwertungen stößt. Zum einen lässt § 4 Abs. 5 TVG – unabhängig davon, welche Anforderungen man an die andere Abmachung stellt – erkennen, dass der nachwirkende TV grundsätzlich zurücktritt. Der Sinn und Zweck der Nachwirkung liegt in einer Ausfüllungsfunktion: Die Arbeitsverhältnisse sollen nicht „inhaltsleer“ werden. Dieser Zweck trifft nicht zu, wenn eine vollfunktionsfähige und sogar zwingende Tarifrechtsordnung bereitsteht. Zum anderen erscheint es alles andere als naheliegend, dass nichtzwingendes Recht des nachwirkenden SonderTVs das zwingende Recht des allgemeinen VerbandsTVs verdrängt. Dies überstrapaziert den Gedanken der Sachnähe und Spezialität. Die Ergebnisse eines Vorrangs des nachwirkenden SonderTVs gegenüber dem gültigen VerbandsTV mögen im Einzelfall je nach Interessenlage wünschenswert erscheinen, leuchten aber nicht schon deshalb ein: Der – aus welchen Gründen auch immer – ordnungsgemäß gekündigte SanierungsTV mit Nachwirkung, der eine abgesenkte Vergütung vorsieht, würde dazu führen, dass eine kraft zwingenden Tarifrechts höhere Vergütung nicht gezahlt wird. Dieses Ergebnis ist fragwürdig. Die relevante Wertung würde dahin gehen, dass – einschlägiges – unmittelbar und zwingend wirkendes Tarifrecht nicht durch dispositives Tarifrecht verdrängt werden kann. Schließlich stellt die feine Differenzierung zwischen der Anwendung von § 4 Abs. 5 TVG und den Grundsätzen der Tarifkonkurrenz eine Komplizierung dar, die verzichtbar erscheint. Die „einfache“ und „undifferenzierte“ Lösung der früheren Rechtsprechung, wonach im Nachwirkungsstadium jedwede andere einschlägige Regelung gilt, hat jedenfalls die Wertung des § 4 Abs. 5 TVG und den Gesichtspunkt der Durchsetzung zwingenden Rechts für sich1. Nicht zuletzt sind Sinn und Zweck des SanierungsTVs und der Regelungswille der Tarifparteien zu berücksichtigen. Der SanierungsTV ist auf eine vorübergehende Sonderbehandlung des von einer Krise betroffenen Unternehmens angelegt. Dementsprechend liegt es nahe, dass nach dem objektiven Regelungskonzept nach Ablauf des SanierungsTVs gerade keine Dauergeltung und dazu noch unter Verdrängung zwingender Normen des „Normal“TV eintritt. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich bei dem SanierungsTV um einen personenbezogenen VerbandsTV oder um einen HausTV handelt. Die Parteien des SanierungsTVs können regeln, was gilt, wenn der SanierungsTV ab- 60 läuft. Der SanierungsTV wird sinnvollerweise eine Regelung enthalten dazu, wie sich das Verhältnis zum Verbandstarif bei Ablauf darstellt, um die erörterten Probleme im Zusammenhang mit der Bestimmung einer anderen Abmachung i.S.v. § 4 Abs. 5 TVG oder im Hinblick auf die Anwendung der Grundsätze der Tarifkonkurrenz zu vermeiden. Ein derartiges Interesse an Klarheit haben letztlich beide Tarifparteien. Die Parteien des SanierungsTVs können z.B. von ihrer Möglichkeit Gebrauch machen, die Nachwirkung einvernehmlich auszuschließen: Diese Vereinbarung endet am …, ohne dass es einer Kündigung bedarf. Die Nachwirkung wird ausgeschlossen. In diesem Falle gelten dann mit der Beendigung der Wirkung der Normen des SanierungsTVs die Normen des VerbandsTVs weiter, sofern dieser noch Geltung be-
1 Vgl. Buchner, FS 50 Jahre BAG, S. 631 (639); Däubler, Tarifvertragsrecht, Rz. 1496; Löwisch/ Rieble, § 4 TVG Rz. 266; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 290; Kempen/Zachert/WendelingSchröder, § 4 TVG Rz. 200; Wiedemann, Anm. zu AP Nr. 2 zu § 3 TVG.
Moll
987
Teil 12 Rz. 61
Der Sanierungstarifvertrag
ansprucht. Wirken beide TVe nur noch nach, hat es mit der Sachnähe und Spezialität des SanierungsTVs sein Bewenden (Vorrang). 61
Die Situation stellt sich anders dar, wenn (auch) der Arbeitsvertrag der organisierten Arbeitnehmer eine Bezugnahmeklausel enthält, die auf einen konkreten VerbandsTV verweist und den SanierungsTV nicht erfasst. Diese Arbeitnehmer können sich dann auf die günstigeren Regelungen des VerbandsTVs berufen. Grund dafür ist, dass nach der Rechtsprechung des BAG einer Bezugnahmeklausel auch für organisierte Arbeitnehmer konstitutive Wirkung zukommt1. Anders könnte es nur sein, wenn im Arbeitsvertrag die konstitutive Wirkung der Bezugnahmeklausel ausdrücklich auf die nicht organisierten Arbeitnehmer beschränkt worden ist2. Fehlt eine solche Beschränkung, konkurrieren die durch die Bezugnahmeklausel individualvertraglich geltenden Regelungen des VerbandsTVs mit denen des normativ geltenden SanierungsTVs. In dieser Konstellation findet das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG Anwendung. Es handelt sich nicht um einen Fall der Tarifkonkurrenz3. Einzelvertragliche Inbezugnahmen werden durch einen (Sanierungs-)TV nicht abgelöst4, unabhängig davon, ob sie auf TVe oder Allgemeine Arbeitsbedingungen verweisen. Das Günstigkeitsprinzip gilt typischerweise bei dem Aufeinandertreffen eines TVs mit einem rangniedrigeren Arbeitsvertrag.
62
Der Günstigkeitsvergleich wird nach überwiegender Auffassung grundsätzlich mit Hilfe eines Sachgruppenvergleichs vorgenommen5. Danach werden Regelungen, die nach der Verkehrsanschauung denselben Regelungsgegenstand betreffen, miteinander verglichen. In der hier vorliegenden Konstellation besteht die Besonderheit, dass inhaltlich nicht die Regelungen des Arbeitsvertrages mit denen des TVs verglichen werden müssen, sondern im Ergebnis materiell die Regelungen zweier TVe miteinander zu vergleichen sind. Das Günstigkeitsprinzip ist auf diese Situation nicht unmittelbar zugeschnitten. Man kann möglicherweise argumentieren, dass die Auslegung der Bezugnahmeklausel in der Regel zu dem Ergebnis kommen wird, dass der in Bezug genommene TV in seiner Gesamtheit angewendet werden soll. Ein Sachgruppenvergleich ist damit nicht vereinbar. Es müsste folgerichtig ein Gesamtvergleich mit der Konsequenz angestellt werden, dass eine günstigere Regelung nicht festgemacht werden kann, so dass der normativ wirkende TV Anwendung finden muss6. Die Recht1 Vgl. BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, AP Nr. 21 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 19.3.2003 – 4 AZR 331/02, NZA 2003, 1207; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 28; Däubler/ Lorenz, § 3 TVG Rz. 225. 2 Vgl. Preis/Greiner, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 59. 3 Vgl. BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, AP Nr. 61 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 784/07, AP Nr. 66 zu § 1 TVG; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 1023/08, AP Nr. 388 zu § 613a BGB; LAG Düsseldorf v. 2.9.2010 – 5 Sa 720/10, ZTR 2011, 90. Anders noch BAG v. 23.3.2005 – 4 AZR 203/04, AP Nr. 29 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz. 4 Vgl. BAG v. 22.2.2012 – 4 AZR 24/10: Ein HausTV kann die einzelvertraglich begründete Anwendbarkeit der AVR nicht ablösen. 5 Vgl. BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, AP Nr. 89 zu Art. 9 GG; BAG v. 1.7.1999 – 4 AZR 261/08, AP Nr. 14 zu § 3 TVG Verbandsaustritt; LAG Berlin-Brandenburg v. 2.12.2010 – 5 Sa 1763/10; Federlin, FS 50 Jahre BAG, S. 645 (650 ff.); ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 36; Heise, FS 50 Jahre BAG, S: 657 (665 ff.); HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 36; Kort, FS 50 Jahre BAG, S. 753 (761); Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 471; Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 4 TVG Rz. 408. Siehe aber demgegenüber Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 653 ff., 663 m.w.N. 6 Vgl. ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 37.
988 Moll
Wirkungen
Rz. 65
Teil 12
sprechung bleibt allerdings auch in diesen Fällen bei dem Sachgruppenvergleich1. Der Sachgruppenvergleich führt zu dem Ergebnis, dass die Regelungsbereiche des VerbandsTVs im Vergleich zu den Regelungsbereichen des SanierungsTVs günstiger sind, da durch den SanierungsTV die Leistungen des VerbandsTVs abgesenkt werden, beispielsweise eine Arbeitszeiterhöhung ohne Entgeltausgleich stattfindet, Sonderzahlungen gestrichen oder reduziert werden, die Vergütung reduziert wird oder geplante Tariflohnerhöhungen wegfallen. Es ist allerdings zu fragen, wie zu berücksichtigen ist, dass sich im Gegenzug zu den 63 Sanierungsbeiträgen der Arbeitnehmer regelmäßig Regelungen zur Standortsicherung oder Beschäftigungssicherung finden, die für die Arbeitnehmer positiv sind. Es könnte daher nahe liegen, dass beim Vergleich der Regelungen des VerbandsTVs mit denen des SanierungsTVs auch zu berücksichtigten ist, dass den Arbeitnehmern im Gegenzug zu den Leistungsabsenkungen Beschäftigungssicherung zugesagt wird, was für sie günstiger ist als die tarifliche Entlohnung mit der zu erwartenden Konsequenz des Arbeitsplatzverlustes2. Eine solche Ausweitung des Günstigkeitsvergleichs lehnt das BAG ab3. Ein derartiger Vergleich von Regelungen, deren Gegenstände sich thematisch nicht berühren, sei methodisch nicht möglich („Äpfel mit Birnen“) und mit § 4 Abs. 3 TVG nicht vereinbar. Arbeitszeit oder Arbeitsentgelt einerseits und eine Beschäftigungsgarantie andererseits seien völlig unterschiedlich geartete Regelungsgegenstände, für deren Bewertung es keinen gemeinsamen Maßstab gäbe. Sie könnten daher nicht miteinander verglichen werden. Eine Beschäftigungssicherung sei nicht geeignet, Verschlechterungen beim Arbeitsentgelt oder bei der Arbeitszeit im Rahmen des Günstigkeitsvergleichs aufzuwiegen4. Die Formulierung von Bezugnahmeklauseln hat daher gerade auch in Sanierungs- 64 situationen erhebliche Bedeutung. Es ist anzustreben, dass alle im Betrieb tarifrechtlich anzuwendenden TVe und damit auch SanierungsTVe erfasst werden. Andernfalls bleibt es dabei, dass sich trotz der Sanierungssituation die günstigeren Arbeitsbedingungen der VerbandsTVe statt der abgesenkten Arbeitsbedingungen der SanierungsTVe durchsetzen. Die Konkurrenz zwischen einem allgemeinverbindlichen VerbandsTV und einem (normativ geltenden) SanierungsTV wird grundsätzlich auch nach dem Spezialitätsprinzip gelöst5.
1 Vgl. BAG v. 22.9.1993 – 10 AZR 207)2, AP Nr. 21 zu § 4 TVG; BAG v. 17.4.2002 – 5 AZR 644/00, AP Nr. 40 zu § 611 BGB Mehrarbeitsvergütung. 2 Vgl. grundlegend Adomeit, NJW 1984, 26. 3 Vgl. BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, AP Nr. 89 zu Art. 9 GG („Burda“); BAG v. 7.11.2002 – 2 AZR 742/00, AP Nr. 100 zu § 615 BGB; BAG v. 6.11.2007 – 1 AZR 862/06, AP Nr. 337 zu § 613a BGB; BAG v. 24.9.2008 – 6 AZR 657/07, NZA-RR 2009, 22; BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, AP Nr. 14 zu § 3 TVG Verbandsaustritt. 4 Zustimmend Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 651; Franzen, RdA 2001, 1 (3); Kort, FS 50 Jahre BAG, S. 753 (765); Richardi, DB 2000, 42 (47); Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 437a ff. Ablehnend Buchner, NZA 1999, 897 (901); Federlin, FS 50 Jahre BAG, S. 645 (654); Heise, FS 50 Jahre BAG, S. 657 (673); Kast/Stuhlmann, BB 2000, 614 (615); Lesch, DB 2000, 322 (324 f.); Löwisch/ Rieble, § 4 TVG Rz. 326 ff.; Niebler/Schmiedl, BB 2001, 1631 ff.; Picker, NZA 2002, 761 (766 ff.); Rüthers, NJW 2003, 546 (551 f.); Trappehl/Lambrich, NJW 1999, 3217 (3220 f.). 5 Vgl. ErfK/Franzen, § 4a TVG Rz. 32 f.; Ahrendt, RdA 2012, 129 (133).
Moll
989
65
Teil 12 Rz. 66
Der Sanierungstarifvertrag
66
TVe nach § 3 AEntG haben nach § 8 Abs. 2 AEntG Vorrang vor (anderen) TVen, an die der Arbeitgeber gebunden ist1. Ist ein Unternehmen also von einem nach dem AEntG erstreckten TV erfasst, kann es von diesem TV nicht durch HausTV oder firmenbezogenen VerbandsTV zuungunsten der Arbeitnehmer abweichen, auch nicht durch einen SanierungsTV. Eine andere Frage ist, ob § 8 Abs. 2 AEntG überhaupt wirksam ist; es ist umstritten, ob die Norm wegen unverhältnismäßigen Eingriffs in die Tarifautonomie verfassungswidrig ist2. Der Vorrang des TVs nach dem AEntG kann allerdings nur insoweit gelten, wie die betroffenen Regelungen im konkurrierenden SanierungsTV für die Arbeitnehmer ungünstiger sind als die des TVs nach dem AEntG. Soweit der TV nach dem AEntG Sachgruppen nicht regelt, die der SanierungsTV enthält, geht der Günstigkeitsvergleich ins Leere.
67
Arbeitsentgelte nach dem MiArbG unterlagen ebenfalls nicht der Disposition durch TVe (§ 8 MiArbG). Die Frage nach der Verfassungswidrigkeit einer Verdrängung von TVen stellte sich auch im Hinblick auf § 8 MiArbG3. § 8 Abs. 2 MiArbG gewährte Bestandsschutz für diejenigen TVe, die vor dem 16.7.2008 geschlossen wurden sowie für deren NachfolgeTVe. Diese TVe wurden nicht verdrängt4. Das MiArbG ist mit Wirkung zum 16. August 2014 aufgehoben worden. An seine Stelle ist das Mindestlohngesetz (MiLoG) getreten, das erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn für Arbeitnehmer festsetzt5. 2. Lediglich der Arbeitgeber ist verbandsangehörig
68
Ist lediglich der Arbeitgeber verbandsangehörig, kann mangels beiderseitiger Tarifgebundenheit keine unmittelbare und zwingende Geltung der Tarifnormen des TVs gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG in Frage kommen. In diesem Falle beansprucht der VerbandsTV dann Geltung auch für den Außenseiter-Arbeitnehmer, wenn er entweder allgemeinverbindlich ist (§ 5 Abs. 4 TVG) oder kraft entsprechender Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag individualvertraglich gilt. Vom Inhalt dieser Bezugnahmeklausel hängt es dann ab, ob auch ein HausTV oder firmenbezogener VerbandsTV als SanierungsTV davon erfasst ist und der Außenseiter-Arbeitnehmer diesen SanierungsTV gegen sich gelten lassen muss oder nicht.
69
Der Arbeitnehmer kann nicht durch einen Vertrag, an dem er nicht beteiligt ist (Beispiel: Personalüberleitungsvertrag bei einem Betriebsübergang zwischen Veräußerer und Erwerber), an eine dynamische Anwendbarkeit von TVen ohne seine Zustimmung gebunden werden. Dies gilt sowohl für den Fall der erstmaligen Vereinbarung einer Bezugnahme als auch bei der Sicherung einer bisher geltenden dynamischen Inbezugnahme6. Da TVe auch zulasten der Arbeitnehmer geändert werden können, würde dadurch die Möglichkeit einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen eröffnet, die arbeitsvertraglich nicht ohne Weiteres gegeben ist.
1 2 3 4 5 6
Vgl. ErfK/Franzen, § 4a TVG Rz. 32; HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 52. Siehe dazu ausf. Moll, RdA 2010, 321 ff. m.w.N. Siehe dazu ausf. Moll, RdA 2010, 321 ff. m.w.N. Vgl. HWK/Henssler, § 4 TVG Rz. 53. Vgl. ErfK/Franzen, § 1 MiLoG Rz. 1. Vgl. BAG v. 23.2.2011 – 4 AZR 439/09, AP Nr. 60 zu § 133 BGB.
990 Moll
Wirkungen
Rz. 71
Teil 12
Die Bezugnahmeklauseln in Formulararbeitsverträgen unterliegen im Gegensatz zu 70 den in Bezug genommenen Normen des TVs der AGB-Kontrolle. Gemäß § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB findet bei TVen keine AGB-Inhaltskontrolle statt. Dies gilt auch bei der individualvertraglichen Einbeziehung einer (gesamten) kollektiven Regelung. Die Bezugnahmeklausel selbst unterliegt dagegen der AGB-Kontrolle1. Diesbezüglich ist insbesondere das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB zu beachten. Die Bezugnahmeklausel muss eindeutig erkennen lassen, welcher TV in welcher Fassung in den Arbeitsvertrag einbezogen werden soll2. Dynamische Verweisungen werden dem jedenfalls dadurch gerecht, dass durch die Angabe eines bestimmten TVs mitsamt Nachfolgefassungen sichergestellt ist, dass zukünftig zu jedem Zeitpunkt der Vertragsdurchführung bestimmbar ist, welche Tarifvorschriften anwendbar sind3. Die mit der Bezugnahmeklausel einhergehende Dynamik verletzt das Transparenzgebot nicht4. Bei knapp formulierten „großen dynamischen“ Bezugnahmeklauseln ist die Gefahr der Unwirksamkeit wegen Intransparenz nicht von vornherein auszuschließen; eine knappe Formulierung lässt u.U. nicht erkennen, welche Konsequenzen Ereignisse wie Betriebsübergänge oder Entfallen der Tarifgebundenheit des Arbeitgebers haben5. Die Unklarheitenregelung des § 305c Abs. 2 BGB ist in der Regel nicht anwendbar, da sich die Frage der Günstigkeit für den Arbeitnehmer nicht eindeutig beantworten lässt. Es kann nicht generell davon ausgegangen werden, dass eine dynamische Verweisung für den Arbeitnehmer günstiger ist als eine statische Verweisung6. Dies zeigt gerade das Beispiel von SanierungsTVen. Die darin enthaltenen Arbeitsplatzsicherungen sind für die Arbeitnehmer zwar günstiger, die Entgeltreduzierungen dagegen ungünstiger. a) Statische Bezugnahmeklausel Eine statische Bezugnahmeklausel nimmt auf den Inhalt eines bestimmten TVs in ei- 71 ner bestimmten Fassung Bezug. „Auf das Arbeitsverhltnis findet der Tarifvertrag … in der Fassung vom … Anwendung.“ Künftige Änderungen des in Bezug genommenen TVs werden nicht Bestandteil des Arbeitsvertrages. Die Bedingungen des TVs in der konkret benannten Fassung werden „eingefroren“. Aufgrund dessen kommt es infolge einer nachfolgenden Tarifänderung zum Auseinanderfallen der tariflichen und der vertraglich in Bezug genommenen Arbeitsbedingungen. Verweist demnach eine statische Bezugnahmeklausel auf einen bestimmten VerbandsTV, nimmt der Arbeitnehmer aufgrund der Bezugnahmeklausel zwar nicht an günstigen Entwicklungen dieses VerbandsTVs teil, jedoch auch nicht 1 Vgl. BAG v. 9.5.2007 – 4 AZR 319/06, AP Nr. 8 zu § 305c BGB; BAG v. 15.4.2008 – 9 AZR 159/07, AP Nr. 38 zu § 1 TVG Altersteilzeit; BAG v. 24.9.2008 – 6 AZR 76/07, AP Nr. 11 zu § 305c BGB; Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 206 Rz. 12. 2 Vgl. HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 19; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 235; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 293; Kempen/Zachert/Brecht-Heitzmann, § 3 TVG Rz. 184. 3 Vgl. BAG v. 14.3.2007 – 5 AZR 630/06, AP Nr. 45 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 15.4.2008 – 9 AZR 159/07, AP Nr. 38 zu § 1 TVG Altersteilzeit. 4 Vgl. Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, 2011, S. 123. 5 Vgl. Preis/Greiner, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 18. 6 Vgl. BAG v. 24.9.2008 – 6 AZR 76/07, AP Nr. 11 zu § 305c BGB.
Moll
991
Teil 12 Rz. 72
Der Sanierungstarifvertrag
an den schlechteren Bedingungen des SanierungsTVs. Es verbleibt bei den Regelungen des vertraglich einbezogenen VerbandsTVs. Da der Wortlaut einer solchen Klausel eindeutig ist, bleibt kein Raum für weitergehende Auslegungen1. b) Dynamische Bezugnahmeklauseln 72
Dynamische Bezugnahmeklauseln kommen in unterschiedlichen Formulierungen vor. Regelmäßig wird unterschieden zwischen „kleinen dynamischen“ Bezugnahmeklauseln und „großen dynamischen“ Bezugnahmeklauseln. Aus dem Wort „dynamisch“ ergibt sich, dass sie eine gewisse Entwicklung der in Bezug genommenen TVe mitberücksichtigen und die Arbeitsbedingungen dementsprechend anpassen. Wie weit diese Dynamisierung reicht und welche TVe davon erfasst sind, ist durch Auslegung zu ermitteln2.
73
Die „kleine dynamische“ Bezugnahmeklausel beinhaltet die Dynamisierung in zeitlicher Hinsicht unter Bezugnahme auf einen bestimmten, sachlich einschlägigen TV. „Auf das Arbeitsverhltnis findet der Tarifvertrag … in seiner jeweils gltigen Fassung Anwendung.“ Bei einer solchen Formulierung bezieht sich der Wortlaut der Klausel eindeutig auf ein bestimmtes Tarifwerk. Änderungen dieses TVs im Laufe der Zeit sollen danach ebenfalls Bestandteil des Arbeitsvertrages werden.
74
Das BAG legt diese Klauseln für „Altverträge“ regelmäßig als Gleichstellungsabrede aus, wodurch eine Gleichstellung hinsichtlich der Arbeitsbedingungen der nicht oder anders organisierten mit denjenigen Arbeitnehmern bezweckt wird, für die die in Bezug genommenen Tarifbestimmungen durch beiderseitige Tarifgebundenheit gelten3. Zweck einer solchen Gleichstellungsklausel sei es, dass das Arbeitsverhältnis (nur) während der Dauer der Tarifgebundenheit des Arbeitgebers an den dynamischen Entwicklungen des in Bezug genommenen TVs teilnehme. Entsprechend dem Gleichstellungsgedanken hat das BAG die Bezugnahme auch auf speziellere TVe im Unternehmen erstreckt. Eine allgemein gefasste Gleichstellungsabrede kann daher neben einem firmenbezogenen VerbandsTV auch einen von einem einzelnen Arbeitgeber zur Abänderung des VerbandsTVs abgeschlossenen HausTV erfassen, sofern dieser von derselben Gewerkschaft abgeschlossen worden ist wie der VerbandsTV4. Die Auslegung der Bezugnahmeklausel als Gleichstellungsabrede in „Altverträgen“ setzt allerdings voraus, dass der TV für das Arbeitsverhältnis auch bei Tarifgebundenheit
1 Vgl. Ahrendt, RdA 2012, 129 (132). 2 Vgl. Preis/Greiner, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 33. 3 Vgl. BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 581/99, AP Nr. 12 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, AP Nr. 21 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 21.8.2002 – 4 AZR 263/01, AP Nr. 21 zu § 157 BGB; BAG v. 25.9.2002 – 4 AZR 294/01, AP Nr. 26 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 1.12.2004 – 4 AZR 50/04, AP Nr. 34 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; zuletzt BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, AP Nr. 39 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag (Ankündigung der Rechtsprechungsänderung). 4 Vgl. BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 602/06, AP Nr. 63 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; LAG Nürnberg v. 12.11.2008 – 4 Sa 760/08, ZTR 2009, 142.
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Wirkungen
Rz. 76
Teil 12
des Arbeitnehmers gelten würde; daran fehlt es bei mangelnder Tarifgebundenheit des Arbeitgebers oder mangelnder Einschlägigkeit des in Bezug genommen TVs (Bsp.: Fach- oder Ortsfremdheit)1. Das BAG legt Bezugnahmeklauseln in „Neuverträgen“ (Abschluss seit dem 1.1.2002) 75 nicht mehr als Gleichstellungsabrede aus2. Bei Vertragsänderungen nach dem 1.1.2002 hinsichtlich solcher Arbeitsverträge, die vor dem 1.1.2002 abgeschlossen worden sind, ist für die Beurteilung, ob eine Verweisungsklausel hinsichtlich ihrer Auslegung als „Neuvertrag“ oder als „Altvertrag“ behandelt werden muss, maßgeblich, ob die Klausel bei Vereinbarung der Änderung zum Gegenstand der rechtsgeschäftlichen Willensbildung der Vertragsparteien gemacht worden ist3. Dies ist etwa dann der Fall, wenn die Verweisungsklausel im geänderten Vertrag einen anderen Wortlaut hat als die Vorgängerregelung. Das BAG greift nunmehr auf allgemeine Auslegungsgrundsätze zurück. Der Bedeutungsinhalt einer Bezugnahmeklausel ist danach in erster Linie anhand ihres Wortlauts zu ermitteln. Verfolgt ein Vertragspartner vom Wortlaut abweichende Regelungsziele, können diese bei der Auslegung nur dann berücksichtigt werden, wenn sie für den anderen Vertragspartner mit hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck kommen. Bei der Inbezugnahme eines bestimmten TVs in seiner jeweils gültigen Fassung ohne den Zusatz der Erfassung auch der den TV ändernden, ergänzenden oder ersetzenden TVe ist der Wortlaut eindeutig, und es bedarf im Grundsatz keiner weiteren Heranziehung von Auslegungsfaktoren4. Eine Auslegung dergestalt, dass auch andere TVe, an die der Arbeitgeber erst später gebunden ist, erfasst sind, scheidet grundsätzlich aus5. Für „Neuverträge“ bedeutet das demnach, dass eine Bezugnahmeklausel nur noch dann als Gleichstellungsabrede auszulegen sein wird, wenn sich der Gleichstellungszweck eindeutig aus dem Wortlaut ergibt. Ist dies nicht der Fall, handelt sich um eine unbedingte zeitdynamische Verweisung. In dem Fall, dass die Bezugnahmeklausel auf einen bestimmten VerbandsTV verweist, ohne den Zusatz zu enthalten, dass auch die diesen TV ergänzenden, ändernden oder ersetzenden TVe einbezogen sind, wird die Auslegung daher regelmäßig ergeben, dass ändernde/ergänzende/ersetzende (Sanierungs-)TVe von der Bezugnahme nicht erfasst sind. Anders verhält es sich bei der folgenden Formulierung:
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„Auf das Arbeitsverhltnis finden der Tarifvertrag … sowie die diesen ndernden, ergnzenden oder ersetzenden Tarifvertrge in der jeweils gltigen Fassung Anwendung.“ Ein SanierungsTV wird bei dieser Formulierung als ein den geltenden, in Bezug genommenen VerbandsTV ändernder TV erfasst6.
1 2 3 4 5
Vgl. BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 396/08, AP Nr. 72 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag. Vgl. BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, AP Nr. 39 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag. Vgl. BAG v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, AP Nr. 75 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag. Vgl. BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, AP Nr. 53 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag. Vgl. Greiner, NZA 2009, 877; Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, 2011, S. 116 ff.; Hümmerich/Reufels/Reufels, Gestaltung von Arbeitsverträgen, § 20 Rz. 1623; Preis/Greiner, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 8. 6 Vgl. Ahrendt, RdA 2012, 129 (132).
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Teil 12 Rz. 77
Der Sanierungstarifvertrag
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Das BAG hat bislang ohne Rückgriff auf die Gleichstellungsproblematik die Einbeziehung von SanierungsTVen großzügig gehandhabt und durch ergänzende oder weite Auslegung dem SanierungsTV zum Anwendungsvorrang verholfen1. Jedem Arbeitnehmer muss klar sein, dass die Gewerkschaft, die die bei Abschluss des Arbeitsvertrags geltenden Arbeitsbedingungen gestaltet hat, diese auch ändern kann, insbesondere wenn dies zu Sanierungszwecken geboten erscheint. Ein mit einer anderen Gewerkschaft abgeschlossener SanierungsTV dürfte dagegen mit weniger Großzügigkeit bei der Auslegung von Bezugnahmeklauseln zu rechnen haben. Eine Klausel, nach der auf das Arbeitsverhältnis „die jeweils gültigen TVe für den Groß- und Außenhandel des Landes Hessen“ Anwendung finden, hat das BAG als Bezugnahme auch auf HausTVe ausgelegt, die mit derselben Gewerkschaft geschlossen werden; im Zweifel wollten die Vertragsparteien „die fachlich und betrieblich einschlägigen TVe in Bezug nehmen“2. Ebenfalls anhand des Wortlauts hat das BAG eine Bezugnahmeklausel, die auf die „TVe der Metallindustrie Nordrhein-Westfalen“ verweist, so ausgelegt, dass auch ein firmenbezogener VerbandssanierungsTV erfasst ist; es seien auch solche TVe erfasst, die Einschränkungen im Hinblick auf den sachlichen, personellen oder örtlichen Geltungsbereich beinhalten3. Bezugnahmeklauseln, die auf die jeweils einschlägigen FlächenTVe verweisen, umfassen nach Ansicht des BAG daher mangels abweichender Einzelfallumstände in der Regel auch firmenbezogene VerbandsTVe oder zur Sanierung abgeschlossenen HausTVe.
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Der SanierungsTV setzt sich allerdings dann nicht durch, wenn (konstitutive) Bezugnahmeklauseln ausdrücklich nur auf einen bestimmten VerbandsTV verweisen und die Mittel der ergänzenden oder weiten Auslegung versagen. Eine „Gleichstellung“ wäre nicht möglich, unabhängig davon, ob es sich um Alt- oder Neuklauseln handelt.
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Die „große dynamische“ Bezugnahmeklausel besagt, dass die jeweils für den Arbeitgeber einschlägigen TVe in ihrer jeweils geltenden Fassung in Bezug genommen werden. Sie finden sich nicht selten in der folgenden sehr knappen Formulierung4: „Auf das Arbeitsverhltnis sind die fr den Arbeitgeber betrieblich und fachlich jeweils einschlgigen Tarifvertrge in ihrer jeweils gltigen Fassung anwendbar. Dies sind zurzeit die Tarifvertrge …“ Diese Klauseln werden regelmäßig als Tarifwechselklauseln ausgelegt5. Bei einem Tarifwechsel des Arbeitgebers beispielsweise können so auch TVe anderer Branchen 1 Vgl. BAG v. 14.12.2005 – 10 AZR 296/05, NZA 2006, 744; BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, NZA 2007, 634; BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 602/06, AP Nr. 63 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08; LAG Düsseldorf v. 14.2.2008 – 11 Sa 1922/07, LAGE § 613a BGB Nr. 18; LAG Hamm v. 22.4.2008 – 9 Sa 2230/07, NZA-RR 2008, 478; Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, 2011, S. 125. Siehe aber kritisch dazu Ahrendt, RdA 2012, 127 (133). 2 Vgl. BAG v. 23.3.2005 – 4 AZR 203/04, AP Nr. 29 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz. Ähnlich auch BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 602/06, AP Nr. 63 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag („Tarifverträge für Angestellte der Bayerischen Metall- und Elektroindustrie … in der jeweils gültigen Fassung“). Zustimmend Bayreuther, NZA 2007, 1017 (1021); Thüsing, NZA 2005, 1280 (1282). 3 Vgl. BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, AP Nr. 24 zu § 1 TVG Rückwirkung. 4 Siehe zu Klauselbeispielen auch Henssler/Moll, AGB-Kontrolle vorformulierter Arbeitsbedingungen, 2011, S. 128 ff.; Preis/Greiner, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 18. 5 Vgl. Schaub/Treber, ArbR-Hdb., § 206 Rz. 26 f.
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Wirkungen
Rz. 81
Teil 12
und anderer TV-Parteien zum Inhalt des Arbeitsverhältnisses werden1. Bei einem Betriebsübergang werden durch diese Klausel die beim Betriebserwerber als neuem Arbeitgeber geltenden TVe erfasst. Ist eine solche Klausel vereinbart worden, findet ein den bisherigen VerbandsTV ablösender SanierungsTV ohne Weiteres Anwendung, da der SanierungsTV der nunmehr für den Arbeitgeber einschlägige TV ist2. Zum Teil wird in SanierungsTVen formuliert, dass der persönliche Geltungsbereich 80 des SanierungsTVs auf die Mitglieder der tarifschließenden Gewerkschaft beschränkt ist. Dies wirft die Frage auf, was gilt, wenn im Arbeitsvertrag eine dynamische Bezugnahme nur auf die persönlich und fachlich einschlägigen TVe vereinbart ist. Es bleibt auch dann bei der dynamischen Bezugnahme auf den SanierungsTV3. Durch die entsprechende Bestimmung im SanierungsTV soll lediglich die gesetzliche Regelung des § 3 Abs. 1 TVG ausgedrückt werden, wonach die normative Wirkung eines TVs gegenüber einem Arbeitnehmer nur bei dessen Mitgliedschaft in der tarifschließenden Gewerkschaft eintritt. Der persönliche Geltungsbereich des SanierungsTVs soll nicht tatbestandlich auf Gewerkschaftsmitglieder beschränkt werden4. 3. Allgemeinverbindlicher Verbandstarifvertrag trifft auf individualvertraglich geltenden Sanierungstarifvertrag Einen Sonderfall stellt die Konstellation dar, dass ein allgemeinverbindlicher Ver- 81 bandsTV auf einen kraft Bezugnahme individualvertraglich geltenden SanierungsTV trifft. Der allgemeinverbindliche VerbandsTV gilt gemäß § 5 Abs. 4 TVG normativ, der SanierungsTV dagegen nur individualvertraglich. Das BAG hat zunächst in seiner Entscheidung vom 23.3.2005 angenommen5, dass in diesem Falle der kraft individualvertraglicher Bezugnahme geltende SanierungsTV nach den Regeln der Tarifkonkurrenz als speziellere Regelung den kraft Allgemeinverbindlichkeit normativ geltenden VerbandsTV verdränge. Das Günstigkeitsprinzip sei nicht anwendbar. Diese Rechtsprechung hat das BAG mittlerweile aufgegeben6. Es geht nunmehr davon aus, dass es sich nicht um einen Fall der Tarifkonkurrenz handele. Vielmehr „konkurriere“ eine arbeitsvertragliche Regelung mit einem kraft Allgemeinverbindlichkeit normativ geltenden TV. Dieses Verhältnis sei nach Maßgabe des § 4 Abs. 3 TVG (Günstigkeitsprinzip) zu lösen. Dies bringt die Gefahr mit sich, dass die Außenseiter-Arbeitnehmer besser gestellt werden als die Gewerkschaftsmitglieder. Erstere kommen in den Genuss der günstigeren Tarifbedingungen. Dies könnte bei Letzteren fraglich sein, wenn die in ihrem Arbeitsverhältnis geltende (konstitutive) Bezugnahmeklausel – lediglich – die kollektivrechtliche Situation nachvollzieht; d.h. für sie würde aufgrund des Spezialitätsprinzips der SanierungsTV gelten, es sei denn, ihre Bezugnahmeklausel erfasst allein den (allgemeinverbindlich) erklärten VerbandsTV. Dies würde zu mit dem Sinn und Zweck der Allgemeinverbindlicherklärung nicht zu vereinbarenden Ergeb1 Vgl. Hamacher in: Moll (Hrsg), Münchener Anwaltshandbuch Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2012, § 65 Rz. 64. 2 Vgl. BAG v. 16.10.2002 – 4 AZR 467/01, AP Nr. 22 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag. 3 Vgl. Kleinebrink, ArbRB 2006, 119 (121). 4 Vgl. BAG v. 23.3.2005 – 4 AZR 203/04, AP Nr. 29 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz. 5 Vgl. BAG v. 23.3.2005 – 4 AZR 203/04, AP Nr. 29 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz. 6 Vgl. BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, AP Nr. 61 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 1023/08, AP Nr. 388 zu § 613a BGB; LAG Düsseldorf v. 2.9.2010 – 5 Sa 720/10, ZTR 2011, 90.
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Teil 12 Rz. 82
Der Sanierungstarifvertrag
nissen führen. Ziel der Allgemeinverbindlicherklärung ist es, eine „Lohndrückerei“ von nicht organisierten Arbeitnehmern durch Ausdehnung der Kartellwirkung des TVs zu verhindern. Diese soziale Schutzfunktion soll dadurch verwirklicht werden, dass organisierte und nicht organisierte Arbeitnehmer bei tariflich geregelten Arbeitsbedingungen gleichgestellt werden1. Die Anwendung des Günstigkeitsprinzips allein zu Gunsten der nicht organisierten Arbeitnehmer auf der Grundlage einer Allgemeinverbindlicherklärung verfehlt bei einem Vergleich mit den organisierten Arbeitnehmer dieses Anliegen. Der Allgemeinverbindlichkeit muss richtigerweise im Verhältnis zu beiden Arbeitnehmergruppen die gleiche Wirkung zukommen: Wenn beide Arbeitnehmergruppen übereinstimmende Bezugnahmeregelungen haben (was regelmäßig der Fall sein wird), dann gilt diese Bezugnahme im Verhältnis zur Allgemeinverbindlichkeit für beide Arbeitnehmergruppen in gleicher Weise. Der Maßstab der Allgemeinverbindlichkeit ist richtigerweise in beiden Fällen Gegenstand des Günstigkeitsvergleichs. Dass der Arbeitnehmer auch kraft Gewerkschaftsmitgliedschaft tarifgebunden ist, schiebt dies nicht beiseite.
II. Verhältnis zu günstigeren Vertragsabreden 82
Die ablösende Wirkung des SanierungsTVs wird im Falle von für den Arbeitnehmer günstigeren arbeitsvertraglichen Regelungen problematisch. Dies gilt im Hinblick auf alle außer- oder übertariflichen Leistungen bzw. Zusagen. Derartige Vereinbarungen werden aufgrund des Günstigkeitsprinzips (§ 4 Abs. 3 TVG) durch die Normwirkung des SanierungsTVs nicht berührt. Bezugnahmeklauseln sind regelmäßig nicht geeignet, zur Anwendung der SanierungsTV-Regeln an Stelle der Vertragsabreden zu führen, weil Bezugnahmeklauseln normalerweise nur „im Übrigen“ die Arbeitsbedingungen durch Tarifverweisung regeln, nicht aber Leistungszusagen bzw. Vertragsabreden unter den Vorbehalt tariflicher Regelung stellen. Etwas anders gilt, wenn die Bezugnahmeklausel so konzipiert ist, dass sie auch – bestimmte – Leistungszusagen bzw. Vertragsabreden erfasst. Derartige Klauseln sind im Betriebsverfassungsrecht allgemein anerkannt (Betriebsvereinbarungsoffenheit/Betriebsvereinbarungsvorbehalt)2. Gegen die Zulässigkeit vorgreiflicher Öffnungsklauseln zugunsten von Tarifregelungen bestehen grundsätzlich keine Bedenken. Das Günstigkeitsprinzip sichert die günstigere arbeitsvertragliche Gestaltung der Arbeitsbedingungen. Deren Geltung und Inhalt gestalten die Arbeitsvertragsparteien: Diese bestimmen, ob und wie sie „günstiger“ als Tarifregelungen sein wollen. Vorgreifliche Öffnungsklauseln unterliegen der AGB-Kontrolle. Dies gilt auch dann, wenn man vorgreiflich Öffnungsklauseln als Befristung einzelner Arbeitsbedingungen ansieht3. Ein Verstoß gegen § 308 Nr. 4 BGB liegt nicht vor. Vorgreifliche Öffnungsklauseln ermöglichen dem Arbeitgeber keine einseitige Änderung des Arbeitsvertrages, es bedarf der Mitwirkung der Gewerkschaft4. Einer Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 1 BGB hält die vorgreifliche Öffnungsklausel Stand. Sie ist 1 Vgl. Bepler, AuR 2010, 234 (235 f.); Däubler/Lakies, § 5 TVG Rz. 7, 9. 2 Vgl. BAG v. 16.9.1986 – GS 1/82, AP Nr. 17 zu § 77 BetrVG 1972; BAG v. 21.9.1989 – 1 AZR 454/88, AP Nr. 43 zu § 77 BetrVG 1972; BAG v. 5.8.2009 – 10 AZR 483/08, AP Nr. 85 zu § 242 BGB Betriebliche Übung; LAG München v. 19.3.2008 – 11 Sa 828/07; LAG Hessen v. 24.2.2010 – 6 Sa 304/09; Bayreuther, ZIP 2008, 573 (575); Gaul/Süßbrich/Kulejewski, ArbRB 2004, 346. 3 Vgl. Bayreuther, ZIP 2008, 573 (575). 4 Vgl. Bayreuther, NZA 2010, 378 (379).
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Wirkungen
Rz. 84
Teil 12
weder intransparent noch inhaltlich unangemessen. Letzteres gilt auch dann, wenn man berücksichtigt, dass daraus erhebliche Verschlechterungen der Rechtsposition des Arbeitnehmers resultieren können. Der Arbeitnehmer lässt sich lediglich darauf ein, dass seine Arbeitsbedingungen einem Normwerk mit Richtigkeitsgewähr (Art. 9 Abs. 3 GG) unterworfen werden. Dies ist weder benachteiligend noch unangemessen1. Erst recht gilt dies, wenn die vorgreifliche Öffnungsklausel auf SanierungsTVe beschränkt wird. „Sollte sich die wirtschaftliche Lage des Unternehmens derart verschlechtern, dass Sanierungsvereinbarungen getroffen werden mssen, kçnnen durch Tarifvertrge Regelungen dieses Vertrages auch zulasten des Arbeitnehmers/der Arbeitnehmerin abgendert werden. In diesem Falle ist ihm/ihr der abndernde Tarifvertrag bekannt zu geben.“
III. Verhältnis zum gesetzlichen Mindestlohn Das Mindestlohngesetz enthält keine Ausnahme für SanierungsTVe. Das Schrifttum 82a nimmt gleichwohl verbreitet an, dass ein derartiger Eingriff in das Koalitionsgrundrecht (Art. 9 Abs. 3 GG) unter den Gesichtspunkten der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit jedenfalls dann nicht zu rechtfertigen sei, wenn eine tariffähige Gewerkschaft zum Erhalt von Arbeitsplätzen in Sonderkonstellationen mindestlohnunterschreitende Vergütungen vereinbare2. Entsprechendes gilt für Arbeitsbedingungen gemäß einer Erstreckungs-Rechtsverordnung nach dem Arbeitnehmerentsendegesetz3.
IV. Rückwirkende Änderung von Arbeitsbedingungen Das BAG hält es grundsätzlich für zulässig, durch einen SanierungsTV in Rechte aus 83 einem VerbandsTV während dessen Laufzeit rückwirkend einzugreifen, sofern und soweit dadurch schutzwürdiges Vertrauen der – kollektivrechtlich sowie individualrechtlich – tarifunterworfenen Arbeitnehmer nicht verletzt wird4. 1. Grundsätzliche Möglichkeit der rückwirkenden Änderung durch TV Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG können die TV-Parteien die Regelungen des von ihnen abgeschlossenen TVs während dessen Laufzeit rückwirkend ändern, da tarifvertragliche Regelungen auch während der Laufzeit des TVs den immanenten Vorbehalt ihrer rückwirkenden Abänderbarkeit durch TV in sich tragen5. Von einer 1 Vgl. Bayreuther, ZIP 2008, 573 (575). 2 Vgl. Bepler, in: Festschrift Richardi, 189, 202; ErfK/Franzen, 14. Aufl. 2014, § 8 MiArbG, Rz. 4; Henssler, RdA 2015, 43, 46; Löwisch, RdA 2009, 215, 220 f.; Löwisch, NZA 2014, 948; Picker, RdA 2014, 25, 34. 3 Vgl. Moll, RdA 2010, 321, 325. 4 Vgl. BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, AP Nr. 24 zu § 1 TVG Rückwirkung. 5 Vgl. BAG v. 23.11.1994 – 4 AZR 879/93, AP Nr. 12 zu § 1 ZVG Rückwirkung; BAG v. 14.6.1995 – 4 AZR 225/94, AP Nr. 13 zu § 1 TVG Rückwirkung; BAG v. 15.11.1995 – 2 AZR 521/95, AP Nr. 20 zu § 1 TVG Tarifverträge: Lufthansa; BAG v. 25.6.1997 – 10 AZR 79/97; BAG v. 9.7.1997
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Teil 12 Rz. 85
Der Sanierungstarifvertrag
solchen rückwirkenden Änderung ist bereits nach Anspruchsentstehung auszugehen, der ggf. später liegende Fälligkeitszeitpunkt ist irrelevant. 2. Grenze: Vertrauensschutz 85
Arbeitnehmer müssen im Grundsatz und im Regelfall nicht damit rechnen, dass in bereits entstandene Ansprüche eingegriffen wird, auch wenn diese noch nicht erfüllt oder noch nicht fällig sind. Anders verhält es sich, wenn bereits vor Anspruchsentstehung das Vertrauen der Arbeitnehmer hinreichend erschüttert worden ist, die Arbeitnehmer also damit rechnen müssen, dass die TV-Parteien diesen Anspruch zu ihren Lasten ändern werden. Ist dies nicht der Fall, kann ein einmal zu Recht entstandenes, schützenswertes Vertrauen der Arbeitnehmer nicht nachträglich wieder entfallen1. Ein Eingriff ist dann nur in zukünftig erst noch entstehende Ansprüche möglich. Für die Bejahung oder Verneinung schützenswerten Vertrauens kommt es nicht darauf an, ob ein entstandener Anspruch bereits erfüllt ist.
85a Das Vertrauen des Arbeitnehmers in den tariflichen Anspruch ist unabhängig davon schutzwürdig, ob der TV kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit gilt oder (nur) arbeitsvertraglich vereinbart ist2. 86
Schutzwürdiges Vertrauen kommt dann nicht (mehr) in Betracht, wenn bereits zum Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die TV-Parteien diese Ansprüche zu Ungunsten der Arbeitnehmer ändern werden. Bei Ansprüchen, bei denen der Zeitpunkt der Entstehung und der Zeitpunkt der Fälligkeit auseinanderfallen, kommt es in den Fällen, in denen der Zeitpunkt der Anspruchsentstehung vor dem Inkrafttreten des SanierungsTVs liegt, darauf an, ob bereits vor Anspruchsentstehung das Vertrauen der Arbeitnehmer erschüttert wurde. Nur dann kann durch den SanierungsTV in diese bereits entstandenen Ansprüche eingegriffen werden. Ob das Vertrauen der Arbeitnehmer erschüttert wurde, ist eine Frage des Einzelfalles3. Bloße Hinweise auf wirtschaftliche Schwierigkeiten des Unternehmens reichen in aller Regel nicht aus, weil solche Schwierigkeiten auch durch andere Maßnahmen als durch die rückwirkende Verschlechterung der tariflichen Ansprüche behoben werden könnten4. Hinsichtlich der Kenntnis von den maßgeblichen Umständen kommt es nicht auf den einzelnen Tarifunterworfenen an, sondern auf die Kenntnis der betroffenen Kreise5. Eine entsprechend geeignete Information an den ganzen Betrieb oder an den Teil des Betriebes, der von den Änderungen betroffen ist, ist also unbedingt notwendig, aber auch ausreichend.
1 2 3 4 5
– 4 AZR 635/95, AP Nr. 233 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG v. 14.11.2001 – 10 AZR 698/00, NZA 2002, 1056; BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 522/05; BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, AP Nr. 24 zu § 1 TVG Rückwirkung; BAG v. 24.10.2007 – 10 AZR 878/06, NZA 2008, 131. Vgl. BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, AP Nr. 24 zu § 1 TVG Rückwirkung. Vgl. BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 522/05. Vgl. BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, AP Nr. 24 zu § 1 TVG Rückwirkung; BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 522/05, AiB 2007, 418. Vgl. BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 522/05, AiB 2007, 418. St. Rspr.: BAG v. 23.11.1994 – 4 AZR 879/93, AP Nr. 12 zu § 1 TVG Rückwirkung; BAG v. 6.8.2002 – 1 AZR 247/01, AP Nr. 154 zu § 112 BetrVG 1972; BAG v. 22.10.2003 – 10 AZR 152/03, AP Nr. 21 zu § 1 TVG Rückwirkung; BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, AP Nr. 24 zu § 1 TVG Rückwirkung; BAG v. 24.10.2007 – 10 AZR 878/06, NZA 2008, 131.
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Wirkungen
Rz. 89
Teil 12
Beispiele für die hinreichende Erschütterung des Vertrauens:
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– Gemeinsame Erklärung der TV-Parteien über eine rückwirkende Änderung einer konkreten Entlohnungsfrage und deren Bekanntgabe durch Rundverfügung an den betroffenen Personenkreis1; – Bekanntgabe des Ergebnisprotokolls der Sanierungsverhandlungen2; – Information über den Wegfall des Anspruchs auf eine Jahressonderzahlung bei einer Gesamtbetriebsversammlung3; – Bekanntgabe des Inhalts des Verhandlungsergebnisses über eine Senkung des 13. Monatsgehalts auf einer Betriebsversammlung4; – Flugblätter der verhandelnden Gewerkschaft zu den Änderungsverhandlungen in Zusammenhang mit der Kenntnis der Mitarbeiter von der schwierigen wirtschaftlichen Lage des Unternehmens5; – Existenz eines bereits vor Abschluss eines VerbandsTVs vereinbarten HausTVs mit einer Arbeitszeiterhöhung ohne Entgeltausgleich. Bei dieser Lage konnten die Arbeitnehmer nicht darauf vertrauen, dass auf Verbandsebene im FlächenTV erzielte Tarifergebnisse uneingeschränkt auch an sie weitergegeben würden. Zudem hatte der Betriebsrat laufend über den Stand der Verhandlungen hinsichtlich des Abschlusses des neuen (den VerbandsTV verschlechternden) HausTVs informiert6. 3. Information der betroffenen Kreise Ist daher eine rückwirkende Verschlechterung von Arbeitsbedingungen durch einen 88 SanierungsTV geplant, ist der Arbeitgeber gut beraten, rechtzeitig vor Entstehung der betroffenen Ansprüche klar und eindeutig diese bevorstehende Verschlechterung zu kommunizieren, z.B. auf einzuberufenden Betriebsversammlungen oder durch umfassende schriftliche Information der Arbeitnehmer. Für die Arbeitnehmer muss erkennbar sein, welche konkreten Ansprüche betroffen sind und dass mit einer Verschlechterung zu rechnen ist. Es ist aus der Sicht des Arbeitgebers und der Sanierungsverantwortlichen zu empfehlen, dass nicht nur die TV-Parteien, sondern auch der Arbeitgeber, der ggf. im Zusammenwirken mit dem Betriebsrat handelt, über die geplanten Änderungen informiert. Dadurch ist sichergestellt, dass auch die nicht organisierten Arbeitnehmer Kenntnis erlangen7. 4. Rückwirkender Eingriff in ein beendetes Arbeitsverhältnis Das BAG hat klargestellt, dass auch in ein beendetes Arbeitsverhältnis durch einen 89 SanierungsTV rückwirkend eingegriffen werden kann. Ob dies von den TV-Parteien gewollt ist, ist durch Auslegung zu ermitteln. Die normative Rückwirkung eines TVs 1 2 3 4 5 6 7
Vgl. BAG v. 23.11.1994 – 4 AZR 879/93, AP Nr. 12 zu § 1 TVG. Vgl. BAG v. 22.10.2003 – 10 AZR 152/03, AP Nr. 21 zu § 1 TVG Rückwirkung. Vgl. LAG Rheinland-Pfalz v. 10.6.2009 – 8 Sa 767/08, n.v. Vgl. BAG v. 14.11.2001 – 10 AZR 698/00, NZA 2002, 1056. Vgl. BAG v. 17.5.2000 – 4 AZR 216/99, AP Nr. 19 zu § 1 TVG Rückwirkung. Vgl. LAG Rheinland-Pfalz v. 20.7.2010 – 3 Sa 179/10, n.v. Vgl. Meyer, SAE 2008, 55 (59).
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Teil 12 Rz. 90
Der Sanierungstarifvertrag
setzt allerdings voraus, dass sowohl zum Zeitpunkt des rückwirkenden Inkrafttretens als auch im Zeitpunkt des Abschlusses des TVs beiderseitige Tarifbindung besteht1. Die Rückwirkung tariflicher Regelungen aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme hängt beim Fehlen einer ausdrücklichen Vereinbarung von der Auslegung der Bezugnahmeklausel ab. Eine dynamische Bezugnahmeklausel erfasst in der Regel alle das Arbeitsverhältnis betreffenden Änderungen der tariflichen Arbeitsbedingungen, auch wenn sie nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses, aber für die Zeit seines Bestandes rückwirkend vereinbart worden sind2. Es gilt auch hier das Gebot des Vertrauensschutzes. Es bleibt dabei, dass bei dem Eingriff in ein bereits beendetes Arbeitsverhältnis die Kenntnis der betroffenen Kreise maßgeblich ist. Es spielt daher keine Rolle, ob der betroffene Arbeitnehmer bereits aus dem Betrieb ausgeschieden ist und an den betriebsinternen Informationsveranstaltungen nicht mehr teilgenommen hat3.
F. Sanierungstarifvertrag und Betriebsübergang 90
Eine in der Praxis häufige Situation stellt die Veräußerung eines sanierungsbedürftigen Betriebs dar. In diesem Zusammenhang stellen sich zahlreiche Fragen, etwa wie sich der Betriebsübergang auf die Geltung eines SanierungsTVs auswirkt, ob der Betriebsübergang auf einen nicht tarifgebundenen Betriebserwerber zu einem Wegfall der Geschäftsgrundlage führt oder ob bzw. wie ein SanierungsTV nach einem Betriebsübergang gekündigt werden kann.
I. Auswirkungen eines Betriebsübergangs auf die Geltung des Sanierungstarifvertrages 1. Normativ wirkender SanierungsTV 91
Gemäß § 4 Abs. 1 TVG wirkt ein TV normativ, also unmittelbar und zwingend, nur zwischen den beiderseits Tarifgebundenen. Gemäß § 3 Abs. 1 TVG sind dies die Mitglieder der TV-Parteien und der Arbeitgeber, der selbst Partei des TVs ist. Ein SanierungsTV wirkt daher normativ nur zwischen den Arbeitnehmern, die Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaft sind, und dem tarifschließenden Arbeitgeber bzw. dem verbandsangehörigen Arbeitgeber. a) Kollektivrechtliche Weitergeltung
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Ein HausTV gilt bei einem Betriebsübergang im Sinne des § 613a BGB nach Ansicht des BAG nicht kollektivrechtlich weiter4. Das BAG führt als Begründung aus, die Ta1 Vgl. BAG v. 6.8.2002 – 1 AZR 247/01, AP Nr. 154 zu § 112 BetrVG 1972; BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, AP Nr. 24 zu § 1 TVG Rückwirkung; BAG v. 24.10.2007 – 10 AZR 878/06, NZA 2008, 131. 2 Vgl. BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, AP Nr. 24 zu § 1 TVG Rückwirkung. 3 Vgl. Bepler, AuR 2010, 234 (239). 4 Vgl. BAG v. 20.6.2001 – 4 AZR 295/00, AP Nr. 18 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 332/00, AP Nr. 17 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 15.3.2006 – 4 AZR 132/05, AP Nr. 9 zu § 2 TVG FirmenTV; BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, AP Nr. 376 zu § 613a BGB; so auch Ahrendt, RdA 2012, 129; HWK/Henssler, § 3 TVG
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Teil 12 Rz. 90
Der Sanierungstarifvertrag
setzt allerdings voraus, dass sowohl zum Zeitpunkt des rückwirkenden Inkrafttretens als auch im Zeitpunkt des Abschlusses des TVs beiderseitige Tarifbindung besteht1. Die Rückwirkung tariflicher Regelungen aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme hängt beim Fehlen einer ausdrücklichen Vereinbarung von der Auslegung der Bezugnahmeklausel ab. Eine dynamische Bezugnahmeklausel erfasst in der Regel alle das Arbeitsverhältnis betreffenden Änderungen der tariflichen Arbeitsbedingungen, auch wenn sie nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses, aber für die Zeit seines Bestandes rückwirkend vereinbart worden sind2. Es gilt auch hier das Gebot des Vertrauensschutzes. Es bleibt dabei, dass bei dem Eingriff in ein bereits beendetes Arbeitsverhältnis die Kenntnis der betroffenen Kreise maßgeblich ist. Es spielt daher keine Rolle, ob der betroffene Arbeitnehmer bereits aus dem Betrieb ausgeschieden ist und an den betriebsinternen Informationsveranstaltungen nicht mehr teilgenommen hat3.
F. Sanierungstarifvertrag und Betriebsübergang 90
Eine in der Praxis häufige Situation stellt die Veräußerung eines sanierungsbedürftigen Betriebs dar. In diesem Zusammenhang stellen sich zahlreiche Fragen, etwa wie sich der Betriebsübergang auf die Geltung eines SanierungsTVs auswirkt, ob der Betriebsübergang auf einen nicht tarifgebundenen Betriebserwerber zu einem Wegfall der Geschäftsgrundlage führt oder ob bzw. wie ein SanierungsTV nach einem Betriebsübergang gekündigt werden kann.
I. Auswirkungen eines Betriebsübergangs auf die Geltung des Sanierungstarifvertrages 1. Normativ wirkender SanierungsTV 91
Gemäß § 4 Abs. 1 TVG wirkt ein TV normativ, also unmittelbar und zwingend, nur zwischen den beiderseits Tarifgebundenen. Gemäß § 3 Abs. 1 TVG sind dies die Mitglieder der TV-Parteien und der Arbeitgeber, der selbst Partei des TVs ist. Ein SanierungsTV wirkt daher normativ nur zwischen den Arbeitnehmern, die Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaft sind, und dem tarifschließenden Arbeitgeber bzw. dem verbandsangehörigen Arbeitgeber. a) Kollektivrechtliche Weitergeltung
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Ein HausTV gilt bei einem Betriebsübergang im Sinne des § 613a BGB nach Ansicht des BAG nicht kollektivrechtlich weiter4. Das BAG führt als Begründung aus, die Ta1 Vgl. BAG v. 6.8.2002 – 1 AZR 247/01, AP Nr. 154 zu § 112 BetrVG 1972; BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, AP Nr. 24 zu § 1 TVG Rückwirkung; BAG v. 24.10.2007 – 10 AZR 878/06, NZA 2008, 131. 2 Vgl. BAG v. 11.10.2006 – 4 AZR 486/05, AP Nr. 24 zu § 1 TVG Rückwirkung. 3 Vgl. Bepler, AuR 2010, 234 (239). 4 Vgl. BAG v. 20.6.2001 – 4 AZR 295/00, AP Nr. 18 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 332/00, AP Nr. 17 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 15.3.2006 – 4 AZR 132/05, AP Nr. 9 zu § 2 TVG FirmenTV; BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, AP Nr. 376 zu § 613a BGB; so auch Ahrendt, RdA 2012, 129; HWK/Henssler, § 3 TVG
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Sanierungstarifvertrag und Betriebsbergang
Rz. 94
Teil 12
rifgebundenheit des Arbeitgebers an den HausTV basiere auf seiner Stellung als TVPartei und nicht auf der als Partei des Arbeitsvertrages. Es gebe keine Grundlage dafür, dass von dem Übergang der Arbeitgeberstellung hinsichtlich der Arbeitsverhältnisse gemäß § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB auch die Stellung als TV-Partei eines HausTVs erfasst werde. Es gelte vielmehr die Auffangregelung in § 613a Abs. 1 Sätze 2–4 BGB. Dies muss inzwischen als gefestigte Rechtsprechung angesehen werden, ist aber auf (berechtigte) Kritik in der Literatur gestoßen1. Die kollektivrechtliche Weitergeltung eines HausTVs kommt nach der Rechtsprechung des BAG nur bei einer Gesamtrechtsnachfolge (Bsp.: Umwandlung) in Betracht2. Der Betriebserwerber kann einen gleichlautenden HausTV abschließen oder die Übernahme des HausTVs mit der Gewerkschaft vereinbaren. Ein VerbandsTV gilt dann normativ weiter, wenn der Betriebserwerber kraft Mit- 93 gliedschaft in dem tarifschließenden Arbeitgeberverband oder aufgrund Allgemeinverbindlichkeit ebenfalls tarifgebunden ist und der übertragene Betrieb auch nach dem Betriebsübergang dem Geltungsbereich des TVs unterfällt3. Ob der SanierungsTV nach seinem Geltungsbereich weiter anwendbar ist, hängt von der Bestimmung des Geltungsbereichs in dem SanierungsTV ab. Ist die Geltungsbereichsregelung allein betriebsbezogen, kann der SanierungsTV weiter angewandt werden. Ist die Geltungsbereichsregelung dagegen auf das Unternehmen bzw. den Unternehmensträger bezogen, was nicht selten der Fall sein wird, ist der SanierungsTV nach dem Betriebsübergang kollektivrechtlich nicht mehr anwendbar, weil der Betriebserwerber vom Geltungsbereich nicht erfasst wird. b) Transformation in das Arbeitsverhältnis Liegt eine kollektivrechtliche Weitergeltung der Rechtsnormen des TVs nicht vor, 94 kommt § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB zur Anwendung. Bei einem aufgrund beidseitiger Tarifgebundenheit normativ geltenden TV werden gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB die Rechtsnormen des TVs in das neue Arbeitsverhältnis zwischen Arbeitnehmer und Betriebserwerber „transformiert“. Dadurch verlieren sie zwar ihre kollektivrechtliche Geltung und ihre unmittelbare und zwingende Wirkung, behalten jedoch ihren „kollektivrechtlichen“ Charakter4. Außerdem gilt, dass der Regelungsgehalt der TV-Normen statisch mit dem Normzustand zur Zeit des Betriebsübergangs in das Arbeitsverhältnis übergeht. Spätere tarifvertragliche Änderungen bleiben grundsätzlich unberücksichtigt, auch dann, wenn sie nach dem Wortlaut des TVs rückwirkende Geltung erhalten sollen. Eine in der statisch fortgeltenden Norm selbst angelegte Dynamik bleibt aufrechterhalten und wird Inhalt des Arbeitsverhältnisses. Dies umfasst bereits vereinbarte Abschmelzungen ebenso wie bereits vereinbarte Erhöhun-
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Rz. 47; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 239; Seel, MDR 2008, 657 (658); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 1136; Sagan, RdA 2011, 163 (170 f.) [Kollektivrechtliche Bindung des Betriebserwerbers an den HausTV nach dem Sukzessionsmodell). Vgl. ausführlich Teil 15 Rz. 37 ff. Vgl. HK-ArbR/Karthaus/Richter, § 613a BGB Rz. 117; Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 114, 134; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 176; Moll, RdA 1996, 275. Vgl. BAG v. 24.6.1998 – 4 AZR 208/97, AP Nr. 1 zu § 20 UmwG; Moll, in: Henssler/Strohn, 2011, § 324 UmwG Rz. 18; APS/Steffan, 4. Aufl. 2012, § 324 UmwG Rz. 13. Vgl. HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 262. Vgl. BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, AP Nr. 371 zu § 613a BGB; Ahrendt, RdA 2012, 129 (138). Vgl. ausführlich unten Grau, Teil 15 Rz. 48 ff.
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Teil 12 Rz. 95
Der Sanierungstarifvertrag
gen1. Sind in dem SanierungsTV daher bestimmte Reduzierungen, z.B. von Sonderzahlungen, bereits für einen späteren (nach dem Betriebsübergang liegenden) Zeitpunkt konkret vereinbart, gilt diese Dynamik auch nach dem Betriebsübergang weiter. Dasselbe gilt für bereits vereinbarte Einmalzahlungen oder Erhöhungen der Tarifentgelte. Es muss sich um eine Tarifnorm im Sinne des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB handeln, die bereits anspruchsbegründend eine selbst angelegte Dynamik enthält. Begründet ein TV dagegen lediglich die schuldrechtliche Verpflichtung der TV-Parteien zum Abschluss weiterer TVe, so kann nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB keine Bindung des nicht tarifgebundenen Betriebserwerbers an die später abgeschlossenen TVe entstehen2. 95
Verweist die übergegangene Tarifregelung ihrerseits auf andere normative Regelungen, die sich weiterentwickeln, so wird deren Stand zur Zeit des Betriebsübergangs (statisch) zum Inhalt des Arbeitsverhältnisses, die Weiterentwicklung dagegen nicht3.
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Eine nach Betriebsübergang eintretende Beendigung des TVs ohne Nachwirkung führt auch beim Erwerber zu einer Beendigung der Tarifnormen4.
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Inhalte von zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs noch nicht in Kraft getretenen TVen werden grds. nicht nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB transformiert. Dies ist anders, wenn dem Bestand der zu transformierenden Tarifnormen bereits vor dem Betriebsübergang vereinbarte, noch nicht in Kraft getretene Tarifvereinbarungen (Bsp.: Zusatzzahlungen) zuzurechnen sind, weil und wenn sie mit den zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs geltenden Tarifregelungen z.B. eines SanierungsTVs in unmittelbarem Zusammenhang stehen (etwa weil sie als „Sanierungspaket“ vereinbart worden sind) und inhaltlich so eng miteinander verknüpft sind, dass die später in Kraft tretende Tarifnorm arbeitgeberseitig nach dem Willen der TV-Parteien nicht mehr gekündigt werden kann, weil sie einen Ausgleich für vorangegangene Einschränkungen schafft oder auch nur eine Belohnung darstellt für die Betriebstreue in einer mit besonderen Belastungen verbundenen Sanierungsphase. In solchen Fällen hat sich die Rechtsposition der Belegschaft zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs schon so sehr verfestigt, dass sie als zu der in das Arbeitsverhältnis zu transformierenden Tariflage gehörig anzusehen ist5.
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§ 613a Abs. 1 Satz 2 BGB enthält eine einjährige Veränderungssperre, wonach die transformierten Arbeitsbedingungen vor Ablauf eines Jahres nach dem Zeitpunkt des Betriebsübergang nicht zum Nachteil des Arbeitnehmers geändert werden können. Etwas anderes gilt in den Fällen des § 613a Abs. 1 Sätze 3 und 4 BGB.
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Eine Ablösung der bisherigen Tarifnorm durch einen beim Erwerber geltenden TV, an den der bislang verbandsangehörige Arbeitnehmer nicht normativ gebunden ist, kann 1 Vgl. BAG v. 19.9.2007 – 4 AZR 711/06, AP Nr. 328 zu § 613a BGB; BAG v. 14.11.2007 – 4 AZR 828/06, AP Nr. 334 zu § 613a BGB; BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, AP Nr. 371 zu § 613a BGB; BAG v. 21.4.2010 – 4 AZR 768/08, AP Nr. 387 zu § 613a BGB; Moll/Krahforst, Anm. zu BAG AP Nr. 387 zu § 613a BGB. 2 Vgl. LAG Berlin-Brandenburg v. 25.6.2009 – 25 Sa 582/09. 3 Vgl. BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 332/00, AP Nr. 17 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 14.11.2007 – 4 AZR 828/06, AP Nr. 334 zu § 613a BGB. 4 Vgl. BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, AP Nr. 371 zu § 613a BGB. 5 Vgl. LAG Berlin-Brandenburg v. 10.9.2009 – 26 Sa 39/09.
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Sanierungstarifvertrag und Betriebsbergang
Rz. 100 Teil 12
bezüglich dieses Arbeitnehmers nicht nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB erfolgen. Es fragt sich, was gilt, wenn im Arbeitsvertrag eine große dynamische Bezugnahmeklausel vereinbart ist. Diese würde dazu führen, dass nunmehr der beim Erwerber geltende TV gemäß § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB individualvertraglich gilt, während der beim Veräußerer geltende TV gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB (statisch) weiter gelten würde. Diese Situation wird in der Literatur teilweise unter Anwendung des § 613a Abs. 1 Satz 4 BGB gelöst, so dass die (bereits bestehende) große dynamische Bezugnahmeklausel als schuldrechtliche Vereinbarung der Anwendung des beim Erwerber geltenden TVs zwischen dem Arbeitnehmer und dem Erwerber angesehen wird1. Es wird teilweise demgegenüber angenommen, dass der beim Erwerber geltende TV innerhalb des ersten Jahres nach dem Betriebsübergang nur dann anwendbar sein könne, wenn er im Vergleich zu dem beim Veräußerer geltenden TV für den Arbeitnehmer günstiger sei; dies folge aus der einjährigen Veränderungssperre des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB2. Das BAG hat sich dieser Sichtweise angeschlossen. Die nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB in das Arbeitsverhältnis transformierte Tarifnorm unterliegt, soweit keine gesetzliche Ablösungsregel eingreift, dem Günstigkeitsprinzip. Kommt es also zu einer Kollision zwischen einer gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB transformierten Tarifnorm und einer individualvertraglichen Vereinbarung oder Verweisung auf einen beim Erwerber geltenden TV (§ 613a Abs. 1 Satz 1 BGB), so ist die dadurch entstehende Regelkollision nach dem Kollisionslösungsprinzip des Günstigkeitsvergleichs gemäß § 4 Abs. 3 TVG aufzulösen3. c) Ausschluss der Weitergeltung gemäß § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB Die Anwendung des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB und somit die Fortgeltung auch eines 100 SanierungsTVs ist ausgeschlossen, wenn die Rechte und Pflichten bei dem Betriebserwerber durch Rechtsnormen eines anderen TVs geregelt werden. Voraussetzung dafür ist nach der überwiegenden Meinung, dass sowohl der übernommene Arbeitnehmer als auch der Betriebserwerber entweder kraft Mitgliedschaft in den tarifschließenden Parteien oder kraft Allgemeinverbindlichkeit gemäß § 5 TVG nach dem Betriebsübergang an den beim Erwerber geltenden TV gebunden sind (Erfordernis der kongruenten Tarifgebundenheit)4. Der andere TV im Sinne des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB verdrängt die nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortgeltenden Tarifbestimmungen unabhängig davon, ob dessen Normgeltung bereits bei Betriebsübergang begründet ist oder erst später – egal wann – begründet wird5. Das gilt auch bei einem allgemeinverbindlichen TV, an den nach dem Betriebsübergang sowohl Erwerber als auch Arbeit1 Vgl. Bauer/Günther, NZA 2008, 6 (11) m.w.N. 2 Vgl. Annuß, ZfA 2005, 405 (455) m.w.N. 3 Vgl. BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, AP Nr. 371 zu § 613a BGB; BAG v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, AP Nr. 75 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag. 4 Vgl. BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 581/99, AP Nr. 12 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 21.2.2001 – 4 AZR 18/00, AP Nr. 20 zu § 4 TVG; BAG v. 11.5.2005 – 4 AZR 315/04, AP Nr. 30 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 602/06, AP Nr. 63 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 123; HWK/Willemsen/MüllerBonanni, § 613a BGB Rz. 263. Siehe aber demgegenüber LAG Köln v. 30.9.1999 – 6 (9) Sa 740/99, NZA-RR 2000, 179; Moll, RdA 1996, 275 (280); Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/ Seibt/Hohenstatt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, E II Rz. 149 ff. Siehe zum Ganzen ausf. unten Grau, Teil 15 Rz. 100 ff. 5 Vgl. BAG v. 11.5.2005 – 4 AZR 315/04, AP Nr. 30 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz.
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Teil 12 Rz. 101
Der Sanierungstarifvertrag
nehmer normativ gebunden sind1. Die Ablösungswirkung tritt nur dann ein, wenn das Arbeitsverhältnis dem Geltungsbereich des anderen TVs in jeder Hinsicht unterfällt. 101 Die Ablösung setzt voraus, dass dieselben Regelungsgegenstände betroffen sind, was durch Auslegung zu ermitteln ist2. Es muss gefragt werden, ob der bisher beim Veräußerer geregelte Sachkomplex eine entsprechende Regelung beim Erwerber gefunden hat. Unerheblich ist, ob die neue Regelung günstiger ist oder nicht; es gilt das Ablösungsprinzip und nicht das Günstigkeitsprinzip3. Soweit sich die Regelungsbereiche nicht decken, können die Regelungen des alten TVs gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortgelten4. Wenn also beispielsweise in dem SanierungsTV sowie in dem beim Erwerber geltenden TV Regelungen bezüglich eines 13. Monatsgehalts oder eines Urlaubsgeldes existieren, handelt es sich um übereinstimmende Regelungsgegenstände, sodass nunmehr die Regelungen des beim Erwerber geltenden TVs hinsichtlich der Sonderzahlungen Anwendung finden. Dem steht nicht entgegen, dass der SanierungsTV ggf. Standortsicherungsklauseln enthält. Die Regelungsidentität kann nicht deshalb verneint werden, weil der befristete Ausschluss bzw. die befristete Reduzierung tariflicher Ansprüche und die befristete Standortsicherung in einem Zusammenhang stehen. Es handelt sich dabei nicht um einen einheitlichen Regelungsgegenstand5. Entsprechendes gilt, wenn der beim Erwerber anzuwendende TV ein Gehalt vorsieht, das in zwölf Teilen zu zahlen ist, der TV des Veräußerers jedoch ein 13. Monatsgehalt vorsieht. Mit der Ablösung durch den beim Erwerber geltenden TV fällt das 13. Monatsgehalt weg, da davon auszugehen ist, dass die TV-Parteien des ErwerberTVs den Komplex „Gehalt“ umfassend geregelt haben6. Beinhaltet der SanierungsTV Regelungen über unbezahlte Überstunden und existiert in dem beim Erwerber geltenden TV eine umfassende Arbeitszeitregelung, dann verdrängt diese Arbeitszeitregelung die Überstundenregelung des SanierungsTVs, weil davon auszugehen ist, dass die Tarifparteien den Komplex „Arbeitszeit“ komplett geregelt haben. Etwas anderes kann sich aufgrund einer Auslegung anhand der Einzelfallumstände ergeben7. 102 Das Vorhandensein einer konstitutiven Bezugnahmeklausel bei verbandsangehörigen Arbeitnehmern kann zu folgender Konstellation führen: Ist der verbandsangehörige Arbeitnehmer Mitglied der Gewerkschaft, die den TV beim Erwerber geschlossen hat, gilt dieser TV für den verbandsangehörigen Arbeitnehmer normativ (§ 613a Abs. 1 Satz 3 BGB). Beinhaltet die konstitutive Bezugnahmeklausel des verbandsangehörigen Arbeitnehmers eine Verweisung auf einen beim Veräußerer geltenden VerbandsTV, d.h. liegt keine große dynamische Bezugnahmeklausel vor, so kann sich der Arbeitnehmer auf die evtl. günstigeren Regelungen des beim Veräußerer geltenden TVs 1 Vgl. BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 1023/08, AP Nr. 388 zu § 613a BGB. 2 Vgl. BAG v. 20.4.1994 – 4 AZR 342/93, AP Nr. 108 zu § 613a BGB; BAG v. 22.1.2003 – 10 AZR 227/02, AP Nr. 242 zu § 613a BGB; BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 602/06, AP Nr. 63 zu § 1 TVG; Moll RdA 2007, 47 (49). 3 Vgl. BAG v. 11.5.2005 – 4 AZR 315/04, AP Nr. 30 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; Staudinger/Annuß, § 613a BGB (Stand 12/2010) Rz. 220; Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt/Hohenstatt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, E II Rz. 144; Seel, MDR 2008, 657 (660); Moll/Krahforst, Anm. zu BAG AP Nr. 387 zu § 613a BGB. 4 Vgl. BAG v. 20.4.1994 – 4 AZR 342/93, AP Nr. 108 zu § 613a BGB. 5 Vgl. BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 602/06, AP Nr. 63 zu § 1 TVG. 6 Vgl. HK-ArbR/Karthaus/Richter, § 613a BGB Rz. 130. 7 Vgl. Moll, RdA 2007, 47 (49).
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Sanierungstarifvertrag und Betriebsbergang
Rz. 105 Teil 12
berufen, da diese individualvertraglich über die Bezugnahmeklausel in Verbindung mit § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB weiterhin anzuwenden sind. Dies folgt aus der Anwendung des Günstigkeitsprinzips1. 2. Geltung des Sanierungstarifvertrages aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme Der nicht verbandsangehörige Arbeitnehmer unterliegt dem SanierungsTV nicht kraft 103 Normwirkung. Der SanierungsTV kann für diesen Arbeitnehmer (individualrechtlich) dann zur Anwendung gelangen, wenn in dem Arbeitsvertrag dieses Arbeitnehmers eine Bezugnahmeklausel vereinbart worden ist, die auch den SanierungsTV erfasst. Der Betriebserwerber tritt gemäß § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB in die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Betriebsübergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen ein. Diese arbeitsvertraglich vereinbarten Arbeitsbedingungen beinhalten auch die arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel. Es hängt dann vom Inhalt der jeweiligen Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag des nicht verbandsangehörigen Arbeitnehmers ab, ob der SanierungsTV auch nach einem Betriebsübergang auf ihn Anwendung findet. Zwar kann durch einen zwischen dem Veräußerer und Erwerber geschlossenen Per- 104 sonalüberleitungsvertrag ohne die Zustimmung des einzelnen Arbeitnehmers eine dynamische Anwendbarkeit von TVen nicht vereinbart werden. Jedoch kann Arbeitnehmern die Berechtigung eingeräumt werden, eine Vereinbarung über die dynamische Anwendung von TVen gemäß dem Personalüberleitungsvertrag zu verlangen2; es obliegt dann der Entscheidung der Arbeitnehmer, diesen schuldrechtlichen Anspruch geltend zu machen oder nicht. Ob ein Personalüberleitungsvertrag eine solche Berechtigung enthält, ist durch Auslegung zu ermitteln. a) Kleine dynamische Bezugnahmeklausel Enthält der Arbeitsvertrag des Außenseiter-Arbeitnehmers eine als Gleichstellungs- 105 abrede auszulegende Bezugnahmeklausel, die einen TV beim Betriebsveräußerer erfasst hat, so wirkt der beim Betriebsveräußerer geltende TV – nichts anderes hat für den SanierungsTV zu gelten – nach dem Betriebsübergang nur noch statisch fort; die Bezugnahme wirkt bei der Auslegung als Gleichstellungsabrede beim Betriebsübergang nur noch als statische Verweisung3. Ergibt die Auslegung, dass der SanierungsTV erfasst ist (nach der Rechtsprechung des BAG beispielsweise dann, wenn auf die jeweils einschlägigen FlächenTVe Bezug genommen wird, weil und wenn in der Bezugnahmeklausel der Wille zum Ausdruck gebracht wird, die betrieblich einschlägigen Tarifwerke zur Anwendung gelangen zu lassen)4, übernimmt der Erwerber gemäß § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB diese Arbeitsverhältnisse mitsamt den Regelungen des in Bezug genommenen SanierungsTVs. Ist der Erwerber an einen anderen TV gebunden und gilt dieser ErwerberTV für die verbandsangehörigen Arbeitnehmer gemäß § 613a 1 Vgl. BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, AP Nr. 61 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, AP Nr. 371 zu § 613a BGB; Bayreuther, ZIP 2008, 573 (574); Bayreuther, DZWIR 2010, 353 (354). 2 Vgl. BAG v. 23.2.2011 – 4 AZR 439/09, AP Nr. 60 zu § 133 BGB. 3 Vgl. Ahrendt, RdA 2012, 129 (139); Giesen, NZA 2006, 625 (626); Preis/Greiner, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 108. 4 Vgl. BAG v. 23.3.2005 – 4 AZR 203/04, AP Nr. 29 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 602/06, AP Nr. 63 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag.
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1005
Teil 12 Rz. 106
Der Sanierungstarifvertrag
Abs. 1 Satz 3 BGB, stellt sich die Frage, ob es bei Vorliegen einer lediglich kleinen dynamischen Bezugnahmeklausel auch auf individualvertraglicher Ebene zu einem Tarifwechsel kommen kann. Dies ist für den Fall zu bejahen, dass die kleine dynamische Bezugnahmeklausel als Gleichstellungsabrede auszulegen ist. Der Gleichstellungszweck der Bezugnahmeklausel begründet die inhaltliche Anpassung des Bezugnahmeobjekts1. Eine andere Frage ist, ob und wann im Einzelfall die im Sinne einer kleinen dynamischen Bezugnahmeklausel formulierte Verweisungsregelung derart im Sinne einer Gleichstellungsregelung auszulegen ist. Das BAG legt für ab dem 1. Januar 2002 abgeschlossene Arbeitsverträge kleine dynamische Bezugnahmeklauseln nicht mehr ohne weiteres als Gleichstellungsabrede aus und hat selbst für kleine dynamische Bezugnahmeklauseln im Sinne von Gleichstellungsabreden entschieden, dass eine kleine dynamische Verweisung über ihren Wortlaut hinaus nur dann als Tarifwechselklausel im Falle eines Betriebsübergangs ausgelegt werden kann, wenn sich dies aus besonderen Umständen ergibt2. Dies ist durch Auslegung ausgehend vom Wortlaut und unter Zugrundelegung von Sinn und Zweck der Verweisung zu ermitteln. b) Große dynamische Bezugnahmeklausel 106 Handelt es sich um eine große dynamische Bezugnahmeklausel, die den SanierungsTV erfasst hat, kommt es darauf an, ob der Erwerber tarifgebunden ist oder nicht. Ist der Erwerber an einen (anderen) TV gebunden, ist die Konsequenz einer großen dynamischen Bezugnahmeklausel, dass nunmehr der bei dem Erwerber als neuem Arbeitgeber einschlägige TV anzuwenden ist3. Dies ergibt sich aus § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB. Ist der Erwerber nicht tarifgebunden, geht die Verweisung bei üblichem Verständnis der großen dynamischen Bezugnahmeklausel ins Leere, da es nach dem Betriebsübergang an einem Bezugnahmeobjekt fehlt. Eine große dynamische Bezugnahmeklausel verweist regelmäßig auf die den Arbeitgeber „jeweils normativ bindenden“ TVe und setzt damit die Tarifbindung des Arbeitgebers voraus. Entsprechend ist das BAG davon ausgegangen, dass bei einem Betriebsübergang von einem tarifgebundenen auf einen nicht tarifgebundenen Arbeitgeber eine große dynamische Bezugnahmeklausel ihren materiellrechtlichen Bedeutungsgehalt verliert4. Das Arbeitsverhältnis unterliegt danach beim nicht tarifgebundenen Betriebserwerber aufgrund der großen dynamischen Verweisungsklausel nach dem Betriebsübergang keinen Tarifnormen mehr, weder denjenigen des Veräußerers noch solchen der Branche und des Gebiets des Erwerbers. Das Arbeitsverhältnis unterliegt daher insbesondere auch nicht mehr den Regelungen des SanierungsTVs. Die Position des BAG ist freilich nicht unumstrit1 Vgl. BAG v. 23.1.2008 – 4 AZR 602/06, AP Nr. 63 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 372. 2 Vgl. BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, AP Nr. 61 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 15.4.2008 – 9 AZR 159/07, AP Nr. 38 zu § 1 TVG Altersteilzeit; BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, AP Nr. 371 zu § 613a BGB; BAG v. 6.7.2011 – 4 AZR 706/09, NZA 2012, 100 (104 f.). Vgl. ausführlich unten Grau, Teil 15 Rz. 157 ff. 3 Vgl. BAG v. 25.9.2002 – 4 AZR 294/01, AP Nr. 26 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 16.10.2002 – 4 AZR 467/01, AP Nr. 22 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt/Hohenstatt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, E II Rz. 187; Preis/Greiner, Der Arbeitsvertrag, II V 40 Rz. 113; Hümmerich/ Reufels/Reufels, Gestaltung von Arbeitsverträgen, § 20 Rz. 1625. 4 Vgl. BAG v. 4.8.1999 – 5 AZR 642/98, AP Nr. 14 zu § 1 TVG Tarifverträge; Papierindustrie.
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Sanierungstarifvertrag und Betriebsbergang
Rz. 108 Teil 12
ten1. Anders liegt es, wenn die große dynamische Bezugnahmeklausel so formuliert und zu verstehen ist, dass es nur auf den Geltungsbereich der TVe und nicht auch auf die Tarifbindung des Arbeitgebers ankommt; auch dann sind zwar die „alten“ Tarifregelungen einschließlich des SanierungsTVs nach dem Betriebsübergang nicht mehr anwendbar, an ihre Stelle können jedoch nach dem Betriebsübergang die neuen Tarifregelungen treten. Der Praxis ist zu empfehlen, die Folgen eines Wegfalls der normativen Tarifbindung des Arbeitgebers in der Bezugnahmeklausel klarzustellen2.
II. Wegfall der Geschäftsgrundlage des Sanierungstarifvertrages durch den Betriebsübergang auf einen nicht tarifgebundenen Betriebserwerber? Das BAG hat klargestellt, dass durch einen Betriebsübergang die Geschäftsgrundlage 107 des SanierungsTVs ohne eine diesbezügliche Vereinbarung der TV-Parteien nicht entfällt. Geschäftsgrundlage einer Transformation nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB sei allein die normative Geltung der Tarifregelungen im Arbeitsverhältnis vor dem Betriebsübergang. Die Grundlage der Transformation seien die Tatbestandsmerkmale des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB, die Geschäftsgrundlage der transformierten Tarifnormen selbst sei dabei nicht von Bedeutung3. Ein SanierungsTV endet also durch einen Betriebsübergang nicht automatisch. Dies muss ausdrücklich vereinbart sein. Existiert eine entsprechende Vereinbarung (Bsp.: Betriebsübergang als auflösende Bedingung) und ist für diesen Fall die Rückkehr zum VerbandsTV vorgesehen, tritt diese Wirkung mit dem Zeitpunkt des Betriebsübergangs automatisch ein (§ 613a Abs. 1 Satz 1 bzw. Satz 2 BGB)4. Entsprechend sind Regelungen bekannt, wonach sanierungsbedingte Kürzungsrege- 107a lungen entfallen, wenn die Arbeitnehmer aufgrund Betriebs- oder Betriebsteilübergangs aus dem Unternehmen ausscheiden5. Der Betriebs- oder Betriebsteilerwerber muss also entweder mit den erhöhten Entgelten im Falle der Fortführung kalkulieren oder den Veräußerer veranlassen, mit der zuständigen Gewerkschaft eine Tarifregelung zu vereinbaren, die (unter bestimmten Voraussetzungen mindestens) die Sanierungskonditionen fortschreibt.
III. Kündigung des Sanierungstarifvertrages Die Geltung des SanierungsTVs kann unter die auflösende Bedingung eines Betriebs- 108 inhaberwechsels gestellt werden6. Ist für den Fall des Betriebsübergangs keine Beendigung des SanierungsTV vereinbart, stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten einer Kündigung. Die Möglichkeit einer Kündigung scheitert nicht daran, dass der Betriebsveräußerer nicht (mehr) Betriebsinhaber ist7; der Betriebsübergang ändert nichts an 1 Zu den Einzelheiten ausführlich unten Grau, Teil 15 Rz. 162 ff. 2 Vgl. den Formulierungsvorschlag bei Preis/Greiner, NZA 2007, 1073 (1079). 3 Vgl. BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, AP Nr. 371 zu § 613a BGB; BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, AP Nr. 376 zu § 613a BGB. 4 Vgl. LAG Berlin-Brandenburg v. 10.9.2009 – 26 Sa 39/09. 5 Siehe dazu etwa Dzida, AnwBl 2013, 159 (161). 6 Vgl. Grau/Sittard, BB 2010, 1093 (1094). 7 Vgl. BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, AP Nr. 376 zu § 613a BGB.
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Teil 12 Rz. 108a
Der Sanierungstarifvertrag
der Parteistellung derjenigen, die den SanierungsTV abgeschlossen haben. Ob den Parteien des SanierungsTVs eine Möglichkeit gegeben ist, diesen nach einem Betriebsübergang zu kündigen, hängt von der konkreten Ausgestaltung des SanierungsTVs ab. Es ist denkbar, dass die TV-Parteien ein ordentliches Kündigungsrecht unabhängig von etwaigen Betriebsübergängen vereinbart haben1. Dieses Kündigungsrecht bleibt von einem Betriebsübergang unberührt und kann jederzeit unter Beachtung der vereinbarten Kündigungsfrist ausgeübt werden. Ebenso kann für den Fall des Betriebsübergangs ein Sonderkündigungsrecht vereinbart sein. 108a Ist keine auflösende Bedingung vereinbart, wird die Geltung des SanierungsTVs durch den Betriebsübergang nicht tangiert. Es kommt, wenn die Voraussetzungen einer kollektivrechtlichen Weitergeltung nicht vorliegen, zu einer Transformation der tariflichen Regelungen nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB2. Der Transformation der Normen des SanierungsTVs lässt sich nicht entgegenhalten, dass durch den Betriebsübergang die Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) entfallen sein könnte. Geschäftsgrundlage der Transformation des SanierungsTVs ist nur dessen normative Geltung im Arbeitsverhältnis vor dem Betriebsübergang. Geschäftsgrundlage sind demgegenüber nicht die tatsächlichen Gegebenheiten beim Veräußerer oder ein bestimmter Branchenbezug des SanierungsTVs (vgl. im Einzelnen Rz. 107). 108b Eine Beendigung des SanierungsTVs kann im Falle eines Betriebsübergangs, wenn keine auflösende Bedingung vereinbart ist, (nur) durch Ablauf einer vereinbarten Befristung oder durch Gebrauchmachen von einer vereinbarten Kündigungsmöglichkeit eintreten. Die Kündigung hat gegenüber der anderen TV-Partei zu erfolgen. Für einen HausTV bedeutet dies, dass der SanierungsTV durch die Gewerkschaft gegenüber dem Betriebsveräußerer zu kündigen ist, da der Betriebserwerber durch den Betriebsübergang nicht TV-Partei geworden ist. Für den firmenbezogenen VerbandsTV erfolgt die Kündigung der Gewerkschaft gegenüber dem Arbeitgeberverband. Die tarifschließende Gewerkschaft bleibt auch nach einer Transformation der Tarifnormen Partei des TVs und ist kündigungsberechtigt3. Auf der anderen Seite bleiben der vertragschließende Arbeitgeberverband beim firmenbezogenen VerbandsTV und der tarifschließende Arbeitgeber/Betriebsveräußerer beim HausTV kündigungsbefugt4. Die Kündigung des SanierungsTVs hat, wenn die Nachwirkung ausgeschlossen oder anderweitig erledigt ist, nach Ablauf der Kündigungsfrist die Beendigung der Regelungen des SanierungsTVs auch bezüglich der auf den Erwerber übergegangenen Arbeitsverhältnisse zur Folge. Die gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortgeltenden Tarifnormen fallen ersatzlos weg, wenn sie ohne Nachwirkung enden. Dies stellt keinen Widerspruch zu dem Grundsatz dar, dass die Tarifgeltung nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB statisch erfolgt und spätere Änderungen des TVs keine Auswirkungen haben; die Transformation ist auf die Zeit der Tarifgeltung beschränkt5. Ist die Nachwirkung nicht ausgeschlossen, ist nach all-
1 Vgl. BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, AP Nr. 371 zu § 613a BGB; BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, AP Nr. 376 zu § 613a BGB. 2 Vgl. BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, AP Nr. 371 zu § 613a BGB; BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, AP Nr. 376 zu § 613a BGB. 3 Vgl. Hanau/Strauß, FS Bepler, S. 199 (204). 4 Siehe dazu kritisch Grau/Sittard, BB 2010, 1093; Hanau/Strauß, FS Bepler, S. 199 (204). Vgl. ausführlich unten Grau, Teil 15 Rz. 71 ff. 5 Vgl. Hohenstatt, NZA 2010, 23 (25); Meyer, DB 2010, 1404 (1405).
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Sanierungsbetriebsvereinbarung
Rz. 112 Teil 12
gemeinen Grundsätzen zu entscheiden, welche Wirkung den Sanierungstarifregelungen noch im Verhältnis zu sonstigen Bestimmungen zukommt (vgl. Rz. 57 ff.). Die Transformation der vormals in einem TV geregelten Rechte und Pflichten führt 109 nicht dazu, dass nunmehr etwa dem einzelnen Arbeitnehmer ein hierauf bezogenes Kündigungsrecht zusteht, welches sich aus dem Kündigungsrecht der TV-Parteien ableitet1. Die Parteien des SanierungsTVs können vereinbaren, dass eine Kündigung im Falle 110 eines Betriebsübergangs nur dann in Betracht kommt, wenn die Sanierungssituation weggefallen ist. Dies kann deshalb erwägenswert sein, weil es oftmals Ziel des Betriebserwerbers ist, die Sanierung des erworbenen Unternehmens weiter voranzutreiben, was durch die Weitergeltung des SanierungsTVs erleichtert wird.
G. Sanierungsbetriebsvereinbarung Alternative zum Abschluss eines SanierungsTVs ist der Abschluss einer Sanierungs- 111 betriebsvereinbarung2 zwischen dem betroffenen Unternehmen und dem Betriebsrat. Dem steht regelmäßig entgegen, dass nach § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch TV geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein können.
I. Bedeutung des Tarifvorrangs; Reichweite Die Vorschrift dient der Sicherung der Tarifautonomie3. Erfasst werden die Rege- 112 lungsgegenstände, die entweder bereits durch einen existierenden TV geregelt sind oder bei Nichtbestehen eines TVs üblicherweise geregelt werden. Darunter fallen z.B. Regelungen über Zeit, Ort und Art der Auszahlung des Arbeitsentgelts, Dauer und Lage der täglichen Arbeitszeit sowie über Urlaub und Urlaubsgewährung. Auch Regelungen, die den (zeitlich begrenzten) Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen gegen Entgeltverzicht und/oder Arbeitszeitverlängerung ohne Entgeltausgleich betreffen, können grundsätzlich nicht wirksam durch Betriebsvereinbarung geregelt werden4. Durch eine Betriebsvereinbarung kann nicht nur nicht zulasten, sondern auch nicht zugunsten der Arbeitnehmer von einer tariflichen Regelung abgewichen werden. Das Günstigkeitsprinzip nach § 4 Abs. 3 TVG findet wegen § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG auf das Verhältnis zwischen TV und Betriebsvereinbarung keine Anwendung5.
1 Vgl. BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, AP Nr. 371 zu § 613a BGB; BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, AP Nr. 376 zu § 613a BGB; LAG Düsseldorf v. 11.3.2010 – 11 Sa 1264/09; Hanau/ Strauß, FS Bepler, S. 199 (203). 2 Vgl. ausführlich Seitz, Teil 11. Zur Tarifsperre im Gemeinschaftsbetrieb etwa Edenfeld, DB 2012, 575 ff. 3 Vgl. BAG v. 12.12.2006 – 1 AZR 96/06, AP Nr. 94 zu § 77 BetrVG 1972. 4 Vgl. Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 4 TVG Rz. 538. 5 Vgl. Fitting, § 77 BetrVG Rz. 97; ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 43; Richardi/Richardi, § 77 BetrVG Rz. 239; HWGNRH/Worzalla, § 77 BetrVG Rz. 142.
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Sanierungsbetriebsvereinbarung
Rz. 112 Teil 12
gemeinen Grundsätzen zu entscheiden, welche Wirkung den Sanierungstarifregelungen noch im Verhältnis zu sonstigen Bestimmungen zukommt (vgl. Rz. 57 ff.). Die Transformation der vormals in einem TV geregelten Rechte und Pflichten führt 109 nicht dazu, dass nunmehr etwa dem einzelnen Arbeitnehmer ein hierauf bezogenes Kündigungsrecht zusteht, welches sich aus dem Kündigungsrecht der TV-Parteien ableitet1. Die Parteien des SanierungsTVs können vereinbaren, dass eine Kündigung im Falle 110 eines Betriebsübergangs nur dann in Betracht kommt, wenn die Sanierungssituation weggefallen ist. Dies kann deshalb erwägenswert sein, weil es oftmals Ziel des Betriebserwerbers ist, die Sanierung des erworbenen Unternehmens weiter voranzutreiben, was durch die Weitergeltung des SanierungsTVs erleichtert wird.
G. Sanierungsbetriebsvereinbarung Alternative zum Abschluss eines SanierungsTVs ist der Abschluss einer Sanierungs- 111 betriebsvereinbarung2 zwischen dem betroffenen Unternehmen und dem Betriebsrat. Dem steht regelmäßig entgegen, dass nach § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch TV geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein können.
I. Bedeutung des Tarifvorrangs; Reichweite Die Vorschrift dient der Sicherung der Tarifautonomie3. Erfasst werden die Rege- 112 lungsgegenstände, die entweder bereits durch einen existierenden TV geregelt sind oder bei Nichtbestehen eines TVs üblicherweise geregelt werden. Darunter fallen z.B. Regelungen über Zeit, Ort und Art der Auszahlung des Arbeitsentgelts, Dauer und Lage der täglichen Arbeitszeit sowie über Urlaub und Urlaubsgewährung. Auch Regelungen, die den (zeitlich begrenzten) Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen gegen Entgeltverzicht und/oder Arbeitszeitverlängerung ohne Entgeltausgleich betreffen, können grundsätzlich nicht wirksam durch Betriebsvereinbarung geregelt werden4. Durch eine Betriebsvereinbarung kann nicht nur nicht zulasten, sondern auch nicht zugunsten der Arbeitnehmer von einer tariflichen Regelung abgewichen werden. Das Günstigkeitsprinzip nach § 4 Abs. 3 TVG findet wegen § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG auf das Verhältnis zwischen TV und Betriebsvereinbarung keine Anwendung5.
1 Vgl. BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, AP Nr. 371 zu § 613a BGB; BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, AP Nr. 376 zu § 613a BGB; LAG Düsseldorf v. 11.3.2010 – 11 Sa 1264/09; Hanau/ Strauß, FS Bepler, S. 199 (203). 2 Vgl. ausführlich Seitz, Teil 11. Zur Tarifsperre im Gemeinschaftsbetrieb etwa Edenfeld, DB 2012, 575 ff. 3 Vgl. BAG v. 12.12.2006 – 1 AZR 96/06, AP Nr. 94 zu § 77 BetrVG 1972. 4 Vgl. Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 4 TVG Rz. 538. 5 Vgl. Fitting, § 77 BetrVG Rz. 97; ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 43; Richardi/Richardi, § 77 BetrVG Rz. 239; HWGNRH/Worzalla, § 77 BetrVG Rz. 142.
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Teil 12 Rz. 113
Der Sanierungstarifvertrag
113 Ein bestehender HausTV kann in seinem Geltungsbereich ebenso Sperrwirkung entfalten wie ein VerbandsTV. Ein nur noch nachwirkender TV entfaltet dagegen grundsätzlich keine Sperrwirkung als bestehender TV1. Die Sperrwirkung ergibt sich dann, wenn die Regelung tarifüblich ist. Die Sperrwirkung eines nur noch nachwirkenden TVs wird sich daher in der Regel aus der Tarifüblichkeit ergeben. 114 Durch bestehende oder übliche tarifliche Regelungen wird nicht jede Regelung in einer Betriebsvereinbarung auf diesem Gebiet gänzlich ausgeschlossen. Die Sperrwirkung erfasst nur die Kollision von konkret geregelten Arbeitsbedingungen. Regelt eine Betriebsvereinbarung beispielsweise Leistungen, die einen bestimmten Zweck verfolgen oder aus einem besonderen Anlass gewährt werden (Bsp.: Weihnachtsgratifikationen, Jubiläumszuwendungen), und finden sich in dem TV nur allgemeine Regelungen bezüglich der Arbeitsentgelte, sind diese besonderen Leistungen nicht von der Sperrwirkung erfasst2. 115 Unter Verstoß gegen die Vorschrift des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG geschlossene Betriebsvereinbarungen sind (schwebend) unwirksam3. Ihre Wirksamkeit kann wieder aufleben, wenn die tarifliche Regelung entfällt oder keine Tarifüblichkeit mehr vorliegt4. Dazu führt das BAG aus: „Die Vorschrift des § 77 Abs. 3 BetrVG ist als kompetenzbegrenzende Norm ausgestaltet, sie beschränkt die rechtliche Gestaltungsmacht der Betriebspartner. Kompetenznormen sind aber nicht ohne Weiteres einer Verbotsnorm im Sinne des § 134 BGB gleichzusetzen. Gegen die Annahme einer Verbotsnorm mit Nichtigkeitsfolge spricht auch der Gesetzeswortlaut, wonach tariflich geregelte Arbeitsbedingungen nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein „können“. Bei Formulierungen dieser Art handelt es sich in der Regel nicht um ein gesetzliches Verbot, sondern nur um eine zur endgültigen oder schwebenden Unwirksamkeit führende Einschränkung der Gestaltungsmacht“5.
II. Tarifvertragliche Öffnungsklausel 116 Gemäß § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG können Betriebsvereinbarungen über Tarifgegenstände dann wirksam abgeschlossen werden, wenn dies im TV gestattet worden ist. Erforderlich ist, dass eine ausdrückliche Zulassung vorliegt, eine stillschweigende Zulassung ist ausgeschlossen6. Der TV muss klar und eindeutig den Abschluss von Betriebsvereinbarungen über Tarifgegenstände zulassen (Gebot der Rechtsklarheit).
1 Vgl. Fitting, § 77 BetrVG Rz. 83; HWGNRH/Worzalla, § 77 BetrVG Rz. 111. 2 Vgl. BAG v. 9.12.1997 – 1 AZR 319/97, AP Nr. 11 zu § 77 BetrVG 1972; HWGNRH/Worzalla, § 77 BetrVG Rz. 114. 3 Siehe zum gewerkschaftlichen Beseitigungsanspruch bei tarifwidrigen betrieblichen Regelungen zuletzt BAG v. 17.5.2011 – 1 AZR 473/09, NZA 2011, 1169. 4 Vgl. BAG v. 20.4.1999 – 1 AZR 631/98, AP Nr. 12 zu § 77 BetrVG 1972; BAG v. 29.1.2002 – 1 AZR 267/01, NZA 2002, 927; BAG v. 9.12.2003 – 1 ABR 52/02, EzA § 77 BetrVG 2001 Nr. 6; BAG v. 22.5.2005 – 1 ABR 64/03, AP Nr. 26 zu § 4 TVG Geltungsbereich; BAG v. 10.10.2006 – 1 ABR 59/05, AP Nr. 24 zu § 77 BetrVG 1972 Tarifvorbehalt; HWK/Gaul, § 77 BetrVG Rz. 48; Fitting, § 77 BetrVG Rz. 97, 100; Richardi/Richardi, § 77 BetrVG Rz. 310. Siehe aber demgegenüber HWGNRH/Worzalla, § 77 BetrVG Rz. 143 (Nichtigkeit gemäß § 134 BGB). 5 Vgl. BAG v. 20.4.1999 – 1 AZR 631/98, AP Nr. 12 zu § 77 BetrVG 1972. 6 Vgl. HWGNRH/Worzalla, § 77 BetrVG Rz. 151.
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Sanierungsbetriebsvereinbarung
Rz. 118 Teil 12
Dabei kann der Gegenstand und der Umfang der gestatteten Betriebsvereinbarung konkret festgelegt werden, es kann aber auch eine generelle Zulassung ergänzender Betriebsvereinbarungen erfolgen1. Wie weit die Öffnung für betriebliche Regelungen geht, ist ggf. durch Auslegung zu ermitteln2. Die TV-Parteien können sowohl abweichende als auch ergänzende Regelungen durch Betriebsvereinbarung zulassen, beispielsweise hinsichtlich der Arbeitszeit3. Ist eine ergänzende oder abweichende Betriebsvereinbarung zugelassen worden, geht sie der Tarifregelung vor. Die tarifvertragliche Öffnungsklausel bleibt solange bestehen, wie der TV läuft. Sie endet, wenn ein neuer TV geschlossen wird. Im Nachwirkungszeitraum eines TVs mit Öffnungsklausel können noch ergänzende bzw. abweichende Betriebsvereinbarungen abgeschlossen werden4. Die auf der Grundlage der tarifvertraglichen Öffnungsklausel abgeschlossene Betriebsvereinbarung endet mit Ablauf des TVs bzw. mit Ablauf des Nachwirkungszeitraums. Enthält ein neu geschlossener TV die gleiche Öffnungsklausel, so gelten die den früheren TV ergänzenden bzw. abweichenden Betriebsvereinbarungen weiter, wenn der TV nichts anderes anordnet5. Bestimmt ein TV, dass bei begründeter Notwendigkeit abweichender betrieblicher 117 Regelungen im Hinblick auf bestimmte im TV aufgeführte Zwecke die Gewerkschaft der abweichenden Betriebsvereinbarung zustimmen „soll“, so ist die Gewerkschaft zur Erteilung der Zustimmung verpflichtet, wenn die aufgestellten Kriterien erfüllt sind und nicht gewichtige konkrete Anhaltspunkte im Einzelfall einer Zustimmung entgegenstehen6. Es besteht grundsätzlich die Möglichkeit, rückwirkende Tariföffnungsklauseln zu 118 vereinbaren, wodurch nachträglich eine bestimmte tarifvorbehaltswidrige Betriebsvereinbarung gebilligt wird7. Da eine entgegen § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG geschlossene Betriebsvereinbarung nicht nichtig, sondern lediglich (schwebend) unwirksam ist, ist eine nachträgliche Genehmigung dieser Betriebsvereinbarung möglich. Der Schutzzweck des § 77 Abs. 3 BetrVG, nämlich den TV-Parteien zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie den Regelungsvorrang einzuräumen, ist bei der Zulassung von rückwirkenden Tariföffnungsklauseln gewahrt. Die rückwirkende Verkürzung tariflicher Ansprüche ist durch die Grundsätze des Vertrauensschutzes begrenzt. Diesbezüglich sind die für die Rückwirkung von TVen entwickelten Grundsätze maßgeblich8.
1 Vgl. Fitting, § 77 BetrVG Rz. 117, 122. Siehe aber demgegenüber HWGNRH/Worzalla, § 77 BetrVG Rz. 156. 2 Vgl. BAG v. 20.2.2001 – 1 AZR 233/00, AP Nr. 15 zu § 77 BetrVG 1972 Tarifvorbehalt. 3 Vgl. BAG v. 22.6.1993 – 1 ABR 62/92, AP Nr. 22 zu § 23 BetrVG 1972; BAG v. 29.1.2002 – 1 AZR 267/01, NZA 2002, 927; ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 60; Fitting, § 77 BetrVG Rz. 121; Richardi/Richardi, § 77 BetrVG Rz. 301; HWGNRH/Worzalla, § 77 BetrVG Rz. 152; WendelingSchröder, NZA 1998, 624. Siehe aber demgegenüber DKKW/Berg, § 77 BetrVG Rz. 152. 4 Vgl. DKKW/Berg, § 77 BetrVG Rz. 152; Fitting, § 77 BetrVG Rz. 123; Richardi/Richardi, § 77 BetrVG Rz. 306. 5 Vgl. Richardi/Richardi, § 77 BetrVG Rz. 307 f. 6 Vgl. BAG v. 20.10.2010 – 4 AZR 105/09, NZA 2011, 468. 7 Vgl. BAG v. 20.4.1999 – 1 AZR 631/98, AP Nr. 12 zu § 77 BetrVG 1972; BAG v. 29.1.2002 – 1 AZR 267/01, NZA 2002, 927; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht II, § 47 5 (3); ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 61. 8 Vgl. BAG v. 20.4.1999 – 1 AZR 631/98, AP Nr. 12 zu § 77 BetrVG 1972.
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Teil 12 Rz. 119
Der Sanierungstarifvertrag
III. Betriebsvereinbarungsoffene Klausel im Arbeitsvertrag 119 Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass im Verhältnis zwischen Betriebsvereinbarung und Arbeitsvertrag das Günstigkeitsprinzip gilt1. Günstigere Regelungen im Arbeitsvertrag verdrängen daher die schlechteren Bedingungen einer Sanierungsbetriebsvereinbarung. Betriebsvereinbarungsöffnungsklauseln im Arbeitsvertrag können allerdings vorsehen, dass nach Vertragsschluss abgeschlossene Betriebsvereinbarungen Bestimmungen des Arbeitsvertrages auch dann abändern, wenn der Arbeitsvertrag günstigere Regelungen im Vergleich zur Betriebsvereinbarung enthält. Dies erspart die Notwendigkeit der einvernehmlichen Vertragsänderung. Solche Klauseln sind im Grundsatz anerkannt2. Gegen ihre Zulässigkeit dürften grundsätzlich keine Bedenken bestehen. Diesbezüglich ist auf die Ausführungen zu vorgreiflichen Öffnungsklauseln bei TVen zu verweisen (Rz. 82). Im Ergebnis ist auch an dieser Stelle festzuhalten, dass die Betriebsvereinbarungsklausel der Inhaltskontrolle standhält. Dies ist richtigerweise nicht auf Klauseln beschränkt, die nur Sanierungsabreden/Sanierungsfälle erfassen3. Eine vorgreifliche Öffnungsklausel für Betriebsvereinbarungen kann etwa lauten: „Sollte sich die wirtschaftliche Lage des Unternehmens derart verschlechtern, dass Sanierungsvereinbarungen getroffen werden mssen, kçnnen durch Betriebsvereinbarungen Regelungen dieses Vertrages auch zulasten des Arbeitnehmers/der Arbeitnehmerin abgendert werden. In diesem Falle ist ihm/ihr die abndernde Betriebsvereinbarung bekannt zu geben.“
H. Tarifsozialplan I. Einleitung; Begriff; Gestaltungsoptionen 120 Der SanierungsTV hat allgemein wirtschaftliche Schwierigkeiten im Blickfeld und dient deren Beseitigung/Überbrückung. Ein SanierungsTV wird nicht selten gerade deswegen abgeschlossen, um eine Betriebsänderung zu vermeiden. Die Rechtsfigur des Tarifsozialplans betrifft dagegen bevorstehende Betriebsänderungen insbesondere bei geplantem Stellenabbau, geplanten Standortverlegungen oder Standortschließungen. Plant ein Unternehmen eine Betriebsänderung im Sinne des § 111 BetrVG, ist die Verständigung auf einen Interessenausgleich und einen Sozialplan grundsätzlich den Betriebsparteien (Arbeitgeber und Betriebsrat) zugewiesen (§§ 111 ff. BetrVG). Kommt eine Einigung nicht zustande, muss die Einigungsstelle tätig werden. Seit einiger Zeit ist es vermehrt zu Versuchen seitens der Gewerkschaften gekommen, parallel zu der betriebsverfassungsrechtlichen Ebene einen Tarifsozialplan (auch SozialplanTV genannt) durchzusetzen; dabei handelt es sich um TVe mit sozialplanähn-
1 Vgl. HWGNRH/Worzalla, § 77 BetrVG Rz. 161. 2 Vgl. BAG v. 16.9.1986 – GS 1/82, AP Nr. 17 zu § 77 BetrVG 1972; BAG v. 21.9.1989 – 1 AZR 454/88, AP Nr. 43 zu § 77 BetrVG 1972; BAG v. 5.8.2009 – 10 AZR 483/08, AP Nr. 85 zu § 242 BGB Betriebliche Übung; LAG München v. 19.3.2008 – 11 Sa 828/07; LAG Hessen v. 24.2.2010 – 6 Sa 304/09; Bayreuther, ZIP 2008, 573 (575); Gaul/Süßbrich/Kulejewski, ArbRB 2004, 346. 3 Vgl. Bayreuther, ZIP 2008, 573 (575).
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Teil 12 Rz. 119
Der Sanierungstarifvertrag
III. Betriebsvereinbarungsoffene Klausel im Arbeitsvertrag 119 Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass im Verhältnis zwischen Betriebsvereinbarung und Arbeitsvertrag das Günstigkeitsprinzip gilt1. Günstigere Regelungen im Arbeitsvertrag verdrängen daher die schlechteren Bedingungen einer Sanierungsbetriebsvereinbarung. Betriebsvereinbarungsöffnungsklauseln im Arbeitsvertrag können allerdings vorsehen, dass nach Vertragsschluss abgeschlossene Betriebsvereinbarungen Bestimmungen des Arbeitsvertrages auch dann abändern, wenn der Arbeitsvertrag günstigere Regelungen im Vergleich zur Betriebsvereinbarung enthält. Dies erspart die Notwendigkeit der einvernehmlichen Vertragsänderung. Solche Klauseln sind im Grundsatz anerkannt2. Gegen ihre Zulässigkeit dürften grundsätzlich keine Bedenken bestehen. Diesbezüglich ist auf die Ausführungen zu vorgreiflichen Öffnungsklauseln bei TVen zu verweisen (Rz. 82). Im Ergebnis ist auch an dieser Stelle festzuhalten, dass die Betriebsvereinbarungsklausel der Inhaltskontrolle standhält. Dies ist richtigerweise nicht auf Klauseln beschränkt, die nur Sanierungsabreden/Sanierungsfälle erfassen3. Eine vorgreifliche Öffnungsklausel für Betriebsvereinbarungen kann etwa lauten: „Sollte sich die wirtschaftliche Lage des Unternehmens derart verschlechtern, dass Sanierungsvereinbarungen getroffen werden mssen, kçnnen durch Betriebsvereinbarungen Regelungen dieses Vertrages auch zulasten des Arbeitnehmers/der Arbeitnehmerin abgendert werden. In diesem Falle ist ihm/ihr die abndernde Betriebsvereinbarung bekannt zu geben.“
H. Tarifsozialplan I. Einleitung; Begriff; Gestaltungsoptionen 120 Der SanierungsTV hat allgemein wirtschaftliche Schwierigkeiten im Blickfeld und dient deren Beseitigung/Überbrückung. Ein SanierungsTV wird nicht selten gerade deswegen abgeschlossen, um eine Betriebsänderung zu vermeiden. Die Rechtsfigur des Tarifsozialplans betrifft dagegen bevorstehende Betriebsänderungen insbesondere bei geplantem Stellenabbau, geplanten Standortverlegungen oder Standortschließungen. Plant ein Unternehmen eine Betriebsänderung im Sinne des § 111 BetrVG, ist die Verständigung auf einen Interessenausgleich und einen Sozialplan grundsätzlich den Betriebsparteien (Arbeitgeber und Betriebsrat) zugewiesen (§§ 111 ff. BetrVG). Kommt eine Einigung nicht zustande, muss die Einigungsstelle tätig werden. Seit einiger Zeit ist es vermehrt zu Versuchen seitens der Gewerkschaften gekommen, parallel zu der betriebsverfassungsrechtlichen Ebene einen Tarifsozialplan (auch SozialplanTV genannt) durchzusetzen; dabei handelt es sich um TVe mit sozialplanähn-
1 Vgl. HWGNRH/Worzalla, § 77 BetrVG Rz. 161. 2 Vgl. BAG v. 16.9.1986 – GS 1/82, AP Nr. 17 zu § 77 BetrVG 1972; BAG v. 21.9.1989 – 1 AZR 454/88, AP Nr. 43 zu § 77 BetrVG 1972; BAG v. 5.8.2009 – 10 AZR 483/08, AP Nr. 85 zu § 242 BGB Betriebliche Übung; LAG München v. 19.3.2008 – 11 Sa 828/07; LAG Hessen v. 24.2.2010 – 6 Sa 304/09; Bayreuther, ZIP 2008, 573 (575); Gaul/Süßbrich/Kulejewski, ArbRB 2004, 346. 3 Vgl. Bayreuther, ZIP 2008, 573 (575).
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Tarifsozialplan
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lichen Inhalten. Die Gewerkschaften stellen oftmals enorm hohe Ausgleichsforderungen. Es sind Forderungen nach deutlich verlängerten Kündigungsfristen von in Extremfällen mehreren Jahren, extreme Abfindungen in Höhe von mehreren Bruttomonatsgehältern pro Beschäftigungsjahr und darüber hinaus Finanzierung von Qualifizierungsmaßnahmen etc. bekannt geworden1. Tarifsozialpläne können sowohl als firmenbezogene VerbandsTVe als auch als Haus- 121 TVe gestaltet werden. Der Tarifsozialplan unterscheidet sich in seiner Gestaltung und Zielsetzung von dem SanierungsTV. Ziel der Gewerkschaften ist anders als beim SanierungsTV in erster Linie nicht die Sanierung des Unternehmens. Ziel des Tarifsozialplans ist die Flankierung einer Betriebsänderung. Dies kann bis zum Verhinderungsziel ausgedehnt werden. Exorbitante Forderungen zielen zuweilen darauf ab, die Betriebsänderung für das betroffene Unternehmen derartig zu verteuern, dass sie wirtschaftlich nicht mehr tragbar ist und undurchführbar wird. Insbesondere wegen dieses zwar nicht offiziellen, aber oftmals tatsächlichen Ziels des Tarifsozialplans sind seine Zulässigkeit und Erstreikbarkeit nicht unumstritten. Das BAG hat beides im Grundsatz ausdrücklich bejaht2. Dabei werden Fragen aus dem Schnittbereich von Arbeitskampf-, Tarifvertrags- und Betriebsverfassungsrecht aufgeworfen.
II. Gebot der Rechtsquellenklarheit Genauso wie der SanierungsTV muss auch der Tarifsozialplan dem Gebot der Rechtsquellenklarheit im Sinne einer Eindeutigkeit der Normurheberschaft entsprechen (Rz. 13 ff.).
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III. Tarifliche Regelbarkeit, § 1 Abs. 1 TVG Die von der Gewerkschaft geforderten Regelungen müssen tariflich regelbare Gegenstände im Sinne des § 1 Abs. 1 TVG sein. Inhalte von Tarifsozialplänen sind danach rechtmäßigerweise insbesondere: – Abfindungen – Kündigungsfristen – Durchführung und Finanzierung einer Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft. Regelungen über Abfindungen sind als Beendigungsnormen zu qualifizieren und daher tariflich regelbar3. Dies gilt auch für Regelungen über den Wechsel der zu entlas-
1 Vgl. z.B. LAG Schleswig-Holstein v. 27.3.2003 – 5 Sa 137/03, NZA-RR 2003, 592; LAG Niedersachsen v. 2.6.2004 – 7 Sa 819/04, NZA-RR 2005, 200. 2 Vgl. zur Zulässigkeit BAG v. 6.12.2006 – 4 AZR 798/05, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Sozialplan; zur Erstreikbarkeit BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan. 3 Vgl. LAG Schleswig-Holstein v. 27.3.2003 – 5 Sa 137/03, NZA-RR 2003, 592; Fischinger, NZA 2007, 310 (311); Greiner, NZA 2008, 1274 (1277); Henssler, FS Richardi, S. 553 (555); Löwisch, RdA 2009, 253 (254); Kempen/Zachert/Schubert/Zachert, § 1 TVG Rz. 94 ff.
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Der Sanierungstarifvertrag
senden Arbeitnehmer in eine Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft1. Letztlich ist dies eine spezielle Art der Abfindung, die ebenso wie die Abfindung der Überbrückung der arbeitslosen Zeit dienen soll. Von Abfindungen als zu diesem Zweck zu leistenden Einmalzahlungen unterscheiden sie sich durch organisatorische Gestaltung und zeitliche Streckung. Tarifliche Bestimmungen über die Dauer von Kündigungsfristen sind Normen im Sinne des § 1 Abs. 1 TVG2. Ihre Verlängerung über die gesetzliche Dauer hinaus ist zulässig (§ 622 Abs. 4 BGB). Die genaue Einordnung als Beendigungs- oder Inhaltsnorm ist an dieser Stelle irrelevant.
IV. Sperrwirkung der §§ 111 ff. BetrVG? 124 Gemäß § 112 BetrVG verständigen sich Unternehmer und Betriebsrat im Rahmen des Sozialplans über die Milderung der wirtschaftlichen Nachteile, die den Arbeitnehmern in Folge der Betriebsänderung entstehen. Es wird daher die Auffassung vertreten, die §§ 111 ff. BetrVG entfalteten eine Sperrwirkung gegenüber tariflichen Sozialplänen3. Der Schutz der Betriebsratskompetenzen gebiete eine Sperrwirkung. Durch den Abschluss eines tariflichen Sozialplans werde dem betrieblichen Sozialplan kein Regelungsbereich mehr belassen, was den Betriebsrat in einem gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren praktisch funktionslos stelle. Diese faktische Entwertung seiner Beteiligungsrechte sei genauso unzulässig wie die formale Beschränkung. Generell werde den Interessen der Arbeitnehmer durch einen betrieblichen Sozialplan besser Rechnung getragen, da der Betriebsrat die sachnähere Interessenvertretung sei. Zudem entfalte ein betrieblicher Sozialplan gemäß § 112 Abs. 1 Satz 3 BetrVG die Wirkungen einer Betriebsvereinbarung, gelte also normativ und zwingend für alle Arbeitnehmer, während ein tariflicher Sozialplan normativ und zwingend nur bezüglich der verbandsangehörigen Arbeitnehmer gelte, was eine nicht gerechtfertigte Schlechterstellung der Außenseiter-Arbeitnehmer darstelle. Die Gefahr eines tariflichen Sozialplans liege daher in der nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung der von einer Betriebsänderung gleichermaßen betroffenen Arbeitnehmer. Das BAG hat sich den Bedenken nicht angeschlossen4. Es bestehe keine Sperrwirkung der §§ 111 ff. BetrVG. Die Vorschriften normierten lediglich Inhalt und Umfang des Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats. Sie gäben keinesfalls zu erkennen, dass damit Regelungskompetenzen der TV-Parteien aus Art. 9 Abs. 3 GG, § 1 TVG zurückgedrängt
1 Vgl. BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan; LAG Schleswig-Holstein v. 27.3.2003 – 5 Sa 137/03, NZA-RR 2003, 592; Fischinger, NZA 2007, 310 (311); Gaul/ Janz, NZA-Beilage 2010, 60 (61); Greiner, NZA 2008, 1274 (1277); Henssler, FS Richardi, S. 553 (555); siehe aber demgegenüber Lelley, EWiR 2003, 1035 (1036). 2 Vgl. BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan; ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 44. 3 Vgl. LAG Hamm v. 31.5.2000 – 18 Sa 858/00, NZA-RR 2000, 535; Nicolai, RdA 2006, 33 (35 f.); Reichold, BB 2004, 2814 (2817); Rolfs/Clemens, NZA 2004, 410 (416;) Schiefer/Worzalla, DB 2006, 46 (47, 48); Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 711; Willemsen/Stamer, NZA 2007, 413 (414). 4 Vgl. BAG v. 6.12.2006 – 4 AZR 798/05, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Sozialplan; BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan; Richardi/Annuß, § 112 BetrVG Rz. 179; Franzen, ZfA 2005, 315 (331); Gaul, RdA 2008, 13 (14); Gaul/Janz, NZA-Beilage 2010, 60; Henssler, FS Richardi, S. 553 (556); Kühling/Bertelsmann, NZA 2005, 1017 (1019).
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Tarifsozialplan
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werden sollten. Vielmehr ergebe sich aus der Aufhebung der Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG in Satz 4 des § 112 Abs. 1 BetrVG, dass auch das Gesetz von einem möglichen Nebeneinander beider Regelungsbereiche ausgehe.
V. Arbeitskampf um einen Tarifsozialplan 1. Grundsatz Von der Frage der grundsätzlichen Zulässigkeit von Tarifsozialplänen und insbeson- 125 dere der Frage der tariflichen Regelbarkeit ihrer Inhalte zu unterscheiden ist die umstrittene Frage nach der Zulässigkeit eines Streiks um einen Tarifsozialplan1. Ein Streik um einen Tarifsozialplan ist gemäß Grundsatzentscheidung des BAG zulässig2. Da es sich nicht um einen betrieblichen, sondern um einen tariflichen Sozialplan handelt, ist das Arbeitskampfverbot des § 74 Abs. 2 BetrVG nicht berührt. Es richtet sich ausschließlich an die Betriebsparteien, Arbeitskämpfe der TV-Parteien werden von ihm nicht erfasst3. 2. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Der Erforderlichkeit eines Streiks um einen Tarifsozialplan wird teilweise entgegen- 126 gehalten, dass der Sozialplan nach §§ 111, 112 BetrVG ein ebenso geeignetes, den Arbeitgeber aber wesentlich weniger belastendes Mittel zur Bewältigung der Folgen einer Betriebsänderung darstelle, so dass der Streik um einen tariflichen Sozialplan nicht das mildeste Mittel und demzufolge nicht verhältnismäßig sei4. Ebenso wird teilweise ausgeführt, dass das Ultima-ratio-Gebot der Aufnahme eines Arbeitskampfes entgegenstehe, wenn auf betrieblicher Ebene bereits über einen Interessenausgleich und Sozialplan verhandelt werde und diese Verhandlungen noch nicht abgeschlossen seien. Die Gewerkschaft müsse zunächst abwarten und dürfe jedenfalls erst streiken, wenn der Einigungsstellenspruch aus ihrer Sicht keinen angemessenen Nachteilsausgleich gewähre5. Das BAG ist dem nicht gefolgt. Es betont, dass sich aus dem möglichen Nebeneinander von tariflichen und betrieblichen Regelungen auch ergebe, dass kein zeitliches Prioritätsverhältnis existiere, aus dem sich eine Verpflichtung der Gewerkschaft ergeben könne, zunächst die Verhandlungen auf der betrieblichen Ebene abzuwarten. Ebenso wenig stelle es einen Verstoß gegen den Verhältnis-
1 Dagegen: Bauer/Krieger, NZA 2004, 1019 (1021); Buchner, DB Beilage 9/2001, 1 (9 ff.); Franzen, ZfA 2005, 315 (337); HWGNRH/Hess, § 112 BetrVG Rz. 200; Hohenstatt/Schramm, DB 2004, 2214 (2218); Lieb, DB 1999, 2058 (2062); Lipinski/Ferme, DB 2007, 1250 (1252); Löwisch, DB 2005, 554 (556); Meyer, DB 2005, 830 (832); Nicolai, RdA 2006, 33 (35); Reichold, BB 2004, 2314 (2817); Reuter, NZA 2001, 1097; Schiefer/Worzalla, DB 2006, 46 (47); Willemsen/Stamer, NZA 2007, 413. Kritisch: Wank, RdA 2009, 1 (8); Weller, GmbHR 2007, R241 (R242). Dafür: Brecht-Heitzmann, NJW 2007, 3617; Kühling/Bertelsmann, NZA 2005, 1017 (1027). 2 BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan; so schon LAG SchleswigHolstein v. 27.3.2003 – 5 Sa 137/03, NZA-RR 2003, 592; LAG Niedersachsen v. 2.6.2004 – 7 Sa 819/04, NZA-RR 2005, 200. 3 Vgl. BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan. 4 Vgl. Ricken, ZfA 2008, 283 (297 f.); Schiefer/Worzalla, DB 2006, 46 (48). 5 Vgl. Henssler, FS Richardi, S. 553 (566); Meyer, DB 2005, 830 (832); Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 711.
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Der Sanierungstarifvertrag
mäßigkeitsgrundsatz dar, dass überhaupt oder parallel zu den Verhandlungen über einen VerbandsTV um den Abschluss eines Tarifsozialplans gestreikt werde1. 3. Koalitionsfreiheit 127 Der einzelne Arbeitgeber ist auch im Falle seiner Verbandszugehörigkeit als tariffähig anzusehen (Rz. 4 ff.). Es ist im Anschluss daran zutreffenderweise zwischen der Tariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers und dem Recht der Gewerkschaften, einen verbandsangehörigen Arbeitgeber einzeln zur Erzwingung eines HausTVs bestreiken zu können, zu differenzieren. Ein solcher Streik wird teilweise als Verstoß gegen die Koalitionsfreiheit des einzelnen Arbeitgebers angesehen2. Dieser habe durch seinen Verbandsbeitritt deutlich gemacht, dass er als einzelner Arbeitgeber grundsätzlich nicht selber TV-Partner sein möchte. Es könnten daher allenfalls freiwillige TVe in Betracht kommen. Die kollektive Koalitionsfreiheit des Arbeitgeberverbandes sei ebenfalls betroffen. Der Arbeitgeberverband müsse in der Lage sein, seine Mitglieder vor einem Streik um einen HausTV zu schützen3. 128 Das BAG ist dem nicht gefolgt und hat die grundsätzliche Zulässigkeit eines gegen einen einzelnen (verbandsangehörigen) Arbeitgeber geführten Streiks bejaht4. Dies beruhe auf der den Arbeitnehmern durch Art. 9 Abs. 3 GG garantierten Koalitionsfreiheit. Zu dieser gehöre die Betätigung der Gewerkschaften zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Darunter falle insbesondere der Abschluss von TVen. Die Wahl der Mittel, die die Koalitionen zur Erreichung dieses Zwecks für geeignet halten, überlasse Art. 9 Abs. 3 GG grundsätzlich den Koalitionen. Zu den geschützten Mitteln gehörten dabei Arbeitskampfmaßnahmen, die auf den Abschluss von TVen gerichtet seien. Es sei weder die kollektive Koalitionsfreiheit des Arbeitgeberverbandes noch die individuelle Koalitionsfreiheit des einzelnen Unternehmens verletzt. 129 Das BAG hat zugleich klargestellt, dass ein Streik um einen firmenbezogenen VerbandsTV ebenfalls grundsätzlich zulässig ist5. Das betroffene Unternehmen hat sich durch den Beitritt zum Arbeitgeberverband generell der Regelungsmacht des Verbandes unterworfen und akzeptiert von vorneherein die Vereinbarungen, die er mit der Gewerkschaft trifft. Das Verhältnis des Unternehmens und seines Arbeitgeberverbandes im Innenverhältnis vermag sich nicht auf den sozialen Gegenspieler im Außenverhältnis auszuwirken, da ansonsten interne Abmachungen das Grundrecht der Ge-
1 Vgl. BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan. 2 Vgl. LAG Schleswig-Holstein v. 25.11.1999 – 4 Sa 584/99, NZA-RR 2000, 143; Bauer/Krieger, NZA 2004, 1019 (1021); Buchner, DB Beilage 9/2001, 1 (15); Lieb, DB 1999, 2058 (2062); Reuter, NZA 2001, 1097 (1104); Wank, RdA 2009, 1 (5). 3 Vgl. Rolfs/Clemens, NZA 2004, 410 (412); Wank, RdA 2009, 1 (5). 4 Vgl. BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, AP Nr. 162 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; so auch die überwiegende Ansicht in der Literatur, ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 168; Gamillscheg/Linsenmaier, Kollektives Arbeitsrecht I, § 21 II 5c; Franzen, ZfA 2005, 315 (338); Henssler, FS Richardi, S. 553 (565); Kühling/Bertelsmann, NZA 2005, 1017 (1018); Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 131; MünchArbR/Otto, 2. Aufl., § 285 Rz. 66; MünchArbR/Ricken, 3. Aufl., § 200 Rz. 25; Wendeling-Schröder, NZA 1998, 624 (628). 5 Vgl. BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan.
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Rz. 133 Teil 12
werkschaften aus Art. 9 Abs. 3 GG beschränken könnten1. Die Freiheit des einzelnen Arbeitgebers, in dem Arbeitgeberverband zu verbleiben oder aus ihm auszutreten, wird regelmäßig nicht beeinträchtigt. Etwas anderes gilt dann, wenn der Arbeitskampf darauf abzielt, den Arbeitgeber aus 130 dem Verband „herauszubrechen“, ihn also zum Verlassen des Verbandes zu veranlassen. In diesen Fällen ist ein solcher Streik wegen ungerechtfertigten Eingriffs in die positive Koalitionsfreiheit des Arbeitgebers sowie unzulässigen Angriffs auf den Mitgliederbestand des Arbeitgeberverbandes in der Regel rechtswidrig2. Wann eine solche Konstellation gegeben ist, ist eine Frage des Einzelfalles. So kann eine solche Zielsetzung beispielsweise dann angenommen werden, wenn die Gewerkschaft einen VerbandsMTV kündigt, mit dem Arbeitgeberverband um einen Neuabschluss verhandelt und sich ein konkretes Unternehmen herausgreift, um dieses wegen des Abschlusses eines firmenbezogenen VerbandsMTVs gleichen Inhalts zu bestreiken3. 4. Grundsatz der Kampfparität Der Grundsatz der Kampfparität leitet sich aus dem Sinn und Zweck der kollektiven Vertragsautonomie ab, faire Verhandlungschancen auf beiden Seiten zu gewährleisten, was nur durch das Vorliegen annähernd gleicher Verhandlungsstärke und Durchsetzungskraft gelingt4.
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Einige Stimmen in der Literatur sehen eine Störung dieser Kampfparität, wenn der 132 Arbeitgeber gleichzeitig in Verhandlungen mit dem Betriebsrat über einen Sozialplan steht. Der Arbeitgeber werde in diesen Fällen von beiden Seiten „in die Zange genommen“5, was das Kräfteverhältnis erheblich beeinflusse6. Der Grundsatz der Kampfparität schütze insbesondere davor, dass eine TV-Partei der anderen von vorneherein ihren Willen aufzwingen könne. Dabei sei der Umstand zu berücksichtigen, dass ein Sozialplan auf betrieblicher Ebene erzwingbar sei. In Anbetracht dessen sei nicht von einem Verhandlungsgleichgewicht auszugehen, wenn sich der Arbeitgeber in Bezug auf eine konkrete Betriebsänderung sowohl mit Sozialplanforderungen des Betriebsrats als auch mit solchen der Gewerkschaft konfrontiert sehe. In diesem Falle habe der Arbeitgeber von vorneherein keine reale Möglichkeit, sich einer Regelung zu entziehen. Um die finanziellen Einbußen durch einen Streik und ein eventuelles Einigungsstellenverfahren zu vermeiden, sehe sich der Arbeitgeber mehr oder weniger gezwungen, ganz oder weitgehend auf die Forderungen der Gewerkschaft einzugehen7. Das BAG sieht keine Verletzung des Gebots der Kampfparität. Zwar könne sich der betroffene Arbeitgeber den Kosten des betrieblich erzwingbaren Sozialplans nicht ent1 Vgl. ArbG Frankfurt v. 15.3.2005 – 5 Ca 4542/04, AuR 1005, 153. Siehe aber demgegenüber Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 187; MünchArbR/Ricken, § 200 Rz. 25; Rolfs/Clemens, NZA 2004, 410 (413). 2 Vgl. BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, AP Nr. 162 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan. 3 Vgl. LAG Hessen v. 2.2.2006 – 9 Sa 915/05, LAGE Art. 9 GG Arbeitskampf Nr. 75. 4 Vgl. ErfK/Linsenmaier, Art. 9 GG Rz. 112. 5 Vgl. Nicolai, RdA 2006, 33 (38). 6 Vgl. Otto, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, 2006, § 3 Rz. 22; Rolfs/Clemens, NZA 2004, 410 (415); Schiefer/Worzalla, DB 2006, 46 (49). 7 Vgl. Nicolai, RdA 2006, 33 (38).
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ziehen, seine Verteidigungsmöglichkeiten gegen tarifliche (Mehr-)Forderungen würden dadurch aber nicht geschmälert. Da der Streik um tarifliche Ansprüche wirtschaftlich betrachtet mit dem Ziel der Aufstockung betrieblich begründeter Ansprüche geführt werde und die Betriebsparteien eine Kumulation der Ansprüche durch entsprechende Anrechnungsklauseln vermeiden könnten, könne sich die kampflose Erzwingbarkeit eines betrieblichen Sozialplans sogar negativ auf die Streikwilligkeit der Arbeitnehmer auswirken1. 5. Unternehmerische Freiheit 134 Die Unternehmensautonomie ist als Teil der Berufsfreiheit des Arbeitgebers nach Art. 12 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich garantiert. Sie verleiht dem Arbeitgeber das verfassungsrechtlich geschützte Recht, die Führung seines Unternehmens und die damit verbundenen unternehmerischen Entscheidungen unabhängig gestalten zu können. Die Entscheidung des Unternehmens, einen Standort zu schließen oder zu verlagern, fällt in den Bereich der freien Unternehmensautonomie2. 135 Zwar verfolgen die Gewerkschaften nicht offiziell im Streikbeschluss das Ziel, die geplante Betriebsänderung zu verhindern oder jedenfalls erheblich zu erschweren, oftmals ist dies jedoch der eigentliche Hintergrund. Nicht selten lässt sich diese Absicht der Gewerkschaften aus internem Informationsmaterial, Flugblättern oder Informationsveranstaltungen ablesen. Es stellt sich daher die Frage, ob derartige Streiks als unzulässige Eingriffe in die Unternehmensautonomie rechtswidrig sind. Die herrschende Meinung geht zutreffend davon aus, dass ein streikweiser Zugriff auf die unmittelbare unternehmerische Entscheidung selbst, also das „Ob“ der Betriebsverlagerung/Betriebsschließung, nicht mit der unternehmerischen Freiheit vereinbar und daher unzulässig ist3. Das BAG hat sich bislang nicht abschließend zu dieser Frage geäußert. In der Grundsatzentscheidung zur Erstreikbarkeit tariflicher Sozialpläne vom 24.4.20074 hatte die Gewerkschaft nicht die Unternehmerentscheidung an sich in Frage gestellt, sondern nur weitreichende Forderungen zur Ausgestaltung der Betriebsänderung gestellt (hohe Abfindungen, extrem verlängerte Kündigungsfristen sowie finanzierte Qualifizierungsmaßnahmen nach Ablauf der Kündigungsfrist). Diese Forderungen waren dem Grunde nach tariflich regelbar, weshalb eine gerichtliche Übermaßkontrolle nicht stattfand. Aus dem enormen Umfang der Gewerkschaftsforderungen schloss das BAG nicht die Rechtswidrigkeit eines Streiks darum. Eine enorm hohe Streikforderung greife nicht in die Unternehmensfreiheit des Arbeitgebers ein. Eine Streikforderung rechne mit dem Widerstand des Arbeitgebers und sei deshalb regelmäßig überhöht. Mit der Rechtskontrolle schon des Umfangs der Streikforderung würde eine nur potentielle Norm in Unkenntnis ihrer späteren Konkretisierung auf eine mögliche Grundrechts-
1 Vgl. BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan. 2 Vgl. Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 707. 3 Vgl. LAG Hamm v. 31.5.2000 – 18 Sa 858/00 (Unzulässigkeit des Streiks um einen Standortsicherungsvertrag); so wohl auch LAG Hessen v. 2.2.2006 – 9 Sa 915/05, LAGE Art. 9 GG Arbeitskampf Nr. 75; Bauer/Krieger, NZA 2004, 1020 (1022); Fischinger, NZA 2007, 310 (311); Gaul/Mückl, ArbRB 2009, 330 (332); Löwisch, DB 2005, 554 (556); Rolfs/Clemens, NZA 2004, 410 (415); Wank, RdA 2009, 1 (7); Willemsen/Stamer, NZA 2007, 413 ff.; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 707. 4 BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan.
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Rz. 137 Teil 12
widrigkeit überprüft. Dies sei mit der Koalitionsfreiheit der Gewerkschaften nicht vereinbar und widerspreche dem Grundgedanken der Tarifautonomie. Eine Forderung nach dem Verzicht auf die geplante Betriebsänderung sei nicht Inhalt des Streikbeschlusses gewesen (auf den es ankomme). Darauf, ob sie andernfalls zulässig wäre, komme es nicht an. Zwar erscheint der Ausgangspunkt des BAG legitim, es nicht zu einer Tarifzensur 136 kommen zu lassen. Doch erscheint es in der Sache problematisch, planmäßig die Augen davor zu verschließen, dass das Aufstellen von exorbitant hohen Ausgleichsforderungen oder enorm langen Kündigungsfristen einen (mittelbaren) Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG darstellt, da die geplante Betriebsänderung dadurch wirtschaftlich sinnlos bzw. undurchführbar wird1. Dies müsste – in Ausnahmefällen jedenfalls – als unverhältnismäßiger Eingriff in die Unternehmensautonomie gewertet werden mit der Konsequenz der Rechtswidrigkeit eines Streiks2. Bei Tendenzunternehmen im Sinne des § 118 Abs. 1 Satz 1 BetrVG (z.B. Presse-, Medien- oder Rundfunkunternehmen) folgt dies zudem daraus, dass der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG es erfordert, dass die unternehmerischen Grundentscheidungen ohne fremde Einflussnahme getroffen werden müssen und im Zweifel darüber, ob es sich um das „Ob“ oder das „Wie“ der unternehmerischen Maßnahme handelt, die gesamte Maßnahme dem fremden Einfluss zu entziehen ist. Ein Streik um einen Tarifsozialplan beispielsweise gegenüber einem Presseunternehmen müsste also als rechtswidrig angesehen werden, wenn die Forderungen zwar grundsätzlich tariflich regelbar wären, das Ausmaß der wirtschaftlichen Belastung für das Unternehmen die Maßnahme jedoch faktisch verhindern würde3. Maßgeblich für die Bestimmung des Streikziels der Gewerkschaften ist nach Ansicht 137 des BAG lediglich der dem Gegner übermittelte Streikbeschluss. Äußerungen am Rande von nicht vertretungsberechtigten Mitgliedern der Gewerkschaft oder Arbeitnehmern seien zur Bestimmung des Streikziels schon aus Gründen der Rechtssicherheit und um der Unbefangenheit der Meinungsbildung innerhalb der Gewerkschaft willen unmaßgeblich4. Dies mag bei nicht repräsentativen Gewerkschaftsmitgliedern und deren Äußerungen richtig sein, muss jedoch bei Äußerungen von vertretungsberechtigten Gewerkschaftsmitgliedern bei Informationsveranstaltungen oder auf Flugblättern anders beurteilt werden. Ist das eigentliche Ziel der Gewerkschaft offensichtlich, nämlich die Betriebsänderung durch das „Vorschieben“ von tariflich regelbaren Forderungen im offiziellen Streikbeschluss faktisch zu verhindern, kann es sich nur um einen Fall des Rechtsmissbrauchs handeln mit der Konsequenz, dass ein solcher Streik rechtswidrig wäre.
1 Vgl. Fischinger, NZA 2007, 310 (313); ErfK/Franzen, § 1 TVG Rz. 74; Otto, Arbeitskampfund Schlichtungsrecht, 2006, § 8 Rz. 43 (ein Streik um solch unverhältnismäßig hohe Forderungen sei rechtsmissbräuchlich). 2 So zutreffend Henssler, FS Richardi, S. 553 (563); Hohenstatt/Schramm, DB 2004, 2214 (2215); Wank, RdA 2009, 1 (7). 3 Vgl. dazu ausführlich Grimm/Pelzer, NZA 2008, 1321 (1325). 4 Vgl. BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan; so auch LAG Hessen v. 2.2.2006 – 9 Sa 915/05, LAGE Art. 9 GG Arbeitskampf Nr. 75, kritisch Gaul/Janz, NZA-Beilage 2010, 60 (61); Wank, RdA 2009, 1 (7); Weller, GmbHR 2007, R241 (R242).
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Teil 12 Rz. 138
Der Sanierungstarifvertrag
138 In Fällen der Standortverlagerung in das europäische Ausland ist zudem die Niederlassungsfreiheit des Art. 49 AEUV zu beachten1. 139 Darlegungs- und beweispflichtig hinsichtlich des Vorliegens eines Eingriffs in die unternehmerische Freiheit sind der Arbeitgeber bzw. Arbeitgeberverband2. 6. Relative Friedenspflicht 140 Sollte bereits ein VerbandsTV existieren, stellt sich die Frage, ob ein Streik um einen Tarifsozialplan gegen die relative Friedenspflicht verstößt, wenn die betroffenen Aspekte (z.B. längere Kündigungsfristen etc.) bereits im VerbandsTV geregelt sind. Die Friedenspflicht schließt Arbeitskampfmaßnahmen während der Laufzeit eines TVs im Hinblick auf bereits geregelte Bereiche prinzipiell aus3. Sofern von den TV-Parteien nicht ausdrücklich etwas anderes vereinbart ist, wirkt die Friedenspflicht nicht absolut, sondern relativ und bezieht sich nur auf die tarifvertraglich geregelten Gegenstände. Ihre sachliche Reichweite ist durch Auslegung der tariflichen Regelungen zu ermitteln. Haben die TV-Parteien eine bestimmte Sachmaterie erkennbar umfassend geregelt, ist davon auszugehen, dass sie diesen Bereich der Friedenspflicht unterwerfen und für die Laufzeit des TVs die kampfweise Durchsetzung weiterer Regelungen unterbinden wollen, die in einem sachlich inneren Zusammenhang mit dem befriedeten Bereich stehen4. 141 Relevant wird die Frage nach der relativen Friedenspflicht in der Praxis insbesondere bei dem Vorliegen von Rationalisierungsschutzabkommen. Diese unterscheiden sich von Tarifsozialplänen dadurch, dass sie in der Regel branchenbezogen abgeschlossen werden und keine konkret bevorstehende Betriebsänderung betreffen, sondern generelle Regelungen für mögliche Betriebsänderungen beinhalten5. Regelt das Rationalisierungsschutzabkommen die geplante Betriebsänderung umfassend, dürfte die Friedenspflicht der Erstreikbarkeit eines Tarifsozialplans entgegenstehen6. Sollte das Rationalisierungsschutzabkommen nur einzelne Punkte regeln, die üblicherweise in einem Tarifsozialplan vereinbart werden, dürfte sich die Friedenspflicht dennoch nicht nur auf diese einzelnen Punkte, sondern auf die komplette Thematik beziehen, sofern das Rationalisierungsschutzabkommen nicht ausdrücklich nur bezüglich einer bestimmten Betriebsänderung Anwendung finden soll. Ist der Rationalisierungsschutz insgesamt angesprochen, besteht die Friedenspflicht auch dann, wenn einzelne Regelungen fehlen7. Ob dies der Fall ist, ist durch Auslegung zu ermitteln. Ist der Anwendungsbereich des Rationalisierungsschutzabkommens dagegen ausdrücklich auf einzelne Fälle von Betriebsänderungen beschränkt, gilt die Friedenspflicht auch
1 Siehe dazu die „Viking-Entscheidung“ des EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05, Slg. 2007, I 10773 = AP Nr. 3 zu Art. 43 EG; Fitting, §§ 112, 112a BetrVG Rz. 191; Henssler, FS Richardi, S. 553 (560 ff.); Krieger/Wiese, BB 2010, 568 ff. 2 Vgl. Gaul, RdA 2008, 13 (18). 3 Vgl. Kempen/Zachert/Kempen, TVG, Grundlagen Rz. 80. 4 Vgl. BAG v. 21.12.1982 – 1 AZR 411/80; BAG v. 27.6.1989 – 1 AZR 404/88; BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, AP Nr. 162 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. 5 Vgl. Kuhn/Willemsen, NZA 2012, 593. 6 Vgl. LAG Berlin v. 28.9.2007 – 8 Sa 916/07; Rieble, RdA 2005, 200 (202). 7 Vgl. Lindemann/Dannhorn, BB 2008, 1226 (1228). Siehe aber demgegenüber Olbertz/Reinartz, ArbRB 2008, 310 (311).
1020 Moll
Tarifsozialplan
Rz. 145 Teil 12
nur hinsichtlich dieser Betriebsänderungen. Ist dies nicht der Fall, dürfte die Friedenspflicht umfassend gelten. Die TV-Parteien haben über alle möglichen Betriebsänderungen im Sinne der §§ 111 ff. BetrVG verhandelt, was eine umfassende Friedenspflicht rechtfertigt1. Es ist in jedem Falle zu fragen, ob sich durch die beabsichtigte Restrukturierung eine 142 neue, unvorhergesehene Regelungssituation ergibt, die von den Regelungen des TVs offensichtlich nicht erfasst ist, so dass dann die relative Friedenspflicht kein Hindernis darstellt2. Ob ein bereits existierender MantelTV mit dem üblichen Inhalt kraft relativer Friedens- 143 pflicht den Streik um einen Tarifsozialplan sperrt, hängt vom Regelungsgegenstand ab. Teilweise wird die relative Friedenspflicht grundsätzlich verneint3. Richtigerweise wird man nach Regelungsinhalten differenzieren müssen. Sind Kündigungsfristen im MantelTV geregelt, erscheint mindestens nicht selbstverständlich, dass längere Kündigungsfristen erstreikt werden. Das BAG hat in der Entscheidung vom 10.12.2002 – bei der es, wie klarzustellen ist, 144 nicht um einen Tarifsozialplan ging – eine streikweise Durchsetzung eines im Vergleich zum VerbandsTV weitergehenden Kündigungsschutzes in einem FirmenTV gegenüber einem Verbandsmitglied als rechtswidrig angesehen, da die verbandstariflichen Kündigungsschutzbestimmungen erkennbar abschließend seien4. In dem konkreten Fall war der verbandsangehörige Arbeitgeber mit einer Tarifforderung konfrontiert worden, u.a. einen besonderen, erweiterten Kündigungsschutz gegenüber betriebsbedingten Kündigungen zu gewähren. Das BAG sah in den bereits bestehenden Verbandstarifregelungen eine abschließende Regelung der Kündigungsproblematik. Es sah demgegenüber in der Entscheidung vom 24.4.2007 die Streikziele „Verlängerung der Fristen für betriebsbedingte Kündigungen aufgrund von Betriebsänderungen auf Zeiten von mehr als einem Jahr“ und das „Ziel einer mit der Betriebszugehörigkeit steigenden Dauer der Kündigungsfrist ohne Begrenzung auf eine Höchstlänge“ als rechtmäßig an5. Dies, obwohl die Verbandstarifregelungen Bestimmungen über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses und insbesondere über Kündigungsfristen vorsahen. Die Rechtmäßigkeit ergab sich daraus, dass die Gewerkschaft die in Rede stehenden Verbandstarifbestimmungen nach Ansicht des BAG zuvor wirksam gekündigt hatte, so dass die Friedenspflicht aufgrund einer bestehenden verbandstariflichen Regelung den Forderungen der Gewerkschaft für den Tarifsozialplan nicht entgegen stand. Dieser Forderung und dem Streik stand nach Ansicht des BAG ebenso wenig entgegen, dass über die Forderungen auch auf Verbandsebene verhandelt wurde. Für den Fall, dass die TV-Parteien zeitgleich Verhandlungen über einen VerbandsTV mit dem gleichen Regelungsgegenstand führen, liegt bei zeitgleichem Streik um den Tarifsozialplan kein Verstoß gegen die Friedenspflicht vor. Verhandlungen der TV-Parteien über eine Nachfolgeregelung für die abgelaufene Bestimmung eines Verbands1 2 3 4 5
Vgl. Lindemann/Dannhorn, BB 2008, 1226 (1229). Vgl. BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, AP Nr. 162 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. Vgl. Lipinski/Ferme, DB 2007, 1250 (1251). Vgl. BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, AP Nr. 162 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. Vgl. BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan.
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145
Teil 12 Rz. 146
Der Sanierungstarifvertrag
TVs oder über deren erstmaliges Zustandekommen schließen gleichzeitige Arbeitskampfmaßnahmen zur Herbeiführung einer abweichenden Regelung zum gleichen Gegenstand in einem firmenbezogenen VerbandsTV nicht aus. Bloße Verhandlungen über eine bestimmte Tarifforderung begründen keine auf ihren Gegenstand bezogene Friedenspflicht. Diese entsteht erst mit dem Abschluss des erstrebten TVs1. 146 Fraglich ist, ob ein bestehender TV mit Regelungen zu Betriebsänderungen eine Friedenspflicht auch gegenüber den Gewerkschaften begründet, die nicht Vertragsparteien dieses TVs sind. Nachdem die Rechtsprechung den Grundsatz der Tarifeinheit aufgegeben hat2, und daher auch eine Tarifpluralität in einem Betrieb herrschen kann, spricht nichts mehr dafür, eine Sperrwirkung eines solchen TVs anzunehmen. Für diese Sichtweise streitet zudem die grundsätzliche Unzulässigkeit eines Vertrages zulasten Dritter3. 147 Eine etwaige Friedenspflicht ist zeitlich begrenzt, sie gilt nur während der Laufzeit des TVs. Im Nachwirkungszeitraum des § 4 Abs. 5 TVG besteht die Friedenspflicht nicht mehr4.
VI. Kollision von betrieblichen und tariflichen Sozialplänen 148 Gemäß § 112 Abs. 1 Satz 4 BetrVG gilt § 77 Abs. 3 BetrVG, wonach Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch TV geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein können, für den betrieblichen Sozialplan nicht. Es besteht also kein genereller Vorrang von TVen. Daraus lässt sich schließen, dass grundsätzlich tarifliche Regelungen und betriebsverfassungsrechtliche Sozialplanregelungen nebeneinander bestehen können; das gilt sowohl bei Verbands- als auch bei HausTVen5. Bei kollidierenden Regelungen gilt das Günstigkeitsprinzip. Eine „Rosinentheorie“ darf dabei nicht praktiziert werden, sondern es ist ein Sachgruppenvergleich anzustellen6. Möglich ist die Vereinbarung einer Öffnungsklausel im TV; danach können durch einen Sozialplan auch von dem TV abweichende, für die Arbeitnehmer ungünstigere Regelungen getroffen werden7. Um eine Kumulierung von Ansprüchen aus Tarifsozialplänen und betrieblichen Sozialplänen zu vermeiden, ist es möglich, eine Anrechnung von tariflichen auf die betrieblichen Leistungen (in dem betrieblichen Sozialplan)8 oder umgekehrt eine Anrechnung von betrieblichen
1 2 3 4 5
Vgl. BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan. Vgl. BAG v. 23.6.2010 – 10 AS 2/10, AP Nr. 47 zu § 3 TVG. Vgl. Gaul, RdA 2008, 13 (16). Vgl. BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan. Vgl. BAG v. 24.11.1993 – 4 AZR 225/93, AP Nr. 116 zu § 1 TVG; BAG v. 13.4.1994 – 3 AZR 725/93, AP Nr. 119 zu § 1 TVG TVe Metallindustrie; BAG v. 6.12.2006 – 4 AZR 798/05, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Sozialplan; BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan; Fitting, §§ 112, 112a BetrVG Rz. 182. 6 Vgl. BAG v. 6.12.2006 – 4 AZR 798/05, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Sozialplan; BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Sozialplan; Richardi/Annuß, § 112 BetrVG Rz. 181; DKKW/ Däubler, §§ 112, 112a BetrVG Rz. 114; Fitting, §§ 112, 112a BetrVG Rz. 183; HWGNRH/Hess, § 112 BetrVG Rz. 198. 7 Vgl. HWGNRH/Hess, § 112 BetrVG Rz. 198. 8 So im Fall BAG v. 14.11.2006 – 1 AZR 40/06, AP Nr. 181 zu § 112 BetrVG 1972.
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Tarifsozialplan
Rz. 150 Teil 12
auf die tariflichen Leistungen (in dem TV) vorzusehen. Dabei ist zu beachten, dass es nicht etwa möglich ist, in dem betrieblichen Sozialplan die Anrechnung von betrieblichen auf tarifliche Leistungen zu vereinbaren, da die Betriebsparteien im Rahmen ihrer Normsetzungskompetenz rechtlich nur in der Lage sind, Regelungen über die von ihnen selbst geschaffenen Ansprüche zu treffen1. Sehen sowohl der Tarifsozialplan als auch der betriebliche Sozialplan derartige Anrechnungsklauseln vor, muss unterschieden werden. Geht es um bereits erbrachte Leistungen, soll eine doppelte Inanspruchnahme des Arbeitgebers verhindert werden. Sobald er einmal geleistet hat, kann er sich darauf auch berufen, wenn er aus der anderen Rechtsgrundlage in Anspruch genommen wird. Geht es um bloße Ansprüche, heben sich die Klauseln gegenseitig auf und es gilt das Günstigkeitsprinzip2.
VII. Betriebliche Beteiligungsrechte beim Arbeitskampf Es ist anerkannt, dass während eines Arbeitskampfes die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats bei personellen Einzelmaßnahmen wie Einstellungen, Versetzungen oder Kündigungen ruhen3.
149
Umstritten ist, ob während des Streiks um einen Tarifsozialplan die Beteiligungsrech- 150 te des Betriebsrates nach den §§ 111 ff. BetrVG suspendiert sind4. Eine Suspendierung wird insbesondere zur Sicherstellung der Kampfmittelparität angenommen. Dafür sei erforderlich, dass der Arbeitgeber die Betriebsänderung während des Streiks ohne den Versuch eines Interessenausgleichs mit dem Betriebsrat vornehmen dürfe. Dies habe dann weder Nachteilsausgleichsansprüche aus § 113 Abs. 3 BetrVG noch Ansprüche auf Unterlassung der Betriebsänderung zur Folge. Ein eventuell bereits eingeleitetes Einigungsstellenverfahren über einen Sozialplan sei bis zum Abschluss der Verhandlungen über den Tarifsozialplan ruhend zu stellen, danach jedoch nachzuholen. Zu beachten ist jedoch, dass dem Arbeitgeber bei dieser Vorgehensweise zumindest bei einigen Landesarbeitsgerichten vom Betriebsrat beantragte Unterlassungsverfügungen drohen können5. Da keine Klarheit darüber besteht, ob die Beteiligungsrechte des Betriebsrats gemäß den §§ 111, 112 BetrVG tatsächlich suspendiert sind, stellt die Umsetzung der Betriebsänderung aufgrund der möglichen Unterlassungsansprüche des Betriebsrats und insbesondere auch im Hinblick auf mögliche Nachteilsausgleichsansprüche der Arbeitnehmer gemäß § 113 Abs. 3 BetrVG ein beachtliches Risiko für den Arbeitgeber dar. Der Sache nach spricht auf der Grundlage der BAG-Rechtsprechung nichts dafür, von einer Suspendierung der Beteiligungsrechte des Betriebsrats nach §§ 111, 112 BetrVG auszugehen, zumal der Tarifsozialplan das Interessenausgleichsverfahren nicht ersetzt. 1 2 3 4
Vgl. BAG v. 14.11.2006 – 1 AZR 40/06, AP Nr. 181 zu § 112 BetrVG 1972. Vgl. DKKW/Däubler, BetrVG, §§ 112, 112a BetrVG Rz. 116. Vgl. Willemsen/Stamer, NZA 2007, 413 (416). Dafür: Gaul, RdA 2008, 13 (22); ErfK/Kania, §§ 112, 112a BetrVG Rz. 13; Lipinski/Ferme, DB 2007, 1250; Wank, RdA 2009, 1 (6); Willemsen/Stamer, NZA 2007, 413 (415). Dagegen: Bayreuther, NZA 2010, 378 (380); DKKW/Däubler, §§ 112, 112a BetrVG Rz. 117. 5 Vgl. LAG Hamburg v. 26.6.1997 – 6 TaBV 5/97, NZA-RR 1997, 296; LAG Berlin v. 24.10.2003 – 17 Ta 6080/03, n.v.; LAG Schleswig-Holstein v. 20.7.2007 – 3 TaBVGa 1/07, NZA-RR 2008, 244. Siehe aber demgegenüber LAG Düsseldorf v. 19.11.1996 – 8 TaBV 80/96, NZA-RR 1997, 197.
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1023
Teil 12 Rz. 151
Der Sanierungstarifvertrag
VIII. Handlungsmöglichkeiten des Arbeitgebers 151 Das Instrument des Tarifsozialplans legt auf Arbeitgeberseite mehrere Erwägungen nahe. 1. Präventivmaßnahmen 152 Es kann vorteilhaft sein, mit der Gewerkschaft maßvolle Rationalisierungsschutzabkommen zu treffen, die den Fall einer Betriebsänderung umfassend regeln. Dies verhindert aufgrund der relativen Friedenspflicht, dass um diese Tarifinhalte gestreikt wird. Dies gilt insbesondere dann, wenn klar ist, dass die Parteien über alle möglichen Formen der Betriebsänderung verhandelt haben und sich das Rationalisierungsschutzabkommen auf alle denkbaren Betriebsänderungen bezieht. 153 Um einen konkret anstehenden Streik zu vermeiden, ist das eine Betriebsänderung planende Unternehmen gut beraten, möglichst schnell eine Einigung über einen Interessenausgleich und einen Sozialplan mit dem Betriebsrat zu erzielen und die Anrechnung von tariflichen auf die betrieblichen Leistungen zu vereinbaren. Zwar ist ein Arbeitskampf um einen tariflichen Sozialplan nicht deshalb rechtswidrig, weil bereits ein betrieblicher Sozialplan vereinbart wurde. Die Gewerkschaft wird jedoch größere Probleme haben, die Arbeitnehmer zu einem Streik bewegen zu können, wenn für sie bereits ein angemessener Sozialplan existiert, insbesondere wenn die Betriebsparteien ohnehin die Anrechnung tariflicher auf die betrieblichen Leistungen vorgesehen haben1. Sollte sich der Betriebsrat Zeit lassen, kann der Arbeitgeber das Scheitern der Verhandlungen feststellen und die Einigungsstelle anrufen. Jedem der Beteiligten – Betriebsrat oder Arbeitgeber – steht es frei zu entscheiden, wann er die innerbetriebliche Beilegung einer Meinungsverschiedenheit in angemessener Zeit nicht mehr für erreichbar hält, das Scheitern der innerbetrieblichen Verhandlungen anzunehmen und dann die Bildung einer Einigungsstelle zu betreiben, wenn ernsthafte Verhandlungen stattgefunden haben und die Annahme eines Scheiterns der Verhandlungen nicht ohne jeglichen Anlass erfolgt2. Anders als der Interessenausgleich ist der Sozialplan durch die Einigungsstelle erzwingbar, wenn sich die Betriebspartner nicht einigen können (§ 112 Abs. 4 Satz 2 BetrVG). 154 Sollte die Gewerkschaft mit Forderungen auf den Arbeitgeber zukommen, ist dieser gut beraten, die Aufnahme von Verhandlungen nicht abzulehnen, sondern in Gespräche mit der Gewerkschaft zu treten, um einen Arbeitskampf zu vermeiden. Solange die Verhandlungen (ernsthaft) laufen, kann es je nach Situation der Gewerkschaft aufgrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verwehrt sein, mangels Scheiterns der Verhandlungen einen Arbeitskampf zu beginnen3. 2. Maßnahmen bei Rechtswidrigkeit des Streiks 155 Handelt es sich um einen rechtswidrigen Streik, zum Beispiel weil er mit dem im Streikbeschluss offiziellen Ziel der Verhinderung der Betriebsänderung geführt wird, hat der betroffene Arbeitgeber einen Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch aus 1 Vgl. Bauer/Krieger, NZA 2004, 1019 (1024). 2 Vgl. LAG Hessen v. 12.11.1991 – 4 TaBV 148/91, NZA 1992, 853; Stück, MDR 2008, 127 (129). 3 Vgl. Lipinski/Ferme, DB 2007, 1250 (1251).
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Rz. 159 Teil 12
Beispiel eines Sanierungstarifvertrags
§ 1004 Abs. 1 i.V.m. § 823 Abs. 1 BGB, Art. 9 Abs. 3 GG gegen die Gewerkschaft, den er im einstweiligen Verfügungsverfahren oder im Klageverfahren durchsetzen kann. Daneben kann er ggf. Schadensersatz verlangen1. Da bei einem rechtswidrigen Streik die arbeitsvertraglichen Pflichten unverändert be- 156 stehen bleiben, kann der Arbeitgeber die am Streik beteiligten Arbeitnehmer abmahnen, und bei beharrlicher Arbeitsverweigerung kann ggf. der Ausspruch einer Kündigung in Betracht kommen2. Ebenso kommen Schadenersatzansprüche in Betracht. Der Arbeitgeber ist nicht verpflichtet, die Tätigkeit in dem bestreikten Betrieb aufrechtzuerhalten. Er kann ihn für die Dauer des Streiks stilllegen (und dies den Arbeitnehmern ausdrücklich mitteilen), so dass auch an die arbeitswilligen Arbeitnehmer kein Lohn mehr zu zahlen ist3.
157
3. Maßnahmen bei rechtmäßigem Streik Handelt es sich um einen rechtmäßigen Streik, nach Ansicht des BAG zum Beispiel 158 auch bei dem Streik um exorbitant hohe, aber grundsätzlich tariflich regelbare Forderungen, hat der Arbeitgeber zunächst die Möglichkeit, die Arbeitnehmer, die sich nicht an dem Streik beteiligen, weiterzubeschäftigen (soweit ihm dies möglich und wirtschaftlich zumutbar ist). Die überwiegende Auffassung geht davon aus, dass die Zahlung einer Streikbruchprämie an die Arbeitnehmer, die sich nicht an dem Streik beteiligen, zulässig ist, wenn sie vor oder während des Arbeitskampfes zugesagt wird4. Der Arbeitgeber wird unabhängig davon überlegen, Arbeiten für die Zukunft fremd zu vergeben und auszugliedern. Er kann Überlegungen anstellen und offen legen, Arbeiten zu rationalisieren und Arbeitsplätze zu streichen5.
I. Beispiel eines Sanierungstarifvertrags Zwischen
159
der … GmbH und der Industriegewerkschaft … wird folgender Sanierungstarifvertrag vereinbart: Prambel: Die … GmbH und die Industriegewerkschaft … haben zur Regelung der Arbeitsverhltnisse der Arbeitnehmer der … GmbH den Firmentarifvertrag vom … abgeschlos1 Vgl. Gaul, RdA 2008, 13 (23); Otto, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, 2006, § 15 Rz. 3. 2 Vgl. BAG v. 21.4.1971 – GS 1/68, AP Nr. 43 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; BAG v. 29.11.1983 – 1 AZR 469/82, AP Nr. 78 zu § 626 BGB. 3 Vgl. Gaul, RdA 2008, 13 (23); Otto, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, 2006, § 1 Rz. 22. 4 Vgl. Otto, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, 2006, § 12 Rz. 45. 5 Vgl. ArbG Hamburg v. 1.9.2010 – 28 Ca 105/10, LAGE Nr. 85a zu Art. 9 GG Arbeitskampf.
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1025
Rz. 159 Teil 12
Beispiel eines Sanierungstarifvertrags
§ 1004 Abs. 1 i.V.m. § 823 Abs. 1 BGB, Art. 9 Abs. 3 GG gegen die Gewerkschaft, den er im einstweiligen Verfügungsverfahren oder im Klageverfahren durchsetzen kann. Daneben kann er ggf. Schadensersatz verlangen1. Da bei einem rechtswidrigen Streik die arbeitsvertraglichen Pflichten unverändert be- 156 stehen bleiben, kann der Arbeitgeber die am Streik beteiligten Arbeitnehmer abmahnen, und bei beharrlicher Arbeitsverweigerung kann ggf. der Ausspruch einer Kündigung in Betracht kommen2. Ebenso kommen Schadenersatzansprüche in Betracht. Der Arbeitgeber ist nicht verpflichtet, die Tätigkeit in dem bestreikten Betrieb aufrechtzuerhalten. Er kann ihn für die Dauer des Streiks stilllegen (und dies den Arbeitnehmern ausdrücklich mitteilen), so dass auch an die arbeitswilligen Arbeitnehmer kein Lohn mehr zu zahlen ist3.
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3. Maßnahmen bei rechtmäßigem Streik Handelt es sich um einen rechtmäßigen Streik, nach Ansicht des BAG zum Beispiel 158 auch bei dem Streik um exorbitant hohe, aber grundsätzlich tariflich regelbare Forderungen, hat der Arbeitgeber zunächst die Möglichkeit, die Arbeitnehmer, die sich nicht an dem Streik beteiligen, weiterzubeschäftigen (soweit ihm dies möglich und wirtschaftlich zumutbar ist). Die überwiegende Auffassung geht davon aus, dass die Zahlung einer Streikbruchprämie an die Arbeitnehmer, die sich nicht an dem Streik beteiligen, zulässig ist, wenn sie vor oder während des Arbeitskampfes zugesagt wird4. Der Arbeitgeber wird unabhängig davon überlegen, Arbeiten für die Zukunft fremd zu vergeben und auszugliedern. Er kann Überlegungen anstellen und offen legen, Arbeiten zu rationalisieren und Arbeitsplätze zu streichen5.
I. Beispiel eines Sanierungstarifvertrags Zwischen
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der … GmbH und der Industriegewerkschaft … wird folgender Sanierungstarifvertrag vereinbart: Prambel: Die … GmbH und die Industriegewerkschaft … haben zur Regelung der Arbeitsverhltnisse der Arbeitnehmer der … GmbH den Firmentarifvertrag vom … abgeschlos1 Vgl. Gaul, RdA 2008, 13 (23); Otto, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, 2006, § 15 Rz. 3. 2 Vgl. BAG v. 21.4.1971 – GS 1/68, AP Nr. 43 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; BAG v. 29.11.1983 – 1 AZR 469/82, AP Nr. 78 zu § 626 BGB. 3 Vgl. Gaul, RdA 2008, 13 (23); Otto, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, 2006, § 1 Rz. 22. 4 Vgl. Otto, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, 2006, § 12 Rz. 45. 5 Vgl. ArbG Hamburg v. 1.9.2010 – 28 Ca 105/10, LAGE Nr. 85a zu Art. 9 GG Arbeitskampf.
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1025
Teil 12 Rz. 159
Der Sanierungstarifvertrag
sen, der insbesondere Monatsentgelte, Sonderleistungen und Urlaub regelt. Die … GmbH hat in den vergangenen Geschftsjahren negative Jahresergebnisse erzielt. Das Eigenkapital der … GmbH ist aufgrund dieser Verluste aufgezehrt. Zur Restrukturierung und Sanierung des Unternehmens der … GmbH und auch im Interesse einer langfristigen Sicherung der Arbeitspltze in den drei Betrieben der … GmbH vereinbaren die Parteien nachfolgend nderungen und Ergnzungen des Firmentarifvertrags vom … . § 1 Geltungsbereich Dieser Sanierungstarifvertrag gilt fr alle Arbeitnehmer in den drei Betrieben der … GmbH, die vom Geltungsbereich des Firmentarifvertrags vom … erfasst werden. § 2 Entgelte Die Vergtungen werden fr die Kalenderjahre ab 2016 statt nach den Bestimmungen des § … des Firmentarifvertrags vom … nur wie folgt angehoben: 1. Januar 2016 0,5 Prozent 1. Januar 2017 1 Prozent 1. Januar 2018 1,5 Prozent. § 3 Arbeitszeit Die regelmßige wçchentliche Arbeitszeit wird von 38 Stunden auf 40 Stunden angehoben. Die Arbeitszeit von Teilzeitbeschftigten wird entsprechend angepasst. Die … GmbH wird entsprechende Verhandlungen mit Beschftigten aufnehmen, mit denen bislang individuell eine lngere als die tariflich vereinbarte regelmßige wçchentliche Arbeitszeit vereinbart gewesen ist, um eine der Erhçhung der tariflich vereinbarten Arbeitszeit entsprechende Verlngerung im Rahmen des rechtlich Zulssigen zu vereinbaren. § 4 Jahreszahlungen Die tarifliche Jahreszahlung in den Kalenderjahren 2016, 2017 und 2018 wird nicht in der in § … des Firmentarifvertrags vom … geregelten Hçhe gewhrt, sondern wie folgt: 2016: … Euro 2017: … Euro 2018: … Euro Es bleibt dabei, dass die Jahreszahlung mit der Novemberabrechnung gezahlt wird. § 5 Urlaub Der Erholungsurlaub betrgt abweichend vom Firmentarifvertrag vom … kalenderjhrlich 28 Arbeitstage.
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Rz. 159 Teil 12
Beispiel eines Sanierungstarifvertrags
§ 6 Entlassungen Betriebsbedingte Kndigungen sind whrend der Laufzeit dieses Sanierungstarifvertrags ausgeschlossen, es sei denn, dass im Einzelfall der Betriebsrat der Kndigung zustimmt. Der Kndigungsschutz besteht insoweit nicht, wie im Betrieb A die Maßnahmen gemß dem mit dem Betriebsrat vereinbarten Interessenausgleich vom … durchgefhrt werden. § 7 Kooperation Die festgestellten und testierten Jahresabschlsse der … GmbH fr die Geschftsjahre 2015, 2016 und 2017 werden der Industriegewerkschaft … zur Verfgung gestellt. Die … GmbH wird den Gesamtbetriebsrat regelmßig, vierteljhrlich ber den sukzessiven Fortgang der Sanierungsmaßnahmen und die wirtschaftliche Entwicklung der einzelnen Betriebe informieren. § 8 Sonderzahlung Die Arbeitnehmer erhalten eine Sonderzahlung, wenn die folgenden Voraussetzungen erfllt sind: – Das Eigenkapital der … GmbH betrgt ausweislich des festgestellten und testierten Jahresabschlusses fr das Geschftsjahr 2019 mindestens … Euro. – Der Jahresberschuss fr das Geschftsjahr 2019 betrgt mindestens … Euro. Die Sonderzahlung betrgt 30 % eines auf der Grundlage dieses Sanierungstarifvertrags im Monat Dezember 2018 erzielten Monatsverdienstes unter Zugrundelegung der regelmßigen wçchentlichen Arbeitszeit. Die Sonderzahlung erfolgt, wenn die Voraussetzungen vorliegen, am Ende desjenigen Kalendermonats, der auf den Kalendermonat folgt, in dem der Jahresabschluss der … GmbH fr das Geschftsjahr 2019 festgestellt wird. § 9 Betriebs- oder Betriebsteilbergang Dieser Sanierungstarifvertrag endet ohne Nachwirkung fr einen Betrieb oder Betriebsteil am Ende desjenigen Kalendermonats, in dem der Betrieb oder Betriebsteil gemß § 613a BGB auf einen Erwerber bertragen wird. § 10 Schlussbestimmungen Dieser Sanierungstarifvertrag tritt mit Wirkung zum 1. Januar 2016 in Kraft. Dieser Sanierungstarifvertrag lsst die Regelungen des Firmentarifvertrags vom … unberhrt, soweit nicht in diesem Sanierungstarifvertrag eine abweichende bzw. ergnzende Regelung getroffen wird. Dieser Sanierungstarifvertrag endet ohne Nachwirkung mit Ablauf des 31. Dezember 2018. § 6 gilt bis zur Erfllung etwaiger daraus resultierender Ansprche.
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1027
Teil 13 Betriebliche Beschäftigungsbündnisse Rz.
Rz. A. Begriff, Typen und rechtliche Grundlage betrieblicher Beschäftigungsbündnisse I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
II. Typen betrieblicher Beschäftigungsbündnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Krisenbündnis a) Krisenbündnis als Reaktion auf eine eingetretene oder bevorstehende wirtschaftliche Notlage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Politische Diskussion über Krisenbündnisse . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Fälle Viessmann und Burda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Fall Viessmann . . . . . . . . . bb) Der Fall Burda . . . . . . . . . . . . . 2. Innovationsbündnis . . . . . . . . . . . . . .
5 6 7 8
III. Rechtliche Grundlage . . . . . . . . . . . . .
9
2
3 4
B. Häufige Ausgangssituationen für betriebliche Beschäftigungsbündnisse I. Das Unternehmen ist „gewerkschaftsfrei“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12
II. Die Unternehmensleitung lehnt eine Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft ab . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
III. Gescheiterte HaustarifvertragsVerhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14
IV. Die Betriebsparteien wollen eine betriebliche Lösung . . . . . . . . . . . . . . .
15
C. Rechtliche Voraussetzungen eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses I. Tarifrechtliche Regelungsgrenzen 1. Gestaltung eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses in Abhängigkeit von der Tarifsituation. . . . . . . 2. Tarifvorrang, § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG. . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Tarifvorbehalt, § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ermittlung des tarifrechtlich zulässigen Gestaltungsspielraums . . . .
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1. Gestaltungspielraum bei tarifgebundenen Arbeitgebern a) Betriebsvereinbarungen aa) Grundsatz: Sperre für Betriebsvereinbarungen im Umfang des § 77 Abs. 3 Satz BetrVG, § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ausnahmen von der tariflichen Sperrwirkung bei zwingender Tarifgeltung . . . . . . . . . (1) Tarifliche Öffnungsklauseln . . (2) Fehlende tarifliche Regelung . (3) Kein Günstigkeitsprinzip im Verhältnis Betriebsvereinbarung/TV . . . . . . . . . . . b) Regelungsabreden aa) Nichtgeltung des Tarifvorbehalts des § 77 Abs. 3 BetrVG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Beschränkung des Bündnisses auf Nicht-Gewerkschaftsmitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Günstigkeitsprinzip, § 4 Abs. 3 TVG . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gestaltungsspielraum bei nichttarifgebundenen Arbeitgebern a) Betriebsvereinbarungen aa) Grundsatz: Tarifüblichkeit . . . bb) Ausnahme: Vorrangtheorie . . . b) Regelungsabreden . . . . . . . . . . . . . . 3. Gestaltungsspielraum nach Beendigung der Tarifbindung des Arbeitgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Nachbindung, § 3 Abs. 3 TVG. . . . b) Ende des Tarifvertrages. . . . . . . . . . c) Konsequenzen für die Anwaltspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) „Ewige“ Bindung an Flächentarifverträge?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Bedeutung von Erklärungsfristen . III. Wechsel zur OT-Mitgliedschaft als Alternative zum Verbandsaustritt 1. Begriff der OT-Mitgliedschaft. . . . . . . 2. Wirksamkeitsvoraussetzungen einer OT-Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . IV. Zustimmungserfordernis der Mitarbeiter zum betrieblichen Bündnis . 1. Betriebsvereinbarungen . . . . . . . . . . .
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Teil 13
Betriebliche Beschftigungsbndnisse Rz.
Rz. 2. Regelungsabreden . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Kurz-Checkliste. . . . . . . . . . . . . . . . . .
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E. Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft gegen betriebliche Bündnisse
I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Kein Tarifvorbehalt für Regelungsabreden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Zustimmungserfordernis der Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
I. Unterlassungsanspruch gegen tarifwidrige Betriebsvereinbarungen 1. Unterlassungsanspruch nach § 23 Abs. 3 BetrVG i.V.m. § 77 BetrVG . . . 2. Unterlassungsanspruch aus Art. 9 Abs. 3 GG i.V.m. §§ 823, 1004 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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D. Die Regelungsabrede als Gestaltungsmittel für betriebliche Beschäftigungsbündnisse
IV. AGB-Kontrolle der Regelungsabrede? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bereichsausnahme des § 310 Abs. 4 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Analoge Anwendung der Bereichsausnahme des § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB auf Regelungsabreden? . . . . . . . . a) Keine analoge Anwendung des § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB . . . . . . . . . b) Analoge Anwendung des § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . c) Heranziehung der BAG-Rechtsprechung zu kirchlich-diakonischen Arbeitsvertragsregelungen . d) Konsequenzen für die Anwaltspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zulässigkeit arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln auf ein betriebliches Beschäftigungsbündnis 1. Inhaltskontrolle arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln . . . . . . . . . 2. Zulässigkeit einer statischen Bezugnahmeklausel . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zulässigkeit einer dynamischen Bezugnahmeklausel . . . . . . . . . . . . . . a) Dynamische Bezugnahmeklausel auf Tarifverträge . . . . . . . . . . . . . . . b) Dynamische Bezugnahmeklausel auf eine einseitig vom Arbeitgeber aufgestellte Arbeitsordnung . . c) Dynamische Bezugnahmeklausel auf kirchlich-diakonische Arbeitsvertragsregelungen . . . . . . . d) Übertragung der Grundsätze der BAG-Rechtsprechung zu dynamischen Bezugnahmeklauseln auf Regelungsabreden. . . . . . . . . . . e) Konsequenzen für die Anwaltspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Unterlassungsanspruch gegen Regelungsabreden 1. Unterlassungsanspruch nach § 23 Abs. 3 BetrVG i.V.m. § 77 BetrVG . . . 2. Unterlassungsanspruch aus Art. 9 Abs. 3 GG i.V.m. §§ 823, 1004 BGB (Burda-Beschluss und Folgeentscheidungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Betriebseinheitliche Regelungen mit kollektivem Charakter . . . . . . b) Tarifbindung auf Arbeitgeberseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Tarifbindung auf Arbeitnehmerseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Anforderungen an den Antrag der Gewerkschaft . . . . . . . . . . . . . . e) Kritik an der Rechtsprechung des BAG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Bedeutung für die Praxis . . . . . . . .
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F. Inhaltliche Gestaltung eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses I. 1. 2. 3.
Typische Beiträge der Arbeitnehmer . Typische Einsparpotenziale . . . . . . . . Bewertung der Einsparpotentiale . . . . Besserungsscheinregelungen . . . . . . .
II. Typische Gegenleistungen des Unternehmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beschäftigungssicherungszusagen . . . a) Eindeutigkeit der Formulierung . . b) Umfang der Beschäftigungssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) „Harte“ Beschäftigungssicherung ohne Ausstiegsmöglichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Beschäftigungssicherung mit Ausnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zusicherung einer Personaldecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gewährung einer Beschäftigungssicherung nur an zustimmende Mitarbeiter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Betriebliche Beschftigungsbndnisse
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Rz. 2. Standortgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Investitionszusagen. . . . . . . . . . . . . . . 4. Ausschluss von OutsourcingMaßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Übernahmegarantie für Auszubildende. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vermeidung arbeitsrechtlicher Fallstricke. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entstehung einer Zwei-KlassenGesellschaft und Vermeidungsmöglichkeiten a) Problematik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zustimmungsquote . . . . . . . . . . . . 2. Bedingtes Inkrafttreten der einzelvertraglichen Änderungsvereinbarungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gestaltung der Arbeitsverträge für künftige Neueinstellungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Sonderkündigungsrecht . . . . . . . . . . . 5. Ausschluss der Zustimmungsverweigerer von freiwilligen Vergütungserhöhungen. . . . . . . . . . . . a) Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes im Bereich der Vergütung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Voraussetzungen nach der BAGRechtsprechung aa) Kompensationszweck . . . . . . . bb) Keine Rechtfertigung bei Überkompensation . . . . . . . . . c) Offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Unterstützungsklausel des Betriebsrats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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G. Verhandlung von betrieblichen Beschäftigungsbündnissen
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I. Beteiligte Parteien 1. Arbeitgeber, Betriebsrat und Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 2. Beteiligung der Gewerkschaft? . . . . . 111
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II. Verhalten bei Gegenreaktionen der Gewerkschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
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III. Kommunikation während der Verhandlungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 99 100
IV. Die Rolle des anwaltlichen Beraters bei Vorbereitung und Umsetzung betrieblicher Beschäftigungsbündnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
101 H. Beendigung betrieblicher Beschäftigungsbündnisse und Rechtsfolgen 102 103
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I. 1. 2. 3.
Betriebsvereinbarungen Beendigungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . 115 Nachwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Folgen für die Arbeitnehmer . . . . . . . 117
II. 1. 2. 3.
Regelungsabreden . . . . . . . . . . . . . . . . Beendigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsfolgen für die Arbeitnehmer a) Rechtsfolgen bei Nachwirkung der Regelungsabrede . . . . . . . . . . . . b) Rechtsfolgen bei fehlender Nachwirkung der Regelungsabrede . . . .
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J. Fallbeispiel aus der Praxis: Zukunftsvertrag bei Automobilzulieferer. . . . . 123
Literatur: Adomeit, Das Günstigkeitsprinzip – neu verstanden, NJW 1984, 26; Bauer, Betriebliche Bündnisse für Arbeit vor dem Aus?, NZA 1999, 957; Bauer, Neues Spiel bei der Betriebsänderung und der Beschäftigungssicherung?, NZA 2001, 375; Bauer/Haußmann, Betriebliche Bündnisse für Arbeit und gewerkschaftlicher Unterlassungsanspruch, NZA-Beil. 2000, 42; Bayreuther, Tarifpluralitäten und -konkurrenzen im Betrieb, NZA 2007, 184; Berg/Platow, Unterlassungsanspruch der Gewerkschaften gegen tarifwidrige betriebliche Regelungen, DB 1999, 2362; Buchner, Der Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft – Stabilisierung oder Ende des Verbandstarifvertrages? Zum Beschluss des BAG vom 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 897; Buchner, Kündigung der Tarifregelung über die Entgeltanpassung in der Metallindustrie, NZA 1993, 289; Däubler, Das neue Klagerecht der Gewerkschaften bei Tarifbruch des Arbeitgebers, AiB 1999, 481; Däubler, Die Anpassung von Tarifverträgen an veränderte wirtschaftliche Umstände, ZTR 1996, 241; Dieterich, Flexibilisiertes Tarifrecht und Grundgesetz, RdA 2002, 1; Dieterich, Tarif- und Betriebsautonomie – ein Spannungsverhältnis, in Festschrift Richardi 2007, 117; Ehlers, Personalkosten und betriebliche Bündnisse für Arbeit, RdA 2008, 81; Ehmann/Lambrich, Verschlechterung tariflicher Ansprüche durch einen „Konsolidierungsvertrag“ – Anm. zu BAG v. 7.11.2000 – 1 AZR 175/00, NZA 2001, 727; Franzen, Das Ende der Tarifeinheit und die Folgen, RdA 2008, 193; Franzen, Tarifrechtssystem und Gewerkschaftswettbewerb – Überlegungen zur Flexibilisierung des Flächentarifvertrags, RdA 2001, 1; Fröhlich, Dreigliedrige Standortsicherungsvereinbarung, ArbRB 2009, 208;
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Teil 13
Betriebliche Beschftigungsbndnisse
Gotthardt, Grenzen von Tarifverträgen zur Beschäftigungssicherung durch Arbeitszeitverkürzung, DB 2000, 1462; Hanau, Die Deregulierung von Tarifverträgen durch die Betriebsvereinbarung als Problem der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG), RdA 1993, 1; Hanau, Ordnung und Vielfalt von Tarifverträgen und Arbeitskämpfen im Betrieb. Zugleich Besprechung zum Urteil des Sächsischen LAG v. 2.11.2007 – 7 SaGA 19/07 zum Tarifkonflikt bei der Deutschen Bahn, RdA 2008, 98; Heise, Günstigkeitsprinzip und betriebliche Bündnisse für Arbeit, in: Festschrift 50 Jahre BAG, 2004, S. 614; Henssler, Flexibilisierung der Arbeitsmarktordnung. Überlegungen zur Weiterentwicklung der tariflichen Regelungsmacht, ZfA 1994, 487; Hromadka, Die ablösende Betriebsvereinbarung ist wieder da!, NZA 2013, 1061; Hromadka, Zum Unterlassungsanspruch gegen tarifwidrige Bündnisse für Arbeit, ZTR 2000, 253; Kast/Freihube, Die fristlose Kündigung von (Haus-)Tarifverträgen, BB 2003, 956; Kast/Freihube, Neue Hoffnung für betriebliche „Bündnisse für Arbeit“ nach dem Urteil des BAG vom 19.3.2003?, BB 2003, 2569; Kast/Stuhlmann, Sind betriebliche Bündnisse für Arbeit noch durchführbar?, BB 2000, 614; Kort, Kündigungserschwerungen gegen Lohnverzicht in „Bündnisse für Arbeit“ – Vergleich von Apfel und Birnen?, in: Festschrift 50 Jahre BAG, 2004, S. 753; Krauss, Noch lange nicht am Ende: Betriebliche Bündnisse für Arbeit, DB 2000, 1962; Künzel/Fink, Arbeitsvertraglicher Sonderkündigungsschutz und Sozialauswahl, NZA 2011, 1385; Lehmann, Betriebliches Bündnis für Arbeit, BB 2010, 2821; Lerch/Weinbrenner, Auswirkungen individualrechtlicher Unkündbarkeitsregelungen auf die Sozialauswahl, NZA 2011, 1388; Lieb, Mehr Flexibilität im Tarifvertragsrecht? „Moderne“ Tendenzen auf dem Prüfstand, NZA 1994, 289; Löwisch, Deliktsschutz gegen abtrünnige Mitglieder?, BB 1999, 2080; Meyer, Tarifvertragliche Öffnung zugunsten betrieblicher Bündnisse für Arbeit, SAE 2011, 216; Moll, Betriebliche Bündnisse, in: Festschrift für Klaus Bepler zum 65. Geburtstag, 2012, S. 425; Müller, Betriebliche Bündnisse für Arbeit, AuA 2005, 150; Niebler/ Schmiedl, Sind Abweichungen vom Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung zulässig?, BB 2001, 1631; Oetker, Abschluß tarifwidriger Betriebsvereinbarungen, SAE 1992, 158; Preis/Ulber, Die Wiederbelebung des Ablösungs- und Ordnungsprinzips?, NZA 2014, 6; Reichold, Abschied von der Tarifeinheit im Betrieb und die Folgen, NZA 2007, 321; Reichold, Die reformierte Betriebsverfassung 2001. Ein Überblick über die neuen Regelungen des Betriebsverfassungs-Reformgesetzes, NZA 2001, 857; Raab, Betriebliche Bündnisse für Arbeit – Königsweg aus der Beschäftigungskrise, ZfA 2004, 371; Reichold, Rechtsprobleme der Einführung einer 32-Stunden-Woche durch Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung, ZfA 1998, 237; Richardi, „Betriebliche Bündnisse für Arbeit“ korporatistische und rechtsgeschäftliche Ordnung des Arbeitslebens, in: Festschrift Küttner, 2006, 453; Richardi, Tarifautonomie und Betriebsautonomie als Formen wesensverschiedener Gruppenautonomie im Arbeitsrecht, DB 2000, 42; Rieble, Die Burda-Entscheidung des BAG, ZTR 1999, 483; Robert, Betriebliche Bündnisse für Arbeit versus Tarifautonomie, NZA 2004, 633; Scheriau, Betriebliche Bündnisse, AiB 2006, 426; Schwarzbach, Betriebliche Bündnisse, 2006; Schwarze, Was wird aus dem gewerkschaftlichen Unterlassungsanspruch?, RdA 2005, 159; Seel, Abweichungen von Tarifverträgen – Kann eine Gewerkschaft „Bündnisse für Arbeit“ verhindern?, öAT 2013, 183; Sieg, Kündigungsfristen und -termine, AuA 1993, 164; Sutschet, Zur Unterlassungsklage der Gewerkschaft gegen betriebliche Bündnisse für Arbeit, ZfA 2007, 207; Thüsing, Der Schutz des Tarifvertrages vor den tarifvertraglich Geschützten, DB 1999, 1552; Trappehl/Lambrich, Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft – das Ende für betriebliche „Bündnisse für Arbeit“?, NJW 1999, 3217; Waltermann, Tarifvertragliche Öffnungsklauseln für betriebliche Bündnisse für Arbeit – zur Rolle der Betriebsparteien, ZfA 2005, 257; Waltermann, „Umfassende Regelungskompetenz“ der Betriebsparteien zur Gestaltung durch Betriebsvereinbarung?, RdA 2007, 257; Wiedemann, Der nicht organisierte Arbeitnehmer im kollektiven Arbeitsrecht, RdA 2007; Winter/Zekau, Außerordentliche Kündigung von Tarifverträgen, ArbuR 1997, 89; Wohlfarth, Stärkung der Koalitionsfreiheit durch das BAG, NZA 1999, 962; Zöllner, Flexibilisierung des Arbeitsrechts, ZfA 1988, 265. Der Autor dankt seiner Kollegin Frau Rechtsanwältin Heinke von Netzer für die maßgebliche Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts.
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Rz. 3 Teil 13
Begriff, Typen und rechtliche Grundlage
A. Begriff, Typen und rechtliche Grundlage betrieblicher Beschäftigungsbündnisse I. Begriff Der Begriff „betriebliches Beschäftigungsbündnis“ (auch „Bündnis für Arbeit“ ge- 1 nannt) ist nicht gesetzlich definiert. „Betriebliches Bündnis“ ist die schlagwortartige Beschreibung für Vereinbarungen auf betrieblicher Ebene, meist zwischen Arbeitgeber, Betriebsrat und Arbeitnehmern, mit denen die bestehenden (tariflichen) Arbeitsbedingungen modifiziert werden. In Betrieben ohne Betriebsrat sind ebenfalls betriebliche Bündnisse möglich. Die nachstehenden Ausführungen beziehen sich aber auf die in der Praxis häufigeren Fälle mit Betriebsratsbeteiligung. Betriebliche Beschäftigungsbündnisse sind durch ein gegenseitiges Geben und Nehmen gekennzeichnet: Die Arbeitnehmer verzichten auf bestimmte Rechte, z.B. stimmen sie einer Verringerung des Arbeitsentgelts oder einer Erhöhung der Wochenarbeitszeit ohne Entgeltausgleich zu. Dafür erhalten sie Gegenleistungen des Arbeitgebers, meist in Form von Beschäftigungssicherungszusagen oder Maßnahmen zur Arbeitsplatzsicherung wie etwa Investitionszusagen oder Standortgarantien. Das Wort „betrieblich“ bringt zum Ausdruck, dass keine unmittelbare Beteiligung der zuständigen Gewerkschaft erfolgt. Gewerkschaften sind allenfalls mittelbar beteiligt, indem sie zum Beispiel Öffnungsklauseln (s. Rz. 22) in TVen vereinbaren, die betriebliche Lösungen ermöglichen, oder tarifrechtlich unzulässige Bündnisse nachträglich genehmigen.
II. Typen betrieblicher Beschäftigungsbündnisse Betriebliche Beschäftigungsbündnisse werden aus unterschiedlichen Motiven ge- 2 schlossen. In der Praxis haben sich insbesondere die nachfolgend beschriebenen Typen betrieblicher Beschäftigungsbündnisse herausgebildet. 1. Krisenbündnis a) Krisenbündnis als Reaktion auf eine eingetretene oder bevorstehende wirtschaftliche Notlage Bündnisse für Arbeit sind überwiegend Reaktionen auf eine bereits eingetretene oder 3 bevorstehende wirtschaftliche Notlage. Zum Schutz der Arbeitsplätze im Inland und ggf. zur Vermeidung der Verlagerung ins Ausland vereinbaren Arbeitgeber mit ihrem Betriebsrat und mit Zustimmung der Mitarbeiter im Rahmen eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses Abweichungen von den bestehenden Arbeitsbedingungen wie z.B. eine höhere Wochenarbeitszeit oder niedrigere Arbeitsentgelte. Als Kompensation erhalten die Arbeitnehmer in der Regel die vertragliche Zusicherung des Arbeitgebers, dass das Unternehmen während der Dauer der Teilnahme des Mitarbeiters am betrieblichen Bündnis auf Kündigungen aus betriebsbedingten Gründen verzichtet. Aber auch andere Arbeitgeberzusagen wie der Erhalt der Belegschaftsstärke, eine Übernahmegarantie für Auszubildende, der Erhalt der Ausbildungskapazität, die Verpflichtung zu Neueinstellungen, Standortgarantien, Investitionen am Standort, der Verzicht auf Auslagerungen, die Garantie von Produktlinien und Gewinnbeteiligungen können Bestandteil der Kompensation sein. Werner
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Teil 13 Rz. 4
Betriebliche Beschftigungsbndnisse
b) Politische Diskussion über Krisenbündnisse 4 Politisch sind Krisenbündnisse umstritten. Viele Unternehmen befürworten Krisenbündnisse als flexibles Gestaltungsmittel zur Sicherung bzw. Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit. Gewerkschaften dagegen stehen Krisenbündnissen häufig kritisch gegenüber. Für sie ist die dargestellte Krisensituation oft nicht objektiv nachvollziehbar. Sie befürchten eine reine Gewinnmaximierung auf Kosten der Arbeitnehmer und eine Aushöhlung der verfassungsrechtlich gewährleisteten Tarifautonomie des Art. 9 Abs. 3 GG durch eine Unterschreitung der Tarifbedingungen. c) Die Fälle Viessmann und Burda 5 In der Öffentlichkeit bekannt wurden Krisenbündnisse insbesondere durch die arbeitsgerichtlichen Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit den betrieblichen Beschäftigungsbündnissen bei den Firmen Viessmann1 und Burda2. aa) Der Fall Viessmann 6 Die tarifgebundene Viessmann Werke GmbH & Co. KG hatte im Jahr 1996 mit dem Betriebsrat eine als „Bündnis für Arbeit“ bezeichnete Regelungsabrede über Kosteneinsparungen abgeschlossen. Hintergrund war die Vermeidung einer drohenden Arbeitsplatzverlagerung nach Tschechien aufgrund der dort niedrigeren Arbeits- und Produktionskosten. Insbesondere wurde eine Anhebung der tariflichen Wochenarbeitszeit um drei Stunden ohne Lohnausgleich für drei Jahre vereinbart, bei gleichzeitigem Kündigungsverzicht und Zusage einer geplanten Investition an einem deutschen Standort. Über 95 % der Belegschaft stimmten dem Bündnis für Arbeit auf Aufforderung des Arbeitgebers und der überwiegenden Betriebsratsmitglieder einzelvertraglich zu. Die zuständige Gewerkschaft, die Industriegewerkschaft Metall, leitete daraufhin u.a. ein Amtsenthebungsverfahren gegen die Betriebsräte ein, die das Bündnis für Arbeit unterstützt hatten. Das ArbG Marburg3 bejahte im Hinblick auf die tarifgebundenen Arbeitnehmer eine Verletzung der durch Art. 9 Abs. 3 GG grundgesetzlich geschützten Tarifautonomie sowie eine Verletzung des § 4 Abs. 1 und 4 TVG durch die zustimmenden Betriebsratsmitglieder, weiterhin gegenüber allen Arbeitnehmern eine Verletzung der den Betriebsratsmitgliedern obliegenden gesetzlichen Fürsorgepflicht. Die Amtsenthebung wurde nur mangels ausreichenden Verschuldens abgelehnt4. Ein weiteres von der IG Metall eingeleitetes Verfahren gegen die Firma Viessmann vor dem ArbG Frankfurt a.M.5 auf Unterlassung der Aufforderung, dem Bündnis für Arbeit zuzustimmen, scheiterte ebenfalls. Hinsichtlich der nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer verneinte das ArbG Frankfurt a.M. bereits einen Verstoß gegen Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG. Hinsichtlich der tarifgebundenen Arbeitnehmer verneinte das ArbG Frankfurt a.M. einen Unterlassungsanspruch mangels Wiederholungsgefahr, da die Arbeitgeberin die zwischenzeitlich
1 ArbG Marburg v. 7.8.1996 – 1 BV 6/96, NZA 1996, 1331; ArbG Frankfurt v. 28.10.1996 – 1 Ca 6331/96, NZA 1996, 1340. 2 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. 3 ArbG Marburg v. 7.8.1996 – 1 BV 6/96, NZA 1996, 1331. 4 ArbG Marburg v. 7.8.1996 – 1 BV 6/96, NZA 1996, 1331. 5 ArbG Frankfurt v. 28.10.1996 – 1 Ca 6331/96, NZA 1996, 1340.
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Begriff, Typen und rechtliche Grundlage
Rz. 8 Teil 13
ausgesprochenen „Rücktritte“ gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer von dem Bündnis für Arbeit unstreitig akzeptiert hatte1. bb) Der Fall Burda Im sog. Burda-Beschluss2 hat das BAG die Rechtsschutzmöglichkeiten der Gewerk- 7 schaften im Falle eines die Tarifbedingungen verschlechternden Bündnisses für Arbeit erweitert und detailliert zu den Voraussetzungen des gewerkschaftlichen Unterlassungsanspruchs analog §§ 1004 Abs. 1, 823 Abs. 1 BGB Stellung genommen. Das BAG hat im Burda-Beschluss die Gestaltungsräume für betriebliche Beschäftigungsbündnisse bei tarifgebundenen und nichttarifgebundenen Arbeitgebern ausführlich beschrieben. Die Arbeitgeber hatten unter Berufung auf die schwierige Wettbewerbssituation eine von dem BAG später als Regelungsabrede qualifizierte Vereinbarung mit dem Betriebsrat abgeschlossen. Die Vereinbarung sah verschiedene für die Arbeitnehmer nachteilige Abweichungen von den einschlägigen FlächenTVen vor, u.a. eine Kürzung tariflicher Zuschläge. Im Gegenzug gewährten die Arbeitgeber eine befristete Beschäftigungsgarantie. Nahezu alle Arbeitnehmer stimmten nach wiederholten Aufforderungen der Arbeitgeber und des Betriebsrats der Vereinbarung zu. Zwischenzeitliche Versuche der Gewerkschaft, in Verhandlungen über FirmenTVe einzutreten, waren erfolglos geblieben. Die zuständige Gewerkschaft leitete daraufhin ein arbeitsgerichtliches Beschlussverfahren gegen die Arbeitgeber ein, gerichtet darauf, die Durchführung der Vereinbarungen zu unterlassen3. Das BAG stellte zunächst fest, dass der Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG nur Betriebsvereinbarungen, nicht dagegen Regelungsabreden verbietet4. Weitergehend kam das BAG in dem Burda-Beschluss u.a. zu dem Ergebnis, dass auch Regelungsabreden unter bestimmten Voraussetzungen einen unzulässigen Eingriff in die grundrechtlich geschützte Tarifautonomie darstellen können. Denn nicht nur tarifnormwidrige Betriebsvereinbarungen, sondern auch vertragliche Einheitsregelungen, die das Ziel verfolgen, normativ geltende Tarifbestimmungen zu verdrängen, seien geeignet, die TV-Parteien in ihrer kollektiven Koalitionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 3 GG zu verletzen5. Auf die Voraussetzungen des Unterlassungsanspruchs analog §§ 1004 Abs. 1, 823 Abs. 1 BGB wird im Weiteren noch näher eingegangen (s. Rz. 70). 2. Innovationsbündnis Weniger verbreitet als Krisenbündnisse sind Bündnisse, die auf eine optimale Anpas- 8 sung der Arbeitsbedingungen an eine besondere Unternehmenssituation bzw. bestimmte Anforderungen des Marktes abzielen, ohne dass sich das Unternehmen in der Krise befindet. Ein Innovationsbündnis richtet die Arbeitsorganisation auf die Anforderungen eines dynamischen Umfeldes aus, in dem schnell ändernde Produkt-, Markt- und Wettbewerbsbedingungen eine hohe Anpassungsflexibilität erfordern. In diesem Fall dient ein betriebliches Beschäftigungsbündnis häufig der Modifizierung von FlächenTVen, da in einem betrieblichen Bündnis flexiblere und stärker an die 1 2 3 4 5
ArbG Frankfurt v. 28.10.1996 – 1 Ca 6331/96, NZA 1996, 1340. BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887.
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Betriebliche Beschftigungsbndnisse
spezielle Situation des Unternehmens angepasste Regelungen möglich sind. So kann durch ein Innovationsbündnis beispielsweise die betriebliche Organisation (Arbeitszeiten, Schichtmodelle, Flexibilität von personellen Maßnahmen) einem bestimmten Auftrag angepasst und damit die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens bei Ausschreibungen erheblich verbessert werden.
III. Rechtliche Grundlage 9 Gemäß § 92a BetrVG steht dem Betriebsrat ein Vorschlags- und Beratungsrecht zur Beschäftigungsförderung und -sicherung zu. Das Gesetz legt den Betriebsparteien eine besondere Verantwortung für den Erhalt von Arbeitsplätzen auf1. § 92a BetrVG konkretisiert die allgemeinen Aufgaben des Betriebsrates aus § 80 Abs. 1 Nr. 8 BetrVG2, der die Sicherung und Förderung der Beschäftigung im Betrieb als Aufgabe des Betriebsrats festlegt. § 92a BetrVG ermöglicht somit dem Betriebsrat, zur Beschäftigungssicherung und -förderung im Betrieb initiativ zu wirken3. Viele Vorschläge des Betriebsrates enden somit in betrieblichen Bündnissen für Arbeit4. Die Norm verleiht dem Betriebsrat jedoch kein Mitbestimmungsrecht, er darf nicht in die Unternehmensführung des Arbeitgebers eingreifen5. 10
Unter einer Beschäftigungssicherung versteht man den Erhalt der bestehenden Arbeitsplätze6. Bei der Beschäftigungsförderung handelt es sich um alle individualrechtlichen oder kollektiven Maßnahmen, die die Beschäftigungssituation im Betrieb stabilisieren und begünstigen bzw. die geeignet sind, die Arbeit im Betrieb für alle Arbeitnehmer attraktiver zu machen7. § 92a BetrVG listet Beispiele zur Sicherung und Förderung der Beschäftigung auf. Diese Aufzählung ist jedoch – wie die Formulierung „insbesondere“ zeigt – nicht abschließend. Aufgezählt werden die flexible Gestaltung der Arbeitszeit, die Förderung von Teilzeit und Altersteilzeit, neue Formen der Arbeitsorganisation, Änderungen der Arbeitsverfahren und Arbeitsabläufe, die Qualifizierung der Arbeitnehmer, Alternativen zur Ausgliederung von Arbeit oder ihre Vergabe an andere Unternehmen sowie Produktions- und Investitionsprogramme. Des Weiteren kommen beispielsweise auch Anregungen zur Einführung von Arbeitsschutz-, Umweltschutz- oder Qualitätsmanagementsystemen, sowie die Rückführung freiwilliger oder widerrufbarer Leistungen (Weihnachtsgeld) in Betracht8. Den Vorschlägen des Betriebsrates sind keine Grenzen gesetzt, solange sie dem Erhalt von Arbeitsplätzen dienen9.
11
Gemäß § 92a Abs. 2 BetrVG hat der Arbeitgeber die Vorschläge mit dem Betriebsrat zu beraten. Können sich Betriebsrat und Arbeitgeber über den – ggf. modifizierten – Vor1 Vgl. AnwK-ArbR/Eylert/Schmidt, § 92a BetrVG Rz. 1; WPK/Preis, § 92a BetrVG Rz. 1; Bauer, NZA 2001, 375 (378). 2 Vgl. Reichold, NZA 2001, 857 (863). 3 Vgl. HWK/Ricken, § 92a BetrVG Rz. 1; Boemke, JuS 2001, 521 (527). 4 Vgl. WPK/Preis, § 92a BetrVG Rz. 2 und 15. 5 Vgl. AnwK-ArbR/Eylert/Schmidt, § 92a BetrVG Rz. 1; Fitting, § 92a BetrVG Rz. 3. 6 Vgl. HWK/Ricken, § 92a BetrVG Rz. 2. 7 Vgl. HWK/Ricken, § 92a BetrVG Rz. 2. 8 Vgl. AnwK-ArbR/Eylert/Schmidt, § 92a BetrVG Rz. 5. 9 Vgl. WPK/Preis, § 92a BetrVG Rz. 3.
1036 Werner
Hufige Ausgangssituationen
Rz. 14
Teil 13
schlag des Betriebsrates einigen, ist im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt, was nun gilt. Teilweise wird die Befugnis zur Vereinbarung bindender Regelungsabreden im gesamten Funktionsbereich des Betriebsrats befürwortet. Nach einer anderen Auffassung beschränkt sich die Regelungsbefugnis auf den Bereich normativer Regelungen des § 88 BetrVG1. Eine gerichtliche Entscheidung hierzu ist soweit ersichtlich noch nicht ergangen.
B. Häufige Ausgangssituationen für betriebliche Beschäftigungsbündnisse I. Das Unternehmen ist „gewerkschaftsfrei“ Wenn ein Unternehmen bisher keine Berührungspunkte mit der zuständigen Gewerk- 12 schaft hatte oder keine Gewerkschaft für das Unternehmen zuständig ist, kommt ein betriebliches Beschäftigungsbündnis in Betracht. Ein betriebliches Beschäftigungsbündnis bietet die Möglichkeit, unter Beteiligung des Betriebsrats für die gesamte Belegschaft Änderungen der bestehenden Arbeitsbedingungen zu vereinbaren. Bei Zustandekommen des betrieblichen Beschäftigungsbündnisses bietet dieses für Arbeitgeber insbesondere den logistischen Vorteil, nicht mit jedem Arbeitnehmer individuell über die Änderung seiner Arbeitsbedingungen verhandeln zu müssen. Darüber hinaus können damit auch etwaige Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats wahrgenommen und „verbraucht“ werden.
II. Die Unternehmensleitung lehnt eine Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft ab Weitere typische Ausgangssituation für ein betriebliches Beschäftigungsbündnis ist, 13 dass ein Unternehmen die Zusammenarbeit mit der zuständigen Gewerkschaft ablehnt und die Gewerkschaft z.B. mangels mitgliedschaftlicher Durchsetzungskraft im betreffenden Betrieb eine Tarifbindung nicht einseitig durchsetzen kann. Dies kann aus politischen Gründen der Fall sein. Denkbar ist aber auch, dass das Unternehmen Verhandlungen mit der Gewerkschaft zwar nicht prinzipiell ablehnt, aber diese als nicht erfolgversprechend bewertet.
III. Gescheiterte Haustarifvertrags-Verhandlungen Betriebliche Beschäftigungsbündnisse entstehen oftmals nach gescheiterten Haus- 14 TV-Verhandlungen. Hier hat der Unternehmer zunächst eine tarifliche Lösung mit der Gewerkschaft gesucht. Wenn die Gewerkschaft aber den vom Unternehmen für erforderlich gehaltenen Weg nicht mitgeht oder aus politischen Gründen nicht mitgehen kann, kommen als Rückfallposition Verhandlungen mit dem Betriebsrat über ein betriebliches Beschäftigungsbündnis in Betracht. Oftmals kann eine Tariflösung z.B. aus gewerkschaftspolitischen Gründen scheitern, weil gewerkschaftsinterne Richtlinien den Gewerkschaftsvertretern vor Ort bestimmte Abweichungen von den FlächenTVen prinzipiell untersagen. Dies gilt insbesondere für Arbeitszeitverlängerungen. 1 Vgl. zu dieser Diskussion ErfK/Kania, § 92a BetrVG Rz. 1.
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Hufige Ausgangssituationen
Rz. 14
Teil 13
schlag des Betriebsrates einigen, ist im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt, was nun gilt. Teilweise wird die Befugnis zur Vereinbarung bindender Regelungsabreden im gesamten Funktionsbereich des Betriebsrats befürwortet. Nach einer anderen Auffassung beschränkt sich die Regelungsbefugnis auf den Bereich normativer Regelungen des § 88 BetrVG1. Eine gerichtliche Entscheidung hierzu ist soweit ersichtlich noch nicht ergangen.
B. Häufige Ausgangssituationen für betriebliche Beschäftigungsbündnisse I. Das Unternehmen ist „gewerkschaftsfrei“ Wenn ein Unternehmen bisher keine Berührungspunkte mit der zuständigen Gewerk- 12 schaft hatte oder keine Gewerkschaft für das Unternehmen zuständig ist, kommt ein betriebliches Beschäftigungsbündnis in Betracht. Ein betriebliches Beschäftigungsbündnis bietet die Möglichkeit, unter Beteiligung des Betriebsrats für die gesamte Belegschaft Änderungen der bestehenden Arbeitsbedingungen zu vereinbaren. Bei Zustandekommen des betrieblichen Beschäftigungsbündnisses bietet dieses für Arbeitgeber insbesondere den logistischen Vorteil, nicht mit jedem Arbeitnehmer individuell über die Änderung seiner Arbeitsbedingungen verhandeln zu müssen. Darüber hinaus können damit auch etwaige Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats wahrgenommen und „verbraucht“ werden.
II. Die Unternehmensleitung lehnt eine Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft ab Weitere typische Ausgangssituation für ein betriebliches Beschäftigungsbündnis ist, 13 dass ein Unternehmen die Zusammenarbeit mit der zuständigen Gewerkschaft ablehnt und die Gewerkschaft z.B. mangels mitgliedschaftlicher Durchsetzungskraft im betreffenden Betrieb eine Tarifbindung nicht einseitig durchsetzen kann. Dies kann aus politischen Gründen der Fall sein. Denkbar ist aber auch, dass das Unternehmen Verhandlungen mit der Gewerkschaft zwar nicht prinzipiell ablehnt, aber diese als nicht erfolgversprechend bewertet.
III. Gescheiterte Haustarifvertrags-Verhandlungen Betriebliche Beschäftigungsbündnisse entstehen oftmals nach gescheiterten Haus- 14 TV-Verhandlungen. Hier hat der Unternehmer zunächst eine tarifliche Lösung mit der Gewerkschaft gesucht. Wenn die Gewerkschaft aber den vom Unternehmen für erforderlich gehaltenen Weg nicht mitgeht oder aus politischen Gründen nicht mitgehen kann, kommen als Rückfallposition Verhandlungen mit dem Betriebsrat über ein betriebliches Beschäftigungsbündnis in Betracht. Oftmals kann eine Tariflösung z.B. aus gewerkschaftspolitischen Gründen scheitern, weil gewerkschaftsinterne Richtlinien den Gewerkschaftsvertretern vor Ort bestimmte Abweichungen von den FlächenTVen prinzipiell untersagen. Dies gilt insbesondere für Arbeitszeitverlängerungen. 1 Vgl. zu dieser Diskussion ErfK/Kania, § 92a BetrVG Rz. 1.
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Teil 13 Rz. 15
Û
Betriebliche Beschftigungsbndnisse
Hinweis für die Beratungspraxis: Betriebspolitisch wird in dem Fall vorangegangener erfolgloser HausTV-Verhandlungen ein betriebliches Beschäftigungsbündnis nur zustande kommen, wenn der Betriebsrat für eine Lösung ohne die Gewerkschaft bereit ist. Oftmals ist die Verbindung zwischen Gewerkschaft und Betriebsrat so eng, dass der Betriebsrat nicht bereit ist, gegen den erklärten Willen der Gewerkschaft mit dem Arbeitgeber ein betriebliches Beschäftigungsbündnis abzuschließen. Dies hängt von der betrieblichen Situation im Einzelfall ab.
IV. Die Betriebsparteien wollen eine betriebliche Lösung 15
Schließlich kommen betriebliche Beschäftigungsbündnisse in der Praxis auch dann zustande, wenn Unternehmen und Betriebsrat übereinstimmend eine innerbetriebliche Lösung befürworten und einer Tariflösung vorziehen. Das ist in der Praxis häufig der Fall, wenn ein gutes Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat besteht, der Betriebsrat eine gute Akzeptanz im Betrieb genießt und die Verantwortung für ein betriebliches Bündnis vor der Belegschaft übernimmt, die Gewerkschaft hingegen im Betrieb nicht oder nur wenig vertreten ist.
C. Rechtliche Voraussetzungen eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses I. Tarifrechtliche Regelungsgrenzen 1. Gestaltung eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses in Abhängigkeit von der Tarifsituation 16
Die rechtliche Wirksamkeit eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses hängt insbesondere von dem Tarifrecht ab. Betriebliche Beschäftigungsbündnisse kommen typischerweise in Berührung mit dem Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG und dem Tarifvorrang aus § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG. Soweit der Abschluss einer Betriebsvereinbarung aufgrund einer Tarifsperre ausscheidet, kommt ggf. der Abschluss einer Regelungsabrede als Gestaltungsmittel in Betracht. Regelungsreden sind schuldrechtliche Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat, die nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht gegen den Tarifvorbehalt verstoßen (s. näher Rz. 25). Aber auch bei der Nutzung von Regelungsabreden als Gestaltungsmittel hat das BAG insbesondere im Burda-Beschluss Beschränkungen formuliert, die zu berücksichtigen sind (s. Rz. 7). In der Praxis ist daher bei der Vorbereitung eines Bündnisses zunächst zu prüfen, welche Regelungen jeweils im Einklang mit dem Tarifrecht durch Betriebsvereinbarung bzw. durch Regelungsabrede geregelt werden können und ob die Regelungen mit oder ohne Zustimmung der Mitarbeiter wirksam werden. 2. Tarifvorrang, § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG
17
Im Anwendungsbereich des § 87 BetrVG verbietet der Tarifvorrang gemäß § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG den Abschluss von Betriebsvereinbarungen, soweit eine tarifliche Regelung besteht. Der Tarifvorrang des § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG geht 1038 Werner
Teil 13 Rz. 15
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Betriebliche Beschftigungsbndnisse
Hinweis für die Beratungspraxis: Betriebspolitisch wird in dem Fall vorangegangener erfolgloser HausTV-Verhandlungen ein betriebliches Beschäftigungsbündnis nur zustande kommen, wenn der Betriebsrat für eine Lösung ohne die Gewerkschaft bereit ist. Oftmals ist die Verbindung zwischen Gewerkschaft und Betriebsrat so eng, dass der Betriebsrat nicht bereit ist, gegen den erklärten Willen der Gewerkschaft mit dem Arbeitgeber ein betriebliches Beschäftigungsbündnis abzuschließen. Dies hängt von der betrieblichen Situation im Einzelfall ab.
IV. Die Betriebsparteien wollen eine betriebliche Lösung 15
Schließlich kommen betriebliche Beschäftigungsbündnisse in der Praxis auch dann zustande, wenn Unternehmen und Betriebsrat übereinstimmend eine innerbetriebliche Lösung befürworten und einer Tariflösung vorziehen. Das ist in der Praxis häufig der Fall, wenn ein gutes Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat besteht, der Betriebsrat eine gute Akzeptanz im Betrieb genießt und die Verantwortung für ein betriebliches Bündnis vor der Belegschaft übernimmt, die Gewerkschaft hingegen im Betrieb nicht oder nur wenig vertreten ist.
C. Rechtliche Voraussetzungen eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses I. Tarifrechtliche Regelungsgrenzen 1. Gestaltung eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses in Abhängigkeit von der Tarifsituation 16
Die rechtliche Wirksamkeit eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses hängt insbesondere von dem Tarifrecht ab. Betriebliche Beschäftigungsbündnisse kommen typischerweise in Berührung mit dem Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG und dem Tarifvorrang aus § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG. Soweit der Abschluss einer Betriebsvereinbarung aufgrund einer Tarifsperre ausscheidet, kommt ggf. der Abschluss einer Regelungsabrede als Gestaltungsmittel in Betracht. Regelungsreden sind schuldrechtliche Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat, die nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht gegen den Tarifvorbehalt verstoßen (s. näher Rz. 25). Aber auch bei der Nutzung von Regelungsabreden als Gestaltungsmittel hat das BAG insbesondere im Burda-Beschluss Beschränkungen formuliert, die zu berücksichtigen sind (s. Rz. 7). In der Praxis ist daher bei der Vorbereitung eines Bündnisses zunächst zu prüfen, welche Regelungen jeweils im Einklang mit dem Tarifrecht durch Betriebsvereinbarung bzw. durch Regelungsabrede geregelt werden können und ob die Regelungen mit oder ohne Zustimmung der Mitarbeiter wirksam werden. 2. Tarifvorrang, § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG
17
Im Anwendungsbereich des § 87 BetrVG verbietet der Tarifvorrang gemäß § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG den Abschluss von Betriebsvereinbarungen, soweit eine tarifliche Regelung besteht. Der Tarifvorrang des § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG geht 1038 Werner
Rechtliche Voraussetzungen
Rz. 19
Teil 13
insoweit dem § 77 Abs. 3 BetrVG als speziellere Norm vor und genießt Anwendungsvorrang. Danach können keine Betriebsvereinbarungen über Themen geschlossen werden, die durch TV zwingend geregelt sind. Im Rahmen des sog. Tarifvorrangs genügt die einseitige Tarifbindung des Arbeitgebers, um die Sperrwirkung auszulösen, wenn der TV zum Zeitpunkt des Inkrafttretens voll wirksam ist1. Bei Nachwirkung des TVs gilt die Sperre nicht2. 3. Tarifvorbehalt, § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG Außerhalb des Anwendungsbereichs von § 87 BetrVG gilt der Tarifvorbehalt des § 77 18 Abs. 3 Satz 1 BetrVG. Gemäß § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch TV geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein, wenn nicht ausnahmsweise ein TV den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt. Eine gegen den Tarifvorbehalt verstoßende Betriebsvereinbarung ist unwirksam3. Arbeitsbedingungen sind durch TV geregelt, wenn über sie ein TV geschlossen wurde und der Betrieb in dessen räumlichen, betrieblichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereich fällt4. Der Tarifvorbehalt dient dem Schutz der verfassungsrechtlich gewährleisteten Tarifautonomie gemäß Art. 9 Abs. 3 GG. Die Normsetzungsbefugnis der Tarifparteien soll nicht durch ergänzende oder abweichende Regelungen der Betriebspartner ausgehöhlt werden5. § 77 Abs. 3 BetrVG hat damit insbesondere die Aufgabe zu verhindern, dass die Betriebsräte zu „beitragsfreien Ersatzgewerkschaften“ werden6. Unter Arbeitsentgelt ist jede vermögenswerte Arbeitgeberleistung zu verstehen7. Ebenfalls ein weites Verständnis wird dem Begriff der sonstigen Arbeitsbedingungen beigelegt. Erfasst werden nicht nur materielle Arbeitsbedingungen, die den Umfang von Leistung und Gegenleistung betreffen, sondern auch alle „formellen“ Bestimmungen, die den Inhalt von Arbeitsverhältnissen i.S.d. § 1 Abs. 1 TVG regeln8.
II. Ermittlung des tarifrechtlich zulässigen Gestaltungsspielraums Bei der Ermittlung des tarifrechtlich zulässigen Gestaltungsspielraums für ein Bünd- 19 nis für Arbeit ist zu unterscheiden zwischen tarifgebundenen Arbeitgebern, nicht tarifgebundenen Arbeitgebern sowie Arbeitgebern, die ehemals tarifgebunden waren, ihre Tarifbindung aber zwischenzeitlich beendet haben. Relevant ist jeweils, ob und in welchem Umfang Betriebsvereinbarungen und/oder Regelungsabreden zur Gestaltung des Bündnisses zulässig sind. 1 2 3 4 5
6 7 8
BAG v. 27.11.2002 – 4 AZR 660/01, AP Nr. 34 zu § 87 BetrVG 1972 Tarifvorrang. BAG v. 24.2.1987 – 1 ABR 18/85, NZA 1987, 639. BAG v. 29.10.2002 – 1 AZR 573/01, NZA 2003, 393. BAG v. 9.12.1997 – 1 AZR 319/97, NZA 1998, 661; BAG v. 21.1.2003 – 1 ABR 9/02, NZA 2003, 1097. BAG v. 24.2.1987 – 1 ABR 18/85, NZA 1987, 639; BAG v. 29.10.2002 – 1 AZR 573/01, NZA 2003, 393; BAG v. 21.1.2003 – 1 ABR 9/02, NZA 2003, 1097; BAG v. 29.4.2004 – 1 ABR 30/02, NZA 2004, 670. Hanau, NZA 1993, 817 (821). ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 44. BAG v. 9.4.1991 – 1 AZR 406/90, NZA 1991, 734; ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 44; Fitting, § 77 BetrVG Rz. 71; DKKW/Berg, § 77 BetrVG Rz. 129; GK-BetrVG/Kreutz, § 77 Rz. 97.
Werner
1039
Teil 13 Rz. 20
Betriebliche Beschftigungsbndnisse
1. Gestaltungspielraum bei tarifgebundenen Arbeitgebern a) Betriebsvereinbarungen aa) Grundsatz: Sperre für Betriebsvereinbarungen im Umfang des § 77 Abs. 3 Satz BetrVG, § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG 20
Eine Tarifbindung des Arbeitgebers kann in Form einer Mitgliedschaft im zuständigen Arbeitgeberverband, als Partei eines HausTVs mit der zuständigen Gewerkschaft oder kraft Allgemeinverbindlicherklärung gemäß § 5 TVG vorliegen. Aufgrund der oben erläuterten tariflichen Regelungssperren ist tarifgebundenen Arbeitgebern die Möglichkeit einer Gestaltung von betrieblichen Beschäftigungsbündnissen durch Betriebsvereinbarung weitgehend versperrt. Daraus folgt, dass Betriebsvereinbarungen bei tarifgebundenen Arbeitgebern bei mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten durch den Tarifvorrang des § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG gesperrt sind; die übrigen durch die räumlich, betrieblich, fachlich und persönlich einschlägigen TVe abschließend geregelten Themen sind aufgrund des Tarifvorbehalts des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG grundsätzlich ebenfalls nicht durch Betriebsvereinbarung regelbar, wenn nicht eine der nachfolgend unter Rz. 21 ff. beschriebenen Ausnahmen eingreift. bb) Ausnahmen von der tariflichen Sperrwirkung bei zwingender Tarifgeltung
21
In den nachfolgenden Fällen kann ein tarifgebundener Arbeitgeber trotz zwingender Tarifgeltung ausnahmsweise Betriebsvereinbarungen über Tarifthemen schließen. (1) Tarifliche Öffnungsklauseln
22
Nach § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG gilt der Tarifvorbehalt nicht, sofern der TV den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt. Im Umfang einer solchen Öffnungsklausel kommt die Betriebsvereinbarung somit als Gestaltungsmittel für betriebliche Bündnisse in Betracht. Der Begriff der Ergänzung ist weit auszulegen, sodass auch vom TV abweichende Betriebsvereinbarungen und auch untertarifliche Regelungen zugelassen werden können1. Tarifwidrige Betriebsvereinbarungen können auch nachträglich durch rückwirkende tarifliche Öffnungsklauseln genehmigt werden2. Die rückwirkende Kürzung tariflicher Ansprüche ist allerdings begrenzt durch die Grundsätze des Vertrauensschutzes. Ferner zu berücksichtigen ist, dass Öffnungsklauseln wirksam nur von den Parteien vereinbart werden können, die den TV abgeschlossen haben3. Daher kann ein HausTV zwischen dem Arbeitgeber und der zuständigen Gewerkschaft keine wirksame Öffnungsklausel für Abweichungen von einem FlächenTV enthalten. Allerdings kann der HausTV eine eigene Öffnungsklausel enthalten. Diese kommt zur Anwendung, wenn der HausTV den FlächenTV im Wege des Spezialitätsgrundsatzes verdrängt4.
1 ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 60 m.w.N. 2 BAG v. 20.4.1999 – 1 AZR 631/98, NZA 1999, 1059; unter Verweis auf Grenzen durch Vertrauensschutz: Moll, FS Bepler, S. 425 (432). 3 BAG v. 20.4.1999 – 1 AZR 631/98, NZA 1999, 1059. 4 ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 60.
1040 Werner
Rechtliche Voraussetzungen
Rz. 27
Teil 13
(2) Fehlende tarifliche Regelung Soweit das betriebliche Beschäftigungsbündnis einen Regelungsgegenstand des § 87 23 Abs. 1 BetrVG betrifft, bleibt die Betriebsvereinbarung als Regelungsmittel zulässig, sofern keine zwingende und abschließende tarifliche Regelung vorliegt. Der TV muss die Materie so vollständig und eindeutig regeln, dass eine weitere Ergänzung zur praktischen Umsetzung der Regelung nicht notwendig ist. Bei einer Negativregelung sowie bei einer bewussten Nichtregelung der Materie bleibt das Mitbestimmungsrecht bestehen1. Ob eine abschließende Tarifregelung vorliegt, ist durch Auslegung zu ermitteln2. Die Nichtregelung im einschlägigen TV hat für betriebliche Beschäftigungsbündnisse kaum Bedeutung, denn sie sind überwiegend auf die Modifizierung der tariflich geregelten Hauptarbeitsbedingungen, Vergütung und Arbeitszeit, gerichtet. (3) Kein Günstigkeitsprinzip im Verhältnis Betriebsvereinbarung/TV Das Günstigkeitsprinzip findet im Rahmen des Tarifvorbehalts keine Anwendung. 24 Auch Betriebsvereinbarungen, die günstiger als der einschlägige TV sind, sind daher bei Verstoß gegen § 77 Abs. 3 BetrVG unwirksam. Das Günstigkeitsprinzip spielt aber eine Rolle bei der Umsetzung von betrieblichen Beschäftigungsbündnissen im Wege von Regelungsabreden (s. Rz. 28). b) Regelungsabreden aa) Nichtgeltung des Tarifvorbehalts des § 77 Abs. 3 BetrVG Für Regelungsabreden gilt der Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG nach der 25 Rechtsprechung des BAG nicht3. Das erklärt, dass Regelungsabreden häufig als Gestaltungsmittel für betriebliche Beschäftigungsbündnisse genutzt werden. Allerdings sind hier die Vorgaben des Burda-Beschlusses des BAG4 zu beachten. Denn 26 auch Regelungsabreden können bei Tarifbindung des Arbeitgebers in die Tarifautonomie eingreifen, wenn sie einheitlich wirken und an die Stelle der Tarifnormen treten sollen. Einen solch unzulässigen Eingriff in die Tarifautonomie nimmt das BAG bei einer Regelungsabrede mit dem Betriebsrat an, die einzelne Vorschriften der geltenden TVe ersetzen soll, und die sich unabhängig von der Tarifbindung auf die gesamte Belegschaft erstrecken sollen. bb) Beschränkung des Bündnisses auf Nicht-Gewerkschaftsmitglieder Zur Vermeidung eines Konfliktes mit dem Tarifrecht kann das betriebliche Bündnis 27 auf Nicht-Gewerkschaftsmitglieder beschränkt werden. Schwierigkeiten kann die Unkenntnis des Arbeitgebers darüber bereiten, wie hoch der Organisationsgrad seiner Belegschaft tatsächlich ist. Denn dem Arbeitgeber ist es verwehrt, die Arbeitnehmer nach ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit zu fragen. Dennoch haben Arbeitgeber aus unterschiedlichen Quellen oftmals Vorstellungen darüber, welcher Prozentsatz der 1 2 3 4
BAG v. 23.10.1985 – 4 AZR 119/84, DB 1986, 595. ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 56. BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887.
Werner
1041
Teil 13 Rz. 28
Betriebliche Beschftigungsbndnisse
Belegschaft gewerkschaftlich organisiert ist. Bei einem hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad scheidet ein Bündnis nur für Nicht-Gewerkschaftsmitglieder in der Regel aus, da das Beschäftigungsbündnis dann praktisch ins Leere läuft. Bei einem niedrigen Organisationsgrad kann sich dies als Gestaltungsvariante anbieten. Nach dem Burda-Beschluss des BAG1 muss die Vereinbarung in diesem Fall erkennen lassen, dass sie nicht für Gewerkschaftsmitglieder gilt. Dies kann z.B. dadurch umgesetzt werden, dass sich die Aufforderungen zum Beitritt ausdrücklich nur auf die nicht gewerkschaftlich organisierten Mitarbeiter bezieht. Kommt nicht hinreichend zum Ausdruck, dass sich das betriebliche Bündnis nur an die Nichtorganisierten richtet, kann die Gewerkschaft Unterlassung verlangen. cc) Günstigkeitsprinzip, § 4 Abs. 3 TVG 28
Bei beiderseitiger Tarifgebundenheit sind tarifliche Rechtspositionen für die Arbeitnehmer gemäß § 4 Abs. 1, 4 TVG zwingend und unverzichtbar. Die im Rahmen eines betrieblichen Bündnisses vereinbarten Abweichungen von den einschlägigen TVen in den Einzelverträgen können bei gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern aber nach dem Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG ausnahmsweise zulässig sein. Es ist ein individueller Günstigkeitsvergleich vorzunehmen2. Im Zusammenhang mit betrieblichen Bündnissen wurde mehrfach der Versuch unternommen zu argumentieren, dass bei dem Günstigkeitsvergleich die Gegenleistungen der Arbeitgeberseite mit einbezogen werden müssten. Die Erhaltung des Arbeitsplatzes um den Preis einer gekürzten Arbeitsentgelts sei günstiger als die Beibehaltung der tariflichen Bedingungen3. Diesem weiten Verständnis einer Günstigkeit hat das BAG im Einklang mit einer starken Meinung in der Literatur4 eine Absage erteilt. Daher hat das Günstigkeitsprinzip bei betrieblichen Beschäftigungsbündnissen tarifgebundener Arbeitgeber nur geringe praktische Bedeutung. Nach dem BAG ist ein sogenannter Sachgruppenvergleich durchzuführen. Es dürfen nur Regelungen verglichen werden, deren Gegenstände miteinander in einem sachlichen Zusammenhang stehen5. Ein solcher Sachzusammenhang fehlt nach dem BAG insbesondere bei Arbeitszeit und Arbeitsentgelt einerseits und Beschäftigungsgarantien andererseits. Ein Vergleich sei methodisch unmöglich, es sei ein Vergleich von „Äpfeln mit Birnen“6. Daran ändert auch die Bereitschaft der überwiegenden tarifgebundenen Arbeitnehmer zum Verzicht auf tarifliche Rechte nach dem BAG nichts.
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Kurz-Zusammenfassung: Was ist bei Tarifbindung des Arbeitgebers durch Betriebsvereinbarung bzw. Regelungsabrede regelbar? Betriebsvereinbarungen: nur soweit keine abschließende, zwingende Tarifregelung besteht und bei tariflicher Öffnungsklausel.
1 2 3 4
BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 35. Buchner, DB-Beil. 12/1996, 10 ff. Ehmann/Schmidt, NZA 1995, 193 (202); Hanau, RdA 1998, 65 (70); Reichold, ZfA 1998, 237 (252); Walker, FS Wiese, 1998, S. 603 (608); Wiedemann, Anm. zu BAG Urteil v. 18.12.1997 – 2 AR 709/96, NZA 1998, 304. 5 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887; BAG v. 24.9.2008 – 6 AZR 657/07, NZA-RR 2009, 221. 6 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887.
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Rechtliche Voraussetzungen
Rz. 31
Teil 13
Regelungsabreden: grundsätzlich zulässig, da kein Verstoß gegen Tarifvorbehalt. Aber nach dem BAG bei Beschäftigungsbündnis ausdrückliche Beschränkung auf Nicht-Gewerkschaftsmitglieder erforderlich, da sonst ein unzulässiger Eingriff in die Tarifautonomie vorliegt. 2. Gestaltungsspielraum bei nichttarifgebundenen Arbeitgebern a) Betriebsvereinbarungen aa) Grundsatz: Tarifüblichkeit Gemäß § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG greift der Tarifvorbehalt nicht nur bei Tarifbindung 29 des Arbeitgebers. Auch bei fehlender Tarifbindung entfaltet § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG eine Sperrwirkung. Bei nichttarifgebundenen Arbeitgebern schützt die Tarifautonomie durch das Verbot von Betriebsvereinbarungen über „üblicherweise“ in TVen geregelte Arbeitsbedingungen1. Die Tarifüblichkeit kann in der Praxis in vielen Fällen anhand der Kontrollfrage ermittelt werden, ob eine tarifliche Regelung bestünde, wäre der Arbeitgeber Mitglied des zuständigen Arbeitgeberverbandes. bb) Ausnahme: Vorrangtheorie Eine wesentliche Ausnahme von dem Prinzip des Verbots tarifüblicher Regelungen 30 bildet die sogenannte Vorrangtheorie des BAG. Nach der Vorrangtheorie können im Nachwirkungszeitraum bzw. bei fehlender Tarifbindung von den üblichen tariflichen Regelungen abweichende Betriebsvereinbarungen geschlossen werden, soweit ein Regelungsgegenstand des § 87 BetrVG betroffen ist. Insofern besteht keine Tarifsperre2. Bei nichttarifgebundenen Arbeitgebern ist somit zu ermitteln, inwieweit das geplante betriebliche Beschäftigungsbündnis Gegenstände der zwingenden Mitbestimmung nach § 87 BetrVG betrifft und somit nach der Vorrangtheorie keine Regelungssperre besteht. b) Regelungsabreden Bei fehlender Tarifbindung ist der Abschluss von Regelungsabreden grundsätzlich 31 nicht tarifrechtlich gesperrt. Regelungsabreden verstoßen auch bei Tarifüblichkeit nicht gegen den Tarifvorbehalt. Den oben erwähnten Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft bei betrieblichen Einheitsregelungen, die sich gegen TVe richten und darauf abzielen, tarifliche Regelungen im Betrieb insgesamt zu ersetzen (s. Rz. 72), hat das BAG nur bei beiderseitiger Tarifbindung bejaht3. Bei fehlender Tarifbindung besteht daher kein Unterlassungsanspruch.
1 Zu Einzelfällen ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 48. 2 BAG GS v. 3.12.1991 – GS 2/90, DB 1992, 1579. Nach der von der Gegenauffassung befürworteten Zwei-Schranken-Theorie sind der Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG und der Tarifvorrang des § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG dagegen nebeneinander anzuwenden, sodass noch weniger Spielraum für den Abschluss von Betriebsvereinbarungen verbleibt, vgl. GK-BetrVG/ Kreutz, § 77 Rz. 151 ff.; Richardi/Richardi, § 77 BetrVG Rz. 247 ff. 3 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887; zustimmend Däubler/Zwanziger, § 4 TVG Rz. 987.
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1043
Teil 13 Rz. 32
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Betriebliche Beschftigungsbndnisse
Kurz-Zusammenfassung: Was ist bei fehlender Tarifbindung des Arbeitgebers durch Betriebsvereinbarung bzw. Regelungsabrede regelbar? Betriebsvereinbarungen: nach der Vorrangtheorie zulässig im Geltungsbereich der zwingenden Mitbestimmung nach § 87 BetrVG und bei fehlender Tarifüblichkeit. Regelungsabreden: zulässig, da kein Verstoß gegen Tarifvorbehalt.
3. Gestaltungsspielraum nach Beendigung der Tarifbindung des Arbeitgebers 32
Eine besondere Tarifsituation besteht nach einem Verbandsaustritt des Arbeitgebers bzw. nach einem Wechsel zur OT-Mitgliedschaft: a) Nachbindung, § 3 Abs. 3 TVG
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Der Verbandsaustritt des Arbeitgebers bzw. der Wechsel zur OT-Mitgliedschaft haben auf den Tarifstatus zunächst keine Auswirkungen. Mit dem Austritt bzw. dem Wechsel zur OT-Mitgliedschaft beginnt die Nachbindung gemäß § 3 Abs. 3 TVG. Das heißt, die Tarifnormen wirken weiterhin unmittelbar und zwingend, bis die TVe enden. Diese Regelung soll die TV-Treue sichern und verhindern, dass sich die Arbeitgeberseite tariflichen Arbeitsbedingungen kurzfristig durch eine „Flucht aus dem Arbeitgeberverband“ entziehen kann1. b) Ende des Tarifvertrages
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Die Nachbindung geht erst in die Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG über, wenn die TVe „enden“. Die Nachbindung endet nicht nur, wenn die TVe insgesamt durch Kündigung oder Aufhebungsvertrag beendet werden. Nach ständiger BAG-Rechtsprechung endet der TV insgesamt auch dann, wenn nur einzelnen Normen geändert werden2. Mit dem Eintritt in die Nachwirkungsphase verlieren die Tarifnormen ihre zwingende Wirkung und können im Rahmen eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses abgeändert werden. c) Konsequenzen für die Anwaltspraxis
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Die Frage, ob FlächenTVe nach einem Verbandsaustritt geendet haben oder sich noch in der Nachbindung befinden, ist somit wesentlich für die Ermittlung des Gestaltungsspielraums für betriebliche Beschäftigungsbündnisse. Denn nur TVe, die geendet haben und damit ihre zwingende Wirkung verloren haben, sind im Grundsatz einer Änderung durch ein Beschäftigungsbündnis zugänglich. Da die FlächenTVe einer Branche in der Regel aus einer Vielzahl von TVen bestehen (z.B. MantelTV, Lohnund GehaltsrahmenTV, Lohn- und GehaltsTV, TV über Sonderzahlungen, TV zur Beschäftigungssicherung etc.), ist die Nachbindung bzw. Nachwirkung für jeden TV gesondert zu prüfen. Dabei steht der Anwalt oft vor der praktischen Herausforderung,
1 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 22. 2 BAG v. 18.3.1992 – 4 AZR 339/91, NZA 1992, 700; BAG v. 7.11.2001 – 4 AZR 703/00, NZA 2002, 748; BAG v. 27.11.2002 – 4 AZR 660/01, AP Nr. 34 zu § 87 BetrVG 1972 Tarifvorrang.
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Rechtliche Voraussetzungen
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Teil 13
die benötigten Informationen über den Tarifstatus zu erlangen, insbesondere herauszufinden, ob nach dem Verbandsaustritt bzw. Wechsel zur OT-Mitgliedschaft Änderungen an den FlächenTVen vorgenommen wurden. Im Falle eines Verbandsaustritts haben auch die Mandanten oftmals nicht mehr den erforderlichen Kontakt zum Arbeitgeberverband, um diese Informationen zu erhalten. Die Gewerkschaften unterstützen die Arbeitgeber zumeist aus nachvollziehbaren Gründen nicht bei diesem Prozess und sind nicht bereit, diese Informationen gegenüber Nicht-Mitgliedern preiszugeben. d) „Ewige“ Bindung an Flächentarifverträge? Wie oben dargelegt (Rz. 33), verlieren TVe nach Beendigung der Tarifbindung erst 36 dann ihre zwingende Wirkung, wenn sie enden. Lohn- und GehaltsTVe sind jeweils auf bestimmte Laufzeiten von höchstens zwei oder drei Jahren begrenzt. MantelTVe dagegen werden häufig unbefristet abgeschlossen und werden über viele Jahre hinweg nicht inhaltlich geändert. Es wurde daher verschiedentlich gefordert, die Nachbindungsphase zeitlich zu begrenzen, um eine „ewige“ Tarifbindung des Arbeitgebers zu verhindern1. Das BAG ist dieser Auffassung bisher aber nicht gefolgt. Daher ist für die anwaltliche Beratung nach wie vor davon auszugehen, dass auch MantelTVe nur durch betriebliche Beschäftigungsbündnisse abgeändert werden können, wenn sie durch inhaltliche Änderungen oder Kündigung in die Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG eingetreten sind. e) Bedeutung von Erklärungsfristen Erfolgt der Verbandsaustritt bzw. der Wechsel zur OT-Mitgliedschaft im unmittelbaren 37 zeitlichen Zusammenhang mit dem Abschluss neuer FlächenTVe mit dem Ziel, eine Tarifbindung an den unmittelbar bevorstehenden Tarifabschluss zu vermeiden, kann in der Praxis der genaue Zeitpunkt der Beendigung eines TVs entscheidend sein. Erfolgt der Wechsel zur OT-Mitgliedschaft in diesem Fall zeitlich erst nach Inkrafttreten des neuen TVs, so wird die neue Tarifrunde für den Arbeitgeber wirksam. Tritt der Arbeitgeber noch vor Inkrafttreten der neuen Tarifrunde aus dem Arbeitgeberverband aus bzw. wechselt er vor dem Tarifabschluss zur OT-Mitgliedschaft, so wird der neue Tarifabschluss nicht mehr für ihn wirksam. Vielmehr beendet der neue Tarifabschluss die Nachbindungsphase gemäß § 3 Abs. 3 TVG und führt zur Nachwirkung insbesondere des alten LohnTVs mit der Folge, dass die LohnTVe durch ein betriebliches Beschäftigungsbündnis abgeändert werden können. Problematisch ist der Zeitpunkt des Inkrafttretens eines TVs, wenn die TV-Parteien eine sog. Erklärungsfrist vereinbaren. Es entspricht gängiger Praxis bei Tarifverhandlungen, dass die TV-Parteien unter einem bestimmten Datum ein Verhandlungsergebnis erzielen, zugleich aber eine sogenannte Erklärungsfrist von x Wochen vereinbaren. Hintergrund ist, dass das Verhandlungsergebnis aufgrund der Satzung des Arbeitgeberverbandes bzw. der Gewerkschaft durch die zuständigen Gremien ausdrücklich angenommen werden muss.
1 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 92 ff. m.w.N.; Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 232; Monopolkommission, 10. Hauptgutachten 1992/1993, BT-Drucks. 12/8323, 379 Nr. 947.
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Fraglich und soweit ersichtlich bislang nicht gerichtlich geklärt ist die Rechtsnatur von Erklärungsfristen. Insbesondere wenn vereinbart wird, dass Schweigen als Zustimmung gilt, stellt sich die Frage, ob der maßgebliche Zeitpunkt für das Inkrafttreten des TVs der Ablauf der Erklärungsfrist ist oder der TV nach Ablauf der Erklärungsfrist rückwirkend mit dem Tag der Unterzeichnung des Verhandlungsergebnisses in Kraft tritt.
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Noch komplexer stellt sich die Rechtslage dar, wenn das Verhandlungsergebnis nicht von den TV-Parteien schriftlich unterzeichnet wurde, sondern die Unterzeichnung der TVe erst nach Ablauf der Erklärungsfrist erfolgt. Da für TVe gemäß § 1 Abs. 2 TVG das Schriftformerfordernis gilt, ist davon auszugehen, dass das rechtsverbindliche Inkrafttreten des TVs frühestens bis zum Zeitpunkt der beiderseitigen Unterzeichnung des jeweiligen TVs vorliegen kann. Aus Anwaltssicht stellt sich in der Praxis dabei aber häufig ein Beweisproblem. Da das Unternehmen insbesondere nach einem Verbandsaustritt keinen Zugriff auf die Originaldokumente hat, wird im Falle einer streitigen Auseinandersetzung der Nachweis des genauen Unterschriftszeitpunkts oftmals schwierig sein und bedeutet für den Arbeitgeber ein Prozessrisiko.
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Kurz-Zusammenfassung: Was ist nach Beendigung der Tarifbindung des Arbeitgebers durch Betriebsvereinbarung bzw. Regelungsabrede regelbar? Soweit TVe in der Nachbindung sind: Betriebsvereinbarungen: nur das, was im TV nicht geregelt ist, und bei tariflicher Öffnungsklausel. Regelungsabreden: grundsätzlich zulässig, da kein Verstoß gegen Tarifvorbehalt. Aber nach dem BAG bei Beschäftigungsbündnis ausdrückliche Beschränkung auf Nicht-Gewerkschaftsmitglieder erforderlich, da sonst unzulässiger Eingriff in die Tarifautonomie. Soweit TVe in der Nachwirkung sind: Betriebsvereinbarungen: nach der Vorrangtheorie zulässig im Geltungsbereich der zwingenden Mitbestimmung nach § 87 BetrVG und bei fehlender Tarifüblichkeit. Regelungsabreden: zulässig, da kein Verstoß gegen Tarifvorbehalt.
III. Wechsel zur OT-Mitgliedschaft als Alternative zum Verbandsaustritt 1. Begriff der OT-Mitgliedschaft 40
Als Alternative zu einem Verbandsaustritt kommt ggf. auch ein Wechsel zur sogenannten „Mitgliedschaft ohne Tarifbindung“ (OT-Mitgliedschaft) in Betracht. Die Satzungen vieler Arbeitgeberverbände sehen inzwischen die Möglichkeit vor, trotz fehlender Tarifbindung eine Mitgliedschaft besonderer Art im Arbeitgeberverband aufrecht zu erhalten. Ein Wechsel zur OT-Mitgliedschaft kann sich aus Arbeitgebersicht als Alternative zum Verbandsaustritt anbieten. Vorteil einer OT-Mitgliedschaft gegenüber einem Verbandsaustritt ist zum einen, dass der Wechsel zur OT-Mitgliedschaft nach der jeweiligen Satzung oftmals mit deutlich kürzeren Fristen und sogar innerhalb von wenigen Tagen möglich ist. Eine Kündigung der Mitgliedschaft da1046 Werner
Rechtliche Voraussetzungen
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Teil 13
gegen ist oftmals an eine mehrmonatige Frist zum Jahresende gebunden, wobei sich aber die Frage der Wirksamkeit einer solch langen Frist stellt. Zu lange Kündigungsfristen in der Satzung eines Arbeitgeberverbandes oder einer Gewerkschaft können wegen eines Verstoßes gegen die negative Koalitionsfreiheit ggf. unwirksam sein1. Unternehmen sehen einen Wechsel zur OT-Mitgliedschaft oftmals als vorzugswürdig gegenüber einem Verbandsaustritt an, weil sie auf diese Weise den Kontakt zum Verband halten können, ohne gleichzeitig aber die Tarifbindung fortsetzen zu müssen.
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Hinweis für die Beratungspraxis: Wird ein Wechsel zur OT-Mitgliedschaft angestrebt, lohnt sich aus Beratersicht oftmals eine unmittelbare Kontaktaufnahme mit dem jeweiligen Arbeitgeberverband. Bei direkter Kontaktaufnahme erklären sich die Verbände ggf. bereit, eine satzungsmäßige Frist zu verkürzen bzw. ein Wechsel kann im Verhandlungswege kurzfristig vereinbart werden. Denn auch die Verbände haben grundsätzlich ein Interesse daran, ein Verbandsmitglied nicht gänzlich zu verlieren und ziehen daher ein kooperatives Verhalten einem vollständigen Verlust des Mitglieds vor.
2. Wirksamkeitsvoraussetzungen einer OT-Mitgliedschaft Auch die OT-Mitgliedschaft als Organisationsform ist durch Art. 9 Abs. 3 GG ge- 41 schützt2. Wenn in einem Arbeitgeberverband tarifwillige und -unwillige Mitglieder zusammengefasst werden, fordert das BAG zum Schutz der Funktionsfähigkeit des TV-Systems, dass die beiden Gruppen satzungsmäßig klar getrennt und ihr Status auch für die Arbeitnehmerseite transparent ist3. Um den erforderlichen Gleichlauf von Verantwortlichkeit und Betroffenheit bezüglich der tariflichen Vereinbarungen sicherzustellen, könne die Satzung für OT-Mitglieder nicht lediglich die Rechtsfolge des § 3 Abs. 1 TVG abbedingen. Sie muss nach dem BAG darüber hinaus für Tarifangelegenheiten eine klare und eindeutige Trennung der Befugnisse von Mitgliedern mit und ohne Tarifbindung vorsehen4. Eine unmittelbare Einflussnahme von OTMitgliedern auf tarifpolitische Entscheidungen ist nicht zulässig. OT-Mitglieder dürfen daher nicht in Tarifkommissionen entsandt werden, den Verband im Außenverhältnis nicht tarifpolitisch vertreten und nicht in Aufsichtsorganen mitwirken, die die Streikfonds verwalten. Zudem sind sie von Abstimmungen auszuschließen, in denen die tarifpolitischen Ziele festgelegt oder Ergebnisse von Tarifverhandlungen angenommen werden. Zulässig ist es, dass den OT-Mitgliedern die allgemeinen Mitwirkungsrechte eines „gewöhnlichen“ Vereinsmitglieds zustehen, die keinen originären Bezug zur Tarifpolitik des Verbands haben. Alle genannten Anforderungen sind in der notwendigen Klarheit zu regeln. Die Beteiligung bei der Erörterung tarifpolitischer Fragen mit beratender Stimme sieht das BAG dagegen als unbedenklich an. Denn dem Verband sei es auch nicht verwehrt, sich durch an die tarifpolitischen Entscheidungen nicht gebundene außenstehende Dritte beraten zu lassen.
1 Vgl. ErfK/Dieterich, Art. 9 GG Rz. 38 mit Rechtsprechungsnachweisen. 2 BAG v. 18.7.2006 – 1 ABR 36/05, NZA 2006, 1225. 3 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 111/08, NZA 2010, 105; bestätigt durch BVerfG v. 1.12.2010 – 1 BvR 2593/09, NZA 2011, 60; BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 179/08, NZA 2010, 102. 4 BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 111/08, NZA 2010, 105; BAG v. 21.1.2015 – 4 AZR 793/13, NZA 2015, 1521.
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Die Begründung einer OT-Mitgliedschaft in einem Arbeitgeberverband setzt zudem voraus, dass es für diese Mitgliedschaftsform zu dem Zeitpunkt, in dem ein bisheriges Vollmitglied eine OT-Mitgliedschaft begründen will, eine wirksame satzungsmäßige Grundlage gibt. Das erfordert, dass eine dahin gehende Satzungsänderung bereits in das Vereinsregister eingetragen ist. Eine Rückwirkung auf den Tag der Beschlussfassung findet nicht statt1.
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Hinweis für die Beratungspraxis: Ein kurzfristiger „Blitzaustritt“ aus dem Arbeitgeberverband bzw. Wechsel in die OT-Mitgliedschaft während laufender Tarifverhandlungen ist nach einer umstrittenen BAG-Rechtsprechung unter bestimmten Voraussetzungen unzulässig, wenn hierüber die zuständige Gewerkschaft nicht rechtzeitig in Kenntnis gesetzt wird2. Grundlage der Verhandlungen seien regelmäßig Vorstellungen über die Mitgliederzusammensetzung der Gegenseite, insbesondere seitens der Gewerkschaft über die des Arbeitgeberverbandes. Danach entscheide sich, für welche Betriebe und damit für welche dort beschäftigten organisierten Arbeitnehmer die auszuhandelnden TVe tarifrechtlich gelten werden. Auf diese betroffenen Betriebe und deren wirtschaftliche Verhältnisse seien die Tarifverhandlungen ausgerichtet. Diese gemeinsame Grundlage der Verhandlungen könne gestört sein, wenn ohne Kenntnis der Gegenseite eine Mitgliedschaft kurzfristig beendet wird. Ob im konkreten Fall eine Mitteilung des Verbandsaustritts erforderlich ist, hängt nach dem BAG von den Umständen des Einzelfalles ab.
IV. Zustimmungserfordernis der Mitarbeiter zum betrieblichen Bündnis 43
Ob die Mitarbeiter einem betrieblichen Bündnis zustimmen müssen, damit dieses für die Arbeitsverhältnisse verbindlich wird, hängt von der Rechtsnatur der mit dem Betriebsrat geschlossenen Vereinbarungen ab. 1. Betriebsvereinbarungen
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Betriebsvereinbarungen wirken gemäß § 77 Abs. 4 Satz 1 BGB unmittelbar und zwingend. Die Mitarbeiter müssen der Betriebsvereinbarung nicht zustimmen. Die Regelungen werden allein aufgrund der Vereinbarung mit dem Betriebsrat rechtsverbindlich für die einzelnen Arbeitsverhältnisse. Aus anwaltlicher Sicht ist aber zu beachten, dass den Mitarbeitern möglicherweise einzelvertraglich günstigere Rechtspositionen zustehen, die einer Betriebsvereinbarung zur Beschäftigungssicherung aufgrund des Günstigkeitsprinzips entgegenstehen. Das setzt voraus, dass die Regelung im Arbeitsvertrag nicht lediglich deklaratorische Bedeutung hat. Es ist im Wege der Auslegung zu ermitteln, ob die Arbeitsvertragsparteien ihre vertragliche Absprache „betriebsvereinbarungsoffen“ dahin gestaltet haben, dass sie einer späteren betrieblichen Regelung den Vorrang einräumen3. Entspricht die Angabe von Arbeitszeit, Arbeitsort und Lohnart im Arbeitsvertrag der bei Einstellung im Betrieb gültigen Regelung, dann hat die Erwähnung im Arbeitsvertrag nach dem BAG im Regelfall keine
1 BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 294/08, NZA-RR 2010, 305. 2 BAG v. 20.2.2008 – 4 AZR 64/07, NZA 2008, 946. 3 Näher ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 79 ff.
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konstitutive Bedeutung1. Gleiches gilt für die Angabe der Lohnart im Arbeitsvertrag2. Erst recht verneint das BAG individuelle Zusagen, wenn der Arbeitsvertrag eine allgemeine Verweisung auf die jeweilige tarifliche Regelung enthält. Hier kann der Arbeitnehmer regelmäßig nicht davon ausgehen, dass der Bezeichnung einer einzelnen Arbeitsbedingung oder Vergütungsform überhaupt eine über die Verweisung auf den TV hinausgehende eigenständige Bedeutung zukommt3. Gemäß neuerer BAG-Rechtsprechung sind die Anforderungen für die Annahme eines 44a betriebsvereinbarungsoffenen Arbeitsvertrages zudem deutlich abgesenkt worden4. Nach Auffassung des Ersten Senats des BAG sei schon dann von einer konkludent vereinbarten Betriebsvereinbarungsoffenheit auszugehen, wenn der Vertragsgegenstand in Allgemeinen Geschäftsbedingungen enthalten sei und kollektiven Bezug habe. Sofern der Arbeitgeber Allgemeine Geschäftsbedingungen verwende, mache er für den Arbeitnehmer erkennbar deutlich, dass im Betrieb einheitliche Vertragsbedingungen gelten sollen5. Da Allgemeine Geschäftsbedingungen – genau wie auch Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung – auf eine Vereinheitlichung der Regelungsgegenstände gerichtet seien, könne ein verständiger Arbeitnehmer nicht daran zweifeln, dass die Regelungen auch hier einer Änderung durch Betriebsvereinbarung zugänglich seien6. Die Entscheidung des BAG scheint auf die generelle Annahme hinzudeuten, dass Arbeitsbedingungen als betriebsvereinbarungsoffen anzusehen sind, sofern sie in einem vorformulierten Arbeitsvertrag geregelt sind und einen kollektiven Bezug aufweisen7. Nicht abschließend klar wird aus der Entscheidung des BAG, was unter dem Begriff des kollektiven Bezugs zu verstehen ist8. In der Praxis muss wohl mit Hinblick auf das Transparenzgebot auch unter Zugrundelegung dieser Rechtsprechung im Rahmen der Auslegung stets die Frage gestellt werden, ob ein verständiger Arbeitnehmer von einer späteren Ablösung der Regelungen durch eine Betriebsvereinbarung ausgehen konnte. Dieser wird zumindest dann mit einer möglichen Ablösung durch Betriebsvereinbarung rechnen müssen, wenn es sich um Vertragsklauseln handelt, welche einen Bezug zu Gegenständen der erzwingbaren Mitbestimmung aufweisen9. 2. Regelungsabreden Bei Regelungsabreden bedarf es zur Ausführung grundsätzlich Maßnahmen auf ar- 45 beitsvertraglicher Ebene in Form einer Zustimmung der Mitarbeiter oder Anweisungen im Rahmen des arbeitgeberseitigen Direktionsrechts. Denn Regelungsabreden entfalten anders als Betriebsvereinbarungen keine unmittelbare und zwingende Wir1 BAG v. 7.12.2000 – 6 AZR 444/99, NZA 2001, 780. 2 BAG v. 26.8.2008 – 1 AZR 353/07, DB 2009, 461. 3 BAG v. 21.1.2004 – 6 AZR 583/02, NZA 2005, 61; BAG v. 28.6.2001 – 6 AZR 114/00, NZA 2002, 331; BAG v. 11.8.1993 – 10 AZR 558/92, NZA 1994, 139; BAG v. 1.4.1993 – 4 AZR 73/93, NZA 1993, 1004; BAG v. 4.4.2001 – 4 AZR 194/00, NZA 2002, 55; BAG v. 6.9.2001 – 8 AZR 26/01, NZA-RR 2002, 660. 4 ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 82. 5 Sehr kritisch zu dieser Annahme Preis/Ulber, NZA 2014, 6 (8). 6 BAG v. 5.3.2013 – 1 AZR 417/12, NZA 2013, 916; siehe hierzu auch BAG v. 10.3.2015 – 3 AZR 56/14, NZA-RR 2015, 371. 7 ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 83–86; Hromadka, NZA 2013, 1061; äußerst kritisch hierzu Preis/Ulber, NZA 2014, 6. 8 Vgl. Preis/Ulber, NZA 2014, 6 (8 f.). 9 ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 83–86.
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kung1. Teilweise wird zwar befürwortet, dass die Inhalte von begünstigenden Regelungsabreden als Vertrag zugunsten Dritter nach § 328 BGB für die Mitarbeiter unmittelbar verpflichtende Rechtswirkung entfalten2. Da betriebliche Beschäftigungsbündnisse meist aber auch Nachteile für die Mitarbeiter enthalten, ist in der Praxis bei Regelungsabreden von einem Zustimmungserfordernis auszugehen.
V. Kurz-Checkliste 46
Die vorstehend dargestellten wesentlichen rechtlichen Prüfungsschritte für die erfolgreiche Umsetzung eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses lassen sich mit folgender Kurz-Checkliste zusammenfassen:
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Kurz-Checkliste zum betrieblichen Beschäftigungsbündnis: – Besteht eine Tarifbindung des Unternehmens (Risiko: § 77 Abs. 3 BetrVG, Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft)? – Bei Verbandsaustritt: Welche TVe befinden sich in Nachbindung oder Nachwirkung? – Welche Regelungen können mit dem Betriebsrat getroffen werden und für welche Regelungen müssen die Mitarbeiter zustimmen?
D. Die Regelungsabrede als Gestaltungsmittel für betriebliche Beschäftigungsbündnisse I. Begriff 47
Aufgrund der oben beschriebenen tarifrechtlichen Sperrwirkung für Betriebsvereinbarungen gemäß §§ 77 Abs. 3 Satz 1, 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG wird häufig die Regelungsabrede als Gestaltungsmittel für betriebliche Beschäftigungsbündnisse genutzt. Es existiert keine gesetzliche Definition der Regelungsabrede. Als rechtliche Grundlage für Regelungsabreden wird § 77 Abs. 1 BetrVG herangezogen, der Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat vorsieht, die keine Betriebsvereinbarung sind. Regelungsabreden ist begriffsnotwendig gemeinsam, dass sie keine normative, d.h. unmittelbare und zwingende Wirkung auf die Arbeitsverhältnisse haben (dann wären sie Betriebsvereinbarungen), sondern primär nur zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat wirken, allenfalls mit gewissen Reflexwirkungen auf die Arbeitsverhältnisse3. Regelungsabreden erlangen Wirksamkeit für das Arbeitsverhältnis grundsätzlich erst durch einzelvertragliche Umsetzung. Das heißt in der Praxis, dass Inhalte einer Regelungsabrede erst mit Zustimmung des Mitarbeiters für das Arbeitsverhältnis wirksam werden. Die Regelungsabrede unterliegt anders als Betriebsvereinbarungen keinem Schriftformerfordernis4. 1 BAG v. 21.1.2003 – 1 ABR 9/02, NZA 2003, 1097; BAG v. 6.5.2003 – 1 AZR 340/02, NZA 2003, 1422. 2 ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 132. 3 ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 127. 4 ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 134.
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kung1. Teilweise wird zwar befürwortet, dass die Inhalte von begünstigenden Regelungsabreden als Vertrag zugunsten Dritter nach § 328 BGB für die Mitarbeiter unmittelbar verpflichtende Rechtswirkung entfalten2. Da betriebliche Beschäftigungsbündnisse meist aber auch Nachteile für die Mitarbeiter enthalten, ist in der Praxis bei Regelungsabreden von einem Zustimmungserfordernis auszugehen.
V. Kurz-Checkliste 46
Die vorstehend dargestellten wesentlichen rechtlichen Prüfungsschritte für die erfolgreiche Umsetzung eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses lassen sich mit folgender Kurz-Checkliste zusammenfassen:
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Kurz-Checkliste zum betrieblichen Beschäftigungsbündnis: – Besteht eine Tarifbindung des Unternehmens (Risiko: § 77 Abs. 3 BetrVG, Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft)? – Bei Verbandsaustritt: Welche TVe befinden sich in Nachbindung oder Nachwirkung? – Welche Regelungen können mit dem Betriebsrat getroffen werden und für welche Regelungen müssen die Mitarbeiter zustimmen?
D. Die Regelungsabrede als Gestaltungsmittel für betriebliche Beschäftigungsbündnisse I. Begriff 47
Aufgrund der oben beschriebenen tarifrechtlichen Sperrwirkung für Betriebsvereinbarungen gemäß §§ 77 Abs. 3 Satz 1, 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG wird häufig die Regelungsabrede als Gestaltungsmittel für betriebliche Beschäftigungsbündnisse genutzt. Es existiert keine gesetzliche Definition der Regelungsabrede. Als rechtliche Grundlage für Regelungsabreden wird § 77 Abs. 1 BetrVG herangezogen, der Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat vorsieht, die keine Betriebsvereinbarung sind. Regelungsabreden ist begriffsnotwendig gemeinsam, dass sie keine normative, d.h. unmittelbare und zwingende Wirkung auf die Arbeitsverhältnisse haben (dann wären sie Betriebsvereinbarungen), sondern primär nur zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat wirken, allenfalls mit gewissen Reflexwirkungen auf die Arbeitsverhältnisse3. Regelungsabreden erlangen Wirksamkeit für das Arbeitsverhältnis grundsätzlich erst durch einzelvertragliche Umsetzung. Das heißt in der Praxis, dass Inhalte einer Regelungsabrede erst mit Zustimmung des Mitarbeiters für das Arbeitsverhältnis wirksam werden. Die Regelungsabrede unterliegt anders als Betriebsvereinbarungen keinem Schriftformerfordernis4. 1 BAG v. 21.1.2003 – 1 ABR 9/02, NZA 2003, 1097; BAG v. 6.5.2003 – 1 AZR 340/02, NZA 2003, 1422. 2 ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 132. 3 ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 127. 4 ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 134.
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II. Kein Tarifvorbehalt für Regelungsabreden Der wesentliche Unterschied zwischen Betriebsvereinbarungen und Regelungsabre- 48 den ist, dass nach der Rechtsprechung des BAG die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG nicht für Regelungsabreden gilt. Regelungsabreden werden, egal welchen Inhalt sie haben, nicht von der Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG erfasst1. Dies begründet das BAG zunächst mit dem Wortlaut von § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG, der nur Betriebsvereinbarungen erwähnt. Zum anderen soll die Vorschrift die durch TV geschaffene normative Ordnung vor einer Aushöhlung durch konkurrierende gesetzesgleiche Regelung schützen. Regelungsabreden entfalten jedoch nur obligatorische Wirkung zwischen den Betriebsparteien und können mangels normativer Wirkung die Arbeitsverhältnisse nicht unmittelbar gestalten; sie wirken deshalb nicht als Konkurrenz zum TV2. Regelungsabreden sind daher meist das Gestaltungsmittel für betriebliche Beschäftigungsbündnisse, um einen Konflikt mit dem Tarifrecht zu vermeiden. Denkbar ist auch, dass ein Beschäftigungsbündnis sowohl Bestandteile enthält, die rechtlich durch Betriebsvereinbarung im Einklang mit dem Tarifrecht geregelt werden, während andere Bestandteile des Beschäftigungsbündnisses in einer Regelungsabrede vereinbart werden, der die Mitarbeiter einzelvertraglich zustimmen. Dann ist es eine Frage der Regelungstechnik, ob zwei getrennte Vereinbarungen geschlossen werden, oder ob der gesamte Inhalt des Beschäftigungsbündnisses in einer Vereinbarung niedergelegt wird und durch entsprechende Hervorhebung eindeutig im Text unterschieden wird, bei welchen Punkten es sich um eine Betriebsvereinbarung und bei welchen Punkten es sich um eine zustimmungspflichtige Regelungsabrede handelt.
III. Zustimmungserfordernis der Mitarbeiter Da Regelungsabreden grundsätzlich erst durch einzelvertragliche Vereinbarung zum 49 Inhalt des Arbeitsverhältnisses werden, schließt der Arbeitgeber zur Umsetzung eines betrieblichen Bündnissen wie oben dargestellt zumeist eine Regelungsabrede mit dem Betriebsrat, deren Geltung die Mitarbeiter sodann einzelvertraglich zustimmen. Die optische und inhaltliche Gestaltung der Zustimmungserklärung spielt für das Gelingen eines betrieblichen Bündnisses eine wesentliche Rolle. Die Zustimmungserklärung sollte leicht verständlich und übersichtlich sein. Seitenlange Vertragswerke schrecken die Mitarbeiter ab und verringern die Zustimmungsbereitschaft. Formulierungsbeispiel: „Zustimmungserklrung Die Geschftsfhrung hat mit dem Betriebsrat unter dem … eine Regelungsabrede zur Beschftigungssicherung (betriebliches Bndnis) geschlossen. Mit meiner Unterschrift unter dieser Vereinbarung stimme ich zu, dass die Bestimmungen der Regelungsabrede Gegenstand meines Arbeitsvertrages werden. Begrndet der Arbeit1 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. 2 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887; BAG v. 21.1.2003 – 1 ABR 9/02, NZA 2003, 1097; Fitting, § 77 BetrVG Rz. 102; a.A.: DKKW/Berg, § 77 BetrVG Rz. 158; Richardi/Richardi, § 77 BetrVG Rz. 230, 292 f.
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geber eine Tarifbindung, treten die Tarifvertrge automatisch an die Stelle der Regelungsabrede. Ich stimme somit insbesondere zu, dass mit Wirkung ab dem … folgende Arbeitsbedingungen gelten: (Auflistung der genderten Arbeitsbedingungen)“
IV. AGB-Kontrolle der Regelungsabrede? 50
Fraglich ist, ob Regelungsabreden, die im Rahmen betrieblicher Beschäftigungsbündnisse abgeschlossen werden, der AGB-Kontrolle unterliegen. 1. Bereichsausnahme des § 310 Abs. 4 BGB
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Zum 1.1.2002 ist das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz mit den §§ 305 ff. in das BGB integriert worden. § 310 Abs. 4 BGB hat das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen aber nicht im gesamten Arbeitsrecht zur Anwendung gebracht. Gemäß der Bereichsausnahme des § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB finden die §§ 305 ff. BGB auf TVe, Betriebsvereinbarungen und Dienstvereinbarungen keine Anwendung. Somit findet keine Inhaltskontrolle im Sinne einer Angemessenheitskontrolle gemäß §§ 307 ff. BGB statt. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass in diesen „normsetzenden“ Bereich nicht durch eine AGB-Kontrolle eingegriffen werden darf1. Darüber hinaus regelt § 310 Abs. 4 Satz 3 BGB ausdrücklich den Fall der Einbeziehung kollektiver Regelungen im Einzelarbeitsvertrag. Insoweit gilt ein differenzierter, aber ebenfalls eingeschränkter Kontrollmaßstab, insbesondere in Abhängigkeit davon, ob es sich um eine Globalverweisung, eine Einzelverweisung oder eine Teilverweisung handelt2. 2. Analoge Anwendung der Bereichsausnahme des § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB auf Regelungsabreden?
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Fraglich ist, ob die Bereichsausnahme des § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB bzw. die speziellen Regelungen für die einzelvertragliche Einbeziehung von kollektiven Regelungswerken auf Regelungsabreden analog anzuwenden ist. Soweit ersichtlich ist diese Frage bisher höchstrichterlich nicht geklärt. In der Literatur wird diese Frage diskutiert und unterschiedlich beurteilt. a) Keine analoge Anwendung des § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB
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Zum Teil wird eine analoge Anwendung des § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB auf Regelungsabreden abgelehnt. Regelungsabreden seien einer vollen Inhaltskontrolle gemäß §§ 307 ff. BGB zu unterziehen3. Die Regelungsabrede habe einen niedrigeren Rang im Verhältnis zu einer Betriebsvereinbarung. Sie wirke anders als eine Betriebsvereinbarung nicht unmittelbar und zwingend gemäß § 77 Abs. 4 BetrVG und sei daher mit 1 ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 9, unter Verweis auf BT-Drucks. 14/6857, S. 54. 2 Eingehend ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 12 ff. 3 DBD/Dorndorf/Deinert, § 310 BGB Rz. 19.
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Die Regelungsabrede als Gestaltungsmittel
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Teil 13
der Betriebsvereinbarung nicht vergleichbar. Dies zeige sich auch an dem fehlenden Schriftformerfordernis für Regelungsabreden im Unterschied zu Betriebsvereinbarungen. b) Analoge Anwendung des § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB Lobinger spricht sich dagegen für die analoge Anwendung der Bereichsausnahme für 54 Regelungsabreden aus1. Entscheidend sei nicht, ob eine Regelung normativ oder schuldrechtlich Verbindlichkeit erlangt. Maßgeblich sei vielmehr, wer den Inhalt vereinbart habe. Das BAG rechtfertige die Bereichsausnahme für TVe und Betriebsvereinbarungen maßgeblich damit, dass diese von gleichberechtigten Partnern ausgehandelt würde. Wegen der Gleichgewichtigkeit der Partner sei davon auszugehen, dass bei einer Gesamtbetrachtung der tariflichen Regelungen eine ausgewogene, auch die Arbeitnehmerinteressen berücksichtigende Regelung getroffen werde. Damit korrespondiert eine gegenüber den Arbeitsvertragsparteien weitere Vertragsgestaltungsfreiheit2. Da Regelungsabreden ebenso wie Betriebsvereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat ausgehandelt würden, müsse diese erhöhte Richtigkeitsgewähr und Annahme der Ausgewogenheit auch für Regelungsabreden gelten. c) Heranziehung der BAG-Rechtsprechung zu kirchlich-diakonischen Arbeitsvertragsregelungen Zur Beantwortung der Frage einer AGB-Kontrolle von Regelungsabreden ist die 55 BAG-Rechtsprechung zur Inhaltskontrolle kirchlich-diakonischer Arbeitsvertragsregelungen aufschlussreich. Auch auf dem Dritten Weg zustande gekommene Arbeitsvertragsregelungen sind in § 310 Abs. 4 BGB nicht erwähnt. Nach aktueller BAG-Rechtsprechung unterliegen kirchlich-diakonische Arbeitsvertragsregelungen ebenso wie Tarifregelungen einer eingeschränkten gerichtlichen Inhaltskontrolle, sofern sie gemäß den einschlägigen Organisations- und Verfahrensvorschriften zustande gekommen sind, von einer paritätisch mit weisungsunabhängigen Mitgliedern besetzten Arbeitsrechtlichen Kommission beschlossen wurden und damit nicht der Arbeitgeberseite zugeordnet werden können3. Sie seien dann nur daraufhin zu untersuchen, ob sie gegen die Verfassung, gegen anderes höherrangiges zwingendes Recht oder die guten Sitten verstießen. Zu diesem Ergebnis kommt das BAG nicht über eine analoge Anwendung der Bereichsausnahmeregelung, sondern aufgrund der nach § 310 Abs. 4 Satz 2 BGB zu berücksichtigenden Besonderheiten im Arbeitsrecht. Als maßgeblichen Grund für die Vergleichbarkeit mit TVen nennt das BAG den Umstand, dass die Arbeitsvertragsregelungen auf dem Dritten Weg entstanden sind und von einer paritätisch mit weisungsunabhängigen Mitgliedern besetzten Arbeitsrechtlichen Kommission beschlossen werden. Durch dieses Verfahren werde der Gefahr einer unangemessenen Benachteiligung der Arbeitnehmer ausreichend Rechnung getragen. Damit sei gewährleistet, dass die Arbeitgeberseite nicht einseitig ihre Interessen durchsetzen kann4. Hinsichtlich der Vergütung werde die Gefahr zudem dadurch begrenzt, dass die Arbeitgeberseite kirchenrechtlich auf das Gebot der Lohngerechtig1 2 3 4
Lobinger, FS Reuter, 2010, S. 663 (674 ff.). ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 8. BAG v. 22.7.2010 – 6 AZR 170/08, BB 2011, 186. BAG v. 17.11.2005 – 6 AZR 160/05, NZA 2006, 872.
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keit verpflichtet ist1. Zudem sei die Einflussmöglichkeit des einzelnen kirchlich-diakonischen Anstellungsträgers ähnlich begrenzt wie die eines Mitgliedsunternehmens eines Arbeitgeberverbandes beim Abschluss von TVen, sodass die für die Annahme einer einseitigen Leistungsbestimmung erforderliche Durchsetzungsfähigkeit nicht bestehe und damit auch nicht die Gefahr einer unangemessenen Benachteiligung der Arbeitnehmer2. Gemessen an diesen Ausführungen bestehen Bedenken, dass im Streitfall das BAG eine analoge Anwendung des eingeschränkten gerichtlichen Kontrollmaßstabes analog auf Regelungsabreden bejahen würde. Die beschriebene Unabhängigkeit einer Arbeitsrechtlichen Kommission dürfte bei Betriebsräten nicht in gleichem Maß gegeben sein. Betriebsräte sind Arbeitnehmer des Betriebs, dessen Existenz bei der Verhandlung betrieblicher Beschäftigungsbündnisse oftmals gefährdet ist. Sie stehen daher in einem stärkeren Abhängigkeitsverhältnis als Mitglieder einer Arbeitsrechtlichen Kommission. d) Konsequenzen für die Anwaltspraxis 56
Da Regelungsabreden nicht ausdrücklich in der Bereichsausnahme des § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB erwähnt sind, muss mangels höchstrichterlicher Rechtsprechung zu dieser Frage in der Beratungspraxis einkalkuliert werden, dass die Bereichsausnahme keine Anwendung findet. Maßstab für die anwaltliche Beratung bleibt somit, dass die Regelungsabrede im Rahmen eines betrieblichen Bündnisses im Streitfall einer AGBKontrolle gemäß §§ 307 ff. BGB unterliegt.
V. Zulässigkeit arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln auf ein betriebliches Beschäftigungsbündnis 1. Inhaltskontrolle arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln 57
Wie oben erläutert (s. Rz. 47), erlangen die Bestimmungen der Regelungsabrede grundsätzlich erst durch einzelvertragliche Vereinbarung Wirksamkeit für das Arbeitsverhältnis. Dynamische Bezugnahmeklauseln auf TVe, auf kirchlich-diakonische Arbeitsvertragsregelungen sowie auf einseitig vom Arbeitgeber formulierte allgemeine Arbeitsbedingungen unterliegen der AGB-Kontrolle gemäß §§ 305 ff. BGB3. Der gleiche Prüfungsmaßstab ist für Bezugnahmeklauseln auf Regelungsabreden anzulegen.
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Bei der Angemessenheitskontrolle ist nach dem BAG nicht auf die durch den Arbeitgeber tatsächlich erfolgten Änderungen abzustellen, sondern auf die Möglichkeiten, die ihm eine Klausel einräumt4. §§ 305 ff. BGB verbiete bereits das Stellen inhaltlich unangemessener Allgemeiner Geschäftsbedingungen, nicht erst den unangemessenen Gebrauch im Einzelfall. Unangemessene Klauseln sind auch dann unwirksam, wenn sie ein Risiko in zu beanstandender Weise regeln, das sich im Streitfall nicht realisiert hat5. Bei der anwaltlichen Beratung ist daher bei der Formulierung der Bezugnahmeklauseln insbesondere das Verbot überraschender Klauseln gemäß § 305c Abs. 1 BGB 1 2 3 4 5
BAG v. 22.7.2010 – 6 AZR 170/08, BB 2011, 186. BAG v. 22.7.2010 – 6 AZR 170/08, BB 2011, 186. ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rz. 80a. BAG v. 11.2.2009 – 10 AZR 222/08, NZA 2009, 428. BAG v. 22.7.2010 – 6 AZR 170/08, BB 2011, 186.
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Die Regelungsabrede als Gestaltungsmittel
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zu beachten, weiterhin das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB sowie, ob die Klausel einer Angemessenheitskontrolle nach §§ 308 Nr. 4, 307 BGB standhält. 2. Zulässigkeit einer statischen Bezugnahmeklausel Eine statische Verweisung, d.h. eine Einbeziehung der Regelungsabrede in der Fassung, 59 wie sie mit dem Betriebsrat im Zeitpunkt der Zustimmung vereinbart wurde, dürfte daher an AGB-Maßstäben gemessen wirksam sein. Dies gilt unter der Voraussetzung, dass die Formulierung der Klausel insbesondere dem Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB genügt und nicht überraschend i.S.d. § 305c Abs. 1 BGB für die Mitarbeiter ist. Unter dem Gesichtspunkt der Angemessenheitskontrolle nach §§ 308 Nr. 4, 307 BGB dürfte eine statische Bezugnahme auf eine Regelungsabrede zulässig sein, auch wenn eine ausdrückliche Billigung durch das BAG bisher fehlt. Bei nichttarifgebundenen Arbeitgebern kann es zusätzlich sinnvoll sein, in der Zustimmungserklärung auch eine Regelung aufzunehmen, was im Falle einer späteren Tarifbindung des Arbeitgebers gelten soll. Dies vermeidet spätere Unsicherheiten. 3. Zulässigkeit einer dynamischen Bezugnahmeklausel Unternehmen äußern gegenüber ihrem anwaltlichen Berater teilweise den Wunsch, 60 die einzelvertragliche Zustimmung der Mitarbeiter zu dem betrieblichen Bündnis so zu gestalten, dass etwaige künftige Änderungen der Regelungsabrede automatisch von der Zustimmung des Mitarbeiters erfasst werden. Die Bezugnahmeklausel auf das betriebliche Regelungswerk soll somit als dynamische Verweisungsklausel ausgestaltet werden. Fraglich ist die rechtliche Zulässigkeit solcher dynamischer Bezugnahmeklauseln (auch Jeweiligkeitsklausel genannt), insbesondere unter AGB-Gesichtspunkten. Denn der Mitarbeiter erklärt sich mit Regelungen pauschal einverstanden, deren Inhalt er zum Zeitpunkt der Zustimmung noch nicht kennt. Soweit ersichtlich, hat das BAG sich zu dynamischen Bezugnahmeklauseln auf Regelungsabreden bisher nicht geäußert. Es ist daher auf die Urteile des BAG zu dynamischen Bezugnahmeklauseln auf andere kollektive Regelungswerke sowie auf einseitig vom Arbeitgeber aufgestellte Regelungen zurückzugreifen. a) Dynamische Bezugnahmeklausel auf Tarifverträge Dynamische arbeitsvertragliche Verweisungen auf TVe in der jeweils gültigen Fas- 61 sung hat die höchstrichterliche Rechtsprechung unter bestimmten Voraussetzungen für AGB-konform erklärt1. Eine dynamische Verweisung auf das jeweils gültige Tarifrecht ist nach dem BAG weder überraschend noch intransparent. Dabei sei als gesetzliche Wertung zu berücksichtigen, dass Bezugnahmen auf TVe im tarifdispositiven Gesetzesrecht als allgemeines zulässiges Instrument zur Regelung der Arbeitsbedingungen vorausgesetzt werden. Dies werde unter anderem aus § 622 Abs. 4 Satz 2 BGB, § 13 Abs. 1 Satz 2 BUrlG, § 7 Abs. 3 ArbZG, § 4 Abs. 4 Satz 2 EFZG, § 14 Abs. 2 Satz 4 TzBfG sowie § 9 Nr. 2 AÜG deutlich. Die dynamische Ausgestaltung, die die Dynamik des Arbeitsverhältnisses abbildet, führe nicht zur Intransparenz, weil die im je-
1 BAG v. 24.9.2008 – 6 AZR 76/07, NZA 2009, 154; BAG v. 19.5.2009 – 9 AZR 145/08, NZA 2010, 176.
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weiligen Anwendungszeitpunkt geltenden Regelungen bestimmbar seien1. TVe seien dazu bestimmt, einen tatsächlichen Machtausgleich zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu schaffen. Sie böten daher eine materielle Richtigkeitsgewähr. Im Normalfall werden ihre Regelungen den Interessen beider Seiten gerecht und vermitteln keiner Seite ein unzumutbares Übergewicht. Die Angemessenheit einer dynamischen Bezugnahmeklausel wird nach dem BAG jedenfalls dann, wenn auf die fachlich einschlägigen TVe verwiesen wird, für die inhaltsgleiche Übernahme tariflicher Bestimmungen in den Arbeitsvertrag durch die Bezugnahmeklausel vermutet2. b) Dynamische Bezugnahmeklausel auf eine einseitig vom Arbeitgeber aufgestellte Arbeitsordnung 62
Dagegen hat der 10. Senat des BAG eine dynamische Bezugnahmeklausel auf einseitig vom Arbeitgeber vorgegebene Regelungen für als i.S.v. §§ 308 Nr. 4, 307 BGB unangemessen und damit für insgesamt unwirksam befunden3. Die automatische Änderung von vertraglichen Leistungspflichten aufgrund der Änderung eines externen Regelungswerks laufe dem Grundsatz „pacta sunt servanda“ zuwider. Vom Arbeitgeber vorformulierte, auf allgemeine Arbeitsbedingungen verweisende Jeweiligkeitsklauseln unterliegen daher nach dem BAG den strengen Anforderungen der Änderungsvorbehalte. Daher müsse für die Änderung ein triftiger Grund vorliegen und dieser müsse in der Änderungsklausel bereits beschrieben sein. Das Widerrufsrecht müsse wegen der unsicheren Entwicklung der Verhältnisse als Instrument der Anpassung notwendig sein. Im fraglichen Fall waren nahezu alle Bedingungen des Arbeitsverhältnisses von einer möglichen Änderung betroffen, und die hierfür genannten Gründe erkannte das BAG nicht als ausreichend an. Nach den Ausführungen des BAG dürfte es in der Praxis auch schwer sein, Gründe zu formulieren, die eine weitgehende einseitige Abänderung der Arbeitsbedingungen gestatten. Dynamische Bezugnahmeklauseln auf einseitig vom Arbeitgeber vorgegebene Regelungen dürften daher im Regelfall unzulässig sein. c) Dynamische Bezugnahmeklausel auf kirchlich-diakonische Arbeitsvertragsregelungen
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Dynamische Bezugnahmen auf kirchlich-diakonische Arbeitsvertragsregelungen hat der 6. Senat des BAG für zulässig befunden4. Sie hielten einer Vertragskontrolle nach §§ 305 ff. BGB stand. Bei der Inhaltskontrolle sei als nach § 310 Abs. 4 Satz 2 BGB im Arbeitsrecht zu berücksichtigende Besonderheit zu würdigen, dass kirchliche Arbeitsvertragsregelungen auf dem Dritten Weg entstehen und von einer paritätisch besetzten Arbeitsrechtlichen Kommission beschlossen werden5. Die Änderungen der Arbeitsbedingungen erfolgten daher nicht einseitig durch den Dienstgeber, sondern durch eine paritätisch besetzte Arbeitsrechtliche Kommission. Zudem seien die Mitglieder der Ar-
1 BAG v. 24.9.2008 – 6 AZR 76/07, NZA 2009, 154; BAG v. 3.4.2007 – 9 AZR 283/06, NZA-RR 2008, 504; BAG v. 15.4.2008 – 9 AZR 159/07, NZA-RR 2008, 586. 2 BAG v. 24.9.2008 – 6 AZR 76/07, NZA 2009, 154. 3 BAG v. 11.2.2009 – 10 AZR 222/08, NZA 2009, 428; ebenso BAG v. 22.7.2010 – 6 AZR 170/08, BB 2011, 186. 4 BAG v. 22.7.2010 – 6 AZR 170/08, BB 2011, 186. 5 BAG v. 19.11.2009 – 6 AZR 561/08, NZA 2010, 583.
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Die Regelungsabrede als Gestaltungsmittel
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Teil 13
beitsrechtlichen Kommission weisungsunabhängig. Ein so eingeschränkter Änderungs- und Ergänzungsvorbehalt stelle keine unangemessene Benachteiligung i.S.v. § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB dar. d) Übertragung der Grundsätze der BAG-Rechtsprechung zu dynamischen Bezugnahmeklauseln auf Regelungsabreden Wie oben erwähnt (Rz. 60 ff.), steht eine ausdrückliche Entscheidung des BAG zur 64 Rechtswirksamkeit einer Jeweiligkeitsklausel bezogen auf eine Regelungsabrede noch aus. Die Regelungsabrede ist im Vergleich zu den oben beschriebenen Regelungswerken ein „Zwischending“. Es handelt sich weder um ein einseitig vom Arbeitgeber vorgesehenes Vertragswerk noch um eine normativ geltende Regelung, wie dies bei TVen und Betriebsvereinbarungen der Fall ist. Stellt man die Regelungsabrede mangels ihres normativen Charakters der einzelvertraglich vom Arbeitgeber aufgestellten Arbeitsordnung gleich, so spricht dies für die Unzulässigkeit einer dynamischen Verweisungsklausel. Hält man dagegen den Umstand für maßgeblich, dass Regelungsabreden ebenso wie TVe von gleichberechtigten Partnern ausgehandelt werden, ist es näherliegend, von einer Richtigkeitsgewähr und somit von einer Ausgeglichenheit der Regelungen auszugehen. Dies spricht für die Zulässigkeit von Jeweiligkeitsklauseln. Allerdings ist fraglich, ob gerade bei dem Abschluss betrieblicher Beschäftigungsbündnisse von einer echten Gleichberechtigung der Parteien ausgegangen werden kann. In den Entscheidungen des BAG zur wirksamen Einbeziehung kirchlicher Arbeitsrechtsregelungen in den Arbeitsvertrag1 wird deutlich, dass die Weisungsunabhängigkeit und Gleichberechtigung der Parteien als wesentlich angesehen wird. Eine Gleichberechtigung kann bei Betriebsvereinbarungen, die im Rahmen der zwingenden Mitbestimmung ergehen, wohl angenommen werden. In Regelungsabreden zu Beschäftigungsbündnissen werden aber typischerweise Fragen geregelt, die nach der Wertentscheidung des Art. 9 Abs. 3 GG der Regelungsmacht der Betriebsparteien entzogen sind. Hintergrund dafür, dass der Gesetzgeber gemäß Art. 9 Abs. 3 GG sowie den Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG die Regelungsmacht für Arbeitsentgelt und Arbeitsbedingungen grundsätzlich den Tarifparteien zugewiesen hat, war die Befürchtung, dass die Betriebsräte als Arbeitnehmer des Betriebs in einer persönlichen Abhängigkeit zum Unternehmen stehen und somit ein größeres Risiko als bei Gewerkschaftsvertretern besteht, dass sie vom Arbeitgeber unter Druck gesetzt und zu Zugeständnissen gedrängt werden, die sie als Nicht-Betriebsangehörige nicht so getätigt hätten. Diese Gefahr besteht in erhöhtem Maße bei Beschäftigungsbündnissen zur Überwindung von Krisensituationen. Denn die Betriebsräte sind als Arbeitnehmer des Betriebs ggf. selbst akut von einer möglichen Betriebsschließung betroffen. Das gefährdet ihre Unabhängigkeit und birgt das Risiko, dass sie aufgrund drohender persönlicher Nachteile nicht als gleichberechtigte Verhandlungspartner agieren. e) Konsequenzen für die Anwaltspraxis Aus den dargelegten Gründen sprechen gute Gründe dafür, dass dynamische Be- 65 zugnahmeklauseln auf Regelungsabreden im Streitfall von den Arbeitsgerichten als unangemessen und damit als unwirksam angesehen werden, wenn nicht die stren-
1 Vgl. insbesondere BAG v. 22.7.2010 – 6 AZR 170/08, BB 2011, 186.
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Betriebliche Beschftigungsbndnisse
gen, für Widerrufsvorbehalte geltenden Wirksamkeitsvoraussetzungen ausnahmsweise vorliegen. 66
In der Praxis kann es trotz der Wirksamkeitsbedenken aus Unternehmersicht vorzugswürdig sein, sich in Kenntnis des bestehenden Rechtsrisikos für eine dynamische Bezugnahmeklausel auf die Regelungsabrede zu entscheiden. Denn praktische Konsequenz wäre im „worst case“, dass etwaige Änderungen der Regelungsabrede nicht für die Mitarbeiter wirksam würden und die Regelungsabrede in der ursprünglich vereinbarten Fassung anwendbar bliebe1. Allerdings ist aus Arbeitgebersicht zu bedenken, dass eine dynamische Verweisungsklausel auf die Arbeitnehmer abschreckend wirken könnte und damit die Akzeptanz des betrieblichen Bündnisses gefährdet. Hier ist das Interesse des Arbeitgebers an einer dynamischen Verweisung abzuwägen mit der möglichen Abschreckungswirkung auf die Arbeitnehmer.
E. Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft gegen betriebliche Bündnisse I. Unterlassungsanspruch gegen tarifwidrige Betriebsvereinbarungen 1. Unterlassungsanspruch nach § 23 Abs. 3 BetrVG i.V.m. § 77 BetrVG 67
Verstößt eine Betriebsvereinbarung gegen den Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG, so hat das BAG mehrfach einen gewerkschaftlichen Anspruch auf Unterlassung gemäß § 23 Abs. 3 BetrVG i.V.m. § 77 BetrVG grundsätzlich bejaht. Allerdings muss es sich im Einzelfall um einen groben Verstoß handeln. Dabei hat das BAG § 23 Abs. 3 BetrVG als Grundnorm der betriebsverfassungsrechtlichen Ordnung angesehen, deren Beachtung § 23 Abs. 1 und § 23 Abs. 3 BetrVG gewährleisten sollen2. Im später ergangenen Burda-Beschluss zweifelt das BAG einen Unterlassungsanspruch aus § 23 Abs. 3 BetrVG jedoch an. Es sei zweifelhaft, ob § 23 Abs. 1 und 3 BetrVG überhaupt als Vorkehrungen zur Abwehr von Verstößen gegen § 77 Abs. 3 BetrVG gedacht seien3. Das BAG hat die Frage in der genannten Entscheidung nicht beantwortet. 2. Unterlassungsanspruch aus Art. 9 Abs. 3 GG i.V.m. §§ 823, 1004 BGB
68
Auch wenn die Voraussetzungen des Unterlassungsanspruchs gemäß § 23 Abs. 3 BetrVG i.V.m. § 77 BetrVG nicht vorliegen, steht der Gewerkschaft gegen tarifwidrige Betriebsvereinbarungen unabhängig davon ggf. ein Unterlassungsanspruch gemäß Art. 9 Abs. 3 GG i.V.m. §§ 823, 1004 BGB aufgrund eines unzulässigen Eingriffs in die Koalitionsfreiheit der Gewerkschaft zu4. § 23 Abs. 3 BetrVG verdrängt §§ 1004, 823 BGB nach dem BAG nicht im Wege des Spezialitätsverhältnisses5. Das BAG begründet den Unterlassungsanspruch gemäß §§ 1004, 823 BGB im Wesentlichen damit, dass die von Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Regelungsbefugnis nicht erst dann beeinträchtigt werde, wenn eine Koalition daran gehindert werde, Tarifrecht zu schaffen. 1 BAG v. 11.2.2009 – 10 AZR 222/08, NZA 2009, 428. 2 BAG v. 20.8.1991 – 1 ABR 85/90, NZA 1992, 317; BAG v. 22.6.1993 – 1 ABR 62/92, NZA 1994, 234; vgl. hierzu Fitting, BetrVG § 77 Rz. 235; GK-BetrVG/Kreutz, § 77 Rz. 458 ff. 3 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. 4 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. 5 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887.
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Betriebliche Beschftigungsbndnisse
gen, für Widerrufsvorbehalte geltenden Wirksamkeitsvoraussetzungen ausnahmsweise vorliegen. 66
In der Praxis kann es trotz der Wirksamkeitsbedenken aus Unternehmersicht vorzugswürdig sein, sich in Kenntnis des bestehenden Rechtsrisikos für eine dynamische Bezugnahmeklausel auf die Regelungsabrede zu entscheiden. Denn praktische Konsequenz wäre im „worst case“, dass etwaige Änderungen der Regelungsabrede nicht für die Mitarbeiter wirksam würden und die Regelungsabrede in der ursprünglich vereinbarten Fassung anwendbar bliebe1. Allerdings ist aus Arbeitgebersicht zu bedenken, dass eine dynamische Verweisungsklausel auf die Arbeitnehmer abschreckend wirken könnte und damit die Akzeptanz des betrieblichen Bündnisses gefährdet. Hier ist das Interesse des Arbeitgebers an einer dynamischen Verweisung abzuwägen mit der möglichen Abschreckungswirkung auf die Arbeitnehmer.
E. Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft gegen betriebliche Bündnisse I. Unterlassungsanspruch gegen tarifwidrige Betriebsvereinbarungen 1. Unterlassungsanspruch nach § 23 Abs. 3 BetrVG i.V.m. § 77 BetrVG 67
Verstößt eine Betriebsvereinbarung gegen den Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG, so hat das BAG mehrfach einen gewerkschaftlichen Anspruch auf Unterlassung gemäß § 23 Abs. 3 BetrVG i.V.m. § 77 BetrVG grundsätzlich bejaht. Allerdings muss es sich im Einzelfall um einen groben Verstoß handeln. Dabei hat das BAG § 23 Abs. 3 BetrVG als Grundnorm der betriebsverfassungsrechtlichen Ordnung angesehen, deren Beachtung § 23 Abs. 1 und § 23 Abs. 3 BetrVG gewährleisten sollen2. Im später ergangenen Burda-Beschluss zweifelt das BAG einen Unterlassungsanspruch aus § 23 Abs. 3 BetrVG jedoch an. Es sei zweifelhaft, ob § 23 Abs. 1 und 3 BetrVG überhaupt als Vorkehrungen zur Abwehr von Verstößen gegen § 77 Abs. 3 BetrVG gedacht seien3. Das BAG hat die Frage in der genannten Entscheidung nicht beantwortet. 2. Unterlassungsanspruch aus Art. 9 Abs. 3 GG i.V.m. §§ 823, 1004 BGB
68
Auch wenn die Voraussetzungen des Unterlassungsanspruchs gemäß § 23 Abs. 3 BetrVG i.V.m. § 77 BetrVG nicht vorliegen, steht der Gewerkschaft gegen tarifwidrige Betriebsvereinbarungen unabhängig davon ggf. ein Unterlassungsanspruch gemäß Art. 9 Abs. 3 GG i.V.m. §§ 823, 1004 BGB aufgrund eines unzulässigen Eingriffs in die Koalitionsfreiheit der Gewerkschaft zu4. § 23 Abs. 3 BetrVG verdrängt §§ 1004, 823 BGB nach dem BAG nicht im Wege des Spezialitätsverhältnisses5. Das BAG begründet den Unterlassungsanspruch gemäß §§ 1004, 823 BGB im Wesentlichen damit, dass die von Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Regelungsbefugnis nicht erst dann beeinträchtigt werde, wenn eine Koalition daran gehindert werde, Tarifrecht zu schaffen. 1 BAG v. 11.2.2009 – 10 AZR 222/08, NZA 2009, 428. 2 BAG v. 20.8.1991 – 1 ABR 85/90, NZA 1992, 317; BAG v. 22.6.1993 – 1 ABR 62/92, NZA 1994, 234; vgl. hierzu Fitting, BetrVG § 77 Rz. 235; GK-BetrVG/Kreutz, § 77 Rz. 458 ff. 3 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. 4 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. 5 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887.
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Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft
Rz. 70
Teil 13
Eine Behinderung der Koalitionsfreiheit liegt nach dem BAG auch in Abreden oder Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, die Wirkung eines TVs zu vereiteln oder leerlaufen zu lassen. Das sei der Fall bei betrieblichen Regelungen, die einheitlich wirken und an die Stelle der Tarifnorm treten sollen. Bei tarifnormwidrigen Betriebsvereinbarungen sei dies im Zweifel anzunehmen1. Der Unterlassungsanspruch ist darauf gerichtet, dass der Arbeitgeber die Durchführung der tarifwidrigen betrieblichen Regelung unterlässt2. Nicht ganz eindeutig beantwortet das BAG im Burda-Beschluss die Frage, ob der Unterlassungsanspruch nur bei Tarifbindung des Arbeitgebers besteht oder auch bei fehlender Tarifbindung im Falle eines Verstoßes gegen § 77 Abs. 3 BetrVG aufgrund Tarifüblichkeit. Gegen einen Unterlassungsanspruch in diesem Fall spricht, dass das BAG ausführt, dass geltendes Tarifrecht nur verdrängt werde, wenn der betreffende TV im Anwendungsbereich der fraglichen betrieblichen Regelung normativ gelte, da andernfalls kein Geltungsanspruch des TVs bestehe3.
II. Unterlassungsanspruch gegen Regelungsabreden 1. Unterlassungsanspruch nach § 23 Abs. 3 BetrVG i.V.m. § 77 BetrVG Gemäß § 23 Abs. 3 BetrVG hat eine im Betrieb vertretene Gewerkschaft einen An- 69 spruch auf Unterlassung gegenüber dem Arbeitgeber, wenn er gegen seine Verpflichtungen aus dem Tarifvertragsgesetz grob verstößt. Das BAG hat im Burda-Beschluss4 einen Unterlassungsanspruch gemäß § 23 Abs. 3 BetrVG i.V.m. § 77 BetrVG bei Regelungsabreden verneint. Dies entspricht sowohl der bisher herrschenden Meinung5 als auch dem klaren Wortlaut, Sinn und Zweck des § 77 Abs. 3 BetrVG. Die Norm soll die Normsetzungsprärogative der TV-Parteien sichern6. Diese kann jedoch nur durch zwingende Regelungen gefährdet werden. Die Regelungsabrede verfügt wie oben beschrieben gerade nicht über eine normative Wirkung, sodass die Normsetzungsprärogative nicht geschützt werden muss. Auch vertragliche Einheitsregelungen entfalten keine normative Wirkung. 2. Unterlassungsanspruch aus Art. 9 Abs. 3 GG i.V.m. §§ 823, 1004 BGB (Burda-Beschluss und Folgeentscheidungen) Das BAG hat im Burda-Beschluss einen gewerkschaftlichen Unterlassungsanspruch 70 nach Art. 9 Abs. 3 i.V.m. §§ 823, 1004 BGB auch bei tarifwidrigen Regelungsabreden und vertraglichen Einheitsregelungen grundsätzlich anerkannt7. Mit dem Unterlas1 2 3 4 5
BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. So auch Bauer/Haußmann, NZA-Beil. 2000, 42 (46 f.). BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887 (unter II 2b bb a.E.). Vgl. BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. Vgl. Fitting, § 23 BetrVG Rz. 54; Däubler/Reim/Ahrendt, § 1 TVG Rz. 1173; Reichold, ZfA 1998, 237 (257); Walker, FS Wiese, 1998, S. 603 (606 f.). 6 Vgl. BVerfG v. 29.6.1993 – 1 BvR 1916/91, NZA 1994, 34. 7 Vgl. BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887; bestätigt durch BAG v. 19.3.2003 – 4 AZR 271/02, NZA 2003, 1221; BAG v. 17.5.2011 – 1 AZR 473/09, NZA 2011, 1169; zustimmend: Däubler, AiB 1999, 481; Wohlfarth, NZA 1999, 962 (962 ff.); Berg/Platow, DB 1999, 2362; kritisch: Bauer, NZA 1999, 957 (957 ff.); Hromadka, ZTR 2000, 253 (253 ff.); Trappehl/Lambrich, NJW 1999, 3217 (3217 ff.); Buchner, NZA 1999, 897 (897 ff.); Löwisch, BB 1999, 2080 (2080 ff.); Thüsing, DB 1999, 1552 (1552 ff.); Rieble, ZTR 1999, 483 (483 ff.); Richardi, DB 2000, 42.
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Betriebliche Beschftigungsbndnisse
sungsanspruch können Gewerkschaften – und wohl auch Arbeitgeberverbände – die Nichtanwendung tarifwidriger Reglungsabreden unter weitergehenden Voraussetzungen verlangen, wenn der Arbeitgeber tarifgebunden ist. Damit hat das BAG den Gestaltungsspielraum für betriebliche Beschäftigungsbündnisse neu definiert. Vor dem Burda-Beschluss vom 20.4.1999 wurde ein Unterlassungsanspruch der Gewerkschaften auf Basis einer Verletzung des Art. 9 Abs. 3 GG von den Gerichten nicht anerkannt1. Der Antrag ist im Beschlussverfahren geltend zu machen2. In Eilfällen kann die Gewerkschaft im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes den Erlass einer Regelungsverfügung nach § 940 ZPO beantragen3. Allerdings besteht kein Anspruch der Gewerkschaft auf Nachzahlung der tariflichen Leistungen an die Gewerkschaftsmitglieder4. 71
Der gewerkschaftliche Unterlassungsanspruch besteht nach dem Burda-Beschluss bei Regelungsabreden unter folgenden Voraussetzungen: a) Betriebseinheitliche Regelungen mit kollektivem Charakter
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Der Unterlassungsanspruch bezieht sich nur auf betriebseinheitliche Regelungen mit kollektivem Charakter, die den Arbeitgeber an der Durchführung der tariflichen Vereinbarungen hindern sollen. Der den Unterlassungsanspruch begründende Eingriff in die Tarifautonomie folgt bei Regelungsabreden und vertraglichen Einheitsregelungen nach dem BAG ebenso wie bei Betriebsvereinbarungen daraus, dass diese faktisch geeignet seien, auf Grund ihres erklärten Geltungsanspruchs an die Stelle der tariflichen Regelungen zu treten. Aufgrund dessen seien die Regelungen in der Lage, die Tarifnorm als kollektive Ordnung zu verdrängen und ihrer zentralen Funktion zu berauben. Der Unterlassungsanspruch erfasst somit: – Individualabreden, die auf einer Regelungsabrede zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat basieren. – Vertragsangebote seitens des Arbeitgebers, wenn sie vom Betriebsrat ausdrücklich unterstützt werden5. b) Tarifbindung auf Arbeitgeberseite
73
Von einer Verdrängung geltenden Tarifrechts kann nach dem BAG nur gesprochen werden, wenn der betreffende TV im Anwendungsbereich der fraglichen betrieblichen Regelung normativ gelte. Bei fehlender Tarifbindung bestehe kein Geltungsanspruch des TVs und der Arbeitgeber sei frei, mit seinen Arbeitnehmern untertarifliche Arbeitsbedingungen zu vereinbaren6.
1 BAG v. 28.8.1991 – 1 ABR 85/90, NZA 1992, 317; ebenso Oetker, SAE 1992, 158 (162); Walker, FS Wiese, 1998, S. 603 (613 f.). 2 So auch: Moll, FS Bepler, S. 425 (429). 3 BAG v. 17.5.2011 – 1 AZR 473/09, NZA 2011, 1169. 4 BAG v. 17.5.2011 – 1 AZR 473/09, NZA 2011, 1169. 5 Vgl. BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. 6 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887.
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Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft
Rz. 77
Teil 13
c) Tarifbindung auf Arbeitnehmerseite Weitere Voraussetzung ist die Tarifbindung auf Arbeitnehmerseite. Nach dem BAG 74 kann die Gewerkschaft grundsätzlich nicht verlangen, dass der Arbeitgeber den Vollzug einer tarifwidrigen betrieblichen Regelung auch hinsichtlich der Tarifaußenseiter unterlässt. Ausnahmsweise bejaht das BAG einen Unterlassungsanspruch auch hinsichtlich der Tarifaußenseiter, und zwar dann, wenn der Arbeitgeber nach seiner Zielvorgabe seine Vereinbarungen unabhängig von der Tarifgebundenheit auf die gesamte Belegschaft bzw. auf Teile der Belegschaft erstrecken will. In diesem Fall könne die angegriffene Regelung nur für alle betroffenen Arbeitnehmer oder gar nicht Bestand haben1. Dieser praktisch bedeutsame Fall führt dazu, dass bei Tarifbindung Beschäftigungsbündnisse allenfalls dann zulässig sind, wenn sie ausdrücklich auf die Tarifaußenseiter beschränkt werden. d) Anforderungen an den Antrag der Gewerkschaft In der weiteren Entscheidung vom 19.3.2003 hat das BAG die Anforderungen an den 75 Antrag der Gewerkschaft näher definiert2. Das BAG verlangt, um den Unterlassungsanspruch hinreichend bestimmt werden zu lassen (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO), dass die Gewerkschaft die Namen der tarifgebundenen Arbeitnehmer nennt. In der späteren Entscheidung vom 17.5.20113 hat das BAG hierzu klargestellt, dass die namentliche Nennung der Gewerkschaftsmitglieder nur erforderlich ist, wenn der Unterlassungsantrag auf diese begrenzt ist. e) Kritik an der Rechtsprechung des BAG Für Kritiker der BAG-Rechtsprechung erscheint fraglich, ob die Normsetzungsbefug- 76 nis der TV-Parteien durch tarifwidrige Vereinbarungen tatsächlich beeinträchtigt wird. Bei beidseitiger Tarifbindung von Arbeitgeber und Arbeitnehmer komme eine untertarifliche Abmachung schon deshalb nicht zur Geltung, da sie für den Arbeitnehmer nicht gemäß § 4 Abs. 3 TVG günstiger ist. Der Arbeitnehmer kann also weiterhin seine Rechte aus dem TV einklagen. Auch ein Verzicht auf die tariflichen Rechte ist gemäß § 4 Abs. 4 TVG ohne Zustimmung beider TV-Parteien nicht zulässig. Die Normsetzungsbefugnis der Gewerkschaft könne somit rechtlich gar nicht unterlaufen werden. f) Bedeutung für die Praxis Die Burda-Entscheidung hat den Spielraum für Beschäftigungsbündnisse bei tarif- 77 gebundenen Arbeitgebern eingeengt. Nach dem BAG-Beschluss ist für die Beratungspraxis davon auszugehen, dass betriebliche Beschäftigungsbündnisse bei tarifgebundenen Arbeitgebern praktisch nur noch im Wege einer Regelungsabrede möglich sind, die sich ausdrücklich auf die nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer beschränkt.
1 BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, NZA 1999, 887. 2 BAG v. 19.3.2003 – 4 AZR 271/02, NZA 2003, 1221. 3 BAG v. 17.5.2011 – 1 AZR 473/09, NZA 2011, 1169.
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1061
Teil 13 Rz. 78
Betriebliche Beschftigungsbndnisse
F. Inhaltliche Gestaltung eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses I. Typische Beiträge der Arbeitnehmer 78
Üblicherweise strebt das Unternehmen an, in betrieblichen Beschäftigungsbündnissen Personalkosteneinsparungen zu erzielen, indem die Arbeitnehmer auf einen Teil ihrer Vergütung verzichten. 1. Typische Einsparpotenziale
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Nachfolgend sind typische Einsparpotentiale in der Praxis aufgelistet: – Erhöhung der Wochenarbeitszeit um x Stunden pro Woche ohne Vergütungsausgleich – Aussetzung von Gehaltserhöhungen für die nächsten x Jahre – Kürzung von Urlaubstagen – Aussetzung von Gehaltsrunden bzw. Koppelung von Vergütungserhöhungen an die wirtschaftliche Situation (Faktoren sind z.B.: Betriebsergebnis, Entwicklung der Personalkosten im Verhältnis zu den Einnahmen, allgemeine Gehaltsentwicklung im Sektor, Arbeitsmarktentwicklung im Sektor hinsichtlich der Beschaffung von Fachkräften, Entwicklung der Inflationsrate) – Koppelung von Weihnachtsgeld/Urlaubsgeld an die wirtschaftliche Situation bzw. an den Unternehmenserfolg – Flexibilisierung der Arbeitszeit – Entfall oder Kürzung von Zuschlägen für Mehrarbeit, Sonntagsarbeit, Feiertagsarbeit – Absenkung der Entgelttabellen bzw. Spreizung der bestehenden Tabellen durch zusätzliche Stufen, sodass Lohnsteigerungen langsamer erfolgen – Flexible Regelungen zur vorübergehenden Absenkung der Personalkosten um bis zu x % im Falle einer wirtschaftlichen Notlage – Kürzung von etwaigen freiwilligen (übertariflichen) Zulagen und Einstellung von freiwilligen Zahlungen – Kürzung einer Erfolgsbeteiligung, soweit vorhanden. 2. Bewertung der Einsparpotentiale
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Zunächst sind die Einsparpotentiale finanziell zu bewerten. Neben der finanziellen Bewertung ist in der Praxis auch die strategische Bewertung der ermittelten Einsparpotenziale von hoher Bedeutung. Das finanzielle Volumen einer Leistung entspricht oftmals nicht der emotionalen Bedeutung. So mögen Jubiläumszahlungen für langjährige Betriebszugehörigkeit ein im Vergleich zu anderen freiwilligen Sonderzahlungen geringes finanzielles Volumen ausmachen. Die Negativwirkung auf die Motivation der Mitarbeiter kann aber bei Streichung solcher Jubiläumszahlungen deutlich höher sein als bei Wegfall zahlenmäßig höherer Leistungen. Der Anwalt sollte zudem die besonde1062 Werner
Inhaltliche Gestaltung
Rz. 83
Teil 13
re Interessenlage in dem jeweiligen Unternehmen bei seinen Ansprechpartnern erfragen. Weiterhin sind solche Einsparungen für die Arbeitnehmer besonders schmerzlich, bei denen das monatliche Einkommen verringert wird, z.B. bei einer vorübergehenden Absenkung der Lohntabellen um x %. Denn die meisten Arbeitnehmer haben die monatlichen Gehaltszahlungen fest eingeplant und benötigen diese, um ihre laufenden Kosten zu decken. Daher kann es erfolgversprechender sein, z.B. eine höhere Arbeitszeit ohne Vergütungsausgleich durchzusetzen als eine Kürzung des laufenden Entgelts bei unveränderten Wochenstunden. Es ist daher in enger Zusammenarbeit mit den Unternehmensverantwortlichen auszuloten und abzuschätzen, welche Einsparpositionen sich voraussichtlich in den Verhandlungen mit dem Betriebsrat durchsetzen lassen und welche Einbußen die Belegschaft voraussichtlich nicht akzeptieren wird. 3. Besserungsscheinregelungen Häufig werden sogenannte Besserungsscheinregelungen vereinbart. Der Begriff 81 kommt aus dem Finanzbereich. Ein Unternehmen, das vor der Insolvenz steht, kann Papiere ausgeben, die den Gläubigern einen finanziellen Ausgleich für erlittene Verluste für den Fall der Besserung der Vermögenslage verspricht. Dieses Modell wird häufig in betrieblichen Bündnissen und SanierungsTVen genutzt. Wenn die Arbeitnehmer im Zuge des betrieblichen Beschäftigungsbündnisses finanzielle Einbußen akzeptieren, wird ihnen zugesagt, dass sie im Falle einer doch notwendig werdenden betriebsbedingten Kündigung die Einbußen wieder zurückerstattet bekommen. Da sich für diese Arbeitnehmer der Einsatz nicht gelohnt hat, empfinden es die Parteien betrieblicher Bündnisse häufig als gerecht, ihnen im Gegenzug auch die eingebrachten Leistungen bzw. einen Teil davon wieder zurückzugewähren. Es sind unterschiedliche Gestaltungsvarianten denkbar. Eine Besserungsscheinregelung kann z.B. so gestaltet werden, dass die Rückerstattungspflicht auf einen bestimmten Zeitraum begrenzt wird, z.B. eine Rückerstattung der eingebrachten Leistungen in den letzten 18 Monaten vor dem Ausscheiden.
II. Typische Gegenleistungen des Unternehmens Übliche Gegenleistungen des Unternehmens für die vereinbarten Personalkosteneinsparungen sind Zugeständnisse, die im weitesten Sinne zur Sicherung der Arbeitsplätze beitragen. Nachfolgend werden Zusicherungen beschrieben, die sich typischerweise in Beschäftigungsbündnissen finden.
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Hinweis für die Beratungspraxis: Das Unternehmen muss den Balanceakt meistern, für die Mitarbeiter Zugeständnisse mit einem echten Mehrwert zu vereinbaren, sich aber nicht so weitgehend rechtlich zu binden, dass die unternehmerische Handlungsfähigkeit gefährdet wird.
1. Beschäftigungssicherungszusagen Häufigste Gegenleistung des Unternehmens für gewisse Zugeständnisses der Arbeit- 83 nehmer sind Beschäftigungssicherungszusagen. Dabei verpflichtet sich das Unternehmen zumeist, während der Laufzeit des betrieblichen Beschäftigungsbündnisses kei-
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Teil 13 Rz. 84
Betriebliche Beschftigungsbndnisse
ne Entlassungen aus betriebsbedingten Gründen vorzunehmen. In der Praxis sind insbesondere folgende Gestaltungsfragen von Bedeutung: a) Eindeutigkeit der Formulierung 84
In der Formulierung sollte klar zum Ausdruck kommen, dass das Verbot nur Kündigungen aus betriebsbedingten Gründen erfasst, während Kündigungen aus personenbedingten oder verhaltensbedingten Gründen weiterhin zulässig sind. Auch zwischen einem „Kündigungsverbot“ und einem „Entlassungsverbot“ kann ein rechtlicher Unterschied bestehen. Ein Kündigungsverbot untersagt zweifellos den Ausspruch einer Kündigung. Dagegen kann als Entlassung ggf. auch der Zeitpunkt der rechtlichen Beendigung verstanden werden. b) Umfang der Beschäftigungssicherung
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Beschäftigungssicherungsklauseln sind von ihrer Reichweite her sehr unterschiedlich ausgestaltet. Sie reichen von bloßen Absichtserklärungen ohne rechtliche Verpflichtung bis zu „harten“ Kündigungsverboten ohne Ausnahme. aa) „Harte“ Beschäftigungssicherung ohne Ausstiegsmöglichkeit Formulierungsbeispiel 1: „Whrend der Laufzeit des betrieblichen Beschftigungsbndnisses sind betriebsbedingte Beendigungskndigungen ausgeschlossen.“
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Das Formulierungsbeispiel 1 enthält eine „harte“ Beschäftigungssicherung ohne Ausstiegsmöglichkeit. Aus Arbeitgebersicht ist bei solchen Formulierungen Vorsicht geboten. In der Praxis verbleibt als letzter Rettungsanker für die Arbeitgeberseite ggf. nur die sog. „Orlando-Kündigung“, sollten betriebsbedingte Kündigungen trotz des Verbotes dennoch erforderlich werden1. Die Orlando-Kündigung bezeichnet die außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist eines ordentlich unkündbaren Arbeitnehmers, die nur in sehr engen Grenzen zulässig ist. bb) Beschäftigungssicherung mit Ausnahmen Formulierungsbeispiel 2: „Whrend der Laufzeit des betrieblichen Beschftigungsbndnisses wird das Unternehmen grundstzlich keine Entlassungen aufgrund betriebsbedingter Beendigungskndigungen vornehmen. Diese Zusicherung gilt, sofern dem nicht wirtschaftliche Grnde entgegenstehen. Wirtschaftliche Grnde liegen insbesondere vor, wenn der Umsatz in einem Monat mehr als x % hinter dem Umsatzforecast zurckbleibt.“
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Aus Arbeitgebersicht ist es in der Regel vorzugswürdig, Beschäftigungssicherungen mit Ausstiegsmöglichkeit zu vereinbaren, d.h. Ausnahmen von der Beschäftigungssicherung für bestimmte Fälle zuzulassen, wie in Formulierungsbeispiel 2. 1 „Orlando“ nach der gleichnamigen Figur in Virginia Woolfs Roman Orlando. Der Begriff geht zurück auf den ehemaligen Richter am Bundesarbeitsgericht Knut-Dietrich Bröhl.
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Inhaltliche Gestaltung
Rz. 92a Teil 13
Ist der Betriebsrat bereit, solche Ausnahmen mitzutragen, empfiehlt sich eine mög- 88 lichst eindeutige Benennung der Ausnahmefälle. Pauschale Ausnahmen von Kündigungsverboten „aus wirtschaftlichen Gründen“ oder „wenn sich die wirtschaftliche Situation weiter verschlechtert“ ohne nähere Erläuterung dieser Gründe bergen das Risiko von späteren Auslegungsstreitigkeiten und bedeuten für beide Seiten Rechtsunsicherheit. Sie sind daher grundsätzlich nicht zu empfehlen. cc) Zusicherung einer Personaldecke Formulierungsbeispiel 3: „Das Unternehmen verpflichtet sich, whrend der Laufzeit des betrieblichen Beschftigungsbndnisses die Anzahl der Arbeitnehmer nicht unter 567 Kçpfe sinken zu lassen.“ Teilweise werden Beschäftigungssicherungen in Form einer Zusage des Aufrechterhaltens einer bestimmten Personaldecke vereinbart, wie in Formulierungsbeispiel 3.
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Zumindest in dieser Pauschalität sind solche Kopfzahlzusagen nicht zu empfehlen. 90 Bei der Anwendung entstehen regelmäßig Unsicherheiten, die insbesondere für die Arbeitgeberseite zu erheblicher Rechtsunsicherheit führen. So kommt regelmäßig die Frage auf, ob eine Pflicht zum „Auffüllen“ d.h. zum Einstellen von Mitarbeitern bestehe, wenn die vereinbarte Kopfzahl aus anderen als betriebsbedingten Gründen unterschritten wird, z.B. durch Renteneintritt von Mitarbeitern, Eigenkündigungen oder Auslaufen von Befristungen, aber auch durch Arbeitgeberkündigungen aus personenbedingten oder krankheitsbedingten Gründen. Aus dem Wortlaut geht dies nicht hervor, dieser schreibt pauschal eine Kopfzahl fest. Andererseits schützt die Beschäftigungssicherung vor Entlassungen aus betriebsbedingten Gründen, nicht aber vor einer Betriebsverkleinerung aufgrund natürlicher Fluktuation. Unklar ist auch, was im Falle von Ausgründungen passiert. Was geschieht mit der 91 Kopfzahl, wenn z.B. ein Betriebsteil abgespalten und unter dem Dach eines anderen Unternehmens im Wege des Betriebsteilübergangs gemäß § 613a BGB fortgeführt wird und dadurch die Kopfzahl im ausgründenden Unternehmen unterschritten wird? Wenn durch eine aufwendigere Formulierung versucht wird, möglichst viele Folgefragen von vornherein zu klären, stellt sich in der Praxis meist heraus, dass die Beschäftigungssicherung sehr lang und damit der Belegschaft schwerer zu vermitteln ist, andererseits trotzdem nicht alle Fragen geklärt werden können. Zusammenfassend sind Kopfzahlzusagen nur eingeschränkt zu empfehlen. Neben den drei genannten Formulierungsbeispielen sind in der Praxis eine Vielzahl 92 von Abwandlungen und unterschiedlichen Ausgestaltungen solcher Klauseln verbreitet. c) Gewährung einer Beschäftigungssicherung nur an zustimmende Mitarbeiter? In der Praxis besteht häufig der Wunsch, eine Beschäftigungssicherung nur denjeni- 92a gen Mitarbeitern zu gewähren, die dem betrieblichen Bündnis zustimmen. Arbeitgeberseitige Argumentation ist beispielsweise, dass die Mitarbeiter durch ihre ZuWerner
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Teil 13 Rz. 92b
Betriebliche Beschftigungsbndnisse
stimmung zu schlechteren Arbeitsbedingungen eine Investition in ihren Arbeitsplatz leisten und somit als Gegenleistung vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes stärker geschützt werden. 92b
Das BAG hat diese Frage soweit ersichtlich bislang nicht ausdrücklich entschieden. Allerdings haben verschiedene Landesarbeitsgerichte geurteilt, dass die vertragliche Vereinbarkeit der Unkündbarkeit gegen den Verzicht auf arbeitsvertragliche Rechte nicht zur Einschränkung der Sozialauswahl für solche Arbeitnehmer führen könne, die nicht verzichtet haben. Dies gelte auch, wenn die einzelvertragliche Unkündbarkeitsregelungen Teil einer mit dem Betriebsrat vereinbarten Beschäftigungsabrede sind1. Würde demnach ein Arbeitsgericht dieser Argumentation folgen, wäre Rechtsfolge, dass betriebsbedingte Kündigungen von Mitarbeitern, die dem Bündnis nicht zugestimmt haben aufgrund fehlerhafter Sozialauswahl in den meisten Fällen unwirksam wären.
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Zwingend ist diese Auffassung der Landesarbeitsgerichte zumindest nicht. Denn der Kreis der in die Sozialauswahl einzubeziehenden Mitarbeiter hängt im Rahmen der Vergleichsgruppenbildung stets von arbeitsvertraglichen Vereinbarungen (Tätigkeit, Direktionsrecht) ab. Die arbeitsvertragliche Änderung einer Tätigkeit oder die Aufhebung einer Versetzungsklausel hat ebenfalls Auswirkung auf die Sozialauswahl, ohne dass hierin ein „Außerkraftsetzen der Sozialauswahl“ gesehen werden kann. Beim betrieblichen Bündnis haben in der Regel sogar alle Mitarbeiter die Möglichkeit, teilzunehmen, während arbeitsvertragliche Änderungen zum Beispiel der Tätigkeit „Drittwirkung“ auf die Sozialauswahl haben können, ohne dass dann zu kündigende Mitarbeiter daran etwas ändern können. Dennoch ist aufgrund der derzeitigen Instanzrechtsprechung sorgfältig zu prüfen, wie eine solche Regelung ausgestaltet wird und welche Risiken daraus entstehen können. 2. Standortgarantien
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Eine weitere typische Gegenleistung der Arbeitgeberseite im Rahmen betrieblicher Bündnisse sind Standortgarantien. Diese kommen insbesondere zum Tragen, wenn eine Verlagerung von Arbeitsplätzen an einen anderen Standort oder ins Ausland droht. Formulierungsbeispiel: „Das Unternehmen sichert zu, dass der Sitz des Betriebs mindestens bis zum … in Kçln verbleibt.“ 3. Investitionszusagen
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Auch Investitionszusagen finden sich häufig in betrieblichen Beschäftigungsbündnissen. Denn zu Recht wird die reine Zusage einer Weiterbeschäftigung oftmals von den Arbeitnehmervertretern nicht als ausreichend angesehen. Nur wenn das Unternehmen neben Kosteneinsparungen auch unternehmerische Maßnahmen ergreift, um die wirtschaftliche Situation zu verbessern und in den Standort investiert, sehen die Arbeitnehmervertreter und Mitarbeiter eine Perspektive, wie die Arbeitsplätze mittel- und langfristig gesichert werden können. 1 Vgl. LAG Berlin-Brandenburg v. 10.8.2010 – 7 Sa 903/10, BB 2010, 2367.
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Inhaltliche Gestaltung
Rz. 98
Teil 13
Auch bei Investitionszusagen spielt die genaue Formulierung eine wesentliche Rolle, 95 um spätere Auslegungsstreitigkeiten zu vermeiden. Insbesondere sollte der anwaltliche Berater darauf hinwirken, dass der Begriff der „Investition“ möglichst eindeutig definiert wird. Dabei stellt sich regelmäßig die Frage, ob auch Ausgaben für Forschung und Entwicklung Bestandteil der Investitionen sind, weiterhin, ob Modernisierungsaufwendungen eingerechnet sind, oder ob diese zusätzlich zu den Investitionen geleistet werden müssen. Schließlich ist klar zu definieren, ob sich die zugesagte Summe bei mehrjähriger Laufzeit des betrieblichen Beschäftigungsbündnisses auf die Laufzeit insgesamt bezieht, oder ob jedes Jahr eine Investition in der zugesagten Höhe zu tätigen ist. Formulierungsbeispiel: „Das Unternehmen sichert zu, in den Jahren 2013 bis einschließlich 2016 jhrliche Investitionen zur Zukunftssicherung des Unternehmens zu ttigen. Die Hçhe der Investitionen wird von dem Unternehmen jeweils unter Bercksichtigung der wirtschaftlichen Situation festgelegt. Aus heutiger Sicht wird das Unternehmen Investitionen einschließlich Modernisierungsaufwendungen, Ausgaben fr Forschung und Entwicklung und Reparaturen in Hçhe von mindestens … Mio. Euro jhrlich ttigen.“ 4. Ausschluss von Outsourcing-Maßnahmen Auch die Zusage, bestimmte Outsourcing-Maßnahmen zu unterlassen, findet sich häufig in Beschäftigungsbündnissen.
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Formulierungsbeispiel: „Whrend der Laufzeit des betrieblichen Beschftigungsbndnisses verpflichtet sich das Unternehmen, die Ausgliederung von Betriebsteilen oder sonstigen Einheiten auf Drittunternehmen zu unterlassen. Dies gilt insbesondere fr die Bereiche Kantine und Fuhrpark.“ 5. Übernahmegarantie für Auszubildende Weiterhin vereinbaren die Betriebsparteien in betrieblichen Beschäftigungsbündnissen häufig Übernahmegarantien für Auszubildende.
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Formulierungsbeispiel: „Das Unternehmen bernimmt auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten soziale Verantwortung. Deshalb sichert das Unternehmen zu, in den Jahren 2013 bis einschließlich 2015 fr Auszubildende jhrlich insgesamt mindestens … Ausbildungsvertrge anzubieten. Eine Verpflichtung zur unbefristeten bernahme von Auszubildenden besteht jedoch nicht.“
III. Vermeidung arbeitsrechtlicher Fallstricke Bei der praktischen Umsetzung eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses treten 98 regelmäßig Fallstricke auf, die durch entsprechende Gestaltung des betrieblichen Werner
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Teil 13 Rz. 99
Betriebliche Beschftigungsbndnisse
Bündnisses häufig vermieden werden können und maßgeblich zum Erfolg des Bündnisses beitragen. 1. Entstehung einer Zwei-Klassen-Gesellschaft und Vermeidungsmöglichkeiten a) Problematik 99
Wie oben beschrieben (Rz. 49), erfordern betriebliche Beschäftigungsbündnisse aus rechtlichen Gründen in der Regel die Zustimmung jedes einzelnen Mitarbeiters. Aufgrund des Maßregelungsverbots gemäß § 612a BGB können die Arbeitnehmer sich frei entscheiden, dem betrieblichen Beschäftigungsbündnis zuzustimmen oder die Zustimmung zu verweigern. Die Benachteiligung aufgrund einer Zustimmungsverweigerung wäre nach dem Maßregelungsverbot des § 612a BGB unzulässig. Aufgrund dieser Entscheidungsfreiheit der Arbeitnehmer besteht in der Praxis das Risiko einer Zwei-Klassen-Gesellschaft innerhalb der Belegschaft. Ein Teil der Mitarbeiter wird das Beschäftigungsbündnis akzeptieren und fortan zu den veränderten Arbeitsbedingungen tätig werden. Der Rest der Belegschaft wird die Zustimmung verweigern mit der Folge, dass die Arbeitsbedingungen unverändert bleiben. Das kann zu sozialem Unfrieden führen, weil die Mitarbeiter, die dem Bündnis zugestimmt haben, das Gefühl bekommen, dass auf ihre Kosten der übrigen Belegschaft eine Erhaltung der Arbeitsbedingungen ermöglicht wird. Für das Unternehmen bedeutet die Zwei-Klassen-Gesellschaft zusätzlichen Verwaltungsaufwand, weil fortan zwei unterschiedliche Arbeitsrechts-Regime verwaltet und abgerechnet werden müssen. Je nach Umfang der Zustimmung wird der Unternehmer möglicherweise nachträglich zu dem Ergebnis kommen, dass sich der ganze Aufwand gemessen an der Anzahl der sich beteiligenden Arbeitnehmer nicht gelohnt hat und er unter diesen Voraussetzungen an den alten Arbeitsbedingungen festgehalten und andere Lösungen verfolgt hätte. b) Zustimmungsquote
100 Eine Zwei-Klassen-Gesellschaft kann in der Praxis zum Beispiel durch die Koppelung des Bündnisses an eine Zustimmungsquote vermieden werden. Das Zustandekommen des Bündnisses wird von der Bedingung abhängig gemacht, dass beispielsweise 95 % der Mitarbeiter dem betrieblichen Beschäftigungsbündnis schriftlich zustimmen. Zudem ist es sinnvoll, eine Frist für die Zustimmungserklärung zu setzen, damit das Unternehmen zu einem bestimmten Zeitpunkt Klarheit darüber hat, wie hoch die Zustimmungsquote ist. Dabei sind Abwesenheiten von Mitarbeitern, insbesondere durch Urlaub, zu berücksichtigen. Formulierungsbeispiel: „Diese Vereinbarung tritt nur dann in Kraft, wenn mindestens 95 % aller Mitarbeiter, denen von der X-GmbH im Rahmen dieses betrieblichen Beschftigungsbndnisses eine einzelvertragliche nderungsvereinbarung angeboten wurde, das nderungsangebot bis zum Ablauf der jeweils gesetzten Annahmefrist schriftlich angenommen haben.“
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Inhaltliche Gestaltung
Rz. 104 Teil 13
2. Bedingtes Inkrafttreten der einzelvertraglichen Änderungsvereinbarungen Entscheidet sich der Arbeitgeber für eine Zustimmungsquote bei der Gestaltung der 101 einzelvertraglichen Änderungsvereinbarungen wie unter Rz. 49 dargestellt, sollte bei der Gestaltung darauf geachtet werden, dass die Änderungsvereinbarungen für die einzelnen Mitarbeiter nur in Kraft treten, wenn auch das Beschäftigungsbündnis insgesamt zustande kommt. Wird den Mitarbeitern ein unbedingtes Änderungsangebot unterbreitet, würden die einzelvertraglichen Vereinbarungen grundsätzlich wirksam, auch wenn die Zustimmungsquote für das Beschäftigungsbündnis insgesamt nicht erreicht wird. Wird also das Beschäftigungsbündnis insgesamt an eine Zustimmungsquote geknüpft, sollten auch die einzelvertraglichen Änderungsvereinbarungen nur unter der Bedingung in Kraft treten, dass die Zustimmungsquote erfüllt ist. 3. Gestaltung der Arbeitsverträge für künftige Neueinstellungen Weiterhin ist auf die Gestaltung der Arbeitsverträge für künftige Neueinstellungen 102 zu achten. Es sollte sichergestellt werden, dass auch nach Abschluss des betrieblichen Bündnisses eintretende Mitarbeiter zu den Bedingungen des Bündnisses eingestellt werden. Daher ist bei Neuverträgen eine Bezugnahmeklausel auf das betriebliche Bündnis aufzunehmen. Um den Anforderungen von § 2 NachwG Rechnung zu tragen, sollte im Arbeitsvertrag nicht nur ein Verweis auf das betriebliche Bündnis erfolgen. Vielmehr sollten die wesentlichen Vertragsbedingungen im Arbeitsvertrag genannt werden. 4. Sonderkündigungsrecht Aufgrund des oben beschriebenen möglichen Konflikts von Beschäftigungsbündnis- 103 sen mit dem Tarifrecht (s. Rz. 27) sollte das betriebliche Bündnis eine Regelung für den Fall vorsehen, dass das Unternehmen das betriebliche Bündnis aus rechtlichen Gründen nicht wie geplant umsetzen kann. Möglich ist z.B. ein außerordentliches Sonderkündigungsrecht für die Vereinbarung mit dem Betriebsrat insgesamt oder ein Teilkündigungsrecht für einzelne Ziffern der Regelungsabrede. Eine solche Klausel ist geeignet, spätere Streitigkeiten über das Vorgehen im Falle einer gerichtlichen Auseinandersetzung zu vermeiden und für diesen Fall einen Prozess zu definieren. Formulierungsbeispiel: „Sofern alle oder einzelne Maßnahmen dieser Regelungsabrede aus rechtlichen Grnden nicht wie gewollt umsetzbar sind, steht der X-GmbH ein außerordentliches Sonderkndigungsrecht fr die Regelungsabrede ohne Einhaltung einer Frist zu. Die Kndigung bedarf der Schriftform.“ 5. Ausschluss der Zustimmungsverweigerer von freiwilligen Vergütungserhöhungen Ein typisches Praxisproblem ist der Umgang mit Mitarbeitern, die einem betriebli- 104 chen Bündnis nicht zugestimmt haben. Für diese bleibt es bei den bislang geltenden arbeitsvertraglichen Regelungen. Insbesondere wenn ein betriebliches Bündnis finanzielle Einbußen für die Mitarbeiter zur Folge hat, wird von nicht tarifgebundenen Arbeitgebern aus einem Gerechtigkeitsempfinden heraus häufig der Wunsch geäußert, die Zustimmungsverweigerer nicht an künftigen freiwilligen Vergütungserhöhungen Werner
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Teil 13 Rz. 105
Betriebliche Beschftigungsbndnisse
teilnehmen zu lassen. Denn es wird als ungerecht empfunden, die Zustimmungsverweigerer ebenso in den Genuss von Vergütungserhöhungen kommen zu lassen wie Kollegen, die das betriebliche Bündnis mittragen. Die rechtliche Zulässigkeit der Herausnahme von Mitarbeitern von betrieblichen Vergütungserhöhungen im Zusammenhang mit Beschäftigungsbündnissen hat die höchstrichterliche Rechtsprechung in den letzten Jahren wiederholt beschäftigt. Nach dem BAG1 stellt sich dabei insbesondere die Frage eines Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz. a) Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes im Bereich der Vergütung 105 Im Bereich der Vergütung findet der Gleichbehandlungsgrundsatz nach dem BAG Anwendung, wenn Arbeitsentgelte durch eine betriebliche Einheitsregelung generell angehoben und der Arbeitgeber die Leistung nach einem bestimmten erkennbaren und generalisierenden Prinzip gewährt. Dem Arbeitgeber ist es verwehrt, einzelne Arbeitnehmer oder Gruppen von ihnen aus unsachlichen oder sachfremden Gründen von einer Erhöhung des Arbeitsentgelts auszuschließen. Auch eine sachfremde Gruppenbildung ist unzulässig. Die Differenzierung zwischen der begünstigten Gruppe und den benachteiligten Arbeitnehmern ist dann sachfremd, wenn es für die unterschiedliche Behandlung keine billigenswerten Gründe gibt. Die Gründe müssen auf vernünftigen, einleuchtenden Erwägungen beruhen und dürfen nicht gegen höherrangige Wertentscheidungen verstoßen. Ist die unterschiedliche Behandlung nach dem Zweck der Leistung nicht gerechtfertigt, kann die benachteiligte Arbeitnehmergruppe verlangen, nach Maßgabe der begünstigten Arbeitnehmergruppe behandelt zu werden2. b) Voraussetzungen nach der BAG-Rechtsprechung aa) Kompensationszweck 106 Bietet der Arbeitgeber seinen Arbeitnehmern eine Vertragsänderung an, die zu verschlechterten Bedingungen in Gestalt einer reduzierten Vergütung führt, und gewährt er den Arbeitnehmern, die der Vertragsänderung zugestimmt haben, in der Folgezeit eine Vergütungserhöhung, nicht aber denjenigen Arbeitnehmern, die die Vertragsänderung abgelehnt haben, ist diese Ungleichbehandlung nach dem BAG sachlich berechtigt, wenn sie allein den Ausgleich der erlittenen Vergütungsnachteile derjenigen, die der Änderung zugestimmt haben, bezweckt (Kompensationszweck)3. Dann liegt der tragende Grund für die Benachteiligung nicht in der Ablehnung der Vertragsänderung, sondern darin, dass im Zusammenhang mit der Ablehnung ein unterschiedliches Vergütungsniveau im Betrieb entstanden ist4. Darin sieht das BAG eine sachliche Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung. Dann sei auch das Maßregelungsverbot des § 612a BGB nicht verletzt. Unerheblich ist nach dem BAG, ob der Arbeitgeber einen gänzlichen oder nur teilweisen Ausgleich vornimmt. Die Einkommenslage der Arbeitnehmer muss der früheren Situation wieder näher kommen5.
1 2 3 4 5
BAG v. 15.7.2009 – 5 AZR 486/08, NZA 2009, 1202. BAG v. 14.3.2007 – 5 AZR 420/06, NZA 2007, 862. BAG v. 23.2.2011 – 5 AZR 84/10, NZA 2011, 693. BAG v. 15.7.2009 – 5 AZR 486/08, NZA 2009, 1202. BAG v. 15.7.2009 – 5 AZR 486/08, NZA 2009, 1202; BAG v. 23.2.2011 – 5 AZR 84/10, NZA 2011, 693.
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Inhaltliche Gestaltung
Rz. 109 Teil 13
bb) Keine Rechtfertigung bei Überkompensation Grundsätzlich nicht sachlich berechtigt ist hingegen nach dem BAG eine Lohnerhö- 107 hung nur für die zustimmenden Arbeitnehmer, sobald diese dazu führt, dass diese Gruppe dadurch mehr Vergütung erhält, als diesen Arbeitnehmern vor ihrer verschlechternden Vertragsänderung zustand (sog. Überkompensation)1. In diesem Falle könne der Zweck nicht mehr allein in der Kompensation der erlittenen Nachteile bestehen, sondern es liege nahe, dass der Zweck der Vergütungserhöhung darin liege, diejenigen, die der Änderung zugestimmt haben, dafür zu honorieren. Da die Ablehnung einer Vertragsänderung eine zulässige Rechtsausübung darstellt, die dem Erhalt der subjektiven Rechte dient, handelt es sich dabei nicht um einen legitimen Zweck, der geeignet wäre, die Ungleichbehandlung sachlich zu rechtfertigen2.
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Hinweis für die Beratungspraxis: Aus Arbeitgebersicht sollte die Begründung für die freiwillige Vergütungserhöhung gegenüber allen Mitarbeitern kommuniziert werden. Ansonsten kann es im Prozess Schwierigkeiten bereiten, den Kompensationszweck glaubhaft nachzuweisen.
c) Offene Fragen Im Zusammenhang mit der Schlechterstellung von Zustimmungsverweigerern sind 108 viele praxisrelevante Fragen bisher nicht höchstrichterlich geklärt. Eine höchstrichterliche Entscheidung steht insbesondere zu der Frage des Ausschlusses von Arbeitnehmern von einer freiwilligen Vergütungserhöhung bei betrieblichen Bündnissen aus, wenn der Beitrag der Arbeitnehmer in einer Erhöhung des variablen, leistungsabhängigen Vergütungsbestandteils liegt, d.h., dass ein größerer Teil eines Einkommens künftig leistungsabhängig ausbezahlt wird. Das ArbG Stuttgart will darin keinen Nachteil sehen, wenn die Mitarbeiter weiterhin die Möglichkeit haben, die gleiche Vergütung zu erzielen wie bisher und es im betreffenden Zeitraum nicht zu einer Absenkung der Vergütung gekommen war3. Dies ist nicht überzeugend. Es kann nicht entscheidend sein, ob der Arbeitnehmer tatsächlich aufgrund entsprechender Leistung im Ergebnis das gleiche Entgelt erzielt hat. Darin, dass er akzeptiert hat, dass ein Teil seiner garantierten Festvergütung künftig nur noch leistungsbezogen ausbezahlt wird, ist ein Nachteil zu sehen, der durch eine Bevorzugung bei freiwilligen Vergütungserhöhungen kompensiert werden kann. Dass in der Umwandlung von Festvergütung in einen variablen Gehaltsbestandteil eine Benachteiligung liegt, zeigt sich darin, dass solche Änderungen nicht einseitig vom Arbeitgeber im Rahmen des Direktionsrechts angeordnet werden können, sondern nur im Wege der Änderungskündigung gemäß § 2 KSchG. 6. Unterstützungsklausel des Betriebsrats Eine typische Klausel in Beschäftigungsbündnissen ist das ausdrückliche Bekenntnis des Betriebsrats zu dem Bündnis und die Zusage seiner Unterstützung. Einer solchen
1 BAG v. 17.3.2010 – 5 AZR 168/09, NZA 2010, 696; BAG v. 23.2.2011 – 5 AZR 84/10, NZA 2011, 693; BAG v. 13.4.2011 – 10 AZR 88/10, NZA 2011, 1047. 2 BAG v. 15.7.2009 – 5 AZR 486/08, NZA 2009, 1202. 3 ArbG Stuttgart v. 17.4.2012 – 16 Ca 9707/11, n. rkr.
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Teil 13 Rz. 110
Betriebliche Beschftigungsbndnisse
Klausel kommt keine besondere rechtliche Bedeutung zu, sie ist aber von psychologischer Bedeutung. Denn letztendlich gilt es, die Belegschaft des Unternehmens zu überzeugen und ihre Zustimmung zu erlangen. Formulierungsbeispiel: „Der Betriebsrat untersttzt die vorstehenden Regelungen zur knftigen Gestaltung der Arbeitsbedingungen ausdrcklich. Die Betriebsparteien werden gemeinsam sicherstellen, dass diese Regelungsabrede bei den Mitarbeitern hohe Akzeptanz findet. Der Betriebsrat wird den Mitarbeitern empfehlen, der Regelungsabrede zuzustimmen.“
G. Verhandlung von betrieblichen Beschäftigungsbündnissen I. Beteiligte Parteien 1. Arbeitgeber, Betriebsrat und Arbeitnehmer 110 Beteiligte eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses sind zunächst Arbeitgeber und Betriebsrat. Durch Einbindung des Betriebsrats werden zum einen den betriebsverfassungsrechtlichen Anforderungen Rechnung getragen, indem Informations- und Beratungspflichten wahrgenommen werden und etwaige zwingende Mitbestimmungsrechte durch Abschluss entsprechender Vereinbarungen mit dem Betriebsrat gewahrt werden. Die Beteiligung des Betriebsrats hat darüber hinaus psychologische Bedeutung. Insbesondere wenn der Betriebsrat eine gute Akzeptanz bei der Belegschaft genießt, kann die Zustimmung des Betriebsrats zu dem betrieblichen Bündnis die entscheidende Motivation für die Mitarbeiter sein, den vereinbarten Maßnahmen zuzustimmen und in diesem Zuge auch finanzielle oder sonstige Nachteile in Kauf zu nehmen. 2. Beteiligung der Gewerkschaft? 111 Die Gewerkschaft ist zumeist rechtlich nicht unmittelbar an betrieblichen Beschäftigungsbündnissen beteiligt. Die zuständige Gewerkschaft spielt jedoch bei der erfolgreichen Umsetzung betrieblicher Beschäftigungsbündnisse eine erhebliche Rolle, insbesondere nach Abschluss des Bündnisses, siehe dazu Rz. 67 ff.
II. Verhalten bei Gegenreaktionen der Gewerkschaft 112 Wenn die Gewerkschaft dem Bündnis kritisch gegenübersteht, kann die Gewerkschaft zunächst erheblichen politischen Druck in der Öffentlichkeit und über die Presse erzeugen. Sollte ein betriebliches Bündnis tarifliche Arbeitsbedingungen unterschreiten, kann – wie die Fälle Burda und Viessmann zeigen – von der Gewerkschaft auch eine Unterlassungsklage angestrengt werden, um die Umsetzung des betrieblichen Bündnisses gerichtlich unterbinden zu lassen. Weiterhin muss das Unternehmen damit rechnen, dass die zuständige Gewerkschaft zu einem Streik um einen HausTV aufruft. Auf diese Risiken muss der Anwalt das Unternehmen hinweisen und gemeinsam abstimmen, wie auf solche eventuelle Gegenreaktionen der Gewerkschaft reagiert wer-
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Teil 13 Rz. 110
Betriebliche Beschftigungsbndnisse
Klausel kommt keine besondere rechtliche Bedeutung zu, sie ist aber von psychologischer Bedeutung. Denn letztendlich gilt es, die Belegschaft des Unternehmens zu überzeugen und ihre Zustimmung zu erlangen. Formulierungsbeispiel: „Der Betriebsrat untersttzt die vorstehenden Regelungen zur knftigen Gestaltung der Arbeitsbedingungen ausdrcklich. Die Betriebsparteien werden gemeinsam sicherstellen, dass diese Regelungsabrede bei den Mitarbeitern hohe Akzeptanz findet. Der Betriebsrat wird den Mitarbeitern empfehlen, der Regelungsabrede zuzustimmen.“
G. Verhandlung von betrieblichen Beschäftigungsbündnissen I. Beteiligte Parteien 1. Arbeitgeber, Betriebsrat und Arbeitnehmer 110 Beteiligte eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses sind zunächst Arbeitgeber und Betriebsrat. Durch Einbindung des Betriebsrats werden zum einen den betriebsverfassungsrechtlichen Anforderungen Rechnung getragen, indem Informations- und Beratungspflichten wahrgenommen werden und etwaige zwingende Mitbestimmungsrechte durch Abschluss entsprechender Vereinbarungen mit dem Betriebsrat gewahrt werden. Die Beteiligung des Betriebsrats hat darüber hinaus psychologische Bedeutung. Insbesondere wenn der Betriebsrat eine gute Akzeptanz bei der Belegschaft genießt, kann die Zustimmung des Betriebsrats zu dem betrieblichen Bündnis die entscheidende Motivation für die Mitarbeiter sein, den vereinbarten Maßnahmen zuzustimmen und in diesem Zuge auch finanzielle oder sonstige Nachteile in Kauf zu nehmen. 2. Beteiligung der Gewerkschaft? 111 Die Gewerkschaft ist zumeist rechtlich nicht unmittelbar an betrieblichen Beschäftigungsbündnissen beteiligt. Die zuständige Gewerkschaft spielt jedoch bei der erfolgreichen Umsetzung betrieblicher Beschäftigungsbündnisse eine erhebliche Rolle, insbesondere nach Abschluss des Bündnisses, siehe dazu Rz. 67 ff.
II. Verhalten bei Gegenreaktionen der Gewerkschaft 112 Wenn die Gewerkschaft dem Bündnis kritisch gegenübersteht, kann die Gewerkschaft zunächst erheblichen politischen Druck in der Öffentlichkeit und über die Presse erzeugen. Sollte ein betriebliches Bündnis tarifliche Arbeitsbedingungen unterschreiten, kann – wie die Fälle Burda und Viessmann zeigen – von der Gewerkschaft auch eine Unterlassungsklage angestrengt werden, um die Umsetzung des betrieblichen Bündnisses gerichtlich unterbinden zu lassen. Weiterhin muss das Unternehmen damit rechnen, dass die zuständige Gewerkschaft zu einem Streik um einen HausTV aufruft. Auf diese Risiken muss der Anwalt das Unternehmen hinweisen und gemeinsam abstimmen, wie auf solche eventuelle Gegenreaktionen der Gewerkschaft reagiert wer-
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Verhandlung von betrieblichen Beschftigungsbndnissen
Rz. 114 Teil 13
den kann. Neben großer rechtlicher Sorgfalt bei der Gestaltung des Bündnisses im Einklang mit dem Tarifrecht und einer optimalen Prozessführung im Falle einer Unterlassungsklage vor dem Arbeitsgericht spielt die richtige Kommunikation gegenüber Mitarbeitern, der Öffentlichkeit, der Presse und gegenüber den Gesellschaftern eine entscheidende Rolle.
III. Kommunikation während der Verhandlungen Die erfolgreiche Umsetzung eines betrieblichen Bündnisses hängt wesentlich davon 113 ab, dass alle Beteiligten, d.h. die Vertreter auf Arbeitgeberseite, der Betriebsrat, die Belegschaft und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter überzeugt werden. Daher spielt die ständige und richtige Kommunikation während des gesamten Prozesses eine Schlüsselrolle. Von besonderer Bedeutung sind dabei die jeweiligen Vorgesetzten als Bindeglied zwischen der Geschäftsführung und den Nicht-Führungskräften. Denn die jeweiligen Vorgesetzten sind die unmittelbaren Ansprechpartner im betrieblichen Alltag, wenn Mitarbeiter mit Fragen, Bedenken oder Kritik an dem vorgeschlagenen betrieblichen Bündnis an das Unternehmen herantreten. Deswegen sollten die Führungskräfte bestmöglich mit den Hintergründen, Inhalten, Zahlen und Fakten vertraut gemacht werden, um in den Gesprächen mit den Mitarbeitern die entsprechende Überzeugungsarbeit leisten zu können. Besonders wirkungsvoll ist in diesen Fällen ein gemeinsames Auftreten der Unternehmensleitung und des Betriebsrats. Wenn es gelingt, dass Betriebsrat und Geschäftsleitung vollständig an einem Strang ziehen und die Mitarbeiter gemeinsam über das Bündnis informieren, kann dies entscheidend zur Akzeptanz beitragen. Wesentlich ist, dass die Kommunikation einfach und verständlich erfolgt. Das Unternehmen sollte sich nicht auf eine Information beschränken, sondern einen Kommunikationsplan entwickeln, damit die Mitarbeiter mehrfach, ggf. auch in unterschiedlicher Art und Weise bestmöglich informiert werden. Dabei ist auch zu überlegen, ob eine Betriebsversammlung erfolgen soll. Die Ausarbeitung des genauen Kommunikationsplans hängt von der Größe des Unternehmens und den jeweiligen Besonderheiten maßgeblich ab. Festzuhalten bleibt, dass die „Zustimmungsphase“ die entscheidende Phase für den Erfolg des Bündnisses ist. Die Belegschaft mit einem gut formulierten Schriftstück alleine zu lassen und nach Ablauf der Zustimmungsfrist eine Zustimmung von 100 % zu erwarten, hat geringe Aussicht auf Erfolg.
IV. Die Rolle des anwaltlichen Beraters bei Vorbereitung und Umsetzung betrieblicher Beschäftigungsbündnisse Insbesondere für den anwaltlichen Berater auf Arbeitgeberseite sind betriebliche Be- 114 schäftigungsbündnisse in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung. Zum einen sind bei betrieblichen Beschäftigungsbündnissen Berührungen mit dem Tarifrecht und insbesondere mit dem Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG geradezu vorprogrammiert. Beschäftigungsbündnisse zielen in vielen Fällen auf die Unterschreitung tariflicher Arbeitsbedingungen ab. Die Betriebsparteien werden bei betrieblichen Bündnissen im Kernbereich gewerkschaftlicher Aktivität tätig. Dies stellt den Anwalt vor die Herausforderung, das zum Teil äußerst anspruchsvolle Tarifrecht einschließlich der jeweils aktuellen höchstrichterlichen Rechtsprechung zu beherrschen
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Teil 13 Rz. 115
Betriebliche Beschftigungsbndnisse
und die rechtlichen Gestaltungsspielräume für betriebliche Bündnisse auszuloten. Zum anderen kann es aufgrund der Berührungen mit dem Tarifrecht zu Konflikten mit der zuständigen Gewerkschaft kommen. Die inhaltliche Ausarbeitung eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses ist rechtlich anspruchsvoll. Maßgeblich ist auch, welche Glaubwürdigkeit die Geschäftsleitung bei der Belegschaft genießt. Vertraut die Belegschaft den Unternehmensverantwortlichen, was oftmals bei inhabergeführten Mittelständlern mit einer langen Unternehmensgeschichte zu beobachten ist, und wird das Bündnis auf hohem Niveau rechtlich vorbereitet und praktisch umgesetzt, dann sind betriebliche Beschäftigungsbündnisse mit einer Zustimmungsquote von 100 % keine Seltenheit.
H. Beendigung betrieblicher Beschäftigungsbündnisse und Rechtsfolgen I. Betriebsvereinbarungen 1. Beendigungsgründe 115 Beruht das betriebliche Beschäftigungsbündnis (ausnahmsweise) auf einer Betriebsvereinbarung, gelten die allgemein für Betriebsvereinbarungen geltenden Regelungen. Die Betriebsvereinbarung endet insbesondere bei Ablauf einer vereinbarten Befristung, durch Kündigung einer der Parteien oder durch Ablösung durch eine zeitlich nachfolgende Betriebsvereinbarung. Im Falle der Kündigung gilt die dreimonatige Kündigungsfrist des § 77 Abs. 5 BetrVG, soweit nichts anderes vereinbart ist. 2. Nachwirkung 116 Nach § 77 Abs. 6 BetrVG wirken Betriebsvereinbarungen über mitbestimmte Angelegenheiten nach, während freiwillige Regelungen keine gesetzliche Nachwirkung entfalten. Die Nachwirkung unterliegt nach dem BAG der kollektiven Vertragsfreiheit, d.h. die Betriebsparteien können sowohl bei mitbestimmten Angelegenheiten die Nachwirkung ausschließen als auch bei freiwilligen Regelungen eine Nachwirkung vereinbaren1. Aufgrund des meist vorübergehenden Charakters von betrieblichen Beschäftigungsbündnissen wird oftmals die Nachwirkung der Betriebsvereinbarung ausdrücklich ausgeschlossen sein. 3. Folgen für die Arbeitnehmer 117 Aufgrund der normativen Wirkung von Betriebsvereinbarungen gemäß § 77 Abs. 4 BetrVG wirkt sich eine Beendigung von Betriebsvereinbarungen unmittelbar auf die Arbeitsverhältnisse der Mitarbeiter aus. Im Falle der Nachwirkung gelten die Regelungen der Betriebsvereinbarung gemäß § 77 Abs. 6 BetrVG weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden. Entfällt eine Nachwirkung, entfalten die Regelungen der Betriebsvereinbarung auch keine Wirkung mehr für die Arbeitsverhältnisse.
1 BAG v. 9.2.1984 – 6 ABR 10/81, NZA 1984, 96.
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Teil 13 Rz. 115
Betriebliche Beschftigungsbndnisse
und die rechtlichen Gestaltungsspielräume für betriebliche Bündnisse auszuloten. Zum anderen kann es aufgrund der Berührungen mit dem Tarifrecht zu Konflikten mit der zuständigen Gewerkschaft kommen. Die inhaltliche Ausarbeitung eines betrieblichen Beschäftigungsbündnisses ist rechtlich anspruchsvoll. Maßgeblich ist auch, welche Glaubwürdigkeit die Geschäftsleitung bei der Belegschaft genießt. Vertraut die Belegschaft den Unternehmensverantwortlichen, was oftmals bei inhabergeführten Mittelständlern mit einer langen Unternehmensgeschichte zu beobachten ist, und wird das Bündnis auf hohem Niveau rechtlich vorbereitet und praktisch umgesetzt, dann sind betriebliche Beschäftigungsbündnisse mit einer Zustimmungsquote von 100 % keine Seltenheit.
H. Beendigung betrieblicher Beschäftigungsbündnisse und Rechtsfolgen I. Betriebsvereinbarungen 1. Beendigungsgründe 115 Beruht das betriebliche Beschäftigungsbündnis (ausnahmsweise) auf einer Betriebsvereinbarung, gelten die allgemein für Betriebsvereinbarungen geltenden Regelungen. Die Betriebsvereinbarung endet insbesondere bei Ablauf einer vereinbarten Befristung, durch Kündigung einer der Parteien oder durch Ablösung durch eine zeitlich nachfolgende Betriebsvereinbarung. Im Falle der Kündigung gilt die dreimonatige Kündigungsfrist des § 77 Abs. 5 BetrVG, soweit nichts anderes vereinbart ist. 2. Nachwirkung 116 Nach § 77 Abs. 6 BetrVG wirken Betriebsvereinbarungen über mitbestimmte Angelegenheiten nach, während freiwillige Regelungen keine gesetzliche Nachwirkung entfalten. Die Nachwirkung unterliegt nach dem BAG der kollektiven Vertragsfreiheit, d.h. die Betriebsparteien können sowohl bei mitbestimmten Angelegenheiten die Nachwirkung ausschließen als auch bei freiwilligen Regelungen eine Nachwirkung vereinbaren1. Aufgrund des meist vorübergehenden Charakters von betrieblichen Beschäftigungsbündnissen wird oftmals die Nachwirkung der Betriebsvereinbarung ausdrücklich ausgeschlossen sein. 3. Folgen für die Arbeitnehmer 117 Aufgrund der normativen Wirkung von Betriebsvereinbarungen gemäß § 77 Abs. 4 BetrVG wirkt sich eine Beendigung von Betriebsvereinbarungen unmittelbar auf die Arbeitsverhältnisse der Mitarbeiter aus. Im Falle der Nachwirkung gelten die Regelungen der Betriebsvereinbarung gemäß § 77 Abs. 6 BetrVG weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden. Entfällt eine Nachwirkung, entfalten die Regelungen der Betriebsvereinbarung auch keine Wirkung mehr für die Arbeitsverhältnisse.
1 BAG v. 9.2.1984 – 6 ABR 10/81, NZA 1984, 96.
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Beendigung betrieblicher Beschftigungsbndnisse und Rechtsfolgen
Rz. 120 Teil 13
II. Regelungsabreden Beruht das betriebliche Beschäftigungsbündnis auf einer Regelungsabrede mit dem 118 Betriebsrat und der einzelvertraglichen Zustimmung der Mitarbeiter, sind die Rechtsfolgen im Falle einer Kündigung der Regelungsabrede durch Arbeitgeber oder Betriebsrat meist nicht so eindeutig wie im Falle der Beendigung einer Betriebsvereinbarung. Hier stellen sich zum einen die Fragen der Beendigungsmöglichkeiten für Regelungsabreden sowie der Nachwirkung der Regelungsabrede. Weiterhin sind die Auswirkungen auf die einzelnen Arbeitsverhältnisse zu klären. 1. Beendigung Die Regelungsabrede endet in der Regel, wie die Betriebsvereinbarung, durch Zeit- 119 ablauf oder Zweckerreichung. Auch der Abschluss als aufschiebend und auflösend befristete Regelung ist zulässig1. Daneben kommt eine Kündigung der Regelungsabrede in Betracht. Sofern die Betriebsparteien keine Kündigungsfrist vereinbart haben, gilt nach einem Beschluss des BAG vom 10.3.19922 auch ohne ausdrückliche Regelung eine ordentliche Kündigungsfrist von drei Monaten, analog § 77 Abs. 5 BetrVG. Dies gilt nach dem BAG jedenfalls dann, wenn die Regelungsabrede für einen längeren Zeitraum eine mitbestimmungspflichtige Angelegenheit i.S.v. § 87 Abs. 1 BetrVG regelt. Dann müsse sich jede Partei wie bei jedem anderen Dauerschuldverhältnis durch Kündigung von dem schuldrechtlichen Vertrag lösen können3. 2. Nachwirkung Fraglich ist, ob Regelungsabreden im Falle der Kündigung analog § 77 Abs. 6 BetrVG 120 Nachwirkung entfalten. Dies ist in der Literatur umstritten4. Das BAG hat in dem Beschluss vom 23.6.19925 eine analoge Anwendung des § 77 Abs. 6 BetrVG für eine Angelegenheit der zwingenden Mitbestimmung gemäß § 87 BetrVG bejaht. Das BAG hat ausgeführt, dass eine Regelungsabrede ebenso wie Betriebsvereinbarungen Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats gestalten und verbrauchen kann. In den mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten habe die Regelungsabrede daher für das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat die gleiche Rechtswirkung wie eine Betriebsvereinbarung. Aus diesem Grund rechtfertige sich die insoweit analoge Anwendung des § 77 Abs. 6 BetrVG6. Führt man diesen Gedanken sowie die BAG-Rechtsprechung zur Nachwirkung teilmitbestimmter Betriebsvereinbarungen weiter, so ist eine Nachwirkung bei freiwilligen Regelungsabreden analog § 77 Abs. 6 BetrVG zu bejahen, soweit sie teilmitbestimmt sind und der Arbeitgeber eine einseitige Änderung in der teilmitbestimmten Angelegenheit vornehmen will7.
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ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 144. BAG v. 10.3.1992 – 1 ABR 31/91, NZA 1992, 952. BAG v. 10.3.1992 – 1 ABR 31/91, NZA 1992, 952. Befürwortend ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 148; ablehnend: Richardi/Richardi, § 77 BetrVG Rz. 234. 5 BAG v. 23.6.1992 – 1 ABR 53/91, NZA 1992, 1098. 6 BAG v. 23.6.1992 – 1 ABR 53/91, NZA 1992, 1098. 7 ErfK/Kania, § 77 BetrVG Rz. 149.
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Teil 13 Rz. 121
Betriebliche Beschftigungsbndnisse
3. Rechtsfolgen für die Arbeitnehmer a) Rechtsfolgen bei Nachwirkung der Regelungsabrede 121 Das BAG hat in dem Beschluss vom 23.6.19921 zu Recht darauf hingewiesen, dass mangels normativer Wirkung der Regelungsabrede eine Nachwirkung im Sinne einer unmittelbaren Nachwirkung auf die einzelnen Arbeitsverhältnisse ausgeschlossen ist. Eine Nachwirkung bei Regelungsabreden bezieht sich daher unmittelbar nur auf Arbeitgeber und Betriebsrat. Diese sind im Nachwirkungszeitraum schuldrechtlich verpflichtet, sich weiterhin gemäß der Regelungsabrede zu verhalten. Das wirkt sich mittelbar auf die Arbeitsverhältnisse aus. Bei ordnungsgemäßem Verhalten wird der Arbeitgeber die Regelungsabrede im Nachwirkungszeitraum für die einzelnen Arbeitsverhältnisse weiterhin zur Anwendung bringen.
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Hinweis für die Beratungspraxis: Wenn der anwaltliche Berater an der Umsetzung des betrieblichen Bündnisses nicht beteiligt war und erst später das Mandat erhält, stellt sich oftmals die Frage, welche Rechtsnatur ein betriebliches Bündnis überhaupt hat. Oftmals werden betriebliche Bündnisse nicht ausdrücklich als „Regelungsabrede“ oder „Betriebsvereinbarung“ bezeichnet, sondern mit aussagekräftigen Arbeitstiteln bzw. „Zukunftsvertrag“, „Standortsicherungsvereinbarung“ oder „Beschäftigungsbündnis“. Der genaue Rechtscharakter der Vereinbarung kommt in der Bezeichnung teilweise nicht zum Ausdruck. Ob eine Regelungsabrede oder eine Betriebsvereinbarung geschlossen wurde, ist in diesen Fällen durch Auslegung zu ermitteln. Dabei gelten die für Betriebsvereinbarung geltenden Grundsätze, also diejenigen, die für die Auslegung von TVen zur Anwendung kommen. Es kommt darauf an, ob die Regelung nach ihrem Inhalt unmittelbar und zwingend wirken soll. Die Regelungsabrede selbst ist aber als schuldrechtliche Vereinbarung nicht nach den Grundsätzen der Gesetzesauslegung, sondern nach §§ 133, 157 BGB auszulegen.
b) Rechtsfolgen bei fehlender Nachwirkung der Regelungsabrede 122 Fraglich sind die Rechtsfolgen bei fehlender Nachwirkung eines betrieblichen Regelungswerks. Da Regelungsabreden der einzelvertraglichen Umsetzung bedürfen, um Wirksamkeit für das Arbeitsverhältnis zu entfalten, ist rechtlich der Inhalt der einzelvertraglichen Vereinbarung zur Umsetzung des betrieblichen Bündnisses maßgeblich (Zustimmungserklärung). Es ist ggf. durch Auslegung zu ermitteln, wie lange die Regelungen des Beschäftigungsbündnisses für das Arbeitsverhältnis Wirksamkeit behalten sollen. Im Falle sog. Innovationsbündnisse, die die Arbeitsbedingungen meist dauerhaft abweichend von den FlächenTVen gestalten, werden die vereinbarten Regelungen in der Regel unabhängig vom Fortbestand der Regelungsabrede in die jeweiligen Arbeitsverträge übernommen. Die arbeitsvertraglichen Regelungen gelten in diesem Fall weiter, bis sie nach den allgemeinen Grundsätzen, insbesondere einvernehmliche Änderung bzw. Änderungskündigung, abgelöst werden.
1 BAG v. 23.6.1992 – 1 ABR 53/91, NZA 1992, 1098.
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Fallbeispiel aus der Praxis: Zukunftsvertrag bei Automobilzulieferer
Rz. 123 Teil 13
J. Fallbeispiel aus der Praxis: Zukunftsvertrag bei Automobilzulieferer Folgendes Fallbeispiel verdeutlicht eine typische Ausgangssituation und erfolgreiche Umsetzung eines Krisenbündnisses zur Abwendung einer Verlagerung von Arbeitsplätzen in das Ausland: Ausgangssituation Die F-GmbH ist ein Unternehmen der Automobilzulieferindustrie. Sie ist Mitglied im Metall-Arbeitgeberverband und wendet die TVe der bayerischen Metall- und Elektroindustrie an. Die F-GmbH beschäftigt an ihrem Sitz in Süddeutschland ca. 2500 Mitarbeiter. Sie unterliegt einem weltweiten Standortwettbewerb. Der deutsche Standort ist unter anderem aufgrund zu hoher Personalkosten nicht wettbewerbsfähig. Es droht der Abbau von ca. 500 Arbeitsplätzen. Geschäftsleitung und Betriebsrat wollen einen neuen Auftrag, der die 500 Arbeitsplätze sichern würde, an den deutschen Standort holen. Vorbereitung des betrieblichen Bündnisses Geschäftsleitung und Betriebsrat sind der Auffassung, dass man die erforderlichen Einsparungen im Wege eines betrieblichen Bündnisses erreichen könnte. Verhandlungen mit der zuständigen Gewerkschaft erscheinen aus unterschiedlichen Gründen nicht erfolgversprechend. Da bei fortbestehender Tarifbindung nur aufgrund der tarifrechtlichen Sperrwirkung nur wenig Spielraum für ein betriebliches Bündnis besteht, wechselt die F-GmbH kurzfristig zur OT-Mitgliedschaft. Umsetzung des betrieblichen Bündnisses Nach dem Wechsel zur OT-Mitgliedschaft schließt die Geschäftsleitung einen „Zukunftssicherungsvertrag“ mit dem Betriebsrat ab, in dem unter anderem eine befristete Erhöhung der Wochenarbeitszeit gegen Zusage eines Kündigungsverbots vereinbart werden. Die Mitarbeiter werden gemeinsam von Geschäftsleitung und Betriebsrat in mehreren Veranstaltungen ausführlich über die Hintergründe und das Ziel des Zukunftsvertrags informiert und aufgefordert, innerhalb einer Frist ihre Zustimmung zum Zukunftsvertrag zu erklären. Das Zustandekommen des Zukunftsvertrags ist an eine Zustimmungsquote von 95 % geknüpft. Zustandekommen des betrieblichen Beschäftigungsbündnisses Bei Fristablauf haben fast 100 % der Mitarbeiter dem Zukunftsvertrag einzelvertraglich zugestimmt, die Zustimmungsquote wird erreicht. Damit können die Kostenziele am Standort erreicht werden. Die Fertigung des Auftrags erfolgt am deutschen Standort. 500 Arbeitsplätze konnten gesichert werden.
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Teil 14 Gewillkürter Tarifverlust Rz.
Rz. A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
B. Verbandsaustritt . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
I. Rechtsfolgen für bereits beschäftigte Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . . . 1. Tarifgeltung nach dem TVG. . . . . . . . a) Einhaltung der Kündigungsfristen des Verbandes/Tarifvertrages aa) Verbandstarifvertrag. . . . . . . . . bb) Haustarifvertrag . . . . . . . . . . . . b) Nachbindung nach Austritt. . . . . . c) Nachwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Rechtsfolgen bei Gewerkschaftsaustritt des Arbeitnehmers . . . . . . e) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Tarifgeltung aufgrund individualrechtlicher Bezugnahmeklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Statische Bezugnahmeklausel und kleine dynamische Bezugnahmeklausel ohne Gleichstellungscharakter . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kleine dynamische Bezugnahmeklausel als Gleichstellungsabrede und große dynamische Bezugnahmeklausel . . . . . . . . . . . . II. Rechtsfolgen für Neueintritte . . . . . .
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III. Zwang zur Anwendung von betrieblichen Entgeltschemata trotz fehlender anderweitiger Tarifbindung . .
30
IV. Auswirkungen des Abschlusses neuer Tarifverträge nach dem Verbandsaustritt . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
C. Verbandswechsel . . . . . . . . . . . . . . . . .
35
I. Rechtsfolgen für bereits beschäftigte Arbeitnehmer 1. Tarifgeltung nach dem TVG. . . . . . . . a) Tarifgeltung bei Tarifvertragsabschluss mit gleicher Gewerkschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Tarifgeltung bei Tarifvertragsabschluss mit anderer Gewerkschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sonderfall: Blitzwechsel in OT-Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . .
2. Tarifgeltung aufgrund geltender Bezugnahmeklauseln . . . . . . . . . . . . . a) Situation bei Bestehen eines Tarifvertrages mit der „alten“ Gewerkschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Statische Bezugnahmeklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kleine dynamische Bezugnahmeklausel als Gleichstellungsabrede . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Kleine dynamische Bezugnahmeklausel als konstitutiv-dynamisch wirkende Verweisung . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Große dynamische Bezugnahmeklausel . . . . . . . . . . . . . . b) Situation bei Bestehen eines Tarifvertrages mit einer „neuen“ Gewerkschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Statische Bezugnahmeklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kleine dynamische Bezugnahmeklausel als Gleichstellungsabrede . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Kleine dynamische Bezugnahmeklausel als konstitutiv-dynamisch wirkende Verweisung . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Große dynamische Bezugnahmeklausel . . . . . . . . . . . . . .
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II. Rechtsfolgen für Neueintritte . . . . . . 1. Tarifgeltung bei Tarifvertragsabschluss mit gleicher Gewerkschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Tarifgeltung bei Tarifvertragsabschluss mit anderer Gewerkschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Tarifgeltung qua Bezugnahmeklausel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Zwang zur Anwendung von tariflichen Entgeltschemata für bereits beschäftigte und neu eingestellte Arbeitnehmer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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D. Herstellung einer mehrfachen Tarifbindung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Doppelmitgliedschaft von Arbeitnehmer oder Arbeitgeber . . . . . . . . . .
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Sittard
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Teil 14
Gewillkrter Tarifverlust Rz.
Rz. II. Abschluss eines Haustarifvertrages neben einem bestehenden Verbandstarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . .
68
III. Tarifkollision mit allgemeinverbindlich erklärtem Tarifvertrag/ AEntG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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E. Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eines Tarifvertrages . . .
74
I. Rechtsfolgen für bereits beschäftigte Arbeitnehmer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
II. Rechtsfolgen für Neueintritte . . . . . .
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G. Auswirkungen einer Unternehmensumstrukturierung auf die Geltung eines Tarifvertrages . . . . . . .
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H. Übersicht über die Tarifgeltung . . . . .
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I. „Tarifwechsel“ durch Einsatz von Zeitarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Leiharbeit als Instrument zur Einführung eines neuen/zusätzlichen Tarifregimes . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Einsatz von konzerninternen Personalservicegesellschaften . . . . . .
86
F. § 4a TVG als Instrument für einen Tarifwechsel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78a Literatur: Annuß, Tarifbindung durch arbeitsvertragliche Bezugnahme?, ZfA 2005, 405; Bauer, Referentenentwurf eines Tarifeinheitsgesetzes, DB 2014, 2715; Bauer/Günther, Änderung der betrieblichen Lohnstruktur – rechtliche und personalpolitische Probleme, DB 2009, 620; Bauer/ Haußmann, Blitzaustritt und Blitzwechsel: Wirksam, aber ohne Wirkung? Die kurzfristige Beendigung oder Änderung der Verbandsmitgliedschaft von Arbeitgebern und ihre Folgen für die Tarifbindung, RdA 2009, 99; Bayreuther, Bezugnahmeklauseln und Tarifpluralität am Beispiel der Tarifmehrheit in Kliniken und Krankenhäusern, NZA 2009, 935; Bayreuther, Generelle Verpflichtung zur Aufnahme von Bezugnahmeklauseln durch betriebliche Mitbestimmung bei nachwirkenden (transformierten) Tarifverträgen?, BB 2010, 2177; Bayreuther, Funktionsfähigkeit eines Tarifeinheitsgesetzes in der arbeitsrechtlichen Praxis?, NZA 2014, 1395; Beauregard, Das neue Gesetz zur Tarifeinheit, DB 2015, 1527; Bepler, Tarifeinheit im Betrieb – Eine Skizze der bisherigen Rechtsprechung, NZA-Beilage zu Heft 3/2010, 99; Bepler, Tarifvertragliche Vergütungssysteme als Grundsätze der betrieblichen Lohngestaltung – Ansprüche ohne Anspruchsgrundlage?, in: Festschrift für Bauer, 2010, S. 161; Braun, Spezialitätsgrundsatz im Nachwirkungszeitraum, ArbRB 2007, 76; Caspers, Teilnachwirkung des Tarifvertrages durch § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG – zur Ablösung tariflicher Vergütungssysteme, in: Festschrift für Löwisch, 2007, S. 45; Etzel, Die Entwicklung des Arbeitsrechts im Jahre 1990, NJW 1991, 3191; Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, 2012; Gaul/Naumann, Gestaltungsrisiken bei der arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf Tarifverträge, DB 2007, 2594; Giesen, Beitragsrechtliche Folgen des CGZP-Beschlusses des Bundesarbeitsgerichts, in: Brand/Lembke (Hrsg.), Der CGZP-Beschluss des Bundesarbeitsgerichts, 2012, S. 113; Greiner, Das Tarifeinheitsgesetz, NZA 2015, 769; Henssler, Schuldrechtliche Tarifgeltung bei Verbandsaustritt, Verbandswechsel und Unternehmensumstrukturierung, in: Festschrift für Wißmann, 2005, S. 133; Hohenstatt, Problematische Ordnungsvorstellung des BAG im Tarifrecht – Tarifpluralität und Tarifeinheit, DB 1992, 1678; Hohenstatt/Schuster, Auswirkungen des Tarifeinheitsgesetzes auf Umstrukturierungen, ZIP 2016, 5; Hromadka/Maschmann/Wallner, Der Tarifwechsel, 1996; Jacobs, Tarifpluralität statt Tarifeinheit – Aufgeschoben ist nicht aufgehoben!, NZA 2008, 325; Jacobs, Entgeltmitbestimmung beim nicht (mehr) tarifgebundenen Arbeitgeber, in: Festschrift für Säcker, 2011, S. 201; Jordan/Bissels, Gilt „der jeweils anwendbare Tarifvertrag in der jeweils gültigen Fassung“ noch? Wirksamkeit von großen dynamischen Bezugnahmeklauseln, NZA 2010, 71; Kania, Die arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge bei Veränderung der tariflichen Strukturen im Betrieb, NZA-Beilage 3/2000, 45; Konzen/Schliemann, Der Regierungsentwurf zum Tarifeinheitsgesetz, RdA 2015, 1; Kreft, Tarifliche Vergütungsordnung und betriebliche Entlohnungsgrundsätze, in: Festschrift für Kreutz, 2010, S. 263; Lambrich, Weitergeltung und Ablösung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang, in: Festschrift für Ehmann, 2005, S. 169; Lembke, Der CGZP-Beschluss des BAG vom 14.12.2010 und seine Folgen, NZA-Beilage 2012, 66; Löwisch/ Rieble, Tarifrechtliche und arbeitskampfrechtliche Fragen des Übergangs vom Haustarif zum Verbandstarif, in: Festschrift für Schaub, 1998, S. 457; Müller-Bonanni/Mehrens, Auswirkungen
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Einfhrung
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Teil 14
von Umstrukturierungen auf die Tarifsituation, ZIP 2012, 1217; Oetker, Die Beendigung der Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband als tarifliche Vorfrage, ZfA 1998, 41; Otto, Arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln und Änderungen der Tarifgeltung, 2006; Plagemann/Brand, Sozialversicherungsbeiträge für nicht erfüllte „equal pay“-Ansprüche? – Sozialrechtliche Folgen der CGZP-Entscheidung des BAG, NJW 2011, 1488; Preis, Der Preis der Koalitionsfreiheit – Weshalb das Tarifeinheitsgesetz scheitern wird, FA 2014, 254; Preis/Greiner, Vertragsgestaltung bei Bezugnahmeklauseln nach der Rechtsprechungsänderung des BAG, NZA 2007, 1073; Reichold, Notwendige Mitbestimmung als neue „Anspruchsgrundlage“, in: Festschrift für Konzen, 2006, S. 763; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb – Der Schutz von Vertrags- und Wettbewerbsfreiheit im Arbeitsrecht, 1996; Salamon, § 87 BetrVG als Geltungsgrund tariflicher Vergütungsordnungen für Außenseiter?, NZA 2012, 899; Schliemann, Tarifkollision – Ansätze zur Vermeidung und Auflösung, NZA-Beilage zu Heft 24/2000, 24; Schliemann, Fragen zum Tarifeinheitsgesetz, NZA 2014, 1250; Schüren, Auswirkungen zur CGZP-Entscheidung des BAG vom 14.12.2010 und ihrer Bindungswirkung – „Rückwärts, rückwärts, Don Rodrigo!“, RdA 2011, 368; Seel, Ende der Tarifeinheit – Was ist aus Arbeitgebersicht zu tun?, öAT 2010, 82; Sittard, Voraussetzungen und Wirkungen der Tarifnormerstreckung nach § 5 TVG und dem AEntG, 2010; Sittard/Ulbrich, Zur Rechtsprechungsänderung bei der Auslegung von Bezugnahmeklauseln – zugleich Besprechung des Urteils vom 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, ZTR 2006, 458; Stang/Ulber, Keine neue Mogelpackung! – Anforderungen an eine gesetzliche Neuregelung der Leiharbeit, NZA 2015, 910; Thüsing, Statische Rechtsprechung zur dynamischen Bezugnahme, NZA 2003, 1184; Waltermann, Die betriebliche Übung, RdA 2006, 257; Wiedemann, Der nicht organisierte Arbeitnehmer im kollektiven Arbeitsrecht, RdA 2007, 65; E.M. Willemsen, Die arbeitsvertragliche Bezugnahme auf den Tarifvertrag bei Tarifwechsel, 2009; H.J. Willemsen/Mehrens, Die Rechtsprechung des BAG zum „Blitzaustritt“ und ihre Auswirkungen auf die Praxis, NJW 2009, 1916; H.J. Willemsen/Mehrens, Die Friedenspflicht im Zeitraum der Nachbindung, NZA 2009, 169; Zundel, Wirksamkeit arbeitsvertraglicher Klauseln insbesondere unter dem Aspekt der AGBKontrolle, NJW 2006, 1237.
A. Einführung Unter einem „gewillkürten Tarifwechsel“ wird regelmäßig ein vom Arbeitgeber be- 1 wusst herbeigeführter Wechsel von einem Tarifregime in ein anderes und ggf. auch das komplette Abstreifen der Tarifbindung verstanden. Dabei müssen aus Sicht der Praxis mehrere Ebenen auseinandergehalten werden: In einem ersten Schritt ist zu prüfen, welche Auswirkungen eine tarifrechtliche Änderung auf (a) die bestehenden (bereits tarifgebundenen) Arbeitsverhältnisse und (b) auf Neueintritte nach Vollzug des Tarifwechsels hat. In einem zweiten Schritt ist dann zu untersuchen, ob die tarifrechtlichen Konsequenzen tatsächlich die gewünschte Rechtsfolge, also z.B. die Absenkung der Vergütung, erreichen. Dem können im Einzelfall das Betriebsverfassungsrecht, insbesondere das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG, und vor allem Bezugnahmeklauseln in den Arbeitsverträgen der bereits beschäftigten Arbeitnehmer entgegenstehen. Der im Rahmen des Tarifeinheitsgesetzes eingeführte § 4a TVG hat auch im Bereich 1a des gewillkürten Tarifwechsels gewisse Bedeutung. Da Tarifpluralitäten im Betrieb hiernach anhand des Mehrheitsprinzips aufgelöst werden, kann eine Verdrängung von Tarifnormen einer zweiten Gewerkschaft im Betrieb erreicht werden. Überschneiden sich nämlich die Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher TVe von unterschiedlichen Gewerkschaften innerhalb eines Betriebes, so setzt sich nach § 4a Abs. 2 TVG derjenige durch, der von der Gewerkschaft mit mehr Mitgliedern im Betrieb abgeschlossen wurde. Die Minderheitsgewerkschaft kann in diesem Fall durch ein sog. Nachzeichnungsrecht gem. § 4a Abs. 4 Satz 1 TVG die Tarifbindung der in ihr organiSittard
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sierten Arbeitnehmer herbeiführen. Wenn im Rahmen der folgenden Ausführungen eine Kollision von TVen in Rede steht, so wird stets die Rechtslage bei Anwendung des § 4a TVG erörtert. Dass die Gewerkschaften etwa durch den Abschluss inhaltsgleicher TVe oder die Abgrenzung ihrer Zuständigkeiten die Anwendung des § 4a TVG verhindern können, darf in der Praxis aber nicht außer Acht gelassen werden. Schließlich gilt die neue Regelung zur Tarifeinheit gem. § 13 Abs. 3 TVG nur für TVe die nach dem 10. Juli 2015 abgeschlossen wurden. Auch insofern wird im Folgenden von der Anwendung der Vorschrift ausgegangen, wobei auch Hinweise auf die alte Rechtslage erhalten bleiben. 2 Ein „gewillkürter Tarifwechsel“ aus Arbeitnehmersicht ist hingegen – wenn auch nicht ausgeschlossen – so doch deutlich weniger praxisrelevant. Am ehesten vorstellbar ist ein Wechsel des Arbeitnehmers in eine andere Gewerkschaft im tarifpluralen Betrieb, weil der Arbeitnehmer sich damit ggf. unmittelbar die Tarifbedingungen der neuen Gewerkschaft sichern kann (bei sofortiger Herstellung kongruenter Tarifbindung). Dies gilt jedoch nicht im Anwendungsbereich des § 4a TVG, denn insofern bleibt der Wechsel des Arbeitnehmers in eine andere Gewerkschaft grundsätzlich tarifrechtlich folgenlos. Es findet derjenige TV im Betrieb Anwendung, der von der Gewerkschaft abgeschlossen wurde, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des kollidierenden TVs im Betrieb die meisten Mitglieder hat. Eine spätere Veränderung der Mitgliedschaft bleibt damit zumindest vorläufig unerheblich. Zu einer Tarifgeltung kommt es aber, wenn der Arbeitnehmer, dessen TV bislang nach § 4a Abs. 2 TVG verdrängt wurde, der Mehrheitsgewerkschaft beitritt. Unabhängig davon kann die Minderheitsgewerkschaft, wenn ihr TV nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG verdrängt wurde, auch von ihrem Nachzeichnungsrecht gem. § 4a Abs. 4 Satz 1 TVG Gebrauch machen, um eine Tarifbindung der in ihr organisierten Arbeitnehmer herbeizuführen. Der reine Austritt des Arbeitnehmers aus der Gewerkschaft hat in der Praxis regelmäßig keine Auswirkungen, weil der Arbeitgeber von diesem häufig gar keine Kenntnis erhält und der Arbeitnehmer daher faktisch weiterhin an der Tarifentwicklung partizipiert – und sei es über Bezugnahmeklauseln. 3 Nachfolgend werden die wichtigsten Konstellationen tarifrechtlich möglicher gewillkürter Tarifwechsel aufgezeigt und die wesentlichen Problemfelder dargestellt. Dabei wird hinsichtlich der allgemeinen tarifrechtlichen Auswirkungen weitgehend auf die allgemeinen Kapitel verwiesen und der Schwerpunkt auf die praktischen Probleme gelegt. 4 Darüber hinaus werden unter Rz. 81 ff. die tarifrechtlichen Implikationen des Einsatzes von Leiharbeit erörtert.
B. Verbandsaustritt 5 Ausgangspunkt eines gewillkürten Tarifwechsels ist im Regelfall der Austritt eines Arbeitgebers aus dem Arbeitgeberverband. Der Austritt aus dem Arbeitgeberverband wird für den zuvor tarifgebundenen Arbeitgeber von Henssler treffend auch als „Marathonlauf mit Hindernissen“1 bezeichnet. Denn bekanntermaßen führt die Kund1 Henssler, FS Wißmann, S. 133.
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Gewillkrter Tarifverlust
sierten Arbeitnehmer herbeiführen. Wenn im Rahmen der folgenden Ausführungen eine Kollision von TVen in Rede steht, so wird stets die Rechtslage bei Anwendung des § 4a TVG erörtert. Dass die Gewerkschaften etwa durch den Abschluss inhaltsgleicher TVe oder die Abgrenzung ihrer Zuständigkeiten die Anwendung des § 4a TVG verhindern können, darf in der Praxis aber nicht außer Acht gelassen werden. Schließlich gilt die neue Regelung zur Tarifeinheit gem. § 13 Abs. 3 TVG nur für TVe die nach dem 10. Juli 2015 abgeschlossen wurden. Auch insofern wird im Folgenden von der Anwendung der Vorschrift ausgegangen, wobei auch Hinweise auf die alte Rechtslage erhalten bleiben. 2 Ein „gewillkürter Tarifwechsel“ aus Arbeitnehmersicht ist hingegen – wenn auch nicht ausgeschlossen – so doch deutlich weniger praxisrelevant. Am ehesten vorstellbar ist ein Wechsel des Arbeitnehmers in eine andere Gewerkschaft im tarifpluralen Betrieb, weil der Arbeitnehmer sich damit ggf. unmittelbar die Tarifbedingungen der neuen Gewerkschaft sichern kann (bei sofortiger Herstellung kongruenter Tarifbindung). Dies gilt jedoch nicht im Anwendungsbereich des § 4a TVG, denn insofern bleibt der Wechsel des Arbeitnehmers in eine andere Gewerkschaft grundsätzlich tarifrechtlich folgenlos. Es findet derjenige TV im Betrieb Anwendung, der von der Gewerkschaft abgeschlossen wurde, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des kollidierenden TVs im Betrieb die meisten Mitglieder hat. Eine spätere Veränderung der Mitgliedschaft bleibt damit zumindest vorläufig unerheblich. Zu einer Tarifgeltung kommt es aber, wenn der Arbeitnehmer, dessen TV bislang nach § 4a Abs. 2 TVG verdrängt wurde, der Mehrheitsgewerkschaft beitritt. Unabhängig davon kann die Minderheitsgewerkschaft, wenn ihr TV nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG verdrängt wurde, auch von ihrem Nachzeichnungsrecht gem. § 4a Abs. 4 Satz 1 TVG Gebrauch machen, um eine Tarifbindung der in ihr organisierten Arbeitnehmer herbeizuführen. Der reine Austritt des Arbeitnehmers aus der Gewerkschaft hat in der Praxis regelmäßig keine Auswirkungen, weil der Arbeitgeber von diesem häufig gar keine Kenntnis erhält und der Arbeitnehmer daher faktisch weiterhin an der Tarifentwicklung partizipiert – und sei es über Bezugnahmeklauseln. 3 Nachfolgend werden die wichtigsten Konstellationen tarifrechtlich möglicher gewillkürter Tarifwechsel aufgezeigt und die wesentlichen Problemfelder dargestellt. Dabei wird hinsichtlich der allgemeinen tarifrechtlichen Auswirkungen weitgehend auf die allgemeinen Kapitel verwiesen und der Schwerpunkt auf die praktischen Probleme gelegt. 4 Darüber hinaus werden unter Rz. 81 ff. die tarifrechtlichen Implikationen des Einsatzes von Leiharbeit erörtert.
B. Verbandsaustritt 5 Ausgangspunkt eines gewillkürten Tarifwechsels ist im Regelfall der Austritt eines Arbeitgebers aus dem Arbeitgeberverband. Der Austritt aus dem Arbeitgeberverband wird für den zuvor tarifgebundenen Arbeitgeber von Henssler treffend auch als „Marathonlauf mit Hindernissen“1 bezeichnet. Denn bekanntermaßen führt die Kund1 Henssler, FS Wißmann, S. 133.
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Verbandsaustritt
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gabe der Entscheidung eines Arbeitgebers, nicht mehr länger an einen TV gebunden sein zu wollen und deshalb den zuvor zugehörigen Arbeitgeberverband zu verlassen – wie auch die Entscheidung, einen bestehenden HausTV zu kündigen –, in der Regel nicht unmittelbar zum Abstreifen der Tarifwirkung. Dafür sorgen zum einen die in den jeweiligen Satzungen der Verbände vorgesehenen Austrittsfristen, die zum Teil einen Zeitraum von sechs Monaten zum Jahresende vorsehen1, und zum anderen die Vorgaben des TVG zur Nachbindung (§ 3 Abs. 3 TVG) und Nachwirkung (§ 4 Abs. 5 TVG) von TVen. Ein weiteres Hindernis auf dem Weg in die Tariflosigkeit können in den Arbeitsverträgen befindliche Bezugnahmeklauseln auf Tarifwerke darstellen.
I. Rechtsfolgen für bereits beschäftigte Arbeitnehmer Wenn ein gewillkürter Tarifwechsel geplant wird, so ist zunächst für die bereits be- 6 schäftigten Arbeitnehmer zu prüfen, welche Rechtsfolgen die geplanten tarifrechtlichen Maßnahmen entfalten werden. 1. Tarifgeltung nach dem TVG Gemäß § 3 Abs. 1 TVG sind nur die Mitglieder der tarifvertragsschließenden TV-Par- 7 teien an diesen gebunden. Die dem Arbeitgeber zustehende Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) berechtigt ihn dazu, die Mitgliedschaft jederzeit im Rahmen des durch den Verband ausgestalteten Kündigungsrechts zu beenden. a) Einhaltung der Kündigungsfristen des Verbandes/Tarifvertrages aa) Verbandstarifvertrag Ist der Arbeitgeber an VerbandsTVe gebunden, so muss er zunächst seine Mitglied- 8 schaft im Arbeitgeberverband kündigen. Hierbei muss er – da kaum mal ein außerordentlicher Kündigungsgrund vorliegen wird und auch der „drohende Abschluss“ eines ungünstigen TVs regelmäßig keinen außerordentlichen Kündigungsgrund begründet – die in der Verbandssatzung festgelegte Kündigungsfrist wahren. In der Praxis sind Kündigungsfristen von sechs Monaten sehr geläufig, wobei häufig feste Kündigungstermine vorgesehen sind (z.B. zum Ende des Geschäftsjahres des Verbandes). Allerdings sind die Arbeitgeberverbände bei der Regelung der Kündigungsfrist nicht völlig frei. In der bisherigen Rechtsprechung zum Satzungsrecht der Koalitionen wird vor dem Hintergrund der negativen Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) von einer maximal zulässigen Länge der Kündigungsfristen beim Arbeitgeberverband von sechs Monaten bis zu einem Jahr ausgegangen2. Im Jahr 2014 hat der BGH erstmals ausdrücklich über die verfassungsrechtlichen Grenzen der Kündigungsfrist in der Satzung eines Arbeitgeberverbandes entschieden und eine Frist von sechs Monaten als verfassungskonform angesehen3. Längere Kündigungsfristen sollen demnach unmittelbar gemäß Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG nichtig sein4. Rechtsfolge ist nach 1 2 3 4
BAG v. 1.12.2004 – 4 AZR 55/04, NZA 2005, 645; Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 115. S. MünchKomm/Arnold, § 39 BGB Rz. 8 m.w.N. sowie Oetker, ZfA 1998, 41 (59 ff.). BGH v. 29.7.2014 – II ZR 243/13, NJW 2014, 3239 (3241). BGH v. 4.7.1977 – II ZR 30/76, AP Nr. 25 zu Art. 9 GG; BGH v. 22.9.1980 – II ZR 34/80, AP Nr. 33 zu Art. 9 GG (jeweils zu Gewerkschaften); BAG v. 19.9.2006 – 1 ABR 2/06, NZA 2007, 277 ff.
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h.M.1 allerdings nicht der Wegfall jeglicher Kündigungsfrist, sondern die Reduzierung der Kündigungsfrist auf eine zulässige Länge, wohl also maximal ein halbes Jahr. 9 Eine gegebenenfalls raschere Beendigung der Tarifbindung kann im Einzelfall und unter strengen Voraussetzungen durch eine besondere Form des Verbandsaustritts, den so genannten Blitzaustritt des Arbeitgebers aus dem Arbeitgeberverband, erreicht werden. Darunter wird das kurzfristige oder gar fristlose Ausscheiden eines Arbeitgebers aus der Arbeitgebervereinigung (häufig im Vorfeld zu einem TV-Abschluss) durch einen Austritt mit knapper satzungsmäßiger Frist, durch eine einvernehmliche sofortige Aufhebung der Mitgliedschaft zwischen Arbeitgeber und Verband oder durch einen fristlosen Wechsel in die OT-Mitgliedschaft (zum Begriff Teil 2 Rz. 148 ff.) verstanden2 (wobei letztere Methode auch als Blitzwechsel bezeichnet wird, vgl. Rz. 44). Ein Blitzaustritt kann im Ergebnis eine erhebliche Verkürzung des zum Wegfall der Tarifgebundenheit führenden Prozesses bedeuten, wenn auch ein solcher Blitzaustritt nicht unmittelbar in eine Tariflosigkeit mündet. Vielmehr tritt auch hier zunächst die Nachbindung des TVs nach § 3 Abs. 3 TVG ein3. Da der Blitzaustritt oftmals jedoch im Rahmen von laufenden TV-Verhandlungen erklärt wird, wenn für den Arbeitgeber absehbar ist, dass der anstehende TV-Abschluss für ihn nachteilige Folgen hat, ist der Zeitraum der Nachbindung teilweise sehr kurz. Denn unmittelbar an den Blitzaustritt und die anknüpfende Nachbindung an den zum Zeitpunkt des Austritts normativ geltenden TV schließt sich der Abschluss des NachfolgeTVs an, dessen Inkrafttreten die Nachbindung wieder beendet. Aufgrund des Blitzaustritts ist der Arbeitgeber an den NachfolgeTV jedoch nicht mehr gebunden, so dass er nach dem raschen Wegfall der Nachbindung keiner normativen Tarifgeltung mehr unterliegt. Das Entstehen eines tariflosen Zustands nach dem Blitzaustritt/dem Blitzwechsel in die OT-Mitgliedschaft wird verhindert, indem der Arbeitgeber nach § 4 Abs. 5 TVG zur Anwendung des vorher geltenden TVs – vorbehaltlich einer anderen Abmachung – verpflichtet ist4, wobei es bei einer statischen Geltung dieses „alten“ TVs verbleibt. 10
In der Praxis ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Blitzaustritt/Blitzwechsel für den Arbeitgeber auch nur dann tatsächlich ein wirksamer Schritt in die Tariffreiheit ist, wenn gewisse von der Rechtsprechung des BAG in der jüngeren Vergangenheit an den Austrittsprozess geknüpfte Anforderungen erfüllt sind. Während ein Blitzaustritt/ Blitzwechsel auf das vereinsrechtliche Mitgliedschaftsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitgeberverband in der Regel nämlich ohne Weiteres unmittelbar gestaltend einwirkt und dieses aufhebt/ändert, kann der Arbeitgeber trotz satzungsrechtlich wirksamen Austritts/Wechsels nach der – allerdings zweifelhaften – Rechtsprechung des 4. Senats des BAG dennoch weiterhin auch an den NachfolgeTV normativ – und zwar gemäß § 3 Abs. 1 TVG – gebunden sein. Dies sei der Fall, wenn der Austritt des Arbeitgebers aus dem Arbeitgeberverband bzw. dessen Wechsel in die OT-Mitgliedschaft „koalitionsrechtswidrig“ erfolge, weil dieser für die Gewerk-
1 BGH v. 29.7.2014 – II ZR 243/13, NJW 2014, 3239 (3242); ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 9; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 125. 2 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 232. 3 BAG v. 25.2.2009 – 4 AZR 986/07, AP Nr. 40 zu § 3 TVG; Bauer/Haußmann, RdA 2009, 99 (103). 4 BAG v. 25.2.2009 – 4 AZR 986/07, AP Nr. 40 zu § 3 TVG; Bauer/Haußmann, RdA 2009, 99 (103).
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Verbandsaustritt
Rz. 12
Teil 14
schaftsseite nicht transparent vollzogen wurde1. Ein vereinsrechtlich wirksamer Wechsel von der Vollmitgliedschaft in die OT-Mitgliedschaft während laufender Tarifverhandlungen kann nach der Rechtsprechung nämlich die Geschäftsgrundlage der Tarifverhandlungen und den Gleichlauf von Verantwortlichkeit und Betroffenheit der Tarifparteien stören2; was ebenso für den Fall eines Blitzaustritts gelten soll3. Es bedürfe deshalb für die tarifrechtliche Wirksamkeit eines solchen Wechsels während des Laufs von Tarifverhandlungen dessen Offenlegung gegenüber der an der Verhandlung beteiligten Gewerkschaft und dies zu einem Zeitpunkt, in dem die Gewerkschaft auf eine solche Veränderung noch im Rahmen der laufenden Tarifauseinandersetzung reagieren kann4. Zur Kritik an dieser – für die Praxis dennoch maßgeblichen – Rechtsprechung vgl. Teil 2 Rz. 174 ff. bb) Haustarifvertrag Ist der Arbeitgeber hingegen (nur) an einen HausTV gebunden, so fällt das Hindernis der Kündigungsfrist im Verband weg. Allerdings muss dann der TV als solcher gekündigt werden bzw. dessen Ablauf (bei Befristung) abgewartet werden, um zumindest in die Phase der Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG zu gelangen.
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b) Nachbindung nach Austritt Scheidet der Arbeitgeber (im Regelfall mit Ablauf der verbandlichen Kündigungsfrist) 12 aus der Arbeitgebervereinigung aus, gilt der zuvor gemäß § 3 Abs. 1 TVG geltende TV gemäß § 3 Abs. 3 TVG fort (vgl. auch Teil 6 Rz. 61 ff.). Mit dieser sog. Nachbindung des TVs gemäß § 3 Abs. 3 TVG ändert sich an der bisherigen Tarifgeltung im Grunde nichts (vgl. Teil 6 Rz. 76). Der TV gilt immer noch unmittelbar und zwingend für den aus der Arbeitgebervereinigung ausgetretenen Arbeitgeber und die von ihm beschäftigten Arbeitnehmer, soweit diese Mitglied in der tarifschließenden Gewerkschaft sind. Eine andere (für die Arbeitnehmer ungünstigere) Abmachung ist weiterhin nicht zulässig. Die Nachbindung setzt aber voraus, dass auch die übrigen Anforderungen an eine normative Tarifbindung weiterhin erfüllt sind, so dass eine normative Geltung eines TVs nach dem Verbandsaustritt ausscheidet, wenn z.B. die Tarifzuständigkeit entfallen ist oder der Arbeitgeber aus dem Geltungsbereich des TVs herauswächst5. Ein Ende der Nachbindung tritt erst dann ein, wenn der qua Nachbindung geltende TV beendet ist, insbesondere dieser durch einen neuen TV abgelöst wird6 oder der
1 BAG v. 20.2.2008 – 4 AZR 64/07, NZA 2008, 946 (949 ff.); BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (1371 ff.); BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 285/08, NZA 2010, 230 (234); kritisch diesbezüglich Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 237 ff.; Willemsen/Mehrens, NJW 2009, 1916 (1917 ff.). 2 BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (Ls.). 3 BAG v. 20.2.2008 – 4 AZR 64/07, NZA 2008, 946 (949). 4 BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 419/07, NZA 2008, 1366 (Ls.); BAG v. 19.6.2012 – 1 AZR 775/10, NZA 2012, 1372 (1375 f.). 5 BAG v. 26.9.1979 – 4 AZR 819/77, NJW 1980, 1591; BAG v. 14.6.1994 – 9 AZR 89/93, NZA 1995, 178 (179); BAG v. 9.11.1999 – 3 AZR 690/98, NZA 2000, 730 (731); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 43; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 68. 6 BAG v. 13.12.1995 – 4 AZR 603/94, NZA 1996, 767 (768); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 44; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 85.
Sittard
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Teil 14 Rz. 13
Gewillkrter Tarifverlust
nachbindende TV inhaltlich geändert wird1. Die Nachbindung wird auch durch eine teilweise Inhaltsänderung des TVs beendet, da der geänderte Teil des TVs mangels mitgliedschaftlicher Legitimation nicht mehr vom ausgestiegenen Arbeitgeber mitgetragen wird und auch der unverändert gebliebene Teil des TVs nicht als ein geschlossenes Verhandlungsergebnis betrachtet werden kann, welches eine unveränderte Fortgeltung rechtfertigen könnte2. c) Nachwirkung 13
An den Zeitraum der Nachbindung knüpft dann allerdings unter Umständen eine Nachwirkung des TVs gemäß § 4 Abs. 5 TVG an. Zweck dieser Norm ist das Verhindern von Regelungslücken nach Wegfall der Tarifgeltung gemäß § 3 TVG (vgl. Teil 9 Rz. 21 ff.). Hier gilt der zuvor normativ wirkende TV nur noch unmittelbar und kann durch eine andere Abmachung ersetzt werden (er gilt also nicht mehr zwingend). Die andere Abmachung kann dabei neben einem neuen TV bspw. auch eine Betriebsvereinbarung (soweit nach § 77 Abs. 3 bzw. § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG zulässig) oder eine arbeitsvertragliche Abrede sein. Bis zur Beseitigung des nachwirkenden TVs ist der Arbeitgeber jedoch an die Rechtsnormen des nachwirkenden TVs gebunden. d) Rechtsfolgen bei Gewerkschaftsaustritt des Arbeitnehmers
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Tritt der Arbeitnehmer aus der Gewerkschaft aus, treten auf kollektivrechtlicher Ebene dieselben Rechtsfolgen ein wie bei dem Austritt des Arbeitgebers aus dem Arbeitgeberverband. Demnach gilt der TV zunächst nach § 3 Abs. 3 TVG fort und tritt nach Beendigung des TVs dann in den Nachwirkungszeitraum ein (§ 4 Abs. 5 TVG). Man kann zwar daran zweifeln, ob die Anwendung der Arbeitnehmerschutzvorschriften des § 3 Abs. 3 TVG und des § 4 Abs. 5 TVG auch dann sinnvoll sind, wenn der Arbeitnehmer sich für den Verbandsaustritt entscheidet, da das TVG hier aber keine unterschiedliche Behandlung des Austritts von Arbeitgeber und Arbeitnehmer vorsieht, ist dieses Ergebnis hinzunehmen.
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Kommt es somit auf kollektivrechtlicher Ebene nach Abschluss der Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG zum Wegfall jeglicher kollektivrechtlicher Tarifbindung, werden in der Praxis wohl auch nach diesem kompletten Wegfall der Tarifbindung weiterhin die Regelungen des zuvor verbindlichen TVs angewendet werden, da der Arbeitgeber zumeist von dem Gewerkschaftsaustritt seines Mitarbeiters keine Kenntnis erlangt hat und deshalb – oder bewusst zum Zwecke der Gleichstellung (evtl. auch im Wege der betrieblichen Übung3) – die zuvor geltenden TVe weiterhin auf individualrecht1 BAG v. 4.4.2001 – 4 AZR 215/00, NZA 2002, 104 (106); BAG v. 27.9.2001 – 2 AZR 236/00, NZA 2002, 750 (752); BAG v. 7.11.2001 – 4 AZR 703/00, NZA 2002, 748; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 26; HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 44; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 95 ff. 2 BAG v. 7.11.2001 – 4 AZR 703/00, NZA 2002, 748 (750); ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 26; Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 117. 3 Wobei eine solche nicht in Betracht kommt, wenn der Arbeitgeber weiterhin der Auffassung ist, den TV als Kollektivregelung anzuwenden. Zur Nichtanwendbarkeit der Grundsätze der betrieblichen Übung im Fall der vermeintlichen Anwendung von Kollektivregelungen vgl. BAG v. 16.10.2002 – 4 AZR 467/01, AP Nr. 22 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 26.9.2007 – 5 AZR 808/06, NZA 2008, 179 (181); Gaul/Naumann, DB 2007, 2594 (2596); kritisch Waltermann, RdA 2006, 257 (268).
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Verbandsaustritt
Rz. 20
Teil 14
licher Ebene durch eine Bezugnahmeklausel anwendet oder ggf. zur Weiteranwendung der TVe aufgrund einer zuvor vereinbarten Bezugnahmeklausel verpflichtet ist. – Zu den Folgen eines Verbandsaustritts auf die individualrechtliche Tarifgeltung vgl. Rz. 19. e) Fazit Die Beseitigung der Tarifbindung durch den Austritt aus dem Arbeitgeberverband 16 kann somit unter Umständen einen erheblichen Zeitraum in Anspruch nehmen. Anzumerken ist noch, dass ein Verbandsaustritt keinerlei Auswirkungen auf die be- 17 stehende Tarifgebundenheit des Arbeitgebers hat, wenn der zum Zeitpunkt des Verbandsaustritts geltende TV aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklärung gemäß § 5 TVG oder aufgrund einer Geltungserstreckung durch das AEntG für das jeweilige Arbeitsverhältnis Anwendung findet (vgl. Teil 7). Für den Austritt des Arbeitnehmers aus der Gewerkschaft gelten die gleichen „Hürden“ (Wahrung der gewerkschaftlichen Kündigungsfrist, Nachbindung und Nachwirkung) wie für den Austritt des Arbeitgebers aus dem Verband. Der reine Austritt (ohne Wechsel in eine andere Gewerkschaft insbesondere im tarifpluralen Betrieb) hat aber häufig in der Praxis gar keine Auswirkungen, da der Arbeitgeber unabhängig von der Mitgliedschaft z.B. über Bezugnahmeklauseln das Tarifniveau gewährt.
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2. Tarifgeltung aufgrund individualrechtlicher Bezugnahmeklauseln Neben den Auswirkungen eines Verbandsaustritts auf kollektivrechtlicher Ebene ist 19 weiterhin zu berücksichtigen, welche Folgen eine (in der Praxis sehr häufig vorkommende) etwaige Vereinbarung von individualvertraglichen Bezugnahmeklauseln für die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers hat. Die Bezugnahme auf einen TV stellt einen eigenen Geltungsgrund der Tarifinhalte (allerdings auf individualvertraglicher Ebene) neben einer etwaigen (kollektivrechtlichen) Tarifgeltung aufgrund der Bestimmungen des TVG dar1, so dass sich die Tarifgeltung auf schuldrechtlicher Bezugnahme- und kollektivrechtlicher Ebene separat voneinander entwickeln können. Der Arbeitgeber sollte vor einem etwaigen Verbandsaustritt prüfen, ob und, wenn ja, welche Bezugnahmeklauseln in den Arbeitsverträgen mit seinen Arbeitnehmern vereinbart wurden2, da diese das Erreichen der mit einem Verbandsaustritt verfolgten Ziele gegebenenfalls verhindern können. a) Statische Bezugnahmeklausel und kleine dynamische Bezugnahmeklausel ohne Gleichstellungscharakter Wurde eine sog. statische Bezugnahmeklausel („Es gilt der Tarifvertrag der Chemie- 20 industrie in Nordrhein-Westfalen in der Fassung vom 16.4.2012“) vereinbart, ist der darin in einer bestimmten Fassung in Bezug genommene TV auch nach dem Ver1 BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, NZA 2002, 634 (637); BAG v. 27.11.2002 – 4 AZR 661/01, AP Nr. 28 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 19.3.2003 – 4 AZR 331/02, NZA 2003, 1207; Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, S. 167. 2 Zu den verschiedenen Klauselvarianten siehe oben Teil 10 Rz. 131 ff., sowie Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, S. 119 ff.
Sittard
1087
Teil 14 Rz. 20
Gewillkrter Tarifverlust
bandsaustritt weiterhin unverändert anzuwenden. In diesem Fall kann der Arbeitgeber allein durch einen Verbandsaustritt eine Geltung tariflicher Regelungen nicht abstreifen. Da die schuldrechtliche/individualvertragliche Geltung des TVs neben der kollektivrechtlichen Nachbindung/Nachwirkung des TVs nach dem Arbeitgeberverbandsaustritt besteht, erlangt das Konkurrenzverhältnis der verschiedenen Geltungsgrundlagen Bedeutung. Hinsichtlich einer statischen Bezugnahmeklausel ergeben sich hier jedoch – zumindest für den Fall, dass statisch auf den bislang kollektivrechtlich geltenden TV verwiesen wird – keine auflösungsbedürftigen Konfliktsituationen, da der nachbindende/nachwirkende TV ebenso wie der von der statischen Bezugnahmeklausel in Bezug genommene TV nur statisch wirkt und somit unterschiedliche Anordnungen auf kollektiver und individualrechtlicher Ebene nicht entstehen können1. Wird hingegen auf einen anderen als den bislang kollektivrechtlich geltenden TV statisch verwiesen, muss unterschieden werden, ob sich der TV auf kollektivrechtlicher Ebene im Bereich der Nachbindung (§ 3 Abs. 3 TVG) oder im Bereich der Nachwirkung (§ 4 Abs. 5 TVG) befindet. Gilt der TV nach § 3 Abs. 3 TVG noch unmittelbar und zwingend fort, ist eine Abweichung von ihm nur im Rahmen des Günstigkeitsprinzips (§ 4 Abs. 3 TVG) möglich, dessen Anwendung im Verhältnis zwischen Bezugnahmeklausel und normativ geltendem TV von der Rechtsprechung mittlerweile anerkannt ist2. Nicht anwendbar ist in dieser Konstellation der § 4a TVG. Zwar gelten in dieser Situation faktisch zwei TVe im Betrieb, allerdings besteht die doppelte Bindung gerade nicht in einer kollektivrechtlichen Tarifbindung gem. § 3 TVG, sondern über Bezugnahmeklauseln, was vom Gesetzeswortlaut des § 4a TVG eindeutig nicht erfasst ist3. Tritt der TV jedoch in den Bereich der Nachwirkung ein, kann die Bezugnahmeklausel im Einzelfall als andere Abmachung angesehen werden, die dann zu einer Verdrängung des TVs führt, ohne dass es eines Rückgriffs auf das Günstigkeitsprinzip bedürfte. Nach der Rechtsprechung des BAG können „andere Abmachungen“ i.S.d. § 4 Abs. 5 TVG im Grundsatz auch vor dem Eintritt der Nachwirkungsphase abgeschlossen werden4. Voraussetzung dafür, dass einer arbeitsvertraglichen Regelung der Charakter einer „anderen Abmachung“ zugesprochen werden kann, die zur Beendigung der Nachwirkung führt, obwohl sie bereits vor dem Übergang des TVs in die Nachwirkungsphase abgeschlossen wurde, ist jedoch, dass die Abrede von ihrem Regelungswillen her darauf gerichtet ist, eine bestimmte bestehende Tarifregelung in Anbetracht ihrer bevorstehenden Beendigung und des darauf folgenden Eintritts der Nachwirkung abzuändern5. Wann eine einzelvertragliche Klausel die von der Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen erfüllt und damit 1 E.M. Willemsen, Bezugnahme auf Tarifvertrag, S. 273. 2 BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364 (366); BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 308/07, AP Nr. 64 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 1023/08, NZA-RR 2011, 30 (33); Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 63; Bepler, NZA-Beil. 3/2010, 99 (102); Hohenstatt, DB 1992, 1678 (1683). 3 Zust. Greiner, NZA 2015, 769 (775); Schaub/Treber, ArbRHdb., § 203 Rz. 55; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 114a; ErfK/Franzen, § 4a TVG Rz. 5. 4 BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 789/07, NZA 2009, 265 (267); BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 230/08, NZA-RR 2010, 591 (595); BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (60); insbesondere für die Zulässigkeit einer anderen Abmachung durch eine Bezugnahmeklausel vor Eintritt der Nachwirkung BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923 (925); vgl. auch Löwisch/ Rieble, § 4 TVG Rz. 745; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 359; E.M. Willemsen, Bezugnahme auf Tarifvertrag, S. 279 ff. 5 BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 789/07, NZA 2009, 265 (267); BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 230/08, NZA-RR 2010, 591 (595); BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (60).
1088 Sittard
Verbandsaustritt
Rz. 21
Teil 14
als andere Abmachung anzusehen ist, ist im Einzelfall nicht immer leicht zu beurteilen. Unproblematisch möglich dürfte eine Vereinbarung einer bewusst statischen Verweisung in Ansehung des konkreten Austritts aus dem Arbeitgeberverband in Form einer „Besitzstandswahrungsvereinbarung“ sein. Je weiter die Vereinbarung der Bezugnahmeklausel zeitlich vor dem Austritt des Arbeitgebers liegt, desto höher dürften die Anforderungen des BAG an eine andere Abmachung im Sinne von § 4 Abs. 5 TVG sein. Hinsichtlich der Vereinbarung einer Bezugnahmeklausel nahm das BAG im Jahr 2006 noch an, dass es ausreiche, dass die individualvertragliche Vereinbarung „nach dem Willen der Arbeitsvertragsparteien zumindest auch die Nachwirkung des beendeten Tarifvertrages beseitigen soll“, wobei sich im konkreten Sachverhalt keinerlei besondere Anhaltspunkte ergaben, die auf eine explizite Äußerung dieses Willens hätten hinweisen können1. Im Hinblick auf eine vor dem Zeitraum der Nachwirkung vereinbarte Änderung der materiellen Arbeitsbedingungen, welche nicht durch die Wirkung einer vereinbarten Bezugnahmeklausel eintraten, legte das BAG jedoch in einer späteren Entscheidung einen strengeren Maßstab an und stellte klar, dass allein der Umstand, dass während der normativen Geltung eines TVs materielle Arbeitsbedingungen vereinbart werden, die wegen der schützenden Funktion des § 4 Abs. 3 TVG keine Wirkung erzeugen konnten, nicht ausreicht, um den Nachwirkungszeitraum zu beenden2. Ist eine kleine dynamische Bezugnahmeklausel („Es gilt der Tarifvertrag der Chemie- 21 industrie Nordrhein-Westfalen in der jeweils gültigen Fassung“) vereinbart worden, die nicht als Gleichstellungsabrede (zum Begriff der Gleichstellungsabrede vgl. Teil 10 Rz. 60) zu verstehen ist, gilt Folgendes: Der Arbeitgeber bleibt zur dynamischen Anwendung des in der Klausel bezeichneten TVs auf schuldrechtlicher Ebene verpflichtet. Dabei spielt es keine Rolle, ob die kleine dynamische Bezugnahmeklausel deshalb keine Gleichstellungswirkung entfaltet, weil der Gleichstellungszweck nach der Rechtsprechungsänderung des BAG3 nicht hinreichend zum Ausdruck gebracht wurde oder die kleine dynamische Bezugnahmeklausel auf einen anderen als den normativ geltenden TV verwiesen hat und deshalb eine Gleichstellung von Vornherein – auch nach alter BAG-Rechtsprechung – nicht in Betracht kam4. In beiden Fällen gilt der danach in Bezug genommene TV dynamisch fort, selbst wenn der Arbeitgeber seine normative Tarifbindung an diesen TV durch den Verbandsaustritt beseitigt hat5. Dies führt für den Zeitraum einer Nachbindung an den in Bezug genommenen TV gemäß § 3 Abs. 3 TVG und einer Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG dazu, dass sich die normative und die schuldrechtliche Geltungsanordnung abhängig von ihrem Geltungsgrund unterschied-
1 BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923 (925). 2 BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (60). 3 Siehe dazu BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NJW 2006, 2571 ff.; BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965 ff., sowie die Anmerkungen bei Löwisch/Feldmann, Anm. zu BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, EzA Nr. 32 zu § 3 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; Sittard/Ulbrich, ZTR 2006, 458. 4 BAG v. 19.1.1999 – 1 AZR 606/96, NZA 1999, 879 (882); BAG v. 1.12.2004 – 4 AZR 50/04, NZA 2005, 478 (479); BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NJW 2006, 2571 (2572); Zundel, NJW 2006, 1237 (1242). 5 BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NJW 2006, 2571 ff.; BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965 ff.; BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 793/07, NZA 2009, 323 ff.; BAG v. 23.2.2011 – 4 AZR 536/09, NZA-RR 2011, 510 (511); vgl. dazu Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, S. 240 ff.
Sittard
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Teil 14 Rz. 22
Gewillkrter Tarifverlust
lich entwickeln können. Auf tarifrechtlicher Ebene gilt der TV insbesondere in der Nachwirkung nämlich nur noch statisch, während der qua Bezugnahmeklausel auf individualrechtlicher Ebene geltende TV dynamische Geltung beansprucht und damit der neue Tarifabschluss, der aufgrund des Austritts vom Arbeitgeber tarifrechtlich nicht mehr maßgeblich und daher nicht mehr nachzuvollziehen ist, aufgrund der individualvertraglichen Bindung dennoch an die Arbeitnehmer weiterzugeben ist. In einem solchen Fall, der Kollision von kollektivrechtlich geltendem TV und qua Bezugnahmeklausel geltendem TV, stellt sich die Frage, welche Regelungen der Arbeitgeber im konkreten Einzelfall auf sein Arbeitsverhältnis anzuwenden hat. Wiederum ist zu differenzieren, ob sich der TV auf kollektivrechtlicher Ebene im Bereich der Nachbindung (§ 3 Abs. 3 TVG) oder im Bereich der Nachwirkung (§ 4 Abs. 5 TVG) befindet. Gilt der TV nach § 3 Abs. 3 TVG noch unmittelbar und zwingend fort, ist in jedem Fall anhand des Günstigkeitsprinzips zu entscheiden, ob der nachbindende oder der in Bezug genommene TV Anwendung findet. Befindet sich der kollektivrechtliche TV in der Nachwirkung, kann die Bezugnahmeklausel unter den o.g. Voraussetzungen (vgl. Rz. 20) als andere Abmachung dem kollektivrechtlichen TV vorgehen, wobei die neuere Rechtsprechung hier – wie dargestellt – strenge Voraussetzungen annimmt. Sollte die Bezugnahmeklausel die von der Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen an eine „andere Abmachung“ i.S.d. § 4 Abs. 5 TVG nicht erfüllen, besteht auch im Nachwirkungsstadium eine nach dem Günstigkeitsprinzip gemäß § 4 Abs. 3 TVG auflösungsbedürftige Kollisionslage fort. 22
Im Falle der Vereinbarung einer statischen Bezugnahmeklausel und einer kleinen dynamischen Bezugnahmeklausel ohne Gleichstellungscharakter gibt somit die Bezugnahmeklausel vor, welcher TV in welcher Fassung anzuwenden ist. Der Arbeitgeberverbandsaustritt hat für die Beurteilung der tarifrechtlichen Situation in dieser Konstellation somit faktisch kaum noch Bedeutung. Zwar spart der Arbeitgeber noch die Mitgliedschaftsbeiträge im Verband, verliert dafür aber auch jeglichen Einfluss auf den Verband und die Tarifverhandlungen und ist dennoch über die Bezugnahmeklauseln an das Verhandlungsergebnis gebunden. b) Kleine dynamische Bezugnahmeklausel als Gleichstellungsabrede und große dynamische Bezugnahmeklausel
23
Lediglich für den Fall, dass eine kleine dynamische Bezugnahmeklausel mit echtem Gleichstellungscharakter vereinbart worden ist oder eine große dynamische Bezugnahmeklausel besteht (vgl. Teil 10 Rz. 90 ff.), führen die bestehenden individualrechtlichen Vertragsklauseln zu einer Synchronisation des Arbeitsverhältnisses mit der kollektivrechtlichen Lage, so dass keine Divergenzen zwischen der Tarifgeltung nach dem TVG und qua existierender Bezugnahmeklausel bestehen1. Ist eine echte Gleichstellungsabrede vereinbart worden, richtet sich die schuldrechtliche Tarifgeltung nach der Tariflage für kollektivrechtlich gebundene Arbeitnehmer, so dass der in der
1 Für die Gleichstellungsabrede: BAG v. 14.2.1973 – 4 AZR 176/72, AP Nr. 6 zu § 4 TVG Nachwirkung; BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, AP Nr. 21 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; Lambrich, FS Ehmann, S. 169 (222); für die große dynamische Bezugnahmeklausel: BAG v. 21.2.2001 – 4 AZR 18/00, NZA 2001, 1318 (1324); BAG v. 16.10.2002 – 4 AZR 467/01, NZA 2003, 390 (391 f.); Henssler, FS Wißmann, S. 133 (138 f.); Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 330.
1090 Sittard
Verbandsaustritt
Rz. 26
Teil 14
Gleichstellungsabrede bezeichnete TV nach dem Wegfall der normativen Tarifgebundenheit – wie für die tarifgebundenen Arbeitnehmer – lediglich statisch anzuwenden ist1. Für den Fall einer großen dynamischen Bezugnahmeklausel entfällt – je nach Formu- 24 lierung der Klausel – die Geltung des TVs auf schuldrechtlicher Ebene nach dem Verbandsaustritt gänzlich oder der vor dem Verbandsaustritt geltende TV wirkt lediglich statisch2. Da eine nach typischem Vorbild formulierte große dynamische Bezugnahmeklausel einen TV unabhängig davon in Bezug nimmt, ob er nach § 3 Abs. 1 TVG „regulär“ gilt oder sich in der Nachbindungsphase nach § 3 Abs. 3 TVG oder der Nachwirkungsphase nach § 4 Abs. 5 TVG befindet, ist es im Falle eines Arbeitgeberverbandsaustritts ohne Tarifwechsel nicht möglich, dass auf kollektivrechtlicher und individualrechtlicher Ebene unterschiedliche Tarifregelungen zur Anwendung gelangen. Ist somit eine kleine dynamische Bezugnahmeklausel als Gleichstellungsabrede oder 25 aber eine große dynamische Bezugnahmeklausel vereinbart worden, kann die Beseitigung der Tarifgeltung auf kollektivrechtlicher Ebene anhand der bestehenden Bezugnahmeklausel auf die individualrechtliche Ebene durchschlagen, so dass der Arbeitgeberverbandsaustritt die Tarifgeltung des Arbeitgebers trotz bestehender individualrechtlicher Verpflichtungen zur Anwendung eines TVs maßgeblich gestalten kann.
II. Rechtsfolgen für Neueintritte Neben den Rechtsfolgen eines gewillkürten Tarifwechsels für bereits beschäftigte Ar- 26 beitnehmer darf der Arbeitgeber nicht aus dem Blick verlieren, wie sich bspw. der Verbandsaustritt auf Neueinstellungen auswirkt. Dabei ist es regelmäßig so, dass dem Arbeitgeber in Bezug auf Neueintritte deutlich größere Handlungsspielräume zustehen, weil zum einen der tarifliche Schutz für neu eintretende Arbeitnehmer im Fall des Verbandsaustritts oder -wechsels geringer ist und zum anderen die individualvertraglichen Bezugnahmeklauseln einseitig gestaltbar sind (z.B. durch Verzicht auf eine dynamische Bezugnahmeklausel etc.). Allerdings muss der dies planende Arbeitgeber berücksichtigen, dass es damit zu einer „gespaltenen Belegschaft“ in Hinblick auf die Arbeitsbedingungen kommen kann, die in der Praxis teilweise aus personalpolitischen Gründen nicht gewollt ist. So wird insbesondere die unterschiedliche Bezahlung trotz gleicher Tätigkeit in der Personalpraxis mit guten Gründen kritisch gesehen. Entgegen einem langläufigen Vorurteil ist eine solche „Spaltung“ arbeitsrechtlich aber unproblematisch möglich, denn einen Grundsatz „gleiches Geld für gleiche Arbeit“ kennt das deutsche Recht nicht.
1 BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, AP Nr. 21 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 27.11.2002 – 4 AZR 661/00, AP Nr. 28 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 396/08, NZA-RR 2010, 361 (362); Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, S. 154; Wiedemann, RdA 2007, 65. 2 Vgl. dazu BAG v. 4.8.1999 – 5 AZR 642/98, NZA 2000, 154 (155); Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, S. 309 f.; Jordan/Bissels, NZA 2010, 71 (73); Preis/Greiner, NZA 2007, 1073 (1079).
Sittard
1091
Teil 14 Rz. 27
Gewillkrter Tarifverlust
27
Hinsichtlich der Geltung eines TVs nach dem Verbandsaustritt des Arbeitgebers ist für Neueinstellungen, d.h. nach dem Verbandsaustritt neu eingestellte Arbeitnehmer, zu unterscheiden, ob sich der TV in der Nachbindungs- oder der Nachwirkungsphase befindet. Gilt der TV kraft Nachbindung gemäß § 3 Abs. 3 TVG, entfaltet er weiterhin unmittelbare und zwingende Wirkung für den aus dem Verband ausgetretenen Arbeitgeber (vgl. Teil 6 Rz. 76). Ein nach dem Verbandsaustritt begründetes Arbeitsverhältnis oder ein Arbeitsverhältnis eines Arbeitnehmers, der erst nach dem Verbandsaustritt der Gewerkschaft beitritt, fällt unter die normative Wirkung des TVs und wird – bei entsprechender gewerkschaftlicher Gebundenheit des neu eingestellten Mitarbeiters – von diesem TV erfasst1.
28
Ist der TV jedoch bereits im Nachwirkungszeitraum gemäß § 4 Abs. 5 TVG „angekommen“ und gilt er somit nur noch unmittelbar, aber nicht mehr zwingend, wird von der BAG-Rechtsprechung eine Geltung des TVs für ein Arbeitsverhältnis, welches erst im Zeitraum der Nachwirkung begründet worden ist, nicht mehr angenommen2. Der Grund für eine Nachwirkung eines TVs gemäß § 4 Abs. 5 TVG bestehe in einer Überbrückungsfunktion, die eine Inhaltsleere des Arbeitsverhältnisses nach Wegfall der Tarifbindung verhindern soll3. In einem neu begründeten Arbeitsverhältnis kann eine solche Regelungslücke durch einen möglichen Wegfall einer Tarifbindung jedoch erst gar nicht entstehen, da das Arbeitsverhältnis noch nie von einem normativ wirkenden TV erfasst wurde. Eine Geltungserstreckung eines TVs auf ein neu begründetes Arbeitsverhältnis gemäß § 4 Abs. 5 TVG wird – entgegen anders lautender Stimmen in der Literatur4 – daher von der Rechtsprechung abgelehnt5.
29
Im Rahmen der Neueinstellung ist der Arbeitgeber frei in der Entscheidung, ob, und wenn ja, welche Bezugnahmeklauseln er in den Arbeitsvertrag des neu eingestellten Arbeitnehmers aufnehmen möchte. Die Wahl der jeweiligen Bezugnahmeklausel hängt regelmäßig davon ab, ob der Arbeitgeber in Zukunft eventuell den Wiedereintritt in einen Arbeitgeberverband anstrebt oder zumindest – ohne normative Tarifbindung – weiterhin das TV-Niveau gewähren will, z.B. aus Gründen der Attraktivität am Bewerbermarkt. Will der Arbeitgeber auch in Zukunft keiner kollektivrechtlichen Tarifbindung unterliegen, wäre die Vereinbarung einer Bezugnahmeklausel kontraproduktiv. Sollte auf lange Sicht jedoch eine kollektivrechtliche Tarifgeltung in ei1 BAG v. 4.8.1993 – 4 AZR 499/92, NZA 1994, 34 (35); BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 (485); BAG v. 7.11.2001 – 4 AZR 703/00, NZA 2002, 748; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 84; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 23; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 225; Wiedemann/ Oetker, § 3 TVG Rz. 67; siehe dazu auch Teil 6 Rz. 74. 2 St. Rspr. seit BAG v. 6.6.1958 – 1 AZR 515/57, NJW 1958, 1843 (1844); BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 (485); BAG v. 22.7.1998 – 4 AZR 403/97, NZA 1998, 1287 (1288); BAG v. 7.11.2001 – 4 AZR 703/00, NZA 2002, 748 (750); BAG v. 5.8.2009 – 10 AZR 1006/08, NZA 2009, 1439; siehe auch Teil 9 Rz. 42. 3 BAG v. 6.6.1958 – 1 AZR 515/57, NJW 1958, 1843 (1844); BAG v. 13.12.1995 – 4 AZR 1062/94, NZA 1996, 769 (771); BAG v. 15.10.2003 – 4 AZR 573/02, NZA 2004, 387 (389); ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 50; Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 719; siehe Teil 9 Rz. 23. 4 Kempen/Zachert/Kempen, § 4 TVG Rz. 722; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 332; Wiedemann, Anm. zu BAG v. 14.2.1973 – 4 AZR 176/72, AP Nr. 6 zu § 4 TVG Nachwirkung; Wiedemann, Anm. zu BAG v. 29.1.1975 – 4 AZR 218/74, AP Nr. 8 zu § 4 TVG Nachwirkung. 5 St. Rspr. seit BAG v. 6.6.1958 – 1 AZR 515/57, NJW 1958, 1843 (1844); BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 (485); BAG v. 22.7.1998 – 4 AZR 403/97, NZA 1998, 1287 (1288); BAG v. 7.11.2001 – 4 AZR 703/00, NZA 2002, 748 (750); BAG v. 5.8.2009 – 10 AZR 1006/08, NZA 2009, 1439; siehe auch Teil 9 Rz. 42.
1092 Sittard
Verbandsaustritt
Rz. 30
Teil 14
nem anderen Verband angestrebt werden, kann aufgrund der damit gewährleisteten Flexibilität die Vereinbarung einer großen dynamischen Bezugnahmeklausel (als Tarifwechselklausel) aus Vereinheitlichungsgesichtspunkten1 opportun sein.
III. Zwang zur Anwendung von betrieblichen Entgeltschemata trotz fehlender anderweitiger Tarifbindung Führt der Verbandsaustritt eines Arbeitgebers zum Wegfall der Tarifbindung, indem 30 der Zeitraum der Nachbindung gemäß § 3 Abs. 3 TVG und der Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG überwunden wurde, kann der Arbeitgeber (nach der BAG-Rechtsprechung) auch ohne eine im Arbeitsvertrag vereinbarte Bezugnahmeklausel zur Anwendung bestimmter Regelungen eines TVs sowohl gegenüber neu eingestellten Arbeitnehmern als auch gegenüber Altarbeitnehmern verpflichtet sein. Das BAG geht nämlich davon aus, dass ein Arbeitgeber, der eine zuvor bestehende Tarifbindung abgestreift hat, aufgrund derer ein tarifliches Vergütungssystem in seinem Betrieb zur Anwendung gekommen ist (was bei VergütungsTVen wohl immer der Fall sein dürfte), nach dem Wegfall der Tarifbindung zur Änderung dieses Vergütungssystems nur berechtigt ist, wenn er ein sich diesbezüglich ergebendes Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG gewahrt hat2. Trotz Wegfalls der kollektivrechtlichen Geltung des TVs und trotz fehlender Bezugnahmeklausel, die zumindest einen schuldrechtlichen Geltungsgrund des tariflichen Vergütungssystems hätte schaffen können, sei ein auf tariflicher Ebene bestehendes Vergütungssystem weiterhin das für den Betrieb einschlägige Entgeltschema mit der Folge, dass der Arbeitgeber es weiter anwenden und z.B. neu eingestellte Mitarbeiter entsprechend eingruppieren müsse3. Auch für den Fall, dass das Vergütungssystem zunächst nur aufgrund einer arbeitsvertraglichen Inbezugnahme im Betrieb des Arbeitgebers Anwendung fand und eine Änderung der Tarifgeltung auf Seiten des Arbeitgebers nunmehr dazu führt, dass das Entgeltschema von der vereinbarten Bezugnahmeklausel nicht mehr aufgegriffen wird, bspw. im Falle eines Tarifwegfalls und dessen Abbildung durch eine große dynamische Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag, sei der Arbeitgeber weiterhin solange zur Beibehaltung des bisherigen Entgeltschemas verpflichtet, bis er dessen Änderung unter Beteiligung des Betriebsrats und Wahrung dessen Mitbestimmungsrechts nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG beschlossen hat4. Das BAG begründet diese Folge mit der Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung: Ändere der Arbeitgeber das betriebliche Entgeltschema in einer von § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG erfassten Weise, ohne dass eine entsprechende Beteiligung des Betriebsrats stattgefunden hat, könnten die Arbeitnehmer die Beibehaltung des früheren Vergütungssystems verlangen. Dieser Anspruch bestehe auch dann, wenn die Anwendung der Vergütungsordnung einst allein auf tariflicher Grundlage beruhte und diese nunmehr weggefallen ist, weil die normative Tarifbindung aufgehoben wurde und die Vergütungsordnung auch nicht aufgrund einer Bezugnahmeklausel für das Arbeitsverhältnis Geltung be1 Zu den mit der Vereinbarung einer Bezugnahmeklausel auf TVe verfolgten Zwecken siehe Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, S. 87 ff. 2 BAG v. 8.12.2009 – 1 ABR 66/08, NZA 2010, 404 (406); vgl. auch BAG v. 2.3.2004 – 1 AZR 271/03, NZA 2004, 852 (855). 3 BAG v. 14.4.2010 – 7 ABR 91/08, NZA-RR 2011, 83 (84). 4 BAG v. 8.12.2009 – 1 ABR 66/08, NZA 2010, 404 (406).
Sittard
1093
Teil 14 Rz. 31
Gewillkrter Tarifverlust
anspruchen kann, weil entweder eine solche Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag gar nicht existiert oder deren konkrete Ausgestaltung im Einzelfall eine Aufrechterhaltung des Vergütungssystems nach dem kollektivrechtlichen Tarifwegfall nicht stützen kann. Diese Folge tritt sowohl für zum Zeitpunkt des Wegfalls der Tarifbindung bereits im Betrieb beschäftigte Mitarbeiter1 als auch für Arbeitnehmer, die zeitlich erst nach dem Wegfall der Tarifbindung eingestellt werden2, ein. 31
Völlig zu Recht wird diese evident falsche Rechtsprechung ganz überwiegend kritisiert3. Der 1. BAG-Senat schafft einen „Anspruch ohne Anspruchsgrundlage“4 und ignoriert die tarifrechtlichen Wirkungen der §§ 3 Abs. 3 bzw. 4 Abs. 5 TVG. Denn diesen Normen lässt sich entnehmen, dass die Anwendung der Tarifnormen jedenfalls nach Ablauf der Nachwirkungsphase kollektivrechtlich (etwas anderes muss wegen des Günstigkeitsprinzips für Bezugnahmeklauseln gelten) nicht mehr gerechtfertigt werden kann. Auch überspannt der Senat die Grundsätze der Nachwirkung von tariflichen Regelungen, wenn er auch Arbeitnehmer unter die Geltung der tariflichen Vergütungsregelung fallen lässt, die erst im Zeitraum der Nachwirkung oder sogar erst nach Abschluss des Nachwirkungszeitraums eingestellt wurden5. Vom Ergebnis her nicht nachvollziehbar ist auch, dass durch die Rechtsprechung ohne Grund und Rechtfertigung tarifliche Vergütungsgrundlagen in betriebliche Vergütungsordnungen transformiert und dann unter Hinweis auf die Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung für individualrechtliche Ansprüche bei fehlender Beteiligung des Betriebsrats Zustände geschaffen werden, die über dasjenige hinausgehen, was gelten würde, hätte es einen mitbestimmungsrechtlichen Verfahrensmangel nie gegeben6.
32
Auch wenn die Rechtsprechung des BAG zum „Anspruch ohne Anspruchsgrundlage“ dogmatisch und vom Ergebnis her nicht überzeugen kann, ist sie in der Praxis im Rahmen eines gewillkürten Tarifwechsels zwingend zu beachten, wobei die zukünftige Entwicklung nicht zuletzt wegen des zumindest teilweise einlenkenden Urteils des 1. Senats vom 17.5.20117, worin ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei einer Veränderung des tariflichen Vergütungsschemas im Wege einer Tarifsukzession verneint wurde, zu beobachten bleibt. Allerdings hat sich bis heute noch kein „Trendwechsel“ der Rechtsprechung angedeutet8. Doch auch unter strikter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Vorgaben verbleibt dem Arbeitgeber die Möglich1 BAG v. 2.3.2004 – 1 AZR 271/03, NZA 2004, 852 (855). 2 BAG v. 15.4.2008 – 1 AZR 65/07, NZA 2008, 888; BAG v. 8.12.2009 – 1 ABR 66/08, NZA 2010, 404 (406). 3 Bauer/Günther, DB 2009, 620; Bayreuther, BB 2010, 2177 (2178); Caspers, FS Löwisch, S. 45 (50); Jacobs, FS Säcker, S. 201 (205); Reichold, Anm. zu BAG v. 2.3.2004 – 1 AZR 271/03, AP Nr. 31 zu § 3 TVG; Reichold, RdA 2011, 311 (312); zustimmend hingegen Bepler, FS Bauer, S. 161 (177 ff.); Kreft, FS Kreutz, S. 263 (272 ff.). 4 So Bauer/Günther, DB 2009, 620; Reichold, Anm. zu BAG v. 2.3.2004 – 1 AZR 271/03, AP Nr. 31 zu § 3 TVG. 5 Bauer/Günther, DB 2009, 620 (621); Caspers, FS Löwisch, S. 45 (50); Reichold, FS Konzen, S. 763 (768). 6 Bauer/Günther, DB 2009, 620 (621); Jacobs, FS Säcker, S. 201 (206); Reichold, FS Konzen, S. 763 (767 f.). 7 BAG v. 17.5.2011 – 1 AZR 797/09, NZA-RR 2011, 644 (646); kritisch dazu Salamon, NZA 2012, 899. 8 Zuletzt die BAG-Rspr. nochmals bestätigend LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 9.4.2015 – 5 Sa 229/14, ZTR 2015, 603, Revision eingelegt unter Az: 1 AZR 427/15.
1094 Sittard
Verbandsaustritt
Rz. 33
Teil 14
keit, nach einem Tarifausstieg hinsichtlich bestehender Vergütungssysteme gestaltend tätig zu werden. Entscheidend ist, dass er im Nachgang zum Verbandsaustritt keine Änderungen herbeiführt, die das Mitbestimmungsrecht des § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG auslösen. Kürzt er bspw. gleichmäßig Grundvergütung und Zusatzleistungen für alle Arbeitnehmer (also für bereits im Betrieb beschäftigte und auch neu eingestellte Mitarbeiter), greift er nicht verändernd in die Lohnverteilungsgrundsätze ein und ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats, dessen Verletzung die Grundlage für die Aufrechterhaltung der abgelaufenen Tarifbedingungen samt Entgeltschema ist, wird nicht berührt1. Die Rechtsprechung des 1. Senats dürfte in diesem Fall nicht einschlägig sein.
IV. Auswirkungen des Abschlusses neuer Tarifverträge nach dem Verbandsaustritt Ist der Arbeitgeber aus dem Arbeitgeberverband wirksam ausgetreten, kann dies un- 33 ter Umständen die Gewerkschaft auf den Plan rufen, die einen erneuten Beitritt in das Tarifsystem fordert. Insbesondere kann hier der Abschluss eines HausTVs gefordert (z.B. in Form eines AnerkennungsTVs, der wieder die Anwendung des VerbandsTVs anordnet) und ggf. mit Mitteln des Streiks erkämpft werden. Die Möglichkeit einer Erstreikbarkeit von Tarifbedingungen besteht nach der Ansicht einiger Instanzgerichte und vereinzelten Stimmen in der Literatur nämlich bereits im Zeitraum der Nachbindung eines TVs gemäß § 3 Abs. 3 TVG, da sich der aus dem Arbeitgeberverband ausgetretene Arbeitgeber nicht mehr auf eine etwaig bestehende Friedenspflicht berufen könne2. Dabei stützt sich diese Ansicht jedoch zum Teil auf ein Urteil des BAG aus dem Jahre 19553, welches eine vom Arbeitgeberverbandsaustritt abweichende Fallgestaltung betraf und daher nicht ohne Weiteres für den hier relevanten Sachverhalt übernommen werden kann4. Die herrschende Auffassung in der Literatur geht hingegen richtigerweise davon aus, dass die Friedenspflicht auch während der Nachbindungsphase gemäß § 3 Abs. 3 TVG fortbesteht5. Danach soll ein Arbeitskampf nur dann zulässig sein, wenn ein tariflicher Regelungskonflikt besteht, was jedoch nicht der Fall ist, wenn der zuvor anwendbare TV nach dem Arbeitgeberverbandsaustritt weiterhin zwingende Wirkung entfaltet6. Ab dem Zeitpunkt des Ablaufs des TVs (Ablauf der Kündigungsfrist, Befristungsende) besteht hingegen keine Friedenspflicht mehr, so dass in der Nachwirkungsphase Arbeitskämpfe möglich sind.
1 So auch Bauer/Günther, DB 2009, 620 (622); Jacobs, FS Säcker, S. 201 (204); Kreft, FS Kreutz, S. 263 (277); Reichold, FS Konzen, S. 763 (767); vgl. dazu BAG v. 21.9.1990 – 1 ABR 73/89, NZA 1991, 190 (191); BAG v. 23.1.2008 – 1 ABR 82/06, NZA 2008, 774 (776); BAG v. 15.4.2009 – 1 AZR 65/07, NZA 2008, 888 (891); skeptisch hingegen Bayreuther, BB 2010, 2177, 2179. 2 LAG Hamm v. 31.1.1991 – 16 Sa 119/91; LAG Rheinland-Pfalz v. 20.12.1996 – 7 Sa 1247/96, NZA-RR 1998, 131; LAG Hessen v. 17.9.2008 – 9 SaGa 1442/08, NZA-RR 2009, 26; Krause in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 4 Rz. 151. 3 BAG v. 4.5.1955 – 1 AZR 493/54, AP Nr. 2 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. 4 LAG Hessen v. 17.9.2008 – 9 SaGa 1442/08, NZA-RR 2009, 26; Willemsen/Mehrens, NZA 2009, 169 (170 ff.). 5 ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 28; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 261 ff.; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 79; Willemsen/Mehrens, NZA 2009, 169 (170 ff.). 6 Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 261 ff. m.w.N.
Sittard
1095
Teil 14 Rz. 34 34
Gewillkrter Tarifverlust
Hinsichtlich der sich nach dem etwaigen Abschluss eines HausTVs ergebenden Konkurrenzsituation auf kollektivrechtlicher Ebene zwischen einem evtl. fortgeltenden/ nachwirkenden VerbandsTV und dem „frisch“ abgeschlossenen HausTV sei auf die Ausführungen zur Auflösung von Tarifmehrheiten verwiesen (Teil 9 Rz. 79 ff.). Im Ergebnis wird es in der Regel zwischen dem neu abgeschlossenen TV und einem nachbindenden TV nach § 3 Abs. 3 TVG zu einer „Konkurrenz“ kommen, die über § 4a TVG aufzulösen sein wird, wenn zwei verschiedene Gewerkschaften beteiligt sind (Tarifpluralität). Hat eine Gewerkschaft beide TV abgeschlossen, liegt eine Tarifkonkurrenz vor, die dann anhand des Spezialitätsprinzips aufzulösen ist. § 4a TVG ist dann nicht anzuwenden. Dabei geht der HausTV dem VerbandsTV vor. Wird der neue TV hingegen im Zeitraum der Nachwirkung des früheren TVs gemäß § 4 Abs. 5 TVG abgeschlossen, verdrängt der neue TV der gleichen Gewerkschaft den alten als „andere Abmachung“, ohne dass es auf die Spezialität ankäme. Wird der neue TV im Nachwirkungszeitraum des alten TVs von einer anderen Gewerkschaft abgeschlossen, so dürfte § 4a TVG ebenfalls nicht zur Anwendung kommen, weil die Nachwirkung keine Tarifbindung i.S.v. § 4a Abs. 2 TVG darstellen dürfte1.
C. Verbandswechsel 35
Unter Umständen bringt ein Verbandsaustritt nicht die vom Arbeitgeber beabsichtigten Folgen mit sich und es kann zweckmäßig sein, einen Verbandswechsel vorzunehmen, insbesondere dann, wenn der Arbeitgeber einen Tarifwechsel, also die Anwendung eines neuen Tarifregimes, beabsichtigt. Während die Möglichkeiten hierfür in den letzten Jahren aufgrund des zunehmenden Auftretens von Tarifpluralitäten und ihrer Anerkennung durch das BAG2 zunächst gewachsen sind, wurden sie durch Inkrafttreten des Tarifeinheitsgesetzes (§ 4a TVG) in gewisser Weise wieder beschränkt.
36
Welche Auswirkungen ein Verbandswechsel auf die tarifrechtliche Situation eines Arbeitgebers im Einzelnen hat, ist auch in Abhängigkeit davon zu beurteilen, mit welchen Gewerkschaften jeweils TVe abgeschlossen worden sind.
I. Rechtsfolgen für bereits beschäftigte Arbeitnehmer 1. Tarifgeltung nach dem TVG 37
Der Verbandswechsel geht zumeist damit einher, dass der Arbeitgeber aus seinem bisherigen Arbeitgeberverband austritt, weil eine Doppelmitgliedschaft regelmäßig nicht gewollt ist (und teilweise auch satzungswidrig wäre). Der Arbeitgeberverbandsaustritt ist somit meist der notwendige Zwischenschritt zum Verbandswechsel. Die sich auf kollektivrechtlicher und individualrechtlicher Ebene ergebenden Auswirkungen eines Arbeitgeberverbandsaustritts auf die Tarifgeltung wurden bereits dargestellt (vgl. Rz. 5 ff.). Tritt der Arbeitgeber anschließend in einen neuen Arbeitgeberverband ein, kann es zu einer Tarifmehrheit zwischen den TVen des „alten“ Arbeitgeberverbandes und den beim „neuen“ Arbeitgeberverband geltenden TVen kommen. Ob eine solche 1 Vgl. Hohenstatt/Schuster, ZIP 2016, 5 (7). 2 BAG v. 27.1.2010 – 10 AS 2/10, NZA 2010, 645 ff.; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068 ff.
1096 Sittard
Teil 14 Rz. 34 34
Gewillkrter Tarifverlust
Hinsichtlich der sich nach dem etwaigen Abschluss eines HausTVs ergebenden Konkurrenzsituation auf kollektivrechtlicher Ebene zwischen einem evtl. fortgeltenden/ nachwirkenden VerbandsTV und dem „frisch“ abgeschlossenen HausTV sei auf die Ausführungen zur Auflösung von Tarifmehrheiten verwiesen (Teil 9 Rz. 79 ff.). Im Ergebnis wird es in der Regel zwischen dem neu abgeschlossenen TV und einem nachbindenden TV nach § 3 Abs. 3 TVG zu einer „Konkurrenz“ kommen, die über § 4a TVG aufzulösen sein wird, wenn zwei verschiedene Gewerkschaften beteiligt sind (Tarifpluralität). Hat eine Gewerkschaft beide TV abgeschlossen, liegt eine Tarifkonkurrenz vor, die dann anhand des Spezialitätsprinzips aufzulösen ist. § 4a TVG ist dann nicht anzuwenden. Dabei geht der HausTV dem VerbandsTV vor. Wird der neue TV hingegen im Zeitraum der Nachwirkung des früheren TVs gemäß § 4 Abs. 5 TVG abgeschlossen, verdrängt der neue TV der gleichen Gewerkschaft den alten als „andere Abmachung“, ohne dass es auf die Spezialität ankäme. Wird der neue TV im Nachwirkungszeitraum des alten TVs von einer anderen Gewerkschaft abgeschlossen, so dürfte § 4a TVG ebenfalls nicht zur Anwendung kommen, weil die Nachwirkung keine Tarifbindung i.S.v. § 4a Abs. 2 TVG darstellen dürfte1.
C. Verbandswechsel 35
Unter Umständen bringt ein Verbandsaustritt nicht die vom Arbeitgeber beabsichtigten Folgen mit sich und es kann zweckmäßig sein, einen Verbandswechsel vorzunehmen, insbesondere dann, wenn der Arbeitgeber einen Tarifwechsel, also die Anwendung eines neuen Tarifregimes, beabsichtigt. Während die Möglichkeiten hierfür in den letzten Jahren aufgrund des zunehmenden Auftretens von Tarifpluralitäten und ihrer Anerkennung durch das BAG2 zunächst gewachsen sind, wurden sie durch Inkrafttreten des Tarifeinheitsgesetzes (§ 4a TVG) in gewisser Weise wieder beschränkt.
36
Welche Auswirkungen ein Verbandswechsel auf die tarifrechtliche Situation eines Arbeitgebers im Einzelnen hat, ist auch in Abhängigkeit davon zu beurteilen, mit welchen Gewerkschaften jeweils TVe abgeschlossen worden sind.
I. Rechtsfolgen für bereits beschäftigte Arbeitnehmer 1. Tarifgeltung nach dem TVG 37
Der Verbandswechsel geht zumeist damit einher, dass der Arbeitgeber aus seinem bisherigen Arbeitgeberverband austritt, weil eine Doppelmitgliedschaft regelmäßig nicht gewollt ist (und teilweise auch satzungswidrig wäre). Der Arbeitgeberverbandsaustritt ist somit meist der notwendige Zwischenschritt zum Verbandswechsel. Die sich auf kollektivrechtlicher und individualrechtlicher Ebene ergebenden Auswirkungen eines Arbeitgeberverbandsaustritts auf die Tarifgeltung wurden bereits dargestellt (vgl. Rz. 5 ff.). Tritt der Arbeitgeber anschließend in einen neuen Arbeitgeberverband ein, kann es zu einer Tarifmehrheit zwischen den TVen des „alten“ Arbeitgeberverbandes und den beim „neuen“ Arbeitgeberverband geltenden TVen kommen. Ob eine solche 1 Vgl. Hohenstatt/Schuster, ZIP 2016, 5 (7). 2 BAG v. 27.1.2010 – 10 AS 2/10, NZA 2010, 645 ff.; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068 ff.
1096 Sittard
Verbandswechsel
Rz. 39
Teil 14
Tarifmehrheit tatsächlich entsteht und wie diese im Einzelfall aufzulösen ist, hängt nicht zuletzt davon ab, mit welcher Gewerkschaft die jeweils miteinander konfligierenden TVe abgeschlossen wurden. Zudem muss die Wirkung des im Rahmen des Tarifeinheitsgesetzes eingeführten § 4a TVG berücksichtigt werden. a) Tarifgeltung bei Tarifvertragsabschluss mit gleicher Gewerkschaft Wechselt der Arbeitgeber in einen Verband, der mit derjenigen Gewerkschaft einen TV 38 abgeschlossen hat, die auch bereits Vertragspartner des früheren Arbeitgeberverbandes war, kommt es für die im Betrieb des Arbeitgebers beschäftigten und in der tarifschließenden Gewerkschaft organisierten Arbeitnehmer zu einer Tarifkonkurrenz, solange der Arbeitgeber gemäß § 3 Abs. 3 TVG an den „alten“ TV gebunden ist, der aus seiner Mitgliedschaft beim früheren Arbeitgeberverband resultiert. Die Tarifkonkurrenz besteht dann zwischen dem fortgeltenden „alten“ TV und dem nach § 3 Abs. 1 TVG geltenden TV des „neuen“ Arbeitgeberverbandes. In diesem Fall findet § 4a TVG keine Anwendung, da er nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG nur gilt, wenn der Arbeitgeber an TVe mehrerer Gewerkschaften gebunden ist. Vielmehr ist die Tarifkonkurrenz1 im Nachbindungszeitraum (§ 3 Abs. 3 TVG) nach überwiegender Auffassung anhand des Spezialitätsprinzips aufzulösen2. Tritt der vom „alten“ Arbeitgeberverband abgeschlossene TV anschließend in das Stadium der Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG ein, wird er durch den vom neuen Arbeitgeberverband abgeschlossenen TV als andere Abmachung verdrängt3 und es gilt dann allein der vom neuen Arbeitgeberverband abgeschlossene TV. In der Praxis sind derartige Tarifwechsel gerade im Zuständigkeitsbereich der Gewerk- 39 schaft ver.di häufig möglich, da diese – bspw. im Energiesektor – mit verschiedenen Arbeitgeberverbänden TVe abgeschlossen hat, die aber durchaus ein unterschiedliches Vergütungsniveau aufweisen. Der Wechsel in den „günstigeren“ TV über einen Wechsel des Arbeitgeberverbandes stellt damit eine durchaus denkbare Gestaltungsoption dar. Allerdings sind den Gewerkschaften entsprechende „Fluchtszenarien“ durchgehend bewusst und sie versuchen u.a. durch den Abschluss von HausTVen so einen einfachen Tarifwechsel unmöglich zu machen. Teilweise finden sich in derartigen HausTVen auch Vereinbarungen dahingehend, dass das Unternehmen verpflichtet sein soll, Mitglied im „bisherigen“ Arbeitgeberverband zu bleiben. Derartige Vereinbarungen dürften indes nach Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG wegen eines ungerechtfertigten Eingriffs in die negative Koalitionsfreiheit verfassungswidrig und unmittelbar nichtig sein.
1 Siehe dazu BAG v. 24.1.2001 – 4 AZR 655/99, NZA 2001, 788 (790); BAG v. 4.4.2001 – 4 AZR 237/00, NZA 2001, 1085 (1086); Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 265 ff.; Hohenstatt, DB 1992, 1678 (1679); Jacobs, Tarifeinheit, S. 95 f.; siehe auch Teil 9 Rz. 92 ff. 2 Bislang einhellige Meinung, siehe ErfK/Franzen, § 4a TVG Rz. 31 m.w.N.; Schliemann, NZABeil. zu Heft 24/2000, 24 (29); siehe zum Spezialitätsprinzip allgemein BAG v. 24.9.1975 – 4 AZR 471/74, AP Nr. 11 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 14.6.1989 – 4 AZR 200/89, AP Nr. 16 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; Hromadka/Maschmann/Wallner, Tarifwechsel, Rz. 139; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 278; Etzel, NJW 1991, 3191 (3192). 3 BAG v. 4.12.1974 – 5 AZR 75/74, AP Nr. 2 zu § 3 TVG; BAG v. 4.9.1996 – 4 AZR 135/95, NZA 1997, 271 (272); Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 154; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 212; Henssler, FS Wißmann, S. 133 (140); E.M. Willemsen, Bezugnahme auf Tarifvertrag, S. 289.
Sittard
1097
Teil 14 Rz. 40
Gewillkrter Tarifverlust
b) Tarifgeltung bei Tarifvertragsabschluss mit anderer Gewerkschaft 40
Findet der Verbandswechsel des Arbeitgebers in eine Arbeitgebervereinigung statt, die mit einer anderen Gewerkschaft als derjenigen kontrahiert hat, die Vertragspartner des früheren Arbeitgeberverbandes des Arbeitgebers war, beurteilt sich die kollektivrechtliche Situation jeweils individuell danach, in welcher Gewerkschaft die im Betrieb des Arbeitgebers beschäftigten Mitarbeiter organisiert sind.
41
Vollzieht kein Arbeitnehmer den „Gewerkschaftswechsel“ nach und ist auch sonst kein Arbeitnehmer in der Gewerkschaft organisiert, die nunmehr Vertragspartner desjenigen Arbeitgeberverbandes geworden ist, dem der Arbeitgeber jüngst beigetreten ist, gilt im Unternehmen des Arbeitgebers allein der vom „alten“ Arbeitgeberverband mit der „alten“ Gewerkschaft abgeschlossene TV kraft Nachbindung/Nachwirkung gemäß § 3 Abs. 3 TVG bzw. § 4 Abs. 5 TVG1.
42
Wechseln hingegen – was ein theoretischer Fall sein dürfte – alle Arbeitnehmer die Gewerkschaft und organisieren sich in der Arbeitnehmervereinigung, die Vertragspartners des „neuen“ Arbeitgeberverbands des Arbeitgebers nach dem Verbandswechsel geworden ist, sind alle Arbeitnehmer gemäß § 3 Abs. 1 TVG zumindest an den zwischen der „neuen“ Gewerkschaft und dem „neuen“ Arbeitgeberverband abgeschlossenen TV normativ gebunden. Gilt der vormals vom „alten“ Arbeitgeberverband abgeschlossene TV gemäß § 3 Abs. 3 TVG fort, findet dieser trotz Gewerkschaftswechsel auf Belegschaftsseite und Arbeitgeberverbandswechsel auf Unternehmerseite weiterhin auf alle zuvor von der normativen Wirkung dieses TVs erfassten Arbeitsverhältnisse unmittelbare und zwingende Anwendung. Die damit entstehende Tarifkonkurrenz war nach herrschender Auffassung anhand des Spezialitätsprinzips aufzulösen2. Nach dem Inkrafttreten des Tarifeinheitsgesetzes würde in dieser Situation indes für alle nach dem 10. Juli 2015 abgeschlossene TVe § 4a TVG zur Anwendung kommen. Da der Arbeitgeber an zwei TVe unterschiedlicher Gewerkschaften gem. § 3 Abs. 1 bzw. Abs. 3 TVG gebunden ist, kommt es darauf an, welche Gewerkschaft mehr Mitglieder im Betrieb hat. Entscheidender Zeitpunkt ist dabei gem. § 4 Abs. 2 Satz 3 TVG der Moment, in dem die TVe erstmals kollidieren, hier also der Wechsel aller Arbeitnehmer in die „neue“ Gewerkschaft. Natürlich setzt sich in diesem (theoretischen) Fall der TV der „neuen“ Gewerkschaft durch, da kein Arbeitnehmer mehr bei der „alten“ Gewerkschaft organisiert war. Tritt der vor dem Arbeitgeberverbandsaustritt gemäß § 3 Abs. 1 TVG normativ geltende TV jedoch in den Zeitraum der Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG ein, wird er durch den zwischen dem „neuen“ Arbeitgeberverband und der „neuen“ Gewerkschaft geschlossenen TV als andere Abmachung abgelöst3. § 4a TVG dürfte
1 So auch Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 155. 2 Bislang einhellige Meinung, siehe ErfK/Franzen, § 4a TVG Rz. 31 m.w.N.; Schliemann, NZABeil. zu Heft 24/2000, 24 (29); siehe zum Spezialitätsprinzip allgemein BAG v. 24.9.1975 – 4 AZR 471/74, AP Nr. 11 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 14.6.1989 – 4 AZR 200/89, AP Nr. 16 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; Hromadka/Maschmann/Wallner, Tarifwechsel, Rz. 139; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 278; Etzel, NJW 1991, 3191 (3192). 3 BAG v. 4.12.1974 – 5 AZR 75/54, AP Nr. 2 zu § 3 TVG; BAG v. 4.9.1996 – 4 AZR 135/95, NZA 1997, 271 (272); Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 154; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 212; Henssler, FS Wißmann, S. 133 (140); E.M. Willemsen, Bezugnahme auf Tarifvertrag, S. 289.
1098 Sittard
Verbandswechsel
Rz. 43a Teil 14
dann nicht greifen, weil eine Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG nicht ausreichend für eine Tarifkollision i.S.v. § 4a TVG sein dürfte1. Tritt, was in der Praxis der absolute Regelfall sein dürfte, nach dem Vollzug des Ver- 43 bandswechsels jedoch eine Spaltung der Belegschaft dergestalt ein, dass Teile der Belegschaft bei derjenigen Gewerkschaft organisiert bleiben, die einen TV mit dem „alten“ Arbeitgeberverband abgeschlossen hat, und Teile der Belegschaft einen Gewerkschaftswechsel hin zu derjenigen Gewerkschaft vollziehen (oder dort ohnehin schon Mitglieder sind), die einen TV mit dem „neuen“ Arbeitgeberverband geschlossen hat, gilt Folgendes: Für die in der „alten“ Gewerkschaft organisierten Arbeitnehmer gilt grundsätzlich weiterhin der „alte“ TV gemäß § 3 Abs. 3 TVG; für die in der „neuen“ Gewerkschaft organisierten Arbeitnehmer kommt es im Zeitraum der Nachbindung des „alten“ TVs zu einer Tarifkonkurrenz, die nun nicht mehr nach dem Spezialitätsprinzip, sondern wiederum über § 4a TVG aufzulösen ist. Befindet sich der „alte“ TV in der Nachwirkung gem. § 4 Abs. 5 TVG, gilt § 4a TVG indes nicht. In diesem Zeitraum der Nachwirkung des „alten“ TVs kann der neue TV als „andere Abmachung“ zur Anwendung kommen (z.B. über eine große dynamische Bezugnahmeklausel). Aufgrund des unterschiedlichen Organisationsgrades der einzelnen Belegschaftsgruppen und der demnach unterschiedlichen Tarifgeltung könnte es in einzelnen Betrieben des Arbeitgebers auch zu einem Nebeneinander verschiedener TVe kommen. Nach Rechtsprechung des BAG vor Einführung von § 4a TVG2 war eine Tarifplurali- 43a tät im Betrieb hinzunehmen und nicht auflösungsbedürftig. Nach neuer Rechtslage greift § 4a TVG, wenn mehrere TVe gem. § 3 TVG beim Arbeitgeber gelten, und löst die Kollision über das Mehrheitsprinzip. Allerdings werden damit nicht alle mehrfachen Tarifgeltungen beseitigt. So wird bspw. ein nur nachwirkender TV nicht von § 4a TVG erfasst. Der Gesetzgeber wollte mit § 4a TVG auch gar nicht jegliche Tarifpluralität verhindern3. Zur Förderung einheitlicher tariflicher Regelungen innerhalb des Betriebes sollen im Anwendungsbereich des § 4a TVG die Arbeitnehmer einer Berufsgruppe aber nicht mehr an nicht inhaltsgleiche TVe von verschiedenen Gewerkschaften gebunden sein; es soll folglich eine Tarifkollision vermieden werden4. In der hier gegebenen Konstellation sind die in der „alten“ Gewerkschaft organisierten Arbeitnehmer wegen § 3 Abs. 3 TVG an den „alten“ TV gebunden. Für die Mitglieder der „neuen“ Gewerkschaft kommt es im Zeitraum der Nachbindung des „alten“ TVs zu der oben dargelegten Tarifkollision, die über § 4a TVG aufzulösen ist. Hat die „neue“ Gewerkschaft mehr Mitglieder im Betrieb, so wird der „alte“ TV gem. § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG verdrängt. Damit gilt für die in ihr organisierten Arbeitnehmer der „neue“ TV, während für die in der „alten“ Gewerkschaft organisierten Arbeitnehmer keine kollektive Tarifbindung mehr besteht, solange die Gewerkschaft nicht das ihr in § 4a Abs. 4 TVG eingeräumte Nachzeichnungsrecht wahrnimmt.
1 Hohenstatt/Schuster, ZIP 2016, 5 (7). 2 BAG v. 27.1.2010 – 4 AZR 549/08 (A), NZA 2010, 645; BAG v. 23.6.2010 – 10 AS 3/10, NZA 2010, 778; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, NZA 2010, 1068; siehe auch Teil 9 Rz. 102 ff. 3 BT-Drucks. 18/4062, S. 12. 4 Beauregard, DB 2015, 1527.
Sittard
1099
Teil 14 Rz. 44
Gewillkrter Tarifverlust
c) Sonderfall: Blitzwechsel in OT-Mitgliedschaft 44
Eine „Art von Verbandswechsel“ bildet auch der sog. Blitzwechsel in die OT-Mitgliedschaft, welche zu einer Nachbindung des zuvor geltenden TVs nach § 3 Abs. 3 TVG mit anschließender Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG führt1. Da sich nach dem Blitzwechsel in die OT-Mitgliedschaft aber keine weitere normative Tarifbindung an die Vollziehung des Wechsels anschließt, kann auf die Rechtslage zum Arbeitgeberverbandsaustritt verwiesen werden. Auch hier ist aber zu beachten, dass die Anforderungen des BAG an die Transparenz des Blitzwechsels gewahrt sein müssen (vgl. Rz. 10 f.). 2. Tarifgeltung aufgrund geltender Bezugnahmeklauseln
45
Welche Rolle eine bestehende Bezugnahmeklausel für die Beurteilung der geltenden Tarifregelungen nach einem Verbandswechsel spielt, ist erheblich komplizierter zu bestimmen als im Falle eines „bloßen“ Arbeitgeberverbandsaustritts. Neben der Frage, ob ein in Bezug genommener TV nach der Maßnahme – Verbandsaustritt oder Verbandswechsel – statisch oder dynamisch wirkt, stellt sich im Rahmen eines Verbandswechsels weiterhin die Frage, welcher TV – der „alte“ oder der „neue“ TV – durch die Bezugnahmeklausel denn überhaupt individualvertraglich gelten soll. Wiederum ist eine Beantwortung dieser Fragen davon abhängig, welche Art von Bezugnahmeklausel vereinbart wurde und wie sich die Tarifsituation auf kollektivrechtlicher Ebene darstellt, was – wie bereits erwähnt – vorwiegend danach zu beurteilen ist, mit welcher Gewerkschaft ein TV abgeschlossen wurde. Zu beachten ist, dass die Regelung des § 4a TVG zur Tarifeinheit bei der Kollision eines arbeitsvertraglich in Bezug genommenen TVs mit einem kollektiv geltenden TV nicht gilt, weil auf dieser Ebene eindeutig keine mehrfache Tarifbindung nach § 3 TVG vorliegt, auf die § 4a Abs. 2 TVG aber einzig abstellt2. a) Situation bei Bestehen eines Tarifvertrages mit der „alten“ Gewerkschaft
46
Zunächst soll die Situation des Arbeitgebers behandelt werden, der in einen Arbeitgeberverband wechselt, der Tarifpartner derselben Gewerkschaft wie der „alte“ Arbeitgeberverband ist. Dies ist z.B. bei der mit einer breiten Zuständigkeit ausgestatteten Gewerkschaft wie ver.di durchaus denkbar, obwohl faktisch ein Branchenwechsel stattfindet. aa) Statische Bezugnahmeklausel
47
Ist eine statische Bezugnahmeklausel vereinbart, ist der Arbeitgeber auch nach dem Verbandswechsel dazu verpflichtet, den in der Bezugnahmeklausel bezeichneten TV statisch anzuwenden. Daran ändert sich durch den Verbandswechsel nichts. Die statische Bezugnahmeklausel ist insoweit „verbandswechselfest“3. Entsteht eine Kollision zwischen dem auf kollektivrechtlicher Ebene für das einzelne Arbeitsverhältnis geltenden TV und dem qua Bezugnahmeklausel geltenden TV, bspw. weil der TV auf 1 BAG v. 25.2.2009 – 4 AZR 986/07, AP Nr. 40 zu § 3 TVG; Bauer/Haußmann, RdA 2009, 99 (103); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 247. 2 Zust. Greiner, NZA 2015, 769 (775); Schaub/Treber, ArbRHdb., § 203 Rz. 55; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 114a; ErfK/Franzen, § 4a TVG Rz. 5. 3 Henssler, FS Wißmann, S. 133 (141); E.M. Willemsen, Bezugnahme auf Tarifvertrag, S. 308.
1100 Sittard
Verbandswechsel
Rz. 49
Teil 14
kollektivrechtlicher Ebene dynamisch und auf schuldrechtlicher Ebene nur statisch wirkt, ist diese gemäß § 4 Abs. 3 TVG anhand des Günstigkeitsprinzips aufzulösen1. bb) Kleine dynamische Bezugnahmeklausel als Gleichstellungsabrede Ist eine kleine dynamische Bezugnahmeklausel als Gleichstellungsabrede ausgestal- 48 tet, ergibt sich im Falle des Verbandswechsels unter Abschluss eines „neuen“ TVs durch den „neuen“ Arbeitgeberverband – wenn auch mit der „alten“ Gewerkschaft – das Problem, dass die kleine dynamische Bezugnahmeklausel aufgrund ihres Wortlauts immer noch den „alten“ TV in seiner jeweils gültigen Fassung bezeichnet, auch wenn dieser auf kollektivrechtlicher Ebene unter Umständen gar nicht mehr zur Anwendung kommt2. Ihrer Gleichstellungsfunktion kann die Bezugnahmeklausel in dieser Konstellation nicht mehr gerecht werden, da voraussichtlich ein Großteil der organisierten Belegschaft an den „neuen“ TV gebunden ist/sein wird, während die Bezugnahme auf den nicht mehr zeitgemäßen „alten“ TV verweist. Trotz dieses für den Arbeitgeber unglücklichen Ergebnisses ist entgegen der früheren3 und im Einklang mit der jüngeren4 Rechtsprechung davon auszugehen, dass eine unter Hinweis auf ihren Gleichstellungscharakter vorzunehmende „Umdeutung“ der Bezugnahmeklausel mit dem Ziel, das Bezugnahmeziel zu wechseln und somit auf den „neuen“ TV zu verweisen, unzulässig ist. Diese Tarifkollision aufgrund der Bezugnahmeklausel ist nach dem Günstigkeitsprinzip gemäß § 4 Abs. 3 TVG zu lösen. cc) Kleine dynamische Bezugnahmeklausel als konstitutiv-dynamisch wirkende Verweisung Rechtlich unproblematisch (wenn auch für den Arbeitgeber ungünstig) ist die Situati- 49 on hingegen in dem Fall, dass die kleine dynamische Bezugnahmeklausel keinen Gleichstellungscharakter aufweist, sondern konstitutiv-dynamische Wirkung entfaltet. In dieser Konstellation ist der in der Bezugnahmeklausel bezeichnete TV, unabhängig vom erfolgten Tarifwechsel und streng am Wortlaut der Verweisungsklausel orientiert, dynamisch anzuwenden. Eine etwaige Kollision zwischen schuldrechtlicher und kollektivrechtlicher Tarifgeltung ist wiederum anhand des Günstigkeitsprinzips aufzulösen. 1 Zur Anwendung des Günstigkeitsprinzips bei Kollision von Bezugnahmeklausel und Tarifvertrag: BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364 (366); BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 308/07, AP Nr. 64 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 1023/08, NZARR 2011, 30 (33); BAG v. 10.12.2014 – 4 AZR 503/12, NZA 2015, 946; BAG v. 15.4.2015 – 4 AZR 587/13, NZA 2015, 1274; Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 63; Bepler, NZA-Beil. 3/2010, 99 (102); Hohenstatt, DB 1992, 1678 (1683). 2 Insbesondere für den Fall, dass sich der alte TV gemäß § 3 Abs. 3 TVG in der Nachbindung befindet und dann vom neuen, gemäß § 3 Abs. 1 TVG geltenden TV im Wege des Spezialitätsprinzips zur Auflösung der entstandenen Tarifkonkurrenz verdrängt wurde (§ 4a TVG kommt bei zwei konkurrierenden TVen einer Gewerkschaft nicht zur Anwendung); oder für den Fall, dass sich der alte TV gemäß § 4 Abs. 5 TVG in der Nachwirkung befand und vom neuen, nach dem Verbandswechsel gemäß § 3 Abs. 1 TVG geltenden TV als andere Abmachung abgelöst wurde. 3 BAG v. 4.9.1996 – 4 AZR 135/95, NZA 1997, 271 (272). 4 BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 581/99, NZA 2001, 510 (511 f.); BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364 (365); BAG v. 15.4.2008 – 9 AZR 159/07, NZA-RR 2008, 586 (592); BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (45); BAG v. 17.11.2010 – 4 AZR 391/09, NZA 2011, 356 (357).
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Teil 14 Rz. 50
Gewillkrter Tarifverlust
dd) Große dynamische Bezugnahmeklausel 50
Ist eine große dynamische Bezugnahmeklausel vereinbart worden, kann sich die Konstellation ergeben, dass nicht eindeutig bestimmbar ist, welcher TV nach dem durchgeführten Verbandswechsel von der Bezugnahmeklausel erfasst sein soll. Denkbar ist die Fallgestaltung, dass der „alte“ TV nach § 3 Abs. 3 TVG fortgilt und der „neue“ TV gemäß § 3 Abs. 1 TVG Anwendung findet (tarifrechtlich also eine Tarifkonkurrenz vorliegt). Ist eine große dynamische Bezugnahmeklausel nach dem bekannten Vorbild „Es gelten die jeweils normativ geltenden TVe“ gestaltet, kann sich die Bezugnahmeklausel grundsätzlich auf beide kollektivrechtlich geltenden TVe beziehen, denn beide TVe „gelten“ im Betrieb. § 4a TVG kommt nicht zur Anwendung, weil beide TVe mit der gleichen Gewerkschaft vereinbart wurden. Es kommt somit zunächst darauf an, ob die Parteien diesen Fall in der Formulierung ihrer Bezugnahmeklausel bedacht haben, bspw. indem sie einen Klauselzusatz in Form einer Spezialitäts- oder Branchenwechselklausel aufgenommen haben1. Ist dies nicht der Fall, so ist durch (ergänzende) Vertragsauslegung gemäß §§ 133, 157 BGB zu ermitteln, auf welchen TV sich die Bezugnahmeklausel beziehen soll. Ergibt sich aus einer Auslegung, dass mit der Klausel vorrangig Gleichstellungsgesichtspunkte verfolgt werden sollen, wird sich – unabhängig von § 4a TVG – für eine Verweisung auf denjenigen TV argumentieren lassen, der von der Mehrheit der Arbeitnehmer getragen wird. Denkbar wäre es aber auch, die Verweisung so zu lesen, dass auf das zukünftig maßgebliche, also das „neue“ Tarifregime Bezug genommen werden soll. Liegt der Klausel keine Gleichstellungsintention zugrunde, liegt es aus Sicht eines objektiven Empfängers nahe, unter Anwendung des für Tarifmehrheiten in der Vergangenheit regelmäßig angeführten Spezialitätsgrundsatzes eine Verweisung auf den sachnächsten TV anzunehmen2. Eine Kollision der schuldrechtlichen und kollektivrechtlichen Tarifgeltung ist hier dann nicht gegeben. b) Situation bei Bestehen eines Tarifvertrages mit einer „neuen“ Gewerkschaft
51
Bei einem Verbandswechsel des Arbeitgebers tritt praktisch häufig der Fall auf, dass der Arbeitgeber in einen Arbeitgeberverband wechselt, dessen Tarifpartner eine andere Gewerkschaft als die des „alten“ Arbeitgeberverbandes ist. Auf kollektivrechtlicher Ebene kann dann § 4a TVG zur Anwendung kommen. aa) Statische Bezugnahmeklausel
52
Bei einer statischen Bezugnahmeklausel gilt hier nichts anderes als bei Gewerkschaftsidentität beim Tarifwechsel, denn der bezeichnete TV gilt statisch „verbandswechselfest“3 fort und im Kollisionsfalle greift das Günstigkeitsprinzip4. Die Fallkonstellation „Arbeitgeberverbandswechsel und TV-Abschluss mit ‚neuer‘ Gewerkschaft“ unterscheidet sich von der Fallkonstellation „Arbeitgeberverbandswechsel und TV-Ab1 Siehe dazu, wie auch zu anderen Klauselvorschlägen, ausführlich Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, S. 128 ff. 2 So auch E.M. Willemsen, Bezugnahme auf Tarifvertrag, S. 315. 3 Henssler, FS Wißmann, S. 133 (141); E.M. Willemsen, Bezugnahme auf Tarifvertrag, S. 308. 4 BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364 (366); BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 308/07, AP Nr. 64 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 1023/08, NZA-RR 2011, 30 (33); Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 63; Bepler, NZA-Beil. 3/2010, 99 (102); Hohenstatt, DB 1992, 1678 (1683).
1102 Sittard
Verbandswechsel
Rz. 53
Teil 14
schluss mit ‚alter‘ Gewerkschaft“ nur dadurch, dass – falls in beiden Fällen jeweils eine statische Bezugnahmeklausel vereinbart wurde – die auf individualvertraglicher und kollektivrechtlicher Seite geltenden TVe solche verschiedener Gewerkschaften sein können. Ist mit dem Arbeitgeberverbandswechsel auch ein Austausch des Vertragspartners auf Gewerkschaftsseite verbunden, kann es dazu kommen, dass dieser mit der „neuen“ Gewerkschaft auf kollektivrechtlicher Ebene geltende TV mit dem statisch in Bezug genommenen TV „kollidiert“. bb) Kleine dynamische Bezugnahmeklausel als Gleichstellungsabrede Welcher TV durch die kleine dynamische Bezugnahmeklausel, deren Zweck eine 53 Gleichstellung der Arbeitnehmer ist, in Bezug genommen werden soll, ist anhand der Intention des Arbeitgebers zu ermitteln, die tarifrechtliche Lage auf individualrechtlicher Ebene widerzuspiegeln. Wie bereits dargestellt, ist die Geltung von TVen auf der kollektivrechtlichen Ebene insbesondere davon abhängig, welcher Gewerkschaft die im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer angehören (vgl. Rz. 37 ff.). Zudem kann § 4a TVG zu einer Verdrängung eines MinderheitsTVs auf kollektivrechtlicher Ebene führen. In diesem Fall spricht viel dafür, dass die Verdrängungswirkung des § 4a TVG auf die Auslegung der Bezugnahmeklausel „durchschlägt“ und für alle Arbeitnehmer der MehrheitsTVe zur Anwendung kommt. Schwieriger ist die Situation, wenn § 4a TVG nicht zur Anwendung kommt, was aber aufgrund der Übergangsregelung des § 13 Abs. 3 TVG häufig der Fall sein wird. Da durch eine kleine dynamische Bezugnahmeklausel nur ein bestimmter TV in Bezug genommen wird, kann eine Gleichstellung aller Arbeitnehmer – zumindest für den Fall einer auf kollektivrechtlicher Ebene bestehenden Tarifmehrheit – durch eine kleine dynamische Bezugnahmeklausel nicht erreicht werden1. Eine Gleichstellung kann im Falle eines Verbandswechsels des Arbeitgebers dann erfolgen, wenn auch nach dem Verbandswechsel allein der „alte“, in Bezug genommene TV Anwendung findet, da keiner der Arbeitnehmer im Betrieb in der „neuen“ Gewerkschaft organisiert ist. Somit gilt der „alte“ TV weiterhin gemäß § 3 Abs. 3/§ 4 Abs. 5 TVG und ist zugleich für alle Arbeitnehmer Bezugnahmeobjekt der Gleichstellungsabrede2. Selbst wenn alle Arbeitnehmer allein an den „neuen“ TV normativ gebunden wären, könnte auf schuldrechtlicher Ebene eine Gleichstellung mit diesem TV nicht erfolgen, wenn die kleine dynamische Bezugnahmeklausel auf den „alten“ TV verweist, da ein Tarifwechsel von dieser Klausel in der Regel nicht nachvollzogen wird3. Eine Gleichstellung kann somit durch die Vereinbarung einer kleinen dynamischen Bezugnahmeklausel im Fall einer Tarifpluralität kaum erreicht werden. Eine weitaus größere Gleichstellungswirkung kann durch die Vereinbarung einer großen dynamischen Be1 So auch Feudner, Anm. zu BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, RdA 2008, 301 (303); Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, S. 131 f.; Kania, NZA-Beil. 3/2000, 45 (48); Thüsing, NZA 2003, 1184 (1186 f.); E.M. Willemsen, Bezugnahme auf Tarifvertrag, S. 320; in der Instanzrechtsprechung wurde diese Frage bislang offen gelassen: LAG Baden-Württemberg v. 22.1.2008 – 14 Sa 87/07, NZA-RR 2008, 443 (444). 2 So auch Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 155. 3 BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 581/99, NZA 2001, 510 (511 f.); BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364 (365); BAG v. 15.4.2008 – 9 AZR 159/07, NZA-RR 2008, 586 (592); BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (45); BAG v. 17.11.2010 – 4 AZR 391/09, NZA 2011, 356 (357).
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Teil 14 Rz. 54
Gewillkrter Tarifverlust
zugnahmeklausel erreicht werden. Dies könnte bspw. durch einen sog. Repräsentationszusatz geschehen, wonach bei einer Tarifmehrheit auf kollektivrechtlicher Ebene derjenige TV gelten soll, der auf die Mehrheit der Arbeitsverhältnisse aller Arbeitnehmer im Betrieb Anwendung findet1. Soweit jetzt § 4a TVG zur Anwendung kommt, dürfte dieses Ergebnis auch ohne entsprechenden Zusatz aufgrund der Gleichstellungsfunktion erreicht werden. cc) Kleine dynamische Bezugnahmeklausel als konstitutiv-dynamisch wirkende Verweisung 54
Ist die kleine dynamische Bezugnahmeklausel nicht als Gleichstellungsabrede konzipiert, ändert der Verbandswechsel nichts an der Verpflichtung zur dynamischen Inbezugnahme des genannten Tarifwerkes2. Es stellt sich lediglich die Frage, wie eine etwaige Kollisionslage mit auf kollektivrechtlicher Ebene bestehenden TVen aufzulösen ist. Hier ist wiederum danach zu differenzieren, ob auf kollektivrechtlicher Ebene nur ein TV und, wenn ja, welcher, das heißt der „neue“ oder der „alte“ TV, oder ob mehrere TVe, und, wenn ja, welche zur Anwendung kommen und wie diese auf das Arbeitsverhältnis einwirken. Welcher TV sich auf kollektivrechtlicher Ebene im Falle des Verbandswechsels jeweils durchsetzt, wurde bereits dargestellt (vgl. Rz. 37 ff.). Hinsichtlich der Kollision zwischen einem individualrechtlich geltenden TV und einem nach § 3 Abs. 1 TVG oder § 3 Abs. 3 TVG geltenden TV gilt das Günstigkeitsprinzip gemäß § 4 Abs. 3 TVG3. Ist das Ergebnis auf kollektivrechtlicher Ebene jedoch, dass der „alte“ TV gemäß § 4 Abs. 5 TVG nachwirkt, so ist zu prüfen, ob die Bezugnahmeklausel eine ablösende „andere Abmachung“ darstellen kann4. dd) Große dynamische Bezugnahmeklausel
55
Ist eine große dynamische Bezugnahmeklausel vereinbart worden, kann diese unter Umständen einen auf kollektivrechtlicher Ebene stattfindenden Tarifwechsel nachvollziehen5. Dies ist der Fall, wenn bspw. der „alte“ TV durch den „neuen“ TV abgelöst wird und somit die Bezugnahmeklausel den „neuen“ TV als den – bei traditioneller Formulierung der Bezugnahmeklausel – „jeweils im Betrieb normativ geltenden TV“ erfasst. Steht der kollektivrechtlich im Betrieb anwendbare TV gem. § 4a TVG
1 Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, S. 132 f.; Seel, öAT 2010, 82 ff. 2 E.M. Willemsen, Bezugnahme auf Tarifvertrag, S. 320. 3 BAG v. 29.8.2007 – 4 AZR 767/06, NZA 2008, 364 (366); BAG v. 4.6.2008 – 4 AZR 308/07, AP Nr. 64 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 1023/08, NZA-RR 2011, 30 (33); Thüsing/Braun/Reufels, 8. Kap. Rz. 63; Bepler, NZA-Beil. 3/2010, 99 (102); Hohenstatt, DB 1992, 1678 (1683). 4 BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 789/07, NZA 2009, 265 (267); BAG v. 20.5.2009 – 4 AZR 230/08, NZA-RR 2010, 591 (595); BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (60); insbesondere für die Zulässigkeit einer anderen Abmachung durch eine Bezugnahmeklausel vor Eintritt der Nachwirkung BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 41/05, NZA 2006, 923 (925); vgl. auch Löwisch/ Rieble, § 4 TVG Rz. 745; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 359; E.M. Willemsen, Bezugnahme auf Tarifvertrag, S. 279 ff. 5 BAG v. 4.9.1996 – 4 AZR 135/95, NZA 1997, 271 (272); BAG v. 22.10.2008 – 4 AZR 784/07, AP Nr. 66 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 22.4.2009 – 4 ABR 14/08, NZA 2009, 1286 (1289); Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 330; Annuß, ZfA 2005, 405 (414); Otto, Arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln, S. 46.
1104 Sittard
Verbandswechsel
Rz. 55b Teil 14
fest, so wird dieser auch über eine große dynamische Bezugnahmeklausel in Bezug genommen. Kommt § 4a TVG zur Anwendung, so lässt sich anhand der Norm – von praktischen 55a Schwierigkeiten abgesehen – bestimmen, welcher TV im Betrieb auf kollektivrechtlicher Ebene gilt. Auf diesen TV bezieht sich dann die Bezugnahmeklausel. Vor dem Hintergrund des Tarifeinheitsgesetzes stellt sich die Frage, ob im Rahmen der großen dynamischen Bezugnahmeklausel Klauselzusätze in Form von Spezialitätsklauseln aufgenommen werden können, die zu einer Anwendung eines anderen als dem kollektivrechtlich geltenden TV führen. Mit Blick darauf, dass § 4a TVG im Rahmen einer Kollision eines arbeitsvertraglich in Bezug genommenen TVs mit einem normativ geltenden TV keine Anwendung findet (vgl. Rz. 45), muss diese Frage bejaht werden. Über arbeitsrechtliche Bezugnahmeklauseln kann man nach wie vor zu einer Anwendung eines anderen als dem kollektivrechtlich geltenden TV gelangen1, wobei dann das Günstigkeitsprinzip im Verhältnis zwischen Tarifgeltung und Bezugnahmeklausel maßgeblich ist. Weiterhin problematisch ist auch im Fall der Anwendbarkeit von § 4a TVG eine Klausel, die auf den „im Unternehmen einschlägigen TV“ verweist. Im Rahmen der Tarifeinheit nach § 4a TVG wird an den Betrieb und nicht an das Unternehmen angeknüpft, so dass auch über § 4a TVG keine eindeutige Zuordnung möglich ist. Insofern wird vorgeschlagen entweder den im Betrieb geltenden TV anzuwenden oder aber den TV anzuwenden, der sich in der Mehrheit der Betriebe des Unternehmens durchsetzt2. Probleme kann die Bestimmung des nach dem Verbandswechsel anzuwendenden TVs 55b jedoch bereiten, wenn nach dem Verbandswechsel nicht bloß ein einziger TV auf das Arbeitsverhältnis einwirkt, sondern im Betrieb des Arbeitgebers eine Tarifpluralität oder Tarifkonkurrenz besteht, da hier aufgrund der Formulierung der Bezugnahmeklausel zunächst nicht ermittelbar ist, welcher auf kollektivrechtlicher Ebene geltende TV denn der eine „jeweils im Betrieb normativ geltende TV“ ist3. Diese Probleme haben sich zumindest im Anwendungsbereich der gesetzlich geregelten Tarifeinheit deutlich relativiert, da es innerhalb einer Berufsgruppe regelmäßig nur einen TV geben wird. Ist der § 4a TVG hingegen (noch) nicht anwendbar, so besteht in klauselgestalterischer Hinsicht eine Möglichkeit zur Beseitigung etwaiger Unklarheiten darin, die große dynamische Bezugnahmeklausel mit einem Klauselzusatz zu versehen, durch den die Tarifmehrheit auf kollektivrechtlicher Ebene schuldrechtlich aufgelöst wird, indem bspw. bei Geltung mehrerer TVe nur der speziellere TV in Bezug genommen werden soll4. Weist eine große dynamische Bezugnahmeklausel im Falle einer auf kollektivrechtlicher Ebene bestehenden Tarifmehrheit keinen die Kollisionslage auflösenden Zusatz auf, spricht viel dafür, dass im Rahmen der Klauselauslegung entsprechend der früher zur Auflösung von Tarifmehrheiten geltenden Rechtsprechung allein auf den speziellsten TV verwiesen werden sollte5. 1 Zust. Greiner, NZA 2015, 769 (775). 2 Beauregard, DB 2015, 1527 (1530). 3 Bayreuther, NZA 2009, 935 (937); Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, S. 128 ff.; Jacobs, NZA 2008, 325 (332 f.); Willemsen/Mehrens, NZA 2010, 1313 (1314 f.). 4 Hinsichtlich möglicher Klauselgestaltungen siehe Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, S. 128 ff., 319 ff. 5 So auch Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, S. 134; Jacobs, NZA 2008, 325 (332 f.); Willemsen/Mehrens, NZA 2010, 1313 (1314 f.).
Sittard
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Teil 14 Rz. 56
Gewillkrter Tarifverlust
II. Rechtsfolgen für Neueintritte 56
Die kollektivrechtliche Geltung von TVen für nach dem Arbeitgeberverbandswechsel neu eingestellte Arbeitnehmer beurteilt sich in Abhängigkeit davon, mit welcher Gewerkschaft der neue Arbeitgeberverband einen TV abgeschlossen hat, in welcher Gewerkschaft die neu eingestellten Arbeitnehmer organisiert sind und welcher TV im Falle einer Tarifkollision über § 4a TVG letztendlich zur Anwendung kommt. 1. Tarifgeltung bei Tarifvertragsabschluss mit gleicher Gewerkschaft
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Hat der „neue“ Arbeitgeberverband, dessen Mitglied der Arbeitgeber nach seinem Verbandswechsel geworden ist, mit der gleichen Gewerkschaft einen TV abgeschlossen, ergibt sich für einen neu eingestellten Arbeitnehmer die gleiche Rechtsfolge wie für die bereits vor dem Verbandswechsel beschäftigten Mitarbeiter. Der vom „alten“ Arbeitgeberverband abgeschlossene TV gilt bis zu dessen Beendigung gemäß § 3 Abs. 3 TVG fort und erfasst auch neu eingetretene Arbeitnehmer, soweit diese in der tarifschließenden Gewerkschaft organisiert sind1. Daneben findet der zwischen dem „neuen“ Arbeitgeberverband und der „alten“ Gewerkschaft abgeschlossene TV gemäß § 3 Abs. 1 TVG Anwendung, was bei bestehender Fortgeltung des „alten“ TVs nach § 3 Abs. 3 TVG zu einer Tarifkonkurrenz führt, die nach überwiegender Auffassung nach dem Spezialitätsprinzip aufzulösen ist2. Gilt der vom „alten“ Arbeitgeberverband geschlossene TV nicht mehr fort (§ 3 Abs. 3 TVG), findet bei entsprechender Gewerkschaftsmitgliedschaft des neu eingestellten Arbeitnehmers allein der neue TV Anwendung. Ist der neu eingetretene Arbeitnehmer gar nicht oder in einer anderen Gewerkschaft organisiert, gilt für ihn kein TV. § 4a TVG kommt in dieser Konstellation – wie erläutert – nicht zur Anwendung, wenn TVe einer Gewerkschaft kollidieren. 2. Tarifgeltung bei Tarifvertragsabschluss mit anderer Gewerkschaft
58
Hat der „neue“ Arbeitgeberverband, dessen Mitglied der Arbeitgeber nach dem Verbandswechsel geworden ist, hingegen einen TV mit einer anderen Gewerkschaft abgeschlossen, ist neben der Gewerkschaftszugehörigkeit des neu eingetretenen Arbeitnehmers für dessen Tarifgebundenheit auch der Geltungsgrund des jeweiligen TVs entscheidend.
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Ist der Arbeitnehmer Mitglied der „alten“ Gewerkschaft, ist er gemäß § 3 Abs. 3 TVG grundsätzlich an den „alten“ TV gebunden, wenn sich der „alte“ TV zum Zeitpunkt seiner Einstellung im Zeitraum der Fortgeltung/Nachbindung befand3. Allerdings 1 BAG v. 4.8.1993 – 4 AZR 499/92, NZA 1994, 34 (35); BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 (485); BAG v. 7.11.2001 – 4 AZR 703/00, NZA 2002, 748; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 84; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 23; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 225; Wiedemann/ Oetker, § 3 TVG Rz. 67; siehe dazu auch Teil 6 Rz. 74. 2 Bislang einhellige Meinung, siehe ErfK/Franzen, § 4a TVG Rz. 31 ff.; Schliemann, NZA-Beil. zu Heft 24/2000, 24 (29); zum Spezialitätsprinzip allgemein BAG v. 24.9.1975 – 4 AZR 471/74, AP Nr. 11 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 14.6.1989 – 4 AZR 200/89, AP Nr. 16 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz. 3 BAG v. 4.8.1993 – 4 AZR 499/92, NZA 1994, 34 (35); BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 (485); BAG v. 7.11.2001 – 4 AZR 703/00, NZA 2002, 748; Däubler/Lorenz, § 3
1106 Sittard
Verbandswechsel
Rz. 62
Teil 14
kommt auch hier im Falle der Tarifkollision § 4a TVG zur Anwendung, was wiederum auch zur Geltung des „neuen“ TVs führen kann. Befand sich der „alte“ TV hingegen bereits im Zeitraum der Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG, ist eine Bindung an diesen TV gänzlich ausgeschlossen, da neu eingestellte Arbeitnehmer von der Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG nicht erfasst werden1. Eine Tarifgebundenheit an den zwischen der „neuen“ Gewerkschaft und dem „neuen“ Arbeitgeberverband abgeschlossenen TV besteht mangels kongruenter Tarifbindung nicht. Ist der neu eingestellte Arbeitnehmer hingegen in der „neuen“ Gewerkschaft organisiert, ist er – wieder vorbehaltlich einer über § 4a TVG anderweitig aufzulösenden Tarifkollision – gemäß § 3 Abs. 1 TVG allein an den „neuen“ TV gebunden.
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3. Tarifgeltung qua Bezugnahmeklausel Der Arbeitgeber ist im Hinblick auf Neueintritte frei in der Entscheidung, ob und 61 wenn ja, welche Bezugnahmeklausel er vereinbaren will. Da mit der Vereinbarung einer statischen sowie einer kleinen dynamischen Bezugnahmeklausel ohne Gleichstellungszweckvereinbarung eine dauerhafte und selbst durch Änderungskündigung kaum einseitig zu beseitigende Tarifbindung geschaffen wird, sollte von diesen Klauselvarianten im Regelfall kein Gebrauch gemacht werden. Strebt der Arbeitgeber eine Gleichstellung seiner Arbeitnehmer an, kann eine große dynamische Bezugnahmeklausel empfehlenswert sein, die mit einem Zusatz versehen werden kann, dass die Bezugnahmeklausel lediglich Gleichstellungszwecken dienen soll und im Falle einer bestehenden Tarifpluralität – je nach Bedarf – bspw. entweder der speziellste oder der von der Mehrheit der Arbeitnehmer auf kollektivrechtlicher Ebene getragene TV Anwendung finden soll2.
III. Zwang zur Anwendung von tariflichen Entgeltschemata für bereits beschäftigte und neu eingestellte Arbeitnehmer Die oben bereits geschilderten Folgen der Rechtsprechung des 1. Senats des BAG, die 62 eine Pflicht des Arbeitgebers zur Beibehaltung tariflicher Vergütungsschemata auch nach dem Wegfall der Bindung an das tarifliche Vergütungssystem über § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG statuiert (vgl. Rz. 30 f.) gelten nicht für den Fall, dass ein Verbandswechsel stattfindet und es im Zuge des damit verbundenen Tarifwechsels zum Wegfall oder zum Austausch eines tariflichen Vergütungssystems kommt. Dies ist Folge des in § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG normierten Tarifvorrangs. Durch den Verbandswechsel besteht, anders als beim Verbandsaustritt, eine andere tarifliche Bindung des Arbeitgebers an den „neuen“ TV. Daher ist die Anwendung des § 87 BetrVG hier gesperrt. TVG Rz. 84; ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 23; Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 225; Wiedemann/ Oetker, § 3 TVG Rz. 67; siehe dazu auch Teil 6 Rz. 74. 1 St. Rspr. seit BAG v. 6.6.1958 – 1 AZR 515/57, NJW 1958, 1843 (1844); BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 (485); BAG v. 22.7.1998 – 4 AZR 403/97, NZA 1998, 1287 (1288); BAG v. 7.11.2001 – 4 AZR 703/00, NZA 2002, 748 (750); BAG v. 5.8.2009 – 10 AZR 1006/08, NZA 2009, 1439; siehe auch Teil 9 Rz. 42. 2 Zur entsprechenden Ausgestaltung einer solchen Bezugnahmeklausel siehe Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, S. 577 ff.
Sittard
1107
Teil 14 Rz. 63
Gewillkrter Tarifverlust
D. Herstellung einer mehrfachen Tarifbindung 63
Ein Tarifwechsel kann von Seiten der Arbeitnehmer und des Arbeitgebers auch dadurch herbeigeführt werden, dass eine normative Bindung an mehrere Tarifwerke hergestellt wird, um dann im Rahmen einer Auflösung der sich ergebenden Tarifkollision eine Verdrängung des bisher geltenden TVs durch den im Wege der Mehrfachbindung nunmehr vorrangig geltenden TV zu erreichen. Es bleibt zu untersuchen, inwieweit dies nach Einführung des § 4a TVG in den nachfolgend behandelten Fällen denkbar sein wird, wenn sich Arbeitgeber oder Arbeitnehmer in mehreren Koalitionen gleichzeitig betätigen und damit eine sog. Doppelmitgliedschaft eingehen oder indem der Arbeitgeber einen HausTV abschließt, um sich damit eventuell der Regelungswirkung eines weiterhin geltenden VerbandsTVs zu entziehen. Weiterhin ist ein Tarifwechsel vorstellbar, indem arbeitgeberseitig eine Tarifbindung nach § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG – sei es an einen HausTV oder an einen VerbandsTV – neben einer Geltung eines allgemeinverbindlichen TVs (§ 5 Abs. 4 TVG) hergestellt wird.
I. Doppelmitgliedschaft von Arbeitnehmer oder Arbeitgeber 64
Kollektivrechtlich geltende Tarifbestimmungen konnten jedenfalls vor Inkrafttreten des Tarifeinheitsgesetzes auch dadurch abgelöst und damit ein Tarifwechsel vollzogen werden, wenn Arbeitnehmer oder Arbeitgeber Doppelmitgliedschaften begründen, d.h. der Arbeitgeber in mehreren Arbeitgebervereinigungen und der Arbeitnehmer in mehreren Gewerkschaften organisiert ist. Eine Doppelmitgliedschaft von Arbeitnehmer oder Arbeitgeber wird zwar eher der Ausnahmefall sein, ist jedoch theoretisch denkbar und zumindest tarifrechtlich zulässig. Durch den Beitritt zu einer Koalition wird das Beitrittsrecht von Arbeitnehmer oder Arbeitgeber nicht verbraucht und ist daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden1. Der Begründung einer Doppelmitgliedschaft können jedoch Satzungsbestimmungen der jeweiligen „konkurrierenden“ Koalitionen entgegenstehen. Aber selbst wenn dies so sein sollte, dürfte ein reiner Satzungsverstoß nicht auf die neue Tarifbindung durchschlagen. Problematisch ist aber, wenn die Satzung der „neuen“ Koalition den wirksamen Beitritt zu ihrer Vereinigung davon abhängig macht, dass eine Mitgliedschaft in einer konkurrierenden Koalition nicht besteht. Eine solche Satzungsbestimmung ist nach überwiegender Auffassung zulässig, da keine Koalition Mitglieder konkurrierender Organisationen aufnehmen muss2.
65
Besteht auf der Seite eines Arbeitnehmers eine doppelte Mitgliedschaft, so kann dies unter Umständen zu einer Tarifkollision führen, die dann die Verdrängung eines zuvor geltenden TVs bewirken kann. Für den Fall, dass der Arbeitnehmer in zwei Gewerkschaften organisiert ist, die beide mit dem Arbeitgeber selbst oder aber mit dessen Arbeitgebervereinigung einen TV geschlossen haben, käme es an sich zu einer kollidierenden Geltung zweier TVe nach § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG. Auf ein und dasselbe Arbeitsverhältnis wirken zwei TVe unterschiedlicher Gewerkschaften ein und
1 BAG v. 17.2.1998 – 1 AZR 364/97, NZA 1998, 754 (755); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 108. 2 BGH v. 25.3.1991 – II ZR 170/90, NJW-RR 1992, 246 (247); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 109.
1108 Sittard
Herstellung einer mehrfachen Tarifbindung
Rz. 66b Teil 14
es entsteht eine Tarifkollision, die jetzt nicht mehr nach dem Spezialitätsprinzip aufzulösen ist1, sondern durch unmittelbare Anwendung des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG. Ist der Arbeitnehmer allerdings in mehreren Gewerkschaften organisiert und hat der Arbeitgeber oder dessen Arbeitgebervereinigung nur mit einer dieser Gewerkschaften einen TV geschlossen, findet nur ein TV auf das Arbeitsverhältnis des Arbeitnehmers normative Anwendung und eine Tarifkollision im Arbeitsverhältnis ist ausgeschlossen. Ob dann ein TV kollektivrechtlich zur Anwendung kommt, hängt davon ab, ob sich ein TV, an den der Arbeitnehmer gebunden ist, gem. § 4a TVG durchsetzt. Ebenso ist es auf der anderen Seite auch vorstellbar, dass sich ein Arbeitgeber in mehre- 66 ren Arbeitgeberverbänden gleichzeitig organisiert. Welche Auswirkungen diese Doppelmitgliedschaft des Arbeitgebers auf die Tarifgeltung im jeweiligen Betrieb hat, hängt davon ab, mit welcher Gewerkschaft die Arbeitgeberverbände kontrahiert haben und in welcher Gewerkschaft die vom Arbeitgeber beschäftigten Mitarbeiter organisiert sind. Haben beide Arbeitgeberverbände einen TV mit derselben Gewerkschaft geschlossen, so kommt es für die organisierten Arbeitnehmer zu einer Tarifkonkurrenz, die anhand des Spezialitätsprinzips aufzulösen ist. § 4a TVG ist unanwendbar, da nicht mehrere Gewerkschaften beteiligt sind. Für etwaige Außenseiter besteht keinerlei Tarifbindung. Haben die Arbeitgeberverbände hingegen mit verschiedenen Gewerkschaften TVe ge- 66a schlossen, kommt es zu einer Tarifpluralität im Betrieb. Auf die Arbeitsverhältnisse sind grds. diejenigen TVe anzuwenden, die von der Gewerkschaft geschlossen worden sind, in der der jeweilige Arbeitnehmer organisiert ist (das gilt jedenfalls für Inhaltsnormen, bei Betriebsnormen kommt es zu einer auflösungsbedürftigen Tarifkonkurrenz). Es gilt dann für TV, die vor dem 10. Juli 2015 (vgl. § 13 Abs. 3 TVG) geschlossen worden sind, für jedes Arbeitsverhältnis nur ein TV, wobei innerhalb des Betriebes mehrere TVe angewendet werden müssen. Die im Betrieb entstehende Tarifpluralität ist für „Altfälle“ hinzunehmen und nicht auflösungsbedürftig. Im Anwendungsbereich des § 4a TVG hat sich dies nun geändert. Wenn die TVe nicht inhaltsgleich sind, gilt gem. § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG der TV derjenigen Gewerkschaft, die die meisten Mitglieder im Betrieb hat. Danach gibt es innerhalb einer Berufsgruppe im Betrieb auch nur einen TV. Eine über § 4a TVG aufzulösende Tarifpluralität würde hingegen ausbleiben, wenn die Belegschaft im jeweiligen Betrieb von Anfang an nur in einer der an den TV-Abschlüssen beteiligten Gewerkschaften organisiert wäre oder eine einheitliche Tarifgeltung dadurch bewerkstelligen würde, dass alle Arbeitnehmer nach den erfolgten TV-Abschlüssen nachträglich in eine der beiden im Betrieb vertretenen Gewerkschaften wechseln2. Zu einer sozusagen „doppelten Tarifkonkurrenz“ würde es hingegen kommen, wenn 66b nicht nur der Arbeitgeber in zwei Arbeitgebervereinigungen vertreten wäre, sondern
1 Früher einhellige Meinung, siehe ErfK/Franzen, § 4a TVG Rz. 31 m.w.N.; Schliemann, NZABeil. zu Heft 24/2000, 24 (29); zur Rechtslage nach der Verabschiedung des Grundsatzes der Tarifeinheit durch das BAG siehe Teil 9 Rz. 101 ff.; zum Spezialitätsprinzip allgemein BAG v. 24.9.1975 – 4 AZR 471/74, AP Nr. 11 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG v. 14.6.1989 – 4 AZR 200/89, AP Nr. 16 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; Hromadka/Maschmann/Wallner, Tarifwechsel, Rz. 139; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 278; Etzel, NJW 1991, 3191 (3192). 2 So auch Hromadka/Maschmann/Wallner, Tarifwechsel, Rz. 485 ff.
Sittard
1109
Teil 14 Rz. 67
Gewillkrter Tarifverlust
auch die Arbeitnehmer aufgrund einer Doppelmitgliedschaft in den jeweils an den TV-Abschlüssen beteiligten Gewerkschaften doppelt kongruent tarifgebunden wären. Die dann entstehende Konkurrenz wäre für TV, die nach dem 10. Juli 2015 abgeschlossen wurden, wiederum über § 4a TVG aufzulösen (vgl. Rz. 65). 67
Ergibt sich in den soeben dargestellten Fallkonstellationen eine Tarifkonkurrenz, die zugunsten eines der konkurrierenden TVe aufgelöst werden muss, kann damit bei Nichtgeltung des § 4a TVG – je nach Ausgang der erforderlichen Spezialitätsbetrachtung – ein Tarifwechsel erfolgen und der zuvor geltende TV durch einen anderen TV verdrängt werden. Da in dieser Konstellation – bis auf den Austritt der Arbeitnehmer zum Zwecke des Gewerkschaftswechsels, welcher sich nach den bereits oben dargestellten Grundsätzen richtet (vgl. Rz. 35 ff.) – die bestehenden Mitgliedschaftsverhältnisse in den jeweiligen Koalitionen nicht beendet werden und auch sonst eine Beendigung von TVen nicht zu erwarten ist, stellen sich auf kollisionsrechtlicher Ebene keine Probleme hinsichtlich der Ablösung von TVen im Stadium der Fortgeltung (§ 3 Abs. 3 TVG) oder Nachwirkung (§ 4 Abs. 5 TVG).
67a Ein abweichendes Ergebnis wird freilich bei Anwendung des § 4a TVG erzielt. Da bei Tarifkollisionen der TV, der im Betrieb mitgliederstärksten Gewerkschaft gilt, wird die Doppelmitgliedschaft von Arbeitnehmer oder Arbeitgeber unter der Geltung des Tarifeinheitsgesetzes regelmäßig nicht mehr zur Änderung des geltenden TVs führen.
II. Abschluss eines Haustarifvertrages neben einem bestehenden Verbandstarifvertrag 68
Die verdrängende Wirkung des Spezialitätsprinzips gegenüber einem kollektivrechtlich geltenden TV bei einer Kollision mit einem anderen auf normativer Ebene geltenden TV kann auch in der Fallkonstellation einen Tarifwechsel eintreten lassen, in der ein an einen VerbandsTV gebundener Arbeitgeber zusätzlich einen HausTV abschließt. Auch in diesem Kontext ist aber der § 4a TVG zu beachten. Schließt der Arbeitgeber den HausTV mit einer anderen Gewerkschaft ab, so findet im Verhältnis zum VerbandsTV nicht mehr das Spezialitätsprinzip, sondern die Regelung des § 4a TVG Anwendung. Der Gesetzgeber hielt es nicht für sachgerecht, dass ein HausTV den FlächenTV verdrängt, obwohl ersterer mit der Minderheitsgewerkschaft abgeschlossen wurde1. In Fällen der Tarifkollision kommt es für die Geltung des jeweiligen TVs damit auf die mitgliederstärkste Gewerkschaft an.
68a Findet der Abschluss des TVs mit derselben Gewerkschaft statt, mit der auch der VerbandsTV besteht, findet das Spezialitätsprinzip Anwendung2; § 4a TVG gilt bei der Konkurrenz mehrerer TVe einer Gewerkschaft gerade nicht. In diesen Fällen wird der HausTV dem VerbandsTV für diejenigen Arbeitsverhältnisse, die einer Tarifkonkurrenz unterliegen, im Wege der Spezialitätsbetrachtung regelmäßig vorgehen und somit zu einem Austausch des geltungsbeanspruchenden Regelwerks auf Tarifebene führen (vgl. Teil 11 Rz. 31 ff.). Der Abschluss eines HausTVs kann somit ein taktisches Mittel
1 BT-Drucks. 18/4062, S. 2. 2 ErfK/Franzen, § 4a TVG Rz. 29, 31.
1110 Sittard
Herstellung einer mehrfachen Tarifbindung
Rz. 70
Teil 14
des Arbeitgebers zur Gestaltung der geltenden Tariflage sein. Hiervon wird häufig in der Situation sog. SanierungsTVe Gebrauch gemacht, in denen der Arbeitgeber mit seiner „alten“ Gewerkschaft in Verhandlungen über Spezialregelungen (z.B. Veränderung der wöchentlichen Arbeitszeit, Verzicht auf tarifliche Sonderleistungen, ggf. zeitweise Absenkung der Grundvergütung etc.) für das Unternehmen oder einen Betrieb eintritt (vgl. Teil 12 Rz. 1 ff.). Wird ein HausTV gekündigt, gelten für ihn grundsätzlich die allgemein zur Beendi- 69 gung von Tarifregelungen einschlägigen Bestimmungen, so dass es nach Beendigung des TVs zu einer Nachwirkung i.S.d. § 4 Abs. 5 TVG kommt. Insbesondere bei SanierungsTVen in Form eines HausTVs bestehen die Gewerkschaften aber häufig darauf, dass die Nachwirkung ausgeschlossen wird, damit die „Sanierungsbedingungen“ nicht auf Dauer – und sei es über die Nachwirkung – weiter gelten1. In diesem Fall schließt sich an die Fortgeltung des TVs nach § 3 Abs. 3 TVG unmittelbar der ersatzlose Wegfall des HausTVs an2. Dann kommt regelmäßig wieder der zuvor verdrängte VerbandsTV zur Anwendung. Wurde die Nachwirkung des TVs gemäß § 4 Abs. 5 TVG hingegen nicht ausgeschlos- 70 sen, stellt sich die Frage, ob der zuvor verdrängte VerbandsTV mit Eintritt des HausTVs in die Nachwirkungsphase als „andere Abmachung“ zur direkten Beseitigung des HausTVs führt oder ob besondere Anforderungen an die Verdrängung des HausTVs durch den zuvor seinerseits verdrängten VerbandsTV zu stellen sind. Unzweifelhaft ist von einer Beseitigung des nachwirkenden HausTVs durch einen VerbandsTV dann auszugehen, wenn der VerbandsTV erst nach dem Eintritt der Nachwirkung vereinbart wurde. Das BAG hat die Frage, ob ein zuvor abgeschlossener und zunächst durch den HausTV verdrängter VerbandsTV eine Nachwirkung beseitigen könne, in seiner Entscheidung vom 4.7.2007 ausdrücklich offen gelassen3. In der Literatur wird zum Teil davon ausgegangen, dass grundsätzlich jeder TV, der unmittelbar und zwingend auf das einzelne Arbeitsverhältnis einwirkt, eine andere Abmachung darstelle – unabhängig davon, ob dies zu einer Verdrängung des spezielleren TVs durch den allgemeineren TV führt4. Demnach würde der nachwirkende HausTV unmittelbar durch einen zuvor im Wege des Spezialitätsprinzips verdrängten VerbandsTV abgelöst. Für diese Auffassung spricht, dass der normativ geltende VerbandsTV eine gegenüber dem nur nachwirkenden HausTV größere Richtigkeitsgewähr beansprucht (denn der HausTV ist ja abgelaufen und der Zeitraum, für den die TV-Parteien diese speziellen Bedingungen wollten, ist beendet) und somit einem nicht zwingend geltenden TV vorgehen könnte, dessen Nachwirkung als Ausdruck einer Überbrückung tarifloser Zeiten wegen der Geltung des VerbandsTVs nicht mehr erforderlich ist. Weiterhin kann sich diese Auffassung auf den Wortlaut des § 4 Abs. 5 TVG berufen, der eine Verdrängung eines nachwirkenden TVs durch eine andere Abmachung gerade nicht am Spezialitätsprinzip misst. Nach anderer Auffassung soll jedoch eine solche Kollision zweier normativ geltender TVe – auch wenn der HausTV „nur“ gemäß § 4 Abs. 5 TVG nachwirkt – weiterhin nach den allgemeinen Grundsätzen zur Auflösung von
1 Vgl. zur Möglichkeit des konkludenten Ausschlusses der Nachwirkung BAG v. 16.5.2012 – 4 AZR 366/10, NZA 2013, 220 (223). 2 So bspw. bei BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41. 3 BAG v. 4.7.2007 – 4 AZR 439/02, AP Nr. 48 zu § 4 TVG Nachwirkung. 4 Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 723 f.; Löwisch/Rieble, FS Schaub, S. 457 (462 f.).
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Teil 14 Rz. 71
Gewillkrter Tarifverlust
Tarifkollisionen beurteilt werden1, wobei diese Auffassung eine Ausnahme für den Fall macht, dass nach der Beendigung des HausTVs der Abschluss eines Folge-HausTVs ausgeschlossen ist. Demnach würde sich der speziellere HausTV auch für den Zeitraum seiner Nachwirkung gegenüber dem VerbandsTV durchsetzen. Dafür könnte sprechen, dass der nachwirkende TV ebenfalls an einer besonderen Richtigkeitsgewähr partizipiert, da die den HausTV abschließenden TV-Parteien von einem Ausschluss der Nachwirkung absichtlich abgesehen haben. Weiterhin könnte die vom HausTV ausgehende Richtigkeitsgewähr sogar schwerer wiegen, da der geltende HausTV verglichen mit dem VerbandsTV der speziellere ist. Auch wenn das BAG sich keiner der beiden Auffassungen ausdrücklich angeschlossen hat, so hat es die letztgenannte Auffassung in einem Urteil aufgegriffen und unbeanstandet gelassen2. Dies bedeutet freilich nicht, dass sich das BAG dieser Auffassung zwingend anschließen wird. In neueren Entscheidungen hat der 4. BAG-Senat jedoch eine Ablösung von TVen durch andere, bereits vor dem Eintritt der Nachwirkung vereinbarte, aber zuvor verdrängte Abmachungen nur dann ohne Weiteres zugelassen, wenn die Nachwirkung des TVs ausgeschlossen wurde3. Dies spricht dafür, dass allein der Eintritt des HausTVs in das Nachwirkungsstadium nicht ausreicht, um von einer zuvor überlagerten Regelung verdrängt zu werden, wobei eine abschließende Entscheidung des BAG abzuwarten bleibt.
III. Tarifkollision mit allgemeinverbindlich erklärtem Tarifvertrag/AEntG 71
Eine unter Anwendung des Spezialitätsprinzips zur Ablösung von tariflichen Bestimmungen und somit zum Tarifwechsel führende Tarifkollision kann auch zwischen Regelungen eines gemäß § 5 Abs. 4 TVG für allgemeinverbindlich erklärten TVs und eines nach §§ 3, 4, 7, 7a TVG geltenden TVs entstehen. In diesem Bereich findet § 4a TVG keine Anwendung, da der Arbeitgeber nicht über § 3 TVG an den TV gebunden ist4. Gelten neben dem allgemeinverbindlich erklärten TV vom Arbeitgeber abgeschlossene TVe unmittelbar und zwingend gemäß § 3 Abs. 1 TVG oder § 3 Abs. 3 TVG, findet auf die Arbeitsverhältnisse nach überwiegender Auffassung allein der speziellere TV Anwendung, was in der Regel eine Anwendung des für allgemeinverbindlich erklärten TVs ausschließt (da dieser regelmäßig ein VerbandsTV mit großem Geltungsbereich ist). Nach einer im Vordringen befindlichen Auffassung lässt sich aber eine Verdrängung von mitgliedschaftlich legitimierten TVen (sei es Haus- oder VerbandsTV) durch eine staatlich angeordnete Tarifbindung nach § 5 Abs. 4 TVG nie rechtfertigen, solange der kraft Mitgliedschaft geltende TV unmittelbar und zwingend wirkt5.
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Befinden sich die im Betrieb geltenden TVe in der Nachwirkung, stellt sich das oben hinsichtlich der Kollision von nachwirkendem HausTV und unmittelbar und zwin-
1 Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 861; Jacobs in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, Tarifvertragsrecht, § 7 Rz. 227. 2 BAG v. 4.7.2007 – 4 AZR 491/06, NZA 2008, 307. 3 So bspw. in BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41; BAG v. 1.7.2009 – 4 AZR 261/08, NZA 2010, 53 (60). 4 Vgl. auch BT-Drucks. 18/4062, S. 12. 5 Vgl. Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 270 ff. m.w.N. sowie Teil 7 Rz. 98.
1112 Sittard
Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eines Tarifvertrages
Rz. 75
Teil 14
gend geltendem VerbandsTV geschilderte Problem abermals. Wiederum ist die Frage zu beantworten, ob die Spezialität des nachwirkenden TVs für einen Vorrang vor dem allgemeinverbindlich erklärten TV sorgt oder ob sich die unmittelbaren und zwingenden Regelungen des allgemeinverbindlich erklärten TVs gegenüber den bloß nachwirkenden Regelungen eines weiteren TVs durchsetzen1. Im Gegensatz zur beschriebenen Fallkonstellation, in der ein nachwirkender HausTV mit einem zuvor verdrängten VerbandsTV kollidiert, hat sich das BAG für den Fall einer Kollision von allgemeinverbindlichem und nachwirkendem TV für den Vorrang des allgemeinverbindlichen TVs ausgesprochen2. Klar geregelt ist hingegen die Auflösung von Tarifkonkurrenzen unter Beteiligung eines nach dem AEntG erstreckten TVs. Nach § 8 Abs. 2 AEntG gehen die vom AEntG erfassten TVe immer vor, soweit die konkurrierenden TVe ungünstigere Arbeitsbedingungen vorsehen. Im Anwendungsbereich des AEntG gilt das Spezialitätsprinzip damit nicht, sondern es gilt – auch zwischen TVen – eine Art Günstigkeitsprinzip3.
73
E. Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eines Tarifvertrages Neben der Mitgliedschaft von Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der jeweils tarifschlie- 74 ßenden Koalition ist weiterhin Voraussetzung für die Anwendbarkeit eines TVs auf ein Arbeitsverhältnis, dass das jeweilige Arbeitsverhältnis auch dem Geltungsbereich des TVs unterfällt. Ein Wegfall der Tarifgeltung bzw. ein Tarifwechsel kann daher auch dann stattfinden, wenn das vom TV erfasste Unternehmen bzw. der erfasste Betrieb (entscheidend ist insoweit, an welche Einheit – Unternehmen, Betrieb oder Betriebsteil – der konkrete TV anknüpft) den Geltungsbereich des TVs verlässt. Ein solches Verlassen des Geltungsbereichs eines TVs kann entweder dadurch erfolgen, dass sich in sachlicher Hinsicht der branchenbezogene Tätigkeitsschwerpunkt des jeweiligen Betriebes verändert oder der Betrieb in örtlicher Hinsicht verlagert wird. Ein solches „Herauswachsen“ aus dem Geltungsbereich liegt bspw. vor, wenn sich ein ehemaliger Produktionsbetrieb allmählich zu einem Dienstleistungsbetrieb entwickelt. Ein Betrieb kann allerdings auch dadurch den Geltungsbereich eines TVs verlassen, indem er im Wege einer Unternehmensumstrukturierung entweder intern anders organisiert wird und damit einen anderen Tätigkeitsschwerpunkt erhält oder an einen einer anderen Branche zugehörigen Inhaber übertragen wird. Zu dem sich im Zuge einer Unternehmensumstrukturierung ergebenden Verlassen des tariflichen Geltungsbereichs siehe Teil 15 Rz. 7 ff., 30 ff.
I. Rechtsfolgen für bereits beschäftigte Arbeitnehmer Wächst der Betrieb aus dem Geltungsbereich eines TVs heraus, fehlt es an einer Gel- 75 tungsvoraussetzung des TVs. Eine unmittelbare und zwingende Geltung des TVs ge1 Für die erstgenannte Ansicht: Jacobs in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 7 Rz. 225; für die letztgenannte Auffassung: Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 727; Braun, ArbRB 2007, 76; Jacobs, Tarifeinheit, S. 305; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1808 f.; siehe insgesamt weiterhin Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 267 ff. 2 BAG v. 15.11.2006 – 10 AZR 665/05, NZA 2007, 448 (452). 3 Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 389 ff. m.w.N. sowie Teil 7 Rz. 193 f.
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Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eines Tarifvertrages
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gend geltendem VerbandsTV geschilderte Problem abermals. Wiederum ist die Frage zu beantworten, ob die Spezialität des nachwirkenden TVs für einen Vorrang vor dem allgemeinverbindlich erklärten TV sorgt oder ob sich die unmittelbaren und zwingenden Regelungen des allgemeinverbindlich erklärten TVs gegenüber den bloß nachwirkenden Regelungen eines weiteren TVs durchsetzen1. Im Gegensatz zur beschriebenen Fallkonstellation, in der ein nachwirkender HausTV mit einem zuvor verdrängten VerbandsTV kollidiert, hat sich das BAG für den Fall einer Kollision von allgemeinverbindlichem und nachwirkendem TV für den Vorrang des allgemeinverbindlichen TVs ausgesprochen2. Klar geregelt ist hingegen die Auflösung von Tarifkonkurrenzen unter Beteiligung eines nach dem AEntG erstreckten TVs. Nach § 8 Abs. 2 AEntG gehen die vom AEntG erfassten TVe immer vor, soweit die konkurrierenden TVe ungünstigere Arbeitsbedingungen vorsehen. Im Anwendungsbereich des AEntG gilt das Spezialitätsprinzip damit nicht, sondern es gilt – auch zwischen TVen – eine Art Günstigkeitsprinzip3.
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E. Herauswachsen aus dem Geltungsbereich eines Tarifvertrages Neben der Mitgliedschaft von Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der jeweils tarifschlie- 74 ßenden Koalition ist weiterhin Voraussetzung für die Anwendbarkeit eines TVs auf ein Arbeitsverhältnis, dass das jeweilige Arbeitsverhältnis auch dem Geltungsbereich des TVs unterfällt. Ein Wegfall der Tarifgeltung bzw. ein Tarifwechsel kann daher auch dann stattfinden, wenn das vom TV erfasste Unternehmen bzw. der erfasste Betrieb (entscheidend ist insoweit, an welche Einheit – Unternehmen, Betrieb oder Betriebsteil – der konkrete TV anknüpft) den Geltungsbereich des TVs verlässt. Ein solches Verlassen des Geltungsbereichs eines TVs kann entweder dadurch erfolgen, dass sich in sachlicher Hinsicht der branchenbezogene Tätigkeitsschwerpunkt des jeweiligen Betriebes verändert oder der Betrieb in örtlicher Hinsicht verlagert wird. Ein solches „Herauswachsen“ aus dem Geltungsbereich liegt bspw. vor, wenn sich ein ehemaliger Produktionsbetrieb allmählich zu einem Dienstleistungsbetrieb entwickelt. Ein Betrieb kann allerdings auch dadurch den Geltungsbereich eines TVs verlassen, indem er im Wege einer Unternehmensumstrukturierung entweder intern anders organisiert wird und damit einen anderen Tätigkeitsschwerpunkt erhält oder an einen einer anderen Branche zugehörigen Inhaber übertragen wird. Zu dem sich im Zuge einer Unternehmensumstrukturierung ergebenden Verlassen des tariflichen Geltungsbereichs siehe Teil 15 Rz. 7 ff., 30 ff.
I. Rechtsfolgen für bereits beschäftigte Arbeitnehmer Wächst der Betrieb aus dem Geltungsbereich eines TVs heraus, fehlt es an einer Gel- 75 tungsvoraussetzung des TVs. Eine unmittelbare und zwingende Geltung des TVs ge1 Für die erstgenannte Ansicht: Jacobs in Jacobs/Krause/Oetker/Schubert, § 7 Rz. 225; für die letztgenannte Auffassung: Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 727; Braun, ArbRB 2007, 76; Jacobs, Tarifeinheit, S. 305; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rz. 1808 f.; siehe insgesamt weiterhin Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 267 ff. 2 BAG v. 15.11.2006 – 10 AZR 665/05, NZA 2007, 448 (452). 3 Sittard, Tarifnormerstreckung, S. 389 ff. m.w.N. sowie Teil 7 Rz. 193 f.
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Teil 14 Rz. 76
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mäß §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG findet nicht mehr statt. Im Anschluss an den Wegfall der Tarifgeltung gemäß § 3 Abs. 1 TVG schließt sich keine Prolongierung der Tarifgeltung nach § 3 Abs. 3 TVG an, da diese Regelung nur die Konstellation erfasst, dass die Tarifbindung wegen eines Verbandsaustritts entfällt1 und die sonstigen Tarifvoraussetzungen fortbestehen2. Vielmehr tritt der TV, dessen Geltungsbereich verlassen wurde, unmittelbar in die Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG ein3. 76
Wurde eine Bezugnahmeklausel vereinbart, beurteilt sich die Tarifgeltung auf schuldrechtlicher Ebene wiederum in Abhängigkeit davon, welche Form der Bezugnahmeklausel gewählt wurde. Das Herauswachsen aus dem Geltungsbereich bedeutet für die Wirkung von statischer und kleiner dynamischer Bezugnahmeklausel ohne Gleichstellungszweck keinerlei Veränderungen mit der Folge, dass das Herauswachsen aus dem Geltungsbereich individualrechtlich nicht nachvollzogen wird. Im Falle der statischen Bezugnahmeklausel ist der Arbeitgeber auch in Zukunft dazu verpflichtet, den bezeichneten TV in der konkret bezeichneten Fassung anzuwenden. Im Falle der kleinen dynamischen Bezugnahmeklausel ohne vereinbarten Gleichstellungszweck bleibt der Arbeitgeber zur Anwendung des konkret bezeichneten TVs dynamisch in seiner jeweils gültigen Fassung verpflichtet. Wurde hingegen eine kleine dynamische Bezugnahmeklausel mit Gleichstellungswirkung vereinbart, wurde also der TV in Bezug genommen, aus dessen Geltungsbereich der Arbeitgeber nunmehr herausgewachsen ist, wobei zum Ausdruck gekommen ist, dass die Bezugnahmeklausel lediglich die kollektivrechtliche Lage auf individualvertraglicher Ebene widerspiegeln soll, so bedeutet das Herauswachsen aus dem Geltungsbereich des TVs für die schuldrechtliche Geltung des in Bezug genommenen TVs, dass dieser in Zukunft nur noch statisch (nämlich in Anlehnung an die Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG) zur Anwendung kommt4. Wurde eine große dynamische Bezugnahmeklausel vereinbart, führt diese – soweit es nach dem Herauswachsen aus dem Geltungsbereich des „alten“ TVs nicht zu einem Hineinwachsen in den Geltungsbereich eines „neuen“ TVs kommt – dazu, dass weiterhin der „alte“ TV in Bezug genommen wird. Ob dieser TV dann allerdings statisch oder dynamisch in Bezug genommen wird, ist wiederum abhängig davon, ob der großen dynamischen Bezugnahmeklausel ein Gleichstellungszweck beigemessen werden kann.
77
Findet nach dem Herauswachsen aus dem Geltungsbereich ein neuer TV gemäß § 3 Abs. 1 TVG Anwendung, verdrängt er den nach § 4 Abs. 5 TVG nachwirkenden TV als „andere Abmachung“. Eine solche normative Geltung des neuen TVs nach § 3 Abs. 1 TVG setzt freilich eine kongruente Tarifgebundenheit von Arbeitgeber und Arbeitnehmer voraus. Auf schuldrechtlicher Ebene kann dieser „Austausch“ des TVs
1 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 (486); Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 29; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 68. 2 BAG v. 26.9.1979 – 4 AZR 819/77, NJW 1980, 1591; BAG v. 14.6.1994 – 9 AZR 89/93, NZA 1995, 178 (179); BAG v. 9.11.1999 – 3 AZR 690/98, NZA 2000, 730 (731); HWK/Henssler, § 3 TVG Rz. 43; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 68. 3 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 193/97, NZA 1998, 488 (490 f.); siehe dazu im Einzelnen Teil 9 Rz. 33 ff. 4 BAG v. 26.9.2001 – 4 AZR 544/00, NZA 2002, 634 (636); BAG v. 19.9.2007 – 4 AZR 710/06, AP Nr. 54 zu § 133 BGB; BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 396/08, NZA-RR 2010, 361 (362); Flockenhaus, Vertragsgestaltung und Kollektivverträge, S. 154; Henssler, FS Wißmann, S. 133 (137).
1114 Sittard
§ 4a TVG als Instrument fr einen Tarifwechsel
Rz. 78b Teil 14
nur durch eine große dynamische Bezugnahmeklausel nachvollzogen werden, wobei auch hier die Formulierung der Klausel im Einzelfall entscheidend ist.
II. Rechtsfolgen für Neueintritte Der Umgang mit Neueintritten bereitet für den Fall einer Nachwirkung eines TVs, 78 dessen Geltungsbereich verlassen wurde, keine Schwierigkeiten. Da die Neueintritte von der Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG nicht erfasst werden, ist der Arbeitgeber nicht dazu verpflichtet, die Bedingungen des TVs, aus dessen Geltungsbereich er herausgewachsen ist, auf die neu begründeten Arbeitsverhältnisse anzuwenden1. Hinsichtlich der Vereinbarung von Bezugnahmeklauseln kann – wenn die Aufnahme von Bezugnahmeklauseln in die neuen Arbeitsverträge überhaupt beabsichtigt ist – im Regelfall nur zur Verwendung einer großen dynamischen Bezugnahmeklausel mit einem entsprechenden Zusatz zur Auflösung von Tarifmehrheiten auf individualvertraglicher Ebene geraten werden.
F. § 4a TVG als Instrument für einen Tarifwechsel Mit Inkrafttreten des Tarifeinheitsgesetzes ergeben sich für den Arbeitgeber, wenn 78a auch sehr begrenzt, neue Gestaltungsmöglichkeiten. Da § 4a Abs. 2 TVG zu einer Verdrängung von TVen führt, kann der Arbeitgeber versuchen, auf diesem Weg eine ungewollte Tarifbindung abzustreifen. Dabei muss allerdings zunächst die Übergangsregelung des § 13 Abs. 3 TVG beachtet werden, wonach § 4a TVG auf Tarifverträge, die bis zum 10. Juli 2015 abgeschlossen wurden, keine Anwendung findet. Anknüpfungspunkt eines gewillkürten Tarifwechsels über § 4a TVG ist der Betriebs- 78b begriff, weil die Norm an eine Tarifkollision im Betrieb (und nicht im Unternehmen) anknüpft. Nach Vorstellung des Gesetzgebers ist der Betriebsbegriff tarifrechtlich zu bestimmen, orientiert sich aber am betriebsverfassungsrechtlichen Begriff2. Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass nach § 4a Abs. 2 Satz 4 TVG auch Betriebe, die gem. § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BetrVG durch TV gebildet wurden, für den Betriebsbegriff des § 4a TVG maßgeblich sind3. Ein solcher TV kann von einer tarifzuständigen Gewerkschaft ohne die Beteiligung der anderen abgeschlossen werden4. Ob sich Gewerkschaften über solche ZuordnungsTVe für sie günstige Organisationsstrukturen schaffen können, erscheint nicht unproblematisch5. Den Zielen des Gesetzes, die in § 4a Abs. 1 TVG mit der Sicherung der Schutzfunktion, Verteilungsfunktion, Befriedungs-
1 St. Rspr. seit BAG v. 6.6.1958 – 1 AZR 515/57, NJW 1958, 1843 (1844); BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 (485); BAG v. 22.7.1998 – 4 AZR 403/97, NZA 1998, 1287 (1288); BAG v. 7.11.2001 – 4 AZR 703/00, NZA 2002, 748 (750); BAG v. 5.8.2009 – 10 AZR 1006/08, NZA 2009, 1439; siehe auch Teil 9 Rz. 42. 2 BT-Drucks. 18/4062, S. 13; a.A. ErfK/Franzen, § 4a TVG Rz. 14 ff., der ausgehend vom Begriff der „Solidargemeinschaft“ einen eigenständigen Betriebsbegriff entwickelt. 3 Zu dieser Möglichkeit auch: Stellungnahme des DAV, Nr. 60/2014, S. 3; Bayreuther, NZA 2013, 1395 (1397); Schliemann, NZA 2014, 1250 (1253); Preis, FA, 354 (356). 4 BAG v. 29.7.2009 – 7 ABR 27/08, NZA 2009, 1424 (1428). 5 Kritisch auch Konzen/Schliemann, RdA 2015, 1 (10 f.).
Sittard
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§ 4a TVG als Instrument fr einen Tarifwechsel
Rz. 78b Teil 14
nur durch eine große dynamische Bezugnahmeklausel nachvollzogen werden, wobei auch hier die Formulierung der Klausel im Einzelfall entscheidend ist.
II. Rechtsfolgen für Neueintritte Der Umgang mit Neueintritten bereitet für den Fall einer Nachwirkung eines TVs, 78 dessen Geltungsbereich verlassen wurde, keine Schwierigkeiten. Da die Neueintritte von der Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG nicht erfasst werden, ist der Arbeitgeber nicht dazu verpflichtet, die Bedingungen des TVs, aus dessen Geltungsbereich er herausgewachsen ist, auf die neu begründeten Arbeitsverhältnisse anzuwenden1. Hinsichtlich der Vereinbarung von Bezugnahmeklauseln kann – wenn die Aufnahme von Bezugnahmeklauseln in die neuen Arbeitsverträge überhaupt beabsichtigt ist – im Regelfall nur zur Verwendung einer großen dynamischen Bezugnahmeklausel mit einem entsprechenden Zusatz zur Auflösung von Tarifmehrheiten auf individualvertraglicher Ebene geraten werden.
F. § 4a TVG als Instrument für einen Tarifwechsel Mit Inkrafttreten des Tarifeinheitsgesetzes ergeben sich für den Arbeitgeber, wenn 78a auch sehr begrenzt, neue Gestaltungsmöglichkeiten. Da § 4a Abs. 2 TVG zu einer Verdrängung von TVen führt, kann der Arbeitgeber versuchen, auf diesem Weg eine ungewollte Tarifbindung abzustreifen. Dabei muss allerdings zunächst die Übergangsregelung des § 13 Abs. 3 TVG beachtet werden, wonach § 4a TVG auf Tarifverträge, die bis zum 10. Juli 2015 abgeschlossen wurden, keine Anwendung findet. Anknüpfungspunkt eines gewillkürten Tarifwechsels über § 4a TVG ist der Betriebs- 78b begriff, weil die Norm an eine Tarifkollision im Betrieb (und nicht im Unternehmen) anknüpft. Nach Vorstellung des Gesetzgebers ist der Betriebsbegriff tarifrechtlich zu bestimmen, orientiert sich aber am betriebsverfassungsrechtlichen Begriff2. Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass nach § 4a Abs. 2 Satz 4 TVG auch Betriebe, die gem. § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BetrVG durch TV gebildet wurden, für den Betriebsbegriff des § 4a TVG maßgeblich sind3. Ein solcher TV kann von einer tarifzuständigen Gewerkschaft ohne die Beteiligung der anderen abgeschlossen werden4. Ob sich Gewerkschaften über solche ZuordnungsTVe für sie günstige Organisationsstrukturen schaffen können, erscheint nicht unproblematisch5. Den Zielen des Gesetzes, die in § 4a Abs. 1 TVG mit der Sicherung der Schutzfunktion, Verteilungsfunktion, Befriedungs-
1 St. Rspr. seit BAG v. 6.6.1958 – 1 AZR 515/57, NJW 1958, 1843 (1844); BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 (485); BAG v. 22.7.1998 – 4 AZR 403/97, NZA 1998, 1287 (1288); BAG v. 7.11.2001 – 4 AZR 703/00, NZA 2002, 748 (750); BAG v. 5.8.2009 – 10 AZR 1006/08, NZA 2009, 1439; siehe auch Teil 9 Rz. 42. 2 BT-Drucks. 18/4062, S. 13; a.A. ErfK/Franzen, § 4a TVG Rz. 14 ff., der ausgehend vom Begriff der „Solidargemeinschaft“ einen eigenständigen Betriebsbegriff entwickelt. 3 Zu dieser Möglichkeit auch: Stellungnahme des DAV, Nr. 60/2014, S. 3; Bayreuther, NZA 2013, 1395 (1397); Schliemann, NZA 2014, 1250 (1253); Preis, FA, 354 (356). 4 BAG v. 29.7.2009 – 7 ABR 27/08, NZA 2009, 1424 (1428). 5 Kritisch auch Konzen/Schliemann, RdA 2015, 1 (10 f.).
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Teil 14 Rz. 78c
Gewillkrter Tarifverlust
funktion sowie Ordnungsfunktion definiert werden, steht der Abschluss eines solchen ZuordnungsTV jedenfalls nicht entgegen. Deshalb ist es bspw. denkbar, dass ein Arbeitgeber mit einer Gewerkschaft Betriebsstrukturen so zuschneidet, dass sich der TV dieser Gewerkschaft durchsetzt. Wären bspw. Piloten bislang in einem eigenen Betrieb und Flugbegleiter in einem anderen Betrieb organisiert, könnte der Arbeitgeber (ohne räumliche Verlagerung!) einen TV über einen übergreifenden „Crew-Betrieb“ abschließen. Dadurch würde eine Tarifkollision bspw. von ver.di-TVen mit TVen der Gewerkschaft Cockpit herbeigeführt. Nach dem Mehrheitsprinzip des § 4a Abs. 2 TVG würden sich dann die TVe von ver.di durchsetzen, wenn diese auch die Piloten erfassen. Eine solche Betriebsstruktur nach § 3 BetrVG würde auch nicht an § 4 Abs. 2 Satz 4 2. Halbs. TVG scheitern, da ihre Schaffung nicht missbräuchlich wäre. Unzulässig ist dies nach § 4a Abs. 2 Satz 4 TVG nur dann, wenn die TV-Parteien die Betriebe unterschiedlicher Wirtschaftszweigen oder Wertschöpfungsketten zusammengefasst haben, weil eine betriebliche Solidargemeinschaft in diesem Fall nicht entstehen könne1. 78c
Auch durch betriebliche Umstrukturierungen ohne Abschluss eines TVs nach § 3 BetrVG kann es zu einer (erstmaligen) Kollision von TVen kommen, die über § 4a TVG aufzulösen wäre. Entscheidend für die Geltung des jeweiligen TVs wären dann die Mehrheitsverhältnisse im umstrukturierten Betrieb im Zeitpunkt der Kollision. Da die Kollisionsregel des § 4a TVG nur im Falle einer Tarifbindung gem. § 3 TVG Anwendung findet, muss insbesondere danach differenziert werden, ob die Umstrukturierung ein Betriebsübergang nach § 613a BGB darstellt und die VeräußererTVe nur gem. § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortgelten. Auf diesen Fall dürfte § 4a TVG nicht anwendbar sein, weil es an einer Tarifbindung nach § 3 TVG fehlt2.
78d
Wenn ein Unternehmen seine Betriebe neu strukturiert und es in diesem Rahmen nicht zu einem Arbeitgeberwechsel kommt, liegt kein Betriebsübergang vor (vgl. Teil 15 Rz. 24). In dieser Situation eröffnet die Neuregelung des § 4a TVG dem Arbeitgeber die (theoretische) Möglichkeit, über betriebliche Umstrukturierungen die Geltung der TVe zu beeinflussen3. Soweit Unternehmen über verschiedene Betriebe verfügen, in denen unterschiedliche Gewerkschaften jeweils TVe abgeschlossen haben, kann die Zusammenlegung der Betriebe eine Kollision der TVe herbeiführen. Dazu ist zunächst zu prüfen, ob die jeweiligen TVe auf den zusammengeschlossenen Betrieb räumlich und sachlich noch anwendbar sind. Ist dies der Fall, sind für die Geltung des TVs die Mehrheitsverhältnisse nach § 4a Abs. 2 Satz 3 TVG im Zeitpunkt der Kollision entscheidend4. Dabei ist der § 4a TVG nach der Gesetzesbegründung nicht anwendbar, wenn bereits vor der Umstrukturierung eine Tarifkollision vorlag und sich die Mehrheitsverhältnisse nur verschieben5. Etwaige Verschiebungen der Mehrheit machen sich dann erst beim Abschluss eines neuen TVs bemerkbar6. Betriebliche Umstrukturierungen eröffnen dem Arbeitgeber damit die Möglichkeit TVe von Gewerkschaften, die nach dem Zusammenschluss in der Minderheit sind, zu ver-
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BT-Drucks. 18/4062, S. 14. Hohenstatt/Schuster, ZIP 2016, 5 (8). Bauer, DB 2014, 2715 (2716). WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 108. BT-Drucks. 18/4062, S. 13. WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 114a.
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bersicht ber die Tarifgeltung
Rz. 80
Teil 14
drängen. Wegen der Übergangsregel des § 13 Abs. 3 TVG gilt dies nur für solche TVe, die nach dem 10. Juli 2015 abgeschlossen wurden. Dass der Arbeitgeber die Tarifkollision aus eigenem Antrieb und ohne gewerkschaft- 78e lichen Druck herbeiführt, ändert an der Geltung des § 4a Abs. 2 TVG nichts. Dem Gesetzgeber ging es darum, die „Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie durch die Auflösung von Tarifkollisionen“1 zu vermeiden. Dieses Ziel kann nur dann wirksam erreicht werden, wenn alle Kollisionslagen unabhängig von deren Zustandekommen aufgelöst werden.
G. Auswirkungen einer Unternehmensumstrukturierung auf die Geltung eines Tarifvertrages Ein Tarifwechsel oder Tarifverlust kann – wie gerade angedeutet – auch Ergebnis einer 79 Unternehmensumstrukturierung sein. Die sich durch eine interne Unternehmensumstrukturierung ergebenden Folgen für die Tarifgeltung wie auch die Konsequenzen einer Einzelrechtsübertragung eines Betriebes oder Unternehmens gemäß § 613a BGB für die tarifliche Situation2 sowie die Auswirkungen einer Gesamtrechtsnachfolge im Wege der Umwandlung oder gesellschaftsrechtlichen Anwachsung auf die Geltung von TVen werden an anderer Stelle ausführlich dargestellt (Teil 15 Rz. 6, 17 ff., 189 ff. und 218 f.). Im Rahmen einer Umstrukturierung ist in einem ersten Schritt zu bestimmen, welche Auswirkungen die unternehmerische Maßnahme konkret auf die Tarifgeltung des jeweiligen Unternehmens auf kollektivrechtlicher Ebene hat, sei es unmittelbar tarifrechtlich oder über § 613a BGB, ggf. i.V.m. § 324 UmwG (vgl. insb. Teil 15 Rz. 30 ff.). Weiterhin sind auch diesbezüglich die jeweiligen Folgen der Geltung von Bezugnahmeklauseln für die Tarifgeltung von Relevanz (Teil 15 Rz. 119 ff.).
H. Übersicht über die Tarifgeltung 80
Fall 1: Verbandsaustritt Tarifgeltung nach TVG
§ 3 Abs. 3 TVG bis zur Beendigung des TVs (auch für Neueintritte); anschließend § 4 Abs. 5 TVG (nicht für Neueintritte) Für Außenseiter: keine Tarifbindung
Tarifgeltung nach Bezugnahmeklausel
Statische Bezugnahme: Statische Geltung des bezeichneten TVs Kleine dynamische Bezugnahme
Gleichstellungsabrede: Nach Austritt statische Anwendung des bezeichneten TVs Dynamisch wirkende Klausel: Auch nach Austritt weiterhin dynamische Anwendung des TVs
Große dynamische Bezugnahme: Nach Austritt statische Anwendung des kollektivrechtlich geltenden TVs
1 BT-Drucks. 18/4062, S. 8. 2 Siehe dazu auch Müller-Bonanni/Mehrens, ZIP 2012, 1217 ff.
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bersicht ber die Tarifgeltung
Rz. 80
Teil 14
drängen. Wegen der Übergangsregel des § 13 Abs. 3 TVG gilt dies nur für solche TVe, die nach dem 10. Juli 2015 abgeschlossen wurden. Dass der Arbeitgeber die Tarifkollision aus eigenem Antrieb und ohne gewerkschaft- 78e lichen Druck herbeiführt, ändert an der Geltung des § 4a Abs. 2 TVG nichts. Dem Gesetzgeber ging es darum, die „Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie durch die Auflösung von Tarifkollisionen“1 zu vermeiden. Dieses Ziel kann nur dann wirksam erreicht werden, wenn alle Kollisionslagen unabhängig von deren Zustandekommen aufgelöst werden.
G. Auswirkungen einer Unternehmensumstrukturierung auf die Geltung eines Tarifvertrages Ein Tarifwechsel oder Tarifverlust kann – wie gerade angedeutet – auch Ergebnis einer 79 Unternehmensumstrukturierung sein. Die sich durch eine interne Unternehmensumstrukturierung ergebenden Folgen für die Tarifgeltung wie auch die Konsequenzen einer Einzelrechtsübertragung eines Betriebes oder Unternehmens gemäß § 613a BGB für die tarifliche Situation2 sowie die Auswirkungen einer Gesamtrechtsnachfolge im Wege der Umwandlung oder gesellschaftsrechtlichen Anwachsung auf die Geltung von TVen werden an anderer Stelle ausführlich dargestellt (Teil 15 Rz. 6, 17 ff., 189 ff. und 218 f.). Im Rahmen einer Umstrukturierung ist in einem ersten Schritt zu bestimmen, welche Auswirkungen die unternehmerische Maßnahme konkret auf die Tarifgeltung des jeweiligen Unternehmens auf kollektivrechtlicher Ebene hat, sei es unmittelbar tarifrechtlich oder über § 613a BGB, ggf. i.V.m. § 324 UmwG (vgl. insb. Teil 15 Rz. 30 ff.). Weiterhin sind auch diesbezüglich die jeweiligen Folgen der Geltung von Bezugnahmeklauseln für die Tarifgeltung von Relevanz (Teil 15 Rz. 119 ff.).
H. Übersicht über die Tarifgeltung 80
Fall 1: Verbandsaustritt Tarifgeltung nach TVG
§ 3 Abs. 3 TVG bis zur Beendigung des TVs (auch für Neueintritte); anschließend § 4 Abs. 5 TVG (nicht für Neueintritte) Für Außenseiter: keine Tarifbindung
Tarifgeltung nach Bezugnahmeklausel
Statische Bezugnahme: Statische Geltung des bezeichneten TVs Kleine dynamische Bezugnahme
Gleichstellungsabrede: Nach Austritt statische Anwendung des bezeichneten TVs Dynamisch wirkende Klausel: Auch nach Austritt weiterhin dynamische Anwendung des TVs
Große dynamische Bezugnahme: Nach Austritt statische Anwendung des kollektivrechtlich geltenden TVs
1 BT-Drucks. 18/4062, S. 8. 2 Siehe dazu auch Müller-Bonanni/Mehrens, ZIP 2012, 1217 ff.
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drängen. Wegen der Übergangsregel des § 13 Abs. 3 TVG gilt dies nur für solche TVe, die nach dem 10. Juli 2015 abgeschlossen wurden. Dass der Arbeitgeber die Tarifkollision aus eigenem Antrieb und ohne gewerkschaft- 78e lichen Druck herbeiführt, ändert an der Geltung des § 4a Abs. 2 TVG nichts. Dem Gesetzgeber ging es darum, die „Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie durch die Auflösung von Tarifkollisionen“1 zu vermeiden. Dieses Ziel kann nur dann wirksam erreicht werden, wenn alle Kollisionslagen unabhängig von deren Zustandekommen aufgelöst werden.
G. Auswirkungen einer Unternehmensumstrukturierung auf die Geltung eines Tarifvertrages Ein Tarifwechsel oder Tarifverlust kann – wie gerade angedeutet – auch Ergebnis einer 79 Unternehmensumstrukturierung sein. Die sich durch eine interne Unternehmensumstrukturierung ergebenden Folgen für die Tarifgeltung wie auch die Konsequenzen einer Einzelrechtsübertragung eines Betriebes oder Unternehmens gemäß § 613a BGB für die tarifliche Situation2 sowie die Auswirkungen einer Gesamtrechtsnachfolge im Wege der Umwandlung oder gesellschaftsrechtlichen Anwachsung auf die Geltung von TVen werden an anderer Stelle ausführlich dargestellt (Teil 15 Rz. 6, 17 ff., 189 ff. und 218 f.). Im Rahmen einer Umstrukturierung ist in einem ersten Schritt zu bestimmen, welche Auswirkungen die unternehmerische Maßnahme konkret auf die Tarifgeltung des jeweiligen Unternehmens auf kollektivrechtlicher Ebene hat, sei es unmittelbar tarifrechtlich oder über § 613a BGB, ggf. i.V.m. § 324 UmwG (vgl. insb. Teil 15 Rz. 30 ff.). Weiterhin sind auch diesbezüglich die jeweiligen Folgen der Geltung von Bezugnahmeklauseln für die Tarifgeltung von Relevanz (Teil 15 Rz. 119 ff.).
H. Übersicht über die Tarifgeltung 80
Fall 1: Verbandsaustritt Tarifgeltung nach TVG
§ 3 Abs. 3 TVG bis zur Beendigung des TVs (auch für Neueintritte); anschließend § 4 Abs. 5 TVG (nicht für Neueintritte) Für Außenseiter: keine Tarifbindung
Tarifgeltung nach Bezugnahmeklausel
Statische Bezugnahme: Statische Geltung des bezeichneten TVs Kleine dynamische Bezugnahme
Gleichstellungsabrede: Nach Austritt statische Anwendung des bezeichneten TVs Dynamisch wirkende Klausel: Auch nach Austritt weiterhin dynamische Anwendung des TVs
Große dynamische Bezugnahme: Nach Austritt statische Anwendung des kollektivrechtlich geltenden TVs
1 BT-Drucks. 18/4062, S. 8. 2 Siehe dazu auch Müller-Bonanni/Mehrens, ZIP 2012, 1217 ff.
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Teil 14 Rz. 80
Gewillkrter Tarifverlust
Fall 1: Verbandsaustritt Kollisionsverhältnis
Kollisionen nur zwischen kollektivrechtlich geltendem TV und statischer Bezugnahme/kleiner dynamischer Bezugnahme mit dynamischer Wirkung möglich: – Keine Geltung des § 4a TVG, da keine kollektivrechtliche Konkurrenz – Gilt TV kollektivrechtlich nach §§ 3 Abs. 1, Abs. 3 TVG: Günstigkeitsprinzip (§ 4 Abs. 3 TVG) gilt – Gilt TV kollektivrechtlich nach § 4 Abs. 5 TVG: Bezugnahme kann „andere Abmachung“ sein; wenn (–), Günstigkeitsprinzip (§ 4 Abs. 3 TVG) R Konstellation kann für Neueintritte nicht entstehen
Fall 2: Verbandswechsel Tarifgeltung nach TVG
Abschluss des NachfolgeTVs mit selber Gewerkschaft
Für Gewerkschaftsmitglieder: – Während Nachbindung des alten TVs gemäß § 3 Abs. 3 TVG: Tarifkonkurrenz R Spezialitätsprinzip (keine Geltung des § 4a TVG, da TV mit derselben Gewerkschaft) – Während Nachwirkung des alten TVs gemäß § 4 Abs. 5 TVG: Regelmäßig Ablösung des alten durch den neuen TV als andere Abmachung (nicht: für Neueinstellungen) Für Außenseiter: keine Tarifbindung
Abschluss des NachfolgeTVs mit neuer Gewerkschaft
Für Mitglieder der alten Gewerkschaft: Fortgeltung (§ 3 Abs. 3 TVG) und Nachwirkung (§ 4 Abs. 5 TVG) des alten TVs; keine Bindung an den neuen TV Für Mitglieder der neuen Gewerkschaft: Bindung an den neuen TV (§ 3 Abs. 1 TVG) und Bindung an alten TV abhängig von: – alter TV gilt gemäß § 3 Abs. 3 TVG: Tarifkonkurrenz R Auflösung über § 4a TVG (wenn anwendbar) – alter TVG gilt gemäß § 4 Abs. 5 TVG: neuer TV gilt als andere Abmachung für an neuen TV gebundene Arbeitnehmer und löst alten TV ab (nicht: für Neueinstellungen) Bei gespaltener Belegschaft: Entstandene Tarifpluralität ist im Anwendungsbereich des § 4a TVG aufzulösen (wenn anwendbar); es gilt grds. der TV der mitgliederstärksten Gewerkschaft Für Außenseiter: keine Tarifbindung
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bersicht ber die Tarifgeltung
Rz. 80
Teil 14
Fall 2: Verbandswechsel Tarifgeltung nach Bezugnahmeklausel
Abschluss des NachfolgeTVs mit selber Gewerkschaft
Statische Bezugnahme: Statische Geltung des bezeichneten TVs Kleine dynamische Bezugnahme
Gleichstellungsabrede: Statische Anwendung des alten TVs (keine Umdeutung in Tarifwechselklausel) Dynamisch wirkende Klausel: dynamische Anwendung des bezeichneten TVs
Große dynamische Bezugnahme
Abschluss des NachfolgeTVs mit neuer Gewerkschaft
Anwendung des kollektivrechtlich geltenden TVs: bei Tarifmehrheit: – Anwendung eines etwaigen Klauselzusatzes – oder ergänzende Vertragsauslegung: damit i.d.R. Verweisung auf den spezielleren TV (str.)
Statische Bezugnahme: Statische Geltung des bezeichneten TVs Kleine dynamische Bezugnahme
Gleichstellungsabrede: Statische Anwendung des alten TVs (keine Umdeutung in Tarifwechselklausel; Gleichstellung durch kleine dynamische Klausel hier generell nicht mehr möglich) Dynamisch wirkende Klausel: dynamische Anwendung des bezeichneten TVs
Große dynamische Bezugnahme
Anwendung des kollektivrechtlich geltenden TVs: bei Tarifmehrheit: – Anwendung des § 4a TVG auf kollektivrechtlicher Ebene führt regelmäßig dazu, dass der Mehrheits-TV als in Bezug genommen gilt.
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Teil 14 Rz. 81
Gewillkrter Tarifverlust
Fall 2: Verbandswechsel Kollisionsverhältnis
Bei Kollision von statischer/kleiner dynamischer Klausel und kollektivrechtlichem TV: Günstigkeitsprinzip; ebenso bei Tarifgeltung nach § 3 Abs. 3 TVG; Ablösung denkbar, wenn Klausel andere Abmachung; bei Vereinbarung einer großen dynamischen Klausel i.d.R. keine Kollision
Fall 3: Herauswachsen aus dem Geltungsbereich Tarifgeltung nach TVG
Arbeitnehmer ist Gewerkschaftsmitglied: Mit Herauswachsen sofort Nachwirkung des TVs nach § 4 Abs. 5 TVG bis zur Ablösung durch andere Abmachung (bspw. neuer TV bei Hineinwachsen in anderen Geltungsbereich) Arbeitnehmer ist Außenseiter: keine Tarifbindung; Gleiches gilt für Neueinstellungen
Tarifgeltung nach Bezugnahmeklausel
Statische Bezugnahme: Statische Geltung des bezeichneten TVs Kleine dynamische Bezugnahme
Gleichstellungsabrede: Statische Anwendung des nicht mehr passenden TVs Dynamisch wirkende Klausel: dynamische Anwendung des bezeichneten TVs
Große dynamische Bezugnahme: bei bloßem Herauswachsen statische Anwendung des nicht mehr passenden TVs; bei Hineinwachsen in neuen TV Anwendung des neuen TVs Kollisionsverhältnis
Bei großer dynamischer Bezugnahmeklausel kann keine Kollision entstehen; bei anderen Bezugnahmeklauseln gelten diese entweder als andere Abmachungen; und verdrängen den TV oder das Kollisionsverhältnis richtet sich nach dem Günstigkeitsprinzip (§ 4 Abs. 3 TVG); § 4a TVG ist unanwendbar, da keine Tarifbindung über § 3 TVG.
I. „Tarifwechsel“ durch Einsatz von Zeitarbeit 81
Ein faktisches Auswechseln der im Betrieb vom Arbeitgeber anzuwendenden TVe kann auch ohne etwaige Maßnahmen mit kollektivrechtlichen Auswirkungen (Verbandsaustritt, Verbandswechsel, Herauswachsen aus dem Geltungsbereich oder Umstrukturierung) herbeigeführt werden. Obwohl Arbeitnehmer und Arbeitgeber an die gleichen TVe gebunden bleiben, kann durch den Einsatz des Instruments der Zeitarbeit das maßgebliche Tarifregime im Ergebnis zumindest teilweise ausgetauscht werden. Im Zusammenhang mit dem Einsatz von – im Vergleich zur Stammbelegschaft des Arbeitgebers – anderweitig tarifgebundenen Leiharbeitnehmern sind jedoch einige Klippen zu umschiffen.
I. Leiharbeit als Instrument zur Einführung eines neuen/zusätzlichen Tarifregimes 82
Die Arbeitnehmerüberlassung ist mittlerweile zu einem häufig eingesetzten Flexibilisierungsinstrument geworden, mit dem u.a. Auftragsspitzen abgefangen werden 1120 Sittard
Teil 14 Rz. 81
Gewillkrter Tarifverlust
Fall 2: Verbandswechsel Kollisionsverhältnis
Bei Kollision von statischer/kleiner dynamischer Klausel und kollektivrechtlichem TV: Günstigkeitsprinzip; ebenso bei Tarifgeltung nach § 3 Abs. 3 TVG; Ablösung denkbar, wenn Klausel andere Abmachung; bei Vereinbarung einer großen dynamischen Klausel i.d.R. keine Kollision
Fall 3: Herauswachsen aus dem Geltungsbereich Tarifgeltung nach TVG
Arbeitnehmer ist Gewerkschaftsmitglied: Mit Herauswachsen sofort Nachwirkung des TVs nach § 4 Abs. 5 TVG bis zur Ablösung durch andere Abmachung (bspw. neuer TV bei Hineinwachsen in anderen Geltungsbereich) Arbeitnehmer ist Außenseiter: keine Tarifbindung; Gleiches gilt für Neueinstellungen
Tarifgeltung nach Bezugnahmeklausel
Statische Bezugnahme: Statische Geltung des bezeichneten TVs Kleine dynamische Bezugnahme
Gleichstellungsabrede: Statische Anwendung des nicht mehr passenden TVs Dynamisch wirkende Klausel: dynamische Anwendung des bezeichneten TVs
Große dynamische Bezugnahme: bei bloßem Herauswachsen statische Anwendung des nicht mehr passenden TVs; bei Hineinwachsen in neuen TV Anwendung des neuen TVs Kollisionsverhältnis
Bei großer dynamischer Bezugnahmeklausel kann keine Kollision entstehen; bei anderen Bezugnahmeklauseln gelten diese entweder als andere Abmachungen; und verdrängen den TV oder das Kollisionsverhältnis richtet sich nach dem Günstigkeitsprinzip (§ 4 Abs. 3 TVG); § 4a TVG ist unanwendbar, da keine Tarifbindung über § 3 TVG.
I. „Tarifwechsel“ durch Einsatz von Zeitarbeit 81
Ein faktisches Auswechseln der im Betrieb vom Arbeitgeber anzuwendenden TVe kann auch ohne etwaige Maßnahmen mit kollektivrechtlichen Auswirkungen (Verbandsaustritt, Verbandswechsel, Herauswachsen aus dem Geltungsbereich oder Umstrukturierung) herbeigeführt werden. Obwohl Arbeitnehmer und Arbeitgeber an die gleichen TVe gebunden bleiben, kann durch den Einsatz des Instruments der Zeitarbeit das maßgebliche Tarifregime im Ergebnis zumindest teilweise ausgetauscht werden. Im Zusammenhang mit dem Einsatz von – im Vergleich zur Stammbelegschaft des Arbeitgebers – anderweitig tarifgebundenen Leiharbeitnehmern sind jedoch einige Klippen zu umschiffen.
I. Leiharbeit als Instrument zur Einführung eines neuen/zusätzlichen Tarifregimes 82
Die Arbeitnehmerüberlassung ist mittlerweile zu einem häufig eingesetzten Flexibilisierungsinstrument geworden, mit dem u.a. Auftragsspitzen abgefangen werden 1120 Sittard
„Tarifwechsel“ durch Einsatz von Zeitarbeit
Rz. 84
Teil 14
können. Allerdings wurde in der Praxis – jedenfalls in der Vergangenheit – von der Arbeitnehmerüberlassung teilweise auch Gebrauch gemacht, um gegenüber der Stammbelegschaft Lohnkosten einzusparen. Das Grundprinzip der Lohnkosteneinsparung liegt in der Nichtanwendung des equal-pay-Gebots (§ 3 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2, § 9 Nr. 2 AÜG) aufgrund der Möglichkeit der Bezugnahmeklausel auf einen TV der Leiharbeitsbranche. Da das Tarifniveau in der Leiharbeitsbranche teilweise deutlich unter dem Vergütungsniveau der Stammbelegschaft liegt, kann sich der Einsatz von Leiharbeitnehmern wirtschaftlich rechnen. Zwar gilt grundsätzlich auch in der Leiharbeit der gesetzliche Mindestlohn des MiLoG, jedoch können die Entgelte der Leiharbeitsbranche teilweise deutlich unterhalb des vergleichbaren Lohns (equal pay) liegen. Für das MiLoG gilt zudem noch bis zum 31.12.2017 die Übergangsregelung des § 24 Abs. 1 MiLoG, die Tariflöhne in der Leiharbeit auf Grundlage einer Verordnung nach § 3a AÜG (Mindestlohn in der Zeitarbeit) auch unterhalb des Mindestlohnniveaus zulässt.1 In der Grundkonzeption des AÜG stehen den Leiharbeitnehmern die gleichen Ar- 83 beitsbedingungen, insbesondere das gleiche Entgelt, wie den (vergleichbaren) Stammarbeitnehmern des jeweiligen Entleihers zu (sog. equal-pay bzw. equal-treatment). Hiervon sieht das AÜG in § 3 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2, § 9 Nr. 2 AÜG eine Ausnahme vor, wenn ein TV abweichende Regelungen (in den Grenzen der Lohnuntergrenze nach § 3a AÜG) vorsieht. In der Praxis besonders wichtig ist indes, dass bereits eine Bezugnahme auf entsprechende Tarifwerke der Leiharbeitsbranche zur Abweichung vom equal-pay-Grundsatz berechtigt. Da in der Leiharbeitsbranche der Organisationsgrad der Arbeitnehmer (und zwar in allen Gewerkschaften) äußerst gering ist, wird faktisch allein über die Bezugnahme auf TVe operiert. Da nach der Rechtsprechung des BAG Leiharbeitnehmer in einer eigenen Branche tä- 84 tig sind2 (und nicht jeweils in der Branche des Entleiherbetriebs), kann über den Einsatz von Leiharbeitnehmern die Anwendung eines anderen Tarifregimes im Betrieb erreicht werden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Bezugnahme auf einen TV der CGZP (Christliche Gewerkschaft für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen) nach der Entscheidung des BAG vom 14.12.20103 nicht zu dem gewünschten Ergebnis führt, da die CGZP danach nicht tariffähig ist. Das BVerfG hat kürzlich eine von der CGZP wegen der Verletzung des Rückwirkungsverbots erhobenen Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen4. Aufgrund der damit einhergehenden Unwirksamkeit der TVe der CGZP (die nach ganz überwiegender Auffassung5 auch rückwirkend vor der BAG-Entscheidung gilt) geht die Bezugnahme auf CGZPTVe ins Leere mit der Folge, dass wieder der equal-pay-Grundsatz zur Anwendung kommt6. Die rückwirkende Unwirksamkeit der von der CGZP abgeschlossenen TVe führt dazu, dass die Verpflichtung des Verleih-Arbeitgebers zum equal-pay der ein-
1 Vgl. Zweite Verordnung über eine Lohnuntergrenze in der Arbeitnehmerüberlassung vom 21. März 2014. 2 BAG v. 21.10.2009 – 5 AZR 951/08, NZA 2010, 237; BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289 (299). 3 BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289. 4 BVerfG v. 25.4.2015 – 1 BvR 2314/12, NJW 2015, 1867 (1669). 5 Insoweit nochmals klarstellend, BVerfG v. 23.5.2012 – 1 AZB 67/11. 6 Zu den Folgen des CGZP-Beschlusses siehe auch Schüren, RdA 2011, 368 ff.
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Teil 14 Rz. 85
Gewillkrter Tarifverlust
gesetzten Leiharbeitnehmer rückwirkend wieder auflebt und die beschäftigten Leiharbeitnehmer somit rückwirkend Nachzahlung des zu Unrecht nicht erhaltenen Vergütungsbestandteils verlangen können. Während der Verleih-Arbeitgeber diese Zahlungspflicht gegenüber seinen Arbeitnehmern jedoch nur dann tatsächlich erfüllen muss, wenn er von diesen in Anspruch genommen wird – wobei es nicht unwahrscheinlich ist, dass eine Anspruchsgeltendmachung durch einen Großteil der Belegschaft nicht erfolgt, weil diese längst woanders beschäftigt sind –, besteht eine Verpflichtung des Arbeitgebers zur Nachzahlung ausstehender Sozialversicherungsbeiträge für die nicht ausgezahlten „equal-pay-Lohnbestandteile“ (auch) gegenüber den Sozialversicherungsträgern nach §§ 28e, 28g SGB IV1, die von den Sozialversicherungsträgern auch durchgesetzt werden wird. Denn im Sozialrecht gilt das sog. Entstehungsprinzip, d.h. die geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge hängen nicht vom tatsächlich gezahlten Lohn ab, sondern vom rechtlich richtigerweise entstandenen Anspruch. Eine Besonderheit liegt zudem darin, dass sich zwar der Entgeltanspruch von Leiharbeitnehmern allein gegen den Verleih-Arbeitgeber richtet, für die nicht gezahlten Sozialversicherungsbeiträge aber subsidiär auch der Entleiher haftet (vgl. § 28e Abs. 2 Satz 1, 2 SGB IV). Nach einer Entscheidung des LG Bochum haftet allerdings der Geschäftsführer eines Zeitarbeitsunternehmens nicht persönlich auf Schadensersatz für die nicht gezahlten Sozialversicherungsbeiträge, da es an dem entsprechenden Vorsatz fehle2. 85
Zudem ist auffällig, dass die Gewerkschaften häufiger dazu übergehen, insbesondere in Haus-TVen mit Arbeitgebern Regelungen zur Vermeidung oder Begrenzung des Leiharbeitnehmereinsatzes zu vereinbaren bzw. jedenfalls zu verlangen (so bspw. die Flugbegleitergewerkschaft UFO bei der Lufthansa). Dadurch versuchen die etablierten Gewerkschaften einem vermehrten Einsatz der Leiharbeit, die als eine Art Lohndumpingmaßnahme wahrgenommen wird, entgegenzuwirken.
85a In der 18. Legislaturperiode legte das BMAS einen Referentenentwurf zum AÜG vor3. Neben der Verkürzung der zulässigen Verleihdauer auf 18 Monate sollen insbesondere das Equal-pay-Gebot und die bisher in § 9 Nr. 2 AÜG normierte Abweichungsmöglichkeit durch TVe in einem neu gefassten § 8 AÜG neu geregelt werden. Dabei soll diese Abweichungsmöglichkeit – wie bereits im Koalitionsvertrag angekündigt4 – auf neun Monate beschränkt werden und dann eine Gleichstellung mit der Stammbelegschaft erfolgen, § 8 Abs. 4 AÜG-RefE. Sieht der TVe eine stufenweise Heranführung des Entgelts an den Equal-pay-Grundsatz vor, soll dieser Zeitraum auf zwölf Monate erweitert werden können, § 8 Abs. 4 AÜG-RefE. Dieser Entwurf, dessen Realisierung voraussichtlich noch im Laufe des Jahres 2016 erfolgen wird, schränkt die Gestaltungsmöglichkeiten durch Leiharbeit weiter ein. Durch einen regelmäßigen Austausch der eingesetzten Leiharbeitnehmer beim Entleiher kann allerdings das Equalpay-Niveau weiterhin konsequent unterschritten werden.
1 Giesen in Brand/Lembke, Der CGZP-Beschluss des Bundesarbeitsgerichts, 2012, S. 113 ff.; Lembke, NZA-Beil. 2012, 66 (71); Plagemann/Brand, NJW 2011, 1488. 2 LG Bochum v. 28.5.2014 – 4 O 39/14. 3 Abrufbar unter http://www.otto-schmidt.de/151116_Referentenentwurf_Zeitarbeit_und_ Werkvertrage.pdf (zuletzt am 1.2.2016). 4 Koalitionsvertrag der 18. Legislaturperiode, S. 69.
1122 Sittard
„Tarifwechsel“ durch Einsatz von Zeitarbeit
Rz. 86
Teil 14
II. Einsatz von konzerninternen Personalservicegesellschaften Die Möglichkeit des Einsatzes der Zeitarbeit zur teilweisen Einführung eines neuen 86 Tarifregimes kann auf Seiten des Arbeitgebers auch dadurch nutzbar gemacht werden, dass eine konzerninterne Personalservicegesellschaft gegründet wird, deren Ziel primär oder allein darin besteht, Arbeitnehmer einzustellen und diese im Wege der Konzernleihe an andere konzerninterne Unternehmen zu verleihen. Wenn die konzerninterne Personalservicegesellschaft in den Anwendungsbereich der LeiharbeitsTVe fällt (was sie aufgrund ihrer Funktion regelmäßig tut), finden auf die Arbeitsverhältnisse ihrer Mitarbeiter diese TVe Anwendung, sodass über eine Bezugnahmeklausel die Anwendung des Equal-pay-Grundsatzes vermieden werden kann. Seit der AÜG-Reform aus dem Jahr 2011 ist eine solche konzerinterne Arbeitnehmerleihe aufgrund der Verschärfung der Erlaubnispflichten erlaubnispflichtig i.S.d. § 1 AÜG. Durch die geplanten Verschärfungen des AÜG in der 18. Legislaturperiode wird voraussichtlich aber auch dieses Instrument eingeschränkt. Insbesondere die Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten, für die keine Konzernausnahme gelten soll, steht mit dem Konzept einer konzerninternen Personalservicegesellschaft häufig in Konflikt, weil in der Praxis gerade in dieser Gestaltungsvariante längere Verleihzeiten an einen Entleiher üblich sind.
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Teil 15 Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel Rz.
Rz. A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Auswirkungen von betriebs- und unternehmensinternen Umstrukturierungen auf die Tarifgeltung . . . .
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I. Herauswachsen aus dem Geltungsbereich als Folge einer internen Umstrukturierung. . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Wegfall der Tarifzuständigkeit . . . . . .
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III. Verbandsaustritt und Verbandswechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Tarifkollision als Folge einer Umstrukturierung. . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang auf die Tarifgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Überblick über Voraussetzungen und Anwendungsbereich des § 613a BGB. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Identitätswahrender Übergang eines Betriebs oder Betriebsteils a) Vorliegen eines übergangsfähigen Betriebs(teils). . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Identitätswahrender Übergang der wirtschaftlichen Einheit . . . . . 2. Wechsel des Betriebsinhabers . . . . . . 3. Rechtsgeschäftlich veranlasste Übertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Grenzüberschreitende Betriebsübernahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kollektivrechtliche Fortgeltung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang 1. Vorrang der kollektivrechtlichen Fortgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Voraussetzungen für die kollektivrechtliche Fortgeltung a) Verbandstarifverträge . . . . . . . . . . . b) Firmentarifverträge aa) Betriebsübergang im Wege der Einzelrechtsübertragung . . bb) Betriebsübergang und (partielle) Gesamtrechtsnachfolge . . . III. Fortwirkung von Tarifverträgen beim Erwerber kraft gesetzlicher Anordnung des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Voraussetzungen des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Betriebs- oder Betriebsteilübergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Keine kollektivrechtliche Fortgeltung der Tarifverträge . . . . . . . . c) Keine Ablösung durch beim Erwerber einschlägigen Kollektivvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Inhalt und Wirkungen der gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB beim Erwerber aufrechterhaltenen Tarifnormen a) Rechtsnatur der in § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB angeordneten Fortgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erfasste Arbeitsverhältnisse . . . . . c) Erfasste Tarifnormen . . . . . . . . . . . aa) Inhaltlich erfasste Tarifnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zeitlich erfasste Tarifnormen/Grundsatz der statischen Fortgeltung. . . . . . . . . . . d) Wirkungen bei Beendigung des fortwirkenden Tarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Kündigungsrecht des Erwerbers im Hinblick auf den fortwirkenden Tarifvertrag? . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schutz der aufrechterhaltenen Tarifbedingungen durch die Veränderungssperre . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bedeutung und Gegenstand der Veränderungssperre . . . . . . . . . . . . b) Gesetzliche und teleologische Einschränkungen der Veränderungssperre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Wegfall der Geltung des Tarifvertrags . . . . . . . . . . . . . . . bb) Inbezugnahme eines einschlägigen Tarifvertrages. . . . . 4. Verhältnis zur Tarifkollisionsnorm des § 4a TVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ablösung von Tarifverträgen durch beim Betriebserwerber einschlägige Kollektivverträge (§ 613a Abs. 1 Satz 3 BGB). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zweck und Bedeutung der Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil 15
2. Voraussetzungen der Tarifablösung a) Art des ablösenden Kollektivvertrags. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erfordernis der beiderseitigen Tarifgebundenheit. . . . . . . . . . . . . . c) Identität des ablösenden Regelungsgegenstands (Regelungskollision) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Keine Anwendbarkeit des Günstigkeitsprinzips . . . . . . . . . . . e) Geltungszeitpunkt des ablösenden Tarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . 3. Besonderheiten bei der Ablösung von Tarifverträgen über die betriebliche Altersversorgung . . . . . . . . . . . . 4. Tarifablösung bei mehreren hintereinander geschalteten Betriebsübergängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel Rz.
Rz.
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2. Nachweis einer Änderung wesentlicher Vertragsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
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VII. Übersicht: Tarifgeltung nach Betriebsübergang . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
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V. Auswirkungen des Betriebsübergangs auf die individualvertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge . . . . . . 119 1. Typisierung und Auslegung von Bezugnahmeklauseln . . . . . . . . . . . . . 121 a) Statische vs. „kleine“ vs. „große“ dynamische Bezugnahme . . . . . . . 122 b) Gleichstellungsabrede . . . . . . . . . . 125 c) „Tarifwechselklausel“ . . . . . . . . . . 135 2. Übergang der Rechte und Pflichten aus der Bezugnahmeklausel und Verhältnis zu beim Erwerber normativ anwendbaren Tarifverträgen . . 139 3. Überblick über die sich ergebenden Fallkonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . 143 a) Statische Bezugnahme . . . . . . . . . . 144 b) Kleine dynamische Bezugnahme . 145 aa) Keine Tarifbindung des Erwerbers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 bb) Bestehende Tarifbindung des Erwerbers . . . . . . . . . . . . . . 152 (1) Geltung derselben Tarifverträge wie beim Veräußerer . . . . . . . . 153 (2) Geltung anderer Tarifverträge als beim Veräußerer . . . . . . . . . 154 c) Große dynamische Bezugnahme. . 161 aa) Keine Tarifbindung des Erwerbers . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 bb) Bestehende Tarifbindung des Erwerbers . . . . . . . . . . . . . . 166 VI. Unterrichtung der Arbeitnehmer über die tarifrechtlichen Rechtsfolgen 1. Darstellung der tariflichen Rechtsfolgen im Unterrichtungsschreiben beim Betriebsübergang (§ 613a Abs. 5 BGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172
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D. Auswirkungen einer gesellschaftsrechtlichen Umstrukturierung (insbesondere Unternehmensumwandlung) auf die Tarifgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 I. Unternehmensverkauf/Gesellschafterwechsel 1. Tarifrechtliche Neutralität eines Gesellschafterwechsels. . . . . . . . . . . . 2. Besonderheiten bei konzerneinheitlich geltenden Tarifverträgen und Tarifgemeinschaften . . . . . . . . . . a) Tarifgeltung bei Ausscheiden aus dem Konzern. . . . . . . . . . . . . . . b) Beteiligung einer Tarifgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Unternehmensumwandlungen nach dem UmwG und (partielle) Gesamtrechtsnachfolge 1. Überblick über die verschiedenen Erscheinungsfomen der Umwandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anwendbarkeit der Regelungen des § 613a BGB in Fällen der Umwandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Auswirkungen einer Verschmelzung von Unternehmen auf die Tarifgeltung a) Geltung von Verbandstarifverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Geltung von Firmentarifverträgen aa) Grundsatz der kollektivrechtlichen Fortgeltung . . . . . . bb) Besonderheiten bei Verschmelzung zur Aufnahme auf einen Rechtsträger mit bestehenden Betrieben. . . . . . . 4. Auswirkungen einer Spaltung von Unternehmen auf die Tarifgeltung a) Geltung von Verbandstarifverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Geltung von Firmentarifverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Tarifgeltung beim von der Spaltung betroffenen Rechtsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil 15
Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel Rz.
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bb) Tarifgeltung beim aufnehmenden Rechtsträger . . . . . . . . 212 5. Auswirkungen einer Vermögensübertragung auf die Tarifgeltung . . . . 216 6. Auswirkungen eines Formwechsels auf die Tarifgeltung . . . . . . . . . . . . . . . 217
E. Auswirkungen von Umstrukturierungen auf Tarifverträge über besondere Betriebsratsstrukturen nach § 3 BetrVG . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
III. Gesamtrechtsnachfolge aufgrund gesellschaftsrechtlicher Anwachsung . 218
II. Sonstige Umstrukturierungen . . . . . . 226
I. Übertragungen mit Rechtsnachfolge auf Seiten des Arbeitgebers. . . . . . . . . 221
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Teil 15
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Aufl. 2015; Preis, Arbeitsvertragliche Verweisung auf Tarifverträge, in: Festschrift für Wiedemann, 2002, S. 425; Preis, Bezugnahme auf den Tarifvertrag und das Vertragsrecht, in: Festschrift für Bepler, 2012, S. 479; Preis/Sagan (Hrsg.), Europäisches Arbeitsrecht, 2015; Preis/Steffan, Zum Schicksal kollektivrechtlicher Regelungen beim Betriebsübergang, in: Festschrift für Kraft, 1998, S. 477; Reinecke, Vertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge in der neueren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, BB 2006, 2637; Rieble, Konzerntarifvertrag, Konzern 2005, 475, 549; Rinck, Kollision von fortwirkenden Tarifnormen und Bezugnahmeklauseln und Betriebsübergang, RdA 2010, 216; Röller/Wißmann, Tarifbindung und arbeitsvertragliche Bezugnahme, in: Festschrift für Küttner, 2006, S. 465; Sagan, Die kollektivrechtliche Fortgeltung von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen nach § 613a Abs. 1 Sätze 2–4 BGB, RdA 2011, 163; Sagan, Das Verschlechterungsverbot bei Ablösung von Kollektivverträgen nach einem Betriebsübergang, EuZA 2012, 247; Schiefer,
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Rz. 3 Teil 15
Einfhrung
Tarifvertragswechsel beim Betriebsübergang – neue Möglichkeiten?, DB 2003, 390; Schiefer/Pogge, Betriebsübergang und dessen Folgen – Tatbestandsvoraussetzungen des § 613a BGB und Fortgeltung kollektiv-rechtlicher Regelungen, NJW 2003, 3734; Schliemann, Arbeitsvertragliche Verweisung auf Tarifverträge, NZA-Beilage 16/2003, 3; Schliemann, Tarifgeltung und arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge in der neueren Rechtsprechung des BAG, ZTR 2004, 502; Schmitt/Hörtnagl/Stratz, Umwandlungsgesetz, Umwandlungssteuergesetz, 6. Aufl. 2013; Schnitker/Grau, Arbeitsrechtliche Aspekte von Unternehmensumstrukturierungen durch Anwachsung von Gesellschaftsanteilen, ZIP 2008, 394; Seibt, Gesamtrechtsnachfolge beim gestalteten Ausscheiden von Gesellschaftern aus Personengesellschaften: Grundfragen des Gesellschafter-, Gläubiger- und Arbeitnehmerschutzes, in: Festschrift für Röhricht, 2005, S. 603; Seiter, Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen beim Betriebsinhaberwechsel, DB 1980, 877; Seitz/Werner, Arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln bei Unternehmensumstrukturierungen, NZA 2000, 1257; Semler/Stengel, Umwandlungsgesetz, 3. Aufl. 2012; Sittard/Flockenhaus, „Scattolon“ und die Folgen für die Ablösung von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen nach einem Betriebsübergang, NZA 2013, 652; Sittard/Ulbrich, Zur Rechtsprechungsänderung bei der Auslegung von Bezugnahmeklauseln, ZTR 2006, 458; Sowka/Weiß, Gesamtbetriebsvereinbarung und Tarifvertrag bei Aufnahme eines neuen Betriebs in das Unternehmen, DB 1991, 1518; Spielberger, Vertrauensschutz light: Das Urteil des BAG vom 18.4.2007 zur Gleichstellungsabrede, NZA 2007, 1086; Steffan, Neues vom EuGH zum Betriebsübergang: Was folgt aus „Scattolon“?, NZA 2012, 473; Thüsing, Statische Rechtsprechung zur dynamischen Bezugnahme, NZA 2003, 1184; Thüsing, Europarechtliche Bezüge der Bezugnahmeklausel, NZA 2006, 473; Thüsing, Vereinbarte Betriebsratsstrukturen, ZIP 2003, 693; Thüsing/Lambrich, Arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Tarifnormen, Verbandsaustritt, Verbandswechsel, Betriebsübergang, RdA 2002, 193; Wellenhofer-Klein, Tarifwechsel durch Unternehmensumstrukturierung, ZfA 1999, 239; Wilhelm, Das Rechtsinstitut der Anwachsung und seine Auswirkungen in der arbeitsrechtlichen Praxis, in: Festschrift 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht im DAV, 2003, S. 721; E.M. Willemsen, Die arbeitsvertragliche Bezugnahme auf den Tarifvertrag bei Tarifwechsel, 2009; H.J. Willemsen, Europäisches und deutsches Arbeitsrecht im Widerstreit? – Aktuelle Baustellen im Recht des Betriebsübergangs, NZA-Beilage 4/2008, 155; H.J. Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 4. Aufl. 2011; H.J. Willemsen/Grau, Zurück in die Zukunft – Das europäische Aus für dynamische Bezugnahmen nach Betriebsübergang?, NJW 2014, 12; Winter, Betriebsübergang und Tarifvertragsersetzung – was ergibt sich aus dem Urteil Scattolon?, RdA 2013, 36; Zöllner, Veränderung und Angleichung tarifvertraglich geregelter Arbeitsbedingungen nach Betriebsübergang, DB 1995, 1401.
A. Einführung Die Umstrukturierung und Übertragung von Betrieben und Unternehmen führt zu 1 vielschichtigen und teilweise rechtlich komplexen Problemen im Hinblick auf das Schicksal von TVen. Den Ausgangspunkt jeder Analyse bildet dabei die Frage, auf welche Ebene sich die geplante Umstrukturierung bezieht. Für rein innerbetriebliche bzw. unternehmensinterne Umstrukturierungen (vgl. 2 Rz. 6 ff.) sind Auswirkungen vor allem im Hinblick auf die weitere fachliche oder örtliche Einschlägigkeit der bisherigen TVe sowie die Tarifzuständigkeit der am TV-Abschluss beteiligten Koalitionen denkbar. Derartige Fälle lassen sich in tarifrechtlicher Hinsicht weitgehend anhand der allgemeinen Regelungen des TVG lösen. Häufig gehen die Wirkungen einer Umstrukturierung jedoch über das Unternehmen 3 hinaus und sind mit einer Rechtsnachfolge auf Seiten des Arbeitgebers verbunden. Das gilt insbesondere dann, wenn ein Betrieb oder Betriebsteil veräußert bzw. im Rahmen der Umstrukturierung einem anderen Rechtsträger zugeordnet wird. In der-
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Teil 15 Rz. 4
Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel
artigen Fällen stellt sich die Frage, ob die bisherigen TVe weiterhin dynamisch oder zumindest statisch für die tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse Anwendung finden oder durch im aufnehmenden Unternehmen bestehende TVe abgelöst werden (vgl. Rz. 16 ff.). Dafür sind in erster Linie die besonderen Vorschriften des § 613a Abs. 1 Satz 2–4 BGB über die Aufrechterhaltung des kollektivrechtlichen Besitzstands der tarifgebundenen Arbeitnehmer sowie die Ablösung von Kollektivverträgen entscheidend. In der Praxis ist der Betriebsübergang insofern ein wichtiges Gestaltungsmittel, mit dem tarifliche Veränderungen für die Belegschaft wie z.B. ein Tarifwechsel oder zumindest die Begrenzung der weiteren Tarifdynamik herbeigeführt werden können. 4 Entsprechendes gilt für Umstrukturierungen mit vollständiger oder partieller Gesamtrechtsnachfolge auf Arbeitgeberseite. Auch wenn derartige Vorgänge oft ebenfalls mit einem Betriebs- oder Betriebsteilübergang verbunden sind, sind ihre Folgen im Hinblick auf die Tarifgeltung wegen der Universalsukzession gesondert zu betrachten. Dies gilt insbesondere für die Auswirkungen von Verschmelzungen und Spaltungen von Unternehmen nach dem UmwG (vgl. Rz. 189 ff.). Reine Veränderungen auf Gesellschafterebene wie z.B. im Fall des Gesellschafterwechsels nach einem Anteilsverkauf (share deal) sind demgegenüber tarifrechtlich in der Regel „neutral“. Einzelheiten hierzu einschließlich etwaiger Besonderheiten bei „KonzernTVen“ und Tarifgemeinschaften sind unter Rz. 181 ff. dargestellt. 5 Neben den Auswirkungen von Umstrukturierungen und Übertragungen auf der kollektivrechtlichen Schiene muss stets auch die arbeitsvertragliche Ebene in die Analyse der tariflichen Konsequenzen einbezogen werden, sofern in den Anstellungsverträgen der Arbeitnehmer auf TVe Bezug genommen wird. Denn nur ausreichend elastisch formulierte Bezugnahmeklauseln sind in der Lage, jede tarifliche Entwicklung auch auf der vertraglichen Ebene für das Arbeitsverhältnis nachzuvollziehen. Dies ist im Kontext von Umstrukturierungen vor allem beim Betriebsübergang von Bedeutung (vgl. Rz. 119 ff.).
B. Auswirkungen von betriebs- und unternehmensinternen Umstrukturierungen auf die Tarifgeltung 6 Aus tarifrechtlicher Sicht können unternehmensinterne Strukturveränderungen insbesondere dann Bedeutung für die Tarifgeltung gewinnen, wenn mit ihnen entweder ein Herauswachsen des betroffenen Betriebes aus dem fachlichen oder örtlichen Geltungsbereich der bislang angewendeten TVe einhergeht oder es zu einem Verlust der Tarifzuständigkeit einer an dem TV-Abschluss beteiligten Koalition kommt. Stehen diese Folgen im Zusammenhang mit einer Betriebsänderung i.S.v. § 111 BetrVG, so kann eine hierdurch eintretende Verschlechterung der Arbeitsbedingungen als wirtschaftlicher Nachteil in einem Sozialplan adressiert werden. Hierin liegt wegen § 112 Abs. 1 Satz 4 BetrVG kein Verstoß gegen die „Tarifsperre“ des § 77 Abs. 3 BetrVG1.
1 Zum Verhältnis von TV und Sozialplan s. BAG v. 14.11.2006 – 1 AZR 40/06, NZA 2007, 339 (341); ErfK/Kania, §§ 112, 112a BetrVG Rz. 13; HWK/Hohenstatt/Willemsen, § 112 BetrVG Rz. 80.
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Teil 15 Rz. 4
Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel
artigen Fällen stellt sich die Frage, ob die bisherigen TVe weiterhin dynamisch oder zumindest statisch für die tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse Anwendung finden oder durch im aufnehmenden Unternehmen bestehende TVe abgelöst werden (vgl. Rz. 16 ff.). Dafür sind in erster Linie die besonderen Vorschriften des § 613a Abs. 1 Satz 2–4 BGB über die Aufrechterhaltung des kollektivrechtlichen Besitzstands der tarifgebundenen Arbeitnehmer sowie die Ablösung von Kollektivverträgen entscheidend. In der Praxis ist der Betriebsübergang insofern ein wichtiges Gestaltungsmittel, mit dem tarifliche Veränderungen für die Belegschaft wie z.B. ein Tarifwechsel oder zumindest die Begrenzung der weiteren Tarifdynamik herbeigeführt werden können. 4 Entsprechendes gilt für Umstrukturierungen mit vollständiger oder partieller Gesamtrechtsnachfolge auf Arbeitgeberseite. Auch wenn derartige Vorgänge oft ebenfalls mit einem Betriebs- oder Betriebsteilübergang verbunden sind, sind ihre Folgen im Hinblick auf die Tarifgeltung wegen der Universalsukzession gesondert zu betrachten. Dies gilt insbesondere für die Auswirkungen von Verschmelzungen und Spaltungen von Unternehmen nach dem UmwG (vgl. Rz. 189 ff.). Reine Veränderungen auf Gesellschafterebene wie z.B. im Fall des Gesellschafterwechsels nach einem Anteilsverkauf (share deal) sind demgegenüber tarifrechtlich in der Regel „neutral“. Einzelheiten hierzu einschließlich etwaiger Besonderheiten bei „KonzernTVen“ und Tarifgemeinschaften sind unter Rz. 181 ff. dargestellt. 5 Neben den Auswirkungen von Umstrukturierungen und Übertragungen auf der kollektivrechtlichen Schiene muss stets auch die arbeitsvertragliche Ebene in die Analyse der tariflichen Konsequenzen einbezogen werden, sofern in den Anstellungsverträgen der Arbeitnehmer auf TVe Bezug genommen wird. Denn nur ausreichend elastisch formulierte Bezugnahmeklauseln sind in der Lage, jede tarifliche Entwicklung auch auf der vertraglichen Ebene für das Arbeitsverhältnis nachzuvollziehen. Dies ist im Kontext von Umstrukturierungen vor allem beim Betriebsübergang von Bedeutung (vgl. Rz. 119 ff.).
B. Auswirkungen von betriebs- und unternehmensinternen Umstrukturierungen auf die Tarifgeltung 6 Aus tarifrechtlicher Sicht können unternehmensinterne Strukturveränderungen insbesondere dann Bedeutung für die Tarifgeltung gewinnen, wenn mit ihnen entweder ein Herauswachsen des betroffenen Betriebes aus dem fachlichen oder örtlichen Geltungsbereich der bislang angewendeten TVe einhergeht oder es zu einem Verlust der Tarifzuständigkeit einer an dem TV-Abschluss beteiligten Koalition kommt. Stehen diese Folgen im Zusammenhang mit einer Betriebsänderung i.S.v. § 111 BetrVG, so kann eine hierdurch eintretende Verschlechterung der Arbeitsbedingungen als wirtschaftlicher Nachteil in einem Sozialplan adressiert werden. Hierin liegt wegen § 112 Abs. 1 Satz 4 BetrVG kein Verstoß gegen die „Tarifsperre“ des § 77 Abs. 3 BetrVG1.
1 Zum Verhältnis von TV und Sozialplan s. BAG v. 14.11.2006 – 1 AZR 40/06, NZA 2007, 339 (341); ErfK/Kania, §§ 112, 112a BetrVG Rz. 13; HWK/Hohenstatt/Willemsen, § 112 BetrVG Rz. 80.
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Auswirkungen von unternehmensinternen Umstrukturierungen
Rz. 10
Teil 15
I. Herauswachsen aus dem Geltungsbereich als Folge einer internen Umstrukturierung Umstrukturierungsmaßnahmen des Arbeitgebers können dazu führen, dass der be- 7 troffene Betrieb aus dem fachlichen oder örtlichen Geltungsbereich der bislang kollektivrechtlich einschlägigen TVe herausfällt. Beispiele hierfür sind Betriebsänderungen mit grundlegender Änderung des Betriebszwecks (z.B. Branchenwechsel) oder eine Verlagerung des Betriebes, soweit diese zur Folge haben, dass der Geltungsbereich der bisherigen TVe nicht mehr eröffnet ist. Entsprechendes kann sich ergeben, wenn ein Betriebsteil stillgelegt wird und der verbleibende Betriebsteil nunmehr einen Zweck verfolgt, für welchen der bislang einheitlich angewendete TV fachlich nicht mehr einschlägig ist. Maßgeblich ist die Abgrenzung des Geltungsbereichs in dem jeweiligen TV. Die Konsequenzen für die Tarifgeltung ergeben sich in diesen Fällen aus dem all- 8 gemeinen Tarifrecht. Als Folge eines Herauswachsens aus dem Geltungsbereich tritt nach richtiger Ansicht analog § 4 Abs. 5 TVG die Nachwirkung des TVs für die bislang von ihm erfassten Arbeitsverhältnisse ein, soweit keine die bisherigen Tarifregelungen ersetzende andere Abmachung getroffen wird1. Mithin hat das Herauswachsen aus dem Geltungsbereich das Ende der normativen Wirkung des TVs zur Folge. Teilweise wird indes angenommen, dass betriebliche Umstrukturierungsmaßnahmen 9 des Arbeitgebers, infolge derer der Betrieb nicht mehr vom Geltungsbereich der bisherigen TVe erfasst wird, wie ein „faktischer“ Verbandsaustritt zu bewerten seien, mit der Folge, dass eine Nachbindung an die bisherigen TVe gemäß § 3 Abs. 3 TVG eintritt, bis diese enden2. Dieser Ansatz findet jedoch im Gesetz keine Stütze. Die Nachbindung setzt aufgrund der systematischen Verknüpfung mit § 3 Abs. 1 TVG einen Verlust der Mitgliedschaft in der TV-Partei voraus und stellt keine allgemeine tarifrechtliche Übergangsvorschrift für den Fall dar, dass das Arbeitsverhältnis aus anderen Gründen nicht mehr dem bisherigen – nicht einschlägigen – TV unterfällt3. Zu berücksichtigen ist, dass sich aufgrund von Bezugnahmeklauseln eine Besserstel- 10 lung gegenüber der sich auf der tarifrechtlichen Ebene ergebenden lediglich statischen Nachwirkung der TVe ergeben kann, wenn die Verweisung dynamisch ausgestaltet ist, sofern die Klausel – bspw. wegen Verfehlung der für Neuverträge seit dem 1.1.2002 geltenden besonderen Transparenzanforderungen der Rechtsprechung – nicht als Gleichstellungsabrede ausgelegt werden kann4. Die sich hier stellenden Auslegungsfragen er-
1 BAG v. 10.12.1997 – 4 AZR 193/97, NZA 1998, 488 (490 f.); LAG Hamm v. 12.6.2001 – 13 TaBV 134/00, n.v.; ErfK/Franzen, § 4 TVG Rz. 60; Kempen/Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 53; Löwisch/Rieble, § 4 TVG Rz. 693; Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 29; Wiedemann/Wank, § 4 TVG Rz. 337; Kania, DB 1995, 625 (630); zurückhaltend Däubler/Bepler, § 4 TVG Rz. 886 ff. 2 Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 151; Däubler/Deinert, § 4 TVG Rz. 252. 3 BAG v. 13.7.1994 – 4 AZR 555/93, NZA 1995, 479 (480); Löwisch/Rieble, § 3 TVG Rz. 224; Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 29; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 65. 4 Vgl. dazu etwa BAG v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NJW 2006, 2571 ff.; BAG v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965 ff.; BAG v. 21.10.2009 – 4 AZR 396/08, NZA-RR 2010, 361 (362); BAG v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, NZA-RR 2010, 530 (534); ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz. 41a; Henssler, FS Wißmann, S. 133 (152).
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Teil 15 Rz. 11
Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel
geben sich in ähnlicher Weise für den Fall des Betriebsübergangs auf einen nicht oder anderweitig tarifgebundenen Erwerber (vgl. Rz. 133 ff.). 11
Kommt in dem betroffenen Betrieb ein neuer TV zur Anwendung, an welchen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemäß §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG gebunden sind, so hat dieser gegenüber den nachwirkenden Tarifnomen ablösende Wirkung. Wurde der ablösende TV mit einer anderen Gewerkschaft abgeschlossen – etwa bei Änderung des Betriebszwecks oder Branchenwechsel – müssen die Arbeitnehmer zur Herstellung der für die ablösende Tarifwirkung erforderlichen kongruenten Tarifbindung allerdings in die neue Gewerkschaft wechseln. Für derartige Konstellationen wird zum Teil eine analoge Anwendung von § 613a Abs. 1 Satz 2–4 BGB befürwortet1. Richtigerweise kommt dies jedoch nicht in Betracht, da die besonderen Schutzvorschriften des § 613a BGB einen Wechsel in der Person des Betriebsinhabers voraussetzen und damit auf rein arbeitgeberinterne Umstrukturierungsmaßnahmen nicht anwendbar sind2. Angesichts der Lösungsmöglichkeiten anhand des TVG besteht zudem kein Bedarf für eine Analogie zu § 613a BGB.
II. Wegfall der Tarifzuständigkeit 12
Ferner können Strukturveränderungen im Unternehmen dazu führen, dass die Tarifzuständigkeit der am Abschluss der bislang angewendeten TVe beteiligten Koalition(en) entfällt, insbesondere weil der Arbeitgeber nunmehr eine andere Branchenzugehörigkeit aufweist. Auch diese Konstellation ist ausschließlich anhand des TVG zu lösen, wobei die Einzelheiten umstritten sind (vgl. näher Teil 2 Rz. 237).
13
Wohl überwiegend wird davon ausgegangen, dass ein FirmenTV seine normative Wirkung nicht durch den Verlust der Tarifzuständigkeit der Gewerkschaft einbüßt3. Allerdings soll den Tarifparteien ein Kündigungsrecht zustehen, wobei umstritten ist, ob dies die Möglichkeit einer Kündigung aus wichtigem Grund einschließt4. Da das von der Umstrukturierung betroffene Unternehmen im Falle eines VerbandsTVs nicht Vertragspartei ist und zudem mehrere Arbeitgeber an den TV gebunden sind, ist eine Kündigung durch den einzelnen Arbeitgeber weder möglich noch sachgerecht. Insofern wird verbreitet davon ausgegangen, dass der nachträgliche Verlust der Tarifzuständigkeit bei einem VerbandsTV unmittelbar zum Eintritt der Nachwirkung analog § 4 Abs. 5 TVG führt5.
1 Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 137 (anders aber wohl Rz. 151); Erman/Edenfeld, § 613a BGB Rz. 76; Hanau, RdA 1989, 207 (211). 2 Ebenso Bauert/Haußmann/Krieger, Umstrukturierung, Teil 1 A Rz. 8; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 43; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 111; D. Gaul, NZA 1986, 628 (630); Kreßel, DB 1989, 1623 (1625); Schiefer, RdA 1994, 83 (85). 3 HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 47; Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 2 TVG Rz. 239 f.; a.A. Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 174a; ErfK/Franzen, § 2 TVG Rz. 38; Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 272. 4 HWK/Henssler, § 2 TVG Rz. 47; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 232 m.w.N. 5 Kempen/Zachert/Wendeling-Schröder, § 2 TVG Rz. 244; Wiedemann/Oetker, § 2 TVG Rz. 96; ähnlich Hromadka/Maschmann/Wallner, Tarifwechsel, Rz. 258 ff. Für eine Nachbindung analog § 3 Abs. 3 TVG Däubler/Peter, § 2 TVG Rz. 178.
1132 Grau
Auswirkungen von unternehmensinternen Umstrukturierungen
Rz. 16
Teil 15
Es erscheint jedoch vorzugwürdig, den nachträglichen Wegfall der Tarifzuständigkeit 14 sowohl im Falle eines VerbandsTVs als auch bei einem FirmenTV einheitlich als Anwendungsfall einer Nachwirkung analog § 4 Abs. 5 TVG zu behandeln1. Der Vorteil dieser Lösung liegt darin, dass insofern alle Fälle des Wegfalls von Wirksamkeitsvoraussetzungen gleich behandelt werden. Zudem erscheint es wie beim Herauswachsen aus dem Geltungsbereich des TVs sachgerecht, es den Parteien des Arbeitsverhältnisses zu überlassen, ob sie die nicht mehr passenden Bedingungen durch eine die Nachwirkung beendende andere Abmachung ersetzen wollen. Schließlich ist der Arbeitnehmer aufgrund der Nachwirkung auch vor einem inhaltslosen Zustand des Arbeitsverhältnisses geschützt.
III. Verbandsaustritt und Verbandswechsel Unmittelbar tarifrechtliche Gestaltungsmaßnahmen des Arbeitgebers wie insbeson- 15 dere der Verbandsaustritt oder der Verbandswechsel lassen sich ebenfalls im weiteren Sinne zu den internen Umstrukturierungsmaßnahmen zählen. Hierzu sei auf die Ausführungen in Teil 14 verwiesen.
IV. Tarifkollision als Folge einer Umstrukturierung Unternehmensinterne Umstrukturierungsmaßnahmen mit Veränderung der betriebli- 16 chen Strukturen können zum Auftreten von Tarifkollisionen führen, die dann nach der (missglückten und verfassungsrechtlich zweifelhaften) Kollisionsvorschrift des § 4a TVG zugunsten der Mehrheitstarifverträge aufzulösen sind2. Beispielsweise führt der Zusammenschluss von zwei Betrieben des Arbeitgebers, in denen bislang mit verschiedenen Gewerkschaften geschlossene TVe galten, zum erstmaligen Auftreten einer Tarifkollision. In dem Fall bedarf es dann zur Bestimmung der anzuwendenden bzw. der verdrängten TVe einer Mehrheitsfeststellung nach § 4a Abs. 2 Satz 3 TVG3. Ferner sind Konstellationen denkbar, in denen zwar bereits schon vor der Umstrukturierung eine Tarifkollisionslage bestand, es aber nunmehr infolge des Hinzukommens weiterer Arbeitnehmer (z.B. infolge der Eingliederung eines neuen Betriebsteils in den Hauptbetrieb) zu einer Veränderung der zahlenmäßigen Organisationsgrade im Betrieb kommt. Nach dem Wortlaut des § 4a Abs. 2 Satz 3 TVG würde ein solcher Vorgang nicht dazu führen, dass die Mehrheitsverhältnisse und damit der anwendbare TV neu zu bestimmen wären, da das Gesetz nur an den Zeitpunkt anknüpft, zu dem eine Tarifkollision zum ersten Mal eintritt und es an einer Regelung zur Berücksichtigung nachträglicher Veränderungen der Größenverhältnisse (wie etwa in § 13 Abs. 2 BetrVG) fehlt4. Das ist aber zumindest bei einer erheblichen Veränderung der Mehrheitsverhältnisse der Organisationsgrade im Betrieb kaum sachgerecht, da in dem Fall die mehrheitliche Entscheidung der Arbeitnehmer für und gegen die Tarifpolitik von konkurrierenden Gewerkschaften, welcher § 4a TVG nach der Gesetzesbegründung zur Geltung 1 So auch MünchArbR, Rieble/Klumpp, § 164 Rz. 100. 2 S. auch Berg, § 4a TVG Rz. 38; Däubler/Bepler, Tarifeinheitsrecht, Rz. 58; Hohenstatt/Schuster, ZIP 2016, 1 (4 ff.). 3 Vgl. Greiner, NZA 2015, 769; Hohenstatt/Schuster, ZIP 2016, 5 (8). 4 BeckOK-ArbR/Giesen, § 4a TVG Rz. 9; Hohenstatt/Schuster, ZIP 2016, 5 (8).
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Teil 15 Rz. 17
Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel
verhelfen soll, nicht mehr respektiert würde1. Insofern spricht einiges für das Erfordernis einer erneuten Mehrheitsfeststellung, wenn sich die Organisationsgrade der Arbeitnehmer infolge einer betrieblichen Umstrukturierungsmaßnahme deutlich verändert haben2. Allerdings würde dies auf Kosten der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit gehen, die der Gesetzgeber durch die unflexible stichtagsbezogene Betrachtung in § 4a Abs. 2 Satz 2, 3 TVG offenbar erreichen wollte3. Immerhin geht es hier aber nicht um den Fall, dass ausgeschlossen werden soll, dass spontane Gewerkschaftswechsel der Arbeitnehmer zu einer ständigen Neubewertung der anwendbaren TVe zwingen. Letztlich stellen sich hier noch eine Reihe bislang ungelöster Fragen.
C. Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang auf die Tarifgeltung 17
Die Frage nach der Fortgeltung oder Ablösung von TVen stellt sich in besonderer Weise im Zusammenhang mit Umstrukturierungen, die mit einem Wechsel des Betriebsinhabers verbunden sind. Mit der einschlägigen Vorschrift in § 613a BGB setzt der deutsche Gesetzgeber die Vorgaben der Betriebsübergangsrichtlinie um4. Infolgedessen hat nicht zuletzt die Judikatur des EuGH anhaltend prägenden Einfluss auf die Auslegung des § 613a BGB. Die Vorgaben in Art. 3 Abs. 3 RL 2001/23/EG für den Schutz kollektivvertraglich geregelter Arbeitsbedingungen beim Betriebsübergang sind daher im Rahmen einer europarechtskonformen Auslegung von § 613a Abs. 1 Satz 2–4 BGB zu beachten.
I. Überblick über Voraussetzungen und Anwendungsbereich des § 613a BGB 18
Ein Betriebsübergang i.S.v. § 613a BGB liegt vor, wenn infolge einer Übertragung eines Betriebes oder Betriebsteils durch Rechtsgeschäft die Person des Betriebsinhabers wechselt und der neue Inhaber die übernommene Einheit unter Wahrung ihrer Identität fortführt. Voraussetzung ist stets, dass der neue Betriebsinhaber die betriebliche Organisations- und Leitungsmacht erhält und ausübt. Dies ist auch entscheidend für die Bestimmung des Zeitpunkts des Betriebsinhaberwechsels. Der bloße Erhalt der Fortführungsmöglichkeit reicht demgegenüber für die Annahme eines Betriebsübergangs nicht aus5. Ebenfalls nicht ausreichend ist die Übertragung einer bloßen Tätigkeit (Funktionsnachfolge) oder einzelner „isolierter“ Betriebsmittel6.
1 Siehe BR-Drucks. 635/14, S. 10; BT-Drucks. 18/4062, S. 9. 2 Hohenstatt/Schuster, ZIP 2016, 5 (8). 3 Vgl. die Gesetzesbegründung, BR-Drucks. 635/14, S. 10 f.; s.a. Konzen/Schliemann, RdA 2015, 1 (9). 4 RL 77/187/EWG v. 14.2.1977, geändert durch RL 98/50/EG v. 29.6.1998, zuletzt konsolidierte Fassung durch RL 2001/23/EG v. 22.3.2001, ABl. EG L 82/16 v. 22.3.2001. 5 BAG v. 21.2.2008 – 8 AZR 77/07, NZA 2008, 825 (826); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 50; HWK/ Willemsen, § 613a BGB Rz. 69 f. Hieran hat sich trotz EuGH v. 12.2.2009 – Rs. C-466/07 (Klarenberg), NZA 2009, 251 ff., nichts geändert. 6 St. Rspr., BAG v. 28.5.2009 – 8 AZR 273/08, NZA 2009, 1267 (1269); BAG v. 17.12.2009 – 8 AZR 1019/09, NZA 2010, 499 (501 f.); BAG v. 7.4.2011 – 8 AZR 730/09, NZA 2011, 1231; aus der Lit. statt aller HWK/Willemsen, § 613a BGB Rz. 90 ff., 127 ff.
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Teil 15 Rz. 17
Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel
verhelfen soll, nicht mehr respektiert würde1. Insofern spricht einiges für das Erfordernis einer erneuten Mehrheitsfeststellung, wenn sich die Organisationsgrade der Arbeitnehmer infolge einer betrieblichen Umstrukturierungsmaßnahme deutlich verändert haben2. Allerdings würde dies auf Kosten der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit gehen, die der Gesetzgeber durch die unflexible stichtagsbezogene Betrachtung in § 4a Abs. 2 Satz 2, 3 TVG offenbar erreichen wollte3. Immerhin geht es hier aber nicht um den Fall, dass ausgeschlossen werden soll, dass spontane Gewerkschaftswechsel der Arbeitnehmer zu einer ständigen Neubewertung der anwendbaren TVe zwingen. Letztlich stellen sich hier noch eine Reihe bislang ungelöster Fragen.
C. Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsübergang auf die Tarifgeltung 17
Die Frage nach der Fortgeltung oder Ablösung von TVen stellt sich in besonderer Weise im Zusammenhang mit Umstrukturierungen, die mit einem Wechsel des Betriebsinhabers verbunden sind. Mit der einschlägigen Vorschrift in § 613a BGB setzt der deutsche Gesetzgeber die Vorgaben der Betriebsübergangsrichtlinie um4. Infolgedessen hat nicht zuletzt die Judikatur des EuGH anhaltend prägenden Einfluss auf die Auslegung des § 613a BGB. Die Vorgaben in Art. 3 Abs. 3 RL 2001/23/EG für den Schutz kollektivvertraglich geregelter Arbeitsbedingungen beim Betriebsübergang sind daher im Rahmen einer europarechtskonformen Auslegung von § 613a Abs. 1 Satz 2–4 BGB zu beachten.
I. Überblick über Voraussetzungen und Anwendungsbereich des § 613a BGB 18
Ein Betriebsübergang i.S.v. § 613a BGB liegt vor, wenn infolge einer Übertragung eines Betriebes oder Betriebsteils durch Rechtsgeschäft die Person des Betriebsinhabers wechselt und der neue Inhaber die übernommene Einheit unter Wahrung ihrer Identität fortführt. Voraussetzung ist stets, dass der neue Betriebsinhaber die betriebliche Organisations- und Leitungsmacht erhält und ausübt. Dies ist auch entscheidend für die Bestimmung des Zeitpunkts des Betriebsinhaberwechsels. Der bloße Erhalt der Fortführungsmöglichkeit reicht demgegenüber für die Annahme eines Betriebsübergangs nicht aus5. Ebenfalls nicht ausreichend ist die Übertragung einer bloßen Tätigkeit (Funktionsnachfolge) oder einzelner „isolierter“ Betriebsmittel6.
1 Siehe BR-Drucks. 635/14, S. 10; BT-Drucks. 18/4062, S. 9. 2 Hohenstatt/Schuster, ZIP 2016, 5 (8). 3 Vgl. die Gesetzesbegründung, BR-Drucks. 635/14, S. 10 f.; s.a. Konzen/Schliemann, RdA 2015, 1 (9). 4 RL 77/187/EWG v. 14.2.1977, geändert durch RL 98/50/EG v. 29.6.1998, zuletzt konsolidierte Fassung durch RL 2001/23/EG v. 22.3.2001, ABl. EG L 82/16 v. 22.3.2001. 5 BAG v. 21.2.2008 – 8 AZR 77/07, NZA 2008, 825 (826); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 50; HWK/ Willemsen, § 613a BGB Rz. 69 f. Hieran hat sich trotz EuGH v. 12.2.2009 – Rs. C-466/07 (Klarenberg), NZA 2009, 251 ff., nichts geändert. 6 St. Rspr., BAG v. 28.5.2009 – 8 AZR 273/08, NZA 2009, 1267 (1269); BAG v. 17.12.2009 – 8 AZR 1019/09, NZA 2010, 499 (501 f.); BAG v. 7.4.2011 – 8 AZR 730/09, NZA 2011, 1231; aus der Lit. statt aller HWK/Willemsen, § 613a BGB Rz. 90 ff., 127 ff.
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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsbergang
Rz. 20
Teil 15
1. Identitätswahrender Übergang eines Betriebs oder Betriebsteils a) Vorliegen eines übergangsfähigen Betriebs(teils) Gemäß Art. 1 Abs. 1 lit. b RL 2001/23/EG gilt als übergangsfähig und damit als taugli- 19 ches „Transaktionsobjekt“ jede wirtschaftliche Einheit im Sinne einer organisierten Zusammenfassung von Ressourcen zur Verfolgung einer wirtschaftlichen Haupt- oder Nebentätigkeit. Diese Definition ist weiter gefasst als der „klassische“ Betriebsbegriff des BetrVG. Entscheidend kommt es auf die Übernahme einer funktionsfähigen arbeitstechnischen Organisationseinheit mit eigener wirtschaftlicher Zielsetzung an1. Damit ist entgegen der früher vor allem auf die Übertragung sächlicher und immaterieller Betriebsmittel abstellenden Sichtweise davon auszugehen, dass in betriebsmittelarmen Einheiten auch die Übernahme eines wesentlichen Teils des durch die gemeinsame Tätigkeit sowie durch die vom Veräußerer geschaffene Betriebsorganisation dauerhaft verbundenen Personals ein wesentliches Betriebsübergangsindiz darstellen kann2. Ein übergangsfähiger Betriebsteil i.S.d. § 613a BGB zeichnet sich dadurch aus, dass bestimmte, von der übrigen Betriebsorganisation abgrenzbare Ressourcen dauerhaft zur Erbringung eines betrieblichen Teilzwecks verknüpft werden und eine eigene Organisation aufweisen3. Die wirtschaftliche Einheit muss auf eine gewisse Dauer angelegt sein. Ein stillgelegter Betrieb kann nicht Gegenstand eines Betriebsübergangs nach § 613a BGB sein4. Liegt zwar keine endgültige Stilllegung des Betriebes vor, kann ein Betriebsübergang auch dann ausscheiden, wenn vor der Übernahme des Betriebs durch die neue Leitung eine längere Betriebsunterbrechung eingetreten ist5. Für die Anwendung des § 613a BGB ist es irrelevant, ob die übergehende Einheit ei- 20 ne öffentliche Einrichtung ist oder ob sie dem Bereich der Privatwirtschaft zuzuordnen ist, solange nur der Betriebserwerber privatwirtschaftliche Zwecke verfolgt und die restlichen Voraussetzungen des § 613a BGB erfüllt sind (insbesondere die erforderliche Übertragung kraft Rechtsgeschäfts)6. Damit werden von § 613a BGB grundsätzlich auch Privatisierungsfälle erfasst7, bei denen die Frage der Fortgeltung der 1 Vgl. nur EuGH v. 11.3.1997 – Rs. C-13/95 (Ayse Süzen), NZA 1997, 433 (434); EuGH v. 2.12.1999 – Rs. C-234/98 (Allen), NZA 2000, 587 (588); EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-242/09 (Albron), NZA 2010, 1225 (1226); BAG v. 13.11.1997 – 8 AZR 295/95, NZA 1998, 251 (252); BAG v. 17.4.2003 – 8 AZR 253/02, AP Nr. 253 zu § 613a BGB; BAG v. 27.1.2011 – 8 AZR 326/09, NZA 2011, 1162 (1164). 2 Vgl. nur BAG v. 22.5.1997 – 8 AZR 101/96, NZA 1997, 1050 (1052 f.); BAG v. 3.11.1998 – 3 AZR 484/97, n.v.; HWK/Willemsen, § 613a BGB Rz. 122. 3 EuGH v. 6.3.2014 – Rs. C-458/12 (Amatori u.a.), NZA 2014, 423 (424 f.); BAG v. 2.10.1974 – 5 AZR 504/73, NJW 1975, 1378 ff.; BAG v. 26.8.1999 – 8 AZR 718/98, NZA 2000, 144 (145); BAG v. 17.12.2009 – 8 AZR 1019/08, NZA 2010, 499 (500 f.); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 7 f. 4 BAG v. 28.4.1988 – 2 AZR 623/87, NZA 1989, 265 (266); BAG v. 16.5.2002 – 8 AZR 319/01, NZA 2003, 93 (99); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 56; HWK/Willemsen, § 613a BGB Rz. 77. 5 BAG v. 22.5.1997 – 8 AZR 101/96, NZA 1997, 1050 (1052); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 57; HWK/Willemsen, § 613a BGB Rz. 78. 6 Vgl. EuGH v. 10.12.1998 – Rs. C-173/96 (Hidalgo), NZA 1999, 189 (190); EuGH v. 14.9.2000 – Rs. C-242/98 (Collino u.a.), NZA 2000, 1279 (1281); BAG v. 27.4.2000 – 8 AZR 260/99, n.v.; BAG v. 20.3.2014 – 8 AZR 1/13, NZG 2014, 1398 (1400); HWK/Willemsen, § 613a BGB Rz. 23. 7 Ausführlich Blanke/Fedder/Blanke, Privatisierung, 2. Aufl. 2010, Teil 6 Rz. 23 ff.; s. auch BAG v. 27.4.2000 – 8 AZR 260/99, n.v.; BAG v. 22.5.2014 – 8 AZR 1069/12, NZA 2014, 1335 (1337 f.); EuGH v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 (Alemo-Herron), NZA 2013, 835 ff.; HWK/Willemsen, § 613a BGB Rz. 29; Schipp, NZA 1994, 865 ff.
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Teil 15 Rz. 21
Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel
für den öffentlichen Dienst geltenden TVe regelmäßig besonderes Gewicht hat. Der EuGH geht in der Anwendung der Betriebsübergangsrichtlinie sogar noch einen Schritt weiter und versteht auch den Übergang einer öffentlichen Einrichtung auf einen neuen Arbeitgeber innerhalb der öffentlichen Verwaltung als Betriebsübergang, wenn dieser im Rahmen der Neuordnung der öffentlichen Verwaltung erfolgt und die öffentliche Einrichtung keine hoheitlichen, sondern wirtschaftliche Tätigkeiten ausübt1. b) Identitätswahrender Übergang der wirtschaftlichen Einheit 21
Ob der für den Betriebsübergang vorausgesetzte identitätswahrende Übergang der wirtschaftlichen Einheit vorliegt, ist im Rahmen einer Gesamtabwägung der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen. Hierfür gilt der bekannte, von der Rechtsprechung entwickelte Sieben-Punkte-Katalog2. Kriterien für die Prüfung einer identitätswahrenden Übertragung sind danach ein Vergleich der Art des Betriebes vor und nach dem Übergang, die Übernahme von materiellen sowie immateriellen Betriebsmitteln durch den Erwerber, die Übernahme der Hauptbelegschaft, die Übernahme von Kundenbeziehungen, die Vergleichbarkeit der Tätigkeit vor und nach dem Betriebsübergang sowie die Dauer einer möglichen Unterbrechung der Geschäftstätigkeit3.
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Bei der erforderlichen Gesamtbeurteilung ist das Gewicht der einzelnen Kriterien in Beziehung zur Art des Betriebes zu setzen. Maßgebliche Bedeutung kommt hierbei der Unterscheidung zu, ob die wirtschaftliche Einheit durch ihre sächlichen oder immateriellen Betriebsmittel geprägt war oder aber ein betriebsmittelarmer Betrieb vorliegt, bei dem es im Wesentlichen auf die menschliche Arbeitskraft ankommt. Im ersten Fall – Vorliegen eines betriebsmittelgeprägten Betriebes – kommt der Übernahme der sächlichen oder immateriellen Betriebsmittel, speziell jedoch derjenigen Betriebsmittel, die den Kern der wirtschaftlichen Wertschöpfung im Betrieb ausmachen4, besonderes Gewicht zu. Für eine Übernahme der Betriebsmittel durch den Erwerber ist es nicht erforderlich, dass diese sachenrechtlich in dessen Eigentum übergehen oder er hierüber „eigenwirtschaftlich“ disponieren kann. Vielmehr sind dem Betriebserwerber die Mittel nach der Abler-Entscheidung des EuGH bereits zuzurechnen, wenn er diese lediglich weiter nutzt5. In betriebsmittelarmen Betrieben setzt ein Betriebsübergang dem-
1 EuGH v. 6.9.2011 – Rs. C-108/10 (Scattolon), NZA 2011, 1077 (1080 f.); BAG v. 20.3.2014 – 8 AZR 1/13, NZA 2014, 1095 (1096); BAG v. 22.5.2014 – 8 AZR 1069/12, NZA 2014, 1335 (1338). 2 Siehe nur EuGH v. 20.11.2003 – Rs. C-340/01 (Abler), NZA 2003, 1385 (1386); EuGH v. 15.12.2005 – Rs. C-232/04 (Nurten Güney-Görres), NZA 2006, 29 (30); BAG v. 2.3.2006 – 8 AZR 147/05, NZA 2006, 1105 (1106); BAG v. 17.12.2009 – 8 AZR 1019/08, NZA 2010, 499 (501); BAG v. 20.3.2014 – 8 AZR 1/13, NZA 2014, 1095 (1096); BAG v. 18.9.2014 – 8 AZR 733/13, NZA 2015, 97 (99). 3 Ausführlich zu den einzelnen Kriterien u.a. ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 10 ff.; HWK/Willemsen, § 613a BGB Rz. 93 ff.; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 25 ff. 4 Zum Wertschöpfungsgedanken siehe BAG v. 22.7.2004 – 8 AZR 350/03, NZA 2004, 1384 (1387); BAG, v. 21.6.2012 – 8 AZR 181/11, NZA-RR 2013, 6 (9 f.); HWK/Willemsen, § 613a BGB Rz. 98; Müntefering/Willemsen, NZA 2006, 1185 ff. 5 EuGH v. 20.11.2003 – Rs. C-340/01 (Abler), NZA 2003, 1385; im Anschluss daran BAG v. 6.4.2006 – 8 AZR 222/04, NZA 2006, 723 (725); dazu Hohenstatt/Grau, NJW 2007, 29 ff.
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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsbergang
Rz. 25
Teil 15
gegenüber in der Regel voraus, dass der Erwerber einen nach Zahl und Sachkunde wesentlichen Teil des Personals (freiwillig) übernimmt1. In der Vergangenheit war davon auszugehen, dass die übertragene Einheit auch beim 23 Erwerber noch organisatorisch unterscheidbar vorhanden sein muss, um einen Betriebsübergang anzunehmen. Wurde die übernommene Einheit hingegen im Zuge der Übertragung durch Eingliederung in die anders gearteten betrieblichen Strukturen beim Erwerber organisatorisch aufgelöst, so schied ein Betriebsübergang aus (sog. Konzept der identitätszerstörenden Eingliederung)2. Wie der EuGH in der Sache Klarenberg entschieden hat, kann ein Betriebsübergang jedoch auch dann vorliegen, wenn die übertragene Einheit ihre organisatorische Selbständigkeit nicht bewahrt, sofern die funktionelle Verknüpfung zwischen den übertragenen Produktionsfaktoren beibehalten wird, so dass der Erwerber mit ihnen derselben oder einer gleichartigen wirtschaftlichen Tätigkeit nachgehen kann3. Für die Einzelheiten zum Betriebsübergangstatbestand und die zahlreichen Abgrenzungsfragen sei auf die einschlägigen Auswertungen der umfangreichen Judikatur im Schrifttum verwiesen4. 2. Wechsel des Betriebsinhabers § 613a BGB setzt einen Wechsel in der Person des Betriebsinhabers voraus. Betriebs- 24 inhaber ist derjenige, der die Leitungs- und Organisationsmacht über die übergehende Einheit innehat und den Betrieb im eigenem Namen führt5. Erforderlich ist ein Wechsel in der Rechtspersönlichkeit des Betriebsinhabers. Die Vorschrift ist demnach nicht, auch nicht analog, auf Vorgänge zu erstrecken, bei denen die Identität des Arbeitgebers unberührt bleibt6. Dies gilt neben bloßen Veränderungen auf Gesellschafterebene (z.B. beim share deal) auch für arbeitgeberinterne Umstrukturierungsmaßnahmen wie z.B. die betriebsverfassungsrechtliche Verschmelzung von Betrieben. 3. Rechtsgeschäftlich veranlasste Übertragung § 613a BGB ist nur auf Betriebs(teil)übertragungen kraft Rechtsgeschäfts anwendbar. Dieses Merkmal ist weit auszulegen. Es genügt, wenn der Inhaberwechsel rechts-
1 Siehe nur BAG v. 18.3.1999 – 8 AZR 306/98, NZA 1999, 706 (707); BAG, v. 21.6.2012 – 8 AZR 181/11, NZA-RR 2013, 6 (9); BAG v. 21.8.2014 – 8 AZR 648/13, NZA 2015, 167 (169); HWK/ Willemsen, § 613a BGB Rz. 145. 2 Vgl. BAG v. 6.4.2006 – 8 AZR 249/04, NZA 2006, 1039 (1041 f.); BAG v. 13.12.2007 – 8 AZR 937/06, NZA 2008, 1021 (1023 f.); BAG v. 24.4.2008 – 8 AZR 268/07, NZA 2008, 1314 (1317); s. dazu auch Schnitker/Grau, BB 2006, 2194; Willemsen, NZA-Beilage 4/2008, 155 (158). 3 EuGH v. 12.2.2009 – Rs. C-466/07 (Klarenberg), NZA 2009, 251 (253); BAG v. 10.5.2012 – 8 AZR 434/11, NZA 2012, 1161 (1165); dazu u.a. Meyer, NZA-RR 2013, 225 ff.; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 7; Schlachter, RdA-Beilage 2009, 31 (36 ff.); Schiefer, FS Bauer, S. 901 (907); Willemsen/Sagan, ZIP 2010, 1205 (1211 f.). 4 Siehe etwa ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 5 ff.; HWK/Willemsen, § 613a BGB Rz. 11 ff.; WHSS/ Willemsen, Teil G Rz. 5 ff., Rz. 47 ff., jeweils m.w.N. 5 Statt aller HWK/Willemsen, § 613a BGB Rz. 64. 6 BAG v. 14.8.2007 – 8 AZR 803/06, NZA 2007, 1428 (1430); Bauer/Haußmann/Krieger, Umstrukturierung, Teil 1 A Rz. 8; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 43; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 74; Deinert, RdA 2001, 368 (369).
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Teil 15 Rz. 26
Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel
geschäftlich veranlasst ist, was auch dann der Fall ist, wenn der Erwerb der betrieblichen Leitungsmacht auf einem Bündel von Rechtsgeschäften beruht oder durch mehrere rechtsgeschäftliche Beziehungen vermittelt wird, ohne dass zwischen dem Betriebsveräußerer und dem Erwerber eine unmittelbare Vertragsbeziehung besteht (z.B. Pächterwechselfälle)1. In Abgrenzung hierzu fallen Übertragungsakte kraft Gesetzes oder Hoheitsaktes nicht unter § 613a BGB. Bei Umstrukturierungen öffentlicher Rechtsträger greift § 613a BGB nach bisherigem Verständnis nicht ein, wenn zwar eine übergangsfähige Einheit übertragen wird, der Übergang jedoch unmittelbar kraft Gesetzes vollzogen wird2. Der EuGH sieht den Anwendungsbereich der Betriebsübergangsrichtlinie indes als weiter und hat auch den Übergang einer wirtschaftlichen Einheit durch Gesetz als Anwendungsfall der Betriebsübergangsrichtlinie angesehen.3 Dies begründet der Gerichtshof mit Schutzzweckerwägungen. 26
Damit ist § 613a BGB in Fällen einer gesetzlichen Universalsukzession jedenfalls nach bisherigem nationalen Verständnis grundsätzlich nicht anwendbar. Allerdings kommt § 613a BGB in Fällen der vollständigen oder partiellen Gesamtrechtsnachfolge bei Unternehmensumwandlungen nach dem UmwG zum Tragen, sofern hierbei ein Betrieb oder Betriebsteil auf einen neuen Rechtsträger übergeht (vgl. die Rechtsgrundverweisung in § 324 UmwG)4. Dies kommt für Verschmelzungen, die verschiedenen Formen der Spaltung sowie Vermögensübertragungen in Betracht. Ausgeschlossen ist ein Betriebsübergang in Fällen der formwechselnden Umwandlung, da hierbei der bisherige Rechtsträger identisch bleibt5. 4. Grenzüberschreitende Betriebsübernahmen
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§ 613a BGB gilt für die Übernahme von im Inland liegenden Betrieben6. Zudem muss das fragliche übergehende Arbeitsverhältnis deutschem Recht unterliegen7. Die Einzelheiten richten sich insofern nach den Kollisionsregelungen des Art. 8 der Verordnung über vertragliche Schuldverhältnisse (Rom-I-VO).
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Wird ein in Deutschland ansässiger Betrieb aufgrund eines Betriebsübergangs in das Ausland verlagert, kann § 613a BGB für die Arbeitsverhältnisse grundsätzlich zum Tragen kommen. Die räumliche Veränderung kann allerdings dazu führen, dass nicht 1 BAG v. 27.4.1995 – 8 AZR 197/94, NZA 1995, 1155 (1156 f.); BAG v. 21.8.2014 – 8 AZR 648/13, AP BGB § 613a Nr. 454; BAG v. 18.9.2014 – 8 AZR 733/13, NZA 2015, 97 (99 f.); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 60; HWK/Willemsen, § 613a BGB Rz. 198 f. 2 Vgl. EuGH v. 15.10.1996 – Rs. C-298/94 (Henke), NZA 1996, 1279; BAG v. 8.5.2001 – 9 AZR 95/00, NZA 2001, 1200 (1202). Anders wenn zur Umsetzung der Abschluss eines Rechtsgeschäfts erforderlich ist, vgl. BAG v. 25.1.2001 – 8 AZR 336/00, NZA 2001, 840 (841 f.). Dazu auch BVerfG v. 25.1.2011 – 1 BvR 1741/09, NZA 2011, 400. 3 Siehe EuGH v. 6.9.2011 – Rs. C-108/10 (Scattolon), NZA 2011, 1077 ff.; dazu Preis/Sagan/ Grau/Hartmann, Europ. Arbeitsrecht, § 11 Rz. 27 ff. 4 BAG v. 25.5.2000 – 8 AZR 416/99, DB 2000, 1966 (1967); BAG v. 6.10.2005 – 2 AZR 316/04, NZA 2006, 990 (993 f.); Kallmeyer/Willemsen, § 324 UmwG Rz. 2. 5 HWK/Willemsen, § 324 UmwG Rz. 2, 15; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 120. 6 HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 376; MüAnwHdbArb/Cohnen, § 53 Rz. 70; Thüsing/Braun/Reufels, 13. Kap. Rz. 46; Feudner, NZA 1999, 1184 (1186 f.). 7 BAG v. 29.10.1992 – 2 AZR 267/92, AP Nr. 31 zu Internationales Privatrecht – Arbeitsrecht; BAG v. 26.5.2011 – 8 AZR 37/10, n.v.; MüAnwHdbArb/Cohnen, § 53 Rz. 70; Thüsing/Braun/ Reufels, 13. Kap. Rz. 45.
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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsbergang
Rz. 31
Teil 15
mehr von einer Identitätswahrung der bisherigen wirtschaftlichen Einheit gesprochen werden kann1. Sieht der Arbeitsvertrag ausschließlich eine Inlandstätigkeit vor, scheitert die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses, wenn der Arbeitnehmer dem Wechsel seines Arbeitsortes nicht zustimmt. Bei Anwendbarkeit des § 613a BGB gilt hinsichtlich des Schicksals der vormals gel- 29 tenden TVe die Bestimmung des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB, sofern durch die Verlagerung des Betriebes ins Ausland die kollektivrechtliche Geltung der inländischen TVe entfällt2. Eine Ablösung der nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortwirkenden TVe durch ausländische Regelungen ist möglich, wenn diese mit deutschen Tarifnormen vergleichbar sind3.
II. Kollektivrechtliche Fortgeltung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang 1. Vorrang der kollektivrechtlichen Fortgeltung Durch einen Betriebsübergang soll die Rechtsstellung der betroffenen Arbeitnehmer 30 nicht verschlechtert werden. Aus diesem Grunde sollen auch die auf kollektivrechtlicher Grundlage zugesagten Rechte infolge des Betriebsübergangs nicht geschmälert werden, sofern beim Betriebserwerber keine anderweitigen Kollektivverträge gelten. Diese Zielsetzung ergibt sich aus Art. 3 Abs. 3 RL 2001/23/EG, wonach der Betriebserwerber verpflichtet ist, die in einem Kollektivvertrag vereinbarten Arbeitsbedingungen bis zur Kündigung oder zum Ablauf des Kollektivvertrages bzw. bis zum Inkrafttreten oder bis zur Anwendung eines anderen Kollektivvertrages in dem gleichen Maße aufrechtzuerhalten, wie sie in dem Kollektivvertrag für den Veräußerer vorgesehen waren. Die Mitgliedstaaten sind nach Art. 3 Abs. 3 2. UAbs. RL 2001/23/EG dazu berechtigt, den Zeitraum der Aufrechterhaltung der Arbeitsbedingungen zu begrenzen, solange dieser Zeitraum mindestens ein Jahr beträgt. Der deutsche Gesetzgeber hat diese Vorgaben durch das arbeitsrechtliche EG-Anpas- 31 sungsgesetz vom 13.8.1980 umgesetzt, was zur Aufnahme von § 613a Abs. 1 Satz 2 bis 4 BGB in das Gesetz geführt hat. Danach werden Rechte und Pflichten, die durch Rechtsnormen eines TVs geregelt sind, Inhalt des Arbeitsverhältnisses zwischen dem neuen Inhaber und dem Arbeitnehmer und dürfen nicht vor Ablauf eines Jahres nach dem Zeitpunkt des Übergangs zum Nachteil des Arbeitnehmers geändert werden (§ 613a Abs. 1 Satz 2 BGB). Gemäß § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB gilt dies jedoch nicht, wenn die Rechte und Pflichten bei dem neuen Inhaber durch Rechtsnormen eines anderen TVs oder durch eine andere Betriebsvereinbarung geregelt werden. Vor Ablauf der Frist nach Satz 2 können die Rechte und Pflichten geändert werden, wenn der TV
1 Vgl. BAG v. 20.4.1989 – 2 AZR 431/88, NZA 1990, 32; BAG v. 25.5.2000 – 8 AZR 335/99; BAG v. 26.5.2011 – 8 AZR 37/10, NZA 2011, 1143 (1146); Feudner, NZA 1999, 1184 (1187). 2 Däubler/Däubler, TVG, Einl. Rz. 646 f.; Thüsing/Braun/Reufels, 13. Kap. Rz. 42; Wiedemann/ Thüsing, § 1 TVG Rz. 95; Deinert, RdA 2001, 368 (374); eine Erstreckung inländischer Tarifnormen auf Auslandssachverhalte ist grds. möglich, vgl. BAG v. 10.9.1985 – 1 ABR 28/83, AP Nr. 3 zu § 117 BetrVG 1972; BAG v. 12.12.1990 – 4 AZR 238/90, NZA 1991, 386 (387). 3 Thüsing/Braun/Reufels, 13. Kap. Rz. 42; Däubler, FS Kissel, S. 119 (127); Deinert, RdA 2001, 368 (374); Feudner, NZA 1999, 1184 (1188).
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Teil 15 Rz. 32
Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel
nicht mehr gilt oder bei fehlender beiderseitiger Tarifgebundenheit im Geltungsbereich eines anderen TVs dessen Anwendung zwischen dem neuen Inhaber und dem Arbeitnehmer vereinbart wird (§ 613a Abs. 1 Satz 4 BGB). 32
Durch den nach diesem System angeordneten Bestandsschutz bei den kollektivrechtlichen Arbeitsbedingungen soll in den Grenzen des durch § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB geschützten Ablösungsinteresses des Betriebserwerbers verhindert werden, dass die von einem Betriebsübergang betroffenen Arbeitnehmer durch den Übergang des Betriebes auf einen neuen Inhaber den ihnen zuvor zustehenden Tarifschutz verlieren1. Ein Eingreifen des spezialgesetzlichen Schutzes der bisherigen Tarifbedingungen ist jedoch nicht erforderlich, wenn sich die normative Fortgeltung der bisherigen TVe bereits aus den zwingenden Vorschriften des allgemeinen Tarifrechts ergibt. Besteht demnach die Tarifbindung in dem nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB übergegangenen Arbeitsverhältnis gemäß §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG oder im Falle der Allgemeinverbindlichkeit gemäß § 5 Abs. 4 TVG fort, so ist § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB aufgrund des Charakters als Auffangnorm nicht anwendbar2. Einer in der Literatur vertretenen gegenteiligen Auffassung, wonach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB als lex specialis zu anderen gesetzlichen Anordnungen der Tarifgeltung anzusehen ist bzw. es bei originärer eigener Tarifbindung des Erwerbers zu einer doppelten Tarifbindung kraft Betriebsübernahme und Verbandsmitgliedschaft kommen soll3, ist entgegenzuhalten, dass es der mit § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB lediglich bezweckten Absicherung des kollektivrechtlichen status quo zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs nicht bedarf, sofern das übergegangene Arbeitsverhältnis weiterhin derselben Tarifbindung unterliegt wie vor dem Übergang. In diesem Fall ist § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB bereits seinem Zweck nach nicht einschlägig. Zudem steht diese Auffassung im Widerspruch zu § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB, wonach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB nicht gilt, wenn die tariflichen Rechte und Pflichten bei dem Betriebserwerber durch einen anderen Kollektivvertrag geregelt werden. Schließt sogar die Regelung durch einen anderen Kollektivvertrag eine Weitergeltung der bisherigen Bedingungen aus, so ist bei Geltung desselben Kollektivvertrages wie vor dem Übergang erst recht kein Raum für eine Anwendung von § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB. Schließlich passen die systematisch in Bezug auf § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB geregelten Einschränkungen des kollektivrechtlichen Bestandsschutzes in § 613a Abs. 1 Satz 4 BGB nicht auf Fälle, in denen sich die unveränderte normative Tarifgeltung für das Arbeitsverhältnis aus den allgemeinen Bestimmungen des TVG ergibt. Insofern ist mit der ganz h.M. also stets vorrangig zu prüfen, ob sich durch die Umstrukturierungsmaßnahme überhaupt Veränderungen der Tarifgeltung auf kollektivrechtlicher Ebene ergeben, oder ob vielmehr der zuvor beim Veräußerer kollektivrechtlich geltende TV wegen identischer Tarifbindung des Erwerbers auch nach dem Betriebsübergang normativ auf das betroffene Arbeitsverhältnis einwirkt.
1 ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 2, 111; HWK/Willemsen, § 613a BGB Rz. 6; Lambrich, FS Ehmann, S. 169 (172); Röder, DB 1981, 1980. 2 BAG v. 5.2.1991 – 1 ABR 32/90, NZA 1991, 639 (641); BAG v. 27.7.1994 – 7 ABR 37/93, NZA 1995, 222 (225); BAG v. 18.9.2002 – 1 ABR 54/01, NZA 2003, 670 (674); BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, NZA 2010, 238 (241); aus der Lit. statt vieler Hromadka/Maschmann/Wallner, Tarifwechsel, Rz. 337; HWK/Willemsen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 254; Wiedemann/ Oetker, § 3 TVG Rz. 203; Henssler, FS Schaub, S. 311 (312); Moll, RdA 1996, 275. 3 ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 113 f.; Sagan, RdA 2011, 163 (170).
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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsbergang
Rz. 35
Teil 15
2. Voraussetzungen für die kollektivrechtliche Fortgeltung a) Verbandstarifverträge Die kollektivrechtliche (Weiter-)Geltung eines VerbandsTVs setzt die kongruente Ta- 33 rifgebundenheit von Arbeitgeber und Arbeitnehmer voraus. Die Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband ist höchstpersönlicher Natur und geht beim Betriebsübergang – in Fällen der Einzelrechtsübertragung schon mangels in Frage kommenden Rechtsnachfolgetatbestands, da § 613a BGB nicht die Rechtsbeziehung zum Arbeitgeberverband regelt – nicht auf den Erwerber über1. Demnach tritt beim Betriebsübergang keine automatische, kollektivrechtliche Fortgeltung von VerbandsTVen ein2. Dasselbe gilt grundsätzlich auch im Fall einer Gesamtrechtsnachfolge wie etwa bei der Verschmelzung (vgl. Rz. 196 f.). Zu einer normativen Weitergeltung der im übertragenen Betrieb vor dem Übergang gel- 34 tenden VerbandsTVe kommt es jedoch dann, wenn der Erwerber einer (originären) eigenen Tarifbindung an dieselben TVe unterliegt wie der Veräußerer. Dies ist dann der Fall, wenn er entweder selbst kraft Mitgliedschaft im tarifschließenden Arbeitgeberverband gemäß §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG an die betreffenden TVe gebunden ist, oder wenn die TVe gemäß § 5 TVG für allgemeinverbindlich erklärt wurden3. Die Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband kann durch eigenen Verbandsbeitritt oder durch einvernehmliche Übertragung der Mitgliedschaft des Veräußerers erworben werden, falls die Satzung des Arbeitgeberverbands eine solche Übertragung zulässt4. Stellt der Erwerber die entsprechende Tarifbindung zeitlich erst nach dem Vollzug des Betriebsübergangs her, so greift zwischenzeitlich für die zuvor tarifgebundenen Arbeitnehmer der Schutz des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB ein. Erst nach Eintritt der erneuten kollektivrechtlichen Tarifbindung an die betreffenden TVe gelten diese dann wieder normativ und lösen die nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB aufrechterhaltenen Tarifnormen ab (§ 613a Abs. 1 Satz 3 BGB). Voraussetzung für die kollektivrechtliche (Fort-)Geltung der bisherigen VerbandsTVe 35 nach dem Betriebsübergang ist zudem, dass die übertragene Einheit den fachlichen und örtlichen Geltungsbereich der TVe nicht verlassen hat und die am TV-Abschluss beteiligten Koalitionen weiterhin tarifzuständig sind5. Anderenfalls ist eine unmittelbar und zwingende Fortgeltung des VerbandsTVs nach tarifrechtlichen Maßstäben ausgeschlossen (vgl. Rz. 7 ff., 12 ff.). Denkbar ist dies insbesondere in Ausgliederungs1 BAG v. 4.12.1974 – 5 AZR 75/74, AP Nr. 2 zu § 3 TVG; BAG v. 13.7.1994 – 4 AZR 555/93, NZA 1995, 479 (480); BAG v. 24.6.1998 – 4 AZR 208/97, NZA 1998, 1346 (1347 f.); Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 149; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 201; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 100; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 203. 2 BAG v. 4.12.1974 – 5 AZR 75/74, AP Nr. 2 zu § 3 TVG; BAG v. 13.7.1994 – 4 AZR 555/93, NZA 1995, 479 (480); BAG v. 24.6.1998 – 4 AZR 208/97, NZA 1998, 1346 (1347 f.); aus der Lit. statt aller Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 149; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 209. 3 BAG v. 26.9.1976 – 4 AZR 819/77, NJW 1980, 1591; BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 581/00, NZA 2001, 510 (512); Bauer/Haußmann/Krieger, Umstrukturierung, Teil 4 C Rz. 20; Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 149; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 199; Moll, RdA 1996, 275; MüllerBonanni/Mehrens, ZIP 2012, 1217. 4 Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 208; Gaul, NZA 1995, 717 (719); Wellenhofer-Klein, ZfA 1999, 239 (255). 5 BAG v. 30.8.2000 – 4 AZR 581/00, NZA 2001, 510 (512); Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 149; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 199; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 94.
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Teil 15 Rz. 36
Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel
fällen, wenn eine Funktionsabteilung auf ein anderes Unternehmen übertragen wird, welches einer anderen Branche angehört (z.B. Auslagerung der Kantine eines Chemiebetriebs in ein Cateringunternehmen). Eine Sonderkonstellation kann sich bei einem Betriebsinhaberwechsel im Zuge eines unechten Betriebsführungsvertrags ergeben1. Sofern bei konzerninternen Gestaltungen ein Tätigwerden des Betriebsführers auf reiner Kostenerstattungsbasis vereinbart wird, kann es mangels Gewinnerzielungsabsicht an einer gewerblichen Tätigkeit des betriebsführenden Unternehmens und damit selbst bei gleicher Tarifgebundenheit wie das übertragende Unternehmen an einer Voraussetzung für die weitere Einschlägigkeit eines TVs fehlen, soweit dieser nach seinem Geltungsbereich eine gewerbliche Tätigkeit des Arbeitgebers voraussetzt2. Scheidet der Betrieb bzw. Betriebsteil durch den Inhaberwechsel aus dem Geltungsbereich aus oder kommt es im Zuge des Übergangs zu einem Verlust der Tarifzuständigkeit einer am TV beteiligten Koalition, so werden die tariflichen Inhaltsnormen für die bislang tarifgebundenen Arbeitnehmer nach Maßgabe von § 613a Abs. 1 Satz 2 bis 4 BGB aufrechterhalten. Die Vorschriften des § 613a BGB sind insofern speziell gegenüber einer Nachbindung oder Nachwirkung von Tarifnormen gemäß §§ 3 Abs. 3, 4 Abs. 5 TVG3. 36
Die Anforderungen an die kollektivrechtliche Fortgeltung eines firmenbezogenen VerbandsTVs sind identisch. Wegen seiner Rechtsnatur als VerbandsTV4 erfolgt keine automatische Rechtsnachfolge, sondern der Erwerber muss die Tarifbindung durch Begründung der Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband herstellen. Allerdings kann einer kollektivrechtlichen Fortgeltung der firmenbezogene Charakter des TVs entgegenstehen, wenn nach dessen Geltungsbereich die Zugehörigkeit des Betriebs zu dem Unternehmen des Betriebsveräußerers Voraussetzung für die weitere Einschlägigkeit des TVs ist. Hier wird sich im Zweifel der Abschluss eines ÜberleitungsTVs empfehlen, wenn der Erwerber den TV übernehmen will. Dies kann unter Mitwirkung des Arbeitgeberverbandes oder durch Abschluss eines entsprechenden (spezielleren) FirmenTVs des Erwerbers mit der tarifschließenden Gewerkschaft erfolgen. b) Firmentarifverträge aa) Betriebsübergang im Wege der Einzelrechtsübertragung
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Für eine automatische Überleitung der Vertragspartnerstellung des Veräußerers aus einem von ihm abgeschlossenen FirmenTV auf den Erwerber fehlt es bei der Einzelrechtsnachfolge an einer gesetzlichen Grundlage. Dementsprechend wird heute ganz überwiegend davon ausgegangen, dass der Erwerber nicht automatisch in die Tarifbindung an einen in der übertragenden Einheit geltenden FirmenTV eintritt5. Nach einer 1 Zur Terminologie und Anwendbarkeit des § 613a BGB im Zusammenhang mit Betriebsführungsvereinbarungen siehe WHSS/Willemsen, Teil G Rz. 77 ff. 2 Vgl. Rieble, NZA 2010, 1145 (1149); siehe zum Geltungsbereich eines TVs des Baugewerbes unter diesem Gesichtspunkt BAG v. 11.3.1998 – 10 AZR 220/97, NZA 1998, 949. 3 Siehe BAG v. 1.4.1987 – 4 AZR 77/86, NZA 1987, 593 ff.; BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 332/00, NZA 2002, 513 (515). 4 BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, NZA 2007, 987 ff.; HWK/Henssler, § 1 TVG Rz. 5; Meyer, NZA 2004, 366 (369). 5 BAG v. 29.8.2001 – 4 AZR 332/00, NZA 2002, 513 (514 f.); BAG v. 10.6.2009 – 4 ABR 21/08, NZA 2010, 51 (53); BAG v. 26.8.2009 – 5 AZR 969/08, NZA 2010, 173 (175); BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, NZA 2010, 238 (240 f.); Erman/Edenfeld, § 613a BGB Rz. 74; HWK/Willem-
1142 Grau
Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsbergang
Rz. 39
Teil 15
Gegenansicht soll die kollektivrechtliche Fortgeltung eines FirmenTVs nach dem Betriebsübergang hingegen in Betracht kommen, wenn die von ihm erfassten Betriebe identitätswahrend auf den Erwerber übertragen werden1. Die insofern gezogene Parallele zur Rechtslage bei Betriebsvereinbarungen ist jedoch nicht haltbar, weil § 3 Abs. 1 TVG für die Tarifbindung an die Rechtspersönlichkeit des Arbeitgebers als Partei des FirmenTVs anknüpft und die Tarifbindung somit gerade nicht betriebsbezogen definiert2. Der Erwerber kann die Tarifbindung an den FirmenTV allerdings herstellen, wenn er selbst mit der Gewerkschaft einen inhaltsgleichen TV bzw. ÜbernahmeTV abschließt und damit die Geltung des bisherigen FirmenTVs für den nunmehr zu seinem Unternehmen gehörenden Betrieb vereinbart3. Voraussetzung ist die fortbestehende Tarifzuständigkeit der Gewerkschaft. Da keine automatische Vertragsübernahme durch den Betriebserwerber erfolgt, gilt 38 der FirmenTV im Anschluss an den Betriebsübergang zwischen den bisherigen Tarifparteien – Veräußerer und Gewerkschaft – grundsätzlich kollektivrechtlich weiter. Dies gilt auch dann, wenn sämtliche Betriebe des Veräußerers übergegangen sind, da das zwischen den Tarifparteien bestehende Schuldverhältnis durch den Wegfall des Geltungsobjektes des FirmenTVs nicht ipso iure entfällt. Damit verbleibt auch ein etwaiges Kündigungsrecht hinsichtlich des FirmenTVs im Verhältnis zwischen den Tarifparteien bestehen. Nach Ansicht des BAG soll eine nach dem Betriebsübergang durch eine der ursprünglichen Tarifparteien erfolgende Kündigung allerdings in bestimmten Konstellationen Auswirkungen auf die beim Erwerber nur noch gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortgeltenden Tarifbedingungen und damit auf die Rechtsbeziehungen zwischen dem Erwerber und den auf ihn übergegangenen zuvor tarifgebundenen Arbeitnehmern haben können (vgl. Rz. 71 ff.)4. Unterschiedliche Folgerungen werden in der Literatur aus einem als Goethe-InstitutEntscheidung des BAG bekannt gewordenen Fall gezogen. Hier hatte der 4. Senat im Falle einer konzerninternen Ausgliederung von Einheiten durch die in Deutschland tarifgebundene „Konzernmutter“ eine Einwirkungspflicht des ausgliedernden Unternehmens auf ihre ausgegründete Tochtergesellschaft angenommen, dass jene den vom herrschenden Unternehmen abgeschlossenen FirmenTV weiterhin anwende5. Das BAG hatte zugrunde gelegt, dass die ausgegliederte Einheit (hier: die mexikanischen Institute) wie eine „unselbständige Unternehmensabteilung“ beherrscht wurden und ih-
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sen/Müller-Bonanni, § 613a BGB Rz. 262; Küttner/Kreitner, Betriebsübergang Rz. 61; MünchKomm/Müller-Glöge § 613a BGB Rz. 130; Picot/Schnitker, Unternehmenskauf und Restrukturierung, S. 99; Thüsing/Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 47; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 98; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 200; Bauer/v. Medem, DB 2010, 2560; Jacobs, NZA-Beilage 1/2009, 45 (46); Rinck, RdA 2010, 216 (218). Vgl. Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 176; Däubler, RdA 2002, 303 (304); Henssler, FS Schaub, S. 311 (335); Kempen, BB 1991, 2006 (2008); Moll, RdA 1996, 275; im Ergebnis auch Kempen/ Zachert/Kempen, § 3 TVG Rz. 134; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 778 f. WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 96; Hanau/Vossen, FS Hilger/Stumpf, S. 271 (297); Kania, DB 1994, 529 (533); Lambrich, FS Ehmann, S. 169 (185). Vgl. BAG v. 10.6.2009 – 4 ABR 21/08, NZA 2010, 51 (53); BAG v. 26.8.2009 – 5 AZR 969/08, NZA 2010, 173 (175); BAG v. 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, NZA 2010, 238 (240 f.); Thüsing/ Braun/Heise, 11. Kap. Rz. 47; Müller-Bonanni/Mehrens, ZIP 2012, 1217. BAG v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, NZA 2010, 41 (49). BAG v. 11.9.1991 – 4 AZR 71/91, NZA 1992, 321 (323) mit abl. Anmerkung Dütz/Rötter, AP Nr. 29 zu Internationales Privatrecht Arbeitsrecht.
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Teil 15 Rz. 40
Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel
re rechtliche Verselbständigung allein durch die bezweckte Kosteneinsparung durch das Abstreifen der tariflichen Bindungen und nicht zur Verwirklichung eigener Unternehmensziele veranlasst war. Der 4. Senat sah in dieser Konstellation das ausgliedernde Unternehmen in der Pflicht, alles zu unterlassen, was zu einem Leerlaufen der Regelungen des FirmenTVs führen konnte1. Einige Stimmen wollen hieraus eine generelle Einwirkungspflicht des herrschenden Unternehmens auf ein ausgegliedertes Tochterunternehmen in Bezug auf die Übernahme der tariflichen Bestimmungen aus einem FirmenTV ableiten, wenn ein Betriebsübergang bzw. eine Ausgliederung dem Entzug aus dem Geltungsbereich dieses TVs dient2. Richtigerweise handelte es sich bei der vom BAG entschiedenen Konstellation jedoch um eine Einzelfallentscheidung, welche für Ausgliederungskonstellationen nicht verallgemeinerungsfähig ist3. Dafür spricht bereits, dass die Entscheidung die in Mexiko beschäftigten Arbeitnehmer betraf, deren tarifliche Arbeitsbedingungen aufgrund der fehlenden territorialen Anwendbarkeit des § 613a BGB ausnahmsweise nicht durch § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB geschützt waren. Diese Vorschrift würde umgangen, wenn über das Vehikel einer Einwirkungspflicht im Allgemeinen eine Pflicht zur Herstellung der Tarifgeltung in ausgegliederten Tochterunternehmen anzunehmen wäre4. Auch ein Kosteneinsparungszweck der Umwandlung bzw. Ausgliederung durch die Beendigung oder Änderung der unmittelbaren Tarifbindung in der ausgegliederten Einheit kann grundsätzlich keine Rolle spielen, da die Übertragung von Betrieben auf einen nicht tarifgebundenen Rechtsträger als Gestaltungsmittel – wie schon die Existenz von § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB belegt – gesetzlich anerkannt ist. Zudem steht einer abgeleiteten Tarifgeltung auf Basis einer „Konzernzurechnung“ die auch für Konzernunternehmen prinzipiell anzuerkennende tarifrechtliche Selbständigkeit jedes Arbeitgebers entgegen5. Schließlich lässt sich eine Einwirkungspflicht regelmäßig auch nicht aus der tarifvertraglichen Durchführungspflicht des tarifschließenden herrschenden Unternehmens herleiten6. Denn vorbehaltlich einer eindeutigen anderweitigen tarifvertraglichen Abmachung, aus der sich die eindeutige Verpflichtung zur Herstellung des Vertragserfolges auch bei abhängigen Unternehmen ergibt, besteht für ein tarifgebundenes Unternehmen aus einem TV keine Verpflichtung, gegenwärtige oder zukünftige abhängige Gesellschaften, welche selbst nicht tarifgebunden sind, zur Durchführung des im herrschenden Unternehmen geltenden TVs zu veranlassen7. bb) Betriebsübergang und (partielle) Gesamtrechtsnachfolge 40
Bei Betriebsübernahmen im Rahmen einer Gesamtrechtsnachfolge – wie insbesondere im Fall der Verschmelzung (§§ 2 ff. UmwG) – rückt der übernehmende Rechtsträ1 BAG v. 11.9.1991 – 4 AZR 71/91, NZA 1992, 321 (323). 2 Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 178; Berg/Kocher/Schoof/Unterhinningshofen, § 1 TVG Rz. 418. 3 So auch Löwisch/Rieble, § 2 TVG Rz. 59; Junker, Intern. Arbeitsrecht im Konzern, 1992, S. 459, der von einem „Sonderfall“ spricht; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 99; Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 927; Riesenhuber, BB 1993, 1001. 4 Gaul, Unternehmensspaltung, 2002, § 24 Rz. 137; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 99. 5 Vgl. WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 99; Heinze, DB 1997, 2122 (2124). 6 A.A. Däubler/Lorenz, § 3 TVG Rz. 178. 7 BAG v. 17.10.2007 – 4 AZR 1005/06, NZA 2008, 713 (715); BAG v. 7.7.2010 – 4 AZR 120/09, NZA-RR 2011, 137 (139); Wiedemann/Thüsing, § 1 TVG Rz. 927; Wiedemann, WM-Beilage 4/1975, 17; differenzierend Windbichler, Arbeitsrecht im Konzern, 1989, S. 444 f.
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Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsbergang
Rz. 43
Teil 15
ger kraft Universalsukzession vollständig in die Rechtsposition des übertragenden Rechtsträgers ein. In dem Fall ist entgegen der Rechtslage bei der Einzelrechtsübertragung grundsätzlich von einer kollektivrechtlichen Fortgeltung von FirmenTVen des übertragenden Rechtsträgers für die übergegangenen tarifgebundenen Arbeitnehmer auszugehen, sofern keine Ablösung durch eigene TVe des übernehmenden Rechtsträgers erfolgt (§ 613a Abs. 1 Satz 3 BGB, § 324 UmwG). Bei der partiellen Gesamtrechtsnachfolge im Rahmen von umwandlungsrechtlichen Spaltungsvorgängen (Aufspaltung, Abspaltung, Ausgliederung) ist eine kollektivrechtliche Fortgeltung möglich, wenn die Vertragsstellung aus dem FirmenTV im Spaltungs- und Übernahmevertrag dem übernehmenden Rechtsträger als Betriebs(teil)erwerber zugewiesen wurde (vgl. näher Rz. 209 ff.).
III. Fortwirkung von Tarifverträgen beim Erwerber kraft gesetzlicher Anordnung des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB Gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB werden die durch Rechtsnormen eines TVs oder durch 41 eine Betriebsvereinbarung geregelten Rechte und Pflichten „Inhalt des Arbeitsverhältnisses“ zwischen dem neuen Inhaber und dem Arbeitnehmer und dürfen grundsätzlich nicht vor Ablauf eines Jahres nach dem Zeitpunkt des Betriebsübergangs zum Nachteil des Arbeitnehmers geändert werden. 1. Voraussetzungen des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB Die Vorschrift des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB bezweckt einen in seiner zwingenden 42 Wirkung auf ein Jahr zeitlich limitierten Bestandsschutz für die bislang im Arbeitsverhältnis unmittelbar kollektivrechtlich und somit zwingend geltenden Tarifnormen nach dem Betriebsübergang, sofern sich aus § 613a Abs. 1 Satz 3 und 4 BGB nicht etwas anderes ergibt1. Aus diesem Gesetzeszweck bzw. dem damit verknüpften Charakter der Vorschrift als Auffangnorm (vgl. Rz. 30 ff.) ergeben sich zugleich die maßgeblichen Voraussetzungen für ein Eingreifen der Fortgeltungsanordnung des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB. a) Betriebs- oder Betriebsteilübergang Anwendbar ist § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB in allen Fällen des Betriebs- bzw. Betriebs- 43 teilübergangs durch Einzelrechtsnachfolge. Ferner ist die Vorschrift auf Basis der Rechtsgrundverweisung in § 324 UmwG auch anwendbar, wenn es bei einer übertragenden Umwandlung zu einem Betriebs(teil)übergang kommt. § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB kommt als speziellere Vorschrift gegenüber § 4 Abs. 5 TVG auch zum Tragen, wenn sich mit dem Betriebsübergang der Betriebszweck ändert und es infolgedessen zu einem Ausscheiden aus dem Geltungsbereich eines vor dem Übergang normativ gültigen TVs kommt, da die Norm eine Verschlechterung des Bestandes der tarif-
1 Siehe nur BAG v. 1.8.2001 – 4 AZR 82/00, NZA 2002, 41 (43); ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 119, 121; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 137; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 218; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 41; Hanau/Vossen, FS Hilger/Stumpf, S. 271 (284); Meyer, DB 2004, 1886 (1887); Rinck, RdA 2010, 216 (222).
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Teil 15 Rz. 44
Unternehmensumstrukturierung und Tarifwechsel
rechtlichen Mindestarbeitsbedingungen aus Anlass des Betriebsinhaberwechsels verhindern will1. b) Keine kollektivrechtliche Fortgeltung der Tarifverträge 44
Ferner muss der Übergang des Arbeitsverhältnisses dazu führen, dass ein vor dem Übergang normativ auf das Arbeitsverhältnis einwirkender TV seine unmittelbare kollektivrechtliche Geltung verliert. Erforderlich ist, dass der betreffende TV beim Veräußerer normativ, d.h. aufgrund beiderseitiger Tarifgebundenheit gemäß §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG oder bei Allgemeinverbindlichkeit gemäß § 5 Abs. 4 TVG, für das betreffende Arbeitsverhältnis galt und sich die unmittelbare Tarifbindung an den TV beim Erwerber nicht fortsetzt2. Damit ist § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB nicht einschlägig, falls sich an der Tarifgeltung im Arbeitsverhältnis nichts ändert, weil es bereits zu einer kollektivrechtlichen Fortgeltung der bisherigen TVe beim Erwerber kommt (vgl. auch 30 ff.). War vor dem Betriebsübergang nur eine der beiden Arbeitsvertragsparteien tarifgebunden oder beruhte die Anwendung des TVs lediglich auf einer Bezugnahme im Arbeitsvertrag, greift § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB nicht3. c) Keine Ablösung durch beim Erwerber einschlägigen Kollektivvertrag
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Schließlich ist die Aufrechterhaltung der bisherigen Tarifnormen kraft gesetzlicher Anordnung des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB gemäß Satz 3 der Vorschrift insoweit ausgeschlossen, als die entsprechenden Rechte und Pflichten bei dem Erwerber durch Rechtsnormen eines anderen für das übergegangene Arbeitsverhältnis einschlägigen Kollektivvertrags geregelt werden. Ob es sich bei diesem – einen TV ablösenden – Kollektivvertrag auch um eine beim Erwerber bestehende Betriebsvereinbarung handeln kann, ist ebenso umstritten wie das Erfordernis einer beidseitigen Tarifgebundenheit von Arbeitnehmer und Betriebserwerber als Voraussetzung einer Tarifablösung (vgl. Rz. 97 ff.).
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Findet nach dem Betriebsübergang ein anderer Kollektivvertrag auf das übergegangene Arbeitsverhältnis Anwendung, gebührt dem Interesse des Betriebserwerbers an der Vereinheitlichung der Arbeitsbedingungen nach der Gesetzeskonzeption Vorrang vor einer Aufrechterhaltung der inhaltlich kollidierenden bisherigen Kollektivbedingungen4. Die ablösende Wirkung einer Erwerberregelung tritt allerdings stets nur insoweit ein, wie sich identische Regelungsgegenstände gegenüberstehen (vgl. noch Rz. 104 ff.)5. Sind daher einzelne der bislang beim Veräußerer tariflich geregelten Ar1 Vgl. BAG v. 5.10.1993 – 3 AZR 586/92, NZA 1994, 848 (850 f.); Hrodmadka/Maschmann/Wallner, Tarifwechsel, Rz. 338 ff.; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 244; a.A. Rieble, SAE 1995, 77 (79). 2 MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 133; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 117; Wiedemann/Oetker, § 3 TVG Rz. 240; a.A. ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 113, 113a. 3 BAG v. 4.3.1993 – 2 AZR 507/92, NZA 1994, 260 (262); Erman/Edenfeld, § 613a BGB Rz. 94; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613a BGB Rz. 133; Palandt/Weidenkaff, § 613a BGB Rz. 28. 4 Vgl. BT-Drucks. 8/3317, S. 11; BAG v. 20.4.1994 – 4 AZR 342/93, NZA 1994, 1140 (1142); aus der Lit. statt vieler Erman/Edenfeld, § 613a BGB Rz. 87; Staudinger/Annuß, § 613a BGB Rz. 221; WHSS/Hohenstatt, Teil E Rz. 122; Henssler, FS Wißmann, S. 133 (147); Moll, RdA 1996, 275 (283). 5 BAG v. 20.4.1994 – 4 AZR 342/93, NZA 1994, 1140 (1142); BAG v. 22.1.2003 – 10 AZR 227/02, AP Nr. 242 zu § 613a BGB; ErfK/Preis, § 613a BGB Rz. 125.
1146 Grau
Auswirkungen einer Umstrukturierung mit Betriebsbergang
Rz. 48
Teil 15
beitsbedingungen in den beim Erwerber für die übergegangenen Arbeitsverhältnisse einschlägigen Kollektivregelungen nicht enthalten, so gelten diese Bedingungen gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fort, während die kollidierenden Regelungsgegenstände abgelöst werden. Es kommt hier also zu einer sog. Teilablösung. Die ablösende Wirkung der Erwerberregelung nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB tritt un- 47 abhängig davon ein, ob diese günstiger oder ungünstiger für die Arbeitnehmer ist. Das Günstigkeitsprinzip ist hier nicht anwendbar (vgl. noch Rz. 110 ff.)1. Ferner ist unerheblich, ob die ablösende Kollektivregelung beim Erwerber bereits im Zeitpunkt des Betriebsübergangs gilt oder erst später in Kraft tritt bzw. abgeschlossen wird2. Greift die Erwerberregelung nicht schon beim Betriebsübergang ein, so kommt es zunächst zu einer Phase der Aufrechterhaltung der bisherigen Kollektivbedingungen nach Maßgabe von § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB, bis sich mit Geltungseintritt der Erwerberregelung deren ablösende Wirkung nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB vollzieht. 2. Inhalt und Wirkungen der gemäß § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB beim Erwerber aufrechterhaltenen Tarifnormen a) Rechtsna